Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft: Standorte - Grenzen - Beziehungen 9783666530906, 9783525530900


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Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft: Standorte - Grenzen - Beziehungen
 9783666530906, 9783525530900

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Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Dietrich-Alex Koch, Matthias Köckert, Christopher Tuckett und Steven McKenzie

Band 226

Vandenhoeck & Ruprecht

Lutz Doering / Hans-Günther Waubke Florian Wilk (Hg.)

Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft Standorte – Grenzen – Beziehungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Gefördert von:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-53090-0

© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Grundsätzliche und wissenschaftsgeschichtliche Reflexionen Günter Stemberger Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . Karlheinz Müller Neutestamentliche Wissenschaft und Judaistik . . . . . . . . . . . . . Berndt Schaller Paul Billerbecks „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“. Wege und Abwege, Leistung und Fehlleistung christlicher Judaistik . . . . . . . . . . . . .

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II. Multiperspektivische Annäherungen 1. Zur historischen Auswertung der Quellen für die Pharisäer Florian Wilk Die synoptischen Evangelien des Neuen Testaments als Quellen für die Geschichte der Pharisäer . . . . . . . . . . . . Hans-Günther Waubke Die talmudische ¼aberim-Halacha und die Pharisäer . . . . . . Daniel R. Schwartz On Pharisees and Sadducees in the Mishnah: From Composition Criticism to History . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frühchristliche Deutungen des Todes Jesu Jan Willem van Henten Jüdisches Märtyrertum und der Tod Jesu . . . . . . . . . . . . . . Serge Ruzer Jesus’ Crucifixion in Luke and Acts. The Search for a Meaning vis-à-vis the Biblical Pattern of Persecuted Prophet . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Kraus Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu nach Röm 3,21–26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

III. Einzelstudien Lutz Doering Much Ado about Nothing? Jesus’ Sabbath Healings and their Halakhic Implications Revisited . . . . . . . . . . . . Annette Steudel Die Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser. Erwägungen zum antik-jüdischen Hintergrund . . . . . . . . Friedrich Avemarie Zeugnis in Öffentlichkeit. Zur Entwicklung des Begriffs der Heiligung des Gottesnamens in der frühen rabbinischen Überlieferung . . . . . . . . . . . . Hermann Lichtenberger Schöpfung und Ehe in Texten aus Qumran sowie Essenerberichten und die Bedeutung für das Neue Testament . . . . Reinhard Feldmeier Die Wirklichkeit als Schöpfung. Die Rezeption eines frühjüdischen Theologumenons bei Paulus . . . . . . . Wolfgang Reinbold Das Ziel des Gesetzes nach Röm 10,4–13 . . . . . . . . . . . . Peter J. Tomson Das Matthäusevangelium im Wandel der Horizonte: vom „Hause Israels“ (10,6) zu „allen Völkern“ (28,19) . .

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IV. Polemik und Gegenpolemik in Antike und frühem Mittelalter Peter von der Osten-Sacken Mordanklage und Todesurteil. Realität, Religion und Rhetorik in der Predigt Melitos „Über das Passa“ . . . . . . . . Rainer Kampling Erbstreit. Kirchenschriftsteller über das Erbe Abrahams. Ein Konflikt mit dem rabbinischen Judentum? . . . . . . . . . . . . . Roland Deines Die Verwendung der Bergpredigt im ältesten erhaltenen Text der jüdischen Adversus-Christianos-Literatur . . . . . . . . . .

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Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Der vorliegende Band geht im Kern auf ein Symposium zurück, das die Herausgeber vom 26. bis 28. August 2005 anlässlich des 75. Geburtstags ihres akademischen Lehrers Berndt Schaller veranstaltet haben. Von vornherein war klar, dass dem Anlass am besten durch gemeinsame Arbeit an Fragen und Themen entsprochen würde, die im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses des Geehrten stehen. So wurden Kollegen – langjährige Weggefährten Berndt Schallers und jüngere Erforscher dieser Themen – eingeladen, Schnittstellen von antikem Judentum und Christentum, von „Judaistik und neutestamentlicher Wissenschaft“ zu erörtern. Die hier abgedruckten Beiträge von Friedrich Avemarie, Reinhard Feldmeier, Serge Ruzer, Jan Willem van Henten, Peter von der Osten-Sacken, Hans-Günther Waubke und Florian Wilk wurden in diesem Zusammenhang vorgetragen und intensiv diskutiert; Lutz Doering steuerte einen andernorts gehaltenen Vortrag bei, der sich thematisch in den Rahmen des Bandes einfügt. Kurz vor Beginn des Symposiums verstarb Hartmut Stegemann, der langjährige Kollege Berndt Schallers in Göttingen. Er wurde am Vormittag des 26. August 2005 in Marburg bestattet. So traten auf dem Symposium neben die frohe Gestimmtheit anlässlich des Jubiläums Berndt Schallers die Trauer über den Tod von Hartmut Stegemann und das Gedenken an ihn. In Anknüpfung und Widerspruch hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit beiden Gelehrten in mehreren Aufsätzen niedergeschlagen. Für die Publikation haben die Herausgeber von denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die am Symposium nicht teilnehmen konnten, sowie von weiteren Fachgelehrten Beiträge erbeten, die geeignet erschienen, das Profil des Bandes zu schärfen. Im vorliegenden Format soll er dazu dienen, in exemplarischer Weise „Standorte – Grenzen – Beziehungen“ zwischen den Disziplinen Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft auszuloten. Das Verhältnis von „Judaistik“ und „neutestamentlicher Wissenschaft“ liegt dabei keineswegs auf der Hand. Schon bei der wechselseitigen Abgrenzung gibt es Schwierigkeiten. Einerseits ist die neutestamentliche Wissenschaft ihrem Selbstverständnis nach mindestens auch eine theologische Disziplin und kann die gegenwärtige Judaistik ihrem Selbstverständnis nach dies gerade nicht sein. Dies hat im deutschsprachigen Raum weitgehend zu einer eigenartigen institutionellen Trennung beider Disziplinen geführt: Die sogenannte „Fachjudaistik“ ist nur ganz selten an theologischen Fakultäten vertreten, während bibelwissenschaftliche Lehrstühle kaum in Nachbar-

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Vorwort

schaft der Judaistik zu finden sind. Andererseits wird gegenwärtig im deutschsprachigen Raum die Forschungsarbeit zum Judentum des Zweiten Tempels überwiegend an theologischen Fakultäten geleistet, häufig im Fach Neues Testament – zu erinnern ist an Forschungen zur Septuaginta, zu den hellenistisch-jüdischen Autoren, den „Pseudepigraphen“ und den Qumrantexten, deren Anteil an Forschungsprojekten neutestamentlicher Lehrstühle in Deutschland beachtlich ist.1 In Regionen, in denen es die beschriebene institutionelle Trennung nicht oder nicht durchgängig gibt (etwa in Großbritannien oder Nordamerika), entstehen viele Arbeiten zum Judentum des Zweiten Tempels im Rahmen einer religionsgeschichtlich oder religionswissenschaftlich arbeitenden Bibelwissenschaft. Ist das „Judaistik“? Wenn ja, in welchem Sinne? Die Grenzen scheinen fließend. Fest steht, dass die Instrumentalisierung der Judaistik als „theologischer Hilfswissenschaft“ weithin aufgegeben ist. Es ist je und je zu bestimmen, ob das „und“ in der Wortverbindung „Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft“ sachlich verbindend oder trennend ist. Verschiedene Standpunkte sind möglich, von denen aus Standort-Bestimmungen der Disziplinen vorgenommen werden. Offen ist auch die Frage, ob für beide Wissenschaften die wechselseitige Bezugnahme in vergleichbarem Maß erforderlich ist. Heute werden sachliches Gewicht und Notwendigkeit judaistischer Fragestellungen in weiten Teilen der neutestamentlichen Zunft anerkannt. Schon weil das frühe Christentum im Kontext des zeitgenössischen Judentums entstanden ist, ist eine grundlegende judaistische Orientierung für die Auslegung des Neuen Testaments unabdingbar. Anders stellt sich der Bezug der Judaistik auf die neutestamentliche Wissenschaft dar. Hier bleibt zu klären, welche Rolle die im Neuen Testament aufgenommenen jüdischen Traditionen, das in frühchristlichen Texten dokumentierte Verhältnis von „Judentum“ und „Christentum“ sowie die vorwiegend in christlicher Überlieferung aufbewahrte jüdische Literatur aus griechisch-römischer Zeit für das Verständnis des Judentums und seiner Erforschung spielen. Dabei gilt es zu beachten, dass beide Disziplinen jeweils mit weiteren Fächern in Austausch stehen, etwa der Patristik, den Altertumswissenschaften oder den Kulturwissenschaften. Schließlich ist der „konfessionelle“ Standpunkt derer im Blick zu behalten, die das Neue Testament oder antik-jüdische Literatur lesen. Es wirkt sich auf die Lektüre aus, ob man das als Jude, Christin oder Agnostiker tut. Dies ist oft weniger an Forschungsergebnissen abzulesen als vielmehr an der jeweiligen Agenda, die entsprechende Forschungsbemühungen motiviert und orientiert. Wie immer die Agenden mit „konfessionellen“ Iden1 Vgl. O. Wischmeyer u. a., Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland. Bestandsaufnahme – Kritik – Perspektiven, ZNT 10, 2002, 13–36: 24. Ähnliches gilt für die Lehre (18) sowie international für die Anzahl einschlägiger SNTS-Arbeitsgruppen (28).

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titäten verknüpft sind – die gegenseitigen Vorurteile, prägend seit der antiken und mittelalterlichen Polemik zwischen Christen und Juden, sind heute zumindest weithin abgebaut; Juden, Christen und Agnostiker, an theologischen wie philosophischen Fakultäten, treffen sich auf dem schmalen, aber begehbaren Grat der Lektüre antiker jüdischer und frühchristlicher Texte. Es ist deshalb gegenwärtig möglich und angezeigt, „Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft“ in ihrer Wechselbeziehung zu betrachten. Der vorliegende Band soll das wissenschaftliche Gespräch über die umrissenen Fragen befördern. Dazu versammelt er Beiträge, die auf je eigene Weise Standorte bestimmen, Grenzen sondieren und Beziehungen klären. Auf ein geschlossenes materielles Programm wurde mit Bedacht verzichtet; unterschiedliche Akzente, ja Widersprüche sind als sachgemäß zugelassen. Den Auftakt bilden drei grundsätzliche Reflexionen: Günter Stemberger nimmt die neutestamentliche Wissenschaft aus der Perspektive der Judaistik in den Blick. Gerade für die unentbehrliche Betrachtung der antiken jüdischen Literatur seien die Querverbindungen zur neutestamentlichen Wissenschaft wichtig, da das Neue Testament selbst als Teil jener Literatur gelesen werden könne. Es berge wertvolle Informationen zur Geschichte des Mutterlandes und der Diaspora, zu religiösen Gruppen und religiöser Praxis. Stemberger sieht Möglichkeiten für wechselseitigen Austausch auch im methodischen Bereich, etwa bei der Beurteilung des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Erwarten dürfe der Judaist von den Neutestamentlern, dass sie die Datierungsproblematik rabbinischer Texte ausreichend würdigen, jüdische Texte in ihren literarischen Zusammenhängen lesen und sie zu allererst für sich selbst sprechen lassen. In umgekehrte Richtung blickt Karlheinz Müller. Weil das frühe Christentum unlösbar mit seinen jüdischen Anfängen verbunden sei, müsse das Neue Testament konsequent als Teil einer „israelitisch-frühjüdisch-urchristlichen Traditionsgeschichte“ (35) ausgelegt werden. Diesem Programm stünden jedoch bei vielen Neutestamentlern eine nach wie vor atomistische Behandlung jüdischer „Parallelen“ sowie ein Mangel an historischer Tiefenschärfe – nicht zuletzt im Blick auf die „faktische Unmöglichkeit, rabbinische Aussagen zu datieren“ (38) – entgegen. Auch die exegetischen und archäologischen Erkenntnisse „der neu(er)en Qumranforschung“ (57) würden kaum rezipiert. Nach Müller muss sich die neutestamentliche Wissenschaft mit z. T. wesentlich veränderten und insgesamt sehr viel komplexeren Befunden zur Geschichte des „Frühjudentums“ arrangieren. In einem wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag untersucht sodann Berndt Schaller „Leistung und Fehlleistung christlicher Judaistik“ am Beispiel von Paul Billerbecks „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“. Einerseits sei das Werk als Stoffsammlung ein Meilenstein der von Christen bis zum frühen 20. Jh. betriebenen Judaistik und bis heute

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nicht ersetzt. Andererseits sei es v. a. in dreifacher Hinsicht problematisch: in der Zusammenstellung zu vieler, dabei nur ausschnitthaft dargebotener Quellentexte, in deren häufig tendenziöser Kommentierung und in der Einschätzung der rabbinischen Schriften als Produkte eines normativen, aus dem vorchristlichen Pharisäismus hervorgegangenen Judentums. Für die notwendige Einbeziehung rabbinischer Texte in die neutestamentliche Forschung müsse der „Billerbeck“ deshalb kritisch gehandhabt werden. Der zweite Teil des Bandes vereinigt multiperspektivische Annäherungen an zwei wichtige, notorisch umstrittene Themen. Den ersten Block zur historischen Auswertung der Quellen für die Pharisäer eröffnet Florian Wilk mit einer Analyse der synoptischen Evangelien. Wilk zeichnet die verschiedenen Darstellungen der Pharisäer und ihrer Beziehung zu Jesus nach, prüft diese Darstellungen hinsichtlich Gesamttendenz und wesentlicher Aspekte auf historische Plausibilität und untermauert auf diese Weise den trotz polemischer Färbung hohen historischen Quellenwert der synoptischen Evangelien für den Pharisäismus zur Zeit Jesu. Hans-Günther Waubke verortet die ¼aberim-Halacha der Tosefta religionssoziologisch und halachisch im Judentum des Zweiten Tempels. Aus Übereinstimmungen dieser Halacha mit Angaben in Qumranschriften und im Neuen Testament einerseits, mit Aussagen über die Pharisäer im Neuen Testament und bei Josephus andererseits ergibt sich ihm eine hohe Wahrscheinlichkeit für den pharisäischen Ursprung der ¼aberim-Halacha. Daniel R. Schwartz schließlich wertet kompositionskritische Beobachtungen an Mischnatexten aus, nach denen R. Dosa ben Harqinas gegenüber den Rabbinen die gleiche „realistische“ Auffassung der Halacha vertritt wie die Sadduzäer gegenüber den Pharisäern. Da R. Dosa andererseits historisch den Sadduzäern nahe zu stehen scheine, erweise sich die Zuschreibung eines „nominalistischen“ Ansatzes an die Pharisäer, wie die Mischna sie bezeugt, als historisch zuverlässig. Im zweiten Block zu frühchristlichen Deutungen des Todes Jesu lotet zuerst Jan Willem van Henten die Bedeutung jüdischer Märtyrerberichte aus. Van Henten prüft, ob und inwieweit diese Berichte und die in ihnen verarbeiteten Traditionen geeignet sind, 1. Jesu eigenes Verständnis seines bevorstehenden Todes, 2. frühe christliche Interpretationen des Heilstodes Jesu sowie 3. die neutestamentlichen Passionserzählungen in ihrer Genese zu erklären, und kommt auf allen drei Ebenen zu differenzierten, grundsätzlich aber positiven Antworten. Serge Ruzer zeigt zunächst, dass die Evangelien in ihrer Behandlung des Todes Jesu das auch sonst im Judentum des Zweiten Tempels und in rabbinischen Texten belegte „Modell des verfolgten Propheten“ bezeugen, weist dann aber auf, dass es im lukanischen Doppelwerk zunehmend unterdrückt wird; vermutlich habe es der Auctor ad Theophilum angesichts seines Verständnisses der Auferstehung für inadäquat gehalten. Wolfgang Kraus schließlich wendet sich erneut Röm 3,21–26

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zu. In Auseinandersetzung mit den jüngsten Forschungsbeiträgen legt er dar, dass ֭͒ͤͥ͜͏͚͢͠͞ an dieser Stelle vom Begriff ĭīħĞ her zu verstehen sei, also den Sühneort bezeichne, womit ein Bezug „zu den Riten an Jom Kippur unabweisbar“ werde (206). Dabei gehe es spezifisch um die Reinigung oder Weihe des Heiligtums; nach Röm 3,25 f sei Jesus auf Grund seiner Lebenshingabe als Ort der Gottesgegenwart eingesetzt worden. Es schließt sich eine Reihe von Einzelstudien an, die jeweils – mit wechselnder Blickrichtung und unterschiedlicher Methodik – Problemstellungen im Kontaktbereich von Judaistik und neutestamentlicher Wissenschaft bearbeiten: Lutz Doering kritisiert die verbreitete These, Jesus habe die Sabbatruhe mit seinem nur verbal vollzogenen Heilen in keiner Weise verletzt. Sowohl die Evangelientexte als auch die spätere rabbinische Diskussion setzten voraus, dass intendierte Heilung nicht lebensbedrohlich Kranker als verboten galt. Die Praxis Jesu sei angeleitet von einer Ausdehnung des im antiken Judentum weithin anerkannten sabbatverdrängenden Charakters der „Lebensrettung“ auf chronisch Kranke im Horizont der Gottesherrschaft. Zwei Beiträge sind der „Heiligung des Gottesnamens“ im antiken Judentum und Neuen Testament gewidmet: Annette Steudel geht der Bedeutung dieses Motivs im Vaterunser nach. In Qumranschriften liege der Akzent auf dem Tun von Menschen und Engeln, im Qaddish, das wie das Vaterunser die Heiligungsbitte mit der um das Kommen des Reiches Gottes verknüpft, auf Gottes Handeln. Grundsätzlich zeige sich das Vaterunser für beide Deutungen offen; vielleicht seien sie aber verschiedenen Überlieferungsstufen zuzuordnen. Friedrich Avemarie zeichnet nach, wie der Begriff „Heiligung des Gottesnamens“, der von der Tora und den Propheten an zunächst vielfältige menschliche und göttliche Handlungsweisen umgriff – so noch im Vaterunser und im Qaddish –, in der rabbinischen Tradition eine Zuspitzung auf das Martyrium, v. a. auf das öffentliche Eintreten für Gott, Israel und Tora erfuhr, die in der christlichen Überlieferung so nicht erkennbar ist. Zwei weitere Beiträge nehmen verschiedene Aspekte des Redens von „Schöpfung“ in den Blick: Hermann Lichtenberger sichtet und interpretiert die Aussagen über „Schöpfung und Ehe“ in den Texten aus Qumran sowie den klassischen Essenerberichten; dabei untersucht er auch 4QInstruction. Der Beitrag stellt die Aussagen zu Polygamie, Einehe und Zölibat zusammen und bewertet abschließend deren Bedeutung für das Verständnis entsprechender neutestamentlicher Texte. Reinhard Feldmeier führt vor, dass die Verbindung der Schöpfungsaussage mit dem Begriff ͚͛ͥ͐ͤͣ eine Leistung des griechischsprachigen Diasporajudentums war; in ihr komme zum Ausdruck, dass die Ontologie der Theologie nachgeordnet wird. Paulus habe dies weiterentwickelt: Die strikte Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf ermögliche ein heilsgeschichtliches Verständnis der Schöpfung, das auch Gottes Erlöserhandeln umfasst.

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Die beiden diesen Teil abschließenden Aufsätze wenden sich zwei für die Frage nach „Israel“ zentralen neutestamentlichen Texten zu. Den umstrittenen Passus Röm 10,4–13 untersucht Wolfgang Reinbold im weiteren Kontext von Röm 9 f. Reinbold deutet Röm 10,4 als eine auf 9,31 (Israel ist „nicht zum Gesetz gelangt“) bezogene These, die selbst wiederum in 10,5– 13 entfaltet werde – Paulus zeige, „dass das Ziel des Gesetzes tatsächlich Christus ist“ (308) –, und skizziert auf dieser Basis Grundzüge der „christgläubigen Hermeneutik“ des Paulus. Peter J. Tomson entwickelt für das Matthäusevangelium in Analogie zur Sozialgeschichte, die es widerspiegele, ein Panorama sich wandelnder Horizonte: von der frühesten Jesustradition über eine judenchristliche Phase mit Nähe zum Pharisäismus und eine antirabbinische Phase bis hin zu einer heidenchristlich-antijüdischen Phase. Da jede Phase in redaktionellen Bearbeitungen des Evangeliums greifbar sei, stelle es einen spannungsvollen „Gemeinschaftstext“ (332) dar. Der vierte und letzte Teil geht einen Schritt in die Rezeptionsgeschichte der Heiligen Schriften von Juden und Christen und nimmt dabei Polemik und Gegenpolemik in Antike und frühem Mittelalter in den Blick. Peter von der Osten-Sacken stellt die Predigt Melitos von Sardes „Über das Passa“ als Werk antiker Rhetorik vor und weist nach, dass seiner auf Abscheu und Hass zielenden Polemik gegen die Juden als „Gottesmörder“ eine prinzipielle Entwertung der jüdischen Exodus-Deutung durch die christliche zugrunde liege. Gegenüber dieser Destruktion des Judentums regt von der Osten-Sacken an, die Dankbarkeit für Gottes Taten seinem Volk zugute wahrzunehmen, wie sie etwa in der Passa-Haggada zum Ausdruck kommt. Rainer Kampling zeichnet am Beispiel der Inanspruchnahme der Abrahamkindschaft bei Origenes, Eusebius und Augustinus nach, wie deren Versuche der Legitimierung des Christentums zunehmend dazu führten, die Juden im Erbe Abrahams zunächst den Christen hintanzustellen, sie dann zu enterben und schließlich ganz der Heillosigkeit zuzuordnen. Damit aber hätten Christen das Fundament ihrer eigenen Existenz negiert: die ungeschuldete Gnade Gottes. Roland Deines schließlich untersucht die im 8./9. Jh. n. Chr. entstandene QiÈÈat MujÁdalat al-Usquf samt ihrer Rezeption im späteren Sefer Nestor Ha-Komer. Diese jüdische Polemik gegen eine aus der Bergpredigt erschlossene christliche Abkehr von der Tora spitze den Konflikt zwischen Juden und Christen auf die Frage „Jesus oder die Tora?“ zu und markiere damit die Stellung zur Tora als einen bis heute entscheidenden Konfliktpunkt. Im Gesamtbild dokumentiert dieser Band den großen Facettenreichtum in den Wechselwirkungen zwischen Judaistik und neutestamentlicher Wissenschaft, wie ihn auch die Arbeiten und Aktivitäten Berndt Schallers widerspiegeln. Die hier versammelten Beiträge machen – teils übereinstimmend, teils einander widerstreitend – deutlich, wie wichtig der interdiszipli-

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näre Austausch ist. Sie lassen notwendige und ertragreiche Beziehungen zwischen den beiden benachbarten Wissenschaften sichtbar werden, die Wesentliches betreffen: die Beschreibung der eigenen wissenschaftlichen Fragestellung, die Bestimmung der jeweiligen Quellenbasis, die Entwicklung von Auslegungsmethoden und -kriterien, die Lektüre und vielfältige Auswertung der antiken Texte, die kritische Würdigung ihrer Auslegungsgeschichte sowie die Reflexion der eigenen Arbeit vor dem Horizont der christlich-jüdischen Beziehungen. Auf diese Weise bietet die Aufsatzsammlung sowohl eine Tour d’Horizon der Aufgabe als auch eine exemplarische Darstellung von Ergebnissen des Gesprächs zwischen Judaistik und neutestamentlicher Wissenschaft. Der Band in seiner nun vorliegenden Form hätte nicht realisiert werden können ohne den unermüdlichen Einsatz von Dr. Martin Jagonak, mittlerweile Kollegiat am Graduiertenkolleg „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder“ der Universität Göttingen. Er hat mit großer Sorgfalt und technischer Fertigkeit die Druckvorlage erstellt und auch an der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge mitgewirkt. Bei den Korrektur- und Registerarbeiten haben uns Ina Schmidt, Johanna Rudolph und Dr. Martina Janßen tatkräftig unterstützt. Herzlich danken wir den Herausgebern der FRLANT für die Aufnahme des Bandes in die renommierte Reihe. Unser Dank gilt schließlich der Hanns-Lilje-Stiftung, die sowohl das Symposium im Jahr 2005 als auch die vorliegende Publikation durch namhafte Zuschüsse gefördert hat, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht für die verlegerische Betreuung.2 London, Hamburg und Göttingen, im Dezember 2007

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Lutz Doering Hans-Günther Waubke Florian Wilk

Abkürzungen richten sich weitgehend nach dem Abkürzungsverzeichnis der RGG4. Zusätzliche bibliographische Abkürzungen: ALGHJ Arbeiten zur Literatur und Geschichte des hellenistischen Judentums; ALUOS Annual of Leeds University Oriental Society; AWKol Altertumswissenschaftliches Kolloquium; BDR F. Blass / A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. F. Rehkopf, 14. völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Göttingen 1976 (151979, 16 1984, 171990, 182001); BECNT Baker Exegetical Commentary on the NT; BJSt Brown Judaic Studies; BSJS Brill’s Series in Jewish Studies; CBET Contributions to Biblical Exegesis and Theology; DSD Dead Sea Discoveries; EncJudaism The Encyclopaedia of Judaism; IPTS Islamic Philosophy, Theology, and Sciences; JCP Jewish and Christian Perspectives; JRGK Jüdische Religion, Geschichte und Kultur; JZWL Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben; REJ Revue des études juives; RRJ Review of Rabbinic Judaism; SacPS Sacra Pagina Series; SHK.Kol Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien; SJLA Studies in Judaism in Late Antiquity; SJSHRZ Studien zu jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit; SMJR Studies in Muslim-Jewish Relations; SOrJ Studies in Oriental Jewry; ZDMG.S Supplementa zur ZDMG.

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Dr. Friedrich Avemarie, geb. 1960, Professor für Neues Testament, Philipps-Universität Marburg Dr. Roland Deines, geb. 1961, Associate Professor and Reader in New Testament, University of Nottingham Dr. Lutz Doering, geb. 1966, Lecturer in New Testament and Early Christianity, King’s College London Dr. Reinhard Feldmeier, geb. 1952, Professor für Neues Testament, Georg-August-Universität Göttingen Dr. Jan Willem van Henten, geb. 1955, Professor für Neues Testament, frühchristliche und hellenistisch-jüdische Literatur, Universiteit van Amsterdam Dr. Rainer Kampling, geb. 1953, Professor für Biblische Theologie / Neues Testament, Seminar für Katholische Theologie, Freie Universität Berlin Dr. Wolfgang Kraus, geb. 1955, Professor für Neues Testament, Fachrichtung Evangelische Theologie, Universität des Saarlandes Dr. Hermann Lichtenberger, geb. 1943, Professor für Neues Testament, Evangelisch-theologische Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen Dr. Dr. Karlheinz Müller, geb. 1936, Professor em. für Biblische Einleitung und Biblische Hilfswissenschaften, Katholisch-Theologische Fakultät, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Dr. h. c. Peter von der Osten-Sacken, geb. 1940, Professor em. für Neues Testament und christlich-jüdische Studien, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Wolfgang Reinbold, geb. 1962, Privatdozent für Neues Testament, Georg-August-Universität Göttingen, und Pastor in Hannover Dr. Serge Ruzer, geb. 1950, Lecturer, Department of Comparative Religion and Chais Center for Jewish Studies in Russian, The Hebrew University of Jerusalem Dr. Berndt Schaller, geb. 1930, apl. Professor, Hochschuldozent a. D. für Judaistik und Neues Testament, Georg-August-Universität Göttingen Dr. Daniel R. Schwartz, geb. 1952, Professor, Department of History of the Jewish People, The Hebrew University of Jerusalem Dr. Dr. h. c. Günter Stemberger, geb. 1940, o. Univ.-Professor, Institut für Judaistik, Universität Wien Dr. Annette Steudel, geb. 1963, Privatdozentin für Altes Testament, Georg-August-Universität Göttingen, und Leiterin der Arbeitsstelle „Hebräisches und Aramäisches Wörterbuch zu den Texten vom Toten Meer“, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Dr. Peter J. Tomson, geb. 1948, Professor für Neues Testament, Judaica und Patristik, Faculteit voor Protestantse Godgeleerdheid, Brüssel Dr. Hans-Günther Waubke, geb. 1960, Pastor im Kirchenkreis Alt-Hamburg Dr. Florian Wilk, geb. 1961, Professor für Neues Testament, Georg-August-Universität Göttingen

Günter Stemberger

Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft

Die deutschsprachige Judaistik, deren frühe Vertreter vielfach auch eine theologische Ausbildung hatten, hat sich in den letzten Jahrzehnten oft bemüht, die Verbindungen zur Theologie zu kappen, um nicht als theologische Hilfswissenschaft missverstanden zu werden. Im selben Maß wurde in der Judaistik immer mehr der ältere Bereich zugunsten der neueren jüdischen Geschichte und Kultur zurückgedrängt. Zum Teil war dies eine notwendige Verschiebung, die auch den Interessen vieler Studierender entgegenkam und mehr Aktualität beanspruchen konnte. Zugleich droht darunter aber doch auch die Kenntnis der alten Quellentexte, die das Judentum bis heute prägen und bestimmen, zurückzugehen. Es ist hier nicht der Platz, die Entwicklung des Faches Judaistik im deutschen Sprachraum zu bewerten und auf die fachunabhängigen Veränderungen neuester Curricula einzugehen. Judaistik ist natürlich nicht nur ein Bereich der Altertumswissenschaften, sondern hat sich der jüdischen Geschichte, Literatur und Religion in allen Epochen zu widmen. Dass aus Kapazitätsgründen dabei immer nur einzelne Schwerpunkte gesetzt werden können, ist klar. Bedauerlich aber wäre es, wenn darunter die nach wie vor wichtigen Querverbindungen der Judaistik zur Bibelwissenschaft, aber auch zur neutestamentlichen Forschung leiden sollten. Dies insbesondere in einer Zeit, da israelische und andere jüdische Forscher sich immer intensiver auch mit dem Neuen Testament als einem Teil der eigenen Literatur beschäftigen.1 Zugleich kann man feststellen, wie gerade an deutschsprachigen theologischen Fakultäten eine Reihe von Professuren die doppelte Fachbezeichnung „Neues Testament und Antikes Judentum“ oder ähnlich bekommen haben und dies nicht einfach eine Usurpation fremder Fachkompetenz bedeutet, sondern diese Stellen tatsächlich von Kennern beider Disziplinen besetzt sind, im Judentum meist mit dem Schwerpunkt auf Josephus, der Literatur des Zweiten Tempels, insbesondere Qumran, nur vereinzelt, wie 1

Ein wichtiges Beispiel ist die Tagung, die 1997 gemeinsam von den Universitäten Tel Aviv und Haifa und dem Yad Izhak Ben-Zvi in Jerusalem zum Thema „The Beginnings of Christianity“ veranstaltet wurde und auf der mit David Flusser und Martin Hengel zwei Forscher geehrt wurden, die für den Brückenschlag zwischen jüdischen und neutestamentlichen Studien Pionierarbeit geleistet haben: J. Pastor / M. Mor (Hg.), The Beginnings of Christianity. A Collection of Articles, Jerusalem 2005. Diese Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen, zwischen jüdischen und christlichen Forschern, wurde seither wiederholt erneuert, zuletzt etwa mit der Tagung der Katholischen Universität Leuven von 2006, „The New Testament and Rabbinic Literature“.

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jetzt in Göttingen, in rabbinischer Literatur. Dass Judaistik als eigenes Fach an theologischen Fakultäten angeboten wird, ist dagegen noch immer die Ausnahme. Gegenüber den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich hier erfreulich viel verändert. Man denke nur an die Theologische Fakultät in Göttingen, an der Berndt Schaller so lange Jahre in Lehre und Forschung Neues Testament und jüdische Literatur vor allem, aber nicht nur, des Zweiten Tempels, in fruchtbare Beziehung gesetzt hat. Schon 1950 gründete Joachim Jeremias in Göttingen ein „Institut für spätjüdische Religionsgeschichte“ (der Begriff „spätjüdisch“ wird heute zu Recht als Ausdruck christlichen Vorurteils gemieden – ein solches lag jedoch dem verdienstvollen Erforscher des palästinischen Judentums im 1. Jh. fern). Seine Nachfolger, die Neutestamentler Eduard Lohse und Hartmut Stegemann, haben sich in der Qumranforschung internationalen Ruf erworben; mit Hans-Jürgen Becker vertritt nun ein angesehener Erforscher der rabbinischen Literatur die Verbindung zum Neuen Testament. Wie anders begann das einst mit Karl Georg Kuhn, der – lange der wichtigste Gewährsmann für die rabbinische Literatur in der nationalsozialistischen Judentumsforschung – nach seiner Entnazifizierung ab 1949 Professor für Neues Testament und Judaistik in Göttingen wurde, bevor er 1954 als Ordinarius nach Heidelberg berufen wurde und dort 1957 die Qumranforschungsstelle begründete, die unter völlig anderen Vorzeichen mit Hartmut Stegemann nach Göttingen kam.2 Dies sei hier nicht in Erinnerung gerufen, um alte Wunden aufzubrechen. Vielmehr wird gerade dadurch deutlich, wie vieles in den Jahrzehnten seither grundlegend anders geworden ist. Wie schon gesagt, konzentrieren sich die Verbindungen zwischen Judaistik und neutestamentlicher Wissenschaft naturgemäß vor allem auf den älteren Bereich der jüdischen Literatur und Geschichte, auch wenn in jüngerer Zeit sehr wohl auch moderne jüdische Perspektiven etwa in der Hermeneutik für das Neue Testament fruchtbar gemacht wurden3. Lange Zeit waren die wichtigsten Kontakte jene mit der rabbinischen Literatur; solche mit der umfangreichen Literatur des Zweiten Tempels wurden – abgesehen von Josephus und Philo – erst viel später bewusst wahrgenommen; die sogenannten (Apokryphen und) Pseudepigraphen gerieten erst im 19. Jh. sowohl jüdisch wie auch christlich verstärkt ins Blickfeld; Qumran wurde überhaupt erst viel später entdeckt. Damit hat sich das Spektrum der Texte, die gemeinsames Interesse beanspruchen können, erst im 20. Jh. im vollen 2 Zu Kuhn siehe zuletzt H. Junginger, Judenforschung in Tübingen, in: Jahrbuch des SimonDubnow-Instituts 5, 2006, 375–398. 3 Siehe z. B. M. Grohmann, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen 2000; S. Plietzsch, Kontexte der Freiheit. Konzepte der Befreiung bei Paulus und im rabbinischen Judentum, Stuttgart 2005.

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Umfang geöffnet. Das reiche Inschriftenmaterial auf jüdischer wie christlicher Seite sowie allgemeiner die Fülle archäologischer Funde aus der Zeit des Neuen Testaments (im weiteren Sinn) wird ebenfalls erst seit relativ kurzer Zeit bewusst wahrgenommen.

1. Zur Vorgeschichte Die Verwendung jüdischer Literatur für das Neue Testament und umgekehrt des Neuen Testaments in der jüdischen antichristlichen Polemik hat eine lange Vorgeschichte; nur die wichtigsten Eckpunkte seien hier benannt. Schon Origenes und Hieronymus verwerteten rabbinische Traditionen in ihren Bibelkommentaren. Manche Kenntnis rabbinischer Lehren wurden ab dem 9. Jh. in Frankreich bekannt – Agobard und Petrus Venerabilis sind die wichtigsten Namen. Eindeutige christliche Kenntnisse rabbinischer Texte als solcher lassen sich jedoch erst im 13. Jh. nachweisen. Bei der Pariser Talmuddisputation von 1240 bekämpften die christlichen Sprecher die rabbinische Literatur als Angriff auf das Christentum und Verspottung seiner Lehre. Doch schon bei der Disputation von Barcelona 1263 versuchte man, die jüdischen Texte für christliche Interessen dienstbar zu machen und aus ihnen den Nachweis der Wahrheit des Christentums, v. a. der Messianität Jesu zu bringen. Raimund Martini hat diese Ansätze in seiner kurz nach Barcelona entstandenen Schrift „Capistrum Judaeorum“ und dann ausgebaut in seinem „Pugio Fidei“ systematisiert. Jüdische Reaktionen auf das Neue Testament hat man schon in der rabbinischen Literatur zu finden geglaubt; der direkte Nachweis konkreter Einzeltexte geht über eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit nicht hinaus. Gesicherten Boden finden wir mit Jakob ben Reuben, der um 1170 in seinem „Mil½amot ha-Shem“ unter Aufgreifen älterer Vorarbeiten4 das Matthäusevangelium kritisch verwendete, und Josef Qimchi, der wenig später in seinem „Sefer ha-Berit“ schon eine breitere Kenntnis des Neuen Testaments belegt. Jüdische Befassung mit dem Neuen Testament blieb, bedingt durch die Lage der Juden in Europa, bis in die Neuzeit polemisch der Verteidigung der eigenen Religion verpflichtet, sofern man nicht aus politischen Gründen das Thema überhaupt vermied. Eine jüdische Jesus-Forschung und eine neutralere Beschäftigung mit den Schriften des Neuen Testaments gibt es erst seit etwa hundert Jahren. Schon im 12. Jh. zeigten Hugo, Andreas und Richard von St. Victor in Paris großes Interesse an jüdischen Auslegungstraditionen für ihre Bibeler4

Zu diesen Vorarbeiten siehe den Beitrag von Roland Deines im vorliegenden Band.

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klärung; wie weit ihre Hebräischkenntnisse reichten, bleibt fraglich. Eine christliche Hebraistik entstand im Gefolge der Talmuddisputationen des 13. Jh. in den neuen Orden der Dominikaner und Franziskaner. Neben dem schon genannten Raimund Martini ist zumindest die lange höchst einflussreiche „Postilla litteralis“ des Nikolaus von Lyra (14. Jh.) zu erwähnen. Die intensive Beschäftigung mit hebräischer Sprache und rabbinischer Literatur im 15. und 16. Jh. beeinflusste nun verstärkt auch die Arbeit am Neuen Testament. Einen ersten Höhepunkt bedeuten die „Horae Hebraicae et Talmudicae“ (1658–74) von John B. Lightfoot, dem bedeutendsten christlichen Kenner von Talmud und Midrasch in seiner Zeit, der mit erstaunlicher Objektivität die rabbinischen Texte zur Erklärung des Neuen Testaments heranzog. Über mehrere Zwischenstufen führt von Lightfoot eine Entwicklungslinie bis hin zum „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“ (1922–1961) von (H. L. Strack und) Paul Billerbeck, dem trotz mancher späterer Versuche noch immer umfassendsten und einflussreichsten Werk seiner Gattung.

2. Was kann die neutestamentliche Forschung für die Judaistik leisten? Das Neue Testament ist zu einem großen Teil, wenn nicht ganz allgemein eine Sammlung jüdischer Schriften und damit nicht nur für die Anfänge der christlichen Geschichte und des christlichen Glaubens die absolute Grundlage, sondern auch eine wesentliche Quelle jüdischer Geschichte und Religion im 1. Jh. Wurde auch das Neue Testament als eigene jüdische Quelle von jüdischen Forschern lange gemieden, da es voll von „Vorurteilen“ gegenüber dem Judentum sei, so ist man sich heute dessen bewusst, dass es „vorurteilsfreie“ Schriften prinzipiell nicht gibt, man alle kritisch lesen muss. Es gibt viele Bereiche, in denen Neutestamentler und Judaisten gemeinsame Interessen haben und aufeinander angewiesen sind. Die Evangelien und die Apostelgeschichte enthalten eine Fülle an Informationen zum Alltagsleben Palästinas, die durchaus ernst zu nehmen sind und sich teilweise mit Angaben aus der übrigen Literatur der Zeit decken; dass dies auch für das meist historisch als problematisch betrachtete Johannesevangelium gilt, hat Martin Hengel wieder deutlich gemacht5. Die Paulusbriefe, aber auch die Apostelgeschichte bieten zudem viele Nachrichten 5 M. Hengel, Das Johannesevangelium als Quelle für die Geschichte des antiken Judentums, in: A. Oppenheimer (Hg.), Jüdische Geschichte in hellenistisch-römischer Zeit, Schriften des historischen Kollegs. Kolloquien 44, München 1999, 41–73.

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zur Diaspora des 1. Jh., die die von Philo und Josephus gelieferten Angaben vielfach ergänzen oder bestätigen können, im Einzelfall auch durch Inschriftenfunde ergänzt werden. Gerade zur Geschichte der Diaspora im 1. Jh. haben Neutestamentler denn auch wichtige Beiträge geleistet.6 Eine wichtige Quelle ist das Neue Testament hinsichtlich der religiösen Gruppen im Judentum seiner Zeit, besonders was die Pharisäer und Sadduzäer angeht. Zwar wird durch den polemischen Kontext manches verzerrt, was aber auch in den verschlüsselten Aussagen der Qumrantexte, in den Pescharim oder dem halachischen Brief 4QMMT nicht viel anders ist. Die Forschung ist sich bewusst, dass die Pharisäer in den einzelnen Evangelien unterschiedlich beurteilt werden, ebenso darin einig, dass dies mit der geschichtlichen Entwicklung der christlichen Gemeinden hinter den einzelnen Evangelien zu tun hat. Die konkrete historische Auswertung ist nach wie vor unklar: Wie bedeutend waren die Pharisäer zur Zeit des Neuen Testaments tatsächlich? Waren sie die das Judentum der Zeit dominierende Gruppe, wie ihre häufige Nennung in den Evangelien und manche Aussagen des Josephus nahelegen könnten?7 Oder waren sie eine relativ kleine auf Jerusalem konzentrierte Gruppe, die nur wegen der Berührungen und Auseinandersetzungen mit Jesus und seinen späteren Anhängern im Neuen Testament eine solche Bedeutung erhielten?8 Trotz der schon umfangreichen Literatur zum Thema ist hier noch viel offen. Nur wenige Personen des 1. Jh. werden explizit als Pharisäer bezeichnet. Meist zählt man Josephus dazu, dessen Selbstaussage (Vita 10–12) aber durchaus nicht eindeutig ist. Gewöhnlich versteht man sie so, dass er nach Prüfung der verschiedenen Richtungen (in sich ein Topos) sich den Pharisäern anschloss; explizit sagt er allerdings nur, dass er sich in Fragen des öffentlichen Lebens an sie hielt, was eine Mitgliedschaft nicht direkt einschließt.9 Paulus dagegen sagt über sich selbst, dass er „als Pharisäer nach dem Gesetz lebte“ (Phil 3,5), was wohl eine direkte Mitgliedschaft einschließt. Damit ist auch die in Apg 23,6 Paulus in den Mund gelegte Aussage, er sei „ein Pharisäer, Sohn von Pharisäern“, durchaus ernst zu nehmen, eben6

Als Beispiele seien hier nur genannt: P. R. Trebilco, Jewish Communities in Asia Minor, MSSNTS 69, Cambridge 1991; P. Pilhofer, Philippi, Bd. I: Die erste christliche Gemeinde Europas; Bd. II: Katalog der Inschriften von Philippi, WUNT 87 und 119, Tübingen 1995 und 2000. 7 So z. B. M. Hengel / R. Deines, E. P. Sanders’ „Common Judaism“, Jesus und die Pharisäer, in: M. Hengel, Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, WUNT 109, Tübingen 1996, 392–479. 8 B. Schaller, 4000 Essener – 6000 Pharisäer. Zum Hintergrund und Wert antiker Zahlenangaben, in: B. Kollmann u. a. (Hg.), Antikes Judentum und frühes Christentum. FS H. Stegemann, BZNW 97, Berlin 1999, 172–182, weist nach, dass die Zahlenangaben über Essener und Pharisäer bei Josephus Fiktionen und historisch nicht verwertbar sind. Über die Größenordnungen dieser Gruppen wissen wir damit nichts. 9 Dazu S. N. Mason, Was Josephus a Pharisee? A Re-Examination of Life 10–12, JJS 40, 1989, 30–45.

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so die parallele Aussage des Paulus in der Rede vor Agrippa (Apg 26,5). Nur aus dem Neuen Testament wissen wir explizit, dass Gamaliel der Ältere ein Pharisäer war, „ein beim ganzen Volk angesehener Gesetzeslehrer“ (Apg 5,34); dies passt bestens zur Angabe des Josephus über Gamaliels Sohn Simeon ben Gamaliel: Dieser sei aus einer hervorragenden Familie Jerusalems und gehöre zur Schule der Pharisäer (Vita 191 f). Diese beiden sind die einzigen namentlich bezeugten Pharisäer aus der Vorgeschichte des Rabbinats. Wenn Paulus sich als Pharisäer bezeichnet, ist daraus wohl zu erschließen, dass er zumindest eine gewisse Ausbildung in Palästina, wohl in Jerusalem als dem Zentrum der Pharisäer erhalten habe; von Pharisäern in der Diaspora wissen wir nichts. Damit ist auch die Angabe von Apg 22,3, Paulus sei „in dieser Stadt (Jerusalem) erzogen, zu Füßen Gamaliels genau nach dem Gesetz der Väter ausgebildet“ worden, nicht leicht als reine Fiktion abzutun, auch wenn die rabbinische Literatur – die einzige Quelle zu Gamaliel neben der Apostelgeschichte – Gamaliel nie als Lehrer darstellt. Die historische Verlässlichkeit dieser Aussage ist viel diskutiert worden und lässt sich kaum entscheiden. So erklären denn auch Bruce Chilton und Jacob Neusner, die gemeinsam dieses Thema studiert haben, es gehe ihnen nicht um die „historischen“ Paulus und Gamaliel, sondern um „the textual figures that the New Testament and Rabbinic documents refer to as such (…) we infer that within some topics Paul’s argumentation was analogous to Gamaliel’s; we leave open the identity of the Pharisee who personally instructed Paul“.10 Die Antwort mag einen Paulusbiographen kaum zufrieden zu stellen; doch zeigt die Studie zumindest wichtige Analogien zwischen dem Denken des Paulus und jenem, das in rabbinischen Texten Gamaliel und allgemeiner dem Patriarchenhaus zugeschrieben wird. Dieses Ergebnis der gemeinsamen Arbeit eines christlichen Biblikers und eines jüdischen Judaisten ist bewusst minimalistisch; zugleich zeigt die Arbeit aber auch, wie ein verantworteter Vergleich neutestamentlicher und rabbinischer Texte aussehen und was er erbringen kann. Wie Jacob Neusner immer wieder betont – und wie es Ed Sanders in seinem bekannten PaulusBuch von neutestamentlicher Seite aus durchgezogen hat11 –, muss ein solcher Vergleich über einzelne Parallelen hinausgehen und religiöse Systeme als solche vergleichen. Im konkreten Fall ergibt die Studie immerhin für Paulus eine pharisäisch geprägte Denkweise,12 was die Aussage des 10

B. Chilton / J. Neusner, Paul and Gamaliel, RRJ 8, 2005, 113–162, 148 f. E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, Philadelphia 1977. 12 Hier müsste man natürlich sofort einschränken, dass man rabbinische Denkweise nicht automatisch als pharisäisch qualifizieren kann und das Rabbinat durchaus nicht die direkte Fortsetzung der pharisäischen Bewegung unter anderen Vorzeichen ist. Für den konkreten Vergleich 11

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Paulus zu sich selbst bzw. die Aussagen der Apostelgeschichte über Paulus zwar nicht direkt verifiziert, sie aber immerhin plausibel machen kann. Mehr ist methodisch verantwortet kaum zu erreichen. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Essener im Neuen Testament nie genannt werden. Dies gilt besonders, wenn wir sie nicht auf die kleine Gemeinschaft von Qumran reduzieren, sondern mit Josephus, gestützt auch auf verschiedene Aussagen von Qumrantexten selbst, als in ganz Israel verbreitet ansehen. H. Stegemann hat sogar vorgeschlagen, die Essener als dominante Strömung im Judentum der Spätzeit des Zweiten Tempels zu sehen,13 „die größte religiöse Organisation im palästinischen Judentum jener Zeit“.14 Stegemann hat mit dieser Position kaum Anklang gefunden. Wesentlich ist aber, und das betont auch Stegemann, das weit über die eigentliche essenische Gemeinschaft hinausweisende gemeinsame Element in den Schriften von Qumran. Wenn einst Louis Ginzberg die in der Kairoer Geniza entdeckte Damaskusschrift als pharisäisches Werk betrachten konnte und neuere Forschung immer wieder die engen Beziehungen zwischen den halachischen Aussagen in Qumrantexten und Positionen, die in rabbinischen Texten den Sadduzäern zugeschrieben werden, betont, ist klar, wie viel von den in den Texten von Qumran überlieferten Traditionen nicht spezifisch essenisch, sondern dem Judentum der Zeit weithin gemeinsam war. Das erklärt allerdings kaum das Schweigen der Evangelien. Doch sollte es bei der Auswertung von Parallelen zwischen dem Neuen Testament und Qumran vorsichtig machen. So wichtig es ist, die Fülle der nun zugänglich gewordenen Texte auch für das Neue Testament fruchtbar zu machen,15 so vorsichtig muss man bleiben, wenn es um die historische Auswertung geht.16 Es ist natürlich nicht undenkbar, dass sich auch Essener dem jungen Christentum angeschlossen haben; viele der zwischen dem Denken eines Mannes, der sich selbst als Pharisäer bezeichnet, und den in rabbinischen Texten seinem behaupteten pharisäischen Lehrer zugeschriebenen Lehren kann man aber das „Pharisäische“ als gemeinsamen Nenner gelten lassen. 13 H. Stegemann, The Qumran Essenes – Local Members of the Main Jewish Union in Late Second Temple Times, in: J. Trebolle Barrera / L. Vegas Montaner (Hg.), The Madrid Qumran Congress, StTDJ 11,1, Leiden u. Madrid 1992, 83–166; ders., Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg i. Br. 41994. 14 Stegemann, Die Essener, 209. 15 Als Beispiel seien nur die Arbeiten von H.-W. Kuhn im Rahmen des Münchener Projekts: „Qumran und das Neue Testament“ genannt, so zuletzt „Gemeinde Gottes“ in den Qumrantexten und bei Paulus unter Berücksichtigung des Toraverständnisses, in: D. Sänger / M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament. FS C. Burchard, NTOA / StUNT 57, Göttingen / Fribourg 2006, 153–169. 16 Wie ungehemmt Populärliteratur hier direkte Beziehungen herstellte und noch immer herstellt, ist bekannt. Doch auch Fachleute waren dabei lange zu optimistisch. Siehe etwa H. Kosmala, Hebräer, Essener, Christen. Studien zur Vorgeschichte der frühchristlichen Verkündigung, StPB 1, Leiden 1959.

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zum Teil auffälligen Parallelen sind aber doch eher als Spuren gemeinsamen jüdischen Erbes zu erklären oder durch strukturelle Analogien zwischen dem jungen Christentum und der essenischen Bewegung eher als durch direkten Einfluss zu verstehen. Dies gilt wohl auch für die Parallelen zwischen der qumranischen Pescherauslegung und der Schriftdeutung, der wir in Texten des Neuen Testaments begegnen, so etwa in den Erfüllungszitaten. Das Neue Testament bietet eine Fülle an Informationen zur religiösen Praxis der Zeit. In manchen Punkten finden wir hier die frühesten Belege dafür, was an biblischen Vorschriften auch tatsächlich praktiziert wurde oder wie diese weiterentwickelt wurden. Interessant ist hier Lk 2,21 zur Namensgebung anlässlich der Beschneidung Jesu (so zuvor schon 1,59 von Johannes dem Täufer). Dies ist der früheste Beleg eines Brauches, der in der jüdischen Tradition erst ab dem Mittelalter fest bezeugt ist. Ohne Zweifel gibt hier Lukas die Praxis seiner Zeit wieder. Schwieriger ist die Bewertung der Fortsetzung 2,21–24, weil sie so stark auf biblischen Texten aufbaut, noch dazu das Reinigungsopfer Marias nach Jesu Geburt mit der Auslösung des Erstgeborenen verbindet und auch diese in den Tempel verlegt. Hier mag die Präsentation Samuels im Tempel das Vorbild gewesen sein, aufgenommen, um damit die Szene für die Begegnung mit Simeon zu bereiten. Doch ist damit auch das Reinigungsopfer als rein von der Bibel abgeleitet anzusehen oder nicht doch religiöse Praxis der Zeit dahinter zu sehen? Rein von biblischen Vorschriften abgeleitete Rekonstruktion von dem zu trennen, was tatsächlich geübt wurde, ist in vielen Texten auch der rabbinischen Literatur schwierig. Viele biblische Normen haben wohl nie (oder nicht lange) den Weg in den religiösen Alltag gefunden; rabbinisch wurde viel aus der Bibel zur aktuellen Norm gemacht, was zuvor nicht praktiziert wurde. Man muss sich des Problems bewusst bleiben, auch wenn es oft keine klare Lösung gibt. Aufschlussreich sind Angaben im Neuen Testament auch zur praktischen Anwendung und Ausweitung der Reinheitsvorschriften. Man denke hier etwa an die Joh 2,6 genannten „steinernen Wasserkrüge, wie es der Reinigungsvorschrift der Juden entsprach“. Dass es gerade Steingefäße sind, entspricht der Sonderstellung von Stein im Reinheitsgesetz, wie aus der rabbinischen Literatur belegt werden kann, zuvor aber nur in diesem Text angedeutet ist. Dass im 1. Jh. steinerne Gefäße und Haushaltsgeräte nicht nur für priesterliche Häuser, sondern viel allgemeiner sehr verbreitet wurden, ist durch zahlreiche archäologische Funde breit belegt.17 Man wird 17 Siehe dazu die wichtige Studie von R. Deines, Jüdische Steingefäße und pharisäische Frömmigkeit. Ein archäologisch-historischer Beitrag zum Verständnis von Joh 2,6 und der jüdischen Reinheitshalacha zur Zeit Jesu, WUNT II.52, Tübingen 1993.

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zwar kaum hinter allen solchen Funden besondere Sorgfalt in Fragen der rituellen Reinheit oder gar Übernahme pharisäischer Halacha sehen dürfen; man kann darin zum Teil fast eine Modeerscheinung sehen; dass jedoch an ihrem Ursprung die Reinheitsthematik steht, ist kaum zu bezweifeln. Ebenfalls in den Reinheitsbereich gehört die Diskussion Jesu mit den Pharisäern über das Händewaschen (Mk 7,2–5), eine Weiterentwicklung und Milderung, zugleich Verallgemeinerung von Reinheitsgesetzen, der die Rabbinen einen eigenen Traktat in der Mischna (Jadajim) widmeten, oder auch der Umgang mit Aussätzigen (Mk 1,40–45): Dass sich der geheilte Aussätzige dem Priester zeigen und dann ein Reinigungsopfer darbringen muss, ist sicher nicht nur aus der Bibel abgeleitet; die Reinerklärung durch den Priester, der dabei nun aber sich an die Belehrung der Rabbinen halten muss, ist auch noch später ein Thema. Auch andere Bereiche des Religionsgesetzes erhalten wichtige Beleuchtung durch das Neue Testament, so das Sabbatgesetz mit der Erwähnung eines „Sabbatwegs“ in Apg 1,12, der Diskussion um die Erlaubtheit des Heilens am Sabbat (Mk 3,1–6 u. ö.) oder der Möglichkeit, einem in eine Grube gefallenen Tier zu helfen. All das konnte man lange Zeit nur durch rabbinische Texte erörtern; die Texte von Qumran haben seither gezeigt, wie allgemein die Diskussion um den Sabbat war und dass dabei die im Neuen Testament den Pharisäern zugeschriebene, weithin auch rabbinisch belegte Position im Vergleich zur Ausformung der Sabbathalacha in Qumran recht gemäßigt war.18 Ein weiteres Beispiel, in dem das Neue Testament wichtige Informationen bringt, wozu ebenfalls die rabbinischen Aussagen durch solche aus Qumran wesentlich ergänzt werden, ist der Bereich des Zehnten (Mt 23,23).19 Auch zur Feier der Feste im Tempel erfahren wir im Neuen Testament wichtige Details, etwa zur Feier von Sukkot mit seiner Wassersymbolik in Joh 7. Nur am Rande sei erwähnt, dass auch die religiöse Terminologie im Neuen Testament viele Berührungen mit jener der rabbinischen Literatur aufweist (man denke nur an bekannte Beispiele wie die Verwendung von „Himmel“ als Gottesbezeichnung, „die Vielen“ als Ausdruck der Gesamtheit, Öffentlichkeit usw.). Anderes, was lange als spezifisch christliche Prägung galt, etwa die johanneische Wendung „die Wahrheit tun“ (Joh 3,21 u. ö.) oder die paulinische Rede von der Rechtfertigung, hat durch die Qumranfunde neue Beleuchtung erfahren.

18 Dazu grundlegend L. Doering, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum, TSAJ 78, Tübingen 1999. 19 M. Del Verme, Didache and Judaism: Jewish Roots of an Ancient Christian-Jewish Work, New York 2004.

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Ein Aspekt des religiösen Lebens des palästinischen Judentums im 1. Jh., wofür man sich stets auch auf die Informationen des Neuen Testaments beruft, ist die Institution der Synagoge. Apg 6,9 gilt weithin als Beleg für mehrere Synagogen in Jerusalem zur Zeit Jesu; verbunden mit den Aussagen der Evangelien über Synagogen in Kafarnaum (Mk 1,21 ff) und Nazaret (Mk 6,2) und allgemeineren Aussagen ergibt sich für viele das Bild, wonach die Synagoge eine allgemein verbreitete Einrichtung im palästinischen Judentum der Zeit gewesen sei. Dass in der Diaspora Synagogen schon lange die Funktion des Zentrums der jüdischen Gemeinden erfüllten, ist gut belegt. Für Galiläa haben wir außer dem Neuen Testament nur die Erwähnung der Synagogen von Tiberias und Dora bei Josephus (Vita 280; Ant. 19,305) und den archäologischen Nachweis einer Synagoge in Gamla auf der Ostseite des Sees Gennesaret; doch wegen der Entfernung zum Tempel ist wohl anzunehmen, dass Galiläa in vieler Hinsicht der Diaspora glich und damit dort Synagogen eine ähnliche Funktion hatten. Anders steht es mit Judäa. Für Caesarea Maritima, deren Synagoge Josephus nennt (Bell. 2,285–289), kann man ebenfalls auf die große Entfernung zu Jerusalem verweisen. In Jerusalem selbst aber und im näheren Umkreis der Stadt kann man sich schwer vorstellen, dass die Priester eine solche Konkurrenz zum Tempel gerne gesehen hätten. Wirklich belegt ist nur eine Synagoge, die ein gewisser Theodotos gestiftet hat und deren Inschrift erhalten ist, nach deren Wortlaut sie wohl am ehesten für Diasporajuden, die nach Jerusalem pilgerten, eine erste Anlaufstelle war. Die oft mit Verweis auf mSota 7,7 f und mJoma 7,1 behauptete Tempelsynagoge beruht auf einem Missverständnis des Textes. Die Synagogen von Herodion und Masada sind in die Zeit des Aufstands gegen Rom zu datieren und entsprechen der besonderen Situation dieser Jahre, sind aber nicht als gewöhnliche Einrichtung zu verstehen.20 So wird man auch die Angabe von Apg 6,9 überdenken müssen, in ihr eher „Synagoge“ als Landsmannschaft und nicht als Gebäude, schon gar nicht als religiöses Zentrum verstehen. Auch die oft geäußerte Feststellung, die Synagoge sei eine spezifisch pharisäische Institution gewesen, lässt sich nicht belegen.21 Eng im Zusammenhang damit steht die Frage nach dem Synagogengottesdienst. In Lk 4,16 ff lesen wir, dass, als Jesus in der Synagoge von Naza20

Verschiedene in den letzten Jahren ausgegrabene Gebäude in Judäa wurden als Synagogen des 1. Jh. interpretiert. Siehe z. B. M. Aviam / W. S. Green, The Ancient Synagogue. Public Space in Judaism, in: J. Neusner u. a. (Hg.), Judaism from Moses to Muhammad. An Interpretation, BRLJ 23, Leiden 2005, 183–200, die mit anderen Autoren Synagogen dieser Zeit auch in Jericho, Qumran, Qirjat Sefer, Modi‘in und Horvat ‘Etri annehmen. In all diesen Fällen ist aber die Identifikation des Gebäudes als Synagoge bzw. die Datierung noch sehr in Diskussion. 21 Zum Thema siehe G. Stemberger, The Pre-Christian Paul. Reflections on Recent Publications, in: Pastor / Mor, The Origins, 65–81.

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ret „aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, man ihm das Buch des Propheten Jesaja reichte. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt: ‚Der Geist des Herrn ruht auf mir‘ “. Hierin sieht man gern einen Beleg dafür, dass es schon im 1. Jh. in der Synagoge neben der Toralesung eine Prophetenlesung gab. Das gibt der Text nicht her. Wir können daraus maximal entnehmen, dass man auch Prophetentexte als geeignet für die Verlesung in der Synagoge ansah. Auch wenn man in der Wahl des Textes nicht die Redaktion des Lukas sehen möchte, der hier seine Botschaft unterbringen will, sollte man aus der Schilderung, dass Jesus gerade auf diese Stelle stieß, nicht entnehmen, dass sie schon vorbereitet war und einem Lesezyklus entsprach. Frühere Versuche, den Aufbau von Evangelien durch Lesezyklen des 1. Jh. zu erklären, sind zu Recht nicht weiter verfolgt worden. Wir wissen nicht, ob auch nur die Tora in Synagogen des 1. Jh. nach einem festen Zyklus gelesen wurde oder ob wir darin eine Neuerung des Rabbinats sehen müssen, vielleicht aus früherer Praxis schriftgelehrter Gruppen übernommen (wie ja auch die Qumranleute regelmäßiges Studium der Schrift pflegten). Im 1. Jh. dürften Exemplare biblischer Schriften noch nicht allzu verbreitet gewesen sein – abgesehen wieder von gelehrten Gruppen wie Qumran oder den Schriftgelehrten –, weshalb wir statt mit einer „Schriftlesung“ im strengen Sinn meist wohl eher mit Unterweisung in biblischen Inhalten rechnen müssen; auch Lesekenntnisse waren damals ja nicht allzu sehr verbreitet. Auch die zumindest zum Teil noch gegebene Flexibilität des Textes biblischer Schriften einschließlich der Tora sollte hier vor zu weit reichenden Folgerungen warnen. Das gilt auch ganz allgemein vom Gottesdienst und den darin verwendeten Gebeten. Wie v. a. Ezra Fleischer zu zeigen versucht hat, sind die Pflichtgebete der Synagoge eine Neuerung der Rabbinen.22 Bei den zahlreichen Parallelen zu Texten des Neuen Testaments, v. a. dem Vaterunser, sollte man daher auch nicht sofort an die Nachahmung oder Umprägung jüdischer Gebete der Zeit denken, sondern an den gemeinsamen biblischen Hintergrund und Gebetstraditionen außerhalb des formalen Rahmens eines geordneten Gottesdienstes. Die Texte von Qumran haben auch im liturgischen Bereich eine Fülle von Material enthüllt, dessen Einordnung in eine größere Geschichte jüdischen Gebets noch lange Studien erfordert und auch für das Verständnis des Neuen Testaments noch manches bieten kann. Für die neutestamentliche Forschung bedeutet dies (und Ähnliches gilt von anderen Bereichen), dass oft lange übliche monokausale Erklärungen nicht mehr halten, an ihre Stelle ein viel größeres Spektrum an Möglichkeiten tritt, ein Reichtum, den man erst einmal wahrnehmen und verarbeiten 22 Siehe dazu R. Langer, Revisiting Early Rabbinic Liturgy: The Recent Contributions of Ezra Fleischer, Prooftexts 19, 1999, 179–194.

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muss. Dass hier traditionelle judaistische Literatur bis heute oft noch Positionen vertritt, die zu vereinfachende Auffassungen vom Judentum der Zeit Jesu bei Neutestamentlern unterstützen, erleichtert das Umdenken nicht gerade; mit dem Rückgriff auf bewährte ältere Handbücher zum Judentum des 1. Jh. kann sich heute auch ein Neutestamentler nicht mehr zufrieden geben. Insgesamt ergeben sich so viele gemeinsame Interessen zwischen der Erforschung des Neuen Testaments und des Judentums der Zeit, wofür hier nur einige Beispiele angeführt werden konnten. Ein gegenseitiges Voneinander-Lernen kann nur im Interesse beider sein. Hier ist insbesondere noch auf die methodischen Zugänge zu verweisen, die ursprünglich für das Neue Testament, teils auch für das Alte Testament entwickelt wurden, so v. a. die klassischen Methoden der Formgeschichte bzw. Formenkritik, der Traditions- und der Redaktionsgeschichte. Der verhältnismäßig sehr geringe Umfang des Neuen Testaments und die vergleichsweise sehr hohe Zahl an Forschern, die sich seiner Erforschung widmen, lassen das Neue Testament gleichsam als Versuchslabor sehen, in dem man methodische Neuerungen ausfeilen kann, bevor sie mutatis mutandis auf größere Textcorpora übertragen werden. Formgeschichtliche Zugänge zu rabbinischen Texten hat man schon früh versucht, besonders im Bereich der Gleichnisse und Wundererzählungen23 oder auch in der Analyse des Traktates Avot24. Über gewisse Anfänge ist man dabei allerdings nicht hinausgekommen. Erst in den letzten Jahrzehnten haben verschiedene Judaisten, allen voran Jacob Neusner, versucht, die neutestamentlichen Methoden systematisch auf die rabbinische Literatur anzuwenden.25 Ursprünglich war man sehr optimistisch, wie direkt man manche Methoden übertragen könne. Bald ist man aber viel vorsichtiger geworden, spricht nicht mehr von Form(en)geschichte, sondern von Form-Analysis oder Form-Criticism26, da man sieht, dass in rabbinischen Texten von den literarischen Formen nicht direkt auf eine geschichtliche Entwicklung geschlossen werden kann. Zwar sind einzelne Formen wie der halachische Präzedenzfall (Ma‘aseh) charak23

P. Fiebig, Altjüdische Gleichnisse und die Gleichnisse Jesu, Tübingen Leipzig 1904; ders., Rabbinische Wundergeschichten des neutestamentlichen Zeitalters, KlT 78, Berlin 1933; ders., Rabbinische Formgeschichte und Geschichtlichkeit Jesu, Leipzig 1931. Zu Fiebig siehe R. Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997, 425–429. Das ganze Kapitel „Die Durchsetzung rabbinischer Studien in der Erforschung des Neuen Testaments“ (405–514) ist für unseren Kontext höchst informativ. 24 F. Maaß, Formgeschichte der Mischna. Mit besonderer Berücksichtigung des Traktats Abot, Berlin 1937. 25 Siehe v. a. J. Neusner, The Rabbinic Traditions about the Pharisees before 70, 3 Bde., Leiden 1971 (Ndr. SFSHJ 202–204, Atlanta, Ga. 1999), Bd. III, 5–179. 26 J. Neusner, Form and Meaning in Mishnah, JAAR 45, 1977, 27–54.

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teristisch für die Frühzeit der rabbinischen Literatur, haben sich aber auch im Lauf ihrer Überlieferung noch weiterentwickelt.27 Insgesamt ist festzustellen, dass frühere Ansätze, eine Geschichte von Formen an Rabbinennamen festzumachen (so Maaß für Avot), auch innerhalb einer einzelnen Schrift nicht haltbar sind. Entwicklungen literarischer Formen lassen sich nur über die großen Dokumente der rabbinischen Literatur hinweg verfolgen, damit über große Zeiträume und geographische Distanzen hinweg, womit auch die geschichtliche Auswertung formaler Aspekte nur noch sehr bedingt möglich ist. Die Beschreibung literarischer Formen innerhalb der rabbinischen Literatur bleibt dennoch eine Aufgabe, da bei Kenntnis traditioneller Formmuster viel leichter spätere Überarbeitung von vorliegenden Traditionen oder Quellen abzuheben ist. Damit sind wir aber auch schon bei den Methoden von Traditions- und v. a. Redaktionsgeschichte, die in den letzten Jahren immer stärker auch auf rabbinische Texte angewandt wird und besonders für den babylonischen Talmud wichtige Ergebnisse gebracht hat.28 Dabei verlagert sich das Interesse naturgemäß von den frühen Traditionen, die man auch in späten Texten zu finden glaubte, zu der Umwandlung solcher Traditionen und den dahinter liegenden Interessen der späten Redaktoren. Das noch immer verbreitete Argument bei der Zitierung sehr später Vergleichstexte, dass auch eine späte Schrift alte Traditionen bewahren könne, sollte man ein für alle Mal aufgeben. Ein Punkt, zu dem die rabbinische Forschung viel von der Arbeit am Alten und Neuen Testament gelernt hat, ist die mündliche Tradition. Formale Charakteristika von Texten, die mündlich geformt und mündlich weitergegeben wurden, sind wichtige Kriterien, die unabhängig von der oft fast als „Dogma“ behaupteten langen Mündlichkeit rabbinischer Literatur gelten. Mnemotechnische Merkmale eines Textes bedeuten allerdings nicht schon für sich allein, dass dieser Text mündliche Herkunft hat. Manche Texte werden bewusst so formuliert, dass sie leicht memoriert werden können; das gilt v. a. für die Mischna, ohne dass wir daraus etwas für eine längere mündliche Vorgeschichte oder auch für eine längere exklusiv mündliche Weitergabe ableiten können. Das Nebeneinander von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist für viele Texte ein realistischeres, wenn auch komplizierteres Erklärungsmodell. Wie die Mündlichkeit des Schulbetriebs sich auf die Textentwicklung eines an sich auch schriftlich vorliegenden Textes auswirkt, lässt sich besonders schön an der Entfaltung der Textformen des babylonischen Talmud nachvollziehen. Rabbinische Forschung ist hier 27 Siehe J. Neusner, Rabbinic Narrative. A Documentary Perspective, Bd. IV: The Precedent and the Parable in Diachronic View, BRLJ 17, Leiden 2003, 7–107. 28 Siehe zuletzt etwa J. L. Rubenstein (Hg.), Creation and Composition. The Contribution of the Bavli Redactors (Stammaim) to the Aggada, TSAJ 114, Tübingen 2005.

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längst nicht mehr allein von den Vorgaben der Bibliker abhängig, sondern hat auch wichtige eigenständige Beiträge geleistet, die auch von der anderen Seite nicht ignoriert werden sollten.29 Beide Seiten können voneinander lernen.

3. Was erwartet die Judaistik vom Umgang eines Neutestamentlers mit jüdischen Quellen? Die Zeiten, in denen eine Mehrheit von Neutestamentlern ihre Parallelen aus der jüdischen Literatur vornehmlich aus (Strack-)Billerbeck bezog, sind noch immer nicht ganz vorbei. Doch gibt es eine immer größer werdende Zahl, die zumindest bereit sind, die dort gefundenen Quellen in einer Übersetzung im Zusammenhang nachzulesen, oft aber auch imstande sind, die Texte in ihrer Originalsprache zu vergleichen. Für Philo, Josephus und die griechisch überlieferte Literatur des Zweiten Tempels galt dies lange als Selbstverständlichkeit, für rabbinische Texte war es lange die Ausnahme. Inzwischen sind viele Bibliker die führenden Spezialisten der Literatur des Zweiten Tempels, v. a. auch der Schriften von Qumran geworden; aber auch für die rabbinische Literatur hat sich viel zum Positiven verändert. (Strack-)Billerbecks Kommentar zu kritisieren ist inzwischen ein Gemeinplatz geworden, ebenso das Bewusstsein, dass nicht alles, was gleich oder auch nur ähnlich klingt, schon eine brauchbare Parallele für das Neue Testament ist. Samuel Sandmels „Parallelomania“30 ist zu einem Schlagwort geworden, ohne dass daraus auch immer die Konsequenzen gezogen werden. Der richtige Ansatz von Morton Smith31, zumindest die größten Probleme in der Datierung rabbinischer Texte zu vermeiden, indem man den Vergleich mit dem Neuen Testament auf tannaitische Texte begrenzt, führt einen guten Schritt weiter, ohne damit schon alle Fragen beantworten zu können. Das beginnt schon mit der Frage, ob ich tannaitische Texte auf Mischna, Tosefta und halachische Midraschim begrenze. Auch dabei muss man in Kauf nehmen, dass die Redaktion der Tosefta, noch mehr der Mekhilta, zum Teil relativ spät datiert wird, damit der „tannaitische“ Zeitraum unter Umständen sehr weit gespannt ist. Dass diese Texte auch bei einem 29 Dazu siehe v. a. die grundlegende Studie von M. Jaffee, Torah in the Mouth. Writing and Oral Tradition in Palestinian Judaism 200 BCE–400 CE, Oxford 2001; E. S. Alexander, Transmitting Mishnah. The Shaping Influence of Oral Tradition, Cambridge 2006. 30 S. Sandmel, Parallelomania, JBL 81, 1962, 1–13. 31 M. Smith, Tannaitic Parallels to the Gospels, JBL.MS, Philadelphia, Pa. 1951.

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frühen zeitlichen Ansatz hundert bis hundertfünfzig Jahre jünger als die jüngsten Schriften des Neuen Testaments sind, ist für einen Vergleich in sich schon ein methodisches Problem. Die übliche Annahme, dass die Daten der rabbinischen Werke ja nur ihre Redaktion, nicht aber ihre Inhalte betreffen, die bedeutend älter sein können, hat zwar eine gewisse Berechtigung, doch die Verwendung früherer Quellen muss im Einzelfall ebenso argumentiert werden, wie man das innerhalb des Neuen Testaments gewohnt ist. Vor allem die Berufung auf die „mündliche Tradition“ darf nicht als deus ex machina dienen, um damit ungeprüft lange Zeiträume zu überbrücken. Dazu kommt, dass das meist halachische Material der tannaitischen Schriften Neutestamentler oft nicht allzu sehr interessiert. Allein der Traktat Avot hat mit seinen Weisheitssprüchen schon immer besonderes Interesse geweckt, weil man in ihm die jüdische Religiosität der Zeit Jesu gespiegelt wähnt (ein problematischer zeitlicher Ansatz!). Erzählende Stoffe scheinen viel mehr zu bieten, und diese findet man v. a. in den Baraitot der späteren Literatur. Doch auch wenn diese auf tannaitische Zeit zurückzugehen scheinen, kann man dies nicht ungeprüft übernehmen, besonders wenn sie erstmals im babylonischen Talmud belegt sind. Schon die sprachliche Analyse zeigt, dass viele dieser Texte in der Überlieferung zumindest an späteren Sprachgebrauch angepasst worden sind; in vielen Fällen ist auch mit fiktiven Baraitot zu rechnen. Der Hinweis, ein Text sei eine Baraita, wie er in Billerbeck und sonst oft gegeben wird, darf nicht als Garantie früher Herkunft einer Tradition gelten, sondern ist immer zu überprüfen. Wie man rabbinische Texte datiert, ist nach wie vor nicht leicht zu beantworten, doch sollte man sich doch zumindest an gewissen Kriterien orientieren, bevor man einen Text als Parallele heranzieht.32 Viele Neutestamentler ziehen zum Vergleich an Stelle rabbinischer Texte gerne die Targumim heran. Die biblische Anordnung des Materials lässt gewünschte Texte problemlos finden; zudem liegen nun alle Targumim in englischer Übersetzung vor. Zu diesem praktischen Kriterium kommt die verbreitete Auffassung, der Targum gehe in seinen Grundlagen auf die Zeit des Zweiten Tempels zurück und spiegle damit das Bibelverständnis des palästinischen Judentums zur Zeit Jesu. Besonders für Targum Neofiti wird dies immer wieder behauptet. Der Fund aramäischer Übersetzungen von biblischen Texten in Qumran scheint diese Annahme zu stärken. Doch ist zu betonen, dass wir keinen Beleg für die Verwendung von Targumim in der Synagoge des 1. Jh. haben (Hiob, zu dem in Qumran Fragmente eines Targums gefunden wurden, wurde zudem wohl nie als Synagogenlesung verwendet!), ja – wie schon gesagt – nicht einmal eine geregelte Lesung 32 G. Stemberger, Dating Rabbinic Traditions, in: P. Tomson u. a. (Hg.), The New Testament and Rabbinic Literature, JSJ.S, Leiden (im Druck).

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von Bibeltexten in Synagogen Palästinas für die vorrabbinische Zeit belegen können. Die Privilegierung der Targumim im Vergleich mit Texten des Neuen Testaments (oft schon damit angedeutet, dass Targumtexte vor rabbinischen Texten angeführt werden) stützt sich auf anachronistische Vorstellungen vom palästinischen Synagogengottesdienst des 1. Jh. und ignoriert die Tatsache, dass alle Targumim (einschließlich Onkelos) deutlich von der Midraschtradition beeinflusst sind. Besonders der so beliebte – da ergiebige – Targum Pseudojonatan ist in seiner Redaktion kaum vor 800 anzusetzen, und auch Neofiti ist nicht früher. Das hohe Alter von Einzeltraditionen müsste jeweils erst nachgewiesen werden. Eine wesentliche Forderung, die man an den Neutestamentler stellen muss, der rabbinische Texte in seiner Arbeit verwendet, ist es, den Textvergleich nicht von vornherein vom Neuen Testament dominieren, sondern zuerst einmal die jüdischen Texte für sich selbst sprechen zu lassen. Natürlich kommt der Neutestamentler von seinen eigenen Fragen zu den rabbinischen Texten, muss dann aber doch die Geduld aufbringen, die ihm relevant erscheinenden Texte zuerst einmal in ihrem Umfeld zu analysieren.33 Diese wichtige Forderung hat David Instone-Brewer dazu geführt, im Gegensatz zu Billerbeck einen rabbinischen Kommentar zum Neuen Testament nicht am Text des Neuen Testaments anzuordnen, sondern an den rabbinischen Texten, genauer gesagt an den sechs Ordnungen der Mischna, damit dem zentralen Werk des frühen Rabbinats.34 Damit ist zugleich auch der Forderung entsprochen, die zeitlich frühesten rabbinischen Texte als Basis des Vergleichs heranzuziehen. Die Durchführung des löblichen und wichtigen Unternehmens ist aber problematisch geraten, sei es durch die unkritische Heranziehung von Baraitot zur Ergänzung des Materials, sei es durch die zum Teil sehr fragwürdigen Kriterien, mit denen gewisse Stoffe von Mischna und Tosefta als Traditionen aus der Zeit des Tempels datiert werden. Wenn rabbinische Halachot oft direkt zur Erklärung gewisser Elemente in Erzählungen der Evangelien wie etwa der Brotvermehrung verwendet werden, steht dahinter die nicht hinterfragte Vorstellung, schon zur Zeit Jesu habe man sich allgemein an die in der Mischna belegten halachischen Normen gehalten, d. h. im Grunde eine große religiöse Einheitlichkeit im Judentum des 1. Jh. unter Dominanz pharisäischer Vorstellungen, die dann in die rabbinische Halacha eingingen. Der heute allgemein betonte religiöse Pluralismus des Judentums des Zweiten Tempels ist hier überhaupt nicht bedacht worden. Es wäre zu wünschen, dass in der Fortsetzung des Werks 33 Ein gutes Beispiel, wie diese Forderung durchzuführen ist, bietet M. Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum. Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus, WUNT II.144, Tübingen 2002. 34 D. Instone-Brewer, Traditions of the Rabbis from the Era of the New Testament, Bd. I: Prayer and Agriculture, Grand Rapids, Mich. 2004. Fünf weitere Bände sollen folgen.

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solche Bedenken berücksichtigt werden, denn der Ansatz ist richtig und, wenn optimal durchgeführt, ein großer Fortschritt in der neutestamentlichen Verwendung rabbinischer Texte. Vielleicht kommt mancher Leser nach diesen Erwägungen zum Schluss, rabbinische Texte seien einfach zu schwierig für die Auslegung des Neuen Testaments zu verwerten, zu einem Großteil ohnedies, wie auch die rabbinische Forschung betont, zeitlich zu weit vom Neuen Testament entfernt. Man solle also besser die Finger davon lassen. Dies war durchaus nicht meine Absicht, im Gegenteil. Doch wäre zu wünschen, dass Neutestamentler bei der Verwendung rabbinischer Quellen dieselbe methodische Sorgfalt walten lassen, die sie für ihre eigenen Texte selbstverständlich fordern. Dazu müssen sie nicht selbst rabbinisch voll geschulte Judaisten werden; doch ein kritisches Problembewusstsein und die Beachtung der Fachliteratur ist zu erwarten. Die Erforschung des Neuen Testaments und die des rabbinischen Judentums haben einander viel zu sagen und sollten für die Beiträge der je anderen Seite entsprechend offen sein.35

35 Siehe auch M. Pérez Fernández, Rabbinic Texts in the Exegesis of the New Testament, RRJ 7, 2004, 95–120 (dort auch weitere Literatur).

Karlheinz Müller

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Die neutestamentliche Wissenschaft verdankt sich bleibend der Gewinnung eines neuzeitlichen Verständnisses christlicher Theologie, wie es seit der Aufklärung allmählich erkämpft wurde und sich vor allem durch einen distanzierenden Umgang mit der kirchlich-dogmatischen Tradition bestimmt zeigt: Von ihren ersten Regungen am Ende des 18. Jahrhunderts an heben die Fragestellungen der neutestamentlichen Wissenschaft darauf ab, die gesamte christliche Theologie auf ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen zu beziehen und sie dort zu rechtfertigen.1 Hinter solchen Vorzeichen ist die neutestamentliche Wissenschaft deswegen „historisch-kritisch“,2 weil es ihr stets um die Vergegenwärtigung eines in ferner Vergangenheit formulierten Textsinnes geht. Es ist ihr darum zu tun, den Aussagewillen neutestamentlicher Texte innerhalb ihrer je konkreten Anfangs- und Aufbruchsumstände verstehbar zu machen. Mit dieser „historisch-kritischen“ Absicht distanziert die neutestamentliche Wissenschaft die von ihr aufgesuchten urchristlichen Äußerungen von der Gegenwart: die Fremdheit jener unwiederbringlich zurückliegenden Texte des Neuen Testaments ist ihr erstes und entscheidendes Ergebnis.3 Das heißt 1 K. Müller, Exegese / Bibelwissenschaft, in: P. Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. I, München 2005, 337–354: 337 f. 2 Derzeit ist die „historische Kritik“ ins Gerede gekommen. Man wendet sich von ihr ab, weil sie sich „nach Ansicht vieler aufgrund des scheinbar unerklärlichen Pluralismus der Ergebnisse innerlich selbst aufgelöst beziehungsweise total relativiert hat (besonders in der Form einer verselbständigten Literarkritik)“: C. Dohmen / M. Oeming, Biblischer Kanon warum und wozu?, QD 137, Freiburg 1992, 17. Die Bewertung der „historischen Kritik“ hängt offensichtlich vom jeweiligen kulturellen Zusammenhang ab: Im US-amerikanischen Kontext haben sich canonical approach, holistic reading, new literary criticism weit mehr durchgesetzt als im deutschen Sprachraum. „Im Moment redet die internationale Forschung von verschiedenen Positionen her freundlich aneinander vorbei. Kritische Bibelwissenschaft betrachtet den Holistic View als für das Verständnis des Endtextes eingeschränkt hilfreich, aber oberflächlich und löcherig. New literary criticism räumt zwar mögliche Vorstufen im Text ein, hält die klassische historische Kritik aber für europäisch-antiquiert und unergiebig. Rezeption geschieht beiderseits nur noch eklektisch, im wesentlichen beschränkt auf die Notierung in immer umfangreicheren Literaturverzeichnissen“: E. Schwab, Zur Neuorientierung der Exegese des AT, DtPfrBI 89, 1989, 3–5: 4. 3 Die Krise der „historischen Kritik“ hat auch mit einer ganz neuen Bezweiflung ihrer Objektivität zu tun: Die religiösen, sozialen und persönlichen Voraussetzungen der ForscherInnen stellen den postulierten Objektivitätsanspruch in Frage. Von neuen Auslegungsweisen wie sozialgeschichtlicher, feministischer und psychologischer Exegese aus werden Auskünfte von der „historischen Kritik“ verlangt, die v. a. auf den Abstand zwischen dem Bibeltext und den heutigen Leser-

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gerade nicht, dass sie die Gegenwart aus den Augen verliert. Sondern die alle Zugriffe der neutestamentlichen Wissenschaft bewegende „historischkritische Methode“ drängt die christliche Theologie, sich immer wieder neu der Frage zu stellen, wie sie einmal angefangen hat. Sie hindert auf diese Weise die christliche Theologie anhaltend daran, zu einer dogmatischen Abgeschlossenheit ihrer Aufgabe zu gelangen.4 Indessen – die „historisch-kritische Methode“ bietet sich auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick als ein rein additives Konglomerat gegenseitig unabgestimmter, handwerklicher Vollzüge dar. Und mehr als alles andere fehlt ihr eine derzeit einvernehmlich zusprechbare, definitorische Mitte, von der aus ihre jeweils separat in die neutestamentlichen Texte eingeführten Untersuchungssonden auf ein integriertes Zielgefüge zugesteuert werden könnten. Am intensivsten wurde in diesem Zusammenhang bislang die Möglichkeit diskutiert, das „religionsgeschichtliche“ Teilverfahren als zentrales Anliegen der „historisch-kritischen“ Exegese ins Auge zu fassen.5 Und zwar nicht nur deswegen, weil es wie kein anderer ihrer Einzelschritte sämtliche bislang erkannten Fragehinsichten der „historischen Kritik“ auf sich zu ziehen vermag. Sondern auch, weil „religionsgeschichtliche“ Erkundigungen darüber hinaus mit ihrer Vision einer „Religionsgeschichte des Urchristentums“ eine plausible Leitplanke in Aussicht stellen.6

1. Der Vorrang judaistischer Erkundigungen Dazu kommt, dass sich das „religionsgeschichtliche“ Handeln an neutestamentlichen Texten in den maßgebenden Abläufen seiner forschungsgeInnen aufmerksam machen. So kommen kontextuelle Theologien ins Spiel, die sich an den Rändern der akademischen Welt entwickelt haben und verstärkt die Seite der Anwendung betonen, also einem Bereich zugehören, in dem die „historische Kritik“ nie akzeptiert war: M. Grohmann, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen 2000, 14.16; C. Dohmen, Rezeptionsforschung und Glaubensgeschichte. Anstöße für eine neue Annäherung von Exegese und systematischer Theologie, TThZ 96, 1987, 123–134: 123. 4 Vgl. T. Rendtorff, Historische Bibelwissenschaft und Theologie. Über den Aufbau der Frage: Was ist christlich?, in: ders., Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, 41–60: 43. 5 K. Müller, Die religionsgeschichtliche Methode. Erwägungen zu ihrem Verständnis und zur Praxis ihrer Vollzüge an neutestamentlichen Texten, BZ NF 29, 1985, 162–192: 180 ff. 6 Wenn heute die „Religionsgeschichte des Urchristentums“ ebenso wie die „Religionsgeschichte Israels“ (vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, 2 Bde., GAT 8.1–2, Göttingen 1992: I, 19) und die „Geschichte der jüdischen Religion“ (J. Maier, Freiburg 21992) wieder als auch theologisch notwendige Aufgaben erscheinen, dann hat das unter anderem damit zu tun, dass die großen systematischen Entwürfe von Rudolf Bultmann und Karl Barth sowie ihrer Nachfolger ihre alles beherrschende Faszination verloren haben.

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schichtlichen Entwicklung niemals damit zufrieden gab, undifferenziert und gleichrangig Anschauungen anzusammeln, die aus der zeitgenössischen Umwelt des Urchristentums stammten und sich als Übernahmen oder Adaptionen von dort zu empfehlen schienen.7 Sondern schon die ersten Anwender der „religionsgeschichtlichen Methode“ ließen keinen Zweifel daran, dass es bei einer solchen Befragung von vornherein eine maßgebende Unterscheidung unter den zum Vergleich anstehenden Umweltreligionen zu machen gilt. Bereits Hermann Gunkel sprach mit Entschiedenheit aus, „daß die Religion des Neuen Testaments auf Israels Boden entstanden ist“.8 Und seitdem haben viele „religionsgeschichtlich“ arbeitende Neutestamentler zu der Überzeugung gefunden, dass es nicht ausreichen kann, die Beteiligung des Judentums an den Anfängen des Christentums lediglich mit Hilfe der Vorstellung von der Einflussnahme einer „fremden“ Religion zu beschreiben: Man darf das Urchristentum nicht offenbarungspositivistisch als eine neue Religion verstehen, deren Aufbrüche zufällig im Judentum liegen. Das Urchristentum ist keinesfalls eine der zeitgenössischen jüdischen Religion gegenüber selbständige, wenn auch im Schoß des Judentums entstandene Religion. Vielmehr gehören die Umrisse seines jüdischen Auftakts unentlassbar zu den maßgebenden Kriterien des urchristlichen Propriums: Die urchristlichen Überlieferungsprozesse sind erstrangig und unlösbar an ihre jüdischen Anfänge gebunden. Die Achse des Christentums kann sich niemals ohne Identitätsverluste dieser ihrer jüdischen Veranlagung entschlagen. Und es ist keineswegs so, dass jene jüdischen Identifikationsmodelle des Anfangs als bloße Sprachhülsen fungierten, die gewissermaßen durch einen neuen „christlichen“ Inhalt ihre jüdische Authentie verloren. Sondern nur im Verbund ihrer innerjüdisch verankerten Schlusskraft blieb ihr Wahrheitsanspruch überprüfbar. Diese Präferenz einer formativen Prägung des urchristlichen Auftakts durch die zeitgleich verfügbare frühjüdische Überlieferung lässt sich anhand unbestreitbarer Tatbestände im Neuen Testament selbst verdeutlichen.9 Von ihrer Wahrnehmung hängt es nicht zuletzt ab, wie ernst man die „religionsgeschichtlichen“ Bemühungen der Neutestamentler um das antike Judentum nehmen darf. 7 Vgl. F. Hahn, Methodenprobleme einer Christologie des Neuen Testaments, VF 2, 1970, 3–41: 12. 8 H. Gunkel, Das Alte Testament im Licht der modernen Forschung, in: ders., Beiträge zur Weiterentwicklung der christlichen Religion, München 1905, 62. 9 Vgl. die Belege in: K. Müller, Rückbesinnung auf die Zukunft. Von der Notwendigkeit einer jüdisch-christlichen Ökumene, in: J. Schreiner / K. Wittstadt (Hg.), Communio Sanctorum. Einheit der Christen – Einheit der Kirche. FS P.-W. Scheele, Würzburg 1988, 231–245: 233 ff sowie ders., Das Judentum in der religionsgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament, JudUm 6, Frankfurt a. M. 1983, 196 ff.

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Das aber verlangt nicht nur die Einsicht, dass eine „religionsgeschichtlich“ arbeitende neutestamentliche Wissenschaft anhaltend auf die Ergebnisse einer unter anderem im Schrifttum des Frühjudentums forschenden Judaistik angewiesen bleibt. Und die Judaistik darf dabei keinesfalls nur als ein „hilfswissenschaftlicher Außenposten der Theologie im Bereich der philosophischen Fakultät“ in Betracht gezogen werden.10 Sondern es bietet sich darüber hinaus an, das Neue Testament überhaupt und vorgeordnet als Zeugnis und Bestandteil einer israelitisch-frühjüdisch-urchristlichen Traditionsgeschichte einzuschätzen und auszulegen.11 Dies umso mehr, weil auf solchen Wegen auch das schließliche Hineinwachsen des Urchristentums in die Welt des Hellenismus als letzte Phase einer Kette von Anverwandlungen auch fremdreligiöser Weltdeutungen an die normative jüdische Basisstrecke des Urchristentums verständlich gemacht werden kann.12

2. Alte und neue methodische Ausstände in der „judaistischen“ Arbeit der Neutestamentler Davon scheint die neutestamentliche Wissenschaft derzeit allerdings noch weit entfernt zu sein. Ein Signal dafür ist, dass die sich nicht zuletzt auf wachsenden „jüdischen“ Materialhalden erhebenden „religionsgeschichtlichen“ Abschnitte in neutestamentlichen Untersuchungen vielfach an einem auffallenden Mangel leiden: Ihr unterscheidbarer Beitrag zu den schließlichen exegetischen und theologischen Erträgen bleibt merkwürdig ungewiss. Man gewinnt den Eindruck, dass die erzielten Auslegungen auch ohne jene „religionsgeschichtlichen“ Mühen mit jüdischen „Parallelen“13 zu denselben Resultaten gekommen wären: Viele Neutestamentler scheinen gar nicht daran interessiert zu sein, Mittel und Wege aufzuspüren, um den Anteil konkreter Lebenskontexte vorurteilsfrei zu respektieren und „theologisch“ mit zu übersetzen, welchen die inzwischen in Unzahlen isoliert angeführten jüdischen „Parallelen“ je von sich aus mitbringen. Nach wie vor werden (früh-)jüdische Texte barbarisch aus ihren literarischen und geschichtlichen 10 J. Maier, Judaistik. Ein neues Studienfach an der Philosophischen Fakultät, in: Blätter des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 1, 1966, 83–90: 84. 11 K. Müller, Judentum, 197–198. 12 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 387 ff. 13 Es kann nicht erstrebenswert sein, die Aufmerksamkeit mit Vorzug analogen Erscheinungen oder „Parallelen“ zuzuwenden, um derart in die Gefilde einer „parallelomanen“ Religionsphänomenologie hinüber zu gleiten. Vgl. S. Sandmel, Parallelomania, JBL 81, 1962, 1–13 und seine berechtigte Kritik am „excessive piling up of rabbinic passages“ (ebd., 9 f).

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Zusammenhängen gerissen – und entweder als willkommene Kontrastfolien oder für voreilige Abhängigkeitsbehauptungen14 missbraucht. Vor allem jedoch werden sie im Normalfall nicht innerhalb ihres angestammten Überlieferungsraumes datiert und dann einem Begriff von (Früh-)Judentum subsumiert, dem man die rundum grassierenden und objektiven Datierungsdefizite ersparen zu können glaubt. Ein Beispiel dafür ist die von Ed Parish Sanders in den letzten drei Jahrzehnten entwickelte und von den Neutestamentlern weitgehend akzeptierte Vorstellung von einem „covenantal nomism“ = Bundesnomismus“.15 Diesem einflussreichen Konstrukt zufolge findet sich in den tannaitischen Schichten des rabbinischen Schrifttums ebenso wie in den Qumrantexten, im Buch Jesus Sirach, im äthiopischen Henochbuch, im Jubiläenbuch, in den Psalmen Salomos und sogar im vierten Esrabuch die durchgängig gleiche Überzeugung von einem eigentlich belangreichen, soteriologischen Grunddatum – näherhin „the view that one’s place in God’s plan is established on the basis of the covenant and that the covenant requires as the proper response of man the obedience to its commandments, while providing means of atonement for transgression“.16 Für E. P. Sanders stehen somit alle frühjüdischen Richtungen letztlich auf demselben Standpunkt, dass sich nämlich Gott durch die Stiftung eines Bundes ein für allemal als Retter und Wohltäter seines Volkes erwiesen hat. Und da er die Profile der Gruppierungen des Frühjudentums so lange und so tief absenkt, bis dieser „kleinste gemeinsame Nenner“17 sichtbar wird, versteht sich das große Zutrauen beinahe von selbst, das E. P. Sanders schließlich in jenen „Bundesnomismus“ setzt: 14 „Abhängigkeit“ ist streng von der Feststellung einer bloßen „Analogie“ („Parallele“) zu unterscheiden. „Abhängigkeit“ ist erst dann wirklich erwiesen, wenn auch der historische Weg offen gelegt werden kann, auf welchem ein frühjüdischer Stoff in die neutestamentliche Überlieferung gelangte. Ohne den Nachweis der geschichtlichen Vermittlung frühjüdischer Einwirkung auf die urchristliche Tradition ist es nicht möglich, über die Behauptung von bloßen Analogien („Parallelen“) hinaus begründet von „Abhängigkeit“, „Übertragung“ und „Übernahme“ zu reden. So gesehen sind die Fälle voll erweisbarer „Abhängigkeit“ relativ selten. 15 Mehr noch als innerhalb der englischen Wortfolge „covenantal nomism“ bleibt in ihrer deutschen Wiedergabe „Bundesnomismus“ der Sinn des Wortteils „-nomismus“ nebelhaft. Was ist damit gemeint? Die Halacha und ihre Observanz? Gerade das scheint E. P. Sanders ausschließen zu wollen – was sein schärfster Kritiker, Jacob Neusner, zu Recht anmahnt, wenn er ihm eine einschlägige Vernachlässigung des „halakhic corpus“ ankreidet, in deren Folge sich E. P. Sanders’ Rede vom „covenantal nomism“ als „cosmically irrelevant to the interpretation of Rabbinic Judaism“ erweise. So J. Neusner, The Use of the Later Rabbinic Evidence for the Study of Paul, in: W. S. Green (Hg.), Approaches to Ancient Judaism II. Essays in Religion and History, BJSt 9, Chico 1980, 43–63: 49 f und 56. 16 E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 2 1981, 75. 17 E. P. Sanders, Jesus and Judaism, London 1985, 336: „I continue to regard ‚covenantal nomism‘ as the common denominator which underlay all sorts of Judaism“.

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„Because of the consistency with which covenantal nomism is maintained from early in the second century b. c. e. to late in the second century c. e., it must be hypothesized that covenantal nomism was pervasive in Palestine before 70. It was thus the basic type of religion known by Jesus and presumably by Paul.“18

Aber – wird man es auch nur für möglich halten dürfen, dass es hinter den frühjüdischen Richtungen, deren vorrangiges Interesse auf eine sich jeweils unterscheidende Halacha gerichtet war, noch so etwas gab wie ein die gewollten Abgrenzungen übersteigendes, voraus liegendes Judentum des „covenantal nomism“?19 So wie bereits vor zwei Generationen George Foot Moore – einer der bevorzugten Gewährsmänner des E. P. Sanders20 – dafür eintrat, dass jenseits der Parteiungen des Frühjudentums noch ein „normal“ oder „normative Judaism“ existierte?21 Ein unbewegliches und abgehobenes „Judentum“ also, das 400 Jahre lang hintergründig und jenseits seiner geschichtlichen Konkretionen auf einer zeitunabhängigen und zeitübergreifenden Struktur22 festsaß – ohne wirkliche Wandlung, ohne Reform und ohne Erneuerung? Ein „Judentum“, dessen Erforschung eine exakte Datierung seiner Überlieferungen letzten Endes gar nicht verlangte?23 18

Sanders, Paul, 426 (kursiv im Original). Ist es nicht so, dass – wenn überhaupt – der „covenantal nomism“ nur dort anzutreffen sein konnte, wo man die Halacha respektierte, wo man sich ihr also verweigerte oder sie befolgte? Trägt nicht die Halacha den „covenantal nomism“ und keineswegs der „covenantal nomism“ die Halacha? 20 Sanders, Paul, 9 f. Was ihn an G. F. Moores Darstellung überzeugt, ist die „description of what is essential to Rabbinic Judaism“ bzw. die Möglichkeit einer „comparison of essential elements with essential elements“. 21 Die Annahme eines vor und nach 70 gleichermaßen „normativen Judentums“ scheitert im Grunde bereits an der Unmöglichkeit einer Ausgrenzung des frühpharisäischen Parts aus der tannaitischen Überlieferung. Vgl. J. Maier, Die gesetzlichen Überlieferungen, in: ders. / J. Schreiner (Hg.), Literatur und Religion des Frühjudentums, Würzburg 1973, 57–64: 59 f. Zu G. F. Moore vgl. auch R. Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997, 374 ff sowie die gegenteilige Einschätzung von J. Neusner, The Demise of „Normative Judaism“. A Review-Essay, in: ders., Early Rabbinic Judaism, SJLA 13, Leiden 1975, 139 ff und ders., „Judaism“ after Moore. A Programmatic Statement, JJS 31, 1980, 141 ff; ders., Why Schechter, Moore and Urbach Are Irrelevant to Scholarship Today, in: ders. / E. S. Frerichs (Hg.), Approaches to Ancient Judaism 6, Atlanta 1989, 173 ff. Kritik an G. F. Moore auch bei K. Müller, Judentum, 95 ff. 22 Sanders, Paul, 423: „There were obviously different groups and different theologies on numerous points. But there appears to have been more in common than just the name ‚Jew‘.“ 424: „We have been concerned with the question of whether or not there is a basic common ground to be found in the various bodies of literature, and the answer is affirmative. (…) We (…) find that in the various literary remains there is a common ‚pattern of religion‘.“ 23 Zur Kritik an E. P. Sanders mit allen Einzelheiten: K. Müller, Gibt es ein Judentum hinter den Juden? Ein Nachtrag zu Ed Parish Sanders’ Theorie vom „Covenantal Nomism“, in: U. Mell / U. B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte. FS J. Becker, BZNW 100, Berlin-New York 1999, 473–486. Bemerkenswert wegen ihrer Gründlichkeit ist die kritische Einlassung von Martin Hengel (mit Roland Deines), E. P. Sanders’ „Common Judaism“, Jesus und 19

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E. P. Sanders führt mit seinem Beharren auf dem „pattern of religion“24 vor Augen, dass das bei der Datierung sowie bei der zeitgeschichtlichen Einordnung der (früh-)jüdischen Quellen an den Tag gelegte Ausmaß an Sorgfalt und Durchhaltevermögen stets korrelativ auf den Begriff des (Früh-)Judentums durchschlägt. Zum anderen jedoch ist die von ihm de facto vollzogene Relativierung des Zeitfaktors und damit der Verzicht auf das Rechnen mit einer maßgeblichen geschichtlichen Entwicklung auch die Folge eines bis zur Stunde objektiv unlösbaren methodischen Defizits: der Unmöglichkeit nämlich, rabbinische Quellen zu datieren. Damit aber ist der eine große Ausstand genannt, der nach wie vor für erhebliche Unsicherheiten und Fehleinschätzungen der Neutestamentler bei ihrer Beurteilung der frühjüdischen Strecke sorgt. Ein anderes Problem tritt in dem merkwürdigen Umstand zutage, dass sich die Neutestamentler in ihrer Mehrzahl den Erkenntnissen und Fortschritten verweigern, welche die Qumranforschung in den letzten zehn Jahren gemacht hat.

3. Die faktische Unmöglichkeit, rabbinische Aussagen zu datieren Wie gesagt25: Es gehört bereits zum Basiswissen der „religionsgeschichtlichen Schule“, dass „man die Einflüsse, die auf das Urchristentum eingewirkt haben sollen, vor allem durch das Judentum vermittelt denkt“.26 Dabei setzt sich die „Schule“ von vorausliegenden Darstellungen27 dadurch ab, dass sie nicht das rabbinische Schrifttum, sondern so gut wie ausschließlich die „Apokryphen“ und „Pseudepigraphen“ zur Eruierung der Konturen des dem Urchristentum zeitgenössischen Frühjudentums heranzieht. Und das Werk, das wie kein anderes die diesbezüglichen Vorstellungen der „Schule“ die Pharisäer, in: ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, WUNT 90, Tübingen 1996, 392–479 (vgl. jedoch unten Anm. 139). 24 Sanders, Paul, 17: „A pattern of religion, defined positively, is the description of how a religion is perceived by its adherents to function. ‚Perceived to function‘ has the sense not of what an adherent does on a day-a-day basis, but of how getting in and staying in are understood: the way in which a religion is understood to admit and retain members is considered to be the way it ‚functions‘. (…) A pattern of religion thus has largely to do with the items which a systematic theology classifies under ‚soteriology‘ “. Vgl. ders., Pattern and Religion in Paul and Rabbinic Judaism. A Holistic Method of Comparison, HThR 66, 1973, 455–478. 25 Siehe oben, S. 34. 26 C. Clemen, Die religionsgeschichtliche Methode der Theologie, Gießen 1904, 19. 27 Vgl. F. Weber, Jüdische Theologie des Talmud und verwandter Schriften, Leipzig 21897 und die Kritik an F. Webers Quellenselektion in Emil Schürers Besprechung: ThLZ 6, 1881, 513 f.

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prägt, ist Wilhelm Boussets „Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter“ (Berlin 1903, Tübingen 41966). Es greift die rabbinische Literatur nur in ganz vereinzelten Bruchstücken auf – und es bleibt bemerkenswert, was W. Bousset seinen sich hier aufbäumenden Kritikern antwortet. Er schreibt ihnen nämlich, dass eine wissenschaftlich vertretbare Darstellung der Religionsgeschichte des Frühjudentums nur „aufgrund datierbarer Quellen“ vorstellbar sei28 – und er sieht keine Möglichkeit, die nicht vor dem ausgehenden zweiten Jahrhundert n. Chr. abschließend redigierten rabbinischen Einzelüberlieferungen stichhaltig zu datieren. Das von W. Bousset damals angesprochene Problem der Undatierbarkeit rabbinischer Texte ist bis heute virulent geblieben. Denn diese beharrliche methodische Aporie hat mit objektiven Schwierigkeiten zu tun, die nach wie vor unüberwindlich erscheinen.29 So fehlen im rabbinischen Schrifttum durchgängig absolute Daten: Alle chronologischen Hinweise sind relativ. Soweit ein chronologisches Gerüst existiert, dient es dem Aufbau einer Periodenfolge, welche die Sicherung der überlieferten Lehre zum Ziel hat. Die dogmatische Absicht steht im Vordergrund, die Imagination einer durchgängigen Kontinuität der Überlieferung herzustellen und den Eindruck einer ungebrochen fortlaufenden Sukzession der Lehrautorität zu vermitteln. Und es ist diese dogmatische Vorgabe, die im rabbinischen Schrifttum die Vorstellung eines präzisen Zeitrasters entstehen lässt: Die gesamte Überlieferung wird von den dogmatisch besetzten Retrospektiven einer späteren Zeit in Anspruch genommen und durch sie umgeprägt. Nichts bleibt davon verschont – auch die namentliche Zuweisung der Gelehrten und Tradenten nicht. Hier gilt der skeptische Satz: „attributions are simply not historically reliable data“.30 Die rabbinische Literatur zeigt sich nirgendwo darauf vorbereitet, die den Neutestamentlern geläufige Frage nach den ipsissima verba eines bestimmten Lehrers zu beantworten. Den rabbinischen Redaktoren geht es nirgends um den verbürgten Wortlaut eines einzelnen Rabbi zu einer bestimmten Zeit, sondern einzig und allein um die Konsistenz der rabbinischen Tradition. Deshalb sind Zuwächse und Korrekturen – ob benannt oder anonym31 – stets und grundsätzlich willkommen. Ihr wirkliches Alter bleibt ohne sachliche

28

W. Bousset, Volksfrömmigkeit und Schriftgelehrtentum. Antwort auf Herrn Perles’ Kritik meiner „Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter“, Berlin 1903, 5 f. 29 Vgl. dazu ausführlich: K. Müller, Die Datierung rabbinischer Aussagen, in: H. Merklein (Hg.), Neues Testament und Ethik. FS R. Schnackenburg, Freiburg i. Br. 1989, 551 ff. 30 W. S. Towner, The Rabbinic ‚Enumeration of Scriptural Examples‘. A Study of a Rabbinic Pattern of Discourse with Special Reference to Mekhilta d’R. Ishmael, StPB 22, Leiden 1973, 34. 31 Vgl. den Fall der fiktiven Baraitot: L. Jacobs, Are there Fictitious Baraitot in the Babylonian Talmud?, HUCA 42, 1971, 184–197. Dazu Müller, Judentum, 75 und ders., Datierung, 562 ff.

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Relevanz. Alles das macht die Datierung rabbinischer Aussagen weitgehend aussichtslos und nahezu unmöglich.32 Je weniger sich die rabbinische Literatur jedoch einer Datierung zugänglich zeigt, umso mehr verdichtet sich für den Neutestamentler die Gefahr religionsgeschichtlicher Fehleinschätzungen. Will er nämlich unter Missachtung des faktischen Datierungsdefizits weiterhin auf rabbinische Verlautbarungen zurückgreifen, so bleibt ihm wenig mehr als ein höchst unzureichend und unsicher in tannaitische und amoräische Aussagen gestuftes Ausgreifen auf eine möglichst große Anzahl von „Parallelen“, die er gewöhnlich ohne Rücksicht auf den dogmatischen Anachronismus der späteren Redaktionen in Anspruch nehmen wird. Dadurch reduziert sich der vergleichende Kontakt des neutestamentlichen Schrifttums mit der rabbinischen Literatur auf eine Summierung von Annäherungen oder Unterscheidungen, die im Normalfall aus aller geschichtlichen Bedingtheit herausgestoßen sind und sich im vagen Medium einer zeitlos-religiösen „jüdischen“ Weltanschauung gegenüberstehen. Es droht jene „Parallelomania“, die einst Samuel Sandmel mit bewegten Worten beklagte.33 Ungeachtet der schlechten Voraussetzungen hat es gerade in jüngerer Zeit nicht an Anstrengungen gefehlt, mit Hilfe einer neu auf die rabbinischen Texte eingestellten Methodik glaubwürdige Datierungsmöglichkeiten zu erschließen. Sie verbinden sich vor allem mit dem Namen Jacob Neusner.34 In den vergangenen 45 Jahren hielt er wie kein anderer die Erforschung des rabbinischen Schrifttums in Bewegung und erneuerte sie grundlegend. Das von ihm vorgeschlagene Verfahren zur Datierung rabbinischer Aussagen markiert heute nach wie vor die Frontlinie der Forschung. Es ist in seinen Umrissen ganz klar: „The simplest possible hypothesis is that the attribution of sayings to named authorities may be relied upon in assigning those sayings to the period, broadly defined, in which said authorities flourished. This proposition can indeed be tested. We have laws which interrelate in theme and conception and which also bear attributions to successive authorities, e. g. to a Yavnean, to an Ushan and to an authority of the time of Rabbi.35 If we are able to demonstrate that what is assigned to a Yavnean is conceptually earlier than, and not dependent upon, what is assigned to an Ushan, then, on the face of it, the former indeed is an earlier tradition, the latter a later one.“36

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Die Gründe im Einzelnen bei Müller, Datierung, 554 ff. S. Sandmel, Parallelomania, passim. 34 Zum Vorgang seiner Annäherung an ein Verfahren: Müller, Datierung, 579 ff. 35 Rabbi = Jehuda ha-Nasi: G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 8 1992, 88 f. 36 J. Neusner, The History of Earlier Rabbinic Judaism: Some New Approaches, HR 16, 1977, 216–236: 230. 33

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Es bleibt die Frage, ob J. Neusner skeptisch genug ist. Denn auch in seiner Rechnung bleiben wenigstens vier Defizite stehen: 1. Nach wie vor ist die namentliche Zuweisung einer Äußerung zu einem bestimmten Rabbi zweifelhaft. 2. Noch die Zuschreibung einer Aussage an die Generation eines mit Namen benannten Rabbi läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Denn dieser bestimmte Rabbi kann wegen seiner besonderen Lehre von einer der späteren Redaktionen in jene und keine andere Redaktion versetzt worden sein. 3. Zusätzliche Zweifel provoziert im Blick auf die Zuweisung eines Rabbi an eine bestimmte Generation der Umstand, dass es häufig (!) ungewiss bleiben muss, welcher Rabbi gemeint sein kann, wenn es mehrere bedeutende Vertreter des gleichen Namens aus verschiedenen Generationen gibt, wie Gamli’el oder Jehoschua. 4. Die Länge der Zeit, welche durch die den „Häusern“ Hillel und Schammai sowie Aqiba zugeschriebenen Aussagen überbrückt wird, lässt es nicht zu, das Datum einer einzelnen Äußerung präzise genug anzugeben. So gesehen empfiehlt es sich eher, das von J. Neusner angeratene Verfahren umzukehren. Es ist sicherer, zuerst und vordringlich die interne Entwicklung der Stoffe zu studieren und zu versuchen, zunächst auf diesem „traditionsgeschichtlichen“ Weg zu einem zeitlichen Gefälle zu kommen. Dann erst mag in dem einen oder dem anderen Fall die namentliche Zuschreibung einer rabbinischen Äußerung als willkommene, aber zusätzliche und zweitrangige Bestätigung in Betracht gezogen werden.37 Im Übrigen wird man nicht davon ausgehen dürfen, dass es zur Stunde bereits ein hinreichend sicheres Verfahren gibt, das es erlaubte, rabbinische Aussagen mit hoher Präzision und ohne Kollateralschäden zu datieren.38 Ein Beleg dafür ist das mit hoher methodischer Bewusstheit erarbeitete und auf sechs Bände geplante Werk des Neutestamentlers David Instone-Brewer, „Traditions of the Rabbis from the Era of the New Testament (TRENT)“. Der Verfasser hat sich ein forschungsgeschichtlich bemerkenswertes und ungewöhnlich aufwendiges Ziel gesetzt: „Unlike Strack-Billerbeck’s Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, which presented isolated quotations without sufficient regard to context or time periods, this work presents the ancient traditions in the context of related rabbinic thought and with careful consideration of dating.“39

37

Müller, Datierung, 586. Das gilt auch noch nach D. Instone-Brewer, Techniques and Assumptions in Jewish Exegesis before 70 CE, TSAJ 30, Tübingen 1992. 39 D. Instone-Brewer, Traditions of the Rabbis from the Era of the New Testament (TRENT), Vol. I: Prayer and Agriculture, Grand Rapids, Mich. 2004, XVIII. 38

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Dieses Vorhaben versucht D. Instone-Brewer dadurch zum Erfolg zu führen, dass er in striktem Gegensatz zu Paul Billerbeck40 die rabbinischen Entsprechungen nicht entlang dem Text des Neuen Testaments aufsucht und ordnet, sondern die Vergleichsarbeit umkehrt: Er belässt jene Mischnatexte, deren Daten ihm vor das Jahr 70 n. Chr. zurückzureichen scheinen, in der ihnen angestammten Reihenfolge der sechs Ordnungen der Mischna und stellt ihnen die für inhaltlich passend gehaltenen neutestamentlichen Texte oder Vorstellungen an die Seite: „The topics follow the six orders of Mishnah, using the subject divisions which date back to the earliest origins of this material. Parallels to the New Testament and other ancient literature are noted throughout“.41 Bei all dem hält sich der Verfasser streng und kritisch an die von J. Neusner in umfangreichen Untersuchungen entdeckten Erfahrungswerte: „The use of attributions (sc. to a named rabbi) has been validated in two completely different ways. The first is by studying all the sayings attributed to a single individual, in order to see if these form a coherent body of material. The second way the attributions have been validated is by studying the style of the sayings.“42

Und schließlich übersieht er nicht, dass „Josephus, Philo, Qumran, New Testament, and epigraphic sources are useful guides to both the pre-70 rabbinic movement and wider Judaism“.43 Man wird somit ohne Einschränkung einräumen müssen, dass D. InstoneBrewers Untersuchungen auf dem derzeit erreichbaren Stand der Diskussion um die Datierbarkeit rabbinischer Aussagen sind – wie auch sonst das Werk extrem sorgfältig gearbeitet ist: Jeder in die Zeit vor 70 n. Chr. zurückgeführte Mischnasatz wird ausführlich innerhalb seiner rabbinischen Überlieferungsfelder kommentiert und detailliert wird seine je besondere Datierungsproblematik diskutiert. Erst dann fragt der Verfasser an, ob ein solcher rabbinischer Satz ein näheres oder ferneres Gegenstück im Neuen Testament oder in einer seiner literarischen Vorlagen hat. Und trotzdem erliegt diese wichtige Untersuchung einer Täuschung. Einmal deswegen, weil sich bereits ihre Kriterien der Datumsbestimmung für die einzelnen Mischnatexte zu einem Auswahlkanon zusammenfinden, in dessen Folge die Konturen der ins Auge gefassten jüdischen Religion vor 70 von vornherein stark heruntergearbeitet werden. Für mehr als 150 Jahre wird ein „pharisäisches“ Judentum vorgeführt, das sich nirgendwo bewegt – und zum Beispiel auch die Wahrnehmung der komplexen geschichtlichen 40 41 42 43

Vgl. Müller, Judentum, 74 ff (bzw. 79). Instone-Brewer, Traditions, XVIII. Instone-Brewer, Traditions, 31. Instone-Brewer, Traditions, 34.

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Entwicklungen vom (Früh-)Pharisäismus zum Rabbinismus gänzlich sistiert: Die Chance ist nicht erkennbar, den zwangsläufigen und allmählichen Aufbau der rabbinischen Kasuistik an der geschichtlichen Leitlinie der sukzessiv komplizierter werdenden Umweltverhältnisse zu messen. Es wird deutlich, dass auch die bisherigen Lösungen der Datierungsproblematik von Mischnatexten den Begriff des Judentums unmittelbar anrühren. Zum anderen liest D. Instone-Brewer das Neue Testament unter der Decke und hinter den Vorzeichen der rabbinischen Überlieferungen aus der Mischna. Unvermittelt werden neutestamentliche Äußerungen mit rabbinischen Aussagen zusammengebracht, die vielleicht aus der Zeit vor 70 stammen – und dann wenigstens anderthalb Jahrhunderte später dem selektierenden Diktat der Mischnaredaktoren unterworfen wurden. Das aber heißt, dass D. Instone-Brewer von der Überzeugung getragen ist, die Gemeinden des Urchristentums und vorher schon Jesus von Nazaret hätten einem gleichartigen und gleichrangigen „pharisäischen“ Judentum gegenübergestanden, das sich einhellig an die schließlich in die Mischna eingegangenen Gebote und Verbote gebunden habe. Der Eindruck festigt sich, als begleite die in jeder Phase und an jedem Ort konstant bedeutsame Gleichzeitigkeit eines unwandelbaren „pharisäischen“ Judentums das Werden und Wachsen der urchristlichen Traditionen und Schriften. Der Preis, den D. Instone-Brewer dafür in Kauf nehmen muss, ist hoch: Er bezahlt unvermeidlich mit einer Bagatellisierung der frühjüdischen Richtungsdifferenzen, wie sie nicht zuletzt im Neuen Testament erkennbar sind. Man wird daraus folgern müssen, dass nach wie vor die Warnung ihre Berechtigung behält, die J. Neusner immer wieder an die Neutestamentler adressierte,44 bei der notwendigen Datierung rabbinischer Texte im Auge zu behalten, dass es eine ohne lästige Nebenwirkungen funktionierende Methode dafür derzeit noch nicht gibt. Als Überbrückung bietet sich sprungbereiter Agnostizismus an. Denn die Alternative, rabbinische Aussagen bei der Erforschung des Frühjudentums und des Urchristentums gänzlich außer Acht zu lassen, ist wenig befriedigend – wie es unter anderen Roger David Aus gesagt hat: „Many New Testament scholars today employ the genuine problem of dating rabbinic sources as a cheap pretext for not even considering them. I would be the first to concede that much of what is Amoraic and even some of what is ostensibly Tannaitic is late and of doubtful relevance to New Testament narratives. Yet a number of Jewish traditions from before 70 CE have been retained in the (patently later) rabbinic writ-

44 Vgl. J. Neusner, The Use of the Later Rabbinic Evidence for the Study of First-Century Pharisaism, in: W. S. Scott (Hg.), Approaches to Ancient Judaism: Theory and Practice, BJSt 1, Missoula 1978, 215–225.

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ings. Each individual tradition must be analyzed and evaluated on its own merits, which I try to do.“45

4. Die Resistenz der Neutestamentler gegen die neuen Einsichten der Qumranforschung Von den rund 800 Schriften, deren Reste man in den Höhlen bei Chirbet Qumran fand, wurden etwa 200 als „biblisch“ identifiziert.46 Davon transportieren 78 Handschriften Stoffe und Texte des Pentateuch. Dem schließen sich vier griechische Manuskripte aus 4Q an,47 so dass sich der Pentateuch mit 83 Exemplaren zu Wort meldet. Und die Statistik der einigermaßen gesicherten Datierungen erlaubt es, ein eindrucksvolles, ständig anwachsendes Interesse an Kopien des Pentateuch zu beobachten – eine Entwicklung, die zur Zeit Herodes des Großen (37–4 v. Chr.) ihren Höhepunkt erreicht.48 Demgegenüber bieten die Abschriften der Prophetenbücher ein ganz anderes Bild. Unzweifelhaft ist die Autorität des Buches Jesaja mit 22 Exemplaren. Ihm folgen mit je 8 Kopien Daniel und das Dodekapropheton. Sechs Abschriften gibt es jeweils von Jeremia und Ezechiel.49 Erkennbar ist also schon aufgrund der Kopienzahlen, dass die Offenbarungsdignität der Pentateuchstoffe gegenüber derjenigen der Prophetenbücher ungleich höher eingeschätzt wird.50 Unter solcher Rücksicht billigte man nur noch (den) Psalmen einen ähnlich herausragenden Rang zu.51 Sie sind mit 38 Hand-

45 R. D. Aus, „Caught in the Act“. Walking on the Sea, and the Release of Barabbas Revisited, SFSHJ 157, Atlanta 1997, X. 46 Vgl. E. Tov, The Texts from the Judaean Desert. Indices and an Introduction to the Discoveries in the Judean Desert Series, DJD 39, Oxford 2002, 165 ff. Nicht belegt sind Haggai, Ester und Nehemia. Die Chronik vielleicht in 4Q118. Dazu auch J. Maier, Le Scritture prima della Bibbia, Introduzione allo studio della Bibbia, Supplementi 11, Brescia 2003, 158 ff. 47 Überblick über die griechische Hinterlassenschaft aus Qumran: H.-J. Fabry, Die griechischen Handschriften vom Toten Meer, in: ders. / U. Offerhaus (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel, BWANT 153, Stuttgart 2001, 131–153. Näherhin: E. Ulrich, The Greek Manuscripts of the Pentateuch from Qumran, in: A. Pietersma / C. Cox (Hg.), De Septuaginta. FS J. W. Wevers, Mississauga, Ont. 1984, 71–82. 48 J. Maier, Pentateuch, Torah und Recht zwischen Qumran und Septuaginta, in: ders., Studien zur jüdischen Bibel und ihrer Geschichte, SJ 28, Berlin 2004, 111–124: 112. 49 Vgl. H.-J. Fabry, Die Handschriften vom Toten Meer und ihre Bedeutung für den Text der Hebräischen Bibel, in: U. Dahmen u. a. (Hg.), Qumran – Bibelwissenschaften – Antike Judaistik, Einblicke 9, Paderborn 2006, 11–29: 12. 50 J. Maier, Zur Frage des biblischen Kanons im Frühjudentum im Licht der Qumranfunde, in: ders., Studien, 33–77: 52 ff. 51 J. Maier, Frage, 54 ff.

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schriften belegbar und sie werden wie die Propheten der Pescher-Interpretation unterzogen.52 Schon die bloße Vielzahl der „biblisch“ zuweisbaren Fragmente macht es verständlich, dass von vornherein die Herausgeber und Bearbeiter der Qumranschriften mehrheitlich Bibelwissenschaftler waren. In der Folge führte dieser Umstand indessen zu einer bemerkenswerten „bibelwissenschaftlichen Schlagseite“53 der Qumranforschung. Näherhin waren es auf den Feldern der neutestamentlichen Wissenschaft erworbene Standards, Problemstellungen und Antwortbedürfnisse, die man auf die Texte vom Toten Meer übertrug und auf diese Weise den Durchblick auf deren Eigenart verstellte. Das begann bereits mit der anhaltenden Rede von einer „Qumrangemeinde“, die den auf „formgeschichtlichen“ Pfaden zugewachsenen Drang der Neutestamentler spiegelt, urchristliche Überlieferungen stets „gemeindlich“ (am liebsten: „in der Urgemeinde“) zu verorten. Ebenso wie die Benennung „Qumransekte“ ein Gebilde „häretischer“ Absonderung vorgab und derart an eine widerständige jüdische Orthodoxie oder an ein ausgrenzendes „normatives Judentum“ hinter allen frühjüdischen Gruppierungen denken ließ, die es so niemals gegeben hat. Vor allem jedoch ging es den (Alt- und) Neutestamentlern darum, die Verkündigungen Johannes des Täufers,54 des historischen Jesus55 und der urchristlichen Schriftsteller56 mit Vergleichstexten aus der Qumranhinterlassenschaft zu versorgen57 – oder 52 Nach 11Q5 Kolumne 27,2–11 hat David 4050 Dichtungen verfasst. In Zeile 11 heißt es: „Alle diese sprach er durch Prophetie, die ihm gegeben worden war vor dem Höchsten“. Dazu J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, Band III: Einführung, Zeitrechnung, Register und Bibliographie, UTB 1916, München 1996, 9 f. Zum Pescher: J. Maier, Biblical Interpretation in the Qumran Literatur, in: ders., Studien, 79–110: 105 ff. 53 J. Maier, Aktuelle Probleme der Qumranforschung, BSGJF 3, 1994, 14–33: 23 f: „Die bibelwissenschaftliche Schlagseite als Basis eines ‚Konsenses‘ “. 54 Vgl. J. H. Charlesworth, John the Baptizer and Qumran Barriers in the Light of the Rule of the Community, in: D. W. Parry / E. Ulrich (Hg.), The Provo International Conference on the Dead Sea Scrolls, StTDJ 30, Leiden 1999, 353–375. 55 Die Alttestamentlerin B. Thiering, Jesus von Qumran. Sein Leben neu geschrieben, Gütersloh 1993, identifizierte Johannes den Täufer mit dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ und Jesus von Nazaret mit dem „Mann der Lüge“ = „Frevelpriester“. 56 Zu 7Q5 vgl. Mk 6,52–53: C. P. Thiede, Die älteste Evangelienhandschrift? Das Markusfragment von Qumran und die Anfänge der schriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments, Wuppertal 1986 und die Widerlegung von S. Enste, Kein Markustext in Qumran, NTOA 43, Freiburg, Schweiz, u. Göttingen 2000. 57 Vgl. die Kritik von J. Frey, Zur Bedeutung der Qumranfunde für das Verständnis des Neuen Testaments, in: Dahmen u. a. (Hg.), Qumran, 33–65: 34 ff, der im Übrigen exakt das Befragungsraster der Neutestamentler abbildet. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch der Versuch, ein „Essenerviertel“ in Jerusalem als Keimzelle der Urgemeinde zu etablieren: J. H. Charlesworth, Das Jerusalemer Essenerviertel und die Urgemeinde. Josephus, Bellum Iudaicum 5,145; 11QMiqdasch 46,13–16; Apostelgeschichte 1–6 und die Archäologie, ANRW II.26,2, Berlin 1995, 1775–1992.

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direkt den Nazarener dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ zu konfrontieren.58 Man las die Qumrantexte entlang dem Geländer neutestamentlicher Anliegen und Verstehensvorgaben und beschwerte sie auf solchen Wegen zuweilen mit fremden Gewichten. So, wenn man zum Beispiel den bzw. die „Gesalbten“ in 1QS 9,9–11; 4Q252; 4Q158; 4Q161; 4Q174; 1Q28a (vgl. 4Q254); 1Q28b; 4Q285; 4Q521 oder in 1Q30 Frgm. 1 mit „Messias“ übersetzte59 und ebenso die Gegebenheiten um den Davididen in CD 7,18–21 sowie in 4Q175 „messianisch“ auffüllte – dabei jedoch die Verfassungsinteressen gänzlich übersah,60 auf die es diesen Texten in ihrem angestammten Überlieferungsmilieu eigentlich ankommt.61 Wie sehr das neutestamentlich vorgeformte Befragungsraster die Qumranschriften aus ihren frühjüdischen Verankerungen riss, zeigt das zweibändige Werk von Herbert Braun, das schon 1966 so etwas wie eine umfassende und abschließende Bestandsaufnahme beabsichtigte.62 Es gibt vor, aus der Bilanz des „Gesprächs zwischen Qumran und dem Neuen Testament“ erfahren zu haben, „warum und auf welchem Gebiete man zu Jesus, zu dem, was er ‚Gott‘ nennt, und zu den Auslegungen Jesu bei Paulus und Johannes ‚ja‘ und zu Qumrans Auffassung ‚nein‘ sagt; d. h. auf welcher Seite man ‚Offenbarung‘ anzunehmen imstande ist“.63 Dieses Buch setzte in der Tat eine Art Schlusspunkt. Das kann auch an der Tatsache abgelesen werden, dass sich vom Anfang der siebziger Jahre an das Interesse der Neutestamentler an der gesamten Qumranforschung deutlich verringerte. Und bereits in der Mitte der achtziger Jahre konnte der Eindruck entstehen, sie hätten sich aus deren judaistisch wirklich belangreichen Frontabschnitten mehr oder weniger zurückgezogen. Die Vorwürfe, die von 1983 an64 gegen die angeblich so säumigen65 Editoren der 4Q-Texte erhoben wurden, 58 Unter dem Zwang neutestamentlicher Vorprägungen fand man zu der Behauptung, dass in 4Q285 von der Kreuzigung des „Lehrers der Gerechtigkeit“ die Rede sei. Dazu J. Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran. Königliche, priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in den Schriften von Qumran, WUNT II.104, Tübingen 1998, 71 ff. 59 Die angeführten Qumranbelege verweisen auf das Übersetzungsproblem. Die gesamten für „messianische“ Erwartungen beanspruchten Qumrantexte in J. H. Charlesworth u. a. (Hg.), Qumran Messianism. Studies on the Messianic Expectations in the Dead Sea Scrolls, Tübingen 1998. 60 Zum „konkreten verfassungsrechtlichen Hintergrund“ vgl. Dtn 17,8–13 mit Flav.Jos.Ant. 4,223 und J. Maier, Messias oder Gesalbter? Zu einem Übersetzungs- und Deutungsproblem in den Qumrantexten, RdQ 17, 1996, 585–612: 603 f. 61 Es ist bedauerlich, dass eine so besonnene Abhandlung wie die von H. Lichtenberger, Messiasvorstellungen in Qumran und die neutestamentliche Christologie, in: Dahmen u. a., Qumran, 67–100, den maßgebenden Aufsatz von Maier, Messias, nicht zur Kenntnis nimmt. 62 H. Braun, Qumran und das Neue Testament I–II, Tübingen 1966. 63 Braun, Qumran II, 362. 64 R. Eisenman, Maccabees, Zadokites, Christians and Qumran, Leiden 1983. 65 Vgl. M. Baigent / R. Leigh, Verschlußsache Jesus. Die Qumranrollen und die Wahrheit über das frühe Christentum, München 1991, 49 ff.

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belegen unter anderem, worauf sich eine solche Meinung zu berufen vermochte. Damit hängt auch zusammen, dass das Bild von der „Qumrangemeinde“ und ihrer Geschichte, welches die meisten Neutestamentler noch heute unerschütterlich vertreten, sich im Großen und Ganzen mit jenen Einsichten deckt, die man ehedem aus den relativ gut erhaltenen Schriften der Höhle 1 erschlossen hatte. Sie waren in der Qumranforschungsstelle der DFG an der Universität Heidelberg unter der Leitung von Karl-Georg Kuhn erarbeitet66 und dann vor allem von Hartmut Stegemann in Göttingen weiter entwickelt und verfestigt worden.67 Sie bewirkten eine bemerkenswerte Abschottung der Neutestamentler gegen die neuen Erkenntnisse, die sich inzwischen nicht nur den umfangreichen Texten aus den Höhlen 4 und 11, sondern auch einer Neubewertung des archäologischen Befunds verdanken.68 So wurde kaum zur Kenntnis genommen, was zahlreiche archäologische Untersuchungen in den letzten 40 Jahren zweifelsfrei nachgewiesen haben: die Gegend in der Nord-West-Ecke des Toten Meeres war sehr wohl besiedelt und nicht nur wirtschaftlich, sondern auch strategisch für die lokal zuständigen Herrscher von höchstem Interesse.69 Qumran war eine „landwirtschaftliche Einrichtung, die eine ganz besondere Funktion im regionalen Wirtschaftsgefüge wahrnahm“.70 Zunehmend wurde deutlich, wie groß die Vielfalt der materiellen Kultur Qumrans und die Komplexität der Lebensvollzüge seiner Bewohner waren. Qumran präsentiert sich keineswegs 66 Vor allem: G. Jeremias, Der Lehrer der Gerechtigkeit, StUNT 2, Göttingen 1963, dann: H.-W. Kuhn, Enderwartung und gegenwärtiges Heil. Untersuchungen zu den Gemeindeliedern von Qumran mit einem Anhang über Eschatologie und Gegenwart in der Verkündigung Jesu, StUNT 4, Göttingen 1966; G. Klinzing, Die Umdeutung des Kultus in der Qumrangemeinde und im Neuen Testament, StUNT 7, Göttingen 1971; H. Lichtenberger, Studien zum Menschenbild in Texten der Qumrangemeinde, StUNT 15, Göttingen 1980. 67 Besonders durch das Buch: H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Herder Spektrum 4249, Freiburg i. Br. 41994. 68 Zu den nennenswerten Ausnahmen gehört: M. Ebner, Jesus von Nazaret. Was wir noch von ihm wissen können, Stuttgart 32007, 63 ff.188 ff. 69 Man wird nicht darüber hinwegsehen dürfen, dass die gesamte Region zwischen ca. 100 v. Chr. und der Zeitenwende, als fast das ganze Gebiet am Toten Meer unter der Herrschaft der Hasmonäer und dann des Herodes stand, einen regelrechten Bauboom erlebte: „nicht nur Jericho, Qumran, En-Gedi, Masada und En Boqeq am Westufer sowie Kallirhoe und Machaerus am Ostufer wurden in dieser Zeit erweitert und neu errichtet“. Y. Hirschfeld, Qumran – die ganze Wahrheit. Die Funde der Archäologie – neu bewertet, Gütersloh 2006, 39. Vgl. M. Fischer u. a., En Boqeq. Excavations in an Oasis on the Dead Sea, Vol. 2: The Officina, Mainz 2000, 143 f (mit einer ähnlichen Liste von Anlagen) und J. Zangenberg, Wildnis unter Palmen? Khirbet Qumran im regionalen Kontext des Toten Meeres, in: B. Mayer (Hg.), Jericho und Qumran. Neues zum Umfeld der Bibel, Eichstätter Studien 45, Regensburg 2000, 129–164; ders., Opening up Our View. Khirbet Qumran in a Regional Perspective, in: D. R. Edwards (Hg.), Religion and Society in Roman Palestine. Old Questions, New Approaches, London 2004, 170–187. 70 J. Zangenberg, Qumran, die Essener und die gegenwärtige archäologische Forschung: „Einführung“ in Hirschfeld, Qumran, 7–22: 13.

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als sektiererischer Sonderfall, sondern als integraler Teil des Landstrichs, seiner Geschichte, seiner Wirtschaft und seiner Gesellschaft.71 Das lässt sich nicht mehr mit der herkömmlichen „Qumran-Essener-Hypothese“72 im Einklang halten: Die in Qumran Wohnenden waren keine Asketen mit einem extrem reduzierten Lebensstil, sondern sie hatten Anteil an der regionalen Wirtschaft, stellten Dienstleistungen zur Verfügung, hatten Frauen und Kinder. All das verlangt die Aufhebung einer exklusiven und ursächlichen Verbindung der „Essener“ mit Qumran. Will man die „Essener“ für Qumran73 im Spiel halten, ist es unabdingbar, die Vorstellungen zu korrigieren, die man sich bislang von ihnen gemacht hat. Sie gehen vordringlich74 auf die Nachrichten des Josephus Flavius in (Ant. 13,171–173 und) Bell. 2, (119–166.) 120–161 zurück, der die „Essener“ als streng organisierte, weltferne, asketische Fromme und Weise schildert. Ein kleinerer Teil von ihnen sei ehelos geblieben. Der größere Teil habe geheiratet und in den Städten des ganzen Landes gelebt. Und bis zur Stunde gibt es eine weitreichende Bereitschaft unter den Neutestamentlern, die Einwohner von Qumran zu diesen „Essenern“ des Josephus Flavius zu zählen und die Siedlung selbst für das spirituelle und organisatorische Zentrum der „essenischen“ Bewegung zu halten75: Man sieht in der „Qumran71 Qumran lag an einem strategisch wichtigen Verkehrsknotenpunkt, nahe der Ostgrenze des Hasmonäerreiches. Wahrscheinlich ist deshalb L. Cansdale, Qumran and the Essenes. A Reevaluation of the Evidence, TSAJ 60, Tübingen 1997, 123 im Recht, die das hasmonäische Qumran als militärische Befestigungsanlage und als Wegstation versteht. Josephus Flavius notiert im Zusammenhang mit dem Versuch des Aristobulos II. (67–63 v. Chr.), seine Thronbesteigung zu sichern, dass die Hasmonäer 22 Festungen (ͨͪ΃͐͒) errichtet hatten und von ihren Anhängern kontrollieren ließen: Ant. 13,422.427. 72 Die Behauptung, Qumran sei das Zentrum der essenischen Schriftrollenproduktion gewesen, ist archäologisch unhaltbar. Vgl. F. Rohrhirsch, Die Geltungsbegründungen der IndustrieRollen-Theorie zu Chirbet Qumran und En Feschcha, NTOA 32, Freiburg, Schweiz, u. Göttingen 1999 gegen Stegemann, Essener, 77 ff. Obwohl die Anlage gründlich ergraben wurde, fand sich in Qumran selbst kein einziges Pergament- oder Papyrusfragment. Die Tintenfässer, die Ostraka und Graffiti bezeugen lediglich, dass die jeweiligen Bewohner von Qumran schriftkundig waren: Hirschfeld, Qumran, 83 f mit Anm. 55. Ebd., 145 zu den verputzten „Bänken“ in Locus 4 (gegen Stegemann, Essener, 59 f). 73 Das Zeugnis des Plinius (naturalis historia 5,73) ist das einzige, das die „Essener“ in der Region am Toten Meer lokalisiert: „unterhalb von diesen (infra hos, sc. ‚Essenos‘) lag früher die Stadt Engedi, die wegen ihres fruchtbaren Bodens und ihrer Palmenhaine nur Jerusalem nachsteht. Jetzt ist sie ebenfalls ein Trümmerhaufen“. Hirschfeld, Qumran, 295 ff bezieht die Ortsangabe auf „das Landgut von Ain-Feshkha“, eine von ihm ausgegrabene dörfliche Niederlassung am Rand der Oase En-Gedi im Süden. Dort siedelt er die „Essener“ an, für die er in Qumran keinen Platz mehr finden kann. Er meint, dass die hier gefundenen Relikte mit den in den Quellen beschriebenen asketischen Lebensvollzügen der „Essener“ übereinkommen. 74 Dazu kommt außer Plinius noch Philo prob. 75–91 und Hypothetica 11,1–18. 75 Unter anderem geht man von der stillschweigenden Voraussetzung aus, dass die meisten – wenn nicht alle – Schriftrollen in Qumran entstanden und zu einer lokalen (zentralen) Bibliothek der Essener gehörten. Obwohl die Schriftrollen nicht in Qumran selbst, sondern lediglich in dessen Nähe gefunden wurden.

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gemeinde“ nach wie vor eine Art Mönchsorden mit Armuts- und Zölibatsverpflichtung. Das aber ist erstaunlich. Denn zum einen fehlen solche Aussagen in den Texten aus den Höhlen völlig.76 Zum anderen ist seit 1993 eine Studie auf dem Markt, welche die Quellen des Josephus Flavius in überzeugender Weise einer kritischen Prüfung unterzieht.77 Nach Roland Bergmeier nämlich verwertete Josephus „primär, wenn nicht fast ausschließlich“78 vier literarische Vorlagen, die nicht alle von den „Essenern“ handelten. „Den Löwenanteil seines Essener-Referats“ entnahm Josephus dabei einer „pythagoraisierenden Quelle“79 – also jener Schrift unter seinen vier Vorlagen, die eine „pythagoräische Fiktion“80 formulierte. Sie zeichnet „die Essener, als seien sie eine Kongregation jüdischer Asketen, die am Zentrum eines Heiligtums, dessen Gründer sie waren, ein gemeinsames Leben führten wie ein pythagoräischer Orden“81. Diese Quelle des Josephus Flavius ist „durchtränkt vom perspektivischen Schein des Pythagorasideals“, während ihr „gemeinjüdisches Verständnis essenischer Lehre und Lebensordnung völlig fremd ist“.82 So wie Josephus die „Essener“ entlang seinen Vorlagen schildert, hat es sie nie gegeben.83 Und es macht deshalb wenig Sinn, seine Nachrichten zum Schlüssel des Verständnisses für schwierige Qumrantexte zu machen. Mehr als alles andere wird man jedoch bezweifeln, dass der von Josephus Flavius erweckte Eindruck zutrifft, die „Essener“ seien eine gewichtige Größe unter den zeitgleichen jüdischen Parteien gewesen. Im Neuen Testament werden sie nicht genannt – ein Befund, den H. Stegemann mit einem überragenden Bekanntheitsgrad der „Essener“ hinwegerklärte und sie zur bedeutendsten Größe im palästinischen Judentum jener Tage erhob.84

76 J. Maier, Aktuelle Probleme, 23: „Die Mitglieder waren in der Zeit, in der sie nicht als diensthabende ‚Männer der vollkommenen Heiligkeit‘ fungierten, offenbar berechtigt, so zu leben, wie Kultpersonal außerhalb des Dienstturnus eben daheim lebte. Darum handeln gewisse Texte auch von Eheschließung und Privatbesitz“. 77 R. Bergmeier, Die Essener-Berichte des Flavius Josephus. Quellenstudien zu den Essenertexten im Werk des jüdischen Historiographen, Kampen 1993. 78 Bergmeier, Essener-Berichte, 114. 79 Bergmeier, Essener-Berichte, 115. 80 Bergmeier, Essener-Berichte, 84.116. 81 Bergmeier, Essener-Berichte, 115. 82 Bergmeier, Essener-Berichte, 104. 83 Vgl. Bergmeier, Essener-Berichte, 120 f: „Von unmittelbar resümierender Bedeutung für die Arbeit am Neuen Testament dürfte die Erkenntnis sein, daß hellenistisch-jüdische Denk- und Lebensweise nach Art der judäischen Essäer bzw. Essener ein literarisches, nicht ein geschichtlich positives Phänomen darstellt, hat es doch die genannten Gruppen selbst und als solche aller Wahrscheinlichkeit nach nie gegeben. Neutestamentliche Zeitgeschichte wird in diesem Punkte wohl neu geschrieben werden müssen. Was es gegeben hat, das war Literatur von der Art der besprochenen Quellen“. 84 H. Stegemann, The Qumran Essenes – Local Members of the Main Jewish Union in Late Second Temple Times, in: J. Trebolle Barrera / L. Vegas Montaner (Hg.), The Madrid Qumran

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Mit Gewissheit ergaben die Untersuchungen R. Bergmeiers, dass die „Essener“-Texte des Josephus Flavius nur noch mit erheblichen Vorbehalten als historische Informationen beansprucht werden dürfen. Die „Essener“ verloren dadurch beträchtliche Teile des formativen Bodens, den ihnen die ältere Forschung zugebilligt hatte.85 Und obwohl R. Bergmeier nicht alle Entsprechungen zwischen den einzelnen Essenertexten des Josephus und den Schriften aus Qumran aufzulösen vermochte, muss das Verhältnis völlig neu bestimmt werden. Von einer solchen Neubesinnung wird dann auch der gesamte Qumranrahmen betroffen sein. Denn wer hat Qumran gebaut, wenn die „Essener“ dafür nicht mehr in Frage kommen? Handelt es sich bei den in den Höhlen von Chirbet Qumran verborgenen Handschriften tatsächlich um die Bibliothek der „Essener“? Oder ist das, „was das corpus in der aufgefundenen Form zusammengebracht hat und für uns heute als ein zusammenhängendes Phänomen erscheinen lässt, nicht die Herkunft aus einer sozial und religiös beschreibbaren Gruppe, sondern zuallererst die Geschichte seiner Verbergung: das Zusammentragen der wertvollen Rollen im Angesicht der Belagerung Jerusalems durch die Römer, der Transport aus Jerusalem und die Deponierung in den Höhlen bei Qumran“?86 Es ist problematisch geworden, aus dem rekonstruierten Profil der Gesamtsammlung auf den Charakter oder auf die Identität der Trägergruppen des Schriftenbestands schließen zu wollen. Das corpus der Qumrantexte ist schwerlich der Rest einer Bibliothek und es darf nicht ausschließlich mit den „Essenern“ in Verbindung gebracht werden. Und warum sollte die bloße Nähe der Höhlen zur Siedlung Qumran die Identität der Benutzer der Rollen mit den Bewohnern der Niederlassung sichern?87 Verhängnisvoll ist bis zur Stunde die Selbstverständlichkeit, mit der Neu- (und Alt-)Testamentler die christliche Auffassung von der „Bibel“ und ihrer „Auslegung“ in die Qumrantexte eintragen – und sich dadurch die eigentlich angemessenen „jüdischen“ Zugänge sowie deren „jüdische“ Wertungsvorgaben verstellen. Dieses „biblizistisch geprägte Bild vom damaligen Judentum trägt sogar fundamentalistische Züge, wenn z. B. in jedem Fall eines gesetzlichen Sachverhalts der Pentateuchtext als der vorgegebene betrachtet und alles andere von ihm abgeleitet gilt, ganz so, als hätte Mose den Pentateuch geschrieben und als wäre die ganze wissen-

Congress, StTDJ 11,1, Leiden u. Madrid 1992, 83–166. Er setzt die Bewohner von Qumran mit den Essenern gleich. 85 Vgl. Maier, Aktuelle Probleme, 20. 86 Zangenberg, Qumran, 19. 87 So J. Magness, The Archaeology of Qumran and the Dead Sea Scrolls, Grand Rapids 2002.

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schaftliche Diskussion um die Vorgänge und die Datierung der Pentateuchredaktion inexistent“.88 Dazu kommt, dass man die einzelnen Teile der bei Qumran gefundenen heiligen Schriften auf ein und dieselbe „kanonisch“-autorisierte Ebene setzt, obwohl die Leser der Texte vom Toten Meer ausschließlich die Gebote und Verbote der „Tora“ für absolut verbindlich halten,89 während sie die „Propheten“ klar davon absetzen90 und von den „Schriften“ lediglich den Psalmen – wegen der prophetischen Befähigung Davids91 – einen angehobenen Offenbarungsrang zuerkennen. Wie sehr hier eine voreilige „kanonisch“biblische Vereinnahmung in die Irre führt, zeigt bereits die Gegebenheit, dass eine ganze Reihe nicht-„biblischer“ Bücher den Qumranleuten offenkundig wichtiger war als „biblische“ Schriften. Denn von manchen nicht„biblischen“ Schriften sind eindrucksvolle Reste mehrerer Exemplare vorhanden: 16 (nach anderer Zählung 14) vom Buch der Jubiläen; 12 von der Damaskusschrift; 11 von 1QS und 2 von 4QS; 9 von 1QH und 4QH; 8 Henochbücher; 8 Bücher der Giganten; 8 Lieder zum Schabbatopfer; 8 von 1QM und 4QM; 6 von 4QMMT (4Q394–399); 6 Texte vom Neuen Jerusalem; 5 vom Buch Tobit; 3 bzw. 4 von der Tempelrolle; ein Exemplar des Buches Jesus Sirach sowie das immer noch nicht identifizierte Buch HHGW (HHGI).92 Schwerer wiegt indessen, dass die „biblizistische“ Engführung eine für Qumran und für das gesamte Frühjudentum schlechthin maßgebende Struktur übersehen ließ: man bemerkte nicht,93 dass beim Umgang mit heiligen Schriften nicht ein „kanonisches“ oder „biblisches“ Richtmaß den Ausschlag gibt, sondern ein keinesfalls auf „Exegese“ angewiesenes Autoritätsprinzip. Was als „Tora“ gilt, wird von priesterlichen Instanzen entschieden und als Recht gesetzt bzw. als gültiges „Gesetz der Zeit“ proklamiert (ĬīĖ) sowie in einer „Ordnung“ (ĝīĤ) niedergeschrieben oder als ėīĘĭė ĬīĖġ (1QS 8,15) verbindlich fixiert.94 Und zwar ohne dass man auf den metho88

J. Maier, Die Qumrangemeinde im Rahmen des frühen Judentums, in: S. Talmon (Hg.), Die Schriftrollen von Qumran, Regensburg 1998, 51–69: 57. 89 J. Maier, Torah und Pentateuch, Gesetz und Moral. Beobachtungen zum jüdischen und christlich-theologischen Befund, in: A. Vivian (Hg.), Biblische und judaistische Studien. FS Paolo Sacchi, JudUm 29, Frankfurt a. M. 1990, 1–54: 14 f sowie 9 ff. 90 J. Maier, Möglichkeiten und Formen theologischer Exegese im Judentum, in: ders., Studien, 3–32: 9 f. 91 Siehe oben Anm. 52. 92 Zählung (und Vergleich) nach Maier, Qumran-Essener III, 10 f. 93 Vgl. L. H. Schiffman, The Halakhah at Qumran, SJLA 16, Leiden 1975; ders., Sectarian Law in the Dead Sea Scrolls, BJSt 33, Chico 1983. 94 Zu den Verben ėīĜ Hifil und ĬīĖ sowie zu den Substantiven ėīĘĭ und ĬīĖġ, zu ėīĘġ und ĬīĘĖ als termini technici der „Tora-Erteilung“ bzw. der „Rechts-Anweisung“ („Rechtssetzung“, „Rechtsproklamation“) hat Johann Maier die einschlägigen Untersuchungen vorgelegt.

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disch überprüfbaren Wegen einer „Auslegung“ dahin gelangt: Es bedarf keines konkreten Anhalts an einem „Pentateuch“-Text. So enthält (nicht nur) die Tempelrolle umfangreiche Textfolgen mit nicht-„biblischen“ Gesetzen, die ohne zögerliche Zurückhaltung als Reden Gottes an Mose formuliert sind. Nirgendwo im Qumranschrifttum wird der Pentateuch als „kanonischer“ Abschluss erkennbar oder als (nicht mehr erweiterungsfähiges) Gesetzbuch ins Auge gefasst. Sondern es ist eine grundlegende Fehleinschätzung der Bibelwissenschaftler überhaupt und der Neutestamentler im Besonderen, wenn sie „Tora“ und „Gesetz“ inhaltlich mit den Geboten und Verboten im Pentateuch gleich setzen und alles, was dort nicht unmittelbar zu finden ist, als Pentateuch-Interpretation nachzuweisen versuchen. Man arbeitet im Grunde unter der ebenso kanon-dogmatischen wie realitätsfernen Voraussetzung, „daß der Pentateuchtext in jedem Fall, chronologisch wie nach Autoritätsgrad, vorgegeben war, und als ob mit der Endredaktion des Pentateuch, die doch höchstens drei Jahrhunderte vor den Vorlagen der Qumranschriften stattgefunden haben dürfte, alle anderen gesetzlichen Traditionen verschwunden wären“.95 Dagegen sprechen nicht zuletzt die Sammlungen von Geboten und Verboten, die sich im Qumranschrifttum finden96 und die paläographisch weit in das zweite Jahrhundert v. Chr. zurückreichen. So stammt die Kopie 4Q249 (ėĬġ īħĤ ĬīĖġ: „Niederschrift eines Buches des Mose“) aus der Zeit kurz nach 200. Und ebenso führen die Gesetze in der Tempelrolle (11QTa und 11QTb) sowie in der Damaskusschrift (CD), aber auch die in 4QMMT (4Q394–399) zusammengefassten halachischen Differenzen tief in die Zeit des zweiten Tempels hinunter.97 Was gültiges Gesetz war, konnte offenkundig zu keiner Zeit vollständig und umfassend kodifiziert, wohl aber fortgeschrieben und für die Praxis geordnet werden. Solche „halachischen“ Gegebenheiten, die zweifellos das Bewegungszentrum des Qumranschrifttums ausmachen, wurden von der neutestamentlichen Wissenschaft kaum wahrgenommen, weil man sich von christlichen Fragestellungen aus mehr um Enderwartung, „Bibel“-Auslegung, Theologie und Geschichtsbild in den Texten vom Toten Meer kümmerte. So wurde auch die Frage nur ganz selten gestellt, wer sich für befugt halten durfte, etwas als „Tora“ einzusetzen und zu proklamieren: Wie kam es, dass eine „Tora-Anweisung“ als Offenbarung verkündigt werden konnte? Dass derartige Sperren die Vergleichsarbeit der Neutestamentler mit zum Teil falschen Gewichten versahen, wird man nicht gut bestreiten können. Vgl. ders., Aktuelle Probleme, 24 ff sowie ders., Biblical Interpretation, 87–96 und ders., Der Lehrer der Gerechtigkeit. Franz-Delitzsch-Vorlesung 1995, Münster 1996, 8 ff. 95 Maier, Qumran-Essener III, 15. 96 Vgl. die Auflistungen bei Maier, Qumran-Essener III, 15; ders., Biblical Interpretation, 86. 97 Maier, Pentateuch, Torah und Recht, 118.

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Von Anfang an verglichen Neutestamentler den „Lehrer der Gerechtigkeit“ (so übersetzte man ehedem die Wortverbindung ĪĖĩė ėīĘġ) mit Jesus von Nazaret.98 Im Rahmen des alten Qumranbildes begriffen sie den „Lehrer“ meistens als Konkurrenten um das hohepriesterliche Amt, näherhin als Gegenspieler des Makkabäers Jonathan (161–142 v. Chr.), der ihn schließlich verdrängte.99 Inzwischen ist man jedoch darauf aufmerksam geworden, dass die Qumrantexte selbst keineswegs eine solche Rivalität um das Amt des Hohepriesters ins Auge fassen, sondern einen Autoritätskonflikt sehr viel grundsätzlicherer Art, welcher der Konfrontation mit Jonathan vorausging100 und schließlich um 175 v. Chr. zu den Wirren unter Antiochos IV. Epiphanes führte. Dadurch erscheinen die Ereignisse, welche den „hellenistischen Reformversuch“ provozierten und begleiteten, zu erheblichen Teilen in einem ganz neuen Licht: Die Qumranschriften empfehlen eine Sicht der Dinge, die – weit mehr als die hasmonäische Propaganda in 1/2Makk einzuräumen gewillt ist – zunächst an grundsätzliche und tiefgreifende innerzadokidische Spannungen als maßgebende Auslöser denken lässt.101 Worum es wirklich ging, macht schon die inzwischen notwendig gewordene Übersetzung von ĪĖĩė ėīĘġ durch „Rechtsanweiser“102 oder besser noch: durch „enactor of justice“103 deutlich. Denn dieser Titel des „Rechtsanweisers“ benennt exakt die Funktion, die Dtn 18,18–19 einem „Propheten wie Mose“ vorbehält104 – also die höchste priesterliche105 „Tora-Autorität“ 98

Jeremias, Lehrer, 319 ff mit der gesamten älteren Literatur. Jeremias, Lehrer, 36 ff und Stegemann, Essener, 205 f. 100 Maier, Lehrer der Gerechtigkeit, 22 ff unter Einbeziehung der „zadokidischen Weltchronologie“ (hier ebd., 24). Das rekonstruierte zadokidische Zeitrechnungssystem bei Maier, QumranEssener III, 52 ff. 101 Vgl. den „chronologischen Überblick“: Maier, Qumran-Essener III, 22 ff sowie ders., Lehrer der Gerechtigkeit, 28 ff. 102 Maier, Lehrer der Gerechtigkeit, 12.17 f. 103 Maier, Biblical Interpretation, 98 f. 104 Maier, Lehrer der Gerechtigkeit, 12: „Ob dabei interpretatorische Prozesse im Vorfeld eine Rolle spielen oder nicht, ist nicht konstitutiv. Entscheidend ist, dass ein Autoritätsanspruch erhoben wird, der nur mit jenem vergleichbar ist, den die Tradition für Mose als Torah-Vermittler stellt“. Zu Ex 18 und Dtn 17–18 vgl. Num 12,6–8: ebd., 12 ff. Dass es in Dtn 18,18 nicht nur um einen in der Endzeit erwarteten Weissagungspropheten geht, sondern um ein hohes Amt unanfechtbarer Tora-Kompetenz, sieht auch der Alttestamentler F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des altestamentlichen Gesetzes, Gütersloh 32005, 280 ff. Er beschränkt allerdings die Zuständigkeit dieses „Propheten wie Mose“ auf die Auslegung der im Pentateuch vorgegebenen Gesetze. Ebd., 281: „Sein Wort ist wie das des Mose. Das heißt sicher, daß es nicht im Widerspruch stehen kann zu dem, was Mose sonst sagt, nämlich in seinem Tora-Buch“. F. Crüsemann rechnet nicht mit einem Fortgang der Institution in nachexilischer Zeit. 105 Zum levitisch-priesterlichen „Tora-Monopol“: Dtn 33,8–11 sowie 2Chr 15,2: „Lange Zeit hindurch war Israel ohne wirklichen Gott, ohne einen anweisenden Priester (ėīĘġ ĢėĞ ēğğ) und ohne Torah“. So die Übersetzung von Maier, Pentateuch, Torah und Recht, 119. 99

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mit absolutem Offenbarungsanspruch und im Zusammenhang einer Verfassungsorganisation106, die nach Ant. 4,216–218 (zu Dtn 17–18) noch Josephus Flavius aus der priesterlichen Tradition erinnerlich war.107 Sie setzt das Amt eines „Propheten“ voraus, in dessen alleinige Verantwortung nicht die Vorhersage künftiger Ereignisse, sondern die aktuelle „Rechts-Anweisung“ fiel – und zwar für alle jene Fälle, die nach den Vorgaben bisheriger Rechtspraxis nicht entschieden werden konnten.108 Dem Josephus galt diese oberste Instanz als Teil der „idealen, theokratischen Rechtsordnung“,109 wie er sie dann in Ant. 4,223 beschreibt. Im Übrigen sagt 1Makk 4,44–47 sehr deutlich, dass zu der Zeit, da Judas Maccabaeus den Tempel in Jerusalem reinigen ließ (um 165 v. Chr.), kein „Prophet“ zur Lösung der dabei dringlich aufbrechenden halachischen Fragen110 zur Verfügung stand. Aber man rechnete noch mit der Amtsübernahme eines solchen „Propheten“. In 1Makk 14,41–45 geht es dann bereits um die Etablierung einer neuen, wenn auch vorläufigen Verfassung, die den Makkabäer Simon (143–134 v. Chr.) „für immer“ zum „Anführer“ und zum „Hohepriester“ macht – ohne ihm allerdings die höchste „Tora“-Kompetenz einzuräumen, die man erst vom Auftreten eines ͡΃ͧͥ͘͠‫ ͚ͣͭͥͤ͡ ͣר‬erwarten will.111 Offenkundig waren die siegreichen Hohenpriester und Herrscher der Hasmonäer nicht daran interessiert, das in seinem Autoritätsanspruch nicht überbietbare Amt112 des prophetischen „Rechtsanweisers“ beizubehalten. Man wird daher annehmen müssen, dass in den Qumrantexten nur von einem einzigen ĪĖĩė ėīĘġ die Rede geht, der um 176 v. Chr. sein Amt

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Maier, Pentateuch, Torah und Recht, 118 ff. Vgl. ders., Lehrer der Gerechtigkeit, 14 ff. Maier, Pentateuch, Torah und Recht, 120 f. 108 Es geht also um bislang unbekannte, nicht existente „Tora“: Dtn 18,18. 109 Maier, Pentateuch, Torah und Recht, 120. 110 1 Makk 4,46 erwähnt das Problem der verunreinigten Altarsteine: „Sie (die dem Gesetz gehorsamen Priester) rissen den Altar (des verunreinigten Tempels) ab und deponierten die Steine am Tempelberg, an einem geeigneten Ort, bis ein Prophet aufstünde, der sie anweisen würde, was geschehen solle“. Vgl. Maier, Qumran-Essener III, 33 f. 111 Maier, Lehrer der Gerechtigkeit, 15 und ders., Pentateuch, Torah und Recht, 121. 112 Das Besondere und Unterscheidende des ĪĖĩė ėīĘġ war, dass er zudem behauptete, ein (biblischer) Prophet wie Habakuk habe gar nicht wirklich gewusst, was seine Prophetien eigentlich besagten. Gott habe ausschließlich ihn, den „Rechtsanweiser“, befähigt, zu „enträtseln“ (īĬħ), worauf die überlieferten Prophetenworte schließlich ausgingen – nämlich auf das Verhältnis der Gegenwart zum Ende der Tage. Dabei leitete er seine „Enträtselungen“ (ĠĜīĬħ) keinesfalls auf dem Wege nachvollziehbarer Exegese aus den Prophetentexten ab, sondern hängte sie dort an – zum Teil nicht einmal ganze Sätze, sondern nur Satzteile oder einzelne Worte, ohne erkennbare Rücksicht auf den Zusammenhang (vgl. 1QpHab 7,1–8). Der ĪĖĩė ėīĘġ nahm für sich also zwei Arten von Offenbarungsmitteilung in Anspruch: die unmittelbare göttliche „Tora-Offenbarung“ und die inspirierte „Enträtselung“ der überkommenen Prophetie – eine Maßgeblichkeit, wie sie bislang keinem Hohepriester zukam. Vgl. Maier, Aktuelle Probleme, 28 f. 107

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antrat (vgl. CD 1,1–2,1)113 und die Zeit für eine extrem priesterliche, in einer restriktiven „Tora“-Tradition stehende Restauration gekommen sah. Er beschwor damit einen Konflikt herauf, in dessen Verlauf er mit seinen Anhängern unterlag und offenbar jene Gegenreaktion auslöste, die als „hellenistischer Reformversuch“ in die Geschichtsbücher einging.114 Der ėīĘġ ĪĖĩė verlor sein Amt – und die Oniadendynastie das erbliche Hohepriestertum. Als schließlich Jonathan Maccabaeus (160–142 v. Chr.) das hohepriesterliche Amt übernahm, schwand endgültig die Hoffnung auf eine Wiedereinsetzung jener uralten Ordnung, in der ein solcher überragend mit Offenbarungsdignität ausgestatteter „Rechtsanweiser“ einen Platz hätte finden können. Der ĪĖĩė ėīĘġ, der letzte Amtsinhaber, war damals ohnehin längst ein alter Mann oder bereits gestorben: Die „Stelle lief endgültig aus, blieb aber in bestimmten Priestertraditionen Bestandteil der alten ‚richtigen‘ Verfassung, deren Wiederinkrafttreten man für die Endzeit erhoffte (vgl. 1QS 9,9–11)“.115 Das neue Wissen um den ĪĖĩė ėīĘġ bestätigt und verstärkt den alten Eindruck eines für die Qumranschriften überhaupt maßgebenden extrem elitären, priesterlichen Weltbildes mit einer von Priestern geschaffenen, aggressiv behaupteten und penibel überwachten Lebensordnung. Das alles versieht den Vergleich neutestamentlicher Texte von vornherein mit einem zunehmenden Maß an Skepsis. Trotzdem bleibt zu fragen, wie es möglich sein konnte, dass die urchristliche Überlieferung (vgl. Joh 1,21.25; 6,14; 7,40.52 P66) und noch die frühe Kirche „den Propheten“ aus Dtn 18,18 mit so erheblichen christologischen Inhalten auszurüsten vermochte. Muss man nicht annehmen, dass sich in Teilen des Urchristentums und der alten Kirche noch ein Wissen um den schlechthin unüberbietbaren Anspruch erhielt, den man ehedem in jüdischen Kreisen (vgl. 4Q158 Frgm. 6; 4Q175 1–8; 4Q375 Frgm. 1 i 1–8 sowie TestBen 9,2) mit diesem „Propheten“ – und nur mit ihm – verband?116 Die Anlage von Chirbet Qumran wurde wahrscheinlich um 100 v. Chr. unter Alexander Jannai (104–76 v. Chr.) neu errichtet und neu besiedelt.117 Im Wesentlichen ging es dabei um die Sicherung der Ostflanke des Hasmonäerreiches.118 Qumran lag innerhalb dieses Konzepts keinesfalls abgelegen 113

Zu den 390 Jahren: Maier, Lehrer der Gerechtigkeit, 18 ff. Maier, Lehrer der Gerechtigkeit, 28 ff. Vgl. ders., Qumran-Essener III, 20 f sowie 29 f. 115 Maier, Pentateuch, Torah und Recht, 122. 116 Maier, Lehrer der Gerechtigkeit, 30. 117 Mit Abstand die meisten, nämlich 143 Münzen, wurden aus der Zeit des Alexander Jannai gefunden. Vgl. J. C. VanderKam, Einführung in die Qumranforschung. Geschichte und Bedeutung der Schriften vom Toten Meer, UTB 1998, Göttingen 1998, 43. 118 I. Shatzman, The Armies of the Hasmonaeans and Herod, TSAJ 25, Tübingen 1991, 266 f unterscheidet drei Typen von Befestigungen im hasmonäischen und herodianischen Judäa: Stadtfestungen, befestigte Paläste und Festungen in Grenznähe sowie an Hauptverkehrswegen. Zu den 114

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und isoliert, sondern in einem gut erschlossenen Areal – in der Nähe von Straßen, welche die Anlage mit der regionalen Hauptstadt Jericho119 und mit der Metropole Jerusalem verbanden. Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass Qumran ohne die Zustimmung des Alexander Jannai ausgebaut oder als Wohnort bezogen werden konnte. Dem widerspricht indessen die krasse negative Beurteilung dieses Hasmonäerfürsten und Hohepriesters, welche die ältere Forschung den inzwischen in Qumran ansässigen Anhängern des ĪĖĩė ėīĘġ in den Mund legte. Sie berief sich dabei auf 4Q169 (Frgm. 4+3 i 1–12), wo im Zuge einer Kommentierung von Nah 2,12–14 ein Geschehen angesprochen wird, das auch Josephus bekannt ist: In Ant. 13,379–384 sowie in Bell. 1,96–98 kann man lesen, dass Alexander Jannai 800 seiner innenpolitischen jüdischen Gegner während eines Gelages in Jerusalem ans Kreuz schlagen ließ. Mit dem Blick auf diese Tat wertete man den Namen „Löwe des Zorns“, den 4Q169 zweimal für Alexander Jannai aufbietet, als Zusammenfassung einer ablehnenden und feindlichen Haltung: „diese Taten des Alexander Jannai waren der Gemeinde wohl ein Beweis für die Verwerflichkeit des Tempels und seiner Priester, denn der Gewalttätige, der diesen unerhörten Frevel beging, war immerhin der Hohepriester“.120 Aber 4Q169 tadelt deutlich weniger das Handeln des Alexander Jannai als die von ihm Gekreuzigten. Von ihnen heißt es in der Zeile 7, dass sie „glatte Anweisungen geben“ (ĭĘĪğĚė ĜĬīĘĖ) – also einer falschen „ToraErteilung“ anhängen und dadurch auch zu den Feinden der Qumranleute gehören. Darüber hinaus wird die Verhängung der Kreuzesstrafe über jene halachisch offenkundig gemäßigte vorpharisäische121 Gruppierung auch deswegen in 4Q169 nicht angeprangert, weil ein solches Todesurteil in den Gesetzen der Tempelrolle (11QTa 64,13[6]–20[13]) für „Verrat am Volk“ ausdrücklich vorgesehen ist. Die in Qumran niedergelassene Gefolgschaft letzteren gehört der Komplex Qumran. Über die Kriege des Alexander Jannai gegen die Nabatäer: A. Kasher, Jews and Hellenistic Cities in Eretz-Israel, TSAJ 21, Tübingen 1990, 137 ff. 119 In 4Q175 (Zeile 21–29 vgl. 4Q379) wird der Fluch aus Jos 6,26 gegen Jericho gerichtet. Das Verhältnis der Bewohner von Qumran zu Jericho war offenkundig zeitweiligen Belastungen ausgesetzt. 120 Jeremias, Lehrer, 139. 121 Die Deutung der ĭĘĪğĚė ĜĬīĘĖ in 4Q169 auf die Pharisäer ist nicht gesichert (vgl. 1QHa 10,15; 12,10). Ebensowenig „die Stadt Efraim(s), derer, welche die glatten Anweisungen geben für das Ende der Tage, da sie mit Lug und Lüg[en um]gehen“ in 4Q169 Frgm. 3–4 ii 2. Auch der Satz Ġ]ĥė ĔĘīġ ĘģĬīħ[Ĭ in 4Q397 Frgm. 14–21 7 muss nicht darauf hinweisen, „daß damals die Bezeichnung (sc. ĠĜĬĘīħ für die Pharisäer) geprägt wurde und es anfänglich umstritten war, wer sich zu Recht als ‚Abgesonderte‘ bezeichnen darf“. So Deines, Pharisäer, 544. Das Szenario, welches „die Pharisäer“ als die schlechthin entscheidende Gegengruppierung auch der Qumranleute aufbauen möchte, entspricht einem betagten „Panpharisäismus“ – nicht den Texten. Ähnlich: G. Stemberger, Qumran, die Pharisäer und das Rabbinat, in: B. Kollmann u. a. (Hg.), Antikes Judentum und frühes Christentum. FS H. Stegemann, BZNW 97, Berlin 1999, 210–224: 211 ff.

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des mittlerweile seit wenigstens 30 Jahren verstorbenen „Rechtsanweisers“ stand somit auf der Seite des Alexander Jannai, der ohnehin eine prosadduzäische Politik verfolgte. Und es wird verstehbar, dass die Benennung „Löwe des Zorns“, die sie für ihn gefunden hatte, positiv gemeint war. Damit ist dann durchaus vereinbar, dass sich unter den später veröffentlichten Texten auch 4Q448 fand – ein Gebet für Alexander Jannai: „Wache, Heiliger, über Jonathan,122 den König und über die ganze Gemeinde deines Volkes Israel“ (Frgm. 1 ii 1–9).123 Denkbar ist zudem, dass sich die Qumranleute zunächst sogar eine Rückkehr zu den Geboten und Verboten erhofften, die sie in 4QMMT aufgelistet und an Alexander Jannai geschickt hatten (4Q398 Frgm. 14 ii 2–4).124 In den neuen Gleisen einer solchen positiven Sicht auf das wenigstens anfänglich positive Verhältnis der Nachfolger des „Rechtsanweisers“ zu Alexander Jannai fordern dann allerdings auch die alten Identifizierungsversuche für andere in den Qumranschriften genannte Personen – wie für den „Frevelpriester“ oder den „Lügenmann“ – ein neues Nachdenken. Auf das Ganze gesehen empfehlen die von der neutestamentlichen Wissenschaft kaum rezipierten Ergebnisse der neu(er)en Qumranforschung, dass wesentliche Partien der Geschichte des Frühjudentums und seiner Religion umgeschrieben werden. Nicht zuletzt aufgrund der schon im vierten und dann im dritten Jahrhundert v. Chr. entwickelten „zadokidischen Chronologie“. Sie erlaubt „verblüffend exakte“ Zugänge zur Vorgeschichte und Geschichte „eines Jahrhunderte zurückreichenden innerzadokidischen Konflikts hinsichtlich der Kalenderpraxis“.125 Anders als es die ältere Forschung sah, verfochten die Qumranleute keineswegs einen exklusiven und alternativen Sonnenkalender.126 Sondern die neuen Befunde sind wesentlich komplizierter,127 passen aber zu dem, was aus dem Buch der Jubiläen und aus dem Astronomiebuch in 1Hen 72–82 zu erfahren ist.128 122

Es gibt nur zwei hasmonäische Könige mit dem Namen Jonathan: Jonathan, den Bruder des Judas Maccabaeus (um 155 v. Chr.) und Alexander Jannai (gestorben 76 v. Chr.). Zur Identifikation des Jonathan aus 4Q448 mit Alexander Jannai: E. Eshel u. a., A Qumran Composition Containing Part of Ps. 154 and a Prayer for the Welfare of King Jonathan and his Kingdom, IEJ 42, 1992, 199–229; vgl. Maier, Aktuelle Probleme, 21. 123 J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, Band II: Die Texte der Höhle 4, UTB 1863, München–Basel 1995, 526. 124 Vgl. Maier, Qumrangemeinde, 65. 125 Maier, Qumran-Essener III, 19. 126 So noch Jeremias, Lehrer, 53. Zur notwendigen Revision der Forschung: M. Albani, Zur Rekonstruktion eines verdrängten Konzepts. Der 364-Tage-Kalender in der gegenwärtigen Forschung, in: ders. u. a. (Hg.), Studies in the Book of Jubilees, TSAJ 65, Tübingen 1997, 79–125. 127 Maier, Qumran-Essener III, 52 ff. 128 Vgl. M. Albani, Astronomie und Schöpfungsglaube. Untersuchungen zum Astronomischen Henochbuch, WMANT 68, Neukirchen 1994, 284 ff (zur Wochen- und zur Tierapokalypse, den entscheidenden Textgrundlagen für die Epocheneinteilung).

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Das alles sollte den Neutestamentlern weniger gleichgültig sein als bisher. Vor allem jedoch verdiente der neu erarbeitete Befund mehr Aufmerksamkeit, dass das mittlerweile vollständig zur Verfügung stehende Qumranschrifttum die einzige Quelle ist, die es erlaubt, ein einigermaßen geschlossenes Bild von den Vorgängen um die Gewinnung und Legitimierung der „Halacha“ im Frühjudentum zu erhalten.

Schluss: „Judaisms“ In den letzten zwei Jahrzehnten trat der frühjüdische Pluralismus zunehmend in das Bewusstsein der Neutestamentler sowie der Judaisten. Und Roland Deines vermutet, dass dies „der herausragende Beitrag der Forschung des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts sein dürfte, der wohl auch die wissenschaftliche Arbeit zu Beginn des nächsten Jahrtausends prägen wird“.129 Auffällig ist, dass man in solchen Zusammenhängen von einem regelrechten Neuanfang redet. Es gibt sprachliche Signale, die darauf hindeuten, dass man sich gleichsam von einem verbrauchten, wenn auch immer noch populären und verbreiteten „Paradigma“ verabschieden will130: Man hat offenkundig gründlich damit aufgehört, auf einen „normative“131 oder „everywhere authoritative and accepted Judaism“132 von „monolithischer, orthodoxer“133 Eigenart und „pharisäischer“134 Grundausstattung zu setzen, der

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Deines, Pharisäer, 10. J. Neusner, From Judaism to Judaisms. My Approach to the History of Judaism, in: ders., Ancient Judaism. Debates and Disputes. Second Series, SFSHJ 5, Atlanta 1990, 181–221: 195: „the true paradigm shift“. Vgl. J. H. Charlesworth, Exploring Opportunities for Rethinking Relations among Jews and Christians, in: ders., Jews and Christians, New York 1990, 35–53: 36: „a paradigm shift“. 131 Charlesworth, Opportunities, 37. 132 Neusner, From Judaism to Judaisms, 181 f: „In 1950 everybody assumed that, in the first six centuries A.D., there was a single Judaism, corresponding to a single Christianity. That Judaism was normative, a linear continuation of the Hebrew Scriptures (Old Testament), everywhere authoritative and accepted“. 133 Charlesworth, Opportunities, 38. 134 Vgl. die kritische Rückschau von G. Stemberger, Die Frage nach einem „mainstream Judaism“ in der Spätzeit des Zweiten Tempels, in: Dahmen u. a., Qumran, 101–118: 103: „Zwar blieb man sich der Existenz der anderen Strömungen des Judentums, die Josephus und das Neue Testament bezeugen, stets bewusst. Doch mussten die schon immer populären Spekulationen über die Essener wegen des Mangels sicherer Quellen stets fragwürdig bleiben; über die Sadduzäer kann man aus denselben Gründen auch heute noch wenig Gesichertes behaupten. Somit kann man geradezu von einer Phase des Panpharisäismus sprechen, der von jüdischen wie christlichen Autoren weithin geteilt wurde. Die Dominanz einer einzelnen Gruppe, eben der Pharisäer, schien 130

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sich von Jesus Sirach über das Jahr 70 n. Chr. hinweg bewegte und dessen unbeirrbarer Strom dann in das rabbinische Schrifttum des beginnenden dritten Jahrhunderts einmündete.135 So meint James H. Charlesworth: There was not one ruling, all powerful group in Early Judaism: many groups claimed to possess the normative interpretation of Torah. There were not four sects, but at least a dozen groups and many subgroups. We should not think in terms of a monolithic first-century Palestinian Judaism, perhaps we should attempt to contemplate a post-70 Pharisaic type of Judaism and a variety of pre-70 „Judaisms“.136

Mit noch schwereren Gewichten versieht Gabriele Boccaccini die neue Rede von den „Judaisms“: We are now much more conscious that Judaism is to be seen not as an ideologically homogeneous unit but, in today’s world as well as in the past, as a set of different ideological systems in competition with one another. We have also learned that both Christianity and Rabbinism knew their formative periods and became normative systems only from the second century C. E. on. Prior to that they were only two of the many Judaisms of their time, two instruments of an ancient orchestra, which the canonical myopia prevented us from identyfying and enjoying.137

Der mit solcher Emphase angekündigte Neuanfang in der Erforschung der frühjüdischen „Judaisms“138 führt eine ganze Reihe dringlicher Aufgaben mit sich. An einer der ersten Stellen ist dabei sicher die kritische Überprüfung und Neueinrichtung des nach wie vor die Einschätzungen des Frühjuunübersehbar, damit auch die Zeichnung eines weithin einheitlichen Bildes der jüdischen Religion möglich“. 135 Dadurch ist auch die Frage nach einem „gemeinsamen Nenner“ problematisch geworden, wie sie E. P. Sanders (siehe oben), aber auch J. D. G. Dunn, The Parting of the Ways between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, London 1991, stellte. Dunn nennt vier Pfeiler für das gesamte damalige Judentum: Monotheismus, Erwählung Israels, Zentralität der Tora sowie den Tempel (ebd., 18–36) – und hat dann Schwierigkeiten, die Trennung des Judenchristentums aus dem Verband des auf jenem „gemeinsamen Nenner“ aufruhenden Judentums zu verstehen. 136 Charlesworth, Opportunities, 37. 137 G. Boccaccini, Middle Judaism. Jewish Thought 300 B.C.E. to 200 C.E., Minneapolis 1991, 13 f. Ders., Portraits of Middle Judaism in Scholarship and Arts. A Multimedia Catalog from Flavius Josephus to 1991, Quaderni de Henoch, 1992, IX: „ ‚Middle Judaism‘ describes Judaism between the third century BCE and the second century CE. It was a period of creativity and cultural pluralism, encompassing several different groups and theologies in competition, including early Christianity. Middle Judaism is the bridge between ancient (post-exilic) Judaism and the two main Judaisms of modern times, Christianity and Rabbinism“. 138 J. Neusner, Judaism. The Evidence of the Mishnah, Atlanta 21987, verlangt für die Rede von einem „Judaism“ ein kohärentes System, wie es typisch in der Mischna gegeben sei – aber auch in den verschiedenen Schriftengruppen aus der Zeit des zweiten Tempels, die je ein unterscheidbares Judentum bezeugten. P. R. Davies, The Judaism(s) of the Dead Sea Writings, in: J. Neusner u. a. (Hg.), EncJudaism 2, Leiden 2000, 182–196 findet in der Qumranliteratur eine Mehrheit von „Judaisms“.

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dentums dominierenden alt hergebrachten Pharisäerbildes zu nennen.139 Es ist offenkundig nicht mehr möglich, den „Pharisäismus“ vor 70 pauschal als für die breite Bevölkerung maßgebendes Judentum zu sehen – und die Pharisäer als „true leaders of Jewish Society, followed by the masses“.140 Auch geht es nicht mehr an, die gleichzeitigen nichtpharisäischen „Judaisms“ mehr oder weniger als „häretische“ Abweichler an den Rand des frühjüdischen Spektrums zu drängen141: Die Grenzen des pharisäischen Einflusses und die innerjüdische Position der Pharisäer bedürfen einer neuen Beschreibung.142 Ganz abgesehen davon, dass man sich nicht mehr mit der schlichten Auskunft zufrieden geben darf, „der Rabbinismus“ sei „der aus einer Gruppenexistenz in die Gesamtverantwortung für das Judentum hineingezogene Pharisäismus“.143 Zusammen mit den hier notwendigen Korrekturen wird sich das Wissen der Neutestamentler um die Stellung der urchristlichen Gemeinden zu ihren jüdischen Umwelten wahrscheinlich erheblich ausdifferenzieren und sich mit sehr viel komplexeren Befunden arrangieren müssen.144

139 Um den Einwand, er unterschätze massiv den Pharisäismus als den eigentlich gewichtigen „common Judaism“, dreht sich die Auseinandersetzung von M. Hengel und R. Deines mit E. P. Sanders (s. oben, Anm. 23). Dabei fällt auf, wie sehr sich beide Kritiker bemühen, die Belegbasis für die Anwesenheit von „Pharisäern“ im Ereignisraum des Frühjudentums logisch über das faktisch vorhandene und äußerst spärliche Textmaterial hinaus zu vergrößern. Vgl. Deines, Pharisäer, 534 ff („Die Pharisäer als inklusives Judentum“). 140 D. Goodblatt, The Place of the Pharisees in First Century Judaism. The State of the Debate, JSJ 20, 1979, 12–30: 12. 141 Vgl. die kritsche Bilanz von J. Neusner, From Judaism to Judaisms, 182: „Everybody assumed, that all Jews, except a few cranes or heretics, believed and practiced this single, unitary Judaism, which therefore was not only normal but normative“. 142 G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991, 22 f.38 f.40 ff. 143 C. Thoma, Der Pharisäismus, in: J. Maier / J. Schreiner (Hg.), Literatur und Religion des Frühjudentums, Würzburg 1973, 254–272: 270. 144 Fraglich bleibt, ob eine künftige Forschung „nach dem übergreifenden Gemeinsamen“, nach dem „gemeinsamen Nenner“, nach einem „mainstream Judaism“ innerhalb der frühjüdischen Gruppierungen die Arbeit der Neutestamentler wesentlich weiterbringen wird. Vgl. Stemberger, Frage, 108 ff.115 ff. Kann dieses „Gemeinsame“ mehr sein als ein Ausschnitt aus dem täglich und „commonly practiced way of life“? Vgl. J. Neusner, Judaic Law from Jesus to Mishnah. A Systematic Reply to Prof. E. P. Sanders, Atlanta 1993, 51; vgl. 9: „valid, but systematically trivial“.

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Paul Billerbecks „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“ Wege und Abwege, Leistung und Fehlleistung christlicher Judaistik*

Der Name „Billerbeck“ ist auf dem Feld der neutestamentlichen Wissenschaft nach wie vor ein Markenname, ähnlich wie „Nestle“, „Bauer“ und wohl auch „Kittel“. Die von dem Landpfarrer Paul Billerbeck in Jahrzehnte langer Hingabe unternommene Sammlung altjüdischer, insbesondere rabbinischer Parallel- und Vergleichstexte zu den Schriften des Neuen Testaments – zwischen 1922 und 1928 dank der Unterstützung des Berliner Neutestamentlers und Judaisten Hermann Leberecht Strack unter dem Titel „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“ in fünf über 4000 Seiten umfassenden Bänden veröffentlicht1 – gehört seit nahezu 80 Jahren zum grundständigen Handwerkszeug der neutestamentlichen Zunft – zumindest im deutschsprachigen Bereich, aber durchaus auch darüber hinaus. Die Breiten- wie die Tiefenwirkung dieses Werkes sucht ihresgleichen. Es hat geradezu „kanonisches“ Ansehen erreicht. Wenn es darum geht, neutestamentliche Texte und Themen in den Kontext der Gedankenund Lebenswelt des antiken Judentums zu stellen, „die altjüdische“, insbesondere die rabbinische „Literatur zur Erläuterung des Neuen Testaments heranzuziehen“2, dann kommt der „Billerbeck“ auch heute noch zum Zuge – sei es im direkten Zugriff, sei es durch die Fachliteratur vermittelt. In Handbüchern, in vielen Kommentaren und zahlreichen Abhandlungen zum NT dient das Billerbeck’sche Werk nach wie vor als Referenzbuch, nicht selten auch als Quelle, nach der rabbinische Texte zitiert werden. Ein wirklicher Klassiker also! Viel benutzt, häufig verwertet, nicht selten ausgeschlachtet. Im Blick auf seine Benutzung und Wirkung darf ohne Übertreibung von einer wissenschaftlichen Erfolgsgeschichte gesprochen werden. Und das ist kein Wunder. Dieses Werk ist das Ergebnis durchaus * Überarbeitete Fassung eines auf dem interdisziplinären Symposium „Zwischen Zensur und Selbstbesinnung. Christliche Rezeption des Judentums“ des Alfred Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald (15.–16.2.2007) gehaltenen Vortrags. 1 [H. L. Strack /] P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, I–IV, München 1922, 1924, 1926, 1928 (= 1961; I–II, 1978; III–IV, 1975). Zur alleinigen Verfasserschaft von Billerbeck s. J. Jeremias, Art. Billerbeck, TRE 6, 1980, 640 ff: 641 f. 2 Billerbeck I, v.

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profunder Kenntnis und emsiger Sammlertätigkeit auf einem Gebiet, das den meisten sich auf den Feldern des Neuen Testaments tummelnden Gelehrten lange verschlossen war und bis heute – wenn überhaupt – nur unzureichend vertraut ist. In ihm hat die nach vereinzelten Vorspielen3 im 17. Jh. einsetzende, im 18. aufblühende und im 19. Jh. fortgesetzte gelehrte Bemühung christlicher Theologen,4 rabbinische und andere altjüdische Quellen für das Verständnis des NT zu Rat zu ziehen, in immer umfangreicheren Kompendien zusammenzustellen und mit ihrer Hilfe die Eigenart der Verkündigung Jesu und der Lehre der Apostel zu beleuchten, einen alles Bisherige hinter sich lassenden und seither unübertroffenen Höhepunkt erreicht. Der Reigen der Vorgänger Billerbecks umfasst illustre Namen. Am Anfang stehen Christopher Cartwright mit einem Mellificium Hebraicum (Hebräischer Honigbau, 1649) benannten Werk und John Lightfoot mit den Horae Hebraicae et Talmudicae zu den Evangelien (Matthäus 1658, Markus 1663, Lukas 1674, Johannes 1671), zum 1. Korintherbrief (1664) und (postum veröffentlicht) zu Apostelgeschichte und Römerbrief (1678).5 Es folgen Johann Christian Schöttgen mit seinen Horae Hebraicae et Talmudicae in Universum Novum Testamentum (1733) und Johann Gerhard Meuschen mit einem Sammelband unter dem Titel Novum Testamentum ex Talmude et Antiquitatibus Hebraeorum illustratum (1736), der neben zwei eigenen Beiträgen Arbeiten von Balthasar Scheid, Johann Andreas Danz und Jakob Rhenferd enthält, ferner Johann Jakob Wettstein mit seiner durch viele Quellenverweise ausgezeichneten Ausgabe des Novum Testamentum Graecum (1751/52). Aus dem 19. Jh. sind zu nennen der Konvertit Friedrich Nork (= Friedrich Korn; Pseudonym für Joseph Seligmann Kohn) mit einer auf Lightfoot und Schöttgen basierenden erstmals ins Deutsche übersetzten Sammlung Rabbinische[r] Quellen und Parallelen zu neutestamentlichen Schriftstellen (1839), Thomas Robinson mit einer Arbeit The Evangelists and the Mishna (1859); ferner Carl Siegfried mit zwei Analecta Rabbinica (1875) bzw. Rabbinische Analekten (1876) betitelten Zusammenstellungen6 sowie Franz Delitzsch mit seinen als „Ergänzungen zu Lightfoot und Schöttgen“ deklarierten Horae Hebraicae et Talmudicae (1876–78)7, schließlich August Wünsche mit Neue[n] Beiträge[n] 3 So z. B. Raimundus Martini, Capistrum Iudaeorum, 1267 (hg. v. A. Robles Sierra, Würzburg 1990/93); ders., Pugio Fidei adversus Mauros et Judaeos, 1265–1281 (hg. v. J. Henault, Paris 1651; J. B. Carpzow, Leipzig 1687 [= Farnborough 1967]); Anonymus, Parvus tractatulus, ese libello hebraico excerptus, cui nomen est: sefer amƗnƗ. Liber fidei seu veritatis (hg. v. P. Fagius, Isny 1542); Johann Buxtorf d. J., Florilegium Hebraicum (Basel 1648). 4 Zum Rahmen s. G. F. Moore, Christian Writers on Judaism, HThR 14, 1921, 197–253. 5 Horae Hebraicae et Talmudicae in Quattuor Evangelistas, 1658–1674 (hg. v. J. B. Carpzov, Leipzig 1675–79 = 1684); Horae Hebraicae et Talmudicae in Acta Apostolorum, partem aliquam epistolae ad Romanos et priorem ad Corinthios, Leipzig 1679. Englische Übersetzung: Horae Hebraicae et Talmudicae. Hebrew and Talmudical exercitations upon the Gospels, the Acts, some chapters to St. Paul’s epistle to the Romans and the first epistle to the Corinthians, 1859 (= 1979). 6 Analecta Rabbinica in Novum Testamentum et Patres ecclesiasticos spectantia, Leipzig 1875; Rabbinische Analekten, JPTh 2, 1876, 476–480. 7 ZLTh 37, 1876, 401–409.593–606; 38, 1877, 1–17.209–215.450–454.599–607; 39, 1878, 1–9.209–215.401–410.

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zur Erläuterung der Evangelien aus Talmud und Midrasch (1878) sowie William Henry Bennett mit The Mishna as illustrating the Gospels (1884).

Billerbeck hat sich nicht darauf beschränkt, das von den Vorgängern zusammengetragene Material zu sichten und auf Grund der zu seiner Zeit vorhandenen, überwiegend vorkritischen Ausgaben in deutscher Textfassung zugänglich zu machen. Er hat es durch eine Fülle weiterer Texte aus der gesamten altjüdischen Literatur ergänzt8 und sich zudem bemüht, die Masse des Stoffes in Form von Einzelanalysen und Sachexkursen zu bändigen. Textlich im Vordergrund stehen die im Titel genannten Größen „Talmud und Midrasch“; daneben wurden in beträchtlichem Umfang die alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen, ferner die Schriften des Josephus und vereinzelt auch des Philo berücksichtigt: „eine Quellendarbietung von enzyklopädischen Ausmaßen“9. Insgesamt eine außergewöhnliche Kraftleistung. Es gibt wenige Werke von diesem Zuschnitt. Seine Erarbeitung und Veröffentlichung stellen eine wissenschaftliche Großtat dar. Das ist von allen Rezensenten, die sich nach Erscheinen der einzelnen Bände zu Wort gemeldet haben, anerkannt worden, auch von den mit Kritik keineswegs sparsamen. Wie Daniel J. Rettberg in der bislang einzigen umfänglichen Untersuchung zu Person und Werk Billerbecks10 dargelegt hat, waren es nicht zuletzt jüdische Gelehrte, die Billerbecks Leistung mit Anerkennung, ja großem Lob begrüßten. Das trifft schon für zwei der ersten Anzeigen überhaupt zu. Die eine findet sich im Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in einem längeren, von dem Heilbronner Bezirksrabbiner Max Beermann stammenden Artikel, der die Überschrift „Ein Meisterwerk christlicher Talmudgelehrsamkeit“11 trägt; die andere begegnet im Yearbook der Central Conference of American Rabbis, in dem Billerbecks Werk als „eloquent testimony of the encyclopedic range of his knowledge“12 gewürdigt wird. Ähnlich lautet der Tenor in der von Johann Krengel – damals Rabbiner in Böhmisch-Leipa, später in Ratibor – 8

Wie weit er dabei die in Arbeiten jüdischer Gelehrter (s. z. B. E. Soloweyczik, Qol qore, o ha-talmud weha-berit ha-chadashah, Paris 1870; dt. Übers. von M. Grünwald, Die Bibel, der Talmud und das Evangelium, Leipzig 1877; M. Güdemann, Neutestamentliche Studien, MGWJ 37, 1893, 153–164.249–257.297–303.345–356; C. G. Montefiore, The Synoptic Gospels, London 1909 [21927]; G. Friedlander, The Jewish Sources of the Sermon of the Mount, London 1911; I. Abrahams, Studies in Pharisaism and the Gospels I, Cambridge 1917) enthaltenen Hinweise auf rabbinische Vergleichstexte zu Texten des NT ausgewertet hat, bedürfte einer genauen Untersuchung, ebenso seine Auseinandersetzungen mit sonstigen Beiträgen zeitgenössisch jüdischer Forscher wie Abraham Geiger und Ismar Elbogen. 9 Jeremias, TRE 6, 1980, 641. 10 Paul Billerbeck as Student of Rabbinic Literature. A Description and Analysis of his Interpretative Methodology. Diss. Dropsie College 1986, 39–83; Liste der Rezensionen: 192 ff. 11 CV-Zeitung 2, 1923 (18.10), 324. 12 CCAR.YB 24, 1923, 475.

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für die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums verfassten Besprechung13 des 1. Bandes – der eingehendsten und umfangreichsten (14 Seiten!) Rezension überhaupt. In ihr wird gleich zu Beginn herausgestellt, dass es sich um ein Werk gelehrter Arbeit handelt, „aus dem sowohl Fachleute wie Laien großen Nutzen und wertvolle Belehrung zu ziehen vermögen“, und am Ende ungeachtet kritischer „Aussetzungen“ das ganze gewürdigt als ein Meisterwerk, „das für lange Zeit ein Standardwerk bleiben wird“14. In gleicher Weise anerkennend sind die Voten christlicher Rezensenten unterschiedlichster Herkunft wie George Foot Moore,15 Heinrich Laible,16 Paul Fiebig,17 Gustaf Dalman,18 Gerhard Kittel19 und Joseph Bonsirven20 – um nur ein paar Namen zu nennen – ausgefallen. Selbst der für seine scharfe Sonde bekannte Göttinger Neutestamentler Walter Bauer kommt zum Abschluss seiner keineswegs nur auf Zustimmung gestimmten Besprechungen in der Theologischen Literaturzeitung21 zu dem Urteil: Blicken wir auf das Werk als ganzes, so wird jeder Benutzer mit höchstem Dank anerkennen, dass wir hier eine Stoffsammlung empfangen haben, wie sich sie reichhaltiger nicht vorstellen lässt. … Das Werk ist da und dazu berufen, manchem kommenden Geschlecht seine Dienste zu leisten. Wenn niemand mehr die theologischen Tagesschriftsteller von heute kennen wird, wird man Billerbeck immer noch mit hohen Ehren und in großer Dankbarkeit nennen. Sein Werk wird den folgenden Jahrhunderten das, und hoffentlich mehr, bedeuten, als was den vergangenen die Horae Hebraicae von J. Lightfoot (1699) und C. Schöttgen (1733) gewesen sind.

Auch 85 Jahre nach Erscheinen des 1. Bandes besteht – trotz in neuerer Zeit geäußerter, z. T. harscher Kritik22 – kein Anlass, das in Bausch und Bogen in Frage zu stellen. Billerbecks magnum opus ist ein Meilenstein23 „christli13

MGWJ 68, 1924, 68–82. Den 2. Bd. hat Krengel in MGWJ 70, 1926, 418–422, besprochen. Krengel, MGWJ 68, 1924, 68 und 82. 15 HThR 16, 1923, 105 ff. 16 ThLBl 44.6, 1923, 83–86; 45.11/12, 1924, 147 f; 47.22, 1926, 339 ff. 17 OLZ 26, 1923, 329 ff; 30, 1927, 175 f; 32, 1929, 181 ff; Jeschurun 10, 1923/24, 93 ff; 11, 1924/25, 471 ff. 18 ET 35, 1923/24, 71 ff. 19 DLZ 45, 1924, 1221–1226 ; 47, 1926, 1340 ff; 50, 1929, 568 f; dazu s. R. Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997, 430 f, ferner zu Billerbeck selbst ebd., 257–263. 20 RSR 19, 1929, 310–315. 21 ThLZ 48, 1923, 385–388; 49, 1924, 534 f; 54, 1929, 145 ff (hier 146 f). 22 Vgl. S. Sandmels unter dem Stichwort „Parallelomania“ laufende Einlassungen in JBL 81, 1962, 1–13: 8 ff (= ders., Two Living Traditions. Essays on Religion and Bible, 1972, 291–294) sowie die Generalabrechnung von E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, Philadelphia 1977, 42 ff.234 f = Paulus und das palästinische Judentum, StUNT 17, Göttingen 1985, 36 ff.220 f. 23 Wie Billerbeck zu seinen judaistischen Kenntnissen gelangt ist (autodidaktisch?) und Zugang zu den rabbinischen Quellentexten erhalten hat, ist bislang nicht ermittelt worden. Die Behauptung, er sei jüdischer Abstammung gewesen (so P. F. M. Zahl, The First Christians. The Universal Truth in the Teaching of Jesus, Grand Rapids 2003, 59), entbehrt jeder Grundlage. 14

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cher Judaistik“, genauer: christlicherseits betriebener Judaistik zu Beginn des 20. Jh. und eines der herausragenden und zugleich wirkungsträchtigsten Beispiele für das, was unter die Überschrift „die christliche Rezeption des Judentums“ fällt. Freilich werden wir heute noch schärfer als seine Zeitgenossen sehen müssen: Dieses Werk ist zugleich eines der markantesten Beispiele für die Abwege und Fehlleistungen „christlicher Judaistik“ in der Rezeption des Judentums. Auch wenn der Rang als Klassiker bleibt, für den Rang als maßgeblich angesehenes Standardwerk kann dies so keineswegs mehr gelten. Vom „Gebrauchswert“ her erweist sich der „Billerbeck“ als äußerst zweischneidig. Es ist in mehrfacher Hinsicht problembehaftet. Billerbeck tritt auf mit dem Anspruch, „den Glauben, die Anschauungen und das Leben der Juden in der Zeit Jesu und der ältesten Christenheit … objektiv dar[zu]legen“24, und erweckt gerade durch den Titel seines Werks den Eindruck, in dem hier zusammengetragenen Textmaterial vornehmlich rabbinischer Herkunft würde ein repräsentativer Querschnitt durch die Glaubens-, Vorstellungs- und Lebenswelt des antiken Judentums geboten, der es erlaube, die neutestamentlichen Darstellungen der Verkündigung Jesu und der Lehre der Apostel im Widerspiel von Anknüpfung und Gegensatz mit Konturen und Farbe zu versehen. Davon kann nicht ohne weiteres die Rede sein. Was den „Billerbeck“ so problematisch macht, betrifft v. a. drei Aspekte: 1. die Zusammenstellung und Darbietung des altjüdischen Textmaterials, 2. die dazu gelieferten Kommentierungen und 3. die Verwendung und Einschätzung des rabbinischen Schrifttums überhaupt.

1. Die Zusammenstellung und Darbietung des altjüdischen Textmaterials Was Paul Billerbeck in fünf Bänden aus Talmud und Midrasch und anderen altjüdischen Schriften zusammengetragen hat, bildet eine „Sammlung von mehr als 40000 ins Deutsche übersetzten rabbinischen Texten …, die meisten davon in Petit gesetzt“25. Die Bezeichnung als Kommentar zum Neuen Testament verdankt sich offenkundig allein verkaufstechnischen Gründen, die Billerbeck, wie das Vorwort zum 1. Band andeutet, nur „widerwillig akzeptiert hat“26. Geboten wird eine Zusammenstellung von Auszügen aus Texten rabbinischer oder anderer jüdischer Herkunft, die in der einen oder anderen Weise geeignet sein sollen, dem Verständnis des NT zu dienen. In 24 25 26

Billerbeck I, vi. Jeremias, TRE 6, 1980, 641. Ebd.

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den ersten drei Bänden geschieht dies in erster Linie – dem Duktus der neutestamentlichen Schriften folgend – in Gestalt von annotationes zu einzelnen Versen, im abschließenden Doppelband in Gestalt von Sachexkursen. Was der Benutzer damit anfangen soll, ist häufig nicht ohne weiteres erkennbar. Die Fülle des gebotenen Textmaterials ist ebenso beeindruckend wie bedrückend. Kein Wunder, dass dieses magnum opus in den neutestamentlichen Proseminaren und Seminaren zu keiner Zeit zum Repertoire der unter studentischen Adepten beliebten Standardliteratur gezählt hat. Nicht nur die Scheu gegenüber dicken Wälzern wirkt sich da aus. Die Menge des gebotenen Materials ist oft eher hinderlich als hilfreich. Wie bereits C. G. Montefiore27 vermerkt hat, „the scale of the book precludes the knowledge or the use of it from the general reader“. Die nicht eingeweihten Leser steigen an vielen Stellen gar nicht durch. Die Fülle des Angebots verleitet dazu, nach eigenem Geschmack und Gutdünken zuzugreifen, was meist mit einer gewissen Willkür verbunden ist. Und selbst dort, wo der Quellendarbietung eine orientierende Zusammenfassung vorausgeschickt wird, dient diese keineswegs immer dazu, einen sachgemäßen Überblick und Einblick zu gewinnen. Im Gegenteil, wie gleich noch zu zeigen ist, lassen diese inhaltlichen Ausstellungen oft in der Sache erheblich zu wünschen übrig. Zusätzlich wird der Gebrauchswert dadurch eingeschränkt, dass sich die für das Verständnis einer neutestamentlichen Aussage u. U. einschlägigen „Parallelen“ bisweilen nicht an der betreffenden Stelle, sondern in anderen, z. T. recht entlegenen Zusammenhängen finden.28 Das ist bei einem Werk, das aus der Arbeit von fast 20 Jahren hervorgegangen ist, nicht verwunderlich, für seine Benutzung aber kaum förderlich. D. h., der „Billerbeck“ ist nicht nur vom Umfang her kein handliches, sondern auch durch die Art der Materialdarbietung kein leicht handhabbares Werk. Ein weiterer Problempunkt kommt hinzu. Die zuhandene Fülle ist nicht nur verwirrend, sie wirkt durchaus auch irreführend. Sie verstärkt den von Paul Billerbeck bereits im Vorwort zum 1. Band erweckten Eindruck, als ob das für das Verständnis des NT einschlägige rabbinische Quellenmaterial geradezu „vollständig“29 geboten würde. Aber davon kann nicht die Rede sein. Billerbeck bringt zwar aus der rabbinischen Literatur im Blick auf neutestamentliche Texte und Motive viel, häufig zu viel. Aber selbst da gibt es eigentümliche Lücken. So wird z. B. im Zusammenhang mit den Antithesen der Bergpredigt an keiner Stelle vermerkt, dass sich zu der Einleitungsformel „ich aber sage euch“, mit der die Jesusworte in Mt 5,21–48 eingelei27 C. G. Montefiore, Rabbinical Literature and Gospel Teaching, London 1930 (= New York 1970), xxvii. 28 Siehe dazu Billerbeck selbst: II, vii f. 29 Billerbeck I, v, kennzeichnet die vielen Vorgängerarbeiten als „unvollständig“.

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tet werden, in der rabbinischen Literatur eine durchaus vergleichbare Wendung findet in Gestalt der Formel „aber ich sage“, die im Zusammenhang mit exegetischen bzw. halachischen Disputen benutzt wird, um eine von der Mehrheit abweichende Meinung zum Ausdruck zu bringen.30 Und das ist kein Einzelfall. „Billerbecks Blick ist vornehmlich auf Sachparallelen gerichtet.“31 Weithin ausgeblendet bleiben Entsprechungen stilistischer, hermeneutischer und formgeschichtlicher Art.32 Kurz: So beeindruckend der „Billerbeck“ sich durch die zusammengetragene Fülle rabbinischer Quellentexte darstellt, bei genauerem Zusehen erweist er sich schon durch die Art der Zusammenstellung des Textmaterials als ein durchaus zweischneidiges Hilfsmittel. Die gar nicht oder kaum fachkundigen Leser und Benutzer wurden und werden durch die Menge der herangezogenen Quellentexte zugleich überwältigt und überfordert. Aber nicht nur das. Auch die Art und Weise, in der die rabbinischen Texte dargeboten werden, ist nicht unproblematisch. Die Übersetzung selbst „ist im großen und ganzen zuverlässig; sie zeugt von wirklicher Sachkenntnis und Gründlichkeit“33. Nur gelegentlich besteht Anlass zur Beanstandung.34 Sachlich fragwürdig ist indes, dass Billerbeck die Texte weithin nur ausschnitthaft auftischt. Die Kontexte kommen selten in den Blick. D. h., dem Benutzer bleibt es anheim gestellt, sich seinen Reim darauf zu machen oder, wo vorhanden, den kommentierenden Bemerkungen Billerbecks zu folgen. Beides ist indes höchst dubios, Ersteres und auch Letzteres. Damit bin ich bei der zweiten, im Blick auf die Breiten- und Tiefenwirkung besonders gravierenden Problemseite des Billerbeck’schen Werks.

2. Die Kommentierung des altjüdischen, insbesondere des rabbinischen Textmaterials Der „Billerbeck“ bietet trotz des Titels erklärtermaßen keinen Kommentar im eigentlichen Sinn. Er ist eine Quellensammlung, ein Begleitbuch zum NT aus dem Fundus altjüdischer Literatur, eine „Anthologie“ in Sonderheit rabbinischer Texte. Dementsprechend werden – wenn überhaupt – meist 30

Vgl. B. Schaller, The Character and Function of the Antitheses in Matt 5:21–48 in the Light of Rabbinical Exegetic Disputes, in: H.-J. Becker / S. Ruzer (Hg.), The Sermon on the Mount and its Jewish Setting, CRB 60, Paris 2005, 70–88: 77 f. 31 Fiebig, OLZ 30, 1927, 176. 32 Vgl. Rettberg, Paul Billerbeck (s. Anm. 10), 51. 33 Krengel, MGWJ 70, 1926, 419; ebenso MGWJ 68, 1924, 68. 34 Dazu s. Krengel, MGWJ 68, 1924, 81 f; MGWJ 70, 1926, 419; Fiebig, Jeschurun 10, 1923/24, 93 f; Laible, ThLBl 44.6, 1923, 84.

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nur kurze sachliche Hinweise geboten, weitere Erläuterungen oder gar Wertungen sind rar. Freilich, diese um Objektivität bemühte Zurückhaltung wird keineswegs überall eingehalten. Namentlich in den thematisch ausgerichteten Exkursen hat sich Billerbeck nicht damit begnügt, die in dem jeweiligen Zusammenhang s. E. relevanten jüdischen Texte zur Kenntnis zu geben. Ab und zu schleichen sich sprachlich abfällige und abschätzige Wendungen ein, in denen traditionelle, typisch antijüdische Klischees bedient werden – z. B. in der Rede von den „wissensstolzen und selbstgerechten Pharisäern“ (I, 190) bzw. allgemein der „pharisäische[n] Selbstgerechtigkeit“ (I, 787), im Hinweis auf die „Gehässigkeiten auf jüdischer Seite“ (III, 588), in den Feststellungen „maßlosen Misstrauen[s] … gegen alles, was nicht jüdisch war“ (IV.1, 353) und „einer Bankrotterklärung des damaligen Judentums“ (I, 787) oder in der Kennzeichnung spezifischer halachischer Einzelbestimmungen als „kleinlich“ (I, 911). Aufs Ganze gesehen kommen solche Bemerkungen zwar nicht oft vor, aber bloß sprachliche Entgleisungen, „Ausrutscher“, sind sie genau besehen nicht. Im Umgang Billerbecks mit den rabbinischen Texten zeichnet sich insbesondere an theologisch zentralen Stellen eine Tendenz ab, die Züge kontrastiver Auswertung trägt und durchgehend auf eine sachliche Abwertung hinausläuft. Die jüdische Seite wird, wo immer es sich anbietet, als negative Folie benutzt, um die christliche Seite davon abzusetzen und dadurch zu profilieren.35 Im „Billerbeck“ erfolgt wie bei vielen Vorgängern die „Rezeption des Judentums“ nicht allein aus der Einsicht in die jüdische Verankerung der Gründergeneration des Christentums, sondern zugleich offenkundig mit dem „Bestreben, das Licht des Evangeliums mit seinem finsteren Hintergrund zu kontrastieren“36, um so die Überlegenheit des christlichen Glaubens über alles Jüdische bzw. das Judentum zu erweisen. Diese kontrastive Tendenz macht sich bezeichnenderweise überall da bemerkbar, wo christlich-theologische Essenz ins Spiel kommt oder auf dem Spiel steht. Ein besonders signifikantes Beispiel liefern Billerbecks Ausführungen zum „soteriologischen System der alten Synagoge“ im Exkurs zur Bergpredigt Jesu (IV.1, 1–22) und zur „altsynagogalen Lohnlehre“ im Exkurs über das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg Mt 20,1–16 (IV.1, 484–500). Dieses Jesus-Gleichnis dient nach Billerbeck dazu, die „Lohnsucht“ zu bekämpfen; daher steht im Mittelpunkt seiner Ausführungen das Verhältnis von neutestamentlicher und altsynagogaler Lohnlehre. Er beginnt mit grundsätzlichen Bemerkungen zum Thema Lohn aus „evangelischer Sicht“: 35 Darauf hat bereits Krengel, MGWJ 68, 1924, 69, mit Nachdruck hingewiesen, vgl. ferner die kritischen Bemerkungen von F. Maaß, Von den Ursprüngen der rabbinischen Schriftauslegung, ZThK 52, 1955, 129–161: 130. 36 Maaß, ZThK 52, 1955, 130.

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Lohn im eigentlichen Sinn des Wortes setzt eine Leistung voraus, auf die hin man Bezahlung u. Vergeltung verdient hat; u. gerade dieses Wort ‚verdienen‘ kennt der evangelische Christ seinem Gott gegenüber gar nicht, es ist aus seinem Sprachschatz völlig gestrichen, u. damit fällt für ihn jeder Lohnanspruch ein für allemal dahin. Mag darum das Wort ‚Lohn‘ auch noch so oft im NT wiederkehren, auf Grund der neutestamentlichen Rechtfertigungslehre kann es sich für evangelisches Empfinden nirgends um einen Lohn handeln, der ΂͒ͥ‫ּ͖͒͐ͧ͘͜͝ פ‬, d. h. der nach Schuldigkeit auf Grund eines Rechtsanspruchs dargereicht wird, sondern immer nur um einen Lohn ΂͒ͥ‫( ͚͞΃͍ͨ פ‬Röm 4,4), um einen Gnadenlohn, den Gottes Treue u. Gerechtigkeit jedem gewährt, der für ihn gearbeitet oder gelitten hat. (IV.1, 486)

An diese grundsätzlichen Ausführungen schließt sich ein Abschnitt über das Verhältnis von neutestamentlicher und altsynagogaler Lohnlehre an. Zunächst wird vermerkt, dass beide „von Haus aus in den Voraussetzungen … mancherlei Gemeinsames gehabt“ haben, und daraus geschlossen: „Diese Prämissen mußten die alte Synagoge folgerichtig zur Idee des Gnadenlohnes führen.“ (IV.1, 487) Tatsächlich sei das auch geschehen, denn in der altrabbinischen Literatur finden sich „auch einige Stellen“, „in denen aller Lohn, den Gott gibt, unverkennbar als ein Gnadenlohn hingestellt wird“ (IV.1, 488). Aber Billerbeck belässt es dabei nicht, sondern fährt mit der Feststellung fort: „Die alte Synagoge hat die Idee des Gnadenlohnes nicht festgehalten“, da „ihre Lohnlehre in völlige Abhängigkeit von ihrer Rechtfertigungslehre“ geraten sei (IV.1, 490). Deren Hauptsatz lautet nach Billerbeck: „Die Tora ist Israel nur gegeben worden, damit sie durch sie Verdienst erwerben“ (ebd.; ähnlich IV.1, 4). Als Beweis für diese These verweist er auf seine Ausführungen zum soteriologischen System der alten Synagoge, die er – auch das ist bezeichnend – im Exkurs über die Bergpredigt untergebracht hat. Was er dort entfaltet, läuft auf die Behauptung hinaus: „das ganze System der pharisäischen Soteriologie“ beruht theologisch auf dem Gedanken der Gabe der Tora als Heilsweg und anthropologisch auf der Überzeugung, „daß der Mensch … die volle sittliche Freiheit u. Kraft besitze, die Gebote der Tora restlos zu erfüllen“ (IV.1, 4). „Die altjüdische Religion ist hiernach“ – so die Schlussfolgerung – „eine Religion völligster Selbsterlösung; für einen Erlöser-Heiland, der für die Sünde der Welt stirbt, hat sie keinen Raum.“ (IV.1, 6) Die Antithesen der Bergpredigt dienen in Billerbecks Sicht als Beispiele, wie Jesus diese „Soteriologie der Schriftgelehrten“ bekämpft und ausgehebelt hat. Jesus habe, indem er der rein formalen, auf die buchstäbliche Erfüllung ausgerichteten Deutung der Gebote seine „ihre[n] vollen sittlichen Gehalt[ ]“ (IV.1, 1) erschließende Auslegung entgegen stellte, gezeigt, „wie unendlich weit die Forderungen, die in Gottes Geboten beschlossen liegen, über die buchstäbliche Deutung hinausgehen, die die Schriftgelehrten diesen Geboten gegeben haben“ (IV.1, 20).

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Wenn aber die buchstäbliche Deutung der Gebote dem Sinn nicht gerecht wird, den Gott in seine Gebote gelegt hat, so folgt daraus, daß auch ihre buchstäbliche Erfüllung dem Willen Gottes nicht Genüge leisten u. jene Gerechtigkeit geben kann, die vor Gott gilt. Damit war die Grundlage zerstört, auf der die Soteriologie der Schriftgelehrten ruhte, u. das nomistische System der Pharisäer brach in sich selbst zusammen. (IV.1, 20)

Das ist eine reichlich krude, gekünstelte, offenkundig mehr von lutherischer Dogmatik als vom vielfältigen rabbinischen Textbefund37 her geprägte Konstruktion. Aber Billerbeck belässt es nicht einmal dabei. Im Anschluss an seine Ausführungen bringt er als weiteren „Beleg“ für seine These zusätzlich die jüdische Reaktion auf den Untergang Jerusalems ins Spiel: … als das Strafgericht des Jahres 70 n. Chr. das jüdische Volk getroffen hatte, schien es, als ob der Zusammenbruch des jüdischen Staatswesens in weiten pharisäisch gerichteten Kreisen zugleich den Zusammenbruch des stolzen Baues der Gesetzesgerechtigkeit vor Gott zur Folge haben würde. Man fühlte die eigene Ohnmacht u. besann sich auf Gottes Gnade. Und doch auch dieses Strafgericht wirkte nur Stückwerk. Es fehlte der sittliche Mut, der einst den Apostel Paulus beseelte, der Mut, mit der alten Selbstgerechtigkeit ganz zu brechen u. sich ausschließlich in Gottes Gnade zu flüchten. Man blieb auf halbem Wege stehen: halb Gnade u. halb eigenes Verdienst sollte die Rettung werden. Und so trat ein, was zu erwarten war: die ‚Decke Moses‘ legte sich allmählich aufs neue auf Israels Herz, vielleicht noch fester u. dichter als vordem. (IV.1, 21)

Die Art und Weise, in der hier die jüdische Seite als dunkle Folie benutzt wird, um die christliche Seite davon abzuheben und im hellen Licht erscheinen zu lassen, ist ein krasses Beispiel für die kontrastive Tendenz in den kommentierenden und zusammenfassenden Ausführungen des Billerbeck’schen Werks. Es ist aber durchaus kein singuläres Beispiel. Diese kontrastive Tendenz hat mehrfach ihren Niederschlag gefunden. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang insbesondere auf den Exkurs über die „Stellung der alten Synagoge zur nichtjüdischen Welt“ (IV.1, 353–414), in dem das Verhältnis von Juden und Nichtjuden im Spannungsfeld von Universalismus und Partikularismus zur Sprache kommt. Ich beschränke mich im Folgenden auf ein paar weitere, über das Werk hin verstreute Einzelfälle. a) Billerbeck zur Rede von der „Herrschaft Gottes“: Daß Jesus den Ausdruck … nicht selbst gebildet, sondern in der religiösen Sprache seines Volkes vorgefunden hat, bedarf angesichts der … rabbin. Zitate … keines weiteren Beweises. Aber ebenso gewiß ist es, daß Jesus den Begriff … vertieft, erweitert u. mit neuem Inhalt erfüllt hat. … In Jesu Worten tritt die ‚Gottesherrschaft‘ 37 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von F. Avemarie, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, TSAJ 55, Tübingen 1996.

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in erster Linie gebend, nicht fordernd an den Menschen heran. Nicht darauf liegt der Nachdruck, daß die G. für Gott etwas suche, sondern daß sie die Beseligung des Menschen bezwecke. … Im Vordergrund des rabbin. Begriffs … steht der Gedanke an das, was der Mensch der ‚Gottesherrschaft‘ schuldig ist, nämlich Anerkennung, Unterwerfung, Gehorsam. … Die ĠĜġĬ ĭĘĞğġ im jüd. Sprachgebrauch u. die ͓͚͖͒ͤ͐͒͜ … ͥٓ͠ ͙͖ٓ͠ in Jesu Mund verhalten sich zueinander wie Gesetz u. Evangelium. (I, 180 f)38

b) Billerbeck zum Thema Heilsgewissheit: Röm 5,1 [Gerechtfertigt nun aus Glauben, haben wir (͖֔ͨ͠͝͞) Frieden in Bezug auf Gott …] gehört zu den Beweisstellen für die christliche Heilsgewißheit; demgegenüber erscheint der Mangel jeder Heilsgewißheit als ein hervorstechendes Merkmal der altjüdischen Religion. Es gilt als Glaubenssatz, daß es für den Gerechten in dieser Welt … keine Sicherheit in bezug auf seinen Heilsstand vor Gott gebe. (III, 218)

c) Billerbeck zum Thema „Nächstenliebe“: Nächstenliebe wird vom AT gefordert L[e]v 19,18 … [Es sei aber] nicht die allgemeine Menschenliebe gefordert …, sondern lediglich die Liebe zum Volksgenossen. … Die Synagoge zur Zeit Jesu hat den Begriff ‚Nächster‘… ebenso eng gefaßt wie das AT: nur der Israelit gilt als ĥī, die … Nichtisraeliten fallen unter diesen Begriff nicht. … Erwägt man, daß obige Einschränkungen des Begriffs ‚Nächster‘ sich … gerade in dem die Praxis regelnden u. die Praxis widerspiegelnden halakhischen Midrasch der älteren Zeit finden, so wird man von vornherein der Behauptung moderner jüdischer Gelehrter äußerst skeptisch gegenüberstehn, daß die alte Synagoge schon in der neutestamentl. Zeit das Gebot der Nächstenliebe von der allgemeinen Menschenliebe verstanden habe. Die für die erwähnte Behauptung beigebrachten Beweisstellen sind durchaus nicht stichhaltig; erst seit dem 2. nachchristl. Jahrh. läßt sich hier u. da eine Stimme vernehmen, die man vielleicht als eine Predigt allgemeiner Menschenliebe deuten darf. Daneben fehlt es aber auch nicht an Aussprüchen, die den Geist solcher Liebe den Nichtisraeliten gegenüber stark vermissen lassen. – Es wird also wohl dabei bleiben, daß der erste, der die Menschheit gelehrt hat, in jedem Menschen den ‚Nächsten‘ zu sehen u. deshalb jedem Menschen in Liebe zu begegnen – Jesus gewesen ist … (I, 353 f)

d) Billerbeck zum Thema „Feindesliebe“: Das Gebot der Feindesliebe klingt bereits im AT an, nämlich Ex 23,4 f, indem hier gefordert wird, daß der Israelit seinem Feinde in einer bestimmten Notlage Beistand leiste. Schon in den ältesten Auslegungen hat diese Bestimmung dazu beigetragen, den Blick des Israeliten in bezug auf den in ihr geforderten Liebesdienst auch auf den Nichtisraeliten, den ‚Feind‘ schlechthin, zu lenken. … Zur klaren positiven Formulierung eines allgemeinen Satzes, wie: ‚Liebet eure Feinde‘, hat Ex 23,4 f in der alten Synagoge nicht geführt. Man hielt sich auf der Linie der Negative: Freue dich nicht über das Unglück deines Feindes u. vergilt nicht Böses mit Bösem. (I, 368) 38

Vgl. dazu auch Krengel, MGWJ 68, 1924, 69 ff.

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e) Billerbeck zur goldenen Regel in Mt 7,12: In der altjüdischen palästin. Literatur findet sich der Ausspruch nur in negativer Fassung … Die positive Fassung in Jesu Mund geht über die negative Fassung ebensoweit hinaus, wie etwa ‚helfen u. fördern‘ hinausgeht über ‚nicht schaden‘. (I, 459)

In all diesen Fällen zeichnet sich das Bemühen ab, das spezifisch Jesuanische bzw. Neutestamentlich-Christliche im Vergleich mit dem Jüdischen, insbesondere dem Rabbinisch-Pharisäischen dadurch herauszuarbeiten, dass die jüdische Seite abgewertet und die christliche Seite davon abgegrenzt und als ihre Überbietung dargestellt wird. Gewiss, Billerbeck hat sich nicht nur in dieser Richtung betätigt. Er kann das Spektrum rabbinischer Ansichten und Äußerungen durchaus sachgemäß in seiner Vielfalt wiedergeben und dabei geradezu einfühlsam die positiven Aspekte hervorkehren. Aber das hindert ihn nicht daran, immer wieder die grundsätzliche Abständigkeit der jüdischen Seite zu betonen. So konnte er die pharisäische Gesetzespraxis als am Buchstaben hängend und das sittliche Verhalten herabdrückend beschreiben und dann hinweisen auf [e]ine große Reihe von Aussprüchen rabbinischer Gelehrter, die in der Betonung der rechten Herzensfrömmigkeit ein Korrektiv suchen gegen die sittlich verflachende Werk- u. Gesetzesgerechtigkeit. – Aber diese Vorschriften u. Aussprüche sind ohne jeden durchgreifenden Erfolg geblieben: sie haben weder die Meinung erschüttert, daß die buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes dem Willen Gottes genüge tue, noch haben sie die auf der Grundlage der Gesetzesgerechtigkeit erwachsene Soteriologie der alten Synagoge modifizieren können. (IV.1, 15)

Dieses hermeneutische Negativverfahren wirkt sich bei Billerbeck geradezu als Systemzwang aus. Es kommt selbst dort zum Zug, wo die rabbinische und die neutestamentliche Überlieferung ähnliche bzw. deckungsgleiche Äußerungen bieten. Ein typisches Beispiel hierfür liefert die Erläuterung zum Jesuslogion in Mk 2,27: „Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden und nicht der Mensch um des Sabbat willen.“ Die formal wie inhaltlich weitreichenden rabbinischen Parallelen wie MekhJ Shabbta Ki tissa 1 zu Ex 31,13 werden zwar angeführt, doch sofort mit der Auskunft entwertet: Aber dieser Grundsatz [euch ist der Sabbat übergeben, u. nicht seid ihr dem Sabbat übergeben] hat nicht allgemeine Gültigkeit, sondern besagt nur, daß der Sabbat lediglich zur Rettung eines Menschenlebens entweiht werden dürfe. (II, 5)

Mit dieser Auskunft hat Billerbeck Schule gemacht, die noch bis heute wirksam ist. Wie hergesucht das ist, wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. In der Deutung des rabbinischen Logions wird der spezifische Kontext geltend gemacht und das Logion als bloß situativ eingestuft und damit abgewertet; im Blick auf

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das Jesuslogion aber wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es eine zeitlose, grundsätzliche Sentenz biete, und von vornherein darauf verzichtet, nach einem möglichen konkreten Kontext zu fragen.39 Nochmals: Das ist nicht der ganze Billerbeck. Diese Form kontrastiv kommentierender Abschnitte nimmt in seinem Gesamtwerk sogar nur einen kleinen Raum ein. Das Gros dessen, was Billerbeck bietet, besteht aus Sachinformationen historischer, archäologischer, religions-, sozial- und kulturgeschichlicher Provenienz, die zwar – das versteht sich von selbst – auch nicht immer dem heutigen Stand der Forschung entsprechen, aber nach wie vor eine Fundgrube darstellen und weithin auch frei von theologischen bzw. ideologischen Tendenzen sind. Dies auch heute noch anzuerkennen, mindert indes nicht das Gewicht der in seinen Kommentierungen enthaltenen Problematik. Es lässt sich ja nicht übersehen, dass diese Art der kontrastiven Behandlung der jüdischen Seite keine Quisquilien betrifft. Hier geht es um für beide Seiten theologisch essentielle Sachverhalte. Und es lässt sich nicht übersehen, dass das hier zur Anwendung kommende hermeneutische Modell dazu beiträgt, dass die christlichen Kern- und Grundüberzeugungen auf diese Weise nicht nur beleuchtet, sondern gegenüber den jüdischen als heller und besser dargestellt werden, und dass damit – nicht nur nolens, sondern durchaus volens – das Judentum als eine dem Christentum gegenüber von vornherein minderwertige, ja ab- und überständige Religion erscheint. Gewiss, Billerbeck war nicht der Erste und Einzige, der so verfahren ist. Diese Form, jüdische Quellen zu rezipieren, um christlicherseits die eigene Überlegenheit zu demonstrieren, war zu seiner Zeit und auch vorher geradezu Allgemeingut christlicher Judentumsdarstellungen.40 Aber Billerbeck war auch nicht der Letzte, der so verfahren ist. Im Gegenteil, sein magnum opus hat dazu beigetragen, dass dieser Trend sich weiter fortgesetzt hat. Mehr oder minder sind auch nahezu alle Neutestamentler nach Billerbeck von dieser kontrastiven Tendenz bestimmt gewesen. Das gilt für meinen eigenen Lehrer Joachim Jeremias, der während seiner Greifswalder Zeit von Billerbeck mit der Sorge für seinen Nachlass betraut worden ist und die für die Erschließung des „Billerbeck“ hilfreichen Indices 39 Vgl. B. Schaller, Jesus und der Sabbat, FDV 3, Münster 1994, 17 f = in: ders., Fundamenta Judaica. Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament, hg. v. L. Doering / A. Steudel, StUNT 25, Göttingen 2001, 125–147: 138. 40 Paradebeispiele dafür liefern z. B. E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi I2, Leipzig 1890; II2, 1886; I3/4, 1901; II4, 1907; III4, 1909 (= Hildesheim 1970); W. Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 1903; 21906; s. ferner die Billerbeck stark prägende (vgl. dazu Avemarie, Tora [s. Anm. 37], 12–16) Arbeit von F. Weber, System der altjüdischen Theologie aus Targum, Midrasch und Talmud (hg. v. F. Delitzsch / G. Schnedermann), Leipzig 1880 = Die Lehren des Talmud, Leipzig 1886; 2. verb. Auflage unter dem Titel: Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften gemeinfaßlich dargestellt, Leipzig 1897 (= Hildesheim 1975).

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herausgegeben hat41; das gilt ebenso für Rudolf Bultmann und seine Schüler und viele andere, auch für nicht wenige gegenwärtige neutestamentliche Zeitgenossen, von den systematischen ganz zu schweigen. Scharfzüngige Kritiker kommen an dieser Stelle schnell mit dem Verdikt des „Antijudaismus“. Solange das als Totschlagwort benutzt wird, taugt das gar nichts. Billerbeck selbst hätte es beim besten Willen nicht verstanden, wenn man diese in seinem Kommentar zutage tretende kontrastive Tendenz als „antijüdisch“ bzw. „antijudaistisch“ bezeichnet oder ihn gar des verkappten „Antisemitismus“42 geziehen hätte. Und Letzteres muss auch heute noch schlicht als absurd bezeichnet werden. In seinem ganzen Werk gibt es nach meiner Kenntnis keine einzige Stelle, die dafür wirklich geltend gemacht werden könnte.43 Im Gegenteil, in dem von Strack und Billerbeck gemeinsam unterschriebenen Vorwort zum 1. Band finden sich zwei Bemerkungen, die sich ausdrücklich und deutlich kritisch auf den zeitgenössischen Antisemitismus beziehen und ihn konterkarieren: In einer polemisch ausgerichteten Anmerkung wird die schon damals verbreitete These vom „Arier“44 Jesus aufs Korn genommen und in diesem Zusammenhang an erster Stelle Theodor Fritsch, ein Hauptvertreter der sich lautstark äußernden Antisemitenbewegung, genannt (I, v). Und im Text selbst heißt es: Nachdrücklich verwahren wir uns dagegen, daß aus dem hier (zB zur Bergpredigt) Gesammelten auf die gegenwärtig wirklich oder angeblich innerhalb des Judentums geltenden Anschauungen ein Schluß gezogen werde. (I, vi)

Dass Hermann Leberecht Strack hier federführend war, steht zu vermuten.45 Als Gründer und Leiter des Berliner Institutum Judaicum ist er immer wie41 Rabbinischer Index; Verzeichnis der Schriftgelehrten – Geographisches Register, hg. in Verbindung mit Kurt Adolph als Bd. V und VI, München 1961. 42 Zwischen „Antisemitismus“ und „Antijudaismus“ zu unterscheiden, ist m. E. nach wie vor angebracht, um beide Größen in ihren sachlich wie historisch spezifischen Konturen zu erfassen. Unterscheidung besagt aber nicht Scheidung. Der christlich-religiöse Antijudaismus hat den rassischen Antisemitismus zweifellos befördert und sich nicht selten auch mit ihm verbündet. 43 Dass im Kommentar zu Eph 2,14 unter der Überschrift „Feindschaft zwischen Juden u. Heiden“ neben einem Hinweis auf „das tief eingewurzelte Misstrauen des Juden gegen den Nichtjuden“ zusätzlich vermerkt wird: „Die Feindschaft auf seiten der nichtjüdischen Welt hatte vielfach ihren Grund in der stolzen Absonderung, in der das jüdische Volk gegenüber den andren Völkern verharrte“ (III, 588), wird man kaum dafür geltend machen können, auch wenn hier eine in antisemitischen Kreisen beliebte Stereotype aufgegriffen ist. 44 Vgl. dazu die materialreiche, leider aber methodisch unzureichend durchgeführte Zusammenstellung durch W. Fenske, Wie Jesus zum „Arier“ wurde, Darmstadt 2005. 45 Dafür spricht v. a., dass ebd. (I, vi Anm. 1) auf die „(f)ür die Juden der Gegenwart, insonderheit die Deutschlands“ bindenden „ ‚15 Grundsätze der jüdischen Sittenlehre‘ vom Dezember 1885 und die unter feierlicher Anrufung des Namens Gottes im Januar 1893 gegebene Erklärung von 220 Rabbinern“ hingewiesen wird; so bereits Strack in einem gegen antisemitische Verlautbarungen gerichteten Artikel: „Sind die Juden Verbrecher von Religions wegen?“ Nathanael 16, 1900, Nr. 4, 97–132: 126.132.

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der in aller Öffentlichkeit den Umtrieben zeitgenössischer Antisemiten energisch entgegengetreten.46 Aber es besteht kein Anlass, Billerbecks Unterschrift an dieser Stelle nur als pro forma gegeben anzusehen. Mit antisemitischen Bestrebungen hatte auch er nichts am Hut. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob Billerbeck mit der kontrastiven Darstellung und Auswertung rabbinischer Texte sich nicht nur im Gefälle des traditionellen christlichen, theologisch gemünzten Antijudaismus bewegt, sondern ihn auch weiter bedient, ja gefördert hat. Im Blick auf die Tiefen- und Breitenwirkung seines Werkes wird man kaum darum herum kommen, diese Frage zu bejahen. Billerbeck war zwar weit davon entfernt, antijüdisch wirken zu wollen, aber in den theologisch relevanten Partien ist sein Werk strukturell offenkundig antijudaistisch geprägt und so – hier wohl eher nolens als volens – virtuell antijüdisch wirksam geworden.47 Die Verwendung des „Billerbeck“ durch Walter Grundmann, den neutestamentlichen Hoftheologen der Deutschen Christen im „Dritten Reich“, zeigt das geradezu exemplarisch.48 Damit ist aus hermeneutisch-theologischer Sicht wohl der entscheidende Einwand benannt, der im Blick auf den „Billerbeck“ geltend gemacht werden muss. In der neueren Diskussion um Billerbeck spielt diese Problemseite freilich nur eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht eine grundsätzliche Anfrage methodologischer Art an die Verwendung rabbinischer Quellen durch Billerbeck.

46 Siehe dazu die Würdigung durch C. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?, SchrLBI 61, Tübingen 1999, 112–123. Vgl. ferner R. Golling, Der Beitrag Hermann L. Stracks zur Erschließung des Judentums, in: ders. / P. von der Osten-Sacken (Hg.), Hermann L. Strack und das Institutum Judaicum in Berlin, SKI 17, Berlin 1996, 12–52, sowie G. Stemberger, Hermann L. Stracks Beitrag zur Erforschung der rabbinischen Literatur, ebd., 53–69: 69. 47 Insofern war es berechtigt, wenn S. Heschel in ihrer Arbeit Abraham Geiger and the Jewish Jesus (Chicago 1998) Billerbecks Kommentar als Beispiel „für bedeutende wissenschaftliche Projekte“ anführt, „die zugleich als wichtige antijüdische Schriften gelten müssen“ (zitiert nach der dt. Ausgabe: Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie, Sifria 2, Berlin 2001, 373). Dennoch ist es aber kaum sachgemäß, Billerbeck in einem Atemzug mit Kittels ThWNT zu nennen; vgl. dazu G. Vermes, Jewish Studies and New Testament Interpretation, JJS 31, 1980, 1–17; J. S. Vos, Antijudaismus / Antisemitismus im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament, NedThT, 38, 1984, 89–110; M. Casey, Some Antisemitic Assumptions in the Theological Dictionary of the New Testament, NT 41, 1999, 280–291. 48 Vgl. z. B. W. Grundmann, Die Gotteskindschaft in der Geschichte Jesu und ihre religionsgeschichtlichen Voraussetzungen, Studien zu Deutscher Theologie und Frömmigkeit 1, 1938.

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3. Die Verwendung und Einschätzung des rabbinischen Schrifttums In seinem Bemühen, den „gesamten der Erläuterung des Neuen Testaments dienlichen Stoff aus der altjüdischen Literatur zu sammeln, zu sichten und in zuverlässiger Übersetzung bequem zugänglich zu machen“49, stürzte und stützte sich Billerbeck in erster Linie auf das rabbinische Schrifttum, auf „Talmud und Midrasch“. Das übrige altjüdische Schrifttum spielt weithin nur eine Nebenrolle. Diese Vorrangstellung der Rabbinica wird von ihm nicht eigens begründet, sondern geradezu axiomatisch vorausgesetzt. In der Sache steht Billerbeck auch damit nicht allein. Das entsprach, sieht man vom „Wettstein“ ab, dem Zuschnitt aller Vorgängerarbeiten. Und das entsprach auch der in jüdischen Kreisen damals gängigen – im Übrigen heute durchaus noch verbreiteten – Vorstellung vom „normativen Judentum“ pharisäisch-rabbinischer Prägung, das bereits in vorchristlicher Zeit die maßsetzende Kraft für die jüdische Glaubens- und Lebenswelt zumindest des jüdischen Mutterlandes gebildet habe und dessen grundlegende Zeugnisse in der älteren rabbinischen Literatur, namentlich in den tannaitischen Quellen, enthalten seien. Diese Vorstellung war freilich bereits gegen Ende des 19. Jh. auf entschiedene Kritik seitens der Vertreter der sog. „Religionsgeschichtlichen Schule“50 gestoßen. Insbesondere in den Arbeiten von Wilhelm Bousset51 wurde programmatisch die Gegenthese vertreten und entfaltet, nicht das rabbinische Schrifttum, sondern das unter der Bezeichnung „Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments“ geführte apokalyptische und weisheitliche Schrifttum sei geeignet, um die religiöse Welt des „Spätjudentums“ – so der bei und seit Bousset gängige Terminus – darzustellen. (Am Rande bemerkt: Billerbeck hat m. W. diesen Terminus nie verwendet.) Wie Karlheinz Müller bereits vor 25 Jahren in seiner Arbeit Das Judentum in der religionsgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament52 eindrücklich herausgearbeitet hat, war dabei neben der religionsgeschichtlich ideologischen Präferenz der „Volksfrömmigkeit“ vor der „Schriftge-

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Billerbeck I, v. Vgl. dazu G. Lüdemann / M. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987. 51 Bousset, Religion (s. Anm. 40), (1903), 41–46; (21906), 45–50. Auch in der von H. Greßmann bearbeiteten 3. Auflage, veröffentlicht unter dem Titel Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, wird diese Position beibehalten (HNT 21, Tübingen 1926, 40–45), obgleich sie von Bousset selbst in seinen letzten Veröffentlichungen bereits deutlich relativiert wurde; dazu s. G. Lüdemann, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, in: B. Möller (Hg.), Theologie in Göttingen, Göttingen 1987, 350; Wiese, Wissenschaft, 170 ff. 52 Judaistische Dissertation Köln 1981/82, veröffentlicht Stuttgart 1983 in der von J. Maier herausgegebenen Reihe Judentum und Umwelt, Nr. 6. 50

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lehrtenfrömmigkeit“ das methodische Argument der Datierung bzw. der Datierbarkeit der rabbinischen Quellen ausschlaggebend.53 In der Tat, hier liegt ein elementarer Schwachpunkt des Billerbeck’schen Zugriffs auf das rabbinische Schrifttum. Bekanntlich handelt es sich bei dem Gesamtkomplex der rabbinischen Schriften nicht um Autorenliteratur, sondern um „collective literature“54, um Sammelwerke mit einer fließenden Textentwicklung und entprechend auch zerfaserten Textüberlieferung.55 Eine genaue historische Einordnung ist daher höchst schwierig. Literarisch gesehen gehören die ältesten, im palästinischen Bereich angesiedelten Textkomplexe frühestens dem Beginn des 3. Jh. an. Das Gros der rabbinischen Literatur ist erst später zwischen dem 4. und dem 8. Jh. zustande gekommen, teilweise wohl auch in Palästina, zu einem großen Teil aber in anderen regionalen Kontexten, namentlich in Babylonien. Angesichts dessen stellt sich unausweichlich die Frage, wie weit es überhaupt angeht, Texte dieser rabbinischen Literatur als Zeugnisse der jüdischen Lebens- und Glaubenswelt des 1. und 2. Jh. auszuwerten und damit für das Verständnis des NT heranzuziehen. Diese bereits von Bousset gestellte Grundsatzfrage ist in neuerer Zeit verstärkt von fachjudaistischer Seite gegen den „Billerbeck“ und gegen den unter Neutestamentlern im Gefolge von Billerbeck gängigen Gebrauch rabbinischer Texte geltend gemacht worden. Mit der ihm eigenen Verve hat sich besonders vernehmlich Jacob Neusner entsprechend geäußert.56 Inzwischen hat sich die Phalanx der Kritiker ständig verbreitert.57 Wie steht es angesichts dessen mit Nutzen und Brauchbarkeit des „Billerbeck“? Bleibt am Ende nichts anderes übrig, als dieses magnum opus zur Seite zu legen? Oder kann es, richtig verwendet, „auch heute noch gute 53 Müller, Judentum (s. Anm. 52), 69 f. Zum Ganzen s. ferner Müllers Beitrag „Zur Datierung rabbinischer Aussagen“ in: H. Merklein (Hg.), Neues Testament und Ethik, FS R. Schnackenburg, Freiburg 1989, 551–587, sowie G. Stemberger, Dating Rabbinic Traditions, in: P. Tomson u. a. (Hg.), The New Testament and Rabbinic Judaism, JSJ Supplements, Leiden 2007 (im Druck). 54 J. Neusner, The Rabbinic Traditions about the Pharisees before 70, III, Leiden 1971, 3. 55 Dazu s. H.-J. Becker, Die großen rabbinischen Sammelwerke: Zur literarischen Genese von Talmud Yerushalmi und Midrash Genesis Rabbah, TSAJ 70, Tübingen 1999. 56 Am ausführlichsten in: Rabbinic Literature and the New Testament, Valley Forge 1994; vgl. ders., Are There Really Tannaitic Parallels to the Gospels? A Refutation of Morton Smith, SFSHJ 80, Atlanta 1993. 57 Siehe z. B. Sanders, Paul and Judaism (s. Anm. 22), 42 ff = Paulus und das Judentum, 36 ff; P. S. Alexander, Rabbinic Judaism and The New Testament, ZNW 74, 1983, 237–246; A. Diez Macho, Introducción General a los Apócrifos del Antiguo Testamento, AAT I, Madrid 1984, 138–148; M. C. Parsons, The Critical Use of the Rabbinic Literature in New Testament Studies, PRSt 12, 1985, 85–102; S. J. D. Cohen, Are there Tannaitic Parallels in der Gospels, JAOS 116, 1996, 85–89; C. A. Evans, Early Rabbinic Sources and Jesus Research, SBL.SP 34, 1995, 53–76 = in: B. Chilton / C. A. Evans (Hg.), Jesus in Context, AGJU 39, Leiden 1997, 27–57; H.-J. Becker, Matthew, the Rabbis and Billerbeck on the Kingdom of Heaven, in: ders. / Ruzer, Sermon (s. Anm. 30), 57–69.

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Dienste leisten (und zwar nicht nur für Neutestamentler!)“58, wie Günter Stemberger es in einem Hermann Leberecht Strack gewidmeten Band formuliert hat? Wie könnte, wie müsste das aussehen, wenn Letzteres zutreffen sollte? Das ist ein vielschichtiges Thema: Ich beschränke mich darauf, die Problemlage zu skizzieren und Lösungswege anzupeilen. Der im „Billerbeck“ unternommene Versuch, Texte der rabbinischen Literatur für das Verständnis des NT auszuwerten, fußt auf drei Voraussetzungen: Ausgangspunkt ist a) die Einsicht, dass die Anfänge des Christentums historisch in der Lebens- und Glaubenswelt des antiken, insbesondere palästinischen Judentums des 1. Jh. u. Z. verankert sind und dass folglich die Schriften des NT genau genommen in die Gruppe der literarischen Erzeugnisse jüdischer bzw. jüdisch sozialisierter Autoren dieser Zeit gehören. Dazu kommt b) die Annahme, dass es zwischen diesem Judentum des 1. Jh. und dem vom 3. Jh. an in „Talmud und Midrasch“ sich zu Wort meldenden sog. rabbinischen Judentum ungeachtet der dazwischen liegenden historischen Brüche ein Kontinuum der gesellschaftlichen, kulturellen und insbesondere religiösen Tradition gibt. Und dazu gesellt sich schließlich c) die Überzeugung, dass der in den rabbinischen Quellen sich äußernde Rabbinismus pharisäischer Herkunft und Prägung ist und entsprechend zusammen mit dem vorchristlichen Pharisäismus die das antike Judentum religiös normierende Größe darstellt. Die erste Voraussetzung kann heute als gesichert gelten. Für die beiden anderen Voraussetzungen ist dies aber nicht in gleichem Maße der Fall. Sowohl die historische Gleichsetzung von Rabbinismus und Pharisäismus wie ihre religionsgeschichtliche Einstufung unter der Rubrik „normatives Judentum“ stehen inzwischen verstärkt unter einem erheblichen Vorbehalt,59 zu Recht. Die „Verkennung und vorschnelle Kompensation der faktischen Datierungsaporien“ haben, wie Karlheinz Müller es auf den Nenner gebracht hat, „zu einer verhängnisvollen Nivellierung des geschichtlichen Gefälles zwischen der pharisäischen Praxis vor 70 und den Konstituanten der rabbinischen Tradition nach der Zerstörung des zweiten Tempels“60 geführt. Die Grundfrage, vor der wir heute stehen, ist: Inwieweit lässt sich die an sich ja durchaus nahe liegende Annahme eines – wie immer auch gearteten – traditionsgeschichtlichen Kontinuums methodisch überhaupt festmachen, ohne, wie das lange üblich war, den frühen Pharisäismus und den späteren Rabbinismus nivellierend einfach gleich zu 58

Stemberger, SKI 17 (s. Anm 46), 69. Vgl. dazu G. Stemberger, Qumran, die Pharisäer und das Rabbinat, in: B. Kollmann u. a. (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum. FS H. Stegemann, BZNW 97, Berlin 1999, 210–224: 223 f; ders., Die Umformung des rabbinischen Judentums nach 70: Der Aufstieg der Rabbinen, in: A. Oppenheimer (Hg), Jüdische Geschichte in hellenistisch-römischer Zeit. Wege der Forschung: Vom alten zum neuen Schürer, SHK.Kol, 44, München 1999, 85–99. 60 Müller, Judentum (s. Anm. 52), 95. 59

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setzen und ohne der darauf aufbauenden, lange herrschenden und noch heute in jüdischen wie christlichen Kreisen verbreiteten Theorie eines „normativen Judentums“61 pharisäischer Prägung, einem „Panpharisäismus“62 zu verfallen? Das durchaus auch schon von Paul Billerbeck geltend gemachte und danach mehrfach63 verfeinerte chronologische Kriterium der Unterscheidung zwischen älteren tannaitischen und späteren amoräischen Stoffen taugt dazu nur beschränkt. Es ist mit gleich mehreren Unsicherheiten belegt. Weder lassen sich die Namen von Rabbinen, die bestimmten Sprüchen oder Erzählungen zugeordnet sind, immer sicher identifizieren, noch ist die jeweilige Zuschreibung historisch gesichert.64 Nicht selten schwanken zudem in Parallelüberlieferungen die Namen der Autoren bzw. Tradenten.65 Selbst Textkomplexe, welche sich auf Einrichtungen aus der Zeit vor 70 beziehen wie etwa den Kultvollzug am Jerusalemer Tempel oder die Amtsgeschäfte des Synhedrium, vermitteln nicht ohne weiteres „authentische Informationen“, z. T. handelt es sich um „spätere Schöpfungen legendarischen, spekulativen oder rechtstheoretischen Charakters“66. Kurz, die Binnendatierung des rabbinischen Textmaterials liefert keinen ohne weiteres gesicherten Weg, um Stücke rabbinischer Überlieferung als Zeugnisse namhaft zu machen, die einen authentischen Einblick vermitteln in die Frömmigkeit und Schriftgelehrsamkeit unter den jüdischen Zeitgenossen der Jesusbewegung und der nachösterlichen christusgläubigen Gemeinden. War Bousset also doch im Recht, wenn er für seine Darstellung der Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter67 sich wesentlich auf die in den Apokryphen und Pseudepigraphen überkommenen apokalyptischen und weisheitlichen Schriften sowie auf das weitere jüdisch-hellenistische Schrifttum, insbesondere Josephus und Philo, gestützt und die rabbi-

61 Dazu s. zuletzt K. Müller, Neutestamentliche Wissenschaft und Judaistik, im vorliegenden Band, 36 f, mit Hinweisen auf einschlägige Veröffentlichungen von J. Maier und J. Neusner. 62 G. Stemberger, Die Frage nach einem „mainstream Judaism“ in der Spätzeit des Zweiten Tempels, in: U. Dahmen u. a. (Hg.), Qumran – Bibelwissenschaft – Antike Judaistik, Einblicke 9, Paderborn 2006, 101–118: 103. 63 Siehe M. Smith, Tannaitic Parallels to the Gospels, JBL.MS 6, Philadelphia 1951 (= Maqbilot bein ha-besorot le-sifrut ha-tannaim, Jerusalem 1945); G. W. Buchanan, The Use of Rabbinic Literature for New Testament Research, BTB 8, 1977, 110–122; D. Instone-Brewer, Techniques and Assumptions in Jewish Exegesis before 70 CE, TSAJ 30, Tübingen 1992. 64 Müller, Judentum (s. Anm. 52), 74 f; ders., Datierung (s. Anm. 53), 559 ff. 65 Vgl. Stemberger, SKI 17 (s. Anm. 46), 75 mit Verweis auf W. Bacher, Tradition und Tradenten in den Schulen Palästinas und Babyloniens, Berlin 1914 (= Darmstadt 1966), 156–170. 267–281.524–540. 66 Müller, Judentum (s. Anm. 52), 75. 67 Siehe o. Anm. 51.

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nischen Schriften daneben höchstens als randständige Quellen68 herangezogen hat, in denen sich der Abschluss des seit Esra einsetzenden partikularistischen und legalistischen Trends zum sogenannten „Spätjudentum“ abzeichne? Bleibt also am Ende unter diesen Umständen sogar nichts anderes übrig, als die rabbinische Literatur faktisch oder gar grundsätzlich aus dem Kanon der religionsgeschichtlichen Bezugs- und Vergleichstexte des NT auszuscheiden? Selbst die schärfsten Kritiker Billerbecks haben genau besehen sich explizit für eine solche Radikallösung nicht ausgesprochen. Mehr oder weniger dezidiert haben sie am Ende jeweils vor einem Missbrauch des „Billerbeck“ gewarnt und dabei insbesondere den von Billerbeck eingeschlagenen Weg, aus den rabbinischen Quellen ein umfassendes Bild der zur neutestamentlicher Zeit in der „alten Synagoge“ herrschenden Frömmigkeitspraxis und Glaubensvorstellungen zu erschließen, als in der Sache verfehlt zurückgewiesen. Dass rabbinische Texte in Einzelfällen durchaus geeignet sein können, um zum Verständnis neutestamentlicher Texte herangezogen zu werden, wird auch von ihnen grundsätzlich nicht bestritten. Strittig ist freilich nach wie vor, in welchem Umfang und v. a. auf welche Weise das sachgemäß und sinnvoll geschehen kann. Ein auch nur annähernd anerkanntes Methodenkonzept steht noch aus.69 Jeder, der den Versuch in dieser Richtung macht, begibt sich nach wie vor aufs sprichwörtlich glatte oder dünne Eis. Die bisherige Diskussion kreist im Wesentlichen um die historische, literarische und textgeschichtliche Eigenart des rabbinischen Schrifttums und die sich daraus objektiv ergebenden Datierungsschwierigkeiten. Ein für das Gesamtproblem gewichtiger Sachverhalt wird demgegenüber nur selten70 zur Geltung gebracht: die Tatsache nämlich, dass die im neutestamentlichen 68 In der 1. Auflage (1903) gibt es nach meiner Zählung um 270 Hinweise auf rabbinische Texte; nach Avemarie, Tora (s. Anm. 37), 21 Anm. 37, enthält die durch Greßmann besorgte 3. Auflage (1926) „zwischen 450 und 500 Verweise“. In beiden Fällen kommt ihnen keine tragende Rolle zu. 69 Ansätze unterschiedlichster Art dazu bieten: Avemarie, Tora (s. Anm. 37), 4–11; J. T. Nielsen, Den rabbinske litteratur og Det Nye Testamente, DTT 62, 1999, 256–281: 272–281; M. Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, WUNT II.144, Tübingen 2002, 32–50; C. A. Evans, The misplaced Jesus. Interpreting Jesus in a Judaic Context, in: B. Chilton u. a. (Hg.), The Missing Jesus. Rabbinic Judaism and the New Testament, Leiden 2002, 11–39: 27–39; H. W. Brasser, The Gospels and Rabbinic Literature, a. a. O., 77–99; M. Pérez Fernández, Rabbinic Texts in the Exegesis of the New Testament, RRJ 7, 2004, 95–120; s. auch die in Anm. 70 angeführten Arbeiten von Bloch und Vermes sowie die noch immer beachtenswerten Bemerkungen von Montefiore, Gospels I, 21927, cxxxviii ff: § 44 „Parallel passages to the Gospels in Rabbinic Literature“; ders., Literature, xxxvi f. 70 Herausragende Ausnahmen sind die Ausführungen von R. Bloch, Methodological Note for the Study of Rabbinic Literature, in: W. S. Green (Hg.), Approaches to Ancient Judaism. Theory and Practice [I], BJSt 1, Missoula 1978, 51–75: 59, und G. Vermes, Jewish Literature and New Testament Exegesis. Reflections on Methodology, JJS 33, 1982, 361–376: 373–376 (= in: ders., Jesus and the World of Judaism, London 1983, 74–88: 84–88).

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Kanon versammelten Texte historisch von Haus aus zum Bestand des jüdischen Schrifttums ihrer Zeit gehören. Der Wert der Schriften des NT besteht nicht nur in ihrer Bedeutung als „Gründungsurkunden“ des frühen Christentums, sie haben durchaus auch einen eigenständigen Wert als Zeugnisse jüdischer Glaubens- und Lebenswelt im 1. Jh. u. Z. Sie sind „part of a larger environment of Jewish religious and cultural history“71 und gehören damit zum Bestand antik-jüdischer Traditionsgeschichte. Zum Teil liefern sie frühe, mitunter sogar die ältesten literarischen Belege für sonst erst später nachgewiesene Einrichtungen und Gewohnheiten.72 Methodologisch betrachtet besagt das: Dort, wo in neutestamentlichen Texten sprachliche, formgeschichtliche und sachliche Phänomene greifbar sind, die in gleicher oder ähnlicher Weise in späteren rabbinischen Texten auftauchen, ist zumindest der Verdacht erlaubt, dass hier unter Umständen ein wie immer auch geartetes Traditionskontinuum vorliegt. D. h., die neutestamentlichen Texte können durchaus neben und zusammen mit anderen älteren jüdischen Quellen aus hellenistisch-römischer Zeit – neuerdings insbesondere neben und zusammen mit dem seit 1948 in den Höhlen bei Qumran gefundenen und inzwischen nahezu vollständig publizierten Schrifttum – als Beweis dafür dienen, dass die späteren rabbinischen Autoren in solchen Fällen sich im Gefälle vorgegebener Tradition bewegt, Elemente älterer Herkunft verwendet und weiter geführt haben. Ich betone „unter Umständen“. Das kann natürlich nicht von vornherein als erwiesen gelten. Man muss die vorhandenen Parallelen selbst genau ansehen. Man muss vor allem, was Billerbeck leider meist nicht geboten hat, ihre literarischen und historischen Kontexte berücksichtigen. Aber wenn man das tut, dann ist es m. E. durchaus sachgemäß, rabbinische Texte mit entsprechenden neutestamentlichen zu vergleichen, gegebenenfalls in Beziehung zu setzen und für das Verständnis der neutestamentlichen Texte heranzuziehen. Ich nenne nur als Beispiele: a) die in formgeschichtlicher, aber z. T. auch in inhaltlicher Hinsicht gleichartige Gestaltung von Gleichnissen, b) die nahe beieinander liegenden Fassungen der Sabbat-Halacha, c) die nahezu identischen Sprachfiguren im Zusammenhang schriftgelehrter Antithesen, ferner 71

Vermes, JJS 33 (s. Anm. 70), 376 (= Jesus, 87). Beispiele: a) Lk 1,59: Namensgebung bei Beschneidung (PRE 48 [D. Luria, Warschau 1852, 27 c; D. Börner-Klein, Berlin 2004, 652 f]; Billerbeck II, 107); b) Apg 1,9: Sabbatweg (CD 10, 21; mJoma 6,4.5; mRHSh 2,5; bEr 30a.b; Billerbeck II, 590); c) Mk 7,2 ff parr: rituelles Händewaschen (rabbinisch passim; Billerbeck I, 695); d) Joh 2,6: steinerne Reinigungsgefäße (bShab 96a; Billerbeck II, 405 f); e) Mt 23,2: Kathedra des Mose (PesK 1,7 [B. Mandelbaum, New York 21987, I, 12,10 f]; Billerbeck I, 909); f) Apg 6,9; Mk 1,21; 6,2: Synagogen in Jerusalem, Kapernaum, Nazareth; g) Lk 13,15 f: Tochter Abrahams (Jichuse Tannaim weAmoraim [hg. v. J. L. Maimon, Jerusalem 1963, 438]; vgl. bGit 89a; bKet 72b; Billerbeck II, 200); s. ferner M. Hengel, Das Johannesevangelium als Quelle für die Geschichte des antiken Judentums, in: Oppenheimer, Geschichte (s. Anm. 59), 41–73. 72

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d) Gemeinsamkeiten liturgischer Sprache sowie e) schriftgelehrter Methoden in der Auslegung biblischer Texte. Auf ganz festem Boden steht man freilich nur dort, wo zu der betreffenden rabbinischen Parallele entsprechende Überlieferungen vorrabinischer Herkunft sich nachweisen lassen. Ein kleines Beispiel dafür liefert die bizarre Vorstellung vom nachfolgenden Wasser spendenden Felsen, deren Paulus sich in 1Kor 10 im Rahmen einer Ausdeutung der Exodusgeschichte bedient und die nicht nur in der Tosefta, sondern auch im ps.-philonischen Liber Antiquitatum Biblicarum vorkommt.73 Aber auch dort, wo das nicht der Fall ist, sollte nicht von vornherein der traditionsgeschichtliche Eigenwert der neutestamentlichen Texte bestritten werden. Am schwierigsten zu beurteilen sind natürlich diejenigen Fälle, in denen die rabbinische „Parallele“ in erheblich späteren Texten enthalten ist. Das betrifft nicht zuletzt die in den Targumen enthaltenen Auslegungselemente74 und ähnlich Elemente liturgischer Provenienz. Zum einen kann ja nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die „Parallele“ sich christlichem Einfluss verdankt.75 Zum anderen kann die Entsprechung auch auf einem bloßen Zufall beruhen. Wobei man allerdings die Beredsamkeit von Zufällen auch nicht unterschätzen soll. Sie sind nicht selten durch ein verwandtes Milieu bedingt. Insgesamt wird man sich davor hüten müssen, „Parallelen“ einfach als Indizien für Abhängigkeit auszuwerten. Was sie bieten, liefert nicht ohne weiteres Beweise für ungebrochene Traditionsketten, aber unter Umständen doch Hinweise auf ein gemeinsames kulturelles und religiöses Milieu und auf darin über Gruppen- und Zeitgrenzen hinweg verbreitete Traditionskomplexe. Gewiss, die Katastrophen der Jahre 70 und 135 haben zu weitreichenden und tiefgreifenden geistig-religiösen Neuformierungen in der jüdischen Gesellschaft insbesondere Palästinas geführt. Das steht außer Zweifel und verbietet es, die Welt des in „Talmud und Midrasch“ begegnenden rabbinischen Judentums ohne weiteres in die Zeit vor 70 zurück zu projizieren. Aber in gleicher Weise dürfte sich die Annahme eines völligen Traditionsbruchs und Traditionsverlusts verbieten. Mit einer „radikalen Diskontinuität in der Geschichte des Judentums vor und nach 70“76 zu rech73 Vgl. B. Schaller, 1 Kor 10,1–10(13) und die jüdischen Voraussetzungen der Schriftauslegung des Paulus, in: ders., Fundamenta Judaica (s. Anm. 39) 167–190: 173 f. 74 Vgl. M. McNamara, The New Testament and the Palestinian Targum to the Pentateuch, AnBibl 27, Rom 1966; ders., Targum and Testament. Aramaic Paraphrases of the Hebrew Bible: A new light on the New Testament, Shanon 1972; B. Chilton, Reference to Targumim in the Exegesis of the New Testament, SBL.SP 29, Missoula 1995, 77–81; ferner P. Nickels, Targum and New Testament. A Bibliography together with a New Testament Index, Rom 1967. 75 Vgl. Vermes, SSJ 33 (s. Anm. 70), 372 (= Jesus, 84), ferner die freilich meist sehr spekulativen Erwägungen von I. Yuval, Zwei Völker in einem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter, JRGK 4, Göttingen 2007. 76 So Alexander, ZNW 74 (s. Anm. 57), 244.

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nen, ist historisch m. E. in keiner Weise gerechtfertigt. Das von Billerbeck und anderen jüdischen wie christlichen Gelehrten betriebene Unterfangen, das rabbinische Schrifttum als grundlegende Quelle für die Verhältnisse der jüdischen Glaubens- und Lebenswelt vor 70 auszuwerten, kann in der Tat zwar nur als ein Fehlweg bezeichnet werden. Ebenso verfehlt dürfte es aber sein, die Rabbinica für die Erforschung des NT in Bausch und Bogen als unergiebig, weil unzulässig zu deklarieren, sie völlig links liegen zu lassen und sich nur auf die Literatur der sog. „intertestamentlichen“ Zeit zu stützen. Ich denke, wir werden gut daran tun, dem nicht zu folgen, sondern uns weiter daran zu machen, auch die Rabbinica in die neutestamentliche Forschung einzubeziehen. Das muss in aller methodisch gebotenen Vorsicht und verstärkt zu entwickelnden Umsicht geschehen, eingedenk der von Seiten der judaistischen Spezialisten erhobenen Einwände und nicht zuletzt im Rückgriff auf die heutzutage vorhandenen kritischen Ausgaben und neueren Übersetzungen rabbinischer Literatur, die dank Günter Stembergers „Einleitung in Talmud und Midrasch“77 auch den Nichtfachkundigen durchaus zugänglich sind.

4. Zusammenfassung Der Versuch, Billerbecks „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“ zu würdigen und zu werten, kommt zu einem höchst ambivalenten Ergebnis. Die Hochachtung vor der Lebensleistung dieses „einfachen Landpfarrers“ bleibt bei allem, was an Kritik nötig war und ist. Aber die nötigen Vorbehalte gegenüber der Brauchbarkeit dieses magnum opus bleiben auch, sie können nicht gemindert werden, im Gegenteil. Dass Paul Billerbeck das von ihm selbst gesteckte Ziel, den „gesamten der Erläuterung des Neuen Testaments dienlichen Stoff aus der altjüdischen Literatur … bequem zugänglich zu machen“ (I, v), erreicht hat, trifft schwerlich zu. Von „bequem“ kann nicht die Rede sein, und gleichfalls auch nicht von der beanspruchten „Objektivität“. Der „Billerbeck“ ist – hier sehe ich mich genötigt, meinem eigenen Lehrer Joachim Jeremias zu widersprechen – auch kein Werk, in dem „die jüdische Umwelt Jesu und der Urkirche … der theologischen Welt … für den Allgemeingebrauch aufgeschlossen worden“ ist.78 Der „Billerbeck“ erweckt zwar den Eindruck, ein umfassendes Bild der altjüdischen Synagoge zu vermitteln, und ist – wie gesagt – entsprechend auch geradezu als Quellenersatz benutzt worden. Aber gerade darin 77 78

München 81992. Jeremias, TRE 6, 1980, 642.

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steckt seine Problematik. Der auf dem Feld der Rabbinica ungeübte Leser wird durch das „excessive piling up of Rabbinic passages“79 überfordert und in den kontrastiv ausgerichteten, strukturell antijudaistischen Kommentierungen sachlich fehlgeleitet. Walter Bauer hat mit Recht schon beim Erscheinen des „Billerbeck“ zur „Vorsicht“ beim „Gebrauch des kostbaren, aber zweischneidigen Werkzeuges“80 gemahnt. Und sein Bonmot, das Werk gehöre „nicht zu denen, die sich ohne Gefahr für den Dieb ausplündern lassen“, und seine daran anschließende Bemerkung: „Nur gründliche Eigenarbeit erschließt es seiner Schätze“81, hat an Aktualität nicht verloren. Im Gegenteil, aus heutiger Sicht sind die „Schranken“ des „Billerbeck“ deutlicher als je. Erledigt ist das Opus damit freilich nicht. Es gibt schlicht nichts Vergleichbares, geschweige denn Gleichartiges. Ein vor 20 Jahren veröffentlichter Rabbinic Commentary on the New Testament, der die synoptischen Evangelien betrifft, versucht zwar die elementaren Missgriffe des „Billerbeck“ zu vermeiden, aber eine wirkliche Alternative stellt er in keiner Weise dar.82 Und sonstige Anläufe in dieser Richtung wie ein Jerusalem Companion to the New Testament haben bislang nicht gefruchtet. Ein Einzelner kann das sowieso nicht mehr bewerkstelligen, wie nicht zuletzt auch die neuerdings wieder in Gang gesetzten Bemühungen um das Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti zeigen.83 Solange das so ist, so lange werden – abgesehen von den judaistisch ausgebildeten und umfänglich belesenen Fachleuten – alle wohl nicht auf ihn verzichten können. Der „Billerbeck“ ist eine Fundgrube, in der man ungeahnte Entdeckungen machen kann: nur muss man / frau lernen, mit den in ihm verzeichneten Pfunden sachgerecht und kritisch zu arbeiten, d. h. insbesondere die von ihm gebotenen Texte an den inzwischen vorhandenen neuen Textausgaben und Übersetzungen zu überprüfen, und sich hüten, ihm in seiner kontrastiven theologischen Tendenz auf den Leim zu gehen.

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Sandmel, JBL 81 (s. Anm. 22), 9 f. Bauer, ThLZ 48, 1923, 388. 81 Bauer, ThLZ 55, 1929, 147. 82 S. T. Lachs, A Rabbinic Commentary on the New Testament. The Gospels of Matthew, Mark and Luke, New York 1987; vgl. ferner ders., Rabbinic Sources for New Testament Studies – Use and Misuse, JQR 74, 1983, 159–173. 83 Vgl. K.-W. Niebuhr, Das Corpus Hellenisticum. Anmerkungen zur Geschichte eines Problems, in: W. Kraus / K.-W. Niebuhr (Hg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont biblischer Theologie, WUNT 162, Tübingen 2003, 361–382; ferner www.uni-jena.de/content_page 2298.html. 80

Florian Wilk

Die synoptischen Evangelien des Neuen Testaments als Quellen für die Geschichte der Pharisäer

1. Einleitung „Pharisäer heißen die Mitglieder einer der das antike Judentum prägenden Gruppenbewegungen.“1 Ihre Geschichte nachzuzeichnen ist daher eine Aufgabe der Judaistik. Allerdings stellen die Evangelien des Neuen Testaments bedeutsame Quellentexte über die Pharisäer dar. Diese Texte in ihrer geschichtlichen Verwurzelung zu verstehen – das wiederum ist der neutestamentlichen Wissenschaft aufgegeben. Der Titel meines Beitrags markiert demnach einen Punkt, an dem sich beide Wissenschaften treffen. Welcher Quellenwert eignet den neutestamentlichen Evangelien für die Erforschung der Geschichte der Pharisäer im frühen 1. Jh. n. Chr.? Von den Anfängen historischer Quellenbetrachtung an haben Judaisten und Neutestamentler versucht, diese Frage zu beantworten. Allerdings waren dabei je andere Interessen leitend. Als Disziplin christlicher Theologie nahm die neutestamentliche Wissenschaft die Pharisäer v. a. als Gesprächspartner Jesu in den Blick; die Judaistik richtete ihr Augenmerk primär auf die Beziehungen zwischen den Pharisäern und den späteren Rabbinen. Auf beiden Seiten herrschte lange ein breiter Konsens: Hier galten die Pharisäer als Vorläufer des rabbinischen Judentums, dort als Antipoden Jesu.2 Beide Konsense sind seit längerem hinfällig.3 Die Forschung hat sich stark differenziert; denn der Bestand an „gesicherte(m) Wissen über die Pharisäer“ ist „rapide geschmolzen“4. Die Ursache dafür wiederum liegt in einer schärferen Wahrnehmung des Charakters der Quellen. 1

B. Schaller, Art. Pharisäer, EKL3 3, Göttingen 1992, 1177 f: 1177. – Ich danke Berndt Schaller sowie Karl-Wilhelm Niebuhr für wertvolle Hinweise zu vielen der im Folgenden erörterten Grundsatzfragen und Auslegungsdetails. 2 Christlich-antijüdische Polemik hat dann beide Sichtweisen zum Dogma der Überwindung des Judentums durch Jesus verknüpft. Zur Forschungsgeschichte vgl. H.-G. Waubke, Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, BHTh 107, Tübingen 1998; R. Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997. 3 Vgl. dazu einerseits K. Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30, 1988, 231–262, andererseits P. Sigal, Judentum, Stuttgart 1986, 93 f (die Pharisäer repräsentierten im antiken Judentum eine grundsätzlich andere Richtung als die späteren Rabbinen). 4 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus III, EKK 1.3, Zürich u. Neukirchen 1997, 358.

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Schriften, die eindeutig von Pharisäern verfasst worden sind, gibt es so gut wie nicht. Als solcher zu erkennen gibt sich ein Autor allein im Brief an die Philipper; doch darin grenzt Paulus sich gerade von seinem früheren pharisäischen Selbstverständnis ab.5 Josephus wiederum schreibt in Vita 12 wohl nicht davon, „Anhänger der Pharisäersekte“ geworden zu sein, sondern nur vom Anschluss an sie bezüglich seiner politischen Tätigkeit.6 Man ist deshalb ausschließlich auf Sekundärquellen angewiesen. Diese wiederum bringen jeweils ganz eigene Probleme mit sich. Ob einzelne Schriften aus Qumran gegen Pharisäer polemisieren, ist nicht sicher;7 auf jeden Fall lassen sich den verstreuten, auf verschiedene Ereignisse bezogenen Aussagen nur dann Informationen über diese Gruppe entnehmen, wenn man sie vor dem Hintergrund anderer Quellen auslegt. In der tannaitischen Literatur gibt es Stellen, an denen perushim mit Sadduzäern oder Boethusäern halachische Fragen diskutieren; sie sind jedoch nur eingeschränkt verwertbar, da das Wort perushim andernorts offenbar „Separatisten“ meint.8 Ob man darüber hinaus die rabbinischen Äußerungen über ½aberim auf Pharisäer übertragen darf,9 ist nach wie vor strittig. Als wichtige Zeugen bleiben die Werke des Josephus und die neutestamentlichen Evangelien samt Apostelgeschichte. Beide Textgruppen sind unabhängig voneinander etwa zwischen 70 und 100 n. Chr. entstanden, verwerten älteres Material und geben den Pharisäern einen prominenten Platz in ihren Darstellungen vergangener Ereignisse im Land Israel. Dieser Umstand wirft aber die Frage auf, ob sich in den Texten die zeitgeschichtlichen Verhältnisse der erzählten Zeit oder die der Erzählzeit widerspiegeln. Man muss daher jede Quelle zunächst als Erzählung wahrnehmen, ihre kommunikative Absicht gegenüber der intendierten Leserschaft ermitteln und in diesem Rahmen das Bild beschreiben, das sie von den Pharisäern zeichnet. Erst auf solcher Basis lässt sich ihr historischer Wert überprüfen. Im Folgenden möchte ich eine derart angelegte Analyse der synoptischen Evangelien des Neuen Testaments durchführen. 5 Die polemische Intention von Phil 3,2–7 verbietet es, hier mit O. Betz, Paulus als Pharisäer nach dem Gesetz. Phil. 3,5–6 als Beitrag zur Frage des frühen Pharisäismus, in: P. von der OstenSacken (Hg.), Treue zur Tora. Beiträge zur Mitte des christlich-jüdischen Gesprächs. FS Günther Harder, VIKJ 3, Berlin 31986, 54–64, ein typisch pharisäisches Selbstporträt zu entdecken. 6 Vgl. S. N. Mason, Flavius Josephus on the Pharisees, StPB 39, Leiden 1990, 353 ff, mit Hinweis auf eine analoge Formulierung in Ant. 18,17; gegen H. Clementz, Flavius Josephus. Kleinere Schriften, Wiesbaden 21995, 9, und E. Rivkin, A Hidden Revolution, Nashville 1978, 32. 7 Beliebt ist solch eine Deutung für die Rede von denen, „die glatte Anweisungen geben“, in 4Q169 Frgm. 3–4 i 2.7 u. ö.; vgl. J. C. VanderKam, The Pharisees and the Dead Sea Scrolls, in: J. Neusner / B. D. Chilton (Hg.), In Quest of the Historical Pharisees, Waco 2007, 225–236. 8 Vgl. P. Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M. Hengel / U. Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen 1991, 125–175: 126–130. 9 Vgl. H.-G. Waubke, Die talmudische ¼aberim-Halacha und die Pharisäer (in diesem Band).

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2. Literarische Analyse der synoptischen Evangelien Da die synoptischen Evangelien als Erzählungen vom Wirken und Geschick Jesu konzipiert sind, muss bei ihrer Betrachtung das Verhältnis zwischen ihm und den Pharisäern besonders berücksichtigt werden. Demgemäß orientiert sich die Analyse des literarischen Befundes an folgenden Fragen: a) Wo und in welchen Zusammenhängen werden Pharisäer erwähnt? b) Was kennzeichnet ihr Auftreten bzw. ihren Lebensvollzug? c) Wie reagieren sie auf das Wirken Jesu? d) Welche Stellung zu ihnen nimmt Jesus ein?

2.1 Die Pharisäer im Evangelium nach Markus a) Im Markusevangelium finden sich sieben Szenen, in denen Pharisäer mit Jesus in Kontakt treten. Viermal kommt es zwischen ihnen zu Streitgesprächen – darüber, dass er und seine Jünger gemeinsam mit Zöllnern und Sündern essen (Mk 2,15 ff), wie erst die Jünger, dann er den Sabbat begehen (2,23–28; 3,1–6) und warum seine Jünger mit unreinen Händen essen (7,1– 13[23]10). Dreimal bemühen sich Pharisäer, Jesus zu „versuchen“ – zuerst mit der Zeichenforderung (8,11 ff), dann in „Pseudoschulgesprächen“11 mit Fragen zu Scheidung (10,2–9) und Steuerzahlung (12,13–17). Daneben stehen zwei Berichte, in denen Jesus pharisäische Verhaltensweisen anspricht: In 2,18–22 erläutert er, warum seine Jünger, anders als die des Täufers und der Pharisäer, nicht fasten; in 8,14–22 warnt er seine Jünger „vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes“.12 b) Das markinische Bild von den Pharisäern ist einheitlich: Sie sind v. a. in Galiläa präsent, wo sie als Gruppe erscheinen; diese wird von Schriftgelehrten angeführt (2,16). Sie können sich daher auch mit Schriftgelehrten aus Jerusalem verbünden (7,1.5);13 ein anderes Mal koalieren sie mit „Herodianern“ (3,6, vgl. 12,13). Die Gruppe der Pharisäer hat Jünger (2,18c); zur Volksmenge besteht jedoch keine erkennbare Verbindung.14 In Peräa und Jerusalem treten dann jeweils nur einige Pharisäer auf (10,2; 12,13). 10

In Mk 7,14 f wendet sich Jesus an das Volk, in 7,17–23 an seine Jünger. D. Lührmann, Die Pharisäer und die Schriftgelehrten im Markusevangelium, ZNW 78, 1987, 169–185: 170, betont zu Recht, dass hier keine echte Bitte um Belehrung vorliegt. 12 Gemäß Mk 8,11 ff; 6,14 ff ist dabei primär an das Unvermögen gedacht, Jesus in seinen Wundern als den zu erkennen, der er ist; vgl. ferner den in 3,6 erwähnten Plan, Jesus zu töten. 13 Vgl. Mk 3,22. Zum wechselseitigen Verhältnis zwischen Schriftgelehrten und Pharisäern in mk Sicht vgl. M. J. Cook, Mark’s Treatment of the Jewish Leaders, NT.S 51, Leiden 1978, 81–97. 14 Gegen A. J. Saldarini, Pharisees, Scribes and Sadducees in Palestinian Society, Edinburgh 1989, 151: Markus zeige die Pharisäer als „recognized leaders in the Galilean community“. 11

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In ihrer rituellen Praxis sind sie beim Fasten mit den Täuferjüngern (2,18), bei Waschungen im Umfeld des Essens mit allen Juden einig (7,3 f). Wie diese – und primär die Schriftgelehrten – orientieren sie sich an der Überlieferung der Ältesten (7,3.5); mit Herodianern teilen sie das Interesse an der Kaisersteuer (12,14). Typisch pharisäisch sind die Distanz zu „Zöllnern und Sündern“ (2,16) und das genaue Beachten des Sabbats (2,24; 3,2). c) Jesus begegnen die Pharisäer von Anfang an als Antipoden: Sie wundern sich über seine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (2,16) und kritisieren seine Haltung zum Sabbat (2,24). Aus dieser Kritik erwachsen die Absicht, ihn zu verklagen (3,2), und der mit den Herodianern gefasste Beschluss, ihn zu vernichten (3,6). Da sie sich zudem darüber empören, dass seine Jünger die Überlieferung der Ältesten ignorieren (7,5), suchen sie Jesus wiederholt mit Forderungen und Fragen in eine Falle zu locken (8,11; 10,2; 12,13). In den Leidensankündigungen und der eigentlichen Passionsgeschichte werden die Pharisäer nicht erwähnt;15 sie wirken jedoch schon in 7,1 mit Schriftgelehrten aus Jerusalem zusammen, und in 12,13 treten einige Pharisäer als Abgesandte des Synedriums (vgl. 11,27; 12,12) auf. So erscheint der Konflikt der Pharisäer mit Jesus als Vorstufe seiner durch jenes Gremium veranlassten Verhaftung und Hinrichtung. d) Entsprechend eindeutig ist die Stellung Jesu zu den Pharisäern. Nirgends geht er von sich aus auf sie zu. Dort, wo er über sie spricht, bemängelt er ihr Unvermögen, die Würde der mit ihm herbeigekommenen Zeit (2,19[–22]) oder den Sinn seiner Wunder (8,15) zu erfassen. Und wenn sie ihn kritisieren oder versuchen, dann reagiert Jesus scharf. Zum einen überführt er die Pharisäer mangelnder Erkenntnis: Sie verkennen seine Sendung, Sünder zu berufen und Leben zu retten (2,17; 3,4), sowie die Vollmacht, die er als Davids- und Menschensohn über den Sabbat hat (2,25 f.28); sie verkennen deshalb zugleich den in der Schrift erkennbaren, in der Schöpfung verwurzelten Sinn der Gebote Gottes (2,25 ff; 10,6–9). Zum andern greift er die Pharisäer an: Ihr Herz sei verstockt und verhärtet (3,5; 10,5, vgl. 7,6), was sie zu Vertretern „dieses [bösen] Geschlechts“ mache (8,12);16 ihr Bemühen um die Überlieferung der Ältesten und ihr Eintreten für die Kaisersteuer seien heuchlerisch (7,6, vgl. 12,15), weil beides sie letztlich dazu bringe, Gottes Gebote aufzuheben (7,8–13, vgl. 12,17). 15

Hier wie dort stehen die Hohenpriester (Mk 14,10.55; 15,3.11) samt den Schriftgelehrten (12,28.32) im Vordergrund (10,33; 14,1; 15,31, vgl. 11,18), oftmals ergänzt durch die Ältesten (8,31; 14,43.53; 15,1, vgl. 11,27). 16 Andernorts bezeichnet er dieses Geschlecht als „abtrünnig und sündig“ (Mk 8,38) sowie „ungläubig“ (9,19). – Vgl. auch die Antithese in 3,4, die von 3,5 f her Jesus als den erscheinen lässt, der Gutes tut und Leben rettet, die Pharisäer samt den Herodianern hingegen als die, die Böses tun und Leben zerstören; vgl. G. Baumbach, Jesus von Nazareth im Lichte der jüdischen Gruppenbildung, AVTRW 54, Berlin 1971, 81.

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Zusammenfassend lässt sich feststellen: Nach Markus tritt die von Schriftgelehrten angeführte, von der Volksmenge unterschiedene Gruppe der Pharisäer zumal in Galiläa als Vertreterin einer spezifischen Tischgemeinschafts- und Sabbathalacha sowie als Wächterin der allgemein gültigen Halacha zur Reinheit beim Essen auf. Sofern sie aber sich ganz auf diese Halacha konzentriert und daraufhin dem öffentlichen Wirken Jesu entgegentritt, widersteht sie nach seinem Urteil dem göttlichen Heilswillen. Dieses Pharisäer-Bild fügt sich glatt in die Erzählung des Markus ein, die die Geschichte Jesu als die Grundlage des Evangeliums von Jesus Christus (1,1)17 darstellt: Einerseits machen ihre Kontroversen mit Jesus verständlich, warum das Synedrium in Jerusalem ihn wegen Gotteslästerung zum Tod verurteilt; andererseits erweist sich Jesus ihnen gegenüber als der Gesandte Gottes, der Gottes endzeitlichen Heilswillen in Übereinstimmung mit der Schrift zur Geltung bringt und aufdeckt, dass die von den Pharisäern vertretene Halacha Gottes Gebote verengt oder verstellt.18

2.2 Die Pharisäer im Evangelium nach Matthäus a) Matthäus zeichnet ein detaillierteres Bild: Pharisäer befragen Jesus nicht nur in den von Markus her bekannten Streit- und Pseudoschulgesprächen, sondern auch im Disput über das höchste Gebot;19 ein Zeichen fordern sie zweimal (Mt 12,38–42; 16,1–4). Zudem debattieren sie mit ihm über seine Exorzismen (9,32 ff; 12,22–37). Von sich aus spricht Jesus sie am Ende der öffentlichen Auseinandersetzung auf ihre „Christologie“ an (22,41–46). Ferner sind die Pharisäer öfter Gesprächsthema. Zweimal wird Jesus auf ihr Verhalten angesprochen: von Täuferjüngern im Kontext der Fastenfrage (9,14–17), von seinen Jüngern im Zuge der Reinheitsdebatte (15,10–20). Zudem weist er selbst Volk und Jünger auf Lehre und Praxis der Pharisäer hin: im Spruch zur „besseren Gerechtigkeit“ (5,20)20 und in der polemischen Rede 23,2–33. Zudem warnt er die Jünger vor dem „Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer“ (16,5–12) und redet in den Gleichnissen von den zwei Söhnen und den bösen Winzern auch über die Pharisäer (21,28–46). 17

Vgl. H. Merklein, Die Jesusgeschichte – synoptisch gelesen, SBS 156, Stuttgart 1994, 10. Vgl. F. Wilk, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin / New York 2002, 75 ff. 19 Vgl. Mt 9,10–13; 12,1–8.9–14; 15,1–9 und 19,3–9; 22,15–22 sowie 22,34–40. 20 Die in den anschließenden Antithesen (Mt 5,21–48) beseitigte Auslegung der Thora erscheint damit als Produkt der Schriftgelehrten und Pharisäer; vgl. C. Burchard, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 27–50: 40 ff. 18

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Den Rahmen für all diese Aussagen bilden die Begegnung „vieler Pharisäer und Sadduzäer“ mit dem Täufer (3,7) und das Komplott der Hohenpriester und Pharisäer gegen die Auferweckungsbotschaft (27,62 ff). b) Auch bei Matthäus treten die Pharisäer in der Regel als Gruppe auf.21 Dabei sind sie überall in Israel präsent.22 Meist agieren sie unabhängig von anderen;23 die Forderung nach einem Beweis für Jesu Autorität aber erheben sie gemeinsam mit Schriftgelehrten (12,38), Sadduzäern (16,1) oder Hohenpriestern (21,45)24. Umgekehrt betreffen die Aussagen Jesu stets die Pharisäer und andere Gruppen gemeinsam.25 Ihre Kennzeichen teilen die Pharisäer zumal mit den Schriftgelehrten: das Bemühen um Gerechtigkeit in Auslegung der Thora (5,20–48, vgl. 19,7; 22,34 ff; 23,2 ff), die Orientierung an der Überlieferung der Ältesten (15,1–9), das Tragen von Gebetskleidung (23,5), das Werben um Proselyten (23,15), die umfassende Befolgung des Zehntgebots (23,23), die Berufung auf Propheten und Gerechte (23,29 f) sowie die Sorge um Reinheit beim Essen; letztere liegt freilich den Pharisäern besonders am Herzen (vgl. 15,12–14; 23,26). Überdies eint sie mit den Sadduzäern die Berufung auf Abraham (3,7 ff), mit den Täuferjüngern das Fasten (9,14), mit den Herodianern das Interesse an der Kaisersteuer (22,15 ff). Nur drei Eigenschaften sind den Pharisäern allein vorbehalten: die Distanz zu Zöllnern und Sündern (9,11),26 die strenge Beachtung des Sabbatgebots (12,2.10) und der Vollzug von Exorzismen (12,27).27 c) Ihre Reaktion auf das Wirken Jesu ist stereotyp negativ gezeichnet: Ihr Unverständnis gilt seiner Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (9,11) und seinem Hoheitsanspruch (12,38; 16,1, vgl. 9,12 f.14 f; 12,6); sie kritisieren seine Haltung zu Sabbat (12,2.10) und Reinheit beim Essen (15,2.11 f), sie verdächtigen ihn dämonischer Magie (9,34; 12,24). Daher führen sie ihn, um ihn zu verklagen und vernichten, mehrfach in Versuchung28 und wirken durch ihre Kooperation mit den Hohenpriestern auch am Passionsgeschehen mit (21,45 f; 27,62 ff, vgl. 22,15 ff). Verhaftung, 21 Nur in Mt 12,38; 15,1; 19,3 ist nicht von „den“ Pharisäern die Rede. „Söhne“, „Jünger“ oder „ein Gesetzeskundiger“ der Pharisäer treten in 12,27; 22,16.35 als deren Repräsentanten auf. 22 Eine primäre Verwurzelung in Galiläa ist nicht bezeugt; vgl. Mt 3,7 und 15,1 diff. Mk 7,1. 23 Zur Dominanz der Pharisäer in den Streit- und Schulgesprächen (außer Mt 15,1–9; 22,15– 22) vgl. B. Repschinski, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism, FRLANT 189, Göttingen 2000, 322 f. Vgl. ferner die Debatten um seine Exorzismen. 24 Dabei werden die Pharisäer teils zuerst genannt (Mt 16,1, vgl. 3,7; 16,6.11 f), teils zuletzt (so 12,38 [diff. 15,1], vgl. 5,20; 23,2.13 etc., und 21,45, vgl. 27,62). 25 Vgl. Mt 9,14–17 (Täuferjünger); 16,5–12 (Sadduzäer); 5,20–48; 23,1–33 (Schriftgelehrte). 26 Vgl. allerdings Mt 11,16–19, wo Jesus den gegen ihn gerichteten Vorwurf, er sei ein „Freund von Zöllnern und Sündern“, allgemein „diesem Geschlecht“ (vgl. 12,38–42) zuschreibt. 27 Dass der Christus Davids Sohn ist (Mt 22,41 f), glauben nach Matthäus alle Juden (12,23; 21,9) und Christusgläubigen (1,1). 28 Vgl. Mt 12,10.14 (sowie 21,45 f) und 16,1; 19,3; 22,15+18.35.

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Verurteilung und Auslieferung an Pilatus vollziehen dann aber – den Leidensankündigungen gemäß – die im Synedrium vertretenen Gruppen.29 d) Die Stellung Jesu zu den Pharisäern ist mehrschichtig: Grundsätzlich empfiehlt er sie und die Schriftgelehrten als Ausleger der Thora (23,2 f). Allerdings – das macht er in Debatten zu Sabbat (12,3–7.11 f) und Ehescheidung (19,3–9) sowie den Antithesen (5,21–48) deutlich30 – verfehle ihre Auslegung den Ursprungssinn der Gebote; sie bänden den Menschen unerträgliche Lasten auf (23,4) und verschlössen ihnen wie sich selbst das Tor zum Himmelreich.31 Zudem hält Jesus sie für Heuchler, deren Denken und Tun im Widerspruch zu der Frömmigkeit stehe, die sie öffentlich demonstrierten.32 Ihre eigentliche Sünde aber sieht er darin, dass sie ihn nicht als Boten Gottes anerkennen (12,28–32); darin zeige sich ihre Bosheit33. Indem sie dann in der Tradition der Prophetenmörder bei der Tötung Jesu mitwirkten (21,34–39; 23,31 f), zögen sie endgültig das Gericht auf sich.34 All das ist gemäß 6,1–18; 23,8–12 auch den Jüngern zur Warnung gesagt. Daher weist Jesu Bildwort vom Sauerteig (16,5–12) auf die verderbliche Wirkung der Lehre von Pharisäern und Sadduzäern hin, die nach 3,9 auf der selbstgewissen Auskunft „Wir haben Abraham zum Vater!“ basiert. Zusammenfassend ist festzustellen: Nach Matthäus wird Jesus von den Pharisäern als der Gruppe bekämpft, die weithin bestimmt, was es heißt, als Jude im Land Israel zu leben; dabei gehen sie an vielen Punkten mit den Schriftgelehrten konform. Weil sie aber verkennen, dass Jesus der Christus ist, dessen Lehre das Gesetz erfüllt (5,17), führen sie das Volk in die Irre.35 Dieses Bild von den Pharisäern passt gut zur Erzählintention des Matthäus, der Jesus als den Sohn Abrahams und Davids präsentiert, in dem Israels Erwählungs-, Verheißungs- und Befreiungsgeschichte ihr Ziel findet (Mt 1): An den Pharisäern wird anschaulich, warum und wie die geistigen Autoritäten des Volkes dessen messianischen Hirten verwerfen und damit ihre Führungsrolle im eschatologischen Gottesvolk verlieren, das dann jenseits der Synagogen unter Einschluss von Nichtjuden gesammelt wird. 29 Vgl. Mt 16,21; 26,57+59 samt 27,41, ferner 26,14; 27,6 (Hohepriester), 26,3.47; 27,1.12.20 samt 21,23; 27,3; 28,11 f (Hohepriester, Älteste) und 20,18; 21,15 (Hohepriester, Schriftgelehrte). 30 Vgl. auch Jesu Antwort auf die Frage nach dem größten Gebot (Mt 22,34–40) sowie 22,41– 45, wo er den Pharisäern mangelndes Verständnis für die Christus-Aussagen der Schrift attestiert. 31 Vgl. Mt 23,13; 5,20 (ähnlich 15,14; 23,15), ferner die Aussagen zum Verlust des (gegenwärtigen!) Gottesreiches 21,31.43 und dazu Wilk, Jesus (s. Anm. 18), 133. 32 Vgl. Mt 6,2.5.16; 23,5 ff zur Frömmigkeit, 15,3–7 zum Aufheben von Geboten mit eigenen Satzungen; vgl. ferner die Hinweise auf die Diskrepanz zwischen Reden und Denken (22,18), Reden und Tun (23,3 f, vgl. 21,29), Ethik und Speisepraxis (23,23–26), Schein und Sein (23,27 f). 33 Vgl. Mt 12,34.39; 16,4; 22,18. Schon Johannes hätten sie glauben müssen (21,32, vgl. 3,7). 34 Vgl. Mt 21,44; 23,33 sowie 12,31 f.36 f.40 ff; 15,13. 35 Vgl. dazu Mt 9,36: Dass „die Schafe keinen Hirten haben“ (vgl. Num 27,15 ff; Ez 34,1–6), liegt ja nach 9,11 ff.14 f.32 ff v. a. im Widerstand der Pharisäer gegen das Wirken Jesu begründet.

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2.3 Die Pharisäer im Evangelium nach Lukas a) Das Lukasevangelium bietet ein noch vielschichtigeres Bild. Das tritt schon darin zutage, dass Pharisäer in verschiedenen Situationen Kontakt zu Jesus aufnehmen. Gewiss erscheinen sie in den von Markus her bekannten Disputen über die Fasten- und Sabbatpraxis seiner Jünger (Lk 5,33–39; 6,1– 5), Jesu Heilen am Sabbat (6,6–11) und seine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (5,27–32) sowie in weiteren Streitgesprächen, die durch jene Tischgemeinschaft (15,1–32) und seinen Zuspruch der Vergebung (5,17–26) ausgelöst werden. Daneben kommt es aber dreimal zu Tischgesprächen im Haus eines Pharisäers (7,36–50; 11,37–54; 14,1–24), zweimal zu „Lehrgesprächen“, die sich einer Jüngerunterweisung (16,14–31) oder Heilung Jesu (17,20 f) anschließen, und zweimal zu Wortwechseln an wichtigen Stationen seines Wegs nach Jerusalem (13,31 ff; 19,39 f). Zudem geht Jesus dreimal in Worten an die Volksmenge (7,30–35), die Jünger (12,1 ff) oder beide (18,9–14) auf das Verhalten von Pharisäern ein.36 b) Charakterisiert werden die Pharisäer auf differenzierte Weise. Zwar ist häufig pauschal von „den“ oder „euch Pharisäern“ die Rede.37 Diese treten meist gemeinsam mit Schriftgelehrten, Gesetzeslehrern oder Gesetzeskundigen in Erscheinung;38 demgemäß ist in 5,30 von „ihren (sc. der Pharisäer) Schriftgelehrten“ die Rede. Lukas spricht jedoch auch wiederholt von „einigen“ Pharisäern, die stets eigenständig agieren (6,2; 13,31; 19,39). Zudem erwähnt er im Zuge der drei Gastmahlszenen einzelne Vertreter der Gruppe (11,37 ff; 14,1.12–14), einen sogar mit Namen (7,36–50); in zwei Fällen sind wiederum Gesetzeskundige präsent (11,45–52; 14,3 diff. 7,49). Als Wirkungsgebiet wird Galiläa ebenso genannt wie Judäa und Jerusalem.39 Abgesehen von der Sitte des Fastens und Betens, die sie mit Täuferjüngern gemein haben (5,33; 18,12), sind Pharisäer nach Lukas durch relativ geschlossene Tischgemeinschaften,40 Reinigungsriten beim Essen (11,38 f) und umfassende Einhaltung des Zehntgebots (11,42; 18,12) ausgewiesen. Beim Sabbatgebot und der Distanz zu Zöllnern und Sündern, die auch 36

Lk 12,1 wird mit 12,2 f thematisch entfaltet; in 12,4–12 hingegen sind Pharisäer offenbar nicht mehr im Blick. Das Gleichnis 18,10–14 wiederum gilt nach 17,22–18,8 primär den Jüngern (vgl. 18,9 mit 22,24), im Vorfeld von 18,15–27 aber vielleicht außerdem Leuten aus dem Volk. 37 Vgl. Lk 6,7; 7,30; 12,1; 15,2; 16,14; 17,20 (die pauschalen Aussagen in 5,21.30; 11,53; 14,3 sind durch die konkreten Situationsangaben 5,17; 11,37 f.45; 14,1 relativiert) bzw. 11,39–43. 38 Die Synonymität der drei Begriffe wird durch den Anschluss von 11,53 f an 11,45–52 und den von 5,21 an 5,17–20 belegt. – Gesondert begegnen „die Pharisäer“ nur in 12,1; 16,14; 17,20. 39 Vgl. Lk 5,17, ferner zu Galiläa 5,21.30; 6,2.7 (s. 5,1; 7,1); 13,31; 17,20 f (s. 17,11), zu Judäa 7,29 f, zu Jerusalem 18,10–12; 19,39. Die übrigen Stellen sind nicht präzise zu lokalisieren. 40 Vgl. Lk 7,36–39; 14,1.12. Immerhin ist festzustellen, dass die gastgebenden Pharisäer (a) Jesus einladen und (b) die auftauchenden Hilfsbedürftigen (7,37 f; 14,2) in ihren Häusern dulden; vgl. A.-J. Levine, Luke’s Pharisees, in: Neusner / Chilton, Quest (s. Anm. 7), 113–130: 129.

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Schriftgelehrten am Herzen liegen (6,7; 14,3 und 5,30; 15,2),41 markiert der Evangelist jedenfalls das besondere Interesse der Pharisäer;42 Ähnliches gilt für die Gottesreich-Erwartung (17,20).43 Zudem ordnet er ihnen die Themen Auferstehung und Gerechtigkeit zu.44 Als weitere Eigenschaften nennt er Geldgier (16,14) und eine etwas unklare Verbindung zu Herodes (13,31 f). c) Ihre Stellung zu Jesus erscheint ambivalent: Einerseits akzeptieren „die“ Pharisäer seine Lehrautorität in Sachen „Reich Gottes“ (17,20), und einzelne laden ihn zu ihren Tischgemeinschaften ein. Ferner sind es Pharisäer, die ihn auf dem Weg nach Jerusalem vor Herodes’ Tötungsplan warnen (13,31) und beim Einzug dort auffordern, das für ihn gefährliche Loblied der Jünger zu untersagen (19,38 f).45 Andererseits löst sein Wirken – ähnlich dem des Täufers (7,30) – unter ihnen negative Reaktionen aus: Sie wundern sich darüber, dass seine Jünger nicht fasten (5,33), spotten über Jesu Lehre zum Umgang mit Geld (16,14), stören sich an den Sabbatheilungen (6,7; 14,1.3 f), murren wegen seiner Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (5,30; 15,2) und werten Jesu Zuspruch der Vergebung als Gotteslästerung (5,21, vgl. 7,49). Ferner kritisieren einige Pharisäer die Sabbatpraxis der Jünger (6,2), und einen seiner Gastgeber verwundert, dass Jesus sich beim Essen nicht wäscht (11,38). Daher suchen Pharisäer mit Schriftgelehrten nach Möglichkeiten, ihn in die Schranken zu weisen (6,7.11; 11,53 f; 14,1); zu feindseligen Handlungen kommt es indes nicht. d) Jesus seinerseits nimmt die Einladungen einzelner Pharisäer wie selbstverständlich an.46 Was er ihnen oder über sie sagt, klingt jedoch durchgehend kritisch. Im Blick auf seinen Umgang mit Zöllnern und Sündern äußert er seine Kritik freilich in werbender Form: Er wirbt um Zustimmung zu seinem Wirken als Bote der Gnade Gottes (7,40–47; 15,2–32, vgl. 5,31 f). Von daher eignet auch anderen Aussagen Jesu ein werbender Unterton: den Hinweisen auf das fehlende Verständnis der Pharisäer und Schriftgelehrten für den Sinn des Sabbats sowie für die Sendung und Vollmacht Jesu;47 dem Appell an einen Gastgeber, Arme und Kranke zum Mahl 41

Vgl. ferner den Protest eines Synagogenvorstehers in Lk 13,14. Anders als Jesu Sabbatheilungen löst das Ährenraufen der Jünger nur bei Pharisäern Kritik aus (Lk 6,2). Ihre besondere Distanz zu Zöllnern und Sündern zeigt sich in 7,30–34.39 und 18,11, aber auch in 15,2, sofern Lukas dort die Pharisäer ausnahmsweise vor den Schriftgelehrten nennt. 43 Diese Erwartung teilen Individuen in Lk 14,15; 23,51; vgl. ferner 23,42 und 2,25.38. 44 Vgl. zum Ersten Lk 14,1.12–14; 16,14–31 samt Apg 23,6–9, zum Zweiten Lk 5,32; 15,7, ferner 14,14 (als Mahnung, ähnlich 11,42) sowie 16,15; 18,9.14 (als Warnung). 45 Man beachte, dass Lk 19,39 wie 13,31 mit einem Klageruf Jesu über Jerusalem verknüpft ist (13,34 f; 19,41–44) und der Königstitel im Prozess gegen ihn wieder auftaucht (23,2 f.38). 46 Auch in Lk 14,1 folgt er gemäß 14,12 einer Einladung jenes „Oberen der Pharisäer“. 47 Zum Sabbat vgl. Lk 6,9; 13,15 f; 14,3.5, zur Sendung Jesu 13,32 f; 19,40 (das Verstummen des Lobgesangs der Jünger werde Jerusalem in die Katastrophe stürzen), zu seiner Vollmacht 5,24; 6,3–5; vgl. ferner den Hinweis auf die Würde der von Jesus heraufgeführten Zeit in 5,34–39. 42

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einzuladen (14,12–14); dem Wort vom Gottesreich, das mit Jesu Wundern in den Erfahrungsbereich der Pharisäer eintrete (17,20 f)48. Andernorts spricht er deutliche Warnungen aus: Sie stehen in der Gefahr, sich selbst durch ihre Ablehnung Jesu (14,16–24) oder durch mangelnde Zuwendung zu den Armen (16,16–31)49 vom endzeitlichen Heil Gottes auszuschließen. In den Weherufen 11,39–44 hält er den Pharisäern demgemäß überzogenes Geltungsbedürfnis vor,50 bemängelt, dass ihnen bei aller Sorge um äußere die innere Reinheit fehlt, dass sie bei allem Verzehnten das Recht und die Liebe Gottes vernachlässigen, und beschimpft sie als „verdeckte Gräber“51. Die Spitze der Polemik Jesu bildet dann der Vorwurf der Selbstrechtfertigung, die sie vor Gott zum Gräuel macht (16,15, vgl. 18,14). Gerade Letzteres fungiert wohl auch als Warnung an die Jünger; Jesus hält sie jedenfalls explizit an, sich vor der Heuchelei der Pharisäer zu hüten (12,1 ff).52 Zusammenfassend kann man formulieren: Nach Lukas begegnen Pharisäer Jesus während seines öffentlichen Wirkens als die Vertreter einer weitgehend auf sich selbst bezogenen jüdischen Elite. Für Jesu Lehre interessieren sie sich von ihrer eigenen Frömmigkeit her; diese ist durch gemeinsames Essen in Reinheit und – in der Erwartung der Auferstehung – durch das individuelle Streben nach Gerechtigkeit vor Gott bestimmt. Jesus lehnt nicht ihre Frömmigkeit, wohl aber ihre Selbstbezogenheit ab; angesichts des Gottesreichs versucht er daher, die Pharisäer für seine Sendung zu den Armen und Sündern in Israel zu gewinnen – leider ohne Erfolg. Dieses Bild von den Pharisäern passt gut in die lukanische Erzählung vom Erdenwirken Jesu als dem Auftakt des endzeitlichen Heilshandelns Gottes an Israel. Da dieses Heilshandeln Gottes als der „Glanz Israels“ (2,32) das Gottesvolk neu konstituiert, wird durch Jesu Wirken neu definiert, was jüdische Identität vor Gott ausmacht. Was das für Israel konkret bedeutet, wird an den Pharisäern in hervorgehobener Weise anschaulich.

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Vgl. dazu H. Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, BThSt 20, Neukirchen 1993, 39. 49 Zum Konnex von Lk 16,19–31 mit 16,16 ff vgl. C. Burchard, Zu Lukas 16,16, in: ders., Studien (s. Anm. 20), 119–125: 124 f. 50 Vgl. dazu Jesu Worte in Lk 14,7–11, die auch den Schriftgelehrten gesagt sind. 51 Als solche verunreinigen sie die Menschen, die mit ihnen zu tun haben, ohne deren Wissen. 52 Gemäß Lk 6,42; 12,56; 13,15 (wo keine Pharisäer im Blick sind) sollen sie sich also ihrer Stellung vor Gott bewusst sein und an sich selbst die gleichen Maßstäbe anlegen wie an andere.

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3. Historische Prüfung des synoptischen Befundes Die synoptischen Evangelien entwerfen bei manchen Übereinstimmungen jeweils ein eigenes Bild von den Pharisäern in ihrer Beziehung zu Jesus. Will man den Quellenwert dieser Entwürfe bestimmen, so legt ein historisch-kritischer Ansatz es nahe, sie als geschichtlich bedingte Ausformungen einer ursprünglich schmaleren Tradition anzusehen. Daher scheint sich folgendes Verfahren anzubieten: Man eruiert mit dem Kriterium der Mehrfachbezeugung den Kern der vorsynoptischen Tradition, ermittelt mit dem Unableitbarkeitskriterium dessen historisch zuverlässigen Elemente, erweitert dieses „kritisch gesicherte Minimum“53 mittels des Kohärenzkriteriums und erhält so einen verlässlichen Eindruck von den Pharisäern zur Zeit Jesu. Dies Verfahren weckt jedoch schwerwiegende Bedenken. Schon der Ansatz bei einzelnen Überlieferungsstücken ist problematisch; unabhängig von ihrem literarischen Kontext lassen sich diese gar nicht präzise deuten.54 Unangemessen erscheint auch der Gebrauch des Unableitbarkeitskriteriums, setzt es doch ein breiteres Wissen über das Judentum zur Zeit Jesu voraus, als es die Quellen ermöglichen. Schließlich ist es fragwürdig, von besagtem „Minimum“ an Texten ausgehend die Pharisäer in ihrer Beziehung zu Jesus zu beschreiben; denn ob solch ein Minimum das Zentrum erfasst, von dem her sich jene Beziehung rekonstruieren lässt, ist a priori völlig unklar. Infolge dieser Bedenken empfiehlt sich ein anderer Weg der historischen Prüfung. Gewiss spiegeln sich in den Darstellungen der Evangelien auch und gerade ihre unterschiedlichen Abfassungsverhältnisse wider. Über den historischen Quellenwert jener Darstellungen ist damit aber noch nicht entschieden. Ging es den Evangelisten darum, die Jesusgeschichte als „in diese (sc. die eigene) Gegenwart hineinwirkende, sie verändernde Geschichte“ nachzuerzählen,55 so ist ja v. a. damit zu rechnen, dass sie ihr Verständnis der Jesusgeschichte durch Auswahl und Akzentuierung bestimmter Überlieferungselemente zum Ausdruck gebracht haben. Dann aber muss zuerst der Gesamteindruck, den die Evangelien mit ihrer jeweiligen Darstellung der Pharisäer erwecken, historisch geprüft werden.56 53

N. A. Dahl, Der historische Jesus als geschichtswissenschaftliches und theologisches Problem, KuD 1, 1955, 104–132: 120. 54 Nimmt man etwa das Reinheitslogion Mk 7,15 aus dem Zusammenhang in Mk 7 heraus, so eröffnet sich eine reiche Palette an Interpretationsmöglichkeiten (vgl. dazu G. Dautzenberg, Jesus und die Tora, in: E. Zenger [Hg.], Die Tora als Kanon für Juden und Christen, HBS 10, Freiburg 1996, 345–378: 358 ff); welche davon den ursprünglichen Sinn trifft, ist dann nicht mehr zu entscheiden, da man den situativen Kontext, in dem Jesus das Wort gesprochen hat, nicht kennt. 55 Vgl. J. Roloff, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995, 152. 56 Diesen Ansatzpunkt befürwortet auch M. Pickup, Matthew’s and Mark’s Pharisees, in: Neusner / Chilton, Quest (s. Anm. 7), 67–112: 110.

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Im Folgenden werde ich daher die synoptischen Darstellungen der Pharisäer hinsichtlich ihrer Gesamttendenz und ihrer wesentlichen Aspekte auf historische Zuverlässigkeit prüfen. Dabei ist den Angaben zur gesellschaftlichen Rolle der Pharisäer, zu ihrer Frömmigkeit im Vergleich mit Jesus und zu ihren Konflikten mit Jesus nachzugehen – und zwar so, dass jeweils zuerst die gemeinsam bezeugten Charakteristika (a), dann die für jedes der drei Evangelien spezifischen Aspekte (b–d) zur Sprache kommen. Als Kriterium für die Analyse eignet sich zumal das „historische Plausibilitätskriterium“: Als historisch darf gelten, was in mehreren voneinander unabhängigen Quellen bezeugt und zugleich auf die Lebenswelt Jesu bezogen ist.57 Zum Vergleich können – wie eingangs erwähnt – neben weiteren neutestamentlichen Schriften v. a. die Werke des Josephus und die einschlägigen rabbinischen Texte über perushim herangezogen werden. Freilich müssten im Prinzip auch diese Quellen zunächst für sich auf ihre Darstellungsabsicht hin untersucht werden. Das ist an dieser Stelle nicht zu leisten. Die folgenden Ausführungen eines Neutestamentlers sind deshalb auf Ergänzung durch analoge judaistische Untersuchungen angewiesen.

3.1 Zur gesellschaftlichen Rolle der Pharisäer a) Allen synoptischen Evangelien zufolge bildeten die Pharisäer zur Zeit Jesu eine eigenständige Gruppierung im jüdischen Volk. Dieses Zeugnis dürfte historisch zuverlässig sein; auch Josephus präsentiert die Pharisäer durchgehend als besondere „Gruppe“ oder „Denkschule“ im Judentum.58 Dass Pharisäer, wie die Synoptiker erzählen, in Galiläa generell präsent waren, ist weniger gewiss.59 Nach Josephus sind sie primär in Jerusalem zu finden, und der Evangelist Johannes lässt sie nur in Judäa auftreten.60 Frei57 Vgl. G. Theißen / D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Göttingen u. Fribourg 1997. Anders als Theißen und Winter wende ich dies Kriterium freilich auf Sachaussagen statt auf Einzelüberlieferungen an. 58 Vgl. die Rede von den Pharisäern als ͔ͤͮͥ͒͒͞͝ (Bell. 1,110), ͭ͝΃͚͠͞ (Ant. 17,41) oder einer der drei jüdischen ֭͒΃͎͖͚ͤͣ (Bell. 2,162; Ant. 13,171.288; Vita 10.12.191.197) bzw. „Formen“ des Philosophierens (Bell. 2,119, vgl. Ant. 18,11), bezogen auf die Zeit zwischen 146 v. Chr. (Ant. 13,171 – freilich ist der „Sekten“-Passus mit dem Kontext nicht verknüpft; vgl. dazu Schäfer, Pharisäismus [s. Anm. 8], 134) und 66/67 n. Chr. (Vita 197 [dazu s. u. Anm. 63]). 59 Zweifel äußert z. B. G. Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen 1993, 43 f. 60 Vgl. Joh 1,24; 3,1; 7,32.45–52; 8,13; 9,13–41; 11,46–57; 12,19.42; 18,3; nach 4,1 ff zog sich Jesus vor den Pharisäern aus Judäa nach Galiläa zurück. – Der Befund in der Apostelgeschichte, die Pharisäer nur in Jerusalem lokalisiert (Apg 5,34; 15,5; 23,7 ff) und die pharisäische Identität des Paulus (23,6; 26,5) mit seiner dort erhaltenen Ausbildung verknüpft (vgl. 22,3; 26,4), ist wenig aussagekräftig, da sie Galiläa ohnehin nur beiläufig erwähnt (9,31; 10,37; 13,31).

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lich konzentrieren sich beide Autoren aus werkimmanenten Gründen auf Jerusalem. Zudem kann man das Zeugnis der Synoptiker kaum als redaktionelle Erfindung werten.61 Gerade die Notiz, Pharisäer hätten Jesus vor Herodes Antipas gewarnt (Lk 13,31 ff), ist historisch plausibel.62 Auch die Nachricht, das Synedrium habe im ersten Jahr des Jüdischen Kriegs eine überwiegend pharisäisch besetzte Delegation nach Galiläa gesandt, um dem in Tarichea residierenden Josephus den Oberbefehl über Galiläa zu entziehen (Vita 197),63 lässt vermuten, dass sie dort Gesinnungsgenossen hatten.64 So spricht manches dafür, dass es zur Zeit Jesu jedenfalls am Westufer des See Gennesaret eine nennenswerte Zahl von Pharisäern gab.65 b) Markus zufolge bildeten „die“ Pharisäer eine homogene Gruppe. Allerdings ist sein Bild eng mit der Präsentation der Pharisäer als der Antipoden Jesu verknüpft; und ihr steht der differenzierte Befund bei Lukas entgegen.66 Auch Johannes erzählt von Meinungsverschiedenheiten unter Pharisäern in der Beurteilung des Wirkens Jesu (7,50 f; 9,16). Die rabbinischen Texte helfen diesbezüglich nicht weiter.67 Immerhin scheint Josephus zweimal von einer gewissen Harmonie unter den Pharisäern zu reden.68 Interne Differenzen sind mit dieser Außensicht aber nicht ausgeschlossen, und nach Ant 18,4 war der Pharisäer Zadok maßgeblich an der Gründung der Zeloten beteiligt. Man muss daher gegen Markus mit einer gewissen Meinungs- und wohl auch Gruppenvielfalt im Pharisäismus zur Zeit Jesu rechnen. c) Im Matthäusevangelium erscheint die Gruppe der Pharisäer zur Zeit Jesu als die in religiösen Fragen führende Kraft des palästinischen Judentums. Das matthäische Bild findet Analogien im Johannesevangelium und 61

So mit Recht Saldarini, Pharisees (s. Anm. 14), 291. Nach Mk 3,6; 12,13 hatten Pharisäer Kontakt zu „Herodianern“ (vgl. Bell. 1,319; Ant. 14,450); nach Mt 11,7 f // Lk 7,24 f (vgl. G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Göttingen u. Fribourg 21992, 26–43) stand Jesus kritisch zu Herodes Antipas. 63 In Bell. 2,628 wird die pharisäische Identität der meisten Gesandten freilich nicht erwähnt. 64 Etwas zurückhaltender urteilt S. Freyne, Galilee from Alexander the Great to Hadrian 323 B.C.E. to 135 C.E. A Study of Second Temple Judaism, Wilmington u. Notre Dame 1980, 310 f. 65 Ob Steingefäßreste, die man etwa in Kafarnaum ausgegraben hat, belegen, dass pharisäische Frömmigkeit in Galiläa Anhänger fand (so R. Deines, Jüdische Steingefäße und pharisäische Frömmigkeit. Ein archäologisch-historischer Beitrag zum Verständnis von Joh 2,6 und der jüdischen Reinheitshalacha zur Zeit Jesu, WUNT II.52, Tübingen 1993, 145–153.163), hängt davon ab, ob alltägliche Reinigungsriten als Kennzeichen der Pharisäer gelten dürfen. Dazu s. u. 3.3.c). 66 Vgl. ferner Apg 15,5; hier schreibt Lukas einigen gläubig gewordenen Pharisäern ein Verständnis der Beschneidung zu, das dem des Pharisäers Paulus (vgl. 23,6) widerspricht. 67 Die öfter belegte Liste der sieben Arten von perushim (z. B. jBer 9,7/6) nennt – wenn sie von Pharisäern spricht (so nach bSota 22b, wo anschließend die in Ant. 13,401 f erzählte Begebenheit rezipiert wird) – eher typische Verfehlungen als inhaltliche Divergenzen in der Gruppe. 68 Vgl. Bell. 2,166 („Die Pharisäer sind einander zugetan und bemühen sich für das Gemeinsame um Einigkeit“ [der zweite Halbsatz könnte aber auch die pharisäische „Haltung gegenüber dem jüdischen Gemeinwesen“ betreffen; so G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991, 13]) und Ant. 18,12 („Den Alten erweisen sie Ehre …“). 62

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in den Antiquitates.69 Die pharisäische Dominanz im Bereich von Religion und Ethik wird also zwischen 80 und 100 n. Chr. relativ breit bezeugt. Gewiss sind in allen Fällen redaktionelle Tendenzen erkennbar.70 Da aber bei Josephus eine apologetische, bei Matthäus und Johannes eine polemische Absicht die Darstellung bestimmt, dürfte die jüdische Führungsschicht in Palästina am Ende des 1. Jh. n. Chr. in der Tat pharisäisch geprägt gewesen sein. Einem Rückschluss auf frühere Verhältnisse stehen aber jeweils ältere Quellen, Markusevangelium und De Bello Judaico, entgegen, die eine Führungsrolle der Pharisäer nicht erkennen lassen. Redaktionelle Gründe, sie zu verschweigen, sind weder hier noch dort zu erkennen. Demnach hatte diese Gruppe im Umfeld des Jüdischen Krieges tatsächlich keinen großen Einfluss im Volk. Es steht zu vermuten, dass dies zur Zeit Jesu ähnlich war. Andererseits kann die spätere Dominanz pharisäischen Denkens nicht aus dem Nichts entstanden sein. Der nächstliegende Anknüpfungspunkt ist m. E. das hohe Ansehen im Volk, das Josephus Pharisäern schon in Bell. 1 für die Zeit Herodes’ des Großen zuschreibt.71 Auch die in Lk 11,43 // Mt 23,6 f tradierte Polemik gegen Pharisäer, die sich gern auf dem Markt grüßen lassen, setzt ein gewisses Maß an Respekt für Pharisäer im Volk voraus. Dass ihre Ethik und Lehre zu einem guten Teil den Erwartungen im Volk entsprachen, kann man daraus jedoch nicht erschließen;72 gerade für Galiläa lassen rabbinische Voten dies eher unwahrscheinlich erscheinen.73 d) Lukas stellt die Pharisäer als eine Art religiöser „Elite“ dar. Von Josephus her darf man das Bild für zutreffend halten: Er attestiert ihnen den Ruf, „frömmer zu sein als andere“ (Bell. 1,110, vgl. Vita 191; Ant. 18,15), und eine entsprechende Selbstwahrnehmung (Ant. 17,41). Allerdings ist zu fragen: Elite in welchem Sinn? Josephus und den Evangelien zufolge liegt 69 Nach Johannes wachen die Pharisäer gleichsam über die öffentliche Ordnung in Judäa (Joh 1,19.24; 7,31 f; 9,13–17; 11,46) und haben entscheidenden Einfluss auf die Hierarchie (7,45–52; 11,47 f.57; 12,42; 18,3); den Antiquitates zufolge spielen die Pharisäer bereits zur Zeit Hyrkans und bis über die Absetzung des Archelaus hinaus eine Führungsrolle im jüdischen Volk und bestimmen dessen Lebensführung (vgl. Ant. 13,288 f +296 ff.399–418; 18,15, ferner 15,1–4). 70 Die beiden Evangelisten schildern die Konflikte zwischen den Pharisäern und Jesus im Licht der Trennung christlicher Glaubensgemeinschaften von den Synagogengemeinden (vgl. die distanzierende Rede von „euren“ Synagogen in Mt 23,34 [ähnlich 10,17] und die vom Synagogenausschluss in Joh 9,22; 12,42; 16,2); Josephus präsentiert in den Antiquitates die Pharisäer als die legitimen Repräsentanten des jüdischen Volkes, nachdem der Krieg gegen Rom verloren und der Tempel samt den Hohenpriestern untergegangen ist (vgl. Schäfer, Pharisäismus [s. Anm. 8], 168). 71 Vgl. noch die Erzählung von zwei Gelehrten im Jahr 4 v. Chr., die mit ihrer genauen Gesetzeskenntnis und -auslegung und ihrer Lehre von der Unsterblichkeit der Seelen (Bell. 1,648–655; Ant. 17,149–160) den Pharisäern zumindest nahestehen, u. U. auch 4Q169 Frgm. 3–4 ii 8 ff (dass die „Irreführer Ephraims“ Pharisäer sind, legen die Analogien zwischen i 1–8 und Ant. 13 nahe). 72 Gegen M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: Hengel / Heckel, Paulus (s. Anm. 8), 177– 293: 227 f Anm. 170. 73 Vgl. das Jochanan ben Zakkai zugeschriebene Diktum „Galiläa, du hasst die Thora!“ (jShab 16,8/3) sowie Freyne, Galilee (s. Anm. 64), 309–323 (zur Geltung der Halacha in Galiläa).

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ein Rückzug aus der Öffentlichkeit nicht vor: Pharisäer blieben dem Volk zugewandt, suchten andere für ihre Ideen zu gewinnen.74 Zwar lässt Bell. 2,166 vermuten, dass sie das Gemeinschaftsleben pflegten;75 dessen Abschirmung nach außen ist jedoch nicht zu verifizieren. Ob es den Pharisäern aber primär darum ging, Mitglieder zu gewinnen, oder darum, das jüdische Gemeinwesen in ihrem Sinne zu prägen, muss offen bleiben.

3.2 Zur Frömmigkeit der Pharisäer im Vergleich mit Jesus a) Allen Synoptikern zufolge sind Pharisäer v. a. bemüht, ihren alltäglichen Lebensvollzug am Willen Gottes auszurichten. Josephus’ Darstellung setzt andere Akzente; er präsentiert die Pharisäer als philosophische Denkschule und betont ihr politisches Engagement.76 Letzteres ist aber durch seine Art der Geschichtsschreibung bedingt,77 das philosophische Kolorit durch seine Orientierung an nichtjüdischen Lesern.78 Zudem geht es Pharisäern auch in seiner Sicht darum, „gerecht zu sein und alles zu tun, womit man Gott gefalle“ (Ant 13,289); ihre von Josephus benannten religiösen Leitideen zu den Themen Schicksal und Auferstehung stehen durchweg im Dienst der Ethik.79 In dieselbe Richtung weist Paulus, der seine pharisäische Existenz in Phil 3,5 f als untadeliges Leben nach dem Gesetz definiert. Demnach ist der Pharisäismus als halacha-orientierte Bewegung zu begreifen.80 Mit dieser Charakterisierung hängen zwei weitere Aspekte des synoptischen Bildes zusammen: Es assoziiert Pharisäer oft mit „Schriftgelehrten“ und stellt zugleich ihre Distanz zu „Zöllnern und Sündern“ heraus. 74 Vgl. einerseits die Notiz zur öffentlichen Gesetzeserklärung der Gelehrten in Bell. 1,648 f (s. o. Anm. 71), andererseits die zahlreichen Berichte über Streitgespräche der Pharisäer mit Jesus; ferner E. P. Sanders, Judaism. Practice and Belief 63 BCE – 66 CE, London u. Philadelphia 1992, 428 f, der ein öffentliches Engagement der Pharisäer aus ihrer Mitwirkung im Synedrium und am Aufstand gegen Rom sowie aus den Reisen des Paulus und Mt 23,15 erschließt. 75 S. o. Anm. 68. 76 Zum Ersten s. o. Anm. 58. Zum Zweiten vgl. Berichte vom Einfluss der Pharisäer auf Johannes Hyrkan (Ant. 13,288–296), Salome Alexandra (Bell. 1,110 ff; Ant. 13,401–417) und die Frauen am herodianischen Hof (Bell. 1,571; Ant. 17,41–44), ferner Hinweise auf die Beteiligung von Pharisäern bei Herodes’ Einzug in Jerusalem (Ant. 15,3 f), bei der Vergabe öffentlicher Ämter (Ant. 18,17), bei den Bemühungen, den Krieg gegen Rom zu verhindern (Bell. 2,411), sowie bei der Absetzung von Josephus als Befehlshaber in Galiläa (Vita 189 ff). 77 Vgl. Rivkin, Revolution (s. Anm. 6), 33. 78 Vgl. Bell. 6 und Ant. 5. 79 Die Auffassung vom Zusammenwirken des Schicksals mit der menschlichen Vernunft und die Erwartung eines Gerichts über die unsterblichen Seelen, nach dem der Gute einen neuen Leib erhalte (Bell. 2,162 f; Ant. 18,12–15), stärken beide die ethische Verantwortlichkeit des Menschen. 80 Die tannaitischen Aussagen über die Pharisäer stützen selbstverständlich diese Einsicht.

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Zum Ersten ist festzuhalten: Die Schriftgelehrten bilden eine Art Berufsstand, die Pharisäer hingegen eine Interessengruppe.81 Freilich bedarf eine detaillierte Halacha der „Applikation der … Tora auf die Gegebenheiten des … Alltags“82, also der Arbeit von Schriftgelehrten. Daher kann man im Sinne von Mk 2,1683 annehmen, dass diese unter den Pharisäern großen Einfluss besaßen. Dafür spricht auch Bell. 2,162, wo Josephus den Pharisäern attestiert, als „akribische Exege(ten) der Gesetze“ angesehen zu sein. Was die Distanz zu „Zöllnern und Sündern“ anlangt, so finden die synoptischen Aussagen Analogien in mChag 2,7 und tShab 1,15; hier wie dort werden perushim in Sachen Reinheit vom am ha-arez geschieden.84 Ein weiteres Indiz ist der Name „Pharisäer“, der wohl – und sei es als Fremdbezeichnung85 – eine „Absonderung“ der Gruppe anzeigt. Josephus schließlich attestiert ihnen den Ruf, sich „von anderen in der genauen Beachtung der väterlichen Gesetze zu unterscheiden“ (Vita 191); und das lässt auf eine jedenfalls innere Distanz zu Menschen schließen, die das Gesetz missachten.86 So erscheint die Auskunft der Evangelisten, Pharisäer hätten sich von Zöllnern und Sündern abgegrenzt, historisch glaubwürdig. b) Markus stellt als Charakteristikum der Pharisäer die Orientierung an der „Überlieferung der Ältesten“ heraus (7,5).87 Diese Zuweisung entspricht den Angaben des Josephus.88 Zwar muss bezweifelt werden, dass nur Phari81 Vgl. bereits J. Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte, Greifswald 1874 (= Göttingen 31967), 8 ff (Hinweis v. H.-G. Waubke). 82 H.-F. Weiß, Art. Pharisäer, in: TRE 26, Berlin 1996, 473–485: 476 Z. 35 ff. 83 Vgl. noch Mt 22,34 f; Lk 5,30 sowie Apg 23,9. 84 Nach mChag 2,7 stehen perushim im Blick auf die Reinheit ihrer Kleider über dem am haarez, aber unter den (nicht im Dienst befindlichen) Priestern; nach tShab 1,15 erlaubt das Haus Hillels, was das Haus Schammais verbietet: dass ein an Ausfluss erkrankter parush mit einem an Ausfluss erkrankten am ha-arez isst. Diese Aussagen allein aufgrund formaler Spezifika (kein Kontrast zu den Sadduzäern, keine Äußerung zur Halacha, Sing. statt Pl.) auf nicht näher definierte Asketen statt auf Pharisäer zu beziehen (so Rivkin, Revolution [s. Anm. 6], 166 ff.171, der die Pharisäer mit den ½achamim bzw. soferim identifiziert [vgl. a. a. O., 158]), ist nicht plausibel. 85 So A. I. Baumgarten, The Name of the Pharisees, JBL 102, 1983, 411–428: Aus der Selbstbezeichnung paroshim „die genau Unterscheidenden“ hätten die Gegner den Namen perushim, d. h. Separatisten, gemacht. Dazu passt, dass in rabbinischen Texten perushim in der Tat auch Separatisten (mAv 2,4 u. ö.) und Häretiker (tBer 3,25 u. ö.) bezeichnen kann; s. o. bei Anm. 8. 86 Vgl. dazu die abschätzige Rede vom „Volk, das das Gesetz nicht kennt“, in Joh 7,47 ff. 87 Nach Mk 7,1 stehen hier nur einige Schriftgelehrte aus Jerusalem neben „den“ Pharisäern. 88 Nach Ant. 13,297 halten sich die Pharisäer an „Satzungen aus der Überlieferung der Väter, die nicht in den Gesetzen des Mose aufgeschrieben sind“, sondern „aus der Nachfolge der Väter“ stammen (ob Josephus hier den sadduzäischen Protest gegen die pharisäische Position primär auf die fehlende Verankerung in der Thora oder zugleich auf die Pflege mündlicher Tradition bezieht, bleibt unklar; zur Debatte vgl. Mason, Josephus [s. Anm. 6], 240–243, der selbst erstere Deutung vertritt). Vgl. ferner die Rede von „der väterlichen Überlieferung“ in Ant. 13,408. Die engste begriffliche Parallele zu Mk 7,5 bietet Ant. 10,51: Josia habe sich in seiner Regentschaft leiten lassen „von dem Rat (͓ͤͦͦ͐͒͜͝͠) und der Überlieferung der Ältesten“. – Nicht hierher gehören die Ausdrücke „Anordnungen der Alten“ in Ant. 18,12 (s. o. Anm. 68) und „meine väterlichen

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säer eine Tradition hatten, die den Lebensvollzug anhand der Thora regelte;89 in ihrer Bewegung spielten aber solche Satzungen eine herausragende Rolle.90 Nach Mk 7,6–13 hat Jesus solche „Überlieferung“ abgelehnt, sofern sie zur Aufhebung von Thora-Geboten missbraucht werde.91 Die Historizität dieser Passage ist zweifelhaft.92 Insgesamt gibt es aber in den Evangelien keinen Beleg dafür, dass Jesus sich auf eine bestehende Tradition berufen hätte. Er leitet seine „Lehrvollmacht“ (Mk 1,22.27 u. ö.) aus seiner Sendung her (Mt 5,17 u. ö.): Nicht der Bezug auf die Tradition legitimiert seine Wiesungen, sondern seine „charismatische Autorität“.93 Dieses Charisma wiederum tritt ihm zufolge auch in seinen Exorzismen zutage (Mt 12,28 u. ö.) – was nach Matthäus gerade die Pharisäer in Zweifel ziehen.94 So bestätigt der Vergleich mit Jesus, dass für Pharisäer die „Überlieferung der Väter“ die entscheidende Grundlage ihres Lehrens und Lebens darstellte.95 c) Nach Matthäus sind Pharisäer dadurch gekennzeichnet, dass sie auf schriftgelehrte Weise die Thora auslegen. Damit ist ihr Anliegen getroffen; auch Josephus betont, wie „genau“ sie die „Gesetze“ auslegen und beachten.96 Dabei vertraten sie im Vergleich mit Sadduzäern und Essenern eine gemäßigte Position: Ihre Halacha sollte helfen, den Alltag Gottes Willen gemäß zu gestalten.97 Freilich vollzieht sich Halacha im Judentum zur Zeit Unterweisungen“ in Gal 1,14 (dazu vgl. K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen, WUNT 62, Tübingen 1992, 33 f). 89 Höchstwahrscheinlich folgten auch die Sadduzäer „regulations that went beyond what was written in the Pentateuch“ (A. I. Baumgarten, The Pharisaic Paradosis, HThR 80, 1987, 63–77: 64 Anm. 4). Ihre Ablehnung der pharisäischen Überlieferung könnte sich auf deren mündlichen Charakter beziehen (s. Anm. 88) oder auf deren Legitimation durch die „Nachfolge der Väter“ (vgl. E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ [175 B.C. – A.D. 135] II, hg. v. G. Vermes / F. Millar / M. Black, Edinburgh 1979, 408 Anm. 22). 90 Zur Frage, ob Pharisäer ihre Tradition als mündliche „Thora“ ansahen, vgl. E. P. Sanders, Jewish Law from Jesus to the Mishnah. Five Studies, London u. Philadelphia 1990, 97–130. 91 Als Beispiel dient das Verhältnis der Korban-Praxis zum vierten Gebot des Dekalogs. 92 R. P. Booth, Jesus and the Laws of Purity. Tradition History and Legal History in Mark 7, JSNT.S 13, Sheffield 1986, 94 f, hält die Korban-Debatte, da sie gut zu den Weherufen in Mt 23 passe, für authentisch; Sanders, Law, 56 f, gibt jedoch zu bedenken, dass die Kritik im hellenistisch-jüdischen Kontext besser situiert werden könne als in einem spezifisch pharisäischen. Vgl. auch G. Vermes, The Religion of Jesus the Jew, London 1993, 67: „neither rabbinic Judaism, nor even the strict school of Qumran Essenism went as far as the evangelist’s Pharisees“. 93 Vgl. Vermes, Religion, 70–75. Zur „Vollmacht“ der Lehre Jesu vgl. ferner W. Kraus, Die Bedeutung von Dtn 18,15–18 für das Verständnis Jesu als Prophet, ZNW 90, 1999, 153–176: 170 f: Als „Tora-Prophet“ erteile Jesus aktuell Thora, setze also göttliches Recht. 94 Zur Dämonologie als einem Spezifikum der Pharisäer vgl. auch Apg 23,8. 95 Vgl. dazu die Relativierung der Bedeutung einer Himmelsstimme in halachischen Fragen durch R. Jehoshua in bBer 52a; bChul 44a und die lange Erzählung zu diesem Thema in bBM 59b. 96 Vgl. Bell. 1,110; 2,162; Ant. 17,41; Vita 191, wo Josephus jeweils zurückhaltend von dem „Ruf“ bzw. der Selbstwahrnehmung der Pharisäer spricht. Vgl. dazu u. U. auch die als Wortspiel zu deutende Polemik gegen die ĭĘĪğĚ ĜŘīĘĖ (statt ĭĘĞğė) in 1QH 10,15.32 u. ö. (s. o. Anm. 7). 97 Vgl. J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des Zweiten Tempels, NEB Erg.-Bd. 3, Würzburg 1990, 272. – Dieses Urteil gilt übrigens trotz der Aussagen

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Jesu nicht so, dass jede einzelne Weisung aus der Schrift hergeleitet würde; diese bildet zwar die grundsätzliche, nicht aber in jedem Detail die materiale Basis der Halacha.98 In Mt 5,20 wird nun der pharisäisch-schriftgelehrte Umgang mit der Thora kritisiert: Angesichts des Himmelreichs sei er ungenügend. Damit ist aber keineswegs das Prinzip der Halacha negiert. Gerade Matthäus bietet ja einige Belege für ein schriftgelehrtes Argumentieren Jesu;99 und der Rückbezug auf die Thora ist für sein Wirken konstitutiv.100 Man darf deshalb nicht einfach Halacha und Gottesherrschaft gegeneinander stellen101 – als ob Pharisäer nichts von Gottes Herrschaft gewusst hätten.102 Allerdings hat Jesus eine spezifische Auffassung von ihr: An seinem Wirken wird sichtbar, dass Gottes endzeitliche Herrschaft aus der Zukunft schon in die Gegenwart hineinragt (Lk 17,20 f)103; die Erneuerung der Schöpfung hat begonnen (Mk 7,37 u. ö.). Das wirft, wie beim Thema Ehescheidung deutlich wird, ein neues Licht auf die Thora (Mk 10,6–9): Das Leben ist nach dem jetzt erfahrbaren endzeitlichen Heilswillen Gottes zu gestalten, welcher den Ursprungssinn der Gebote Gottes enthüllt. Diese Eschatologie Jesu haben die Pharisäer nicht geteilt. Daher zielte ihre Halacha auf die Heiligung des Alltags;104 mit ihr entsprachen sie der Erfahrung der gegenwärtigen Herrschaft Gottes in Gebet und Liturgie. d) Wichtigstes Kennzeichen der Pharisäer nach Lukas ist der Vorsatz, ihr Leben in Gerechtigkeit vor Gott zu führen. Dazu gehörten häufiges Fasten und das Verzehnten aller Nahrungsmittel, Praktiken, die über das in der Schrift Gebotene hinausgehen.105 Die Zuschreibung ist angesichts ähnlicher des Josephus, Pharisäer würden „die anderen“ in der Genauigkeit der Thora-Exegese übertreffen (Bell. 1; Vita); auch er stellt ja klar, dass die Essener strengere Regeln haben (Bell. 2,119–161). 98 Vgl. zumal K. Müller, Gesetz und Gesetzeserfüllung im Frühjudentum, in: K. Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, QD 108, Freiburg 1986, 11–27; ders., Anmerkungen zum Verhältnis von Tora und Halacha im Frühjudentum, in: Zenger, Tora (s. Anm.54), 257–291. 99 Vgl. etwa Mt 5,31 f; 12,3–6, ferner den Grundsatz vom Binden und Lösen in 16,19; 18,18 sowie die Würdigung von Schriftgelehrten innerhalb der Jüngergemeinschaft in 13,52; 23,34. 100 Vgl. dazu B. Schaller, The Character and Function of the Antitheses in Matt 5:21–48 in the Light of Rabbinical Exegetic Disputes, in: H.-J. Becker / S. Ruzer (Hg.), The Sermon on the Mount and its Jewish Setting, CRB 60, Paris 2005, 70–88. 101 So z. B. J. Becker, Das Ethos Jesu und die Geltung des Gesetzes, in: H. Merklein (Hg.), Neues Testament und Ethik, FS R. Schnackenburg, Freiburg 1989, 31–52: 35. 102 Zu jüdischen Aussagen über das Reich Gottes aus der Zeit des zweiten Tempels vgl. den Überblick bei G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 229 ff. 103 Dazu s. o. bei Anm. 48. 104 Mit Blick auf alle Zeitgenossen Jesu spricht M. J. Borg, Jesus. A New Vision. Spirit, Culture, and the Life of Discipleship, San Francisco 1991, 160, vom Konflikt über „two different visions of what it meant to be a people centered in God. Both visions flowed out of the Torah: a people living by the ethos and politics of holiness, or … by the ethos and politics of compassion“. 105 Fasten ist nur am Versöhnungstag (Lev 16,29 ff u. ö.) sowie nach entsprechenden Gelübden (Num 30,14) geboten (vgl. noch Sach 7,3 ff; 8,19); in mTaan 2 ff werden daher auch biblische Nachrichten über Fastenpraxis rezipiert. Die Abgabe des Zehnten ist im Pentateuch (vgl.

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Nachrichten bei Josephus und in anderen Schriften des NT historisch glaubwürdig.106 Jesus hat diese Frömmigkeit mit Skepsis betrachtet. Zwar muss sich auch in seinem Sinne der Gehorsam gegen die Gebote der Schrift in einem besonderen Verhalten bewähren; als solches aber fordert er Nachfolge und Armenfürsorge (Mk 10,17–21). Fasten hingegen passt nach Mk 2,19 nicht in die Zeit seines Wirkens,107 und nach Mt 23,23 (vgl. Lk 11, 42) neigen genau Verzehntende dazu, Recht und Erbarmen als das Wichtigere im Gesetz zu vernachlässigen.108 Problematisch also findet Jesus, dass pharisäische Frömmigkeit sich zu verselbständigen droht und dann verdunkelt, dass Gott Gerechtigkeit aus Gnade gewährt (Lk 18,9–14, vgl. 17,7–10) und der Mitmensch zur Barmherzigkeit verpflichtet (16,15–31, vgl. 14,12 ff). Dabei argumentiert Jesus wiederholt mit der Erwartung der Auferstehung der Toten, die die Pharisäer teilen (vgl. Apg 23,8). Es ist daher wahrscheinlich, dass auch ihr Streben nach Gerechtigkeit eschatologisch motiviert war.

3.3 Zu den Auseinandersetzungen zwischen Pharisäern und Jesus a) Den Synoptikern zufolge sind es stets die Pharisäer, die Kontakt zu Jesus aufnehmen.109 Das gleiche Bild bietet Johannes.110 Es besteht kein Anlass, die Historizität dieses Befundes anzuzweifeln.111 Warum aber sind sie auf Jesus zugegangen? Bewusst provoziert hat er sie der Quellenlage nach Num 18,20–32) auf Boden- und Baumfrüchte (Lev 27,30) bzw. auf Saaten, Korn, Wein und Öl (Dtn 14,22 f) beschränkt; erst nach mMaas 1,1 müssen alle Früchte der Erde verzehntet werden (vgl. dazu Schürer, History II [s. Anm. 89], 263 ff, und M. S. Jaffee, Mishnah’s Theology of Tithing: A Study of Tractat Maaserot, BJSt 19, Chico 1981). 106 Zum Bemühen um Gerechtigkeit vgl. Ant. 13,289 (ähnlich 18,15) und Phil 3,5 f, zum Fasten Ant. 18,12 (Pharisäer „leben enthaltsam und kennen keinen Luxus“) und Mk 2,18, zur Zehntpraxis Mt 23,23. Bei den entsprechenden Regeln in tannaitischen Schriften (die J. Neusner, Das pharisäische und talmudische Judentum. Neue Wege zu seinem Verständnis, TSAJ 4, Tübingen 1984, 24 ff.43–47, auf pharisäische Praxis bezieht) fehlt eine Zuordnung zu Pharisäern; und mit den in tSota 15,11 f erwähnten perushim, die angesichts des zerstörten Tempels auf Fleisch und Wein verzichten, sind nach Schäfer, Pharisäismus (s. Anm. 8), 128, kaum Pharisäer gemeint. 107 Vermutlich ist das Wort ursprünglich als Parabel über die mit Jesu Auftritt verbundene Freude zu lesen. Wenn aber dies Wort authentisch ist, sind es Mk 2,20 und Mt 6,16 ff wohl nicht. 108 Dass Jesus das genaue Verzehnten der Pharisäer hier für sich selbst übernimmt (so R. A. Wild, The Encounter between Pharisaic and Christian Judaism: Some Early Gospel Evidence, NT 27, 1985, 105–124: 115), ist dem Wort wegen seiner polemischen Intention nicht zu entnehmen. 109 Nur in Mt 22,41 redet Jesus Pharisäer an, die sich in der Nähe versammelt haben (22,34 f). 110 Vgl. ferner die Schilderung der Begegnung Jesu mit einem pharisäischen Oberpriester (P. Oxy. 840; Text und Übersetzung bei J. Jeremias, Unbekannte Jesusworte, Gütersloh 31963, 50 ff). 111 Als Wanderprediger und -heiler, der sich zu den Sündern gesandt wusste (Mk 2,17; zur Authentizität des „Ich-bin-gekommen“-Spruchs vgl. Theißen / Merz, Jesus [s. Anm. 102], 457 f), wird Jesus es kaum für seine primäre Aufgabe gehalten haben, mit Pharisäern zu disputieren.

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nicht.112 Gewiss berührte sein Auftreten pharisäische Belange; doch als Vertreter einer speziellen Halacha mussten sie daran gewöhnt sein, dass andere von ihren Maßstäben abwichen. Möglicherweise erlebten sie sein Auftreten als Unterhöhlung ihres eigenen Wirkens im Volk; dagegen spricht aber, dass ihr öffentlicher Einfluss zur Zeit Jesu ohnehin gering gewesen sein dürfte.113 Auch die Annahme, sie hätten sich im Sinn des Josephus für die öffentliche Ordnung verantwortlich gefühlt, die sie durch Jesus gestört sahen, ist unwahrscheinlich; dann wäre nicht zu erklären, dass Pharisäer in der vorsynoptischen Passionsüberlieferung offenbar nicht erwähnt werden.114 Man muss daraus vielmehr schließen, dass Pharisäer jedenfalls im römisch verwalteten Judäa das jüdische Gemeinwesen kaum beeinflussen konnten.115 Plausibel wird ihr Protest gegen das Wirken Jesu m. E. erst unter der Prämisse, dass Jesus ihnen nahe stand – so nahe, dass ihnen sein Verhalten als Ausbruch aus einem bestehenden Konsens erschien. Dies lässt sich an allen wichtigen Streitpunkten aufweisen. b) Als spezifischen Streitpunkt zwischen Pharisäern und Jesus präsentiert Markus die Haltung zum Sabbat (Mk 2,23–3,6). Ob die Begebenheiten wie beschrieben stattfanden, ist nicht zu klären; vielleicht handelt es sich eher um ideale Szenen.116 Die Fülle neutestamentlicher Belege spricht jedoch dafür, dass Jesus tatsächlich am Sabbat geheilt hat;117 dass es darüber mit Pharisäern zum Streit kam, ist plausibel. Zwar ist der Sabbat jüdisches Allgemeingut, und Qumran-Texte bezeugen strengere Regeln hierzu.118 Das 112 Jesu Weherufe sind nach Mt (12–)23 und Lk 11 als Antwort auf pharisäische Kritik zu begreifen; Ähnliches gilt für seine auf die Pharisäer bezogenen Mahnungen an Volk und Jünger. 113 S. o. 3.1.c). 114 Dieser Befund dürfte angesichts gegenläufiger, wohl redaktioneller Notizen bei Markus und Matthäus (s. o. nach Anm. 15 und 28) den historischen Sachverhalt spiegeln; vgl. H.-F. Weiß, Der Pharisäismus im Lichte der Überlieferung des Neuen Testaments, in: SSAW 110.2, Berlin 1965, 89–132: 96 f (der auch die untergeordnete Rolle von Pharisäern im Synedrium betont; zum unhistorischen Charakter der Szene in Apg 5,34–40 vgl. P. J. Tomson, Gamaliel’s Counsel and the Apologetic Strategy of Luke-Acts, in: J. Verheyden [Hg.], The Unity of Luke-Acts, BEThL 142, Leuven 1999, 585–604: 599 f). Johannes präsentiert die Pharisäer dann neben den Hohenpriestern sogar als Initiatoren des Prozesses gegen Jesus (Joh 7,32; 11,46 f.57; 18,3 – dazu s. o. Anm.69). 115 Vgl. D. Goodblatt, The Place of the Pharisees in First Century Judaism: The State of the Debate, JSJ 20, 1989, 12–30: 27 ff. Für die Jahrzehnte vor Ausbruch des Jüdischen Krieges fehlt jedes Zeugnis des Josephus über die Pharisäer; und in der Entstehungsphase des Aufstands konnten sie die Entwicklungen nach Bell. 2,411; Vita 20–23 nicht steuern. Gerade diese Belege (vgl. auch Mk 12,13–17) stehen auch der Annahme eines Rückzugs aus der Politik (so J. Neusner, From Politics to Piety. The Emergence of Pharisaic Judaism, New York 21979) entgegen. – Für Galiläa könnte man aus Mk 3,6 einen Einfluss der Pharisäer auf die Herodianer erschließen; der historische Wert dieser Aussage steht aber angesichts von Lk 13,31 (s. o. bei Anm. 62) in Zweifel. 116 Vgl. R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 101995, 40. 117 Vgl. noch die weiteren Berichte Lk 13,10–17; 14,1–6 und Joh 5,1–9; 9,1–7(.14). 118 Vgl. L. Doering, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 278–282, zu CD 11,16 f und 4Q265 6,6 f.

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Logion Mk 3,4 passt aber am besten in einen pharisäischen Kontext, da es voraussetzt, dass die Gesprächspartner das Prinzip „Lebensrettung verdrängt den Sabbat“ uneingeschränkt teilen.119 Jesus weitet nun dies Prinzip aus und behauptet, sein Heilen am Sabbat sei „erlaubt“, da es den Charakter des Sabbats als eines dem Menschen zugute geschaffenen Tages zur Geltung bringt (Mk 2,27 f).120 So liegt dem Disput zwischen Jesus und Pharisäern ein beachtlicher Konsens im Umgang mit dem Sabbatgebot zugrunde. c) Matthäus stellt als Streitpunkt das Verhältnis von „innerer“ und „äußerer“ Reinheit heraus.121 Das ist historisch plausibel. Pharisäische Sorge um Reinheit wird durch Texte aus Mischna und Tosefta bezeugt.122 Freilich ist das Thema für jeden Juden von Belang, der zum Tempel geht. Aufschlussreich ist aber die Regelung, Pharisäer stünden bezüglich der Reinheit ihrer Kleider über dem am ha-arez, aber unter Priestern.123 So steht zu vermuten, dass Pharisäer sich priesterlicher Lebensführung angenähert124 und bei ihren Mahlzeiten regelmäßig Riten vollzogen haben, die den Zugang zum Kult ermöglichten.125 In der Jesusüberlieferung spielt ein solches Ideal keine Rolle. Vielmehr polemisiert Jesus in Mt 23,25 f // Lk 11,39 und Mk 7,15126 gegen die äußerlichen Reinigungsriten der Pharisäer und fordert stattdessen „innere“ Reinheit, d. h. „Reinheit“ des Redens und Tuns.127 Die Debatte setzt aber eine Nähe zwischen Pharisäern und Jesus voraus – sonst dürften sich jene nicht wundern, dass dieser ihre Sitten ignoriert. Gemeinsam ist beiden die Intention, das Dasein der Menschen an der Gegenwart Gottes 119 Vgl. neben tannaitischen Texten, die direkt die Frage der Lebensrettung betreffen (z. B. MekhJ Shabbta Ki tissa 1 zu Ex 31,13; vgl. B. Schaller, Jesus und der Sabbat, FDV 3, Münster 1994, 23 f), Belege für die Abgrenzung der Boethusäer von einer Halacha, die kultbezogene Handlungen vom Sabbatgebot ausnimmt (mMen 10,3; tSuk 3,1; vgl. Doering, Schabbat, 518–523). 120 Es ist deshalb kein Zufall, dass es bei den Sabbatheilungen stets Jesus selbst ist, der die Initiative ergreift (Mk 3,3parr; Lk 13,12; 14,3); anders z. B. Mk 2,3; 5,22 f.27; 6,55; 7,25 f.32; 8,22. 121 Und zwar anhand der Sitten des Händewaschens (Mt 15,2.11 f.17–20) und der Reinigung von Bechern und Schüsseln (23,25 f). Ersteres ist gemäß tDemai 2,11 f ein Brauch der ½aberim „to avoid defiling liquid because liquid might … defile ½ullin“ (Booth, Jesus [s. Anm. 92], 240). In der Diaspora gab es Händewaschen vor Gebet und Synagogenbesuch (Arist 304 ff; Sib 3,591 ff). 122 Vgl. mJad 4,6 f; tChag 3,35; tJad 2,19 f (jeweils im Kontrast zu Sadduzäern). 123 Vgl. mChag 2,7 (dazu s. o. bei Anm. 84). 124 Sanders, Judaism (s. Anm. 74), spricht wohl zutreffend von „minor gestures towards living like priests“ (440) bzw. „minor gestures that partially imitated priestly purity“ (438). 125 Vgl. dazu noch Mk 7,4; Lk 11,38. 126 Im Konnex mit Mk 7,2.5 (s. o. Anm. 54) negiert 7,15 nicht die Unreinheit von Speisen an sich (so deutet Markus in 7,19; freilich sind „unreine“ Tiere nach Lev 11 keinesfalls im Blick, da ihr Verzehr in der Thora nicht als verunreinigend gilt [vgl. D. Flusser, Jesus, Jerusalem 1997, 60]), sondern die Annahme, ein Mensch werde durch den Verzehr verunreinigter Speisen unrein – und diese wurde frühestens um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. im Rahmen der 18 Dekrete (mShab 1,4, vgl. bShab 13b) zur verbindlichen Regel (zur Datierung vgl. Booth, Jesus [s. Anm. 92], 165–169). 127 Vgl. B. D. Chilton, A Generative Exegesis of Mark 7:1–23, in: C. A. Evans / ders., Jesus in Context. Temple, Purity, and Restoration, AGJU 39, Leiden 1997, 297–317: 306: Reinheit sei für Jesus „a matter of production, rather than of consumption“.

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auszurichten; doch diese „Reinigung“ wird bei Pharisäern vom Tempelkult,128 bei Jesus von der eschatologischen Gottesherrschaft her vollzogen. d) Nach Lukas geraten Pharisäer und Jesus insbesondere über die Gestaltung von Mahlgemeinschaften in Streit miteinander: Pharisäer bleiben dabei primär unter sich (Lk 14,12), Jesus hingegen lässt sich wiederholt am Tisch von „Sündern“ nieder. Auch diese Darstellung ist historisch plausibel: Einerseits zog sich Jesus den Vorwurf zu, ein „Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“ zu sein (Mt 11,19par);129 andererseits legt die detaillierte Zehnt- und Reinigungspraxis der Pharisäer den Schluss nahe, dass sie in der Regel nur dort an einem Gastmahl teilnahmen, wo der Gastgeber ihrer Halacha gemäß alle Speisen verzehntet und alle Utensilien gereinigt hatte.130 Warum aber ist es bei diesem Thema zum Konflikt gekommen? Das ist nur verständlich, wenn Jesus und Pharisäer wechselseitig Anteil an ihren Lebensvollzügen nahmen.131 Daher eignet den neutestamentlichen Gastmahlszenen – wenn sie auch in concreto stilisiert erscheinen132 – in der Sache historische Plausibilität: Weil Jesus bei Pharisäern zu Gast war, mussten sie daran Anstoß nehmen, dass er sonst – und zwar programmatisch – bei „Sündern“ am Tisch saß. Sein Programm ergab sich aus der Nähe der Gottesherrschaft. Da Jesus diese häufig im Bild des Gastmahls darstellt,133 darf man annehmen, dass er sie mit seiner Tischgenossenschaft in das Leben der Anwesenden hineintrug.134 Bei den Pharisäern warb er dann mit den Gleichnissen vom Verlorenen (Lk 15) um die Akzeptanz seines Handelns – um Mitfreude daran, dass er Sünder zu Gott zurückführt.135 So teilt er mit ihnen das Anliegen, gemeinsame Mahlzeiten zu Feiern der Gemeinschaft mit Gott zu machen. Doch während er diese Ge128 Mit Bezug auf Ex 19,6? Dagegen D. Schwartz, „Kingdom of Priests“ – a Pharisaic Slogan?, in: ders., Studies in the Jewish Background of Christianity, WUNT 60, Tübingen 1992, 57–80: 66. 129 Diese Kritik könnte durchaus pharisäischen Ursprungs sein; der Kontrast mit Johannes (Mt 11,18) deutet allerdings darauf hin, dass dieses sprichwörtliche Logion im Volk umlief. 130 Ähnlich Sanders, Judaism (s. Anm. 74), 441: „Pharisees did not, at least on average, eat with people below them on the purity scale“. Dass sie sich – wie man aufgrund ihrer Darstellung durch Lukas vermuten könnte – regelmäßig zu Gemeinschaftsmahlzeiten trafen, lässt sich aus anderen Quellen freilich nicht belegen. Immerhin legt Ant. 13,289 ff (dazu vgl. Berger, Jesus [s. Anm. 3], 234) die Annahme nahe, dass Pharisäer bei Gastmahlen gerne unter sich blieben. 131 Vgl. Wild, Encounter (s. Anm. 108), 122: Nach Mk 2,15 ff erwarteten Pharisäer „ that Jesus and his disciples would avoid table-fellowship with legal sinners just as they themselves did“. 132 Es ist eher unwahrscheinlich, dass Pharisäer bei einem Zöllnergastmahl präsent sind (Mk 2,16; vgl. U. Luz, Jesus und die Pharisäer, Jud. 38, 1982, 229–246: 232) oder dass eine bekannte „Sünderin“ in ein von Pharisäern gegebenes Gastmahl eindringt (Lk 7,37 f). 133 Vgl. Mk 14,25; Mt 8,11 f; Lk 14,16–24 u. ö., ferner Mt 25,21.23 und dazu J. Jeremias, Jesu Verheißung für die Völker, Stuttgart 1956, 54 mit Anm. 211. 134 Anders E. P. Sanders, Jesus and Judaism, London 1985, 208: das Mahl sei eine „proleptic indication“ der künftigen Teilhabe der Sünder an der Gottesherrschaft. 135 Man beachte, dass die Pharisäer von Lk 15,1 f her in 15,6.9 als Freunde und Nachbarn Jesu erscheinen.

Die synoptischen Evangelien als Quellen für die Geschichte der Pharisäer 107

meinschaft den „Sündern“ zu vermitteln sucht, sind Pharisäer allererst bemüht, ihr im eigenen Leben Ausdruck zu geben.

4. Schluss Die Analyse der synoptischen Evangelien hat gezeigt, dass ihre Pharisäerbilder an vielen Punkten Gegebenheiten zur Zeit Jesu widerspiegeln. Demnach bildeten die Pharisäer eine auch in Galiläa vertretene Gruppenbewegung, die zwar nicht völlig homogen war, aber insgesamt als eine Art religiöser Elite hohes Ansehen im jüdischen Volk genoss – ohne freilich über maßgeblichen öffentlichen Einfluss zu verfügen. Als halacha-orientierte Gruppe waren die Pharisäer bemüht, durch schriftgelehrte Applikation der Thora sowie in Orientierung an einer für sie spezifischen „Überlieferung der Ältesten“ ihren alltäglichen Lebensvollzug durch besondere Formen der Frömmigkeit zu heiligen; im Sinne einer Annäherung an priesterliche Lebensführung kam dabei ihrer Speisepraxis besondere Bedeutung zu. Auch die synoptischen Darstellungen der Beziehung zwischen Pharisäern und Jesus lassen historische Gegebenheiten erkennen. Diese Beziehung war von Nähe und Distanz zugleich gekennzeichnet. Einerseits teilte Jesus zentrale religiöse Vorstellungen der Pharisäer – rechnete mit Dämonen, erwartete die Auferstehung und das Gericht; teilte überdies ihre Verwurzelung in der Thora, ihr Interesse an Gerechtigkeit vor Gott und ihre Intention, menschliches Dasein an der Gegenwart Gottes auszurichten. Gerade bei der Deutung des Sabbats als eines Tags für den Menschen und der Tischgemeinschaft als eines Orts der Gemeinschaft mit Gott stand er ihnen nahe. Andererseits setzte er im Licht der anbrechenden Gottesherrschaft gerade bei seiner Mahl- und Sabbatpraxis eigene Akzente; ihre Berufung auf die Tradition, ihre Hochschätzung kultischer Reinheit sowie ihre Distanz zu den „Sündern“ lehnte er ab. So ergibt sich: Gerade die Mischung von Interesse und Kritik der Pharisäer an Jesus, wie sie die Gesamtheit der synoptischen Evangelien bezeugt, ist historisch plausibel. Vermutlich erschien den Pharisäern das Wirken Jesu als Ausbruch aus einem bestehenden Konsens. Von dieser Mischung haben dann die Evangelisten – vor dem Horizont ihrer eigenen zeitgeschichtlichen Erfahrungen – je andere Aspekte wahrgenommen und herausgestellt. In neutestamentlicher Sicht ist also der historische Quellenwert der synoptischen Evangelien für die Erforschung des Pharisäismus zur Zeit Jesu trotz der polemischen Färbung der Texte hoch. Wie dieser Befund aus judaistischer Perspektive beurteilt wird, muss die weitere Diskussion zeigen.

Hans-Günther Waubke

Die talmudische ¼aberim-Halacha und die Pharisäer

1. Das Problem: ¼aberim und Pharisäer Es ist eine seit jeher offene Frage, welche der in der rabbinischen Tradition erwähnten Gruppenbezeichnungen sich auf diejenige Gruppe beziehen lässt, die im Neuen Testament und bei Josephus als ͇͒΃͚ͤ͒‫͚͠ل‬, Pharisäer erwähnt werden. Schon die Darstellungen der Pharisäer bei Josephus und im Neuen Testament greifen nicht bruchlos ineinander und sind innerhalb der beiden Corpora vielschichtig1. Ist im Hinblick auf die griechischen Quellen immerhin unstrittig, dass von ein und derselben Gruppe die Rede ist und die Pharisäer auch soziologisch als zusammenhängende Gruppierung erkennbar sind, so lässt sich dies von den Perušim (ĠĜŘţī Ă Ůþ ) und ¼aberim (ĠĜīĂ ăĔ ĀĚ) in der rabbinischen Tradition keineswegs sagen. Es ist alles andere als ausgemacht und in etlichen Fällen eher unwahrscheinlich, dass die gelegentlich erwähnten Perušim durchgängig mit den Pharisäern identifiziert werden können.2 Unter dem Namen der ¼aberim ist eine detaillierte Halacha überliefert, in der die klare Struktur einer Gruppe aufscheint, die inhaltlich primär an Reinheits- und Zehntobservanz interessiert ist.3 Aufgrund dieser Merkmale liegt es nahe, in den ¼aberim die Pharisäer bei Josephus und im Neuen Testament zu erkennen. Dies wird mit starken Gründen schon lange vertreten; der stringente Beweis steht indessen nach wie vor aus. Wäre dieser Beweis zu führen, ließen sich aus den ¼aberim-Texten wesentliche Aufschlüsse über den Pharisäismus gewinnen. Das klassische Argument für die Identifikation von „Paruš“ (Řţī ĆŮ) und „¼aber“ (ī ăĔ ĆĚ) wird beispielhaft in der Neubearbeitung von Emil Schürers „Geschichte des Volkes Israel“ aus der Zusammenschau von mChag 2,7 mit 1

Einen knappen und präzisen Überblick geben: G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991, 10–39; S. Mason, Josephus and the New Testament, Peabody, Mass. 1992, 131–137.140–149; Mason, Flavius Josephus on the Pharisees. A Composition-Critical Study, StPB 39, Leiden 1991, 1–44; vgl. den Beitrag von F. Wilk im vorliegenden Band. 2 Stemberger, Pharisäer 40–62 misst der ¼aberim-Halacha nur im Hinblick auf die rabbinischen Schriftgelehrten insgesamt Bedeutung zu. 3 Siehe mDemai 2,2–4; tDemai 2,2–24; 3,1–10.14–15 (par. tTer 7,4–7); mDemai 6,7.9.12; tDemai 6,8–11; 8,1–3; mShevi 5,9; tMaas 2,5; tMSh 4,5; mBik 3,12; tChag 3,35; tSan 3,4; tAS 3,9–10; tKel BQ 3,13–14; tAhilot 5,11–12; tPara 4,12–14 (par. tChag 3,24–28); tPara 5,1–3; mToh 7; 8,1–5; tToh 8,1–7.9–12.16; 9,1–6.10–12.

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mDemai 2,3 gewonnen, wo im ersteren Fall der þAm-HÁÿÁræÈ (ĨīĄ Ćē ĆėČĠ ąĥ) als Gegensatz zum Paruš, im zweiten zum ¼aber benannt wird. Beide Begriffe werden aber in den tannaitischen Quellen nirgends direkt in Beziehung gesetzt, so dass auch hier nur ein indirekter Beweis möglich ist.4

2. Die Quellen: Die ¼aberim-Halacha in Tosefta und Mischna Die Texte, von denen die folgende Argumentation in der Hauptsache ausgeht, sind aber auch in der Neubearbeitung von Schürers Werk nicht berücksichtigt worden: Die ¼aberim-Halacha in der Tosefta. Anders als in den gegenüber der Tosefta wesentlich kürzeren bzw. verkürzten ¼aberimPassagen in der Mischna, die in der Forschung zumeist für die Darstellung der ¼aberim herangezogen wurden, entfaltet die Tosefta sehr detailliert die Statuten einer ¼abura (ėīţĔ Ć Ě Ā ), mit Zugangsbedingungen, Aufnahmeverfahren und Verhaltensmaßregeln für die Mitglieder dieser Gruppe, die ¼aberim. Wir haben es in diesen Texten, grundlegend in tDemai 2–3, mit der Gruppenregel einer kultisch orientierten Gemeinschaft zu tun. Diese ist als gemischte Gruppe aus Priestern, Leviten und Laien unter der Leitung von Schriftgelehrten erkennbar. Das Hauptanliegen dieser Gemeinschaft ist die Einhaltung levitischer Reinheit im Alltag für alle Mitglieder der Gruppe. Grundlegend ist dazu in tDemai 2,2 festgelegt: Wer vier Dinge auf sich nimmt, den nehmen sie auf, ¼aber zu sein: Dass er Hebe und Zehnten nicht einem þAm-HÁÿÁræÈ gibt und dass er seine Reinheitsspeisen nicht bei einem þAm-HÁÿÁræÈ zubereitet und dass er sein Profanes in Reinheit verzehrt.

Anstelle der vier angekündigten Verpflichtungen eines ¼aber enthält ihre Aufzählung jedoch nur drei Punkte:5 Ihr Kern ist das Verzehren profaner Speisen im Status der Reinheit, der für Priester in der Ausübung ihres Dienstes gültig ist. Hierin liegt eine charakteristische Erweiterung von Regeln der Tora: Die Vorschriften über den Genuss und die Reinhaltung von Opferspeisen in Lev 22,1–16, die ursprünglich nur für die Priester im Dienst galten, wurden von den ¼aberim grundsätzlich auch für den Alltag übernommen. Diese Verschärfung der Reinheitsobservanz über das Toragebot hinaus wurde aber keineswegs von allen Priestern eingehalten. Um in die4 E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B. C. – A. D. 135), revised and edited by G. Vermes et al., Vol. II, Edinburgh 1979, 399 Anm. 61; so schon bChag 18b zu mChag 2,7: „Perušin sind die ¼aberin, die ihr Profanes in Reinheit essen“. 5 Vgl. dazu ausführlich S. J. Spiro, Who was the ¼aber? A New Approach to an Ancient Institution, JSJ 11, 1980, 186–216: 189–190.

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sem Kontext also den höheren Grad der Reinheit für die ¼aberim einhalten zu können, war es nötig, dass diese sich durch formellen Zusammenschluss zu einer Gruppe kenntlich machten. So konnte Vorsorge getroffen werden, dass die erhöhte Reinheit nicht durch Nichtmitglieder beeinträchtigt wurde. Deswegen durften ¼aberim, die Laien oder Leviten waren, ihre Abgaben nur an Priester leisten, die ihrerseits ¼aberim waren. Diese wiederum mussten dafür Sorge tragen, dass ihre Reinheitsspeisen sich nicht mit denen von Priestern vermischten, die keine ¼aberim waren. Daher enthält dieses Regelwerk aus der Tosefta in der Folge der zitierten Grundregel neben den Vorschriften für die Reinheitsobservanz im Alltag in weiten Teilen Verhaltensmaßregeln für ¼aberim als Priester im Tempeldienst, die aus der Einhaltung priesterlicher Reinheit im Alltag resultieren. Im Grundsatz ist dies von 2 Chr 31,4 inspiriert: „Und er befahl dem Volk, den Bewohnern Jerusalems, dass sie den Priestern und Leviten ihren Anteil geben sollten, damit sie an der Tora JHWHs festhalten“ – wobei Letzteres als Bedingung des Ersteren angesehen wurde.6 Dabei wurde bei den Nichtmitgliedern die Einhaltung der für den Priesterdienst einschlägigen Reinheitsvorschriften der Tora durchaus vorausgesetzt – wie sollten sie sonst Priester sein? –, nicht jedoch der darüber hinausgehenden Halacha für die ¼aberim. Im weiteren Verlauf des zitierten Textes setzt sich an der Stelle, die nach der Einleitung die vierte Verpflichtung eines ¼aber erwarten ließe, die begonnene Auflistung indessen nicht fort, sondern beginnt eine neue: Wer es auf sich nimmt, NæÿæmÁn [Ģ Ćġ ĄēĄģ, „Beglaubigter“] zu sein, verzehntet, was er verzehrt und was er verkauft und was er kauft, und er kehrt nicht bei einem ‘AmHƗ’Ɨræs̡ ein. [Das sind] Worte R. Meirs, aber die Weisen sagen: Wer bei einem ‘AmHƗ’Ɨræs̡ einkehrt, [kann doch] NæÿæmÁn [sein]. R. Meir sagte zu ihnen: In Bezug auf sich selbst ist er nicht NæÿæmÁn, soll er für mich NæÿæmÁn sein? Sie sagten zu ihm: Seit es Hausherren gibt, ließen sie sich nicht abhalten, einer beim anderen zu essen; trotzdem waren von den Früchten in ihren Häusern die Zehnten abgeschieden.

Die hier vorgeschriebene umfassende Verzehntung bezieht sich auf alles, was verzehrt, verkauft und gekauft wird. Über die biblisch konkret benannten Zehntpflichten hinaus, die sich allgemein auf Getreide, Wein, Öl,7 dazu auf Honig, Baumfrüchte, Vieh, und allen Ertrag des Feldes8 beziehen, ist damit auch die Ausdehnung der Zehntpflicht auf Gemüse, Grünkräuter, Gartenfrüchte u. a. eröffnet, wenn auch nicht im Genaueren definiert.9 Doch handelt es sich hierbei nicht, wie die für den ¼aber vorgeschriebene Einhaltung priesterlicher Reinheit im Alltag, um eine neue halachische Qualität, 6 7 8 9

Siehe tDemai 2,9; bSan 90b; vgl. Bill. IV.2, 649. Dtn 12,17; 14,23; Neh 10,40. Lev 27,30–32; 2Chron 31,6–7. Vgl. Mt 23,23; rabbinische Belege mit genaueren Bestimmungen in Bill. IV.2, 650–653.

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welche in der Tora nicht enthalten war. Vielmehr sind hier lediglich detaillierte Ausgestaltungen ins Auge gefasst, die in den summarisch gehaltenen biblischen Zehntgeboten nicht konkret benannt, aber doch von der Formulierung „Und aller Zehnte des Landes vom Samen des Landes und von den Früchten der Bäume sind für JHWH, heilig für JHWH“ in Lev 27,30 umgriffen sind. Ist hinsichtlich der Reinheit ein þAm-HÁÿÁræÈ jemand, der die über die Tora hinausgehenden Vorschriften der ¼aberut nicht einhielt, so meint der Ausdruck im Gegenüber zu NæÿæmÁn hinsichtlich der Verzehntung diejenigen, welche der Toravorschrift selbst nicht bzw. nicht sorgfältig genug Folge leisteten. Dass Letzteres geschah, lag, wie ja bei allen Abgaben, sehr nahe und wird durch die spätere Einführung der DemaiRegelungen untermauert.10 Analog zur Reinheitshalacha wurde durch die formelle Selbstverpflichtung die verlässliche Verzehntung im Kreise derer, welche diese Observanz beachteten, sichergestellt. Dabei ist auffällig, dass in diesem Zusammenhang nicht von ¼aberim, sondern von NæÿæmÁnim (Beglaubigten) gesprochen wird, obwohl Aufbau und Anordnung der beiden Halachot wie auch der Umstand, dass der þAm-HÁÿÁræÈ als Gegenbild beider vorgestellt wird, ihre Identität nahelegen. Konstitutiv für die ¼abura sind aber ausschließlich die Reinheitsvorschriften. Deren Einhaltung entschied über die Kultfähigkeit im Sinne der ¼aberim. Der Kult ist das eigentlich gemeinschaftsbezogene Element, und als Gemeinschaft wurde die ¼abura durch die Einhaltung priesterlicher Reinheit im Alltag konstituiert. Dass in einer Gruppe, in der eine über die Tora hinausgehende Reinheit der Abgaben an die Priester und Leviten galt, die Verzehntung genauestens eingehalten wurde, ist eine Selbstverständlichkeit. Allein der große Anteil der Priester an den ¼aberim dürfte dafür gesorgt haben, dass mit den Abgaben für die Priester sorgfältig verfahren wurde. Ein ¼aber, der nicht korrekt verzehntete, wäre schlicht absurd. Umgekehrt musste aber keineswegs jeder, der sich als NæÿæmÁn verpflichtet hatte, das Toragebot der Verzehntung genau einzuhalten, sich auch auf die über die Tora hinausgehende priesterliche Reinheit im Alltag verpflichtet sehen. Diese Variante ist nicht nur theoretisch denkbar: In tDemai 3,9 werden Maßregeln für den Fall diskutiert, dass der Inhaber eines Ladens NæÿæmÁn ist, seine Frau aber keine NæÿæmÁna. In diesem Falle kann es sich bei dem NæÿæmÁn nicht um einen ¼aber handeln, denn bei ¼aberim erstreckt sich die Verantwortlichkeit für die Reinheit auf das ganze Haus. Es wäre widersinnig, wenn dies für das Verzehnten nicht gelten 10 Demai (Ĝē Ćġš)þ = Zweifelhaftes, d. h. Früchte, deren Verzehntung zweifelhaft ist. Das nach talmudischer Tradition unter Johannes Hyrkan (135–104 v. Chr.) erlassene Demai-Gesetz regelte die Nachverzehntung solch zweifelhaft verzehnteter Früchte (mSota 9,10; bSota 48a; bBM 90a; vgl. Bill. IV.2, 654–656.659; Spiro, ¼aber, 191–193).

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sollte.11 Wenn Reinheit und Verzehntung für einen ¼aber auch verschiedene Seiten derselben Medaille sind, werden sie hier halachisch aber ganz offensichtlich unterschiedlich kategorisiert.12 Auf den Anliegen spezifischer Reinheit und korrekter Verzehntung beruhte die Entstehung von Zusammenschlüssen, ¼aburot (ĭŴīţĔĚ Ā ): In einer jüdischen Umwelt, welche diese konsequente Ausführung bzw. Verschärfung der Tora nicht übernahm, war es notwendig, sich mit denen zusammenzuschließen, auf die man sich hinsichtlich ihrer Reinheits- und Zehntobservanz verlassen konnte. In der Einleitung der Gruppenregel in tDemai 2,2 wird daher festgelegt, dass ein ¼aber seine Abgaben an Priester und Leviten nur an solche Amtsträger leisten soll, die als ¼aberim für die korrekte Reinhaltung der Abgaben bei ihrer weiteren Verwendung Gewähr tragen, indem sie ihre Speisen nicht mit denen von Nichtmitgliedern vermischen, und ihre Frauen bei der Zubereitung der Speisen darauf achten lassen, dass diese nicht durch Nicht-¼aberim bzw. durch deren Frauen bei gemeinsamer Haus- und Hofwirtschaft verunreinigt werden. Das Verhältnis zu den Nichtmitgliedern, dem þAm-HÁÿÁræÈ, ist hier aber nicht, wie es häufig unterstellt wird, durch polemische Abgrenzung bestimmt, sondern durch das Anliegen, einerseits die Reinheits- und Zehntvorschriften der ¼aberim einzuhalten, dabei aber andererseits den mitmenschlichen, auch familiären Umgang mit den Nichtmitgliedern so unge-

11 Der genannte Fall setzt voraus, dass das Geschäft, in dem der Ehemann für korrekte Verzehntung sorgt, und sein Haushalt, in dem seine Frau es nicht tut, getrennt behandelt werden. Das war für die Rabbinen offenbar ein widerwilliges Zugeständnis an eine gängige Praxis, die aber dem Anliegen der ¼aberim stracks zuwiderlief; vgl. K. H. Rengstorf, Rabbinische Texte 1. Die Tosefta. Übersetzung und Erklärung. Bd. I.2: Demai, Stuttgart 1971, z. St. 12 Diese Systematisierung ist in der Tosefta nur z. T. und erst in der Mischna endgültig durchgeführt, s. u. Anm. 18. Spiro führt die rabbinische Verwendung von NæÿæmÁn auf Neh 13,13 zurück (Verwalter der Zehnten und anderer Tempelabgaben werden paritätisch aus Priestern und Leviten berufen). Er folgert, dass die ¼aberim keine religiöse Sondergruppe waren, sondern „a council of administrators dealing with the collection of hallowed taxes (…) It is an organisation and not a sect“ (¼aber, 199). Dass Neh 13,13 im Hintergrund der talmudischen NæÿæmÁnTerminologie steht, ist plausibel; ebenso, dass die Einnehmer der Tempelabgaben, die später von den Priestern verzehrt werden sollten, auch in Ausführung ihres Amtes außerhalb des Tempels auf priesterliche Reinheit zu achten hatten. Jedoch begründet dieses gerade nicht den entscheidenden Aspekt, dass in der Tosefta die Aufnahme in eine ¼abura nicht kraft eines ausgeführten Amtes, sondern durch persönliche Entscheidung zustande kommt und auch innerhalb der amtierenden Priesterschaft – die doch wohl nicht in corpore ausrückte, um den Zehnten einzusammeln – nach dem Kriterium priesterlicher Reinheit im Alltag zwischen ¼aber und þAm-HÁÿÁræÈ unterschieden wird. Diese spezifischen Observanzen sind für die professionellen Erfordernisse der Zehnt- und Hebeeinnehmer ohne alle Bedeutung. Auch hat der Schluss „In Nehemiah we find the term ne’eman used to describe the members of the ½aber council“ (211) keinen Anhalt am Text von Neh: ¼aber kommt dort gar nicht vor (anders R. Meyer, Tradition und Neuschöpfung im antiken Judentum, Berlin 1965, Wiederabdr. in: R. Meyer, Zur Geschichte und Theologie des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit, hg. v. W. Bernhardt, Berlin 1989, 130–187).

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zwungen wie möglich aufrecht zu erhalten. Wenn auch in den Vorschriften der ¼aburot ein Element der Abgrenzung gegen die Umwelt enthalten ist, so handelt es sich um eine primär kultische Grenzziehung, nicht aber um eine mitmenschliche: Der soziale Kontakt zu den Nichtmitgliedern wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Tochter eines þAm-HÁÿÁræÈ heiratet einen ¼aber, die Tochter eines ¼aber einen þAm-HÁÿÁræÈ, die Frau eines ¼aber heiratet in zweiter Ehe einen þAm-HÁÿÁræÈ, die Kinder des ¼aber gehen bei ihrem Großvater, einem þAm-HÁÿÁræÈ, ein und aus. ¼aber und þAm-HÁÿÁræÈ werden als Geschäftspartner, Geschäftsteilhaber, Teilnehmer an gemeinsamen Mahlzeiten erwähnt, als Nachbarn, die sich den Hof teilen – alle diese Beziehungen erscheinen in der ¼aberim-Halacha nicht etwa als bedenkliche Ausnahmen von der reinen Regel, sondern als Normalfall, mit dem die Regeln der ¼aberut vermittelt werden müssen.13 Durchgängig ist das Bemühen erkennbar, den sozialen Kontakt nach Kräften zu ermöglichen, und abfällige Äußerungen gegen den þAm-HÁÿÁræÈ, wie sie in späteren Äußerungen von Schriftgelehrten gegenüber Ungelehrten zu finden sind und wie sie in Joh 7,47 ff den Pharisäern nachgesagt werden, fehlen hier völlig. Vielmehr wird bis zum konkreten Erweis des Gegenteils unterstellt, dass der þAm-HÁÿÁræÈ die Regeln der ¼aberim wenn nicht befolgt, so doch respektiert.14 Auch ein soziales Gefälle zwischen ¼aberim und þAm-HÁÿÁræÈ läßt sich den Texten nicht entnehmen. Als þAm-HÁÿÁræÈ, „Volk des Landes“, werden hier durchgängig die Nichtmitglieder der ¼aburot bezeichnet. Dieser Begriff bezeichnet in den rabbinischen Schriften im Allgemeinen Juden, deren kultische Observanz als fragwürdig gilt, späterhin, wie gesagt, auch die Nicht-Rabbinen. Hier ist er im Besonderen als terminus technicus für Juden – auch Priester – gebraucht, die wenn auch mit Abstrichen die Toragebote, nicht aber die weitergehende Halacha der ¼aberim einhielten. Die Gruppenregeln der ¼aburot in der Tosefta sind ersichtlich eine Tradition, die nicht weitergeführt wurde. Das zeigt sich schon im Vergleich der Passagen aus tDemai 2 mit ihrer analogen Überlieferung in der Mischna: mDemai 2,2: Wer es auf sich nimmt, NæÿæmÁn zu sein, verzehntet alles, was er genießt, was er verkauft oder kauft. Und er kehrt nicht bei einem þAm-HÁÿÁræÈ ein. R. Jehuda sagt: Auch wer bei einem þAm-HÁÿÁræÈ einkehrt, ist NæÿæmÁn. Sie [die Weisen] sagten ihm: Für sich selbst ist er nicht NæÿæmÁn, wie kann er NæÿæmÁn für andere sein!

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So durchgängig in tDemai 2 und 3. So tDemai 2,15: „Der Sohn eines ¼aber, der zum Vater seiner Mutter, einem þAm-HÁÿÁræÈ geht – dessen Vater braucht nicht besorgt zu sein, dass er ihn Reinheitsspeisen verzehren lässt. Wenn man weiß, dass er ihn Reinheitsspeisen verzehren lässt, ist es verboten, und seine Kleider sind midras-unrein.“ 14

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mDemai 2,3: Wer es auf sich nimmt, ¼aber zu sein, der verkauft dem þAm-HÁÿÁræÈ keine feuchten und trockenen Früchte und kauft von ihnen keine feuchten. Und er kehrt nicht bei einem þAm-HÁÿÁræÈ ein, und nimmt ihn nicht seines Gewandes wegen als Gast auf. R. Jehuda sagt: Auch zieht er kein kleines Vieh auf und ist nicht leichtsinnig in Gelübden und im Scherzen, und verunreinigt sich nicht an Toten und dient im Lehrhaus [ĬīĖġė ĭĜĔ]. Sie [die Weisen] sagten ihm: Das gehört nicht zur Regel [für einen ¼aber].

In mDemai 2,2–3 ist das Verhältnis von ¼aber und þAm-HÁÿÁræÈ erheblich komprimiert dargestellt: Die in tDemai auf die Grundbestimmungen folgende Entfaltung der ¼aberim-Halacha fehlt hier ganz. Auch fehlen alle Hinweise auf spezifisch für Priester gültige Regeln, auf eine geordnete Gruppenstruktur und darauf, dass es sich um eine Gruppe aus Priestern und Laien handelt. Daher stößt die gängige Annahme, dass die Tosefta auch hinsichtlich der in ihr enthaltenen Traditionen insgesamt eine jüngere Stufe repräsentiere, in diesem Abschnitt auf Schwierigkeiten. Sie würde bedeuten, dass die genannten Aspekte in den Traditionen der Mischna noch nicht enthalten waren und somit erst in der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. entstanden und in der Tosefta nachgetragen worden sind. Dieses erscheint aber zu einer Zeit, als die sachliche Voraussetzung des Ganzen, der Tempelkult, seit ca. 100 Jahren nicht mehr existierte, als ganz unwahrscheinlich. Plausibler ist es, davon auszugehen, dass in der Tosefta als wichtig erachtete ältere Traditionen aufbewahrt wurden, welche aber in die für autoritative Geltung bestimmte Mischna nicht mehr aufgenommen wurden. Diese Vermutung wird auch durch die in mDemai 2,3 überlieferte Diskussion mit R. Jehuda über weitergehende Verpflichtungen eines ¼aber, die in tDemai nicht enthalten ist, gestützt. Was R. Jehuda hier fordert, steht mit dem halachischen Grundsatz, profane Speisen in levitischer Reinheit zu verzehren, in keiner oder allenfalls sehr lockerer Beziehung. Insbesondere die allgemein-ethischen Maßregeln gegen den Leichtsinn und die Verpflichtung, im Lehrhaus aufzuwarten, weisen mehr auf das in späteren Quellen überlieferte Standesethos der sich ¼aberim nennenden Schriftgelehrten voraus15 denn auf den sich ¼aberim nennenden Zusammenschluss aus Priestern, Leviten und Laien aus tDemai 2.3 zurück. In diese Richtung weist auch die Bestimmung in mDemai 2,3, welche dem ¼aber aus Gründen der Reinheit verbietet, einen þAm-HÁÿÁræÈ zu besuchen oder als Gast 15 So heißt es in Fortschreibung von mDemai 2,3 in bBer 47b: „Auch einer, der Schrift und Mischna gelernt hat, aber nicht den Gelehrtenschülern [ĠĜġĞĚ ĜĖġğĭ] gedient hat, siehe, der ist ein þAm-HÁÿÁræÈ“; bBB 75a: „¼aberim sind nichts anderes als Gelehrtenschüler“; bBer 63b: „Die Tora [d. h. das Wissen der Tora] wird nur in einer ¼abura erlangt.“ Vgl. A. Oppenheimer: The ǥAm Ha-aretz. A Study in the Social History of the Jewish People in the Hellenistic-Roman Period, ALGHJ 8, Leiden 1977, 170 ff; R. Meyer, Der Am Ha-ares, in: ders., Geschichte, 21–39.

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aufzunehmen. Gegenüber der Tosefta, die durchaus Gast- und Mahlgemeinschaft zwischen ¼aber und þAm-HÁÿÁræÈ voraussetzt und nur für den Fall, dass vom þAm-HÁÿÁræÈ im konkreten Fall Verunreinigungen zu erwarten sind,16 Restriktionen vorsieht, erweitert diese Bestimmung das Thema „Reinheit“ über die unumgänglichen praktischen Arrangements hinaus ins Grundsätzliche. An die Stelle des in der Tosefta vorausgesetzten Verkehrs von gleich zu gleich zwischen ¼aber und þAm-HÁÿÁræÈ tritt hier die Betonung der sozialen Distinktion der ¼aberim.17 Aufgrund folgender Beobachtung kann man davon ausgehen, dass die Gestalt, in der die ¼aberim-Halacha in der Mischna erscheint, gegenüber der Tosefta eine stärkere Systematisierung erfahren hat: Ist in tDemai 3,4 noch die völlig synonyme Verwendung der Termini ¼aber und NæÿæmÁn neben der noch nicht ganz durchgeführten systematischen Zuordnung von „¼aber“ zum Reinheitsthema und der von „NæÿæmÁn“ zur Verzehntung in tDemai 2,2 erkennbar, so sind diese Unschärfen in der konsequenten Systematisierung dieser Themen in der Mischna gänzlich beseitigt.18

3. Die Datierung der Quellen: Aus welcher Zeit stammt die ¼aberim-Halacha? Die mehrfache Erwähnung R. Meirs in tDemai 2–3, u. a. in der Grundkonstitution der ¼aburot in 2,2–3, lässt vermuten, dass er maßgeblichen Anteil 16

Siehe tDemai 2,15–18; 3,6–8. Auch die in diesen Passagen genannten Rabbinennamen sprechen für das jüngere Alter der Texte aus der Mischna: Der in der Tosefta namhaft gemachte R. Meir, ein Schüler R. Aqibas, lehrte in der Mitte des 2. Jh. n. Chr. (G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81982, 84.137–138), der in der Mischna erwähnte R. Jehuda ha-Nasi, der Redaktor der Mischna, am Ende des 2. Jh. (ebd., 88.129–131; zur Entstehung der Tosefta vgl. ebd., 154–155). Sein Zusatzvotum über zusätzliche Pflichten eines ¼aber zeigt, dass der Bedeutungswandel dieses Begriffes in Richtung der rabbinischen Schriftgelehrten am Ende des 2. Jh. schon begonnen hatte. 18 Siehe tDemai 3,4: „Am Anfang pflegten sie zu sagen: Wenn ein ¼aber zum Steuereinnehmer gemacht wird, verstoßen sie ihn aus seiner ¼aberut. Sie machten es rückgängig, um zu sagen: Die ganze Zeit, in der er Steuereinnehmer ist, ist er nicht NæÿæmÁn; trennt er sich von seinem Steuer-einnehmeramt, siehe, dieser ist NæÿæmÁn.“ Dass die spätere Erleichterung sich allein auf die Anerkennung als NæÿæmÁn im Sinne glaubwürdiger Verzehntung, nicht aber auf die Reinheit eines ¼aber bezog, scheidet bei genauerer Betrachtung aus: Dieses hätte bedeutet, dass die Übernahme einer Steuerpacht jemanden nach der revidierten Regelung allein im Hinblick auf die Verzehntung verdächtig gemacht hätte, nicht aber hinsichtlich der Reinheit. Das ist aber ganz unwahrscheinlich, denn eben die Reinheit ist der problematische Aspekt gegenüber Steuereinnehmern (tToh 8,5; mToh 7,6): „The Mishna, therefore, appropriately separates h̡aber and ne’eman as different institutions. The Tosefta, properly emended, presents the older concept of ne’eman as one of the requirements of the haber and the later concept as a separate institution“ (Spiro, ¼aber, 211; s. o. Anm. 12; zu tDemai 3,4 s. u. Anm. 45). 17

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an der endgültigen Formulierung dieser Halacha hatte. Die ältesten der dort weiterhin erwähnten Rabbinen sind Jehoshua b. Chananja und Simeon b. Natanael, beide Schüler von Jochanan b. Zakkai aus der 2. Generation der Tannaiten; die jüngeren der dort genannten Rabbinen – wie Simeon b. Eleazar und Jose b. Meschullam – gehören in die 4. Generation der Tannaiten um den ebenfalls genannten Jehuda ha-Nasi.19 Die ¼aberim-Halacha der Tosefta erhielt also im 2. Jahrhundert, vermutlich um die Jahrhundertmitte die uns vorliegende Gestalt. Das besagt aber nicht, dass sie auch ihrem Inhalt nach in dieser Zeit entstanden sein muss. Es spricht im Gegenteil sehr viel dafür, dass die Grundaussagen dieser Halacha aus der Zeit vor 70 stammen, in der die vorausgesetzte Situation, der in Funktion befindliche Jerusalemer Tempelkult, noch der geschichtlichen Wirklichkeit angehörte. Mit dieser Annahme verträgt es sich durchaus, dass die ¼aberim-Halacha in der Zeit nach 70 – in der Hoffnung auf Wiederaufnahme des Tempelkultes – fortgeschrieben und redigiert, vielleicht sogar ausgeweitet wurde. Jedoch birgt die umgekehrte Annahme Schwierigkeiten, dass die Grundkonstruktion der ¼aburot – eine Gemeinschaft aus Priestern, Leviten und Laien, die sich durch die Einhaltung priesterlicher Reinheit im Dienst und im Alltag konstituiert – nach der Tempelzerstörung überhaupt erst entstanden sei. Dieses würde bedeuten, dass die ¼aberim-Halacha geradezu eine Fiktion darstellte. Da sie aber keine idealen Zustände voraussetzt, denen eine fiktionale Beschreibung angemessen wäre, sondern ersichtlich eine sehr reale, mit Defiziten behaftete Situation, muss man davon ausgehen, dass sie auch aus einer solchen Situation hervorgegangen ist. Religionssoziologisch ist für die Gruppenbildung der ¼aburot eine plurale Situation plausibel, in der es im Judentum unterschiedliche religiöse Gruppen mit sehr unterschiedlicher religiöser Observanz gab, bei Laien und Leviten ebenso wie bei Priestern. In dieser Lage, d. h. im palästinischen Judentum vor 70, hatte es Sinn, eine Gruppe zu bilden, die bestimmte Observanzen gewissenhafter als die Mehrheit einhielt und sich zu diesem Zwecke eine klare Struktur mit Regeln und Grenzen gab, nicht aber in dem auf Vereinheitlichung ausgehenden frührabbinischen Judentum des 2. Jahrhunderts. Hier liegt etwas anderes vor als bloß die traditionelle Unterscheidung von Frommen und Gottlosen wie z. B. in Psalm 1, die auf jegliche Zeitumstände anwendbar ist: Von solch einer allgemeinen Charaktertypologie ist tDemai 2 durch die feste Gruppenstruktur unterschieden. Es handelt sich auch um etwas anderes als den in späterer Zeit herausgebildeten Standesunterschied zwischen Rabbinen und Ungelehrten, dessen unter den Chiffren „¼aberim“ und „þAm-HÁÿÁræÈ“ verhandeltes Charakteristikum in einem 19 Zur Generationenfolge der Tannaiten vgl. Stemberger, Einleitung, 76–89, zum Problem der Datierung anhand von Rabbinennamen vgl. ebd., 67–72 und oben den Beitrag von K. Müller.

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erkennbaren sozialen Gefälle zwischen beiden liegt. Ein solches Gefälle ist in der tannaitischen ¼aberim-Halacha in Tosefta und Mischna nirgends zu erkennen, vielmehr ist hier das gemeinsame Lebensmilieu von ¼aberim und þAm-HÁÿÁræÈ die selbstverständliche Voraussetzung des Ganzen. Der Umstand, dass es unterschiedliche Kultpraktiken am Tempel und daraus resultierende Differenzen und religiöse Differenzierungen gab, wurde mit der Tempelzerstörung im Jahre 70 obsolet, zunächst noch auf Widerruf, solange die Hoffnung auf Wiederaufbau des Tempels bestand, später endgültig. Insofern erscheint es plausibel, dass im entstehenden rabbinischen Judentum die ¼aberim-Halacha nur mehr als historische Erinnerung aufbewahrt wurde und dem Kontrastpaar „¼aber und þAm-HÁÿÁræÈ“ im Laufe der Zeit eine den neuen Umständen entsprechende Bedeutung unterlegt wurde. Somit lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit folgern, dass die ¼aberim-Halacha aus der Zeit vor 70 herrührt. Ihr pharisäischer Ursprung ist oft aufgrund von Kombination mit Auskünften im Neuen Testament und bei Josephus behauptet worden.20 Aber stammt sie auch von Pharisäern?

4. Die ¼aberim-Halacha im Vergleich mit Qumranschriften Ihren historischen Ort hat die in der ¼aberim-Halacha erkennbare spezifische Art der Gruppenbildung im Judentum zwischen der Makkabäerzeit und der Tempelzerstörung. Diese tritt in den Quellen erstmals, wenn auch noch recht unbestimmt, in Gestalt der ͔͔ͤͦ͒ͪ͞‫ ר‬ֈ͚͕ͤ͒͐ͪ͞21 als eine der Gruppen, die den Aufstand gegen Antiochus IV. Epiphanes unterstützten, in Erscheinung. Der Aufstand hatte Erfolg. Aber die Restitution des Tempelkultes im Jahre 164 v. Chr. bedeutete nicht die schlichte Wiederherstellung aller vormaligen Verhältnisse: Die durch die Hellenisierung angestoßene gesellschaftlich-religiöse Pluralisierung im palästinischen Judentum blieb auch in der Folgezeit erhalten. Die überkommenen religiösen Observanzen, die bis dato nicht grundsätzlich, sondern allenfalls von „Gottlosen“ unorganisiert in Frage gestellt wurden, konnten in einem nunmehr pluralen gesellschaftlichen Arrangement nicht mehr die alte Allgemeingültigkeit beanspruchen. Die Frage, welche Observanzen in welcher Strenge einzuhalten seien, konnte unter diesen Umständen nicht mehr im Ganzen gemeinschaftlich entschieden werden, sondern war zu einer kontroversen Angelegenheit 20 So bei Schürer / Vermes, History II, 398–400 wie schon vorher Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi II, Leipzig 41907 (= Hildesheim 1964), 468–471, und J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu. Kulturgeschichtliche Untersuchungen zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, Göttingen 31962, 280–292; Meyer, Geschichte, 138–143.177–179. 21 1Makk 2,42; 7,12; 2Makk 14,6.

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unterschiedlicher gesellschaftlich-religiöser Gruppen mit unterschiedlicher Akzentuierung geworden. So entstanden religiöse Vereinigungen, die sich durch verschärfte Observanzen konstituierten, zumeist in Abgrenzung gegen als ungenügend angesehene Praktiken am Tempel, seien sie als unwürdig oder illegitim beurteilt. Ein Hauptpunkt des Ungenügens bestand seit der Übernahme des Hohepriesteramtes durch den Hasmonäer Jonathan im Jahre 153 v. Chr. und nachfolgend der hasmonäischen Könige darin, dass die Hasmonäer, aus einer niederen Priesterfamilie stammend, der Legitimität für das Hohepriesteramt entbehrten. Dies umso mehr, als Jonathan vermutlich der „Frevelpriester“ war, welcher den Gründer der Qumrangruppe, den „Lehrer der Gerechtigkeit“, aus dem Hohepriesteramt verjagt hatte.22 Hinzu kamen Auslegungsdifferenzen über Einzelheiten der Kultpraxis: Gut 20 Vorschriften der Tora, über die gestritten wurde, sind in einem in mehreren Fragmenten erhaltenen Schreiben (des Lehrers an den Hohepriester Jonathan?) zusammengestellt.23 Auch hier wird in grundsätzlicher Analogie zu tDemai 2–3 die Anforderung priesterlicher Reinheit für die ganze Gruppe vertreten;24 allgemeinere Kritik an den Usancen am Heiligtum spricht sich u. a. in der Damaskusschrift aus.25 Auch die spätere christliche Überlieferung formuliert scharfe Kritik an den Zuständen am Tempel;26 allerdings nicht als Einspruch gegen halachische Unreinheit, sondern als prophetischen Einspruch gegen Verunreinigung im umfassenden religiösen Sinne. Der entscheidende Vorbehalt der ¼aberim gegenüber der üblichen Praxis am Tempel liegt darin, dass die Priester und Leviten außerhalb ihres Dienstes ihre Speisen nicht in dem für das Heiligtum gültigen Grad von Reinheit verzehrten. Das widerspricht aus Sicht der ¼aberim aber dem Umstand, dass es sich um geheiligte Gaben handelt – eine Sicht, die nicht allgemein durchzusetzen war. Daher schlossen sie sich zu ¼aburot zusammen, die es ermöglichten, dass ¼aberim ihre Tempelabgaben nur an Priester und Leviten entrichteten, die gleichfalls ¼aberim waren. Für sie war der Empfang von Gaben an besondere Regelungen gebunden, die über den Wortlaut der Tora hinausgingen:

22

Vgl. G. Jeremias, Der Lehrer der Gerechtigkeit, StUNT 2, Göttingen 1963, 36–78. 4QMMTa-f; Edition der Fragmente und des Komposittextes in E. Qimron / J. Strugnell, Qumran Cave 4.V, DJD 10, Oxford 1994; dt. Übersetzung in J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer 2, München 1995, 361–376; vgl. H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg i.Br. 1993, 148–151. 24 4QMMT C 2–3. 25 CD 4,18; 5,6–13; 6,11–20, in: E. Lohse, Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch, Darmstadt 21971, 74–79. 26 Mt 21,12–17 parr.; Joh 2,13–21; Lk 19,41–44. 23

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tDemai 2,6–9: 6 Einen Priester, der den ganzen Dienst des Priestertums auf sich nimmt bis auf eine Sache, ihn nehmen sie nicht auf. 7 Einen Leviten, der den ganzen Dienst des Levitentums auf sich nimmt bis auf eine Sache, ihn nehmen sie nicht auf. […] 8 Wer es auf sich nimmt, [am Heiligtum] zu dienen, der erhält Gaben, und wer es nicht auf sich nimmt zu dienen, der erhält keine Gaben. 9 Wenn die Priester den Willen ihres Vaters im Himmel tun, was steht über sie geschrieben? „Als ihren Anteil habe ich es ihnen gegeben von meinen Feueropfern: Allerheiligstes“ [Lev 6,10]. Von dem Ihrigen nehmen sie, und nicht von dem Seinigen. Und wenn sie nicht den Willen ihres Vaters im Himmel tun, was ist über sie gesagt? „Wer ist unter euch, der die Türen schließt? […]“ [Mal 1,10].

Zum „ganzen Dienst“ der Priester und Leviten gehört es nach der Auslegung der ¼aberim, dass die Gaben auch außerhalb des Tempeldienstes in Reinheit verzehrt werden. Wer diesen Dienst nicht ganz erfüllt, darf keine Gaben empfangen. Diese Konditionierung geht auf Num 18,7 zurück: Dort sind die Gaben, welche Priestern und Leviten zustehen, ihnen zu dem Zweck zugeeignet, dass sie „alle Dinge“ ihres Priesterdienstes wahrnehmen. Der Umkehrschluss, dass ihr Anspruch auf Anteil an den Gaben verfällt, wenn sie nicht alle Verrichtungen ihres Amtes vollständig erfüllen, ist in Num 18 indessen nicht gezogen. In diesem Zusammenhang ist damit die Tora-Interpretation der ¼aberim in Gestalt ihrer besonderen Reinheitshalacha gemeint. Nur unter dieser Voraussetzung sind mit Berufung auf Lev 6,10 die Gaben der rechtmäßige Anteil der Priester am Opfer. Verhalten sich die Priester aber in diesem Sinne nicht toragemäß, stehen ihnen keine Gaben zu, woraus folgt, dass von einem ¼aber nur ein ¼aber als Priester etwas empfängt. Dies wird mit einem Zitat aus Mal 1,10 begründet. Dieses Zitat lohnt der Betrachtung in seinem biblischen Kontext: In Mal 1,6–9 wird über unwürdige Opfer im Tempel geklagt. Diese Klage mündet in V. 10, der über den zitierten Teilsatz hinaus vollständig lautet: Wer ist unter euch, der die Türen schließt? Und ihr sollt auf meinem Altar nicht vergeblich Feuer anzünden. Ich habe keinen Gefallen an euch, spricht JHWH Zebaoth, und das Opfer von euren Händen ist mir nicht wohlgefällig.

Ein Opfer, bei dem die erforderliche Reinheit nicht eingehalten wird, ist Gott nicht wohlgefällig und ungültig. Gegenüber einem solchen Opfer muss man „die Türen verschließen“ und darf an seiner Ausführung nicht teilnehmen. Also opferten ¼aberim nur mit solchen Priestern, welche sich ausdrücklich auf die entsprechenden Maßregeln verpflichtet hatten und die exakte toragemäße Ausführung im Sinne der ¼aberim gewährleisteten. Von hier aus erschließt sich auch, warum solch großer Wert auf die Zuverlässigkeit der ¼aberim und ganz besonders der Priester unter ihnen gelegt wird. Indem sie sich der Reinheitsobservanz gleichgesinnter Priester versicherten,

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war es den ¼aberim möglich, am Tempelkult teilzunehmen, trotz ihrer Vorbehalte gegen seinen üblichen Vollzug. Dieser war aus ihrer Sicht eigentlich untragbar, aber auf diese Weise konnten sie die prinzipielle Distanzierung vom Tempel, wie sie die in den Qumrantexten erkennbare Gruppe vollzog, vermeiden. Durch das Regelwerk ihrer Halacha konstituierten die ¼aberim innerhalb von Kultpersonal und Kultgemeinde einen durch einen höheren Reinheitsgrad qualifizierten inneren Kreis, einen „Tempel im Tempel“, der ihren Kult vom allgemeinen Kult absetzte, ohne dass sie sich davon separierten. Zugleich dehnten sie den Bereich priesterlicher Heiligkeit über den Tempel in den profanen Alltag aus. Aus alledem wird deutlich, dass die ¼aberim ihre Auslegung der Tora nicht allgemein durchsetzen konnten. Dies gilt auch für den Ja½ad der Qumrantexte, dessen Schriften über das Ungenügen am Tempelkult hinaus scharfe Distanzierungen aussprechen: CD 6,11–20a: 11 Aber alle, die in den Bund gebracht worden sind, 12 sollen nicht in das Heiligtum eintreten, auf seinem Altar vergeblich Feuer zu entzünden. Sie sollen die sein, die die Türe verschließen, 13 von denen Gott gesagt hat: Wer unter euch wird seine Türe verschließen? Und ihr sollt auf meinem Altar nicht vergeblich Feuer anzünden [Mal 1,10]. 14 Wahrlich, sie sollen darauf achten, der Deutung des Gesetzes entsprechend zu handeln zur Zeit der Gottlosigkeit und sich abzusondern 15 von den Söhnen der Grube und sich zu trennen vom Besitz der Gottlosigkeit, der unrein ist durch ein Gelübde oder einen Bannfluch 16 oder Besitz des Tempels; [nicht] die Armen seines Volkes zu berauben, dass Witwen ihre Beute sind 17 und sie Waisen ermorden. [Sie sollen darauf achten], zu unterscheiden zwischen rein und unrein und (den Unterschied) zwischen 18 dem Heiligen und dem Profanen zu lehren und den Sabbattag zu halten entsprechend seiner genauen Bestimmung und die Festzeiten 19 und den Tag des Fastens entsprechend dem Finden derer, die in den neuen Bund eingetreten sind im Lande Damaskus. 20 [Sie sollen darauf achten], die heiligen Gaben darzubringen entsprechend ihren genauen Bestimmungen […].27

Dieser Passage liegt eine zur ¼aberim-Halacha analoge Problemstellung zu Grunde: Der Kultus im Tempel wird nicht der Tora gemäß ausgeführt, und zwar so, dass dadurch die Grenzen von Rein und Unrein verwischt werden. Dem Hinweis von CD, dass demgegenüber die rechte Unterscheidung des Heiligen vom Profanen und die korrekte Darbietung der Gaben nach ihrer Lesart beachtet werden müsse, entsprechen die Regeln der ¼aberimHalacha in tDemai, dass man Reinheitsspeisen und heilige Gaben nur einem ¼aber als Priester überlassen dürfe. Die Unterschiede in den gezogenen Konsequenzen sind jedoch signifikant: Konnten die ¼aberim das Problem noch systemimmanent lösen und den Konnex zum Tempel wahren, erklärten die Verfasser von CD das Gesamtsystem Tempel für unrein, separierten 27

Lohse, Qumran, 77.79.

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sich vollständig davon und brachten anstelle der als illegitim betrachteten Opfer im Tempel einen gottgefälligen Lebenswandel, Hymnen und Gebete dar. Mehr noch: Im Habakuk-Pescher wird heftige Polemik gegen den „Lügenmann“ (1QpHab 5,11) und die „Lügengemeinde“ (10,10) geführt, und die Damaskusschrift benennt mehrere halachische Positionen der damit verbundenen „Erbauer der Mauer“ (CD 4,19), die scharf abgelehnt werden. Historischer Rückfrage stellt sich folgender Befund dar: Die Gegner bilden eine eigene ėĖĥ mit einem bedeutenden Leiter, der eine Auseinandersetzung mit dem Lehrer der Gerechtigkeit hatte (pHab 5,9–12). Zu ihr gehört jedenfalls eine priesterliche Gruppe, der Tempelschändung vorgeworfen wird (CD 5,6 ff). Im Gegensatz zu der Gemeinde vertreten sie die Rechtmäßigkeit der Nichtenehe und der Polygamie (CD 5,8 ff; 4,21 ff). Vielleicht haben sie über die Unreinheit der Menstruation der Frauen eine eigene Lehre (s. […] CD 5,6 ff). Sie haben sich nicht vom Volk getrennt (CD 8,8). Sie sind eine sehr anziehend wirkende Gruppe, die auch Glieder der Gemeinde in nicht geringer Zahl zu sich lockt (z. B. CD 19,33 ff). „Sie hofften auf Heilung“ (CD 8,4), sie versuchen also auf eigene Weise mit den Geboten ernst zu machen … All das deutet doch darauf hin, daß die gegnerische Gruppe der Gemeinde ganz nahegestanden hat, aber im Unterschied zu dieser den Tempeldienst für richtig und notwendig erachtete und deshalb die scharfe Scheidung vom Volk nicht mitvollzog. Dafür spricht auch, daß die gegnerische Gruppe wie die Qumran-Gemeinde offensichtlich priesterlichen Ursprungs ist. Nur so ist erklärlich, warum die Gegner zu einer so großen Gefahr wurden: Sie standen der Gemeinde gedanklich unmittelbar nahe … Damals hat sich der Lügenmann nach seiner Kontroverse mit dem Lehrer der Gerechtigkeit mit seinen Anhängern von der Gemeinde getrennt.28

Vergleicht man diesen Befund mit der ¼aberim-Halacha, so stimmt diese, auch wenn man die Pharisäer zunächst beiseite lässt, in ihren Hauptaspekten mit den Angaben aus Qumran recht genau zusammen: In der ¼aberimHalacha liegt ein großes Gewicht auf der Tischgemeinschaft, das auf einen engen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe schließen lässt, so dass man über eine bloße Interessengruppe hinaus von einer Gemeindebildung ausgehen kann.29 In dieser Gemeinde ist das priesterliche Element so stark akzentuiert, dass man mit ihrem priesterlichen Ursprung rechnen muss, mindestens aber unter den ¼aberim mit einem erheblichen Anteil von Priestern, für die der Tempelkult nur unter der Voraussetzung spezieller, von ihnen im Gegensatz zu anderen Priestern und Laien eingehaltener Reinheitsobservanzen legitim ist. Durch diese Observanzen nehmen sie die 28 G. Jeremias, Lehrer, 122–124; die Quellenangabe „CD 8,8“ im Zitat ist aus dem offensichtlichen Versehen „8,9“ korrigiert. Vgl. auch den größeren Zusammenhang in G. Jeremias, 79–126. 29 Um dieser Aspekte willen erkennt J. Neusner, From Politics to Piety. The Emergence of Pharisaic Judaism, New York 21979, 14 in der von der ¼aberim-Halacha beschriebenen Gruppe „a table-fellowship sect“.

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Gebote auf spezielle Weise genauer als der þAm-HÁÿÁræÈ, haben sich aber bei genauer Wahrung ihrer Observanzen nicht vom Volk und bei allen Bedenken nicht vom Tempelkult getrennt, sondern Mittel und Wege gefunden, mit beiden zu leben. All dies spricht mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir es in der ¼aberim-Halacha der Tosefta mit Traditionen derjenigen Gruppe zu tun haben, der die Polemik in den Qumranschriften galt. Auffällig im Vergleich mit der ¼aberim-Halacha ist in CD der scharfe Ton, der jede Gemeinsamkeit mit den einstigen Brüdern – mit dem Tempel ohnehin – aufkündigt. Solche tiefgreifenden Spuren einer Konfliktgeschichte geben sich in tDemai 2–3 nirgends zu erkennen. Wir erfahren nichts über Ursprung und Anlass für die Gruppenbildung der ¼aberim, nichts über den Ursprung der Namensgebung oder Gründungspersönlichkeiten, über den historischen Werdegang oder Auseinandersetzungen mit Gegnern, sondern haben nur noch die tradierte Halacha vorliegen, als ein vom geschichtlichen Fleische fast vollständig entblößtes Knochengerüst der Regeln dieser Gemeinschaft. Die Gründe dafür mag man in dem langen Tradierungsprozess sehen, den die ¼aberim-Halacha – führt man ihren Ursprung auf die Gruppe des „Lügenmannes“ zurück – hinter sich hat. In diesem Falle wäre ihr, vielleicht erst durch die Redaktion im 2. Jahrhundert n. Chr., der Konnex mit diesem geschichtlichen Hintergrund gründlich abhanden gekommen. Das wäre nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, welche geringen Spuren die Hasmonäerzeit in der rabbinischen Literatur insgesamt hinterlassen hat. Jedoch muss nicht allein ein großer Abstand von der Ursprungszeit das Erscheinungsbild der ¼aberim-Halacha im Vergleich mit CD und 1QpHab begründen. Die scharfen Töne aus Qumran rühren ersichtlich daher, dass die Gruppe des „Lügenmannes“ eine tatsächliche oder potentielle Bedrohung für den Ja½ad darstellte. Waren dessen Gegner letztlich die historischen Gewinner dieser Kontroverse und konnten ihre Stellung festigen, gab es für sie natürlich viel weniger Anlass zu solchen Schärfen. Die Gegenpolemik zu CD und 1QpHab muss nicht, wie man aus dem großen zeitlichen Abstand der ¼aberim-Halacha schließen könnte, verlorengegangen sein – es könnte sie nie gegeben haben, wie man auch schwerlich mit einem pharisäischen Gegenstück zur Pharisäerpolemik der Evangelien rechnen kann. Die Deutung dieser Polemik in CD auf die Pharisäer bei Josephus und im NT, deren Ursprung Josephus wenn auch in der Datierung vage, aber doch mit einiger Bestimmtheit in die frühe Hasmonäerzeit verlegt, in der auch die Auseinandersetzungen des Ja½ad mit dem „Lügenmann“ und anderen Gegnern stattfanden, liegt nahe. Jedoch lassen sich die erwähnten halachischen Differenzen an den dortigen Angaben über die Halacha der Pharisäer nicht exakt verifizieren, auch wenn vieles für diese Kombination spricht – zunächst, dass bei Josephus die Pharisäer im Verlaufe der Hasmonäerzeit,

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wenn auch mit einigen Schwankungen, als die historischen Gewinner erscheinen.30 Unter Johannes Hyrkan I (reg. 135/34–104 v. Chr.) hatten sie bereits so großen Einfluss auf das Volk, dass König und Hohepriester sich nach ihnen richten mussten.31 Nach Josephus überwarfen sie sich mit Hyrkan32 und standen mit Alexander Jannai (reg. 103–76 v. Chr.) in offenem Konflikt,33 während Alexanders Witwe Alexandra Salome mit ihnen regieren musste, weil es gegen sie nicht ging.34 Als einen wesentlichen Konfliktpunkt mit den beiden Königen benennt Josephus den Zweifel an deren Legitimität als Hohepriester. Auch wenn die Texte mancherlei Inkonsistenzen aufweisen,35 rückt diese Fragestellung die Pharisäer eng an die Umstände heran, unter denen der Ja½ad der Qumrantexte entstanden ist. Darin liegt ein gewichtiger Hinweis auf eine thematische Kontinuität zwischen Qumrangruppe und Pharisäern, zugleich aber eine starke Verknüpfung mit den Aussagen der Damaskusschrift über die Position der „Erbauer der Mauer“, also der andernorts als Gemeinde des „Lügenmannes“ bezeichneten Gruppe,36 und dem Reinheitsvorbehalt der ¼aberim-Halacha aus tDemai.37 Ein Hinweis darauf, dass es sich bei der Gruppe des „Lügenmannes“ um die zunächst zur Vorläufergruppe des Ja½ad gehörigen Pharisäer handeln könnte, liegt in dem hebräischen Begriff „ĠėĄ ăŘţīĜ ăħŨþ “ – „entsprechend 30

Hierfür spricht auch, dass Pharisäer bei Josephus und im NT mit Selbstverständlichkeit als Mitglieder des Synhedriums erwähnt werden (so Ant. 14,168–176; Apg 23,6–8). 31 Ant. 13,288; die Formulierung „Solche Macht hatten sie aber in der Volksmasse, dass man ihnen auch dann sogleich glaubte, wenn sie gegen den König und den Hohepriester etwas sagten“ lässt eher auf allgemeinen denn auf offiziellen Einfluss schließen. 32 Ant. 13,288–298. 33 Ant. 13,372.376 ff.399–403. 34 Ant. 13,405–418. In Spannung zu dem aus tDemai 2–3 und CD gewonnenen Bild berichtet Josephus in Ant. 18,15, dass durch den großen Einfluss der Pharisäer alle gottesdienstlichen Vollzüge, Gebete und Opfer nach ihrer Auslegung ausgeführt würden. Diese in eine Passage über die Umwandlung Judäas in eine römische Provinz im Jahre 6 n. Chr. eingefügten Bemerkungen sind aber in sich für genauere chronologische Zuordnungen zu generell. Es kann nicht gesagt werden, auf welchen Zeitabschnitt sie sich beziehen. Josephus folgend, könnte man sich dergleichen von der Zeit Alexandra Salomes an vorstellen. Die Passage Apg 23,6–10, welche die Verhältnisse um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. wiedergibt, lässt in dieser Epoche eher eine PattSituation zwischen Pharisäern und Sadduzäern erkennen. In der Frage, was die Pharisäer am Tempel durchsetzen konnten, ist also mit wechselnden Verhältnissen zu rechnen, die keine grundsätzlichen Schlussfolgerungen auf die Herkunft der ¼aberim-Halacha zulassen. 35 Vgl. G. Stemberger, Pharisäer, 98–103. 36 Vgl. G. Jeremias, Lehrer, 124: „Die Gruppe des Lügenmannes steht der Gemeinde sehr nahe, und wie man diese vor der Entdeckung der Q.-Texte allgemein für pharisäisch hielt (…), so sieht man nun leicht in ihren Gegnern ebenfalls Pharisäer, weil sie sich von der Gemeinde kaum unterscheiden.“ 37 Auch die Polemik von 1QpNah gegen die „Glattes Lehrenden“, die, wenn auch inhaltlich nicht näher bestimmt, mindestens in die gleiche Richtung weist wie die Klagen über die „Erbauer der Mauer“ in CD, ist höchstwahrscheinlich gegen die Pharisäer gerichtet (vgl. G. Stemberger, Pharisäer, 103 f; G. Jeremias, 127–139).

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ihren genauen Bestimmungen“ für die Halacha der Qumrangruppe in CD 6,20 (so schon 6,18). Diese Ausformung der Wurzel Ĭīħ zur Bezeichnung, die der Ja½ad auf die eigene Halacha anwendet, rückt die Pharisäer – denen sich auch unter diesem Betracht die ¼aberim-Halacha sehr gut zuordnen lässt – auch terminologisch in große Nähe zu Ersterem. Denn soviel lässt sich sagen: Dieser Ausdruck verknüpft den Namen „Perušim“ / „͇͒΃͚ͤ͒‫ “͚͠ل‬mit den Aspekten der genauen Gesetzesauslegung (ր΂΃͓͖͚͐͒) wie auch mit der die Tora erläuternden und ergänzenden Überlieferung (͒͡΃͍͕͚ͤͣ͠), welche das NT und Josephus übereinstimmend den Pharisäern zuordnen.38 Auch ist evident, dass es sich sowohl bei der Gruppe des „Lügenmannes“ als auch bei den Pharisäern, wie Josephus und das NT übereinstimmend für mehrere Epochen berichten, um eine Gruppe mit großem und stabilem Einfluss gehandelt haben muss. Aus den starken Berührungen der ¼aberim-Halacha mit dem, was die Damaskusschrift über die „Erbauer der Mauer“ wie auch über den Ja½ad zu erkennen gibt, und zugleich aus den starken Gründen, welche für die gegnerische Gruppe als Ursprung der Pharisäer sprechen, ergibt sich, vor allem auch aus der Zusammenschau von tDemai 2 und CD 6, eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die ¼aberim-Halacha auf die Pharisäer zurückgeht, die in der frühen Hasmonäerzeit aus der mit dem späteren Ja½ad gemeinsamen Vorgängergruppe ausgeschieden sind.

5. Die Alltagsheiligung in der ¼aberim-Halacha, in Qumran und im Neuen Testament Die Frage nach der möglichen Identität von ¼aberim und Pharisäern muss nach dem Bisherigen einsetzen bei der Übernahme von Reinheitsregeln, welche für die Priester im Dienst galten, in den Alltag von Priestern, Leviten und Laien. Es liegt nahe, die Gruppenstatuten der ¼aberim als Versuch zu deuten, mit Rekurs auf Ex 19,6 („Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“) die in der Tora festgeschriebene Exklusivi38 Flav.Jos.Bell. 1,110; 2,162; Ant. 17,41; Apg 22,3; 26,5 Ant. 13,297.408; Mk 7,3–13; vgl. A. I. Baumgarten, The Name of the Pharisees, JBL 102, 1983, 411–428. – Ob Mt 23,13 den Rekurs pharisäischer Traditionen oder gar der vielleicht von Pharisäern herrührenden ¼aberimHalacha auf Mal 1,10 widerspiegelt, ist sehr unsicher. Denn der primäre Sachzusammenhang in Mt 23,13 ist nicht das Problem, wem die Pharisäer und Schriftgelehrten aufgrund mangelnder Reinheit eventuell die Kultfähigkeit absprechen, sondern die Meinung, dass ihre Lehre das in Person und Verkündigung Jesu nahegekommene Himmelreich (Mt 4,17) verschließe. Wenn sich aber doch eine solche Verbindungslinie zur ¼aberim-Halacha ziehen ließe, wäre sie für die 2. Hälfte des 1. Jh. n. Chr. aussagefähig, aber nicht unbedingt für die hasmonäische Epoche.

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tät der Priester zu unterlaufen.39 Dagegen ist mit Recht eingewendet worden, dass das Streben nach einem für die Priester vorgesehenen Grad von Heiligung, d. h. Reinheit keineswegs das Streben nach der Priesterschaft bedeuten müsse.40 Eine solch weitreichende Akzentuierung, die auf eine grundsätzliche Nivellierung des Priestertums hinausliefe, wäre in der Tat sehr wenig plausibel und ist aus den antiken Texten schwerlich zu erheben. Jedoch hat die Beobachtung Gewicht, dass die Regeln der ¼aburot nicht allein für Laien, sondern ausdrücklich auch für Priester gelten, d. h., dass der übliche Reinheitsgrad der Priester, der nach den Vorschriften der Tora als ausreichend galt, innerhalb der ¼aburot auch für Priester nicht ausreichend war. Es ist hier also ein halachisches Prinzip eingeführt, das – jedenfalls im Rahmen der ¼aburot – den für das Priestertum konstitutiven Toravorschriften letztlich übergeordnet wurde. Auch wenn dieses keine Infragestellung der formellen Exklusivität der aaronitischen bzw. zadokidischen Priester bedeutet – sie wurde vorausgesetzt –, liegt hierin doch eine implizit nivellierende Tendenz und Kritik mindestens an den Usancen der Priesterschaft in der Handhabung von Reinheit, in der Konsequenz aber auch eine Kritik des exklusiven Priestertums durch den Gedanken des allgemeinen Priestertums und der rituellen Heiligung des Alltages. Dieses ist gegenüber der in der Tora kodifizierten Struktur der Frömmigkeit ein qualitativ neues Element, das die Forderung nach gottgewollter „Gerechtigkeit“ im Alltag erweitert. Die Heiligung des Alltages ist in je besonderer Weise bei den Christen wie auch bei der Qumrangruppe direkt aus ihren Schriften zu entnehmen.41 Mt 5,20 wendet in der Perspektive der „Gerechtigkeit“ den Gedanken einer über das Übliche hinausgehenden Heiligung, den die Christen im Grundsatz mit den Pharisäern teilen, polemisch gegen die Letzteren und stellt ihn als Schlüsselsatz den Antithesen 39 So A. Geiger, Urschrift und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwickelung des Judenthums, Breslau 1857 (= Frankfurt a. M. 21928), 121–124; ders., Sadducäer und Pharisäer, JZWL 2, 1863, 11–54: 24–25; vgl. J. Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte, Greifswald 1874 (= Göttingen 31967), 40– 41; E. Rivkin, A Hidden Revolution. The Pharisees’ Search for the Kingdom Within, Nashville 1978, 163–179; J. Neusner, Politics, 83–85; Oppenheimer, ǥAm Ha-aretz, 118–119. Stemberger, Pharisäer, 79–80 hält die Gleichsetzung von Pharisäern und ¼aberim für problematisch, weil die von Lk mehrfach behauptete Tischgemeinschaft Jesu mit Pharisäern sich nicht mit mDemai 2,3 vertrage, wonach ¼aberim einen þAm-HÁÿÁræÈ weder zu Gast aufnehmen noch besuchen dürften. Genau in dieser Bestimmung spiegelt die Mischna aber gegenüber der Tosefta und erst recht gegenüber der Zeit Jesu höchstwahrscheinlich jüngere Verhältnisse wider. 40 „Why (…) should we assume that a ½aber, who insistes on eating his daily ,profane‘ food (½ullin) in the same state of purity in which a priest ate sacrificial food, thought that by doing so he was becoming (similar) to a priest?“ D. R. Schwartz, „Kingdom of Priests“ – A Pharisaic Slogan?, in: ders., Studies in the Jewish Background of Christianity, WUNT 60, Tübingen 1992, 57–80: 64. 41 So Mt 5,20; 1Kor 6,19; 1Petr 2,9; 1QS 5,20 (Lohse, Qumran, 18.21); 1QS 8,20.23 (ebd., 30–31); 1QS 8,17 (ebd., 30–31); vgl. 1QSa 2,16 (ebd., 50–51); CD 6,11–7,9 (ebd., 76–81).

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der Bergpredigt voran: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht in größerem Überfluss vorhanden ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ In der Zusammenschau dieser Akzente mit dem Befund aus tDemai lässt sich zumindest dies festhalten: Die Heiligung des Alltags durch Verschärfung der Tora mit je spezifischen Akzenten – sei es in Gestalt priesterlich orientierter verschärfter Reinheits- und Zehntobservanz, verschärfter Ethik oder verschiedener asketischer Observanzen – einschließlich einer impliziten oder auch expliziten Tempelkritik gehörte zum gemeinsamen religiösen Fundus derjenigen Gruppen, welche zu dem nach der Makkabäerzeit entstandenen Spektrum der jüdischen „Frommen“ zählen, wie die Qumrangruppe, die Pharisäer bzw. die ¼aberim und die Christen. Im Hinblick auf die Pharisäer hat dieser Aspekt darin seinen Niederschlag in den Quellen gefunden, dass ihnen sowohl von Josephus als auch vom Neuen Testament die Einhaltung der „Überlieferung der Väter/Ältesten“ (͒͡΃͍͕͚ͤͣ͠ ͥ٠͞ ͎͒ͥ͡΃ͪ͞ / ͡΃͖͓͎ͤͦͥ΃ͪ͞),42 die über die Tora hinausgeht, zugeschrieben wird. Das Neue Testament nimmt hierauf polemischen Bezug. Dabei richtet sich die Polemik nicht so sehr gegen die Fortschreibung der Tora im Prinzip, sondern gegen verschärfte kultische Observanzen, v. a. in Bezug auf Reinheit und Zehnt. Das Wort „Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn verunreinigen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, ist es, was den Menschen verunreinigt“ aus Mk 7,15 legt, wie auch Mt 5,20 als Kopfsatz der Antithesen, vielmehr den Schluss nahe, dass es hier beiderseits um Spielarten einer parádosis geht, welche die Alltagsheiligung akzentuiert und damit die Reinheitsanforderungen verschärft. Sie stehen aber in Konkurrenz miteinander, weil die Verschärfungen in unterschiedliche Richtungen führen: Zu einer an spiritualisierter und in der Konsequenz stark an ethisch akzentuierter Reinheit orientierten Gemeinschaft bei den Christen; zu einer durch kultisch-halachisch akzentuierte Reinheit konstituierten Gemeinschaft bei den Pharisäern.43 Die ¼aberim-Halacha ordnet sich diesem Bilde sehr genau zu, geradezu als Musterfall einer solchen parádosis, welche eine in einer Sondergruppe für den Alltagsbereich pointiert weiterentwickelte Idee von Reinheit präzise entfaltet. Darin stimmt sie einerseits sehr eng mit dem überein, was dem NT und Josephus über die Pharisäer entnommen werden kann; andererseits

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Ant. 13,297.408; Mk 7,3–13. Vgl. K. Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30, 1988, 231–262; Berger ordnet beides unter dem Begriff der Reinheit zusammen: die „passive Reinheit“ der Pharisäer mit weiter ausgedehntem Bewahren vor Unreinheit und die „offensive Reinheit“ Jesu, die von seiner Person und Vollmacht ausgeht und Unreines rein machen kann (240). 43

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deckt sie sich in der Grundstruktur einer verschärften Alltagsheiligung mit frühchristlichen Anschauungen und der Gruppenkonstitution von Qumran.

6. Heiligkeitsobservanz und soziale Inklusion in der ¼aberim-Halacha und im Neuen Testament Die Tendenz der ¼aberim-Halacha, die Unterscheidung von Priestern und Laien zugunsten eines übergeordneten Reinheitskonzeptes und in dem Streben nach Aufrechterhaltung der Gemeinschaft zu relativieren, ist in dieser Grundstruktur mit den Grenzüberschreitungen Jesu und der frühen Christen durchaus verwandt. Wenn nach dem Lukasevangelium Pharisäer Jesus zu Tisch baten, ging es nicht allein um allgemeine gesellschaftlichreligiöse Akzeptanz, sondern dezidiert auch um halachisch-kultische über die Pharisäer hinaus. Offensichtlich war pharisäische Reinheitsobservanz, die Mk 7,15 in Abgrenzung hervorhebt, kein Hindernis für die Tischgemeinschaft zwischen ihnen und Jesus und seinen Jüngern – wohl aber gegenüber der Sünderin in Lk 7,36–50.44 Der charakteristische Unterschied liegt darin, dass Christen diese inklusive Tendenz, anders als Pharisäer bzw. ¼aberim, programmatisch bis zu Sündern und Heiden fortschrieben. Dabei darf nicht übersehen werden, dass auch die Christen gegenüber denjenigen Christen, die christlichen Maßstäben der Heiligung und Reinheit nicht entsprachen, sehr klare Grenzen zogen und ihnen die Gemeinschaftsfähigkeit erst wieder zuerkannten, wenn die Verunreinigung beseitigt war – hierin wiederum den ¼aberim verwandt. Das zeigt sich im Vergleich von tDemai 3,4 und 2,9 mit 1Kor 5,9–13: tDemai 3,4: Am Anfang pflegten sie zu sagen: Wenn ein ¼aber zum Steuereinnehmer gemacht wird, verstoßen sie ihn aus seiner ¼aberut. Sie machten es rückgängig, um zu sagen: Die ganze Zeit, in der er Steuereinnehmer ist, ist er nicht NæÿæmÁn; trennt er sich von seinem Steuereinnehmeramt, siehe, dieser ist NæÿæmÁn.45 tDemai 2,9: Und alle, die [von ihrer Verpflichtung] umkehren, nehmen sie nie [wieder] auf – Worte R. Meirs. R. Jehuda sagt: Kehrten sie in der Öffentlichkeit um, nehmen sie sie auf; [kehrten sie] im Geheimen [um], nehmen sie sie nicht auf. R. Simeon und R. Jehoshua sagen: Sie nehmen sie immer auf, denn es wird gesagt: Kehrt um, abtrünnige Söhne [Jer 3,14]. 44 Auch Lk 11,37 f; 14,1; dieser Aspekt scheint allein im Sondergut des Lk und dort in den redaktionellen Rahmenstücken auf. Das muss nicht dagegen sprechen, dass diese Begegnungen tatsächlich stattfanden. Im Licht von tDemai 3,6–8, wo gemeinsame Gastmähler von ¼aberim und þAm-HÁÿÁræÈ als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt sind, ist dergleichen zwanglos denkbar. 45 Zur Verhältnisbestimmung von ¼aber und NæÿæmÁn s. o. Anm. 12 und Anm. 18.

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Im Vergleich dieser Abschnitte mit neutestamentlichen Belegen ist Vorsicht geboten, weil diese Regelungen nicht vor das 2. Jahrhundert zurückverfolgt werden können.46 Inhaltlich berühren sie sich jedoch mit neutestamentlichen Passagen, in denen es um Fragen der Kirchenzucht geht. So argumentiert der Pharisäer Paulus in 1Kor 5,11 mit grundsätzlicher Strenge, dem Standpunkt R. Meirs in tDemai 2,9 vergleichbar: Nun aber habe ich euch geschrieben, nicht mit einem zu verkehren, der Bruder genannt wird und ist ein Unzüchtiger oder ein Geiziger oder ein Götzendiener oder ein Lästerer oder ein Trinker oder ein Räuber. Mit so einem sollt ihr nicht essen.

Paulus dringt darauf, dass die durch die Taufe geschaffene Reinheit innerhalb der christlichen Gemeinde keine Einbuße erleidet: Wer durch sein Verhalten die Gemeinschaft zerstört, ist aus der Tischgemeinschaft ausgeschlossen und darf sich nicht fälschlicherweise als „Bruder“ kenntlich machen. Diese klare und strenge Reglementierung ist nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft möglich und schafft dort Verlässlichkeit: Auf die Brüderlichkeit derer, die Brüder genannt werden, müssen sich die Christen verlassen können. Die Begrenzung der Verantwortung dafür auf die eigene Gemeinschaft eröffnet aber 1Kor 5,12 f eine pragmatische Weite im Umgang mit denen „draußen“, an welche dieser Maßstab gar nicht erst angelegt wird, weil für sie nicht die Gemeinde verantwortlich ist, sondern Gott. In diesen Aspekten stimmt 1Kor mit der ¼aberim-Halacha in tDemai überein: Beide vermitteln eine – unterschiedlich akzentuierte – erhöhte Reinheitsanforderung gegenüber ihrer Lebenswelt und die daraus resultierenden strengeren Verhaltensregeln für die Mitglieder der Gemeinschaft mit dem Bestreben, die lebensweltlichen Beziehungen im Vorfindlichen aufrechtzuerhalten. So wie die ¼aberim nur für sich und für ihren Verantwortungsbereich auf rituelle Reinheit hielten – es findet sich nirgends das Bestreben, den þAm-HÁÿÁræÈ zum ¼aber zu machen –, begrenzt Paulus die Verantwortung für die religiös-ethische Reinheit und ggf. die Einschränkung des Umganges der christlichen Gemeinde auf ihre Glieder.

7. Sind die Perušim in den rabbinischen Quellen die Pharisäer? Die Frage, ob die ¼aberim-Halacha pharisäischen Ursprunges sei, bezieht sich auf die ͇͒΃͚ͤ͒‫ ͚͠ل‬im Neuen Testament und bei Josephus. Die 46 Vgl. tDemai 3,4 mit 2,9; dort vertritt R. Meir, der um 150 n. Chr. lehrte, die ältere strenge Halacha. Aber das zwingt nicht, sie vor 70 zu datieren: Die wechselnde Strenge in dieser Frage kann von wechselnden Faktoren in unterschiedlichen Epochen beeinflusst worden sein.

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Perušim der rabbinischen Quellen können hierfür nicht in Betracht gezogen werden, weil ihre Identität mit den Pharisäern der griechischen Quellen zu wenig gesichert ist und die Belege zu disparat sind, um ein zusammenhängendes und vergleichbares Bild zu erheben. Dieses zeigt sich gerade an der Belegstelle mChag 2,7, die vorzugsweise für die Identität von den mit den Pharisäern gleichgesetzten Perušim mit den ¼aberim herangezogen wird: Die Kleider des þAm-HÁÿÁræÈ sind midras-unrein für Perušin; die Kleider der Perušin sind midras-unrein für die, die Hebe essen; die Kleider derer, die Hebe essen, sind midras-unrein für Heiliges; die Kleider derer, die Heiliges essen, sind midras-unrein für Sündopfer. Jose b. Jo‘ezer war der Frömmste [ĖĜĤĂ ĆĚ] in der Priesterschaft, doch sein Tuch war midras-unrein für Heiliges. Johҝanan b. Gudgeda pflegte sein ganzes Leben lang gemäß der Reinheit des Heiligen zu essen, doch sein Tuch war midrasunrein für Sündopfer.

Die Perušin sind hier in eine Rangskala hinsichtlich der – nach der Tora definierten – Reinheit eingeordnet, in der sie die zweitniedrigste Stufe über dem þAm-HÁÿÁræÈ und unterhalb der nicht im Dienst befindlichen Priesterfamilien einnehmen, die zum Verzehr der Priesterhebe berechtigt sind47. Außer diesem Umstand wird über Perušin und þAm-HÁÿÁræÈ nichts mitgeteilt. Mit mDemai 2,3, wo der ¼aber dazu angehalten wird, sich von einem þAm-HÁÿÁræÈ keine Verunreinigung zuzuziehen, ließe dieser Text sich problemlos zu einer Identifizierung von Perušim und ¼aberim kombinieren. Dieses wird jedoch unmöglich, sobald man versucht, die ¼aberim-Halacha aus tDemai 2–3 in das Bild zu integrieren. Denn hier sind die ¼aberim keineswegs auf einer Reinheitsskala zwischen den Priesterchargen und dem þAm-HÁÿÁræÈ unterzubringen; vielmehr geht die Klassifikation als ¼aber bzw. þAm-HÁÿÁræÈ anhand des über die Tora hinausgehenden Kriteriums levitischer Reinheit im Alltag quer durch die Rangskala Laien-LevitenPriesterchargen. Mit mChag 2,7 geht dieses keinesfalls zusammen. Die Kombination dieser Stelle mit mDemai 2,3 ist nur möglich, wenn man die Belege aus der Tosefta ignoriert. Damit entfällt aber der Kronzeuge für die Identität der ¼aberim mit den talmudischen Perušim. Es dürfte sich bei diesem Stück um einen späten Rückbezug auf die als Vorläufer der rabbinischen Autoritäten betrachteten Perušim handeln, bei dem man sich über Details nicht mehr ganz im Klaren war und so zu der genannten Reinheitsskala kam. Andere rabbinische Textstücke lassen ebenfalls eine Affinität von Perušim zu Reinheitsfragen erkennen, doch sind ihre Angaben zu unspezifisch, um für eine mögliche Identität von Perušim mit den ¼aberim Auskunft geben zu können.48 47

Vgl. G. Stemberger, Pharisäer, 42. G. Stemberger, Pharisäer, 134. Die in mChag 2,7 erwähnten Personen Jose b. Jo‘ezer und Jo½anan b. Gudgada sind für die Datierung dieses Stückes kaum erhellend, weil sie dort nicht 48

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8. Fazit Es konnte gezeigt werden, dass die ¼aberim-Halacha mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Zeit vor 70 herrührt. Sie fügt sich recht präzise in den Kontext ein, in dem Christen und Pharisäer um die rechte Heiligung des Alltages stritten und darum, wie offen die jeweilige Gemeinschaft der Heiligen bzw. Reinen an ihren Rändern sein könne und nach welchen Kriterien hierüber zu entscheiden sei. Zugleich ermöglicht sie eine genauere Verortung der halachischen Fragen, welche zwischen der Qumrangruppe, der Gruppe des „Lügenmannes“ und den im Tempel bestimmenden Kräften strittig waren. Die pharisäische parádosis, von der in den griechischen Quellen nur allgemein erwähnt wird, dass sie über die Tora hinausging, kann mit Hilfe der ¼aberim-Halacha präziser als Ausdehnung priesterlicher Reinheitsvorschriften auf den Alltag von Priestern und Laien beschrieben werden. Auch erläutert die ¼aberim-Halacha genauer, dass sich die Gruppe des „Lügenmannes“ im Unterschied zur Qumrangruppe und in Abgrenzung zu herrschenden Bräuchen am Jerusalemer Tempel positionierte, indem sie intern priesterliche Reinheitsvorschriften auf den Alltag übertrug. Dieses unterstreicht, dass in dieser Gruppierung der Ursprung der Pharisäer liegt. Das Anliegen der Alltagsheiligung verbindet die ¼aberim-Halacha im Grundsatz mit der christlichen parádosis. Die Grundlinien der ¼aberim-Halacha verweisen deutlich auf das Frömmigkeitsmilieu, dem sowohl Pharisäer und Christen als auch die Qumrangruppe angehörten. Auf dieses Milieu verweist auch die Bezeichnung „¼aberim“, „Genossen“, die, hierin der christlichen Verwendung von „Brüder“ verwandt, gegenüber der Außenbezeichnung „Perušim / ͇͒΃͚ͤ͒‫ “͚͠ل‬den engen sozialen Zusammenhang in der Gruppe betont.49 Durch diese Analogien wird die Einsicht bekräftigt, dass die Auseinandersetzungen der Christen mit den Pharisäern um Reinheitsfragen wie auch die Polemik des Ja½ad der Qumrantexte gegen den „Lügenmann“ und seine Gruppe von einer breiten gemeinsamen Basis aus geführt wurden. Sind solchermaßen ¼aberim, Pharisäer, Ja½ad und Christen in der Zeit vor 70 inhaltlich eng miteinander verwoben, so hat sich hinsichtlich der späteren rabbinischen Tradition gezeigt, dass eine Kontinuität mehr im begrifflichen Rückgriff auf „Perušim“ und „¼aberim“ liegt als in der Fortschreibung inhaltlicher Linien. In der Verwendung von „¼aberim“ für die rabbinischen Schriftgelehrten und in der sehr ungenauen und disparaten selbst als Tradenten in Erscheinung treten. Auch kann man sie nach den Kriterien mChag 2,7 nicht als Perušim begreifen! Zu mJad 4,6–8 vgl. den Beitrag von D. R. Schwartz im vorliegenden Band. 49 Zur Deutung des Namens „Pharisäer“ vgl. Baumgarten, Name of the Pharisees.

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Erinnerung an „Perušim“ zeigt sich eine seit der späten tannaitischen Zeit verstärkt rückblickende Identifikation mit Perušim und ¼aberim, der aber keine Kontinuität zu Spezifika der Pharisäer und ¼aberim entspricht. Methodisch beruht die Annahme, dass die ¼aberim-Halacha von den Pharisäern stammt, auf einer Kette von Indizienbeweisen, die sich gegenseitig stützen. Eine unbestreitbare Evidenz gibt es lediglich dafür, dass Josephus und die neutestamentlichen Schriftsteller mit den Pharisäern dieselbe jüdische Gruppe meinen, die sie für einen übereinstimmenden Zeitraum als Partei im Synhedrium mit großem Einfluss im Volk und als Vertreter einer über das Übliche hinausgehenden Frömmigkeit und von über die Tora hinausgehenden Satzungen vorstellen. Die ¼aberim-Halacha aus tDemai 2–3 gibt für diese Aspekte eine zusammenhängende detaillierte Darstellung, welche nicht nur die entsprechenden Lücken der griechischen Quellen füllt, sondern deren Angaben auch soziologisch bestätigt. Jedoch enthält sie keinerlei Hinweise auf den Namen „Pharisäer“ / „Perušim“ oder auf eine öffentlich-politische Wirksamkeit der Gruppe, wie sie die griechischen Quellen von den Pharisäern überliefern. Immerhin lässt die breite Nachwirkung der ¼aberim-Halacha in Tosefta und Mischna auf eine Gruppe von einiger Größe und von einigem Gewicht schließen. Der Vergleich von tDemai 2–3 mit Schriften aus Qumran, vor allem mit der Damaskusschrift hat eine stringente inhaltlich-halachische Übereinstimmung zwischen den ¼aberim und der Gruppe des „Lügenmannes“ ergeben: Beide nehmen am Tempelkult teil, machen aber hinsichtlich der Reinheit einen Vorbehalt gegen die allgemeine Norm geltend und halten intern strengere Regeln ein. Sehr wahrscheinlich liegt daher der Ursprung der ¼aberim in der Gruppe des „Lügenmannes“, die aus einer mit dem Ja½ad gemeinsamen Vorläufergruppe hervorging. Dieser starken Übereinstimmung in halachischen Aspekten steht der große zeitliche Abstand von 200 und mehr Jahren zwischen der Zeit, in welcher die ¼aberim-Halacha literarisch fassbar wird, und der Abfassungszeit der Damaskusschrift gegenüber. Hier bleibt trotz gewichtiger Argumente Vorsicht geboten. Jedoch: Wenn man hier auch mit Schwankungen und Verschiebungen zu rechnen hat, so spricht der Umstand, dass die ¼aberim-Halacha in entscheidenden Aspekten mit dem in der Damaskusschrift Überlieferten übereinstimmt, dafür, dass wir es hier mit der Frühzeit und dem Abschluss einer historisch zusammenhängenden Erscheinung zu tun haben: Grundsätzliche Verschiebungen müssten in der ¼aberim-Halacha ja Spuren hinterlassen haben, da es in der Überlieferung von Halacha, welche die exakte Ausführung regelt, anders als in der erzählerischen Überlieferung auf die genaue Darstellung des Gemeinten ankommt. Eine Veränderung der Halacha ist also grundsätzlich nur zusammen mit einer Änderung der in ihr beschriebenen Vorgänge

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und Verhältnisse denkbar. Wie solche Verschiebungen aussehen, sehen wir an der Entwicklung der ¼aberim-Überlieferung in der späteren rabbinischen Zeit, in der die Voraussetzungen sich veränderten und mit ihnen der Bedeutungsgehalt des Begriffes „¼aberim“. Die Gruppe des „Lügenmannes“ legte, wenn auch anders als der Ja½ad der Qumrantexte, auf spezifische Reinheitsregeln Wert, die in eigenen Überlieferungen festgehalten wurden. Trotz erheblicher Vorbehalte vollzog sie nicht den Bruch mit Tempel und Volk, sondern ist als gewichtige Gruppe im Ganzen erkennbar. Dieses stimmt mit dem Bild der Pharisäer bei Josephus als einer mächtigen Gruppe, welche in religiösen und politischen Fragen das Volk hinter sich hatte und für die Hasmonäer zu einer ernstzunehmenden Opposition werden konnte, überein. Dieser Befund wird durch die Übereinstimmungen zwischen tDemai 2–3 und CD, namentlich in der Stellung zum Tempel, nochmals bestärkt, so dass man auch für diese Identifikation von einer hohen Wahrscheinlichkeit ausgehen kann. Das letzte Glied in dieser Kette ist der Vergleich der ¼aberim-Halacha mit der Kirchenzucht bei den frühen Christen und mit Regelungen in den Qumranschriften. Auch dieser Vergleich bekräftigt die Annahme, dass die ¼aberim-Halacha aus dem religiösen Milieu der Frommen stammt, zu dem alle genannten Gruppen und eben auch die Pharisäer gehörten. Bis auf die Identität der Pharisäer bei Josephus und im Neuen Testament sind alle diese Verbindungslinien auf kombinatorischem Wege gewonnen. Jedoch lassen sich die verschiedenen Komponenten inhaltlich und soziologisch so weitgehend in Übereinstimmung bringen, dass sich in ihrem Zusammenspiel ein kohärentes Bild ergibt, das ein sehr hohes Maß an Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Unter der Prämisse, dass die Gruppen identisch sind, geht die Gleichung dieser verschiedenen Kombinationen auf und ist es möglich, die Aussagen über die Pharisäer, die Gruppe des „Lügenmannes“, den Ja½ad der Qumrantexte und die frühen Christen und vor allem über das Wechselspiel dieser Gruppen in den verschiedenen Epochen präziser zu fassen. Damit ist zwar nach wie vor kein stringenter Beweis für die Identität der ¼aberim mit den Pharisäern geführt, wohl aber eine starke Indizienkette aufgezeigt, die einem solchen Beweis sehr nahe kommt.

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1. Thin Dossier, Fat Dossier and a Detour Back What characterized the Pharisees? Apart from attempts to divine this from their name (ascetic “separatists”? those who make things “precise”?),1 which at best cannot be expected to be more than heuristic, there have always been two major approaches to this basic question. The most obvious and direct way is, of course, to read the ancient sources that describe the Pharisees, or at least – that refer to them. Most of these, and certainly the fullest of them, are in Greek – beginning with Josephus’ accounts of them, and the Gospels’ references to them, and moving on, as some do, to the later heresiologists’ accounts of them.2 But there are also various references to them in rabbinic literature, and these too have, of course, been the object of much study.3 Nevertheless, that approach, however obvious and natural, yields only a thin dossier of sources, however massive the scholarly literature.4 Another approach, which produces a much fuller dossier, is based on the assumption that “Pharisees” is basically the Second Temple term for “rabbis,” or that in any case the rabbis of the post-Destruction period were faithful heirs of the Pharisees; this equation implies that the vast corpus of rabbinic literature may, basically, be viewed as Pharisaic literature. And that equation, once very popular, was bolstered by an additional assumption, fostered both by traditionalist assumptions and by some sweeping statements by Josephus, that the Pharisaic version of Judaism was the most popular one; this as1 See, respectively, L. Baeck, The Pharisees and Other Essays, New York 1966, esp. 3–12, and A. I. Baumgarten, The Name of the Pharisees, JBL 102, 1983, 411–428. 2 For that literature, see J. Le Moyne, Les Sadducéens, EtB, Paris 1972, 141–153. 3 For reviews of scholarship on the Pharisees, see J. Neusner, The Rabbinic Traditions About the Pharisees Before 70, Vol. III, Leiden 1971, 320–368 (“bibliographical reflections”) and R. Deines, Die Pharisäer: Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, WUNT 101, Tübingen 1997. See also below, n. 6. 4 The same may be said, a fortiori, of the dossier on individuals our sources term “Pharisees,” as is emphasized by J. Sievers, Who Were the Pharisees?, in: J. H. Charlesworth / L. L. Johns (ed.), Hillel and Jesus: Comparative Studies of Two Major Religious Leaders, Minneapolis 1997, 137– 155.

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sumption, that equated Pharisaic Judaism with “normative Judaism,”5 allayed doubts about the propriety of using evidence that does not name them as evidence about them. Much of the latter approach was undermined, of course, by work done in the latter half of the twentieth century.6 Following up on the way Qumran and other archaeological discoveries showed us that Pharisaic Judaism was not the only show in town, and suggested that if the rabbis ignored that form of Judaism maybe they ignored others as well,7 form-critical and, later, composition-critical work on rabbinic literature showed us just how dubious it is to assume that literature produced centuries after the destruction of the Second Temple can be used as evidence for a group that, after all, is not in evidence, as such, under that name, after that event.8 When source-critical and composition-critical work on Josephus chimed in as well,9 reducing even further our confidence that his testimony about the Pharisees’ popularity can be taken at face value, not much was left of the pan-Pharisaic approach. At this point, however, instead of simply reverting to the thinner dossier that deals explicitly with the Pharisees, scholarship took a detour. Namely, at the same time that scholars were demonstrating how wrong it is simply to identify Jews of late antiquity in general, or even rabbis in particular, as Pharisees, many of them began to focus upon one group mentioned in rabbinic literature, the ½aberim, and more or less identified them with the Pharisees.10 These “associates” are characterized by early rabbinic literature 5 To borrow the term G. F. Moore used in his work, which was perhaps the best of the school described here: Judaism in the First Centuries of the Christian Era: The Age of the Tannaim, Cambridge, Mass. 1927–1930. 6 For what follows, see my MMT, Josephus and the Pharisees, in: J. Kampen / M. J. Bernstein (ed.), Reading 4QMMT: New Perspectives on Qumran Law and History, SBL Symposium Series 2, Atlanta 1996, 67–74. For some eloquent illustration of the demise of pan-Pharisaism, it is enough to compare the dates and titles of the following two pairs of works: W. D. Davies, Paul and Rabbinic Judaism, London 1948 [just when Qumran was discovered!]) // E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London 1977; H. E. Ryle / M. R. James, Psalms of the Pharisees, Commonly Called the Psalms of Solomon, Cambridge 1891 // J. Schüpphaus, Die Psalmen Salomos: Ein Zeugnis Jerusalemer Theologie und Frömmigkeit, ALGHJ 7, Leiden 1977. 7 The most fundamental item to cite here is, of course, M. Smith, Palestinian Judaism in the First Century, in: M. Davis (ed.), Israel: Its Role in Civilization, New York 1956, 67–81, republished in: idem, Studies in the Cult of Yahweh, Vol. I, ed. S. J. D. Cohen, Religions in the GraecoRoman World 130, Leiden 1996, 104–115. 8 See esp. Neusner’s three-volume work mentioned above (n. 3). 9 See D. R. Schwartz, Josephus and Nicolaus on the Pharisees, JSJ 14, 1983, 157–171; D. S. Williams, Josephus or Nicolaus on the Pharisees?, REJ 156, 1997, 43–58; S. Mason, Flavius Josephus on the Pharisees: A Composition-Critical Study, StPB 39, Leiden 1991. 10 For a prominent example of this in the standard handbook, see E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B. C. – A. D. 135), Vol. II (new English ed. by G. Vermes et al.), Edinburgh 1979, 398–399: “this term is synonmyous with ‘Pharisees’ … a

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as people who focused on the purity and proper tithing of their food, eating even non-sacral food according to the stringencies that applied to sacrificial food. Since some of the texts that refer to them refer to Pharisees too, and since some of the texts that refer to Pharisees ascribe to them such stringencies regarding what they ate, it became possible to characterize the Pharisees as ½aberim – a characterization that, although it rings no Josephan bells, does fit some New Testament evidence, such as Mark 7:1–8 and Matt 23:23–26. The fact that (despite the way the New Testament spins this) it also allowed the Pharisees positive press, as a Jewish antecedent for a communal movement, was an added benefit in the 1960s.11 However, the Pharisee-½aber equation is problematic, if only due to the fact that two separate words are used.12 Moreover, even if Pharisees (or even: the Pharisees) insisted on the purity of their foods and on proper tithing,13 that would not mean that is what characterized them; presumably Pharisees also observed the Sabbath and marital laws, for example, but so did others. Without the term ½aberim, which implies special “brotherhoods,” there is little reason to think that insistence upon such foodregulations was characteristic of the Pharisees. And there’s the rub: as a thorough investigation of rabbinic literature shows, it seems that the word ½aberim came into vogue only in the mid-second century CE, a couple of generations after the destruction of the Second Temple and after the term “Pharisees” was falling into disuse.14 So just as it is unwarranted to use later literature about “rabbis” or “sages” or plain “Jews” as evidence for Pharisees of the days of the Temple, so too does it seem unwarranted to use ½aberim. Rather, as H. Birenboim has recently argued it seems likely that as long as the Temple stood many Jews naturally kept to high standards of purity and tithing, and so it was only after the destruction, when that seemed pointless and therefore many gave it up, that a self-conscious group focusing on such purity appeared.15 ½aver is one who observes the Torah, including the ͒͡΃͕͖͚͒ͭͤͣ ͥ٠͞ ͡΃͖͓͎ͤͦͥ΃ͪ͞, and is therefore identical with a Pharisee.” 11 See, for example, J. Neusner, Fellowship in Judaism: The First Century and Today, London 1963. 12 For a general rejection of the equation, see, for example, G. Stemberger, Jewish Contemporaries of Jesus: Pharisees, Sadducees, Essenes, Minneapolis 1995, 83–84. 13 Which itself has been the subject of intensive debate; see esp. E. P. Sanders, Jewish Law from Jesus to the Mishnah, London & Philadelphia 1990, 131–254 (“Did the Pharisees Eat Ordinary Food in Purity?”) and the response by H. K. Harrington, Did the Pharisees Eat Ordinary Food in a State of Ritual Purity?, JSJ 26, 1995, 42–54. 14 See esp. H. Birenboim, Observance of the Laws of Bodily Purity in Jewish Society in the Land of Israel During the Second Temple Period (unpublished doctoral dissertation, The Hebrew University of Jerusalem, 2006) 49–54 (in Hebrew). 15 Ibid., 54.

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2. From Composition Criticism to History But if we give up that detour, should we return all the way back to where we began – to the thin dossier that contains only texts that refer explicitly to the Pharisees? Here I would like to suggest a middle route: another way of retaining more of rabbinic literature without opening up the floodgates and allowing it all in. It is based upon the composition-critical recognition that each book of the rabbinic corpus is just that, a book, and that what one reads in one part of it should be understood, first of all, in relationship to what one reads elsewhere in the same book. True, frequently such composition-critical readings are used to show that something in a book should be read in relationship to other parts of the book and not in relationship to something outside the book. However, it is also the case that such a composition-critical approach can allow us to fill out the meaning of any given part of a work by linking it to other parts – and if, as sometimes, it turns out that those other parts are clearly linked or linkable to some part of the real world outside the book, the result will be not only a fuller understanding of the book qua book but also a more confident adoption of the book’s statements as part of our understanding of history – of things as they really were. In what follows, accordingly, I would like first to analyze the picture of Pharisees and Sadducees that emerges from a substantial passage in the most central and earliest work of rabbinic Judaism: the Mishnah, where they argue over a basic principle and the Mishnah approves of the Pharisees’ position. That picture, composition criticism teaches us, might only be an indication of the way the Mishnah uses names for good guys and bad guys in order to preach its own message, without any necessary relationship to the real Pharisees and Sadducees of Temple days. Indeed, our next move will be to show that the same basic dichotomy of views lies behind a second substantial passage of the Mishnah, where other “good guys” and “bad guys” appear; this, again, indicates that what is important for the Mishnah is to teach its way, not to describe certain people in the past who adhered to that way or rejected it. Finally, however, we will follow the name of the villain of the latter passage and discover not only that elsewhere in the Mishnah he consistently bespeaks the same view, so that his name can be seen as a signal for that view, but also that he is said to have agreed with people that independent sources, but not the Mishnah, characterize as Sadducees. That is, after showing just how important the distinction it makes between Pharisees and Sadducees is for the Mishnah, as may be seen in the fact that the same distinction is made elsewhere concerning others as well, we will show, using evidence from other corpora, that those others too turn out to have been Pharisees and Sadducees – a conclusion that will allow us confidence that the Mishnah’s statements about those two groups, with

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which we began, are indeed reliable historically, however little that may have interested the Mishnah’s editor(s).

2.1 Pharisees vs. Sadducees in mYad 4 Our first text, which focuses upon Pharisees and Sadducees, is from the fourth (last) chapter of the Mishnah’s tractate Yadayyim (“hands”), a tractate that deals with impurity that can affect the hands.16 Here, in the last three paragraphs of the tractate, there are three exchanges between Pharisees and Sadducees, and then another between a Galilean heretic and the Pharisees. Since the arguments deal with very different legal issues, the only way to read them consecutively and cohesively is as a statement about the nature of the conflicts between the Pharisees and their rivals – and that is, evidently, the way they are meant to be read. The four exchanges are as follows: 1. In 4:6, after the Sadducees complain that the Pharisees hold that touching biblical scrolls defiles the hands but touching Homeric writings does not, the Pharisees respond by pointing to another law that seems to be even more illogical: the fact that contact with the bones of a person defiles but contact with those of an ass does not.17 Then, however, they explain that in fact neither law is illogical. For although the Sadducean complainants assume that the more something is cherished, the further it is from being considered impure, the Pharisees in fact hold that “the more something is beloved, the more (contact with) it defiles,” because that fact protects the object in question. That is, deeming human bones and sacred scripture impure protects them from misuse,18 whereas there is no reason so to protect Homeric writings and asses’ bones. 2. In 4:7, after the Sadducees complain that the Pharisees hold that a niÈÈoq – a stream of water that flows from a vessel of pure liquid to a vessel of impure liquid19 – remains pure, the Pharisees respond by pointing to 16 For English translations of Mishnaic texts, here and below, see H. Danby, The Mishnah, Oxford 1933, or J. Neusner, The Mishnah: A New Translation, New Haven 1988. 17 For an elucidation of the rhetoric of this mishnah, see J. M. Baumgarten, The PharisaicSadducean Controversies About Purity and the Qumran Texts, JJS 31, 1980, 161–163. 18 For the bones, the Mishnah gives the example that without such protection, people might make souvenir soup-ladles out of their parents’ bones. As for the scrolls, the usual explanation is that the point was to prevent people from eating while reading Sacred Scripture, thus protecting those scrolls (but not Homer) from crumbs and, hence, rats. 19 For details about this, see: Y. Elman, Some Remarks on 4QMMT and the Rabbinic Tradition, Or, When Is a Parallel not a Parallel?, in: Kampen / Bernstein, Reading 4QMMT (n. 6), 105– 128.

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something analogous that is even worse: the fact that the Sadducees consider water brought by an aqueduct to be pure despite the fact that it traverses a cemetery.20 3. Still in 4:7, the Sadducees complain that the Pharisees hold that one is not liable to make good damage done by one’s slaves, although one is liable for damage done by one’s animals. To this the Pharisees respond that since slaves have intelligence, if one made their owners responsible for damages their slaves caused, the slaves might deliberately damage things whenever their owners anger them. 4. Finally, in 4:8 a “Galilean heretic”21 complains that the Pharisees write the secular ruler’s name alongside Moses’ in documents; presumably the reference is to secular dating formulae used in marriage or divorce documents that refer to the Law of Moses. To this criticism the Pharisees again respond by pointing to something even worse, as it were: to a biblical verse where Pharaoh’s name appears even before God’s: “And Pharaoh said, who is God that I should listen to his voice?” (Exod 5:2). Looking back at these four arguments, it is obvious that, however different the topics they address, they are all meant to make the same point: that there are laws that are counter-intuitive and, specifically, that violate the logic of a minori ad maius, but that bothers the others (Sadducees and the Galilean heretic) but not the Mishnah’s heroes here: the Pharisees. Thus, in the first case the Sadducees argue that if sacred scripture defiles, all the more so must non-sacred scripture – but the Pharisees reject that complaint, arguing, against our intuition, that the more we respect something the more we should consider it impure. In the second case, in contrast, when the Sadducees complain about a small problem about the laws of impurity, the Pharisees respond that if they’re bothered by such issues then they should really be bothered by another and seemingly greater one22 – implying that they, the Pharisees, are bothered by neither. The third case is particularly important in this respect, for here the Sadducees are explicitly ascribed an argument formulated as if it were of the a minori ad maius type (“if I am liable for damage done by my ox or my ass although I am not responsible for commandments for them, how much the more so should I be responsible for damage done by my man- or maidservant, for whom I am responsible for commandments!”) – but it is in fact quite difficult to understand that argument in this case; whatever it means (and maybe it means nothing, but 20 This dispute may well have had a basis in reality; see J. Patrich, A Sadducean Halakha and the Jerusalem Aqueduct, in: L. I. Levine (ed.), The Jerusalem Cathedra 2, Jerusalem & Detroit 1982, 25–39. 21 Printed versions read “A Galilean Sadducee,” but see S. Lieberman, Light on the Cave Scrolls from Rabbinic Sources, PAAJR 20, 1951, 401; Schürer, History II (n. 10), 384–385, n. 5. 22 For details on this, see below.

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was put here just to make the basic issue of these paragraphs clear), what is important for us is that the Pharisees reject that type of argument. Finally, in rejecting the Galilean’s complaint about writing the ruler’s name next to God’s, the Pharisees’ argument from Exod 5:2 is – just as their response to the Sadducees in re the niÈÈoq and the aqueduct (above) – that if that sort of thing bothers him (as it does not bother them), then he should really be upset about what for him should be even a greater problem. Now it should be noted that arguments a minori ad maius, what the rabbis called qal va½omer arguments, are very natural arguments. There is nothing at all artificial about them; no one has to learn anything special at all to understand, for example, that if the money in my pocket doesn’t suffice to buy something cheap, it is all the more clear that it won’t suffice to buy something expensive, or that if I’m already hungry by 11 a. m. I’ll be all the more hungry by noon. The source of authority of such arguments is in our intuition, in our guts – it is natural. And our text has the Pharisees rejecting such arguments time and again, indeed scorning them by pointing to them as the line their opponents – but not they themselves – uphold. Similarly, the first two topics discussed in these debates also raise the issue of the legal status of nature. When in the first controversy the Sadducees claim that if touching the Bible defiles the hands certainly touching the Iliad should, what they assume is that (1) if touching a scroll of the Bible defiles, it must be there is impurity in the scroll; (2) since the scroll has only two qualities – it is a scroll and the text it bears is biblical – the impurity must be in one of those; (3) but since being biblical obviously isn’t a source of impurity, since the Bible is holy, it must be that books qua books are impure; so (4) Homeric books are impure. That’s all perfectly logical, but it’s based on the first premise that holds that things that impart impurity contain impurity. That premise is not shared by the Pharisees, who respond here that touching the biblical scroll defiles the hands because the law called the biblical books “impure” in order to serve a certain purpose, namely, to protect them by keeping people away from misusing them. Again, in the second case the Sadducees’ presumption is that impurity spreads throughout bodies of water, so if a stream flows into a basin of impure water the water in the stream too becomes impure. To this the Pharisees respond that those who – unlike themselves – use such natural reasoning should be even more worried by aqueducts that flow through cemeteries, for they are not only bigger and more permanent but also, from a natural point of view, it is even clearer that the water that issues from such aqueducts should be impure. For while from a natural point of view it is not clear that if I pour water from a pure vessel into an impure basin on the floor we should expect the impurity to climb upstream, it is definitely the case that water flowing downstream in an aqueduct will take with it the

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impurity it encounters in a cemetery – if that impurity is real and not merely nominal. That latter premise is precisely what the Pharisees deny.23 To summarize: What these debates show us is that the Mishnah emphatically approves of the position that rejects the force of a natural mode of argument and also refuses to treat matters of law as if they had to reflect the nature of the things in question. It also ascribes its own position to the Pharisees.

2.2 Rabbis vs. Dosa b. Harqinas in mEd 3 If we take that as a starter and ask composition-critically where it leads readers of the Mishnah, the answer is that such readers will immediately be drawn to juxtapose this chapter with another one: the third chapter of the tractate ‘Eduyyot. Here, as in mYad 4, we find a string of laws concerning different topics, all tied together by two factors: (1) a single persistent disputant (there: Sadducees, here: R. Dosa b. Harqinas) holds throughout the same basic position, that it is the nature of things, not what they are called, that gives them their legal status, and (2) the Mishnah rejects that position down the line. Thus: 1. The disputes begin in 3:1 on the background of the presumption that a quantity of something impure that is smaller than a kazayyit (the size of an olive) cannot impart impurity, which raises the question: What is the law concerning two half-kazayyits of something impure, e.g. a piece of human bone of kazayyit size that broke into two before someone threw it into a house? R. Dosa b. Harqinas looks at the nature of things and says that since neither half-kazayyit is capable of defiling two together are also incapable (just as 0 + 0 = 0), but the majority of rabbis hold that the common “name” joins the two together and gives them the capacity to defile. 2. Next, 3:2 addresses the same basic issue with regard to things that are naturally too small (and not as a result of breakage): if we assume that less than a certain minimum measure of food cannot become impure, or (if 23 For use of realism vs. nominalism to characterize the contrast between priestly and rabbinic views of law, see my Law and Truth: On Qumran-Sadducean and Rabbinic Views of Law, in: D. Dimant / U. Rappaport (ed.), The Dead Sea Scrolls: Forty Years of Research, StTDJ 10, Leiden & Jerusalem 1992, 229–240. For criticism of that paper, see J. L. Rubenstein, Nominalism and Realism in Qumran and Rabbinic Law: A Reassessment, DSD 6, 1999, 157–183, and Elman, Some Remarks (n. 19), esp. 124–125. For my response, see Qal va¼omer Arguments as Sadducean Realism, Massekhet 5, 2006, 145–156 (in Hebrew) – where I emphasize that it is especially where sects are contrasted one with another that we may expect to find consistency in their views.

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already impure) cannot impart impurity, what is the law when, as in the case of rice or nuts, it is naturally divided up into many smaller pieces but the aggregate is big enough? The majority of rabbis insist that the common name binds all the pieces together and brings “it” into the range of impurity, but R. Dosa denies that. 3. Finally, lest the basic point be missed, 3:2 proceeds to make it very heavy-handedly, by switching topics in a way that forces us to look for the basic principle involved. Namely, it moves away from issues of purity and impurity to a totally different topic: the law in Deut 14:24–25 that one may redeem tithes by exchanging them for “money.” Question: can one do so using a planchet (unminted slug)? Is it “money”? R. Dosa says it is, the majority of rabbis say it is not. This is a wonderful example of the principle involved here, realism vs. nominalism, for the difference between a planchet and a coin is that while they both have the same real value, only the coin has been labelled as having it. Thus this dispute makes it very clear that what is at issue is the relative importance of being something, naturally, as opposed to being called something. And that, of course, allows us to realize, in case we hadn’t, that the fact that we look at two pieces of a single bone and say “a bone” or at fifty grains of rice and say “rice,” but at a planchet and say only “planchet” (or “blank” or “flan” or whatever), but not “money,” is important for the majority but not for R. Dosa. So when we read mEd 3 we are again very clearly encouraged to think that the proper way, the Mishnah’s way, is one that plays up the importance of what things are called, as opposed to R. Dosa’s way, that focuses on what things are. That, in turn, reinforces Mishnah-readers in their conclusion that the Pharisees’ way in mYad 3 is the right way. Nevertheless, if a doctrinaire composition critic were to insist that we have no real reason for confidence that the Pharisees, or the majority of R. Dosa’s opponents, in fact held the view the Mishnah ascribes to them (for the Mishnah might be doing no more than what we do when we tell our children that Superman brushes his teeth regularly), we would still have little to reply.

2.3 R. Dosa b. Harqinas in the Mishnah Next, however, our excursion to mEd 3, that highlighted R. Dosa b. Harqinas as the disputant with the rabbis, should further bring us Mishnah readers to think of where that name leads us – and it leads us, in turn, to some very central passages of the Mishnah. For R. Dosa is not mentioned often in the Mishnah, so the few places he does appear easily remind us of the others

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and suggest they be read one in light of the other – and the result turns out to be very apposite to our topic: 1. In mEr 3:9 R. Dosa insists that the practice of celebrating Rosh Hashanah (New Year’s Day) for two days does not mean that it is two days long. Rather, it is only a practical way of dealing with the doubt about the proper day.24 Accordingly, since it is improper to say holiday prayers on days that are not holidays, he insists that prayers said on both days include a conditional statement: “He that goes before the Ark (to pray) on the first Festival-day of the New Year says, ‘Give us strength, O Lord our God, this first day of the month, whether it be today or tomorrow; and on the morrow he says, ‘whether it be today or yesterday’.” “The Sages,” in contrast, i.e., the majority, insist that once they called both days Rosh Hashanah, all the laws of Rosh Hashanah fully apply to both. 2. In mRHSh 2:8 R. Dosa insists, similarly, that when the rabbinical court proclaimed a new month on the basis of testimony that was obviously wrong from an astronomical point of view, its proclamation was of no validity. Quite contentiously, he rejects the court’s decision, for the witnesses’ testimony was false according to nature: “How can they possibly testify that a woman gave birth when her belly is still between her teeth?!”25 But the Mishnah with no hesitation endorses the opposite view, namely, that once the court called a day the beginning of the new month it is that, even if the decision contradicts the astronomical facts (just as the next paragraph of the Mishnah [3:1], dealing with the opposite case, rules that even if everyone agrees that a new month has begun it did not do so if the court did not proclaim the fact). 3. In mKet 13:2 R. Dosa holds that if a neighbor supports a married woman during her husband’s absence he is entitled to be reimbursed even if he didn’t formulate his support as a loan, whereas others, including R. Johanan b. Zakkai, hold that the generous neighbor has only himself to blame for not protecting his money better (just as “he who put his wallet on the antlers of a deer” has only himself to blame if the deer runs off). The logic here seems to be just the same as in the other cases: we naturally feel, we know in our guts, that the neighbor is entitled to be reimbursed even if he 24 Rosh Hashanah comes on the first day of a lunar month. Given the fact that, in antiquity, the Jews were dependent upon witnesses to testify whether the new moon appeared during the night following the 29th or 30th day of the preceding month, and it took time for witnesses to arrive at the appropriate court, the practice was adopted of celebrating Rosh Hashanah for two days so as to cover both possibilities. See mRHSh 4:4 and M. D. Herr, The Calendar, in: S. Safrai / M. Stern (ed.), The Jewish People in the First Century, Vol. II, CRI I.2, Assen & Amsterdam 1976, 860–861. 25 His use of this comparison reflects the fact that rabbinic parlance termed the new month a molad, “birth.”

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didn’t formulate his aid as a loan, and R. Dosa ascribes authority to nature – to what is intuitively “fair” – but R. Johanan b. Zakkai does not. The fact that the neighbour didn’t call his loan a loan is just like the fact that no one bestowed the designation “money” upon a planchet; the absence of that naming was important for the majority of rabbis but not for R. Dosa.

2.4 “Sons of High Priests” and Back to Sadducees This last-mentioned dispute, about the generous neighbor, is particularly interesting in the present context because the Mishnah does not simply report R. Dosa’s view. Rather, it reports a broader dispute concerning this case: we read that “the sons of the high priests” held that the debt is collectible and R. Dosa agreed with them, while R. Johanan b. Zakkai agreed with one Hanan – who is introduced in the preceding paragraph (mKet 13:1) as follows: “There were two judges of decrees in Jerusalem – Admon and Hanan …” This doubling of the antagonists would seem to be circumstantial and reliable, for it serves no evident purpose;26 and both “sons of high priests” and “were in Jerusalem” point us back to the days of the Temple (which is indeed where and when we would expect to find R. Johanan b. Zakkai in such a debate).27 What is important for us, in this connection, is that the reference to “sons of the high priests” leads us to think of Sadducees, for the Sadducee-high priest nexus is fairly well established. True, lately M. Goodman has argued against it, urging not only that “as it happens, neither Josephus nor the rabbinic sources suggest any link at all between Sadducees and the priesthood,” but also that we steer away from linking the high priesthood to Sadduceeism.28 However, whatever one thinks of the former, the latter seems quite well documented. One thinks, first of all, of Acts 5:17, where we read that “the high priest rose up and all who were with him, that is, the party of the Sadducees”; I see no reason to limit this, as Goodman does, to the suggestion that “those who accompanied the high priest on this occasion were Sadducees.” 29 Moreover, it seems forced to view (with Goodman) the juxtaposition of Sadducees and “priests” and the captain of the Temple in 26 For another similar case, see mRHSh 1:7, where we read of “Tobiah the physician and his son and his freed slave” and their dealings with a court of priests in Jerusalem. 27 For his prominence as a Pharisaic leader in Jerusalem prior to the Destruction, see J. Neusner, A Life of Yohanan ben Zakkai: Ca. 1–80 C. E., StPB 6, Leiden 21970, 59–93. 28 M. Goodman, Judaism in the Roman World: Collected Essays, AJEC = AGAJU 66, Leiden 2007, 128–130. 29 Ibid., 130 (his italics).

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Acts 4:1 as a mere concatenation of disparate entities (note that the Pharisees are not mentioned), and the point of Acts 23 (that Goodman does not mention), where a high priest accuses Paul and Pharisees defend him in the context of a dispute between Pharisees and Sadducees, virtually entails the high priest being a Sadducee. Similarly, note bYoma 19b, where a high priest tells his son that “although we are Sadducees we are afraid of the Pharisees.” When we add to this the facts that “Sadducee” derives from the name of the head of the line of Judaean high priests, Zadok, that Josephus mentions a Sadducean high priest at the time of Johanan ben Zakkai’s career (Ant. 20:199), and that he claims in general that the Sadducees were aristocratic (Ant. 18:17), which for Josephus at least meant high priests, it would seem – even without getting into more elaborate arguments based upon rabbinic literature30 – to be quite reasonable for historians to assume that the “sons of the high priests” who figure in mKet 13:2, as a prominent Pharisee’s opponents, were Sadducees. Thus, if above we saw that R. Dosa plays in Mishnah ‘Eduyyot the same role vis-à-vis the rabbis that the Sadducees play vis-à-vis the Pharisees in Mishnah Yadayyim, now it turns out that in Mishnah Ketubbot, when bespeaking the same type of position, R. Dosa agrees with people who are likely, historically, to have been Sadducees. But since that point is of no interest to the Mishnah, which does not link priests to Sadducees here or anywhere else, it seems we may with some confidence view it as of no composition-critical significance and therefore one fully available for use in reconstructing extra-Mishnaic – and pre-Mishnaic – history.

3. Conclusion We conclude, therefore, that it is not only the case that the Mishnah repeatedly emphasizes that nature does not create Jewish law, just as an argument a minori ad maius, on the basis of natural logic, is not a valid basis for lawmaking. It is also the case that its attribution of that position to the Pharisees, as opposed to the Sadducees who did assert the authority of natural law and natural argument, may be supported, via the parallel evidence concerning Dosa b. Harqinas, by independent evidence (given by “the sons of the high priests” in mKet 13:2) for the ascription of the oppos30 Note, for example, that where mPara 3:7 says the rabbis used to defile the high priest, the parallel at tPara 3:7–8 (632 Zuckermandel) explains this was done to avoid the possibility of his following Sadducean halakhah. On this dispute, see my Once Again ‘And they used to defile the high priest who burned the heifer’ – Language or History?, Netuim 5, July 1999, 127–135 (in Hebrew).

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ing view to the Sadducees, who by all accounts were the Pharisees’ rivals. Thus, while composition critics are certainly right that the Mishnah was not out to teach us what the Pharisees were like, or what R. Dosa b. Harqinas was like, but rather used those names to teach what it itself did and didn’t like and recommend, just as we might use Superman’s name, it seems nevertheless to be the case that we may move beyond the Mishnah’s own agenda and satisfy our own historical one as well. As for the larger significance of the Pharisees’ insistence that nature is not a valid source of legal authority or argument, suffice it to say, for now, that the Diaspora too is unnatural. Jews are Jews in the Diaspora despite where they are, not because of where they are. Moreover, rabbis, as opposed to priests, are artificial, unnatural; priests are born but rabbis choose to become rabbis and become rabbis when their teachers or peers choose to call them rabbis. A type of Judaism that allows for sanctity all over, and allows all people, whatever their birth, to attain religious authority, is very different from a priestly Temple-based religion. Thus, Pharisaism was essentially a type of Diasporan Judaism that flourished in Judaea while the Temple still stood – and which was able to survive its destruction.31 Whether, and to what extent, this is to be traced to the formative influence of Hillel, a sage who moved to Judaea from Babylonia and who rabbinic tradition views as something as its founder,32 or rather to larger processes such as the impact of Hellenism, is an issue we hope to pursue elsewhere.

31 On this theme, see my Josephus on the Pharisees as Diaspora Jews, in: C. Böttrich / J. Herzer (ed.), Josephus und das Neue Testament, WUNT 209, Tübingen 2007, 137–146. 32 See bSuk 20a: “When the Torah was forgotten in Israel Ezra went up from Babylonia and established it; when again it was forgotten Hillel the Babylonian went up and established it …” In general, see the volume mentioned above, n. 4.

Jan Willem van Henten

Jüdisches Märtyrertum und der Tod Jesu1

1. Einleitung Wo liegen die Wurzeln des frühchristlichen Glaubens an den Heilstod Christi? Für eine Interpretation des Todes Jesu im Rahmen der neutestamentlichen Wissenschaft ist diese Frage von großer Bedeutung. Um sie zu klären, bedarf es traditionsgeschichtlicher Analysen der neutestamentlichen Textstellen über den Tod Jesu sowie Untersuchungen des religiöskulturellen Milieus, in denen sie entstanden und später in Umlauf gebracht worden sind. Mein eigener Beitrag zu dieser Diskussion hat sich seit etwa 1985 auf das antike jüdische Märtyrertum und seine möglichen Verbindungen zum frühen Christentum konzentriert. Ich bin mir dessen bewusst, dass sich die Idee des Märtyrertums seitdem erheblich verändert hat. In der gegenwärtigen Kultur sind „Märtyrer“ zu höchst zweideutigen Figuren geworden. Nichtsdestotrotz erscheint es immer noch als berechtigt, diesen emotional aufgeladenen Begriff für die Helden der alten jüdischen und christlichen Berichte über den Heldentod zu verwenden. In diesen Berichten wird der „Märtyrer“ zum Opfer des Erlasses einer fremden Regierung, das eher stirbt, als sich diesem Edikt zu beugen, und dessen Widerstand, wenn er überhaupt geleistet wird, ausschließlich gewaltfrei ist.2 Dieser Beitrag beginnt mit einem knappen Forschungsüberblick zu antikem jüdischen Märtyrertum. Dann gebe ich einen Abriss dreier Zugänge zu frühen Interpretationen des Todes Jesu, für die jüdisches Märtyrertum ein wichtiger Faktor gewesen sein mag: 1) Jesu eigenes Verständnis, 2) frühchristliche Formeln, 3) die Passionserzählungen der Evangelien. In einem letzten Schritt werte ich die Ergebnisse dieser drei Zugänge aus und zeige ihre Relevanz für die Forschung zu den frühesten Interpretationen von Jesu Tod.

1 Übersetzung meines leicht überarbeiteten Artikels „Jewish Martyrdom and Jesus’ Death“, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 139–168. Eine Erwiderung bietet H. S. Versnel, Making Sense of Jesus’ Death. The Pagan Contribution, a. a. O., 215–294. Mein Dank gilt Ingeborg Löwisch für die Übertragung ins Deutsche. Ich benutze in diesem Beitrag die männliche Form „Märtyrer“ inklusiv. 2 J. W. van Henten / F. Avemarie, Martyrdom and Noble Death. Selected Texts from GraecoRoman, Jewish, and Christian Antiquity. The Context of Early Christianity, London 2002, 3 f.

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2. Frühjüdisches Märtyrertum William Frend und Theofried Baumeister zufolge gab es im antiken Judentum eine beträchtliche und durchaus kohärente literarische Reflexion von Martyriumserfahrungen, die im Neuen Testament und in frühen christlichen Märtyrerberichten aufgenommen wurde.3 Baumeister diskutiert in diesem Zusammenhang nicht nur 2. und 4. Makkabäer, sondern auch Philo und Josephus, Auszüge aus Qumran, das Martyrium des Jesaja und die Himmelfahrt des Moses.4 Es ist indes problematisch, diese Texte unter der Überschrift „Märtyrertum“ zusammenzufassen: Einerseits fehlt in ihnen das entsprechende technische Vokabular, das in christlicher und rabbinischer Literatur erst später auftritt; andererseits gehören sie zu verschiedenen literarischen Gattungen. Selbst Textstellen über den Heldentod, die inhaltlich korrespondieren – zumindest an der Oberfläche der Texte –, variieren stark in Stil und Atmosphäre.5 So stellt sich z. B. der blutige Bericht über den Suizid des Jerusalemer Ältesten Razis in 2Makk 14,37–46 ganz anders dar als die Voraussetzung dieses Suizids in AssMos 9. Viele Neutestamentler verknüpfen letzteres mit dem Tod Jesu, der das Reich Gottes eröffnete.6 Sie zögern jedoch, Razis’ Suizid als Modell für frühchristliche Interpretationen des Todes Jesu heranzuziehen, auch wenn argumentiert werden könnte, dass Razis’ Tod einen Heilseffekt für andere hatte.7 Für den Geschmack moderner Leser ist sein Tod einfach zu grauenvoll; vgl. 2Makk 14,45 f: Noch atmend und vor Zorn brennend stand er auf, und während das Blut wie ein Quell hervorsprudelte und die Wunden heftig schmerzten, lief er durch die Menge, machte halt auf einem schroffen Felsen, riss sich, schon fast verblutet, die Eingeweide heraus, hielt sie in beiden Händen und schleuderte sie auf die Masse, wobei er den über Leben und Atem Gebietenden anrief, er möge sie ihm einst wiedergeben …8

Die betreffenden Passagen in Qumran, Josephus und Philo können schwerlich als „Märtyrertexte“ qualifiziert werden. Die Verwendung des allgemeineren Ausdrucks „Heldentod“ („noble death“) ist deshalb sicherer; er kann auf all die jüdischen Textstellen bezogen werden, die eines gewaltsamen 3 W. H. C. Frend, Martyrdom and Persecution in the Early Church. A Study of a Conflict from the Maccabees to Donatus, Oxford 1965 = Grand Rapids 1981; T. Baumeister, Die Anfänge der Theologie des Martyriums, MBTh 45, Münster 1980. 4 Baumeister, Anfänge, 6–65. 5 Siehe die Übersicht in van Henten / Avemarie, Martyrdom. 6 So z. B. J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I, Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971; 31979, 273; M. de Jonge, God’s Final Envoy. Early Christology and Jesus’ Own View of His Mission, Grand Rapids 1998, 49–53. 7 J. W. van Henten, The Maccabean Martyrs as Saviours of the Jewish People. A Study of 2 and 4 Maccabees, JSJ Supplements 57, Leiden 1997, 144–150. 8 Übersetzung nach C. Habicht, 2. Makkabäerbuch, JSHRZ I.3, Gütersloh 1979.

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und doch heldenhaften Todes gedenken, dabei aber inhaltlich variieren (Martyrium, Suizid, Prophetenmord, der leidende Gerechte) und teilweise zu verschiedenen Gattungen gehören. Man sollte diese Stellen als ein Kaleidoskop unterschiedlichster Interpretationen verstehen, von denen einige für das Verständnis des Todes Jesu relevant sind, andere nicht.9 Jenseits einer allgemeineren Klassifizierung verdienen manche Quellen (Dan 3; 6 und 2Makk 6,18–7,42; 4Makkabäer) die Qualifizierung als „Märtyrertexte“; sie entsprechen einer funktionalen Definition von Märtyrertum und werden in ihrer Rezeptionsgeschichte durchgängig als Märtyrertexte angesehen. Einen neuen Ansatz zu der Beziehung zwischen frühen christlichen und jüdischen Traditionen vertreten Glen W. Bowersock und Daniel Boyarin. In den Fußspuren von Hans von Campenhausen bestreitet Bowersock die Existenz eines vorchristlichen Märtyrertums.10 Boyarin kritisiert daraufhin das Verwandtschaftsparadigma, das Frend und Baumeister verwenden, um die Rezeption von Dan 3 und 6 und des makkabäischen Märtyrertums in der frühchristlichen Literatur zu analysieren,11 und plädiert im Hinblick auf die Märtyrertraditionen für intensive, vielschichtige Verbindungen zwischen christlichen und nichtchristlichen Juden. Er stellt zwei Ansichten in Frage, auf denen Frends und Baumeisters Thesen aufgebaut zu sein scheinen: 1) dass die Trennung zwischen Judentum und Christentum im späten 1. oder frühen 2. Jh. n. Chr. stattfand, und 2) dass es von diesem Zeitpunkt an keine Verbindungen mehr zwischen beiden Gruppen gab.12 Nach Boyarin wurden sowohl das rabbinische Judentum als auch das orthodoxe Christentum erst im 4. Jh. erfunden. Er schlägt eine „Wellen-Theorie“ als alternatives Modell vor, mit dem die Verbindungen zwischen Juden und Christen erklärt werden können, auch im Hinblick auf das Märtyrertum: … the languages in a given group might very well have similarities that are the product of convergence, of new developments in one that have passed to the others, because the languages are still in contact with each other. This is called wave theory, on the assumption that an innovation takes place at a certain location and then spreads

9 Zur Definition eines Märtyrers: „Ein Märtyrer ist eine bestimmte Person, die in einer extrem feindlichen Situation den gewaltsamen Tod der Unterwerfung unter den Anspruch einer (normalerweise heidnischen) Autorität vorzieht.“ Siehe zur Diskussion dieser Definition und des mit ihr übereinstimmenden Corpus von Märtyrertexten van Henten, Maccabean Martyrs, 6–13. 10 G. W. Bowersock, Martyrdom and Rome, Cambridge 1995. 11 D. Boyarin, Dying for God. Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism, Figurae: Reading Medieval Culture, Stanford 1999. Vgl. J. Lieu, Image and Reality. The Jews in the World of the Christians in the Second Century, Edinburgh 1996, 57–94.277–286; dies., Neither Jew nor Greek. Constructing Early Christianity, London 2002; G. Hasan-Rokem, Web of Life. Folklore and Midrash in Rabbinic Literature, Contraversions, Stanford 2000, 114–125. 12 Boyarins Kritik an Frend durchzieht sein gesamtes Buch; s. aber insbesondere S. 92–130.

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like a wave from that site to others, almost in the fashion of a stone thrown into a pond. In this model, convergence is as possible as divergence.13

Boyarins Plädoyer für vielschichtige Interaktionen zwischen jüdischen und christlichen Märtyrertraditionen ist attraktiv und anregend.14 Es hat meine eigene Sichtweise auf 4. Makkabäer verändert, ein jüdisches Dokument, auf das in der Diskussion um die Traditionen, die in frühen Antworten auf Jesu Tod rezipiert wurden, häufig Bezug genommen wird. Einige Forscher datieren 4. Makkabäer immer noch mit Elias Bickerman in die erste Hälfte des 1. Jh. n. Chr.; er deutete 4Makk 4,2 als Reflex der kurzen Periode, in der die Provinzen Syrien und Kilikien eine Einheit bildeten (die s. E. 54 n. Chr. endete).15 Doch selbst wenn diese Deutung zutrifft, bedeutet das nur, dass das Werk auf diesen oder einen späteren Zeitpunkt datiert.16 Andere Vorschläge zur Datierung fußen auf der Annahme, dass eine Schrift über das Märtyrertum in einer Verfolgungssituation entstanden sein muss.17 Das ist ein klarer Fall von petitio principii und darüber hinaus im Falle von 13

Boyarin, Dying, 9. In seinem Buch argumentiert Boyarin u. a., dass sich rabbinische Textstellen über das Märtyrertum mit dem Christentum auseinander setzen, das immer noch als jüdische Häresie angesehen wurde (die Geschichte über R. Eliezer in tChul 2,24 dient dabei als Schlüsseltext). Weiterhin beschreibt er, dass Christen und Rabbinen versuchten, dem Martyrium durch Tricks und Schläue zu entgehen, meist aber doch zu Märtyrern wurden (S. 26–66). 14 Seiner Argumentationslinie folgend, könnte man z. B. die Sammlung der Geschichten der sog. zehn Märtyrer („Die Zehn von der Regierung Ermordeten“), die in einem gleichnamigen Midrash kulminieren (siehe G. Reeg, Die Geschichte von den Zehn Märtyrern, TSAJ 10, Tübingen 1985), als eine jüdische Antwort auf den Kanonisierungsprozess christlicher Märtyrertexte interpretieren, der in Märtyrerlisten, Märtyrerkalendern und der Martyriologie sichtbar wird. 15 E. J. Bickerman(n), The Date of Fourth Maccabees, in: Louis Ginzberg Jubilee Volume, English Section, New York 1943, 105–122, leicht überarbeitet in: ders., Studies in Jewish and Christian History I, AGJU 9.1, Leiden 1976, 275–281; gefolgt von M. Goodman, Jewish Literature Composed in Greek, in: E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.–A.D. 135). A New English Version, hg. v. G. Vermes u. a., Edinburgh 1986, III.1, 470–704: 591, M. Hengel / A. M. Schwemer, Paul between Damascus and Antioch. The Unknown Years, London 1997, 435 f, und D. A. deSilva, 4 Maccabees, Sheffield 1997, 14–18. D. A. deSilva, 4 Maccabees. Introduction and Commentary on the Greek Text in Codex Sinaiticus, Leiden 2006, xiv–xvii, plädiert für die letzte Hälfte der Periode 19–72 n. Chr. 16 J. W. van Henten, Datierung und Herkunft des Vierten Makkabäerbuches, in: ders. u. a. (Hg.), Tradition and Re-interpretation in Jewish and Early Christian Literature, FS J. C. H. Lebram, StPB 36, Leiden 1986, 136–149. J. J. Collins, Between Athens and Jerusalem. Jewish Identity in the Hellenistic Diaspora, New York 1983; Grand Rapids 22000, änderte seine Auffassung und erkannte an, dass die Union jener Provinzen 72 n. Chr. endete und ausschließlich als terminus post quem angesehen werden kann (S. 203 f). B. Schaller, Zur Methodologie der Datierung und Lokalisierung pseud- und anonymer Schriften, dargestellt an Beispielen vornehmlich aus dem Bereich der JSHRZ, in: H. Lichtenberger / G. S. Oegema (Hg.), Jüdische Schriften in ihrem antik-jüdischen und urchristlichen Kontext, SJSHRZ 1, Gütersloh 2002, 59–74: 66–69. 17 Die folgenden Ausführungen bieten eine Zusammenfassung von J. W. van Henten, Martyrdom and Persecution Revisited. The Case of 4 Maccabees, in: W. Ameling (Hg.), Märtyrer und Märtyrerakten, AWKol 6, Stuttgart 2002, 59–75.

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4. Makkabäer besonders problematisch. Die vorgeschlagenen Szenarien, z. B. Caligulas Entscheidung, eine Statue von ihm selbst im Jerusalemer Tempel aufzurichten, oder die Revolte der jüdischen Diaspora um 116 n. Chr., stimmen in keiner Weise mit den Angaben in 4. Makkabäer überein. Tatsächlich stammt die Parallele zwischen Schweinefleisch und Götzenopferfleisch in dem Bericht über die Zwangsmahlzeit vor dem König und seinem Gefolge, die als Bestätigung des Verzichtes auf jüdische Praktiken dienen soll (4Makk 4,26–5,4),18 aus frühen christlichen Martyrien. Zwei Details in diesem Bericht unterscheiden sich von seiner Vorlage in 2Makk 6. Erstens sollten die Märtyrer auch „Götzenopferfleisch” (͖͕֬ͪͭ͜ͱͦͥ͒, 4Makk 5,2) essen, vermutlich eine alternative Wendung für ͖֭΃ͭͱͦͥ͒ „Fleisch von Opfertieren“, „den Göttern geweihtes Fleisch“ (vgl. 1Kor 10,28).19 Für das 2. Jh. des imperialen Zeitalters sind keine römischen Versuche belegt, Juden dazu zu zwingen, Fleisch, das für Opfer verwendet worden war, zu essen. Dieses wäre auch der römischen Praxis, die jüdische Religion zu tolerieren, entgegengelaufen. Wir wissen jedoch von Fällen, in denen christliche Märtyrer genötigt wurden, solches Fleisch zu essen (MartPion 18,3–6.13), besonders nach dem Dekret des Decius im Frühjahr 250 n. Chr.20 Zweitens entspricht die Beschreibung des Antiochus in 4Makk 5,1 den einleitenden Gerichtsszenen in christlichen Passagen über Martyrien: Antiochus sitzt, von seinen Beratern und Soldaten umgeben, an einem öffentlichen Ort (͡΃͠΂͒ͱ͐ͤ͒ͣ) wie ein römischer Magistrat auf einer Plattform und befiehlt den Wachen, die Juden einzeln herzubringen. In christlichen Textstellen werden Märtyrer ebenfalls vor den Magistrat gebracht, der auf einer Tribüne im Forum oder an einem anderen öffentlichen Platz sitzt.21 Solche Entsprechungen unterstützen den neuen Ansatz von Daniel Boyarin und laden ein, sie als Reflex vielschichtiger Interaktionen zwischen Juden und Christen in Kleinasien oder Syrien zu verstehen, je nachdem welchen geographischen Entstehungsort man für 4. Makkabäer vorzieht.22 Diese Kontextualisierung impliziert, dass 4. Makkabäer in Interaktion mit und als Antwort auf christliche Märtyrertraditionen entstanden ist. Die Bezüge auf die makkabäischen Märtyrer in frühchristlicher Literatur, die vermutlich schon im Neuen Testament auftreten (s. u.), bilden kein Hinder18

4Makk 4,26: ր͔͖͚ͮ͒͡͠͠͝ ͚͒͝΃٠͞ ͥ΃ͧ͠٠͞ „Geschmack von vergiftetem Fleisch“ (vgl. 10,1); 5,2: ΂΃͖٠͞ ‫ ͪͥͮ͞ͱ͕͖ͪ֬͜͠ ͐͒΂ ͖ͪ͐͞׉‬ր͔͖͚ͮ͒͡͠͠͝. 19 Bekanntermaßen ist ͖͕֬ͪͭ͜ͱͦͥ͒ „Fleisch, das Götterbildern angeboten wird“ ein Hapaxlegomenon in der Septuaginta und vermutlich ein jüdisch(-christlicher) Neologismus aus dem 1. Jh. n. Chr. Vgl. ActAgap 3,1–5 (͖֭΃ͭͱͦͥ͠͞ ֐ͤͱ͐ͪ); 5,2 (͖֭΃ͭͱͦͥ͠͞ ֐ͤͱ͐ͪ ΂͒͐ ͱͮͪ). 20 Danach mussten alle freien Einwohner des Imperiums den Göttern opfern, ein Trankopfer darbringen und ein Opfermahl essen (Eus.h.e. 6,41); vgl. Frend, Martyrdom, 406–410. 21 ActCarp 1; MartPion 19,2; ActAgap 3,1: „Der Präfekt Dulcitius saß Gericht (͡΃͠΂͒ͱ͐ͤ͒ͥͣ͞͠ ̶ͦ͜͠΂ͥ͐ͦ͘͠ ͔͖֝ͭͣ͝͞͠ ֐͡‫ )ͣͥ͒͠͝͏͓ ٓͥ͠ ת‬und der Protokollführer Artemisius sprach …“ 22 B. Schaller, Methodologie, 67 ff, diskutiert verschiedene Vorschläge.

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nis für diesen Ansatz, da sie bis mindestens 150 n. Chr. ausschließlich aus 2. Makkabäer stammen.23 Natürlich ist es möglich, dass das Martyrium des Polycarp oder das Martyrium des Pionius ihr Schlüsselvokabular, das sie mit 4. Makkabäer gemeinsam haben, aus diesem Werk übernommen haben. Es ist aber wahrscheinlicher, dass letzteres in Auseinandersetzung mit frühen christlichen Verherrlichungen des Märtyrertums entstanden ist. Ansonsten hätte 4. Makkabäer andere jüdische Märtyrer gepriesen, deren Tod deutlich näher an dem Zeitraum, in dem das Werk komponiert wurde, lag.

3. Frühes jüdisches Märtyrertum und Deutungen des Todes Jesu 3.1 Der historische Jesus als der Märtyrer Es ist vorstellbar, dass Jesus an einem bestimmten Moment seiner Mission realisierte, dass er als Konsequenz seiner Lehre vom Königreich Gottes eines gewaltsamen Todes sterben würde, und dieses Schicksal akzeptierte. Dabei könnte er u. a. an die Tradition des Märtyrertums gedacht haben, um einem solchen Tod Sinn abzugewinnen; dies Konzept schlösse die Vorstellung ein, dass sein Tod eine Heilswirkung für andere haben würde.24 Tatsächlich halten einige Forscher eine solche Rekonstruktion für plausibel.25 Dabei heben sie z. T. hervor, dass jene Vorstellung in den vorösterlichen Traditionen nicht von Jes 53 herrühren kann, da klare Bezüge auf diesen Text in den frühesten Schichten des Neuen Testaments fehlen.26 Auf den ersten Blick ist solch ein Vorschlag nicht besser oder schlechter als José Saramagos fiktive These, dass Jesus für einen gewaltsamen Tod optierte, weil er die Kreuzigung seines Vaters in Sepphoris im Rahmen einer kollek23

F. Avemarie / J. W. van Henten, Jewish and Christian Martyrs (angekündigt). N. A. Dahl, Jesus the Christ. The Historical Origins of Christological Doctrine, Minneapolis 1991, 100; H. Schürmann, Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge (hg. v. K. Scholtissek), Paderborn 1994, 168–201; M. de Jonge, Envoy, 26–30. 25 Z. B. J. Downing, Jesus and Martyrdom, JThS NS 14, 1963, 279–293; J. Gnilka, Jesu ipsissima mors. Der Tod Jesu im Licht seiner Martyriumsparänese, EichHR 38, München 1983; E. P. Sanders, Jesus and Judaism, London 1985, 332. Nach M. N. A. Bockmuehl, This Jesus. Martyr, Lord, Messiah, Edinburgh 1994, 86 f und 134, könnte die Antwort Jesu auf das Bekenntnis des Petrus (Mk 8,29.31 par.) implizieren, dass er mit seinem Martyrium und der darauf folgenden Rechtfertigung rechnete. J. D. G. Dunn, Jesus Remembered, Christianity in the Making 1, Grand Rapids 2003, 796–824: 806.816 f, erachtet es als eine ernsthafte Möglichkeit, dass Jesu sich selbst als ein leidender Gerechter / Märtyrer wahrnahm, dessen Tod das endgültige Ende der Leiden Israels bedeutete. 26 Schürmann, Jesus, 196.200.235 f; D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986, 232–239; M. de Jonge, Envoy, 30–33. 24

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tiven Bestrafung galiläischer Rebellen gegen Rom nie überwunden habe.27 Die Hypothese, dass Jesus sich selbst als Märtyrer verstand, bleibt Spekulation, wenn sie nicht auf einem Plausibilitätsargument basiert, für das Aussagen Jesu, die glaubhaft authentisch sind, der beste Beweis wären. Es ist zweifelhaft, ob solche Aussagen gefunden werden können. Verschiedene Aussagen Jesu über seinen nahenden Tod sind wahrscheinlich authentisch, wie z. B. die Menschensohn-Worte Mk 8,31 par.; 9,31 par.; 10,33 par. und damit verknüpfte Textstellen. Allerdings ist eine Heilsbedeutung von Jesu Tod nur in Mk 10,45 par. und 14,24 par. angezeigt. Die zweite Stelle, der Spruch über den Kelch, der auf den neuen Bund verweist, ist Teil der Abendmahlseinsetzung, die in ihrer gegenwärtigen Fassung zweifelsohne von einer nachösterlichen Gemeinschaft stammt.28 Das Wort von Jesu Dienen und der Hingabe seines Lebens als Lösegeld für viele in Mk 10,45 kann durchaus von Mk 14,22–25 abhängen, betrifft aber, selbst wenn es authentisch ist,29 Jesu Handeln als Menschensohn. Versuche, Jesu eigene Sicht auf seinen Tod ausschließlich oder vor allem durch die Brille des Märtyrertums zu rekonstruieren, schießen über das Ziel hinaus. Es kann nicht außer Acht gelassen werden, dass Jesu Deutung seines eigenen Todes auf andere jüdische Traditionen aufbaute, wie die des leidenden Gerechten, des verfolgten Propheten, des Menschensohns oder einer Kombination daraus. Die Evidenz, die sich von den authentischen Worten über die Heilsbedeutung seines nahenden Todes herleitet, ist nicht substantiell genug, um die Behauptung eines Historikers zu unterstützen, dass der historische Jesus ein oder der Märtyrer war.30 Wenn man jedoch versuchsweise annehmen möchte, dass Jesus seinen gewaltsamen Tod als Konsequenz seiner Ankündigung des Königreiches Gottes begriff, der eine Heilsbedeutung für andere haben würde, und demzufolge mit seiner Erhöhung als Gottes Antwort auf das Vollbringen seiner Mission rechnete, können Märtyrertraditionen helfen zu erklären, wie er zu einer solchen Einschätzung kam.31

27 J. Saramago, O Evangelho Segundo Jesus Cristo, Lissabon 1991; deutsche Übersetzung durch A. Klotsch: Das Evangelium nach Jesus Christus, Reinbek 1993. 28 E. Lohse, Märtyrer und Gottesknecht. Untersuchungen zur urchristlichen Verkündigung vom Sühnetod Jesu Christi, FRLANT 64, Göttingen 21963, 117, hält es deshalb für unmöglich zu belegen, dass Mk 10,45 oder 14,24 von Jesus selbst stammen. 29 Referenzen in Schürmann, Jesus, 216 f mit Anm. 59 und 61a. W. J. Heard, Maccabean Martyr Theology. Its Genesis, Antecedents, and Significance for the Earliest Soteriological Interpretation of the Death of Jesus, Diss. Aberdeen 1987, 394–465, sieht Mk 10,45 und 14,24 als authentisch an und nimmt an, dass Jesu Aussage Traditionen aus Jes 43 und 53; Jer 31,31–34; Ex 24,7 f; Dan 7 und den makkabäischen Märtyrertexten aufnimmt. 30 Mit Schürmann, Jesus, 215 f; M. de Jonge, Envoy, 30. 31 Vgl. Schürmann, Jesus, 202–240, der eine Plausibilitätsthese auf Grund der Konvergenz mit Lk 22,19 f par.; 1Kor 11,23 ff and Mk 10,45 als Schlüsseltexten aufstellt.

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3.2 Formeln bezüglich des Heilstods und der Erhöhung des Märtyrers Marinus und Henk Jan de Jonge sowie einige ihrer Schüler bauen die Traditionsgeschichte von Jesu Tod und Auferstehung in der vorpaulinischen und paulinischen Soteriologie mit dem Argument aus, dass deren Hauptstrang aus Traditionen besteht, die denen über Sühnetod und Auferstehung der makkabäischen Märtyrer ähneln.32 Ich kann an dieser Stelle nur eine kurze Diskussion der relevanten frühjüdischen Textstellen bieten33 und einige Schlussfolgerungen nennen, die ihre Relevanz für die frühesten Interpretationen des Todes Jesu betreffen. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über Aussagen zu Heilstod und Erhöhung in diesen jüdischen Textstellen und vergleiche sie danach mit den wichtigsten (vor-)paulinischen Belegen.34 Bemerkenswerterweise liegt den Berichten über Antiochus’ Verfolgung und ihren Nachwirkungen in 2Makk 4,7–10,9 und 4Makk 4–18 ein deuteronomistisches Geschichtskonzept zugrunde:35 Gottlose Führer bringen das Volk in eine sündige Situation; sie sind ungehorsam gegenüber Gottes Geboten und rufen dadurch Gottes Zorn und die zeitweilige Bestrafung 32 M. de Jonge, Jesus’ Death for Others and the Death of the Maccabean Martyrs, in: T. Baarda u. a. (Hg.), Text and Testimony, FS A. F. J. Klijn, Kampen 1988, 142–151; nachgedruckt in: ders., Jewish Eschatology, Early Christian Christology and the Testaments of the Twelve Patriarchs. Collected Essays, Leiden 1991, 125–134; ders., Christology in Context. The Earliest Response to Jesus, Philadelphia 1988, 173–188; ders., Envoy, 23–30; H. J. de Jonge, De opstanding van Jezus. De Joodse traditie achter een christelijke belijdenis, in: T. Baarda u. a. (Hg.), Jodendom en vroeg-christendom. Continuïteit en discontinuïteit, Kampen 1991, 47–61; ders., The Original Setting of the ͈̻̓̈́́̈́ͅ ̷̷̳̺̳͂̿̿ ̷͆͂̓ Formula, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian Correspondence, BEThL 87, Leuven 1990, 229–235; ders., De plaats van de verzoening in de vroeg-christelijke theologie, in: A. A. van Houwelingen u. a. (Hg.), Verzoening of koninkrijk, Baarn 1998, 63–88; J. Holleman, Resurrection and Parousia. A Traditio-Historical Study of Paul’s Eschatology in 1 Corinthians 15, NT.S 84, Leiden 1996; D. G. Powers, Salvation through Participation. An Examination of the Notion of the Believers’ Corporate Unity with Christ in Early Christian Soteriology, CBET 29, Leuven 2001. – D. Seeley, The Noble Death. Graeco-Roman Martyrology and Paul’s Concept of Salvation, JSNT.S 28, Sheffield 1990, Heard, Martyr Theology, und S. A. Cummins, Paul and the Crucified Christ in Antioch. Maccabean Martyrdom and Galatians 1 and 2, MSSNTS 114, Cambridge 2001, erörtern Paulus’ Gebrauch von Märtyrertraditionen (oder -mustern) in einer allgemeineren Weise. 33 Ausführliche Erörterungen finden sich in M. de Jonge, Jesus’ Death; van Henten, Maccabean Martyrs, 135–186; Powers, Salvation, 193–211. 34 Wichtig sind: E. Lohse, Märtyrer; S. K. Williams, Jesus’ Death as Saving Event. The Background and Origin of a Concept, HDR 2, Missoula 1975; K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, StNT 7, Gütersloh 1972; M.-L. Gubler, Die frühesten Deutungen des Todes Jesu. Eine motivgeschichtliche Darstellung aufgrund der neueren exegetischen Forschung, OBO 15, Freiburg u. Göttingen 1977, 206–335; M. Hengel, The Atonement. A Study of the Origins of the Doctrine in the New Testament, London 1981; C. Breytenbach, Versöhnung. Eine Studie zur paulinischen Soteriologie, WMANT 60, Neukirchen 1989; ders., „Christus starb für uns“. Zur Tradition und paulinischen Rezeption der sogenannten ‚Sterbeformeln‘, NTS 49, 2003, 447–475, mit weiteren Referenzen. 35 Van Henten, Maccabean Martyrs, 137–141.162.185. Vgl. das Gebet des Asarja in Dan 3.

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des Volkes hervor. In dieser theokratischen Sichtweise wendet sich die Geschichte der Juden durch das Auftreten der Märtyrer zum Besseren (2Makk 6,18–7,42), so wie sie es in ihren ständigen Gebeten von Gott erflehen. Ihr Tod führt – wie im Übergang von Kap. 7 zu Kap. 8 deutlich wird – zur Erneuerung der Bundesbeziehung zwischen Gott und seinem erwählten Volk. Diese Argumentationslinie ist in 2. Makkabäer nicht klar ausgeprägt, auch wenn das ΂͍͖͒ͥ͒ͤͤͤ͜͜ͱ͚͒-Vokabular Gottes Versöhnung mit seinem Volk deutlich anzeigt (7,33, s. u.). Nichtsdestotrotz verweisen einige Details in 2Makk 7 f darauf, dass der Tod der Märtyrer Heilsbedeutung hat, da er mit der Wende von Gottes Zorn in erneutes Erbarmen zusammentrifft. Gemeinsam mit dem ΂͍͖͒ͥ͒ͤͤͤ͜͜ͱ͚͒-Vokabular tauchen die in christologischen Textstellen zentralen „sterben für“- und Hingabeformeln auch in 2. Makkabäer auf. Allerdings schließen sie hier die Nennung der Personen ein, die von solch einer Selbstopferung profitieren (s. u.). Auf Sühne wird nur im Zuge der Anrufung von Gottes Erbarmen in 7,37 f hingewiesen, die Idee des stellvertretenden Leidens und Todes fehlen. Die Märtyrer haben aufgrund der Gottlosigkeit einiger Führer an der Sündigkeit des jüdischen Volkes teil und leiden solidarisch mit dem Rest des Volkes.36 Der Tod der Märtyrer hat also eine Heilsbedeutung im allgemeinen Sinn. In Analogie zur Teilhabe der Märtyrer am Leid des Volkes hat das übrige Volk nach ihrem Tod teil an der erneuerten Bundesbeziehung mit Gott und erfährt Befreiung durch Gott, wie es der Fortgang der Erzählung zeigt. Zuerst ruft Judas Makkabäus den Herrn an, der Unterdrückung des Volkes durch die Seleukiden sowie der Tode der Märtyrer zu gedenken (ֱ͒͒ͥ͒͝) und erneut Barmherzigkeit zu zeigen (֐͖͜‫͚͒ͤض‬, 8,3). Gleich danach notiert der Redaktor, dass Judas und seine Kämpfer unbesiegbar geworden waren, „denn Gottes Zorn hatte sich in Barmherzigkeit verkehrt“ (ͥ‫ٓͥ͠ ͣض͔΃ּ ͣض‬ ΂ͦ΃͐ͦ͠ ͖֬ͣ ͖֔͜͠͞ ͥ΃͖͒͐ͤͣ͘͡, 8,5);37 als deren Beginn (ր΃ͨ‫͎ͣͦ͜͠֐ ͞ר‬, 8,27) wird Judas’ folgender Sieg über Nikanor gedeutet. 8,29 avisiert eine endgültige Aussöhnung zwischen Gott und dem Volk als Diener Gottes. Die postume Rechtfertigung der kleinen Gruppe von Märtyrern wird durch die ր͍͚ͤͥ͒ͤͣ͞ / ր͚͐ͤͥ͘͞͝-Terminologie betont (2Makk 7,9.14, vgl. 36 2Makk 7,18: ͖֝͝‫ ͖͍ͨͤ͞͝͠͡ ͒ͥٓ͒ͥ ͣ׮֑ͥͦ͒͠ ’͚͕ ΃פ͔ ͣل‬ց͒͝΃͖ͥͭͥͣ͞ ͖֬ͣ ͥ‫֑ͥͦ͒ ͞׬‬٠͞ ͱ͖ͭ͞; 7,32: ͖֝͝‫֑ͥͦ͒ ͣפͥ פ͚͕ ΃פ͔ ͣل‬٠͞ ց͒͝΃ͥ͐͒ͣ ͍͖ͤͨ͡͠͝͞. Vgl. ց͒͝΃ͥ͐͒ in 5,17; 6,14 f; ց͒͝΃͍ͥͪ͞ in 10,4;s. auch 7,37 f. Van Henten, Maccabean Martyrs, 136 f; Powers, Salvation, 201 ff. – 4. Makkabäer macht eindeutigere Aussagen über die Heilsbedeutung des Todes, u. a. indem es kultisches Vokabular aufnimmt; van Henten, Maccabean Martyrs, 150–153. Kritisch dazu äußert sich D. P. Bailey, Jesus as the Mercy Seat. The Semantics and Theology of Paul’s Use of Hilasterion in Romans 3:25, Diss. Cambridge 1999. 37 D. R. Schwartz, Divine Punishment in Second Maccabees. Vengeance, Abandonment or Loving Discipline?, in: F. Avemarie u. a. (Hg.), Der Mensch vor Gott. Forschungen zum Menschenbild in Bibel, antikem Judentum und Koran, FS H. Lichtenberger, Neukirchen 2003, 109– 116.

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7,11.23.29.36; s. u.), doch wird das Wie und Wo dieser Rechtfertigung nicht expliziert. Die Details im Text verweisen allerdings auf die Neuschaffung der Märtyrer und ihre sofortige Auferstehung im Himmel als wahrscheinlichste Interpretation.38 Trifft dies zu, tritt in 2. Makkabäer ein zweifaches Konzept von Befreiung zutage: Die individuelle Auferstehung der Märtyrer geht einher mit der irdischen Befreiung der übrigen Juden. 2. Makkabäer kennt keine Bezugnahme auf das Eschaton oder eine kollektive eschatologische Auferstehung.39 In dem Gebet des Asarja gibt es ebenfalls keinen Bezug auf eine gegenläufig zur Befreiung aus dem Feuerofen verlaufende Auferstehung von Daniels Gefährten. Die Septuaginta-Version von Dan 3 deutet allerdings, in Entsprechung mit 2Makk 7, auf einen Heilstod hin.40 Eine Aufnahme von Traditionen zur Heilsbedeutung des Todes jüdischer Märtyrer in (vor-)paulinischen soteriologischen Aussagen über Jesu Tod müsste durch die Übernahme entsprechenden traditionellen Vokabulars deutlich angezeigt werden. Das einschlägige Vokabular zu Heilstod und Auferstehung der Märtyrer in 2. Makkabäer (und entsprechender Textstellen in Asarjas Gebet) kann man wie folgt zusammenfassen:41 a) 2Makk 7,9 kombiniert die „sterben für“-Formel (ր͡͠ͱ͞‫)΃͎͡׉ ͪ΂ͤص‬ und die Auferweckungsformel (ր͚͐ͤͥ͘͞͝, s. u. zu f), mit Gott als Subjekt: ֽ ͕‫ ͣ׮͖͚͓ͤ͒͜ ͦͤͭ͠͝΂ ٓͥ͠ צ‬ր͡͠ͱ͒ͭͥ͒ͣ͞͞ ֝͝‫ͥ ΃צ͡׉ ͣا‬٠͞ ͒‫ͪͭ͞͝͞ ٓͥ͠׈‬ ͖֬ͣ ͚͒֬ͯ͞͠͞ ր͓͚͒͐ͪͤ͞͞ ͗ͪ‫ ͣا֝͝ ͣض‬ր͒ͤͥ͞͏͖͚ͤ („der König der Welt wird uns, weil wir für seine Gesetze gestorben sind, auferwecken vom Tode zu einem erneuerten ewig dauernden Leben.“) b) 2Makk 7,37 bietet eine Hingabeformel: ΂͒‫ͤ ת‬٠͒͝ ΂͒‫͞רͨͦͩ ת‬ ͡΃͕͕͚͐ͪ͠͝ ͖͡΃‫ͥ ת‬٠͞ ͒ͥ͡΃͐ͪ͞ ͭͪ͞͝͞ („[Ich aber] will … Leib und Seele hingeben für die Gesetze der Voreltern …“);42 Eleazars Fürbitte in 4Makk 6 enthält eine Variante der Formel mit ͓͍͒ͪ͜͝͞: րͥ͐ͩͦͨ͞͠͞ ͒‫ͥ׈‬٠͞ ͓͒͜‫צ‬ ͥ‫„( ͞רͨͦͩ ͞ר͝֐ ͞ר‬nimm mein Leben als Ersatz für ihr Leben“, 6,29).43 38

U. Kellermann, Auferstanden in den Himmel. 2 Makkabäer 7 und die Auferstehung der Märtyrer, SBS 95, Stuttgart 1979, 61–94; H. J. de Jonge, Opstanding, 50–55; van Henten, Maccabean Martyrs, 172–182. – 4. Makkabäer kombiniert verschiedene Konzepte in Verbindung mit der Rechtfertigung der Märtyrer; s. van Henten, Maccabean Martyrs, 182 ff. 39 2Makk 12,42–45, wenn original, mag auf eine kollektive eschatologische Auferstehung anspielen; s. van Henten, Maccabean Martyrs, 181 f mit Referenzen. H. J. de Jonge, Opstanding, 50 f und 59, argumentiert, dass 2Makk 15,12–16 mit der Traumerscheinung des Jeremia und Onias die Hypothese einer sofortigen Auferstehung der Märtyrer unterstützt. 40 J. W. van Henten, The Tradition-Historical Background of Romans 3.25. A Search for Pagan and Jewish Parallels, in: M. C. de Boer (Hg.), From Jesus to John. Essays on Jesus and New Testament Christology, FS M. de Jonge, JSNT.S 84, Sheffield 1993, 101–128: 110–115. 41 Auf entsprechendes Vokabular in 4. Makkabäer sei hier nur am Rande verwiesen, da das Werk in einer traditionsgeschichtlichen Diskussion der frühesten neutestamentlichen Textstellen über Jesu Tod und Rechtfertigung nicht verwendet werden sollte; s. o. Abschnitt 2. 42 Vgl. ͩͦͨ͏ für „Leben“ in 2Makk 14,38. 43 Van Henten, Maccabean Martyrs, 151.

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c) 2Makk 7,33 verweist auf eine zukünftige Versöhnung zwischen Gott und seinen Dienern, indem ΂͍͖͒ͥ͒ͤͤͤ͜͜ͱ͚͒ mit Gott als Subjekt und einer Dativkonstruktion, die sich auf die Diener bezieht, verwendet wird.44 d) 2Makk 7,37 (ebenso wie 4Makk 6,28; 9,24; 12,17) verweist auf eine sühnende Funktion des Todes der Märtyrer, die in ihrem anhaltenden Gebet zu Gott um seine erneute Gnade liegt (ֱ͖ͪͣ͜ ͔͖͎ͤ͞ͱ͚͒ …). Auf diese Funktion spielen weitere Wendungen, die zum gleichen Wortfeld wie ͍֭ͤ͜΂͚͒͠͝ gehören, zumindest an.45 Die Auslegung von Dan 3,40LXX ist bekanntlich schwierig. Die Aussage ΂͒‫ͦͤ͠ ͎͞ͱ͚ͤ͡׀ ͚͍͚͒ͤ͜͟֐ ת‬, ׁ͚ͥ ͠‫΂׈‬ ͚֔ͤͥ͞ ͒֬ͤͨͮ͘͞ ͥ͠‫͐ͤ͠ ת͡֐ ͚ͤͭ͞ͱ͚͖͠͡͡ ͣل‬, die mit „(So soll unser Opfer vor dir [Gott] heute geschehen) und möge dir gegenüber Sühne wirken, weil es nichts Ehrloses gibt für die, die ihr Vertrauen in dich setzten“ übersetzt werden kann, weist vermutlich auf das alternative Opfer der drei Versöhnung erflehenden Gefährten selber hin. ֐͚͍͚ͤ͒͟͜ in 3,40 muss als Optativ gedeutet werden.46 Daneben ist die Wendung ‫ͦͤ͠ ͎͞ͱ͚ͤ͡׀‬, bezogen auf Gott, schwer zu verstehen. Überzeugendere Lesarten gehen jedoch von einer Adaption des griechischen Textes aus.47 Der Begriff ֽ ֭͒ͤͥ͜͏΃͚ͣ͠ ͱ͍͒ͥͣ͞͠ (mit Mss. A, V) in 4Makk 17,22 kennzeichnet ebenfalls den sühnenden Charakter des Todes der Märtyrer. Ihr faktisches Sterben zeigen in 2Makk 7 f auch Wörter an, die auf Gottes von Barmherzigkeit gefolgten Zorn hindeuten (ּ΃͔͏, 7,38; ֐ͯ͡΃͔͚͚ͤͥ͒, 7,33;48 ͖֔ͣ͜͠, 8,5, s. o.).49 e) In 2Makk 7,40 bezieht sich die Wendung mit ͎͚͡͡͠ͱ͒ (͖͒ͥ͜͡͞٠ͣ ֐͡‫ͥ ת‬١ ΂ͦ΃͐ٞ ͖͚͡͡͠ͱͯͣ) auf die im Tod erwiesene Treue der Märtyrer gegenüber Gott und seinem Gesetz. Entsprechendes Vokabular findet sich in Dan 3,40LXX (s. o. zu d) und 3,95Theod. – ͚͎ͤͥͦͪ͡: Dan 6,24Theod berichtet, dass Daniel lebendig und ohne Verletzungen aus der Grube der Löwen kam, „weil er seinem Gott vertraute“ (ׁ͚ͥ ֐͖͖͐ͤͥͦͤ͡͞ ֐͞ ͥ١ ͱ͖١ ͒‫;)ٓͥ͠׈‬ vgl. 1Makk 2,59. – ͚ͤͥͭͣ͡: Dan 6,5Theod: ׁ͚ͥ ֐͖͖͐ͤͥͦͤ͡͞ (MT: ĢġĜėġČĜĖ ēĘė). – ͚͐ͤͥͣ͡: 4Makk 16,21 f: „Deshalb braucht auch ihr [die makkabäischen Brüder], die ihr dasselbe Vertrauen [wie Daniel und seine drei

44

Vgl. 2Makk 1,5; 5,20; 8,29. Wie die „sterben für“- und die Hingabeformel entspringt dieses Vokabular nichtjüdischen griechischen Textstellen. C. Breytenbach, Gnädigstimmen und opferkultische Sühne im Urchristentum und seiner Umwelt, in: B. Janowski / M. Welker (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt a. M. 2000, 217–243. 46 Eine detaillierte Analyse bieten M. Hengel / D. P. Bailey, The Effective History of Isaiah 53 in the Pre-Christian Period, in: B. Janowski / P. Stuhlmacher (Hg.), The Suffering Servant. Isaiah 53 in Jewish and Christian Sources, Grand Rapids 2004, 75–146: 94 ff. 47 Nach Powers, Salvation, 223, wurde der Text von den wenigen überlieferten SeptuagintaMss. nicht korrekt überliefert. Der frühe Textzeuge P 967 liest allerdings auch schon ͖͚͚͒ͤ͒͟͜. 48 Vgl. 2Makk 5,17 (րͯ͡΃͔͚͚ͤͥ͒); 5,20 und 8,5. Schwartz, Punishment. 49 Vgl. 2Makk 6,16; 7,23.29; 8,3.27.29. 45

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Gefährten] auf Gott hegt, nicht betrübt zu sein (΂͒‫͞רͥ׈͒ ͞רͥ ͞׎͠ ͣل͖͝׉ ת‬ ͚͐ͤͥ͡͞ ͡΃‫ ;)… ͖͖͖ͥ͐͒͒ͨ͜͞͡ ר͝ ͖ͣͥͨ֔͞͠ ͞׬͖ͱ ͞׬ͥ ͣ׬‬vgl. 4Makk 17,2.50 f) Die Auferweckung der Märtyrer wird beschrieben durch Wendungen mit ր͚͐ͤͥ͘͞͝: 2Makk 7,9: ֝͝‫ … ͣا‬ր͒ͤͥ͞͏͖͚ͤ (mit Gott als Subjekt und den Märtyrern als Objekt, s. o. zu a); eine passive Form mit Gott als Subjekt in 7,14: ͍͚͜͡͞ ր͒ͤͥ͞͏͖ͤͤͱ͚͒ ‫ ;ٓͥ͠׈͒ ’͡׉‬vgl. 12,44 (intransitiv). Das Nomen kommt in einer negativen Aussage über Antiochus IV. vor, für den es keine Auferstehung (ր͍͚ͤͥ͒ͤͣ͞ ͖֬ͣ ͗ͪ͏͞) geben wird; vgl. 12,43. In welcher Weise treten die Formulierungen aus 2. Makkabäer sowie Dan 3 und 6 in frühen neutestamentlichen Textstellen über Tod (und Auferstehung) Jesu auf? Die folgende kurze Übersicht beinhaltet, der oben gegebenen Aufstellung folgend, Übereinstimmungen und Unterschiede: Ad a): In den (vor-)paulinischen soteriologischen Textstellen steht die „sterben für“-Formel im Vordergrund, mit diversen Präpositionen (neben ‫ ΃͎͡׉‬noch ͖͡΃͐ und ͕͚͍) samt Nomen, die Personen oder Sünden bezeichnen.51 Eine Kombination mit der Auferstehungsformel ist in 1Kor 15,3 ff belegt (͈΃͚ͤͥ‫ ͣ׬‬ր͎͡ͱ͖͒͞͞ ‫ͥ ΃צ͡׉‬٠͞ ց͒͝΃͚ͥ٠͞ ֝͝٠͞ … ֐͔͏͔͖΃͚ͥ͒ ͥ‫ط‬ ͎֝͝΃‫)شͥ͐΃ͥ طͥ إ‬,52 freilich mit ֐͔͖͐΃ͪ anstelle von ր͚͐ͤͥ͘͞͝ (s. u.). Ein wichtiger Unterschied im Gebrauch der „sterben für“-Formel ist, dass in 2. Makkabäer diese Formel nie mit einer präpositionalen Spezifizierung ihrer Heilsbedeutung für das Volk steht. Die „sterben für“-Formel zeigt dort das Selbstopfer für Gottes Gesetz an. Demgemäß stehen ihre Varianten für weitere zentrale Elemente des jüdischen Gemeinwesens;53 sie bezieht sich jedoch nie auf einen Tod, der eine Heilsbedeutung für Menschen hat. Ad b): Die Hingabeformel spielt in den frühesten Textstellen über Jesu Tod ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie tritt in Variationen mit Gott als Subjekt und Jesus als Objekt, ferner in reflexiver Form mit Jesus als Subjekt 50

Van Henten, Background, 124 ff. Siehe ր͡͠ͱ͞‫ ͪ΂ͤص‬in Röm 5,6–8 (‫ ΃צ͡׉‬ր͖͓ͤ٠͞ … ‫ٓͥ͠ ΃צ͡׉ … ͦ͐͒͠΂͚͕ ΃צ͡׉‬ ր͔͒ͱٓ͠); 14,15 (ֽ ր͕͖ͧ͜‫ ;)׏͠ ΃צ͡׉ … ͦͤ͠ ͣ׭‬2 Kor 5,14 f (‫… ͍ͪͥ͞͞͡ ΃צ͡׉ … ͍ͪͥ͞͞͡ ΃צ͡׉‬ ‫ͥ׈͒ ΃צ͡׉‬٠͞); 1 Thess 5,10 (͖͡΃‫֝͝ ת‬٠͞ [mit den Mss. ē*, B, 33 u. a.; H. J. de Jonge, Setting, 230; Powers, Salvation, 31 f.46]); 1Kor 8,11 (ֽ ր͕͖ͧ͜‫)ׁ͞ ’͚͕ ͣ׬‬, vgl. Gal 2,21; vgl. noch 1Kor 1,13 (͝‫͝׉ ת΃͖͡ ͘ͱͯ΃ͦ͒ͥͤ֐ ͣٓ͒͂͜͠ ר‬٠͞ …̧). Diskussionen der verschiedenen Interpretationen von ‫ ΃͎͡׉‬bei: R. Bieringer, Traditionsgeschichtlicher Ursprung und theologische Bedeutung der ‫΃͎͡׉‬-Aussagen im Neuen Testament, in: F. van Segbroeck u. a. (Hg.), The Four Gospels 1992, FS F. Neirynck I, BEThL 100A, Leuven 1992, 219–248; wie er dokumentiert, geht die Mehrzahl der Forscher davon aus, dass die Formel Sühne impliziert ebenso wie Substitution oder Stellvertretung. Powers, Salvation, 54–79.102 ff.113 ff.132–136; Breytenbach, „Christus starb für uns“. 52 Wengst, Formeln, 78–95; H. J. de Jonge, Setting. 53 Vgl. variierte Formeln in 2Makk 6,28: ‫ͥ ΃צ͡׉‬٠͞ ͖ͤ͝͞٠͞ ΂͒͐ ց͔͐ͪ͞ ͭͪ͞͝͞ ր͖ͦ͡ͱ͖͚͒͒ͥ͐͗͞͞; 8,21: ֑ͥ͐ͦͣ͠͝͠ ‫ͥ ΃צ͡׉‬٠͞ ͭͪ͞͝͞ ΂͒‫ ͕ͣ͐͠΃ͥ͒͡ ͣضͥ ת‬ր͡͠ͱ͞‫ ;͚͖͞΂ͤص‬13,14: ͔͖͒͐ͪͣ͞͞ ր͔ͪ͐ͤ͒ͤ͞ͱ͚͒ ͎ͨ͝΃͚ ͱ͍͒ͥͦ͞͠ ͖͡΃‫ͪͭ͞͝͞ ת‬, ͖֭΃ٓ͠, ͖ͭͪͣ͜͡, ͒ͥ͡΃͕͐ͣ͠, ͚͖ͥ͐͒ͣ͜͡͠. Vgl. 4Makk 1,8.10: ր͡͠ͱ͞‫ ΃צ͡׉ ͪ΂ͤص‬ր΃͖ͥ‫ ͣض‬/ ͥ‫΂͒͜͠΂ ͣض‬ր͔͒ͱ͐͒ͣ; 6,27: ր͡͠ͱ͞‫פ͚͕ ͪ΂ͤص‬ ͥ‫ ;ͭ͞͠͝͞ ͞׬‬16,25: ր͡͠ͱ͞‫͖ͭ͞ͱ ͞׬ͥ פ͚͕ ͪ΂ͤص‬. 51

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auf.54 Ein beachtlicher Unterschied zu 2. Makkabäer ist wie bei der „sterben für“-Formel, dass sich die Hingabeformel in 2Makk 7,37 auf die Selbstopferungen für das angestammte Gesetz, nicht für Menschen bezieht. Ad c): Entsprechend 2. Makkabäer beziehen sich mehrere paulinische Textstellen auf Versöhnung mit Gott als Subjekt. Diese Versöhnung gründet auf dem Tod Jesu Christi (2Kor 5,18).55 Ad d): Während die sühnende Funktion des Todes der makkabäischen Märtyrer durch einige Aussagen mit ͍֭ͤ͜΂͚͒͠͝ etc. angezeigt wird, fehlt dieses Vokabular, abgesehen von Röm 3,25, in den frühen Bezugnahmen auf Jesu Heilstod. 4Makk 17,22 spielt für die Traditionsgeschichte von Röm 3,25 kaum eine Rolle, da 4. Makkabäer spät datiert werden muss (s. o.) und ֭͒ͤͥ͜͏΃͚ͣ͠ „sühnend“ die beste Lesart ist.56 Jesu Tod hat jedoch ebenso wie der Tod der Märtyrer in 2. Makkabäer eine Heilsbedeutung im Blick auf die Sünden der Gläubigen (Gal 1,4; 1Kor 15,3 ff; 2Kor 5,19.21; Röm 4,25). Wie in 2. Makkabäer impliziert sein Tod gemeinsam mit seiner Auferstehung die Befreiung von Gottes Zorn (1Thess 1,9 f; Röm 5,9).57 Ad e): Ob ͚͐ͤͥͣ͡ in einigen der frühesten christologischen Textstellen Jesu umfassende Treue zu Gott meint(Röm 3,25; Gal 2,16), bleibt umstritten.58 In jedem Fall bezieht sich verwandtes Vokabular auf eine solche Treue, die manchmal mit einer Referenz auf Jesu Rechtfertigung kombiniert wird (‫͏͠΂͒͡׉‬, Röm 5,18 f; ‫͍ͦͥ͒͠͞ͱ ͚΃͎ͨ͝ ͣ͠͠΂͏͡׉‬, Phil 2,8 f).59 Ad f): Mit einer Ausnahme weisen alle neutestamentlichen Textstellen zur Auferstehung eine Formel mit ֐͔͖͐΃ͪ auf, die in 2. Makkabäer nicht auftritt. In Röm 4,24; 8,11 (zweimal); 10,9; 1Kor 6,14; 15,15; 2Kor 4,14; 1Thess 1,10; Gal 1,1 ist Gott Subjekt und Jesus Objekt des Verbs.60 In denpaulischen Briefen tritt das Verb ր͚͐ͤͥ͒͒͞͝ nur einmal in einer vor54 Gal 1,4 (ͥٓ͠ ͕ͭͥͣ͞͠ ֑͒ͦͥ‫ͥ ΃צ͡׉ ͞׬‬٠͞ ց͒͝΃͚ͥ٠͞ ֝͝٠͞); 2,20 (ͥٓ͠ … ͒͡΃͕͒ͭͥͣ͞͠ ֑͒ͦͥ‫ ;)ٓ͠͝֐ ΃צ͡׉ ͞׬‬Röm 8,31 f (ֽ ͱ͖ͭͣ … ‫)ͭͥ͞׈͒ ͖͞΂͕͎ͪ΃͒͡ ͍ͪͥ͞͞͡ ΃צ͡׉‬. Kombination der Hingabe- und Auferweckungsformel: Röm 4,25 (ׁͣ ͒͡΃͖͕ͭͱ͘ ͕͚‫֝͝ ͒ͥ͒ͯͥ͒͝͡΃͒͡ פͥ פ‬٠͞ ΂͒‫֝͝ ͚ͤͪ͐͒͞΂͚͕ ͞רͥ פ͚͕ ͘ͱ΃צ͔֜ ת‬٠͞). Spätere Textstellen: Mk 10,45 (͕͚ٓ͒͠͞ ͥ‫͞רͨͦͩ ͞ר‬ ͒‫ ͞͠΃ͥͮ͜ ٓͥ͠׈‬րͥ͞‫͜͜͠͡ ת‬٠͞); Mt 20,28; Eph 5,2.25; 1Tim 2,6; Tit 2,14; Joh 3,16; 1Joh 3,16; 1Klem 16,7; 21,6; 49,6. W. Popkes, Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, AThANT 49, Zürich 1967; Wengst, Formeln, 55–70. 55 Röm 5,10 f; 2 Kor 5,18 ff. Breytenbach, Versöhnung, 167 ff, verknüpft Röm 3,25 f mit 5,9 ff. R. Bieringer, 2 Korinther 5,19a und die Versöhnung der Welt, in: ders. / J. Lambrecht (Hg.), Studies on 2 Corinthians, BEThL 112, Leuven 1994, 429–459; Powers, Salvation, 66–71. 56 So Bailey, Mercy Seat. Vgl. schon Lohse, Märtyrer, 71 Anm. 2. Zu Röm 3,25 s. auch B. Janowski, Das Leben für andere hingeben. Alttestamentliche Voraussetzungen für die Deutung des Todes Jesu, in: Frey / Schröter, Deutungen, 97–118: 114–117; Heard, Martyr Theology, 461– 516; Cummins, Paul, 86–90, die meine frühere These (van Henten, Background) zusammenfassen. 57 H. J. de Jonge, Setting; Powers, Salvation, 35–38.42–45. 58 Referenzen: van Henten, Background. Powers, Salvation, 223, weist diese Deutung zurück. 59 Vgl. ͚ͤͥͭͣ͡ in Hebr 2,17; 2 Tim 2,13. Siehe auch Hebr 11,33–39; 12,2. 60 Spätere Textstellen verwenden entweder ֐͔͖͐΃ͪ oder ր͚͐ͤͥ͘͞͝: Kol 2,12; Eph 1,20; 1Petr 1,21; Apg 2,24.32; 3,15.26; 4,10; 5,30; 10,40; 13,30.33.34.37; 17,31. Wengst, Formeln, 27–48.

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paulinischen Bekenntnisformel auf, die Jesu Tod und Auferstehung verbindet (͚͖͖ͤͥͮ͡͠͝͞ ׁ͚ͥ ִͤٓͣ͘͠ ր͎͡ͱ͖͒͞͞ ΂͒‫ ת‬ր͎ͤͥ͘͞, 1Thess 4,14).61 Welches Nettoergebnis erzielen wir, wenn wir die Liste zu den jüdischen Märtyrertexten mit frühen soteriologischen Textstellen des Neuen Testaments vergleichen? Das Vokabular, das den Heilstod betrifft, weist eine Kontinuität auf. Es spricht aber für sich, dass die beiden häufigsten Formeln des paulinischen Werkes, die „sterben für“- und die Hingabeformel, in 2. Makkabäer nur einmal vorkommen, noch dazu ohne Nennung der Personen, denen dieser Tod zugute kommt. Auf der anderen Seite sind diese Formulierungen in zeitgenössischen griechisch-römischen Texten belegt, und zwar mit Präpositionen, denen die Nennung besagter Personen folgt.62 Deutlicher ist eine Übereinstimmung bei dem Vokabular, das Versöhnung infolge des Todes der jüdischen Märtyrer oder Jesu betrifft, jeweils mit Gott als Akteur.63 Dabei ist das ͍֭ͤ͜΂͚͒͠͝-Vokabular in den frühesten neutestamentlichen Textstellen jedoch marginal. Alles in allem scheint der Befund nicht dafür auszureichen, die Rede von der Heilsbedeutung des Todes Jesu allein aus der Anwendung jüdischer Märtyrertraditionen herzuleiten. Die in der griechisch-römischen Kultur beliebte Idee des Heilstodes mag diese Deutung ebenfalls beeinflusst haben. Eine solche Annahme wird durch die Kontinuität der „sterben für“- und Hingabeformeln unterstützt, zumal diesen in griechisch-römischen Texten oft eine Präposition folgt, die Personen einführt, denen das betreffende Selbstopfer zugute kommt. Allerdings zeigt bereits 2. Makkabäer, wie solche Traditionen in eine jüdische Sichtweise auf Gottes Bund mit dem erwählten Volk integriert worden sein könnten. Die Beschreibung des Heldentods in 2. Makkabäer hilft uns zu erklären, warum Jesu Tod Auswirkungen auf die Sünde des Volkes sowie auf die Wende von Gottes Zorn in Barmherzigkeit haben kann,64 und eventuell auch, warum sein Tod als uneingeschränkte Treue zu Gott begriffen 61

Powers, Salvation, 142. Zu Recht betont von Breytenbach, „Christus starb für uns“, 467. Vgl. Wengst, Formeln, 38–41. Euripides z. B. verknüpft die „sterben für“-Formel mit der Nennung von Personen, für die der betreffende Tod Heilsbedeutng hat. Van Henten, Maccabean Martyrs 157 ff; J. N. Bremmer, The Atonement in the Interaction of Jews, Greeks, and Christians, in: ders. / F. García Martínez (Hg.), Sacred History and Sacred Texts in Early Judaism. A Symposium in Honour of A. S. van der Woude, CBET 5, Kampen 1992, 75–93; Breytenbach, „Christus starb für uns“, 456–459; Versnel, Making Sense, 230–253. 63 Bieringer, 2 Korinther 5,19a, bezieht sich auf 2Makk 7,33, folgert aber, dass es keine Evidenz für vorpaulinische Elemente in der Verwendung von ΂͍͒ͥ͒ͤͤͪ͜͜ in 2Kor 5,18 ff gibt. 64 Vgl. J. Schröter, Sterben für die Freunde. Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: A. van Dobbeler u. a. (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments, FS K. Berger, Tübingen 2000, 263–287: 283; J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 223. Breytenbach, „Christus starb für uns“, 467, weist eine Verbindung zwischen Jesu Tod und dem Nachlassen des Zornes Gottes zurück: Für Paulus „ist – wie in Röm 5,8 eindeutig formuliert – das ‚Sterben Christi für‘ die Sünder ein Erweis der Liebe Gottes“. 62

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werden konnte.65 Solche Vorstellungen fehlen in zeitgleichen griechischrömischen Quellen. Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, dass Jesu Nachfolger, wenn sie tatsächlich Märtyrertraditionen für die Interpretation seines Todes heranzogen, diese beträchtlich angepasst haben. Ein klarer Hinweis auf solche Anpassungen ist die Tatsache, dass einige (vor-)paulinische Textstellen voraussetzen, dass neben Jesu Tod auch seine Auferstehung Heilsbedeutung hatte (H. J. de Jonge, J. Holleman, D. G. Powers). Solch eine Sichtweise fehlt in 2. Makkabäer, wo die Auferstehung der Märtyrer als individuelle Rechtfertigung verstanden wird.

3.3. Die Passionserzählungen als Märtyrererzählung Die literarische Gattung der Passionserzählung ist wiederholt und mit Hilfe verschiedenster Methoden analysiert worden. Seitdem Martin Dibelius die lukanische Passionserzählung mit dem jüdischen Märtyrertum verknüpft hat, haben viele Forscher entsprechende Motive aus den Passionserzählungen herausgestellt und dabei für unterschiedlichste Arten der Beeinflussung durch jüdische Märtyrertraditionen plädiert.66 Allerdings haben sich nur wenige auf die vollständige Passionserzählung in ihrer heutigen Form konzentriert. Klaus Bergers Versuch, die literarische Form der Passionserzählung zu bestimmen, ist in zweierlei Hinsicht eine Ausnahme.67 Berger stellt die vorherrschende Meinung infrage, dass das Modell des leidenden Gerechten, wie es z. B. in Ps 22 und 69 sichtbar wird, das „Gerüst“ der Passionserzählung forme.68 Er versteht die literarische Form der Passionserzählung als eine kreative Verbindung von zwei bestehenden literarischen Formen seitens der Evangelisten, Formen, die aus den römischen Gerichtsprotokollen einerseits, dem jüdischem Märtyrertum andererseits stammen:69 65

Cummins, Paul, 200. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 19332; 19716, 196.202 ff.299; van Henten, Jewish Martyrs and the Lukan Passion Narrative Revisited, in: R. Bieringer u. a. (Hg.), Luke and his Readers, FS A. Denaux, BEThL 132, Leuven 2005, 325–344. 67 K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984. 68 Vgl. z. B. L. Ruppert, Jesus als der leidende Gerechte? Der Weg Jesu im Lichte eines altund zwischentestamentlichen Motivs, SBS 59, Stuttgart 1972; G. W. E. Nickelsburg, The Genre and Function of the Markan Passion Narrative, HThR 73, 1980, 153–184; Gubler, Deutungen, 95– 205; J. B. Green, The Death of Jesus. Tradition and Interpretation in the Passion Narrative, WUNT II.33, Tübingen 1988. 69 Berger, Formgeschichte, 1984, 338 ff. Berger betont, dass die „generische“ Herkunft der Passionserzählungen nicht allein auf der Basis eines Verdichtungsprozesses von alttestamentlichen Anspielungen zur passio iusti zu verstehen ist. Vgl. schon K. Holl, Die Vorstellung vom Märtyrer und die Märtyrerakte in ihrer geschichtlichen Entwicklung, NJKA 33, 1914, 521–556 = ders., 66

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Bei unserem Versuch, die Gattung der Passionserzählung zu bestimmen, spielt die wichtigste Rolle die Beobachtung, daß in den hellenistischen paganen Akten nur der Prozeß, in den jüdischen Märtyrerberichten nur Leiden und Sterben (wie auch die Versuchung zum Abfall) dargestellt sind.70

Zunächst erscheint Bergers These sehr attraktiv, erweist sich dann aber als doppelt problematisch. Erstens stimmt das, was wir über die Gerichtsprotokolle,71 die commentarii, wissen, nicht genau mit dem Rahmen der Passionserzählungen überein. Die für letztere charakteristischen Gerichtsszenen haben in den Protokollen keine große Bedeutung und treten nur in den sog. Alexandrinischen Märtyrerakten, einer späteren Entwicklung der Protokollform, auf.72 Gary Bisbee folgert aus dem Vergleich beider Formen: None of the forms given to Jesus’ trial in the Gospel accounts can be said to resemble either the form outlined above or any of the commentarius-forms of later periods. We need not tarry very long here, for nearly every element of the Gospel accounts can be rejected in a formal analysis.73

Auch Dormeyers Hypothese, dass die literarische Form eines frühen Stranges der markinischen Passionserzählung sich von einem Gemisch aus jüdischem Märtyrertum und Alexandrinischen Akten herleitet,74 ist kaum aufrechtzuerhalten. Das früheste Exemplar jener Akten, die Acta Isidori,

Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte II, Tübingen, 1928, 68–112, bes. 81. D. Dormeyer, Die Passion Jesu als Verhaltensmodell. Literarische und theologische Analyse der Traditions- und Redaktionsgeschichte der Markuspassion, NTA NF 11, Münster 1974, 238–258, nimmt zwei Versionen der markinischen Passionserzählung an; die ältere Form sei ein christlicher Text über das Märtyrertum, der eine fiktive, der Acta Isidori entsprechende Protokollform verwende. Ebenso ders., Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte. Eine Einführung, Darmstadt 1993, 178: „Die älteste Gestalt der markinischen Passion ist eine christliche Märtyrerakte, in der Elemente der frühjüdischen Martyrien und der hellenistischen Akte miteinander verschmolzen sind.“ Inzwischen hat Dormeyer die Annahme zweier vormarkinischer Stränge der Passionserzählung aufgegeben: ders., Joh 18.1–14 Par Mk 14.43–53. Methodologische Überlegungen zur Rekonstruktion einer vorsynoptischen Passionsgeschichte, NTS 41, 1995, 218–239: 234 Anm. 67. 70 Berger, Formgeschichte, 338 (Kursive im Original). Ebenso ders., Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II.25,2, 1031–1432.1831–1885: 1255 f. Vgl. Dormeyer, Passion, (47.)179: „Die hellenistische Akte beschränkt die Darstellung des Märtyrers auf seinen Prozess, das frühjüdische Martyrium dagegen stellt das Sterben des Märtyrers dar.“ Ders., Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, Stuttgart 22002, 286–289. 71 R. A. Coles, Reports of Proceedings in Papyri, Papyrologica Bruxellensia 4, Brüssel 1966; G. A. Bisbee, Pre-Decian Acts of Martyrs and Commentarii, HDR 22, Philadelphia 1988. 72 Van Henten / Avemarie, Martyrdom, 21 ff.38–41 mit Referenzen. Nach Bisbee, Acts, 65– 79, wurde die commentarii-Formel in den Alexandrinischen Akten imitiert; er schließt aber nicht aus, dass sie sich letztendlich doch von einer bearbeiteten Form der Gerichtsprotokolle ableitet. 73 Bisbee, Acts, 91 f. 74 Siehe Anm. 69.

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datiert vermutlich aus der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. Diese Akten und die Passionserzählungen sind also in etwa derselben Periode entstanden.75 Zweitens wird Berger dem jüdischen Märtyrertum nicht gerecht, wenn er davon ausgeht, dass ihm das Element der Gerichtsszenen fehle. Zwar bleibt der Kontext der Verhaftung und Hinrichtung der Märtyrer in 2Makk 6,18– 7,42 vage. Allerdings finden kurz vor bzw. während der Hinrichtung mehrere Dialoge zwischen den Märtyrern und dem König bzw. seinen Repräsentanten statt. Diese Dialoge, in denen die Märtyrer sich dem König unterwerfen könnten, um ihr Leben zu retten, betonen den freiwilligen Charakter ihres Todes. 4. Makkabäer stellt mehrere ausführliche Dialoge vor die Ausführung von Folter und Todesstrafe (4Makk 5,1–38; 8,1–9,9). Sie finden in einem juristischen Kontext statt, der einer Gerichtsszene nahekommt: Antiochus IV. sitzt wie ein Richter auf einer Plattform, dem die Märtyrer einzeln vorgeführt werden (4Makk 5,1–4; 8,2 f, s. o.). Die bekannte Episode, in der junge Männer den goldenen Adler aus dem Jerusalemer Tempel stehlen (Bell. 1,648–655; Ant. 17,156–164), mündet ebenfalls in eine Gerichtsszene, in der Herodes der Große die Männer verhört. Diese widerstehen Herodes76 und bekennen ihre Taten und Überzeugungen ebenso, wie es jüdische und christliche Märtyrer angesichts ihrer Gegner tun.77 Während die Verbindung zu den griechisch-römischen Gerichtsprotokollen nicht durch enge Wechselbeziehungen gestärkt wird, scheinen sich Berger und Dormeyer mit ihrer These, dass die literarische Form der Passionserzählung teilweise mit jüdischem Märtyrertum korrespondiert, auf sicherem Grund zu befinden. Das Erzählmuster der frühen ausgearbeiteten Textstellen über den Heldentod kann mit dem Grundmuster der Passionserzählungen verglichen werden. Die Texte 2Makk 6,18–31, 2Makk 7, 4Makk 4–12 und, abgesehen von dem letzten narrativen Element, auch Dan 3 und 678 haben ein Ensemble von fünf kohärenten Erzählelementen gemeinsam: (1) Den Ausgangspunkt für die Erzählung bildet ein Erlass von Seiten der (heidnischen) Autoritäten, dessen Übertretung zur Todesstrafe führt. (2) Die Vollstreckung des Gesetzes bringt Juden in Loyalitätskonflikte, da sie nicht zugleich ihm und ihrer jüdischen Lebensart treu bleiben können. 75 H. A. Musurillo, The Acts of the Pagan Martyrs. Acta Alexandrinorum, Oxford 1954, 118– 124, plädiert für den 30. April / 1. Mai 53 n. Chr., wenn die Ereignisse, die in der Acta Isidori beschrieben werden, historisch sind. 76 Bell. 1,652 f; vgl. Ant. 17,158 ff. Vgl. 2Makk 6,23–28; 7; 4Makk 5; 8,1–9,9. 77 G. Buschmann, Martyrium Polycarpi – Eine formkritische Studie. Ein Beitrag zur Frage nach der Entstehung der Gattung Märtyrerakte, BZNW 70, Berlin 1994, 113 f.117 ff.193 ff.205. 229–232.251 ff; van Henten, Maccabean Martyrs, 89 f.237 f. 78 Vgl. Texte über das Martyrium berühmter Rabbinen: R. Aqiba (bBer 61b) und R. Hanina ben Teradyon (bAS 17b–18a; SifDev 32,4 § 307). Van Henten / Avemarie, Martyrdom, 151–166.

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(3) Wenn Juden nach ihrer Verhaftung gezwungen werden zu entscheiden, ob sie dem Erlass folgen oder ihrer Religion und Praxis treu bleiben, beschließen sie, eher zu sterben als sich den Autoritäten zu unterwerfen. (4) Diese Entscheidung wird im Dialog mit dem Machthaber oder anderen Beamten deutlich und wird manchmal von Folter begleitet. (5) Die Hinrichtung wird beschrieben oder wenigstens erwähnt.79 Natürlich variieren die synoptischen Passionserzählungen in Hinblick auf Erzählfolgen und Ausdrücke. Insgesamt liegt aber den drei Erzählungen ein Muster von acht aufeinander folgenden narrativen Elementen zugrunde:80 (1) Die Entscheidung der jüdischen Führer, dass Jesus getötet werden muss (Mk 14,1 f par.; vgl. Joh 11,47–53). (2) Der Verrat durch Judas (Mk 14,10 f.18–21 par.; vgl. Joh 6,70 f; 13,2.21–30). (3) Pessachmahl / Abendmahl (Mk 14,12–25 par.; vgl. Joh 6,51–59). (4) Jesu Verhaftung in Gethsemane bzw. am Ölberg (Mk 14,26.32–52; Mt 26,30.36–56; Lk 22,39–54a; vgl. Joh 18,1–12).

79 Siehe zur Diskussion dieser Muster und der Weise, in der Dan 3 und 6 sich darauf beziehen, van Henten, Maccabean Martyrs, 7–13. 80 Literatur in Auswahl: P. Winter, On the Trial of Jesus, SJ 1, Berlin 1961; A. N. SherwinWhite, The Trial of Christ in the Synoptic Gospels, in: ders., Roman Society and Roman Law in the New Testament, Oxford 1963, 24–47; G. Schneider, Verleugnung, Verspottung und Verhör Jesu nach Lukas 22,54–71. Studien zur lukanischen Darstellung der Passion, StANT 22, München 1969; E. Linnemann, Studien zur Passionsgeschichte, FRLANT 102, Göttingen 1970; D. R. Catchpole, The Trial of Jesus. A Study in the Gospels and Jewish Historiography from 1770 to the Present Day, StPB 12, Leiden 1971; G. Schneider, Die Passion Jesu nach den drei älteren Evangelien, München, 1973; W. Schenk, Der Passionsbericht nach Markus. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der Passionstraditionen, Gütersloh 1974; Dormeyer, Passion; D. P. Senior, The Passion Narrative According to Matthew. A Redactional Study, BEThL 29, Leuven 1975; F. G. Untergaßmair, Kreuzweg und Kreuzigung Jesu. Ein Beitrag zur lukanischen Redaktionsgeschichte und zur Frage nach der lukanischen „Kreuzestheologie“, PaThSt 10, Paderborn 1980; Nickelsburg, Genre; D. P. Senior, The Passion of Jesus in the Gospel of Mark, Wilmington 1984; ders., The Passion of Jesus in the Gospel of Matthew, Wilmington 1985; J. J. Neyrey, The Passion According to Luke. A Redaction Study of Luke’s Soteriology, New York 1985; F. J. Matera, Passion Narratives and Gospel Theologies. Interpreting the Synoptics through their Passion Stories, New York 1986; J. Schreiber, Der Kreuzigungsbericht des Markusevangeliums Mk 15,20b–41. Eine traditionsgeschichtliche und methodenkritische Untersuchung nach William Wrede (1859–1906), BZNW 48, Berlin 1986; R. Feldmeier, Die Krisis des Gottessohnes. Die Gethsemaneerzählung als Schlüssel der Markuspassion, WUNT II.21, Tübingen 1987; M. L. Soards, The Passion according to Luke. The Special Material of Luke 22, JSNT.S 14, Sheffield 1987; Green, Death; K. Kertelge (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und Theologische Deutung, QD 112, Freiburg 21989; R. E. Brown, The Death of the Messiah. From Gethsemane to the Grave, A Commentary on the Passion Narratives in the Four Gospels I–II, London 1994; W. Reinbold, Der älteste Bericht über den Tod Jesu. Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien, BZNW 69, Berlin 1994; J. T. Carroll / J. B. Green, The Death of Jesus in Early Christianity, Peabody 1995; P. Scaer, The Lukan Passion and the Praiseworthy Death, Sheffield 2005.

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(5) Die Verleugnung des Petrus (Mk 14,27–31.54.66–72; Mt 26,31– 35.58.69–75; Lk 22,31–34.54b–62; vgl. Joh 13,36 ff; 18,15–18.25 ff). (6) Die Gerichtsszenen: Jesus vor dem Synhedrion, später vor Pilatus und in Lukas zusätzlich vor Herodes Antipas (Mk 14,53.55–65; 15,1–15; Mt 26,57.59–68; 27,1 f.11–26; Lk 22,54.63–71; 23,1–25; vgl. Joh 18,13 f. 19–24.28–40; 19,1–16a). (7) Jesu Verhöhnung, Geißelung und Hinrichtung (Mk 15,16–41 par.; vgl. Joh 19,2 f.16b–37). (8) Jesu Begräbnis (Mk 15,42–47 par.; vgl. Joh 19,38–42). Ein Vergleich dieses Grundmusters mit dem des frühjüdischen Märtyrertums zeigt, dass es in der Tat bemerkenswerte Gemeinsamkeiten, aber auch wichtige Unterschiede zwischen ihnen gibt.81 Ad (1): Die Entscheidung, dass Jesus sterben muss. Ein Dekret der heidnischen Regierung bildet den Ausgangspunkt für die Märtyrererzählungen (2Makk 6,6 f.18.21; 7,1.42; 4Makk 4,26–5,3; 8,6–10; Dan 3,1–7; 6,6–9). In allen kanonischen Evangelien ist die römische Regierung die Autorität, die Jesus verurteilt und hinrichtet. Die Evangelisten legen jedoch nahe, dass die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten, d. h. Gruppen des jüdischen Establishments, Pilatus manipulieren. Sie entscheiden, dass Jesus getötet werden soll, und liefern ihn dem Prokurator aus (Mk 11,18; Lk 19,47 f; Mk 14,1 f par.; vgl. Mk 14,55.64; Mt 26,59.66; Mk 15,1 f; Mt 27,1 f; vgl. Joh 11,47–53; 18,14).82 Diese Abweichung vom Muster der Märtyrertexte kann mit der Annahme erklärt werden, dass sich die Märtyrertradition in den Passionserzählungen mit der Tradition der verfolgten Propheten83 vermischt hat. Allerdings beschreiben die Hoferzählungen in Dan 3 und 6 ebenfalls das gemeinsame Vorgehen eines Herrschers und bösartiger Widersacher gegen die Helden. Daniels Gefährten werden von ihren als Chaldäern identifizierten Kollegen angeklagt (3,8). Im Buch Daniel erscheinen die Chaldäer als Berufsstand von Weisen (1,4; 2,2.4.10; 4,4) und zugleich als ethnische Einheit (5,30; 9,1). Desgleichen lässt sich der König in Dan 6 von „diesen Männern“ (6,6) – offensichtlich den anderen Satrapen – mani81

Siehe van Henten, Jewish Martyrs, für einen detaillierten Vergleich zwischen jüdischen Märtyrertexten und der lukanischen Passionserzählung. 82 Ein Dekret der heidnischen Regierung kann in christlichen Märtyrerberichten fehlen; trotzdem wäre die Situation eines verhafteten Christen analog zu der von jüdischen Märtyrern. Weil das Christentum keine anerkannte Religion war, waren Christen, die verhaftet wurden, automatisch in großer Gefahr. Eventuell wurde eine Handlung von ihnen gefordert, die den Verzicht auf ihre Überzeugung implizierte, siehe z. B. MartPol 4; 8,2; 9,2–10,1; 12,2. J. Speigl, Der römische Staat und die Christen. Staat und Kirche von Domitian bis Commodus, Amsterdam 1970, 147 f. 83 Z.B. Lk 11,47–51 und Mt 23,29–32.34 ff. Referenzen und Diskussion in O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, WMANT 23, Neukirchen 1967; Gubler, Deutungen, 10–94.

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pulieren, die wissen, dass nur Daniels Religion als Anklagegrund gegen ihn dienen kann (6,5).84 Johannes arbeitet das Motiv der jüdischen Beteiligung an der Hinrichtung Jesu weiter aus (Joh 11,47–53).85 Hier rät Kaiphas den Hohenpriestern und Pharisäern, dass Jesus sterben soll; es sei besser, dass ein Mensch für das Volk sterbe (ր͡͠ͱ͍͞‫)ٓ͒͜͠ ٓͥ͠ ΃צ͡׉ ش‬, als dass der ganze Staat zerstört würde (11,50).86 Kaiphas’ Anweisung, die auch die Heilsbedeutung von Jesu Tod hervorhebt (11,51 f), materialisiert sich in der johanneischen Passionserzählung, die in 18,14 auf Kaiphas’ Aussage zurücklenkt. Joh 11,50 ff und 18,14 können im Licht der Heilstod-Traditionen des jüdischen Märtyrertums gedeutet werden.87 Es sei aber angemerkt, dass die Idee des „einer für alle“-Todes in zeitgenössischer griechisch-römischer Kultur gut bekannt war, wie Henk Versnel gezeigt hat.88 Ad (2): Verrat. Verweise auf den Verrat von jüdischen Märtyrern durch Mit-Juden fehlen im frühjüdischen Märtyrertum.89 Verrat ist jedoch ein wichtiges Motiv in den Erzählungen von Fall und Rechtfertigung weiser Höflinge wie Ahiqar.90 Die Anklage des Daniel und seiner Gefährten durch seine Kollegen in Dan 3 und 6 (3,8–12; 6,5–10.12 ff, s. o.) zeigt, dass dieses Motiv in jüdischen Schriften von der Zeit des Zweiten Tempels an ausgearbeitet wurde. Auch wenn die Anklagen in Daniel mit dem Verrat Jesu durch Judas nicht ganz parallel zu setzen sind, verläuft die Erzählsequenz in Dan 3 und 6 ähnlich wie in den Passionserzählungen: Die Anklage der Kollegen führt zum Verhör durch den Herrscher. Bei Lukas wird der Verrat Jesu mit Satan als dem Gegenspieler Jesu verbunden (Lk 22,3.31.53).91 Ad (3): Pessachmahl / Abendmahl. Zu diesem Teil der Passionserzählungen gibt es keinerlei Parallelen im jüdischen Märtyrertum. Vielleicht baut aber die Formel in Jesu Worten über Kelch und Brot auf Traditionen zum Heilstod der Märtyrer auf (s. o. Abschnitt 3.2). Ad (4): Verhaftung. Jesus geht freiwillig in den Tod, wie es auch Daniel und seine Gefährten sowie die makkabäischen Märtyrer tun.92 Die Ent84 Van Henten, Daniel 3 and 6 in Early Christian Literature, in: J. J. Collins / P. W. Flint (Hg.), The Book of Daniel. Composition and Reception I, VT.S, 83, Leiden 2001, 149–169: 152 f. 85 Vgl. Joh 5,18; 7,1.19.25.32.45; 8,40.59; 10,31; 11,8.16. 86 Hengel, Atonement, 14 f; Schröter, Sterben. 87 H.-W. Surkau, Martyrien in jüdischer und frühchristlicher Zeit, FRLANT 36, Göttingen 1938, 100 f. Siehe o. Abschnitt 3.2 zur „sterben für“-Formel in jüdischen Textstellen. 88 Siehe o. Abschnitt 3.2. Versnel, Making Sense, 234–244. 89 A. Yarbro Collins, The Genre of the Passion Narrative, StTh 47, 1993, 3–28: 14. 90 Van Henten / Avemarie, Martyrdom, 10.24 f. Vgl. Dan 6,5 ff.12.16. Die Passionserzählungen inspirierten Autoren und Redaktoren christlicher Märtyrertexte ohne Zweifel dazu, Analogien zwischen dem Verrat an Märtyrern und dem an Jesus herzustellen, vgl. z. B. MartPol 1,2; 6,2. 91 Van Henten, Jewish Martyrs. 92 Vgl. Senior, Passion in Mark, 80: „The focus of the passion tradition on the arrest, as much as on the trial or the death itself, is validated by other martyrdom accounts, including those of our own day.“

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scheidung der Märtyrer, den gewaltsamen Tod der Unterwerfung unter die Anordnung des Herrschers vorzuziehen, wird in ihren Dialogen mit dem Herrscher deutlich (Dan 3,13–18; 2Makk 6,21–28; 7; 4Makk 5; 6,12–23; 8,1–9,9), die nach der Verhaftung stattfinden.93 In den synoptischen Evangelien geht die Entscheidung Jesu, seinen gewaltsamen Tod zu akzeptieren und dem Willen seines Vaters zu gehorchen, seiner Verhaftung in der Gethsemane- bzw. Ölberg-Perikope voraus, während sie bei Johannes Teil der Verhaftungsepisode ist (Mk 14,36 par.; Joh 18,5.11).94 Matthäus folgt Markus darin, die Not, in der Jesus vor dieser Entscheidung steht, zu betonen (Mk 14,33 f; Mt 26,37 f), während Lukas Jesus in voller Kontrolle seiner Gefühle und der Ereignisse beschreibt. Bei Lukas geht Jesus freiwillig und selbstbewusst auf seinen Tod zu wie Daniel, Daniels Gefährten und die makkabäischen Märtyrer.95 Das Vokabular in Lk 22,42 (͓͖͚ͮ͜͠ und ͱ͎͒͘͜͝) betont Gottes Bestimmung in dem Passionsszenario,96 zeigt aber auch, dass Jesus realisierte, dass er in Gottes Plan gehorsam bleiben und den Kelch des Leidens trinken muss.97 Tatsächlich scheint Jesus bei Lukas, bereits bevor er verhaftet wurde, entschieden zu haben, dass er sein gewaltsames Geschick akzeptieren wird, da er wusste, dass Judas ihn am Ölberg finden würde.98 Jesu Gebet in Mk 14,35 f par.,99 zusammen mit dem zusätzlichen Material in Lk 22,43 f, wird oft mit den Gebeten der Märtyrer in Verbindung gebracht. Sowohl 2. als auch 4. Makkabäer berichten von den vermittelnden Gebeten der makkabäischen Märtyrer kurz vor ihrem Tod (2Makk 7,37 f; 4Makk 6,28 f; 9,24; 12,17). Das Gebet des Asarja in den griechischen Zusätzen zu Daniel kann ebenfalls als Fürbitte interpretiert werden.100 Des Gebet Jesu hat aber eine ganz andere Funktion als die Fürbitte der Märtyrer. Jesu emotionaler Appell an seinen Vater – in Mk 14,35 f und etwas abgeschwächt in Matthäus –, dessen göttlichen Plan für ihn zu verändern, dient nicht als Fürbitte, sondern nimmt sein Gericht und seine Hinrichtung vorweg und führt zu der Einsetzung des Königreichs Gottes.101 93

Van Henten, Maccabean Martyrs, 10 f.98–108. Schneider, Verleugnung, 185. Senior, Passion Narrative, 305 f; A. Feuillet, L’Agonie de Gethsemani, Paris 1977; Feldmeier, Krisis; Berger, Formgeschichte, 336; Untergaßmair, Kreuzweg; Brown, Death, 107–310. 95 Referenzen: van Henten, Jewish Martyrs. 96 Soards, Passion, 92 f.98. 97 J. W. Holleran, The Synoptic Gethsemane. A Critical Study, Rome 1973, 88 f. Der Kelch kann auf die Sokrates-Tradition bezogen sein; er ist aber auch ein Motiv in frühchristlichem Märtyrertum (AscJes 5,13; MartPol 14,2; ApkPetr, Fragment Rainer; EpAp 15 [26]). Eine Diskussion verschiedener Interpretationen bietet Feldmeier, Krisis, 176–185. 98 Schneider, Verleugnung 185. Vgl. H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen 31960, 76; Berger, Formgeschichte, 336. 99 Vgl. Joh 12,27 f; 18,11. 100 Dan 3,25–45LXX/Theod; van Henten, Background, 110–115.122 f. 101 Brown, Death, 163–172. Für Lk 22,43 f s. van Henten, Jewish Martyrs. 94

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Ad (5): Die Verleugnung des Petrus passt weder zu Dan 3; 6 noch zu den makkabäischen Märtyrerberichten, in denen Zögern oder Verleugnung der selbst-kontrollierten Haltung der jüdischen Helden entgegenlaufen würden. Andererseits verstärkt diese Passage in allen vier Evangelien die narrative Linie des Märtyrermusters und erhöht die Spannung durch den Aufbau der Klimax in den Gerichtsszenen. Markus und Matthäus verflechten Jesu Voraussage der Verleugnung mit der Gethsemane- sowie der VerhaftungsPerikope (Mk 14,27–31; Mt 26,31–35). Sie informieren den Leser darüber, dass alle Jünger bei der Verhaftung Jesu flohen, Petrus dann aber dem verhafteten Jesus in einiger Entfernung folgte (Mk 14,50.54; Mt 26,56.58). Überdies verbinden sie die offene Verleugnung des Petrus mit der ersten Befragung Jesu (Mk 14,66–72; Mt 26,69–75). In dieser Weise stellt Petrus’ Auftreten einen deutlichen Kontrast zu dem Verhalten und den Antworten Jesu in der Gerichtsszene dar. Dieser wird durch das Vokabular verstärkt, das auf einen gleichzeitigen Tod mit Jesus (Mk 14,31; Mt 26,35; vgl. Joh 13,37 f) und wiederholte Verleugnungen (ր΃͎͚͒͞͠͝, Mk 14,68.70; Mt 26,70.72; vgl. Lk 22,57; Joh 13,38; 18,25.27; ր͒͡΃͎͚͒͞͠͝ Mk 14,30 f.72; Mt 26,34 f.75; Lk 22,34.61) hinweist.102 In der lukanischen Redaktion klammert die Verleugnung des Petrus Jesu Verhaftung ein und geht dessen erstem Verhör voraus (Lk 22,31–34.54–62). Dies konstruiert auf andere Weise im Kontext der Gerichtsszene Jesus und Petrus als Antipoden und nimmt Jesu Antworten gegenüber seinen Widersachern in dieser Szene vorweg.103 Ad (6): Gerichtsszene. Die Dialoge zwischen Daniels Gefährten bzw. den Märtyrern und ihren Gegnern (Dan 3,13–18; 2Makk 6,21–28; 7; 4Makk 5; 6,12–23; 8,1–9,9) führen die Motive für einen Heldentod aus und sind somit wichtige narrative Werkzeuge für die Darstellung dieser Helden als exemplarischer Mitglieder der exilierten judäischen Gemeinschaft in Babylon bzw. des jüdischen Volkes in Juda selbst.104 In ähnlicher Weise lassen die verschiedenen Beschreibungen der Gerichtsszene Jesu (Mk 14,53.55– 65; 15,1–15; Mt 26,57.59–68; 27,1 f.11–26; Lk 22,54.63–71; 23,1–25; Joh 18,13 f.19–24.28–40; 19,1–16a) und die Kulisse der Dialoge die Identität Jesu hervortreten (Messias, Sohn Gottes, Menschensohn, König der Juden) und weisen die Gründe für seinen Tod aus der Sicht seiner Gegner auf.105 102 J. R. Edwards, Markan Sandwiches. The Significance of Interpolations in Markan Narratives, NT 31, 1989, 193–216 [= D. E. Orton (Hg.), The Composition of Mark’s Gospel. Selected Studies from Novum Testamentum, Leiden 1999, 192–215]: 209 ff; M. A. Tolbert, Sowing the Gospel. Mark’s World in Literary Historical Perspective, Minneapolis 1989, 217 f. 103 Soards, Passion, 83–88.107 f; Brown, Death, 625 f. 104 Van Henten, Maccabean Martyrs, 125–269. 105 Berger, Formgeschichte, 335. Vgl. Senior, Passion Narrative, 337: „The identity of Jesus as the Son of God and the vindication of this claim by the very manner of the Messiah’s death are the dominant themes of the final chapter of the Passion story.“

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Der Hohepriester oder das Synhedrion und Pilatus offenbaren die einzigartige Bedeutung der Person Jesu mit ihren Fragen, die einander ähneln: – Die zweite Frage des Hohepriesters: „Bist du der Messias, der Sohn des Gesegneten?“ oder „… (sag uns) ob du der Messias, der Sohn Gottes bist?“; (͖֬) ͤ‫ ͔ٓͥ͘͜͠͠׈͖ ٓͥ͠ ͣ׬֭ͦ ֽ ͣ׬͚ͥͤ΃ͨ ֽ ֲ͖ ׮‬/ ֽ ֭ͦ‫);( ͖ٓ͠ͱ ٓͥ͠ ͣ׬‬ (Mk 14,61; Mt 26,63); die Fragen des Synhedrions: ͖֬ ͤ‫( ͚ͣͭͥͤ΃ͨ ֽ ֲ͖ ׮‬Lk 22,67); ͤ‫( ;͖ٓ͠ͱ ٓͥ͠ ͣ׬֭ͦ ֽ ֲ͖ ͞׎͠ ׮‬Lk 22,70). – Die Frage des Pilatus: „Bist du der König der Juden“; ͤ‫ֽ ֲ͖ ׮‬ ͓͚͖͒ͤ͜‫ͥ ͣ׮‬٠͞ ̻͕ͦ͒͐ͪ͠͞; (Mk 15,2; Mt 27,11; Lk 23,3; Joh 18,33).106 Die bemerkenswert unterschiedlichen Antworten Jesu auf diese Fragen in den vier Passionserzählungen wurden oft mit den Aussagen der Märtyrer gegenüber ihren Gegnern verglichen. Jesu Bestätigung auf die Frage des Hohepriesters (oder des Synhedrions) in Mk 14,61 f: „Ich bin es“ (֐͔ͯ ͖͚֬͝), gefolgt von seiner rätselhaften Aussage: „ ‚Ihr werdet den Menschensohn auf der rechten Seite der Macht sitzen sehen‘ und ‚mit den Wolken des Himmels kommend‘ “ haben Matthäus und Lukas adaptiert; hier antwortet Jesus in einer ausweichenderen Weise (Mt 26,63 f; Lk 22,67 ff). Nach Adela Yarbro Collins korrespondiert Jesu bestätigende Antwort in Mk 14,62 mit den Reden der Märtyrer an ihre Gegner in 2. und 4. Makkabäer: This element makes the Markan form of the passion narrative more similar to the Maccabean accounts in which the speeches of the dying heroes have a didactic function. It also makes the ͖͖ͥͦͥ͜͏ of Jesus more similar to the Hellenistic and Roman types in which the speech of the protagonist is the major focus.107

Was bedeuten die ausweichenden Antworten Jesu: „Du hast es gesagt …“ (Mt 26,64), „Wenn ich es euch sage, werdet ihr es nicht glauben, und wenn ich euch frage, werdet ihr mir nicht antworten …“ (Lk 22,67 f), „du sagst, dass ich es bin“ (Lk 22,70), oder „du sagst es“ (Lk 23,3; vgl. 23,9: keine Antwort)?108 Sie widersprechen der Wichtigkeit der Fragen nicht, und die narrativen Sequenzen setzen voraus, dass die Antwort für den Leser „ja“ ist. Nichtsdestotrotz unterscheiden sich die Antworten bei Matthäus und Lukas deutlich von den beleidigenden Aussagen, die die jüdischen Märtyrer und die Protagonisten der hellenistischen und römischen Geschichten von Heldentoden ihren Gegnern entgegenschleudern.109 Allerdings variieren die 106

Vgl. Mk 15,12.18.26.32.39 par.; Lk 23,37 f; Joh 19,3.7–15.19–22. Herodes Antipas’ Frage in Lk 23,8 f wird nicht im Wortlaut angeführt. 107 Yarbro Collins, Genre, 19. 108 Vgl. Lk 22,63 f während der Verhöhnung, vor Jesu Verhör: keine Antwort auf die Frage. Vgl. auch Joh 19,9 f. 109 G. N. Stanton, Jesus of Nazareth in New Testament Preaching, MSSNTS 27, Cambridge 1974, 34 ff; Green, Death, 316–320; Brown, Death, 772; van Henten, Maccabean Martyrs, 163– 172.

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Erwiderungen der jüdischen Märtyrer gegenüber ihren Gegnern. Manchmal schweigen sie in einer sich selbst bestätigenden Weise (2Makk 7,25; vgl. 4Makk 6,5.9 ff; bBer 61b) und sprechen nur kurz vor ihrem Tod zum Zeichen ihrer Überlegenheit über ihre irdischen Gegner.110 Diese Haltung mag trotz der verschiedenen Kontexte Jesu Antwort in Lk 22,68 ff näher kommen. Hier macht Jesus erst seine Vernehmer lächerlich, identifiziert sich dann selbst als Menschensohn und kündigt mit Souveränität an, dass dieser Menschensohn zur Rechten der Macht Gottes sitzen wird, und zwar „von jetzt an“.111 Johannes betont die Antithese zwischen den irdischen Mächten und Jesu Autorität, indem er einen selbstbewussten Jesus präsentiert, der seine Gegner in der Debatte herabwürdigt, wie es die makkabäischen Märtyrer tun (Joh 18,19–23; vgl. 18,33–38; 19,9 ff). Jesu kurze Dialoge mit Pilatus über sein Königreich, das nicht von dieser Welt ist (18,34–37), und über Pilatus’ Macht (֐ͦͤ͐͒͟͠, 19,10 f) lassen zumindest die Antithese zwischen säkularer Herrschaft und Gottes Macht anklingen. Diese Motive liegen auch den Hofgeschichten von Dan 3 und 6, den makkabäischen Märtyrererzählungen und Josephus’ Geschichte von den jungen Männern, die den Adler des Herodes stahlen,112 zugrunde. Ad (7): Spott und Kreuzigung. Die Kombination von physischer Gewalt oder Folter und Verhöhnung tritt im jüdischen Märtyrertum wiederholt auf. Zwei der sieben makkabäischen Brüder werden gefoltert, bevor man sie fragt, ob sie an dem vom König angeordneten Opfermahl teilnehmen (2Makk 7,7.10). Der Redaktor verwendet hier ֐͚͔͒ͭͣ͝͡͝ „Verspottung“ und ֐͒͐͗ͪ͝͡ „verhöhnen“, um die grauenhafte Folter dieser Brüder einzuführen.113 Die Beschreibung von Eleazars Folter in 4. Makkabäer beginnt vielleicht mit seiner Verspottung (6,2 ff). Der Hinrichtung Jesu geht seine Verspottung durch Soldaten des Pilatus voraus (Mk 15,16–20; Mt 27,27– 31; Joh 19,1–5). Sie wird durch die physischen Strafen und Verhöhnungen während der Gerichtsszenen antizipiert (Mk 14,65; Mt 26,67; Lk 22,63 ff;114 vgl. Joh 18,22; Lk 23,11). Es gibt eine weitere Spottszene, während Jesus am Kreuz hängt (Mk 15,29–32; Mt 27,39–44; Lk 23,35–39). Die synoptischen Evangelien verwenden jeweils das in 2. Makkabäer seltene Stichwort ֐͒͐͗ͪ͝͡ „jemanden durch physische Strafe oder Folter zum Narren zu machen“ (Mk 15,20.31; Mt 27,29.31.41; Lk 22,63; 23,11.36).115 110

Anders Stanton, Jesus, 34. Soards, Passion, 81.95. Eine weitere Umkehrung der Autorität findet sich in Lk 22,25–30. 112 Bell. 1,648–655; Ant. 17,156–164. 113 G. Bertram, Art. ͒͐͗ͪ͡ ΂ͥ͜., ThWNT V, 632; J. Lust / E. Eynikel / K. Hauspie, A GreekEnglish Lexicon of the Septuagint, Stuttgart 1992, 146; van Henten, Maccabean Martyrs, 107 f. Vgl. 1Makk 9,26; 2Makk 8,17; Ri 19,25; SapSal 12,25; Sir 27,28; 3Makk 5,22 und Hebr 11,36. 114 Zur Umstellung dieses ersten Spottes bei Lukas s. van Henten, Jewish Martyrs. 115 Vgl. Mt 2,16; 20,19 par.; Lk 14,29. 111

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Das Muster der Hinrichtung Jesu passt zu dem jüdischen Märtyrertums; die Hinrichtung selber weicht aber davon ab. In einer Linie mit jüdischen und christlichen Martyrien stellt Lukas Jesu Kreuzigung stärker als öffentliches Spektakel dar, als Markus und Matthäus es tun: Eine Volksmenge folgt Jesus zum Ort seiner Hinrichtung, u. a. Frauen, die sich auf die Brust schlagen und um ihn klagen (Lk 23,27); das Volk steht als Zuschauer dabei (΂͒‫΃͖ͪͱ ͣ׬͒͜ ֽ ͚͖΂͏͖֭ͥͤ ת‬٠͞, 23,35); nach Jesu Tod kehrt die Menge der Schaulustigen klagend nach Hause zurück (23,48).116 Über die Leiden Jesu am Kreuz informiert Lukas indes ebenso nüchtern wie Markus, Matthäus und Johannes. Diese Nüchternheit hebt sich deutlich von den bildhaften Beschreibungen der Folter der Märtyrer in 2Makk 7 und 4. Makkabäer ab.117 Ad (8): Begräbnis. Eine Parallele zu Jesu Begräbnis nach seiner Kreuzigung – markanter Teil aller Passionserzählungen – fehlt in den frühjüdischen Märtyrertexten. Von einem Begräbnis sprechen jedoch die vitae prophetarum, die über den besonderen Tod der Propheten Israels berichten und den Konventionen griechischer Biographien gemäß verfasst wurden. Diese Berichte sind wesentlich kürzer und trockener als die Todesszenarien der Märtyrer. Sie konzentrieren sich v. a. auf den Ort von Tod und Begräbnis sowie auf die Person, die die Hinrichtung des Propheten veranlasst hat.118 Um das Bisherige zusammenzufassen: Es bestehen signifikante Entsprechungen zwischen den Passionserzählungen und den frühjüdischen Märtyrertexten.119 Möglicherweise war Markus mit solchen Traditionen vertraut und hat ein Erzählmuster jüdischen Märtyrertums übernommen. Allerdings zeigt mein Vergleich, dass die Beschreibung Jesu in den verschiedenen Abschnitten der Passionserzählungen – Verhaftung, Gerichtsszene, Spott, Hinrichtung und Begräbnis – sich z. T. von der Beschreibung jüdischen Märtyrertums unterscheidet. Es wäre deshalb irreführend, die Passionserzählungen als Märtyrererzählungen zu kategorisieren.120 Elemente des jüdischen Märtyrertums wurden in die Passionserzählungen integriert, in denen sie teilweise eine neue Stellung oder Bedeutung einnahmen. Die Darstellung Jesu als narrativer Schlüsselfigur unterscheidet sich deutlich von der 116

A. Stöger, Eigenart und Botschaft der lukanischen Passionsgeschichte, BK 24, 1969, 4–8: 8; B. E. Beck, „Imitatio Christi“ and the Lukan Passion Narrative, in: W. Horbury / B. McNeil (Hg.), Suffering and Martyrdom in the New Testament. Studies presented to G. M. Styler by the Cambridge New Testament Seminar, Cambridge 1981, 28–47: 31 f; Scaer, Passion, 170. Vgl. 4 Makk 17,11–16 (ͱ͖ͪ΃͖‫ ͞ل‬in 17,14). 117 Scaer, Passion, 174. Zu Lk 23,34.39–43 s. van Henten, Jewish Martyrs. 118 D. Satran, Biblical Prophets in Byzantine Palestine. Reassessing the Lives of the Prophets, SVTP 11, Leiden 1995; A. M. Schwemer, Studien zu den frühjüdischen Prophetenlegenden Vitae Prophetarum I–II, TSAJ 49–50, Tübingen 1995–1996. 119 Vgl. Untergaßmair, Kreuzweg, 167, in Bezug auf Lukas: „Die formale Ähnlichkeit mit ‚Märtyrerdarstellungen‘ soll nicht geleugnet werden.“ 120 Matera, Passion Narratives, 151.

Jüdisches Märtyrertum und der Tod Jesu

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der oft eher aggressiven jüdischen Märtyrer. Sie korrespondiert stärker mit der Tradition des leidenden Gerechten. Daher darf man die Anspielungen innerhalb der Passionsgeschichte auf Passagen der Hebräischen Bibel / des Alten Testaments, die sich von dieser Tradition ableiten, nicht außer Acht lassen. Wie u. a. Adela Yarbro Collins hervorgehoben hat, sollten die Passionserzählungen auch als Erfüllung einer Gruppe solcher Passagen in einem bestimmten narrativen Kontext gelesen werden, der den einzigartigen Charakter Jesu als Sohn Gottes und Messias hervortreten lässt und zeigt, wie er bis zu seinem Tod dem Willen Gottes gegenüber treu geblieben ist.121 Die Abweichungen der Passionserzählungen von den jüdischen Märtyrertexten können in beachtlichem Maß durch die Annahme erklärt werden, dass jüdische Traditionen über den leidenden Gerechten und die verfolgten Propheten gemeinsam mit topoi der griechisch-römischen Berichte vom Tod berühmter Personen eingefügt wurden.122 Letztlich bleibt es eine Geschmacksfrage, ob man jüdisches Märtyrertum, das Muster des leidenden Gerechten oder griechisch-römische ͖͖ͥͦͥ͜͏-Berichte als Gerüst der Passionserzählungen ansieht. Diese Erzählungen sind offensichtlich keine Weiterführung einer einzigen literarischen Gattung; sie leiten sich, wie Klaus Berger zu Recht betont, von einer Mischung verschiedener literarischer Formen ab.

4. Ergebnisse Nach einer kurzen Diskussion einiger aktueller Zugänge zum antiken jüdischen Märtyrertum konzentriert sich dieser Beitrag auf drei Möglichkeiten, Jesu Tod mit frühjüdischem Märtyrertum interpretatorisch zu verbinden. Die historische Plausibilität dieser Interpretationen variiert. Die Hypothese, dass Jesus seinen nahenden Tod als Martyrium deutete, weist eine gewisse Plausibilität auf. Allerdings ist die Evidenz von authentischen Worten Jesu zur Heilsbedeutung seines Todes nicht substantiell genug, um zu behaupten, dass er sich selbst als ein jüdischer bzw. der ultimative jüdische Märtyrer verstand.123 Nimmt man jedoch versuchsweise an, dass Jesus seinen künftigen gewaltsamen, durch seine Ankündigung des 121

A. Yarbro Collins, From Noble Death to Crucified Messiah, NTS 40, 1994, 481–503. Kellermann, Auferstanden, 46–53. Nach Yarbro Collins, Genre, 20, steht die früheste Version der markinischen Passionserzählung in ihrer Form den griechisch-römischen Berichten über den Tod berühmter Menschen sehr nahe: „The account of the death of Jesus in the pre-Markan passion narrative belongs to the genre ͖͖ͥͦͥ͜͏; it is an interpretation of the execution of Jesus as the death of the messiah. The account as modified and expanded by the author of Mark belongs to the same genre.“ Ebenso Dormeyer, Testament, 177–181. 123 Mit Schürmann, Jesus, 215 f; M. de Jonge, Envoy, 30. 122

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Königreiches Gottes ausgelösten Tod als heilskräftig für andere begriff und zudem mit seiner Rechtfertigung durch Gott rechnete, können Martyriumstraditionen helfen zu erklären, wie er zu solch einer Einschätzung kam.124 Dass jüdisches Märtyrertum als Modell für die frühesten Antworten auf Jesu Tod und Auferstehung diente, ist ebenfalls schwer zu belegen. Die „sterben für“- und Hingabeformeln, die Jesu Heilstod ausdrücken, haben engere Parallelen mit griechisch-römischen Passagen als mit jüdischen Märtyrertexten. Frühes Vokabular, das Jesu Tod als Sühne deutet, ist auf Röm 3,25 beschränkt, wobei die Kontinuität mit Vokabular aus jüdischen Märtyrertexten unsicher bleibt. Auf der anderen Seite scheint Vokabular, das sich auf die Versöhnung zwischen Gott und seinem Volk infolge eines Märtyrertodes bezieht, von Paulus und 2. Makkabäer geteilt zu werden. Märtyrertraditionen können dabei geholfen haben, diesen Aspekt von Jesu Heilstod zu formulieren.125 Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass Jesu Tod eine Heilsbedeutung für die Sünden seiner Nachfolger hat (Gal 1,4; 1 Kor 15,3 ff; 2 Kor 5,19.21; Röm 4,25) und zusammen mit seiner Auferstehung die Befreiung von Gottes Zorn bringt (1Thess 1,9 f; Röm 5,9).126 Dieses Konzept leitet sich schwerlich von griechisch-römischen HeldentodTraditionen her. Insofern mögen Traditionen jüdischen Märtyrertums einige Aspekte zu frühen Interpretationen von Jesu Heilstod beigesteuert haben. Die Gattung der Passionserzählung wurde ebenfalls mit jüdischen Märtyrertexten verbunden. Obwohl einiges gegen die Hypothese von Dibelius, Dormeyer und Berger gesagt werden kann, fordert die Nähe der Passionserzählungen zu den Märtyrertexten einen eingehenden Vergleich der beiden Textgruppen in literarischer Perspektive, der hilft, Besonderheiten der Passionserzählungen hervorzuheben. Signifikante Entsprechungen (freiwilliger Tod, Dialoge in den Gerichtsszenen, Spott) legen nahe, dass Elemente aus den jüdischen Martyriumsberichten in die Passionserzählungen integriert wurden. Auf der anderen Seite machen signifikante Unterschiede deutlich, dass es unangemessen wäre, die Passionserzählungen als Märtyrertexte zu klassifizieren. Mein Vergleich zeigt, dass mehrere erzählende Elemente aus anderen Traditionen und den mit ihnen verbundenen literarischen Formen stammen. Demzufolge stellt die Gattung der Passionserzählungen eine Mischung aus verschiedenen literarischen Formen dar.

124

Vgl. Schürmann, Jesus (s. o. Anm. 24); Dunn, Jesus (s. o. Anm. 25). Nuancierungen wie die Vorstellung der Stellvertretung und Substitution sind in hellenistisch-jüdischen Textstellen über den Heilstod noch abwesend. 126 Siehe o. Anm. 57. 125

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Jesus’ Crucifixion in Luke and Acts The Search for a Meaning vis-à-vis the Biblical Pattern of Persecuted Prophet*

Introduction As New Testament traditions themselves testify, Jesus’ crucifixion constituted a core problem for the nascent Jesus movement. That a messiah, instead of bringing salvation to the people of Israel, had been put to death could have been and seemingly was perceived as scandalous and nonsensical. Awareness of the problem is explicit in 1Cor 1:23: “But we preach Christ crucified, a stumbling block to Jews and a folly to Gentiles” (͈΃͚ͤͥ‫͎ͪ͞͠͞͝΃ͦ͒ͥͤ֐ ͞׬‬, ִ͕͚ͦ͒͐ͣ͠͠ ͝‫͕͍͒͜͞͠͞΂ͤ ͞צ‬, ֔ͱ͖͚ͤ͞͞ ͕‫צ‬ ͪ͝΃͐͒͞). In 1Cor 2:6–13, Paul claimed that the solution had been provided not by human reasoning but by the Holy Spirit. As for the author of Luke, he clearly indicates his perception of the basic difficulty faced by the community of Jesus’ followers immediately after the death of their teacher:1 While the disciples could encompass a prophet who had been persecuted and executed, the crucifixion stood at first glance in stark contradiction to the expectation that Jesus would bring messianic salvation (Luke 24:17– 21): 17 And he said to them, “What is this conversation which you are holding with each other as you walk?” And they stood still, looking sad. 18 Then one of them, named

Cleopas, answered him, “Are you the only visitor to Jerusalem who does not know * The issue is further developed in my recent book, Mapping the New Testament: Early Christian Writings as a Witness for Jewish Biblical Exegesis, Leiden 2007, chapter 7. 1 The question of the historical accuracy of Luke / Acts in its reconstruction of the beliefs and expectations within the nascent Christian community cannot be elaborated here. The merits of its author as a historian constitute a long-debated issue. See, for example, H. J. Cadbury et al., The Greek and Jewish Traditions of Writing History, in: F. J. F. Jackson / K. Lake (ed.), The Beginnings of Christianity, Part I: The Acts of the Apostles, vol. 2, London 1922, 16–29; C. J. Hemer, The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History, Tübingen 1989, esp. 63–100, 415–427; S. Mason, Josephus and the New Testament, Peabody 1992; G. E. Sterling, Historiography and Self-Definition: Josephos, Luke-Acts and Apologetic Historiography, Leiden 1992, 184–229 (ch. “Josephus and Luke-Acts”); L. Alexander, The Preface to Luke’s Gospel: Literary Convention and Social Context in Luke 1.1–4 and Acts 1.1, Cambridge 1993; idem, Fact, Fiction, and the Genre of Acts, NTS 44, 1998, 380–399.

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the things that have happened there in these days?” 19 And he said to them, “What things?” And they said to him, “Concerning Jesus of Nazareth, who was a prophet mighty in deed and word before God and all the people, 20 and how our chief priests and rulers delivered him up to be condemned to death, and crucified him. 21 But we had hoped that he was the one to redeem Israel. Yes, and besides all this, it is now the third day since this happened.2

Other Gospels also betray signs of despair, but Luke greatly enhances the effect, elaborating at length on the theme with recurring episodes of the disciples’ disbelief and bewilderment. This critical issue is addressed again in the opening episode of Acts, where the author has the disciples once again express their uneasiness about the obvious lack of fulfillment of the messianic scenario, whereas Jesus explains that the hoped-for restoration of Israel needs to be preceded by a preparatory mission (Acts 1:6–8): 6 So when they had come together, they asked him, “Lord, will you at this time restore the kingdom to Israel?” 7 He said to them, “It is not for you to know times or seasons which the Father has fixed by his own authority. 8 But you shall receive power when the Holy Spirit has come upon you; and you shall be my witnesses in Jerusalem and in all Judea and Samaria and to the end of the earth (ͥ‫)ͣض͔ ͣض‬.”

This passage, as well as the one that immediately follows, clearly indicates that the author does not wish to abrogate the hope for Israel’s redemption, which seems to be presented as having also political overtones. Daniel Schwartz argued convincingly that the tradition reflected here relates to the mission within the limits of the Land of Israel – according to him, that would be the meaning of ͥ‫ ͣض͔ ͣض‬in Acts 1:8, which in principle, like its Hebrew equivalent Ĩīē[ė], can denote both the world and the particular territory populated by the people of Israel.3 If his analysis is accepted, we have one more indication that according to the tradition reflected in the beginning of Acts, the mission inspired by the Holy Spirit aimed at preparing the ground for Israel’s salvation. The redemption is thus postponed, but not without good reason, and in due time Jesus will return to restore the kingdom to Israel as expected (Acts 1:9–11): 9 And when he had said this, as they were looking on, he was lifted up, and a cloud took him out of their sight. 10 And while they were gazing into heaven as he went, behold, two men stood by them in white robes, 11 and said, “Men of Galilee, why do

you stand looking into heaven? This Jesus, who was taken up from you into heaven, will come in the same way as you saw him go into heaven.” 2 Unless indicated otherwise, quotations from the New Testament and the Hebrew Bible throughout this paper follow the Revised Standard Version. 3 D. R. Schwartz, The End of the Ge (Acts 1:8): Beginning or End of the Christian Vision? JBL 105, 1986, 669–676.

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The same crucial section, which provides a transition from the Gospel of Luke to Acts, indicates that the problem was seen by the author as an exegetical one (Luke 24:25–27, 44–46): 25 And he said to them, “O foolish men, and slow of heart to believe all that the prophets have spoken! 26 Was it not necessary that the Christ should suffer these things and enter into his glory?” 27 And beginning with Moses and all the prophets,

he interpreted to them in all the scriptures the things concerning himself. (…) 44 Then he said to them, “These are my words which I spoke to you, while I was still

with you, that everything written about me in the Torah (law) of Moses and the prophets and the psalms must be fulfilled.” 45 Then he opened their minds to understand the scriptures, 46 and said to them, “Thus it is written, that the Christ should suffer and on the third day rise from the dead”.

In the Gospel narrative, this novel exegesis is ascribed to the resurrected Jesus himself, whereas in Acts 2:1–36 it is presented as communicated by the Holy Spirit. An indication may be discerned here that providing an exegetical justification for the scandal of the Messiah’s death – a novelty vis-à-vis the current messianic exegesis of biblical “stock” proof texts – was one of the most urgent tasks of the creators and transmitters of the nascent Christian tradition. One does not have to believe that the trauma of the disciples following Jesus’ crucifixion and their way of coping with and overcoming it were primarily of an exegetical nature, but the exegetical aspect does feature prominently in the culture-conditioned literary evidence that has reached us. I will focus on one of the exegetic options that have been available to the creators of the early Christian narrative – the biblical motif of the “persecuted prophet”. It will be suggested below that this motif was consciously subdued in important parts of the New Testament tradition; possible reasons for that will also be outlined. As for the historical Jesus, there are numerous indications that he did see himself as a prophet. Jesus’ self-perception, however, is beyond the scope of the discussion that follows.4 The present investigation will deal mainly with Luke and Acts seen as the creation of a single author,5 with other traditions used mostly as a back4

Cf. J. W. van Henten, Jüdisches Märtyrertum und der Tod Jesu (in the present volume), who discusses the possibility that Jesus – in his premonition of a tragic end – viewed his future death as that of a martyr. See also J. C. O’Neill, Did Jesus Teach That His Death Would Be Vicarious as Well as Typical? in: W. Horbury / B. McNeil (ed.), Suffering and Martyrdom in the New Testament: Studies Presented to G. M. Styler by the Cambridge New Testament Seminar, Cambridge 1981, 9–27; he comes to the conclusion that Jesus not only saw himself as one destined to die as a sacrifice for people’s sins but also expected his close circle of disciples to be ready to follow the same path. 5 I subscribe here to the perception of Luke and Acts as composed by the same author; see discussion in H. Conzelmann, Acts of the Apostles: A Commentary on the Acts of the Apostles,

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drop. This choice may be found useful for two reasons. First, this New Testament author is often more explicit than others in spelling out his agenda and his notion of the problems faced by the Jesus movement. Second, the single author hypothesis makes it possible to relate his treatment / editing of the common Gospel tradition (in Luke) to his more independent approach in Acts; a comparison of his suggestions regarding the meaning of the crucifixion in these two literary settings promises to be instructive.6

The persecution of God’s prophets in the Hebrew Bible and in Luke The closing section of Luke assumes that Jesus’ execution could in no way negate his prophetic status – it is only his messiahship that seems to be compromised (Luke 24:19–21). Indeed, the motif that most readily suggests itself as a biblical pattern, not only for Jesus’ rejection by his fellow Israelites but also for his suffering and even being put to death, is the “persecuted prophet” motif emphatically celebrated, for example, at the end of Second Chronicles.7 This motif continued to be invoked – e. g., after the Maccabean revolt – in Second Temple Judaism. Two passages are particularly relevant in this context: Jub 1:12 and 1En 89:51–53. In his discussion of Second Temple evidence, David Flusser also mentions in this context the Ascension of Moses and the Ascension of Isaiah – he sees the latter as a book that was composed at the end of the Second Temple period in circles close to those of the Dead Sea Scrolls.8 Philadelphia 1987, xxxi–xlii; cf. idem, The Theology of St. Luke, Philadelphia 1982, 9. However, my analysis does not necessarily point to the “double treatise” (Luke-Acts) model; rather it strengthens the possibility of two separate compositions – by the same hand but under different literary circumstances. For discussion of the latter model, see M. C. Parsons / R. I. Pervo, Rethinking the Unity of Luke and Acts, Minneapolis 1993. 6 A third reason may be added: if composed by the same author, Luke / Acts as a sequel is also the only New Testament narrative dealing explicitly with the transition from the initial eschatological hope, through its debacle in Jesus’ death, to a modified post-Easter eschatology. The narrative of Luke / Acts can thus be expected to account not only for the postponement of salvation but also for the changes that the meaning of Jesus’ death underwent in light of that postponement. See Conzelmann, Theology of St. Luke, 123. 7 Another often quoted example is Neh 9:26–37. 8 D. Flusser, Sanctifying the Name in the Second Temple Period and the Beginnings of Christianity, in: idem, Judaism of the Second Temple Period: Sages and Literature, Jerusalem 2002, 239, 242–244 (in Hebrew). The Jewish origin of the tradition that Israel murdered its prophets constitutes one of the central foci of investigation in D. M. Scholer, Israel Murdered Its Prophets: The Origin and Development of the Tradition in the Old Testament and Judaism, Ph.D. dissertation, Harvard University, Cambridge, Mass. 1980.

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In Second Chronicles, as elsewhere in the Scriptures, the rejection of God’s messengers is perceived as a (temporary) disruption of God’s plan – as “God’s suffering [a setback].” It is here that Terence Fretheim discerns a potential link between the suffering of elect individuals, such as prophets – those who are bearers of God’s spirit / word – and God’s own suffering; he distinguishes this sub-pattern of God’s sympathy for an individual (“individualization of the sympathy”) from a more general pattern of God’s suffering caused by his sympathy for the suffering people of Israel.9 Indication of the setback, however, is usually followed by the promise of salvation, which will ensue after the period of tribulation; the collation of these motifs becomes the distinguishing feature of the closing verses of Second Chronicles, which were destined to become the closing verses of the Hebrew Bible. The presence of the punishment sub-motif – avenging the innocent blood of the prophets as a necessary step toward eventual redemption – deserves special notice. At the end of Second Chronicles, this sub-motif – present also elsewhere in the Bible, e. g., in Neh 9:26–37 and 2Chr 24:20–22 – refers explicitly to the destruction of the Temple (2Chr 36:15–23):10 15 The LORD, the God of their fathers, sent persistently to them by his messengers, because he had compassion on his people and on his dwelling place; 16 but they kept mocking the messengers of God, despising his words, and scoffing at his prophets, till the wrath of the LORD rose against his people, till there was no remedy. 17 Therefore he brought up against them the king of the Chaldeans, who slew their young men with the sword in the house of their sanctuary, and had no compassion on young man or virgin, old man or aged; he gave them all into his hand. (…) 19 And they burned the house of God, and broke down the wall of Jerusalem, and burned all its palaces with fire, and destroyed all its precious vessels. (…) 22 Now in the first year of Cyrus king of Persia, that the word of the LORD by the mouth of Jeremiah might be accomplished, the LORD stirred up the spirit of Cyrus king of Persia so that he made a proclamation throughout all his kingdom and also put it in writing: 23 “Thus says Cyrus king of Persia, ‘The LORD, the God of heaven, has given me all the kingdoms of the earth, and he has charged me to build him a house at Jerusalem, which is in Judah. Whoever is among you of all his people, may the LORD his God be with him. Let him go up.’ ”

9 T. E. Fretheim, The Suffering of God: An Old Testament Perspective, Philadelphia 1984, 107–135, 144–148, 154–166. For a discussion of the enhancement of the mythic potential of biblical metaphors of divine weakness and suffering – either with the people of Israel or with an individual – undertaken in rabbinic sources, see M. Fishbane, Biblical Myth and Rabbinic Mythmaking, Oxford 2003. 10 As observed already in S. H. Blank, The Death of Zechariah in Rabbinic Literature, HUCA 12–13, 1937–1938, 327–46, esp. 336–337.

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In Jub 1, reference to the destruction of the Temple as punishment is absent, while in 1En 89:51–57 it appears in the guise of a mysterious dream sequence: 51 And again I saw those sheep that they again erred and went many ways, and for-

sook that their house, and the Lord of the sheep called some from amongst the sheep and sent them to the sheep, 52 but the sheep began to slay them. (…) 53 And many other sheep He sent to those sheep to testify unto them and lament over them. 54 And after that I saw that when they forsook the house of the Lord and His tower they fell away entirely, and their eyes were blinded; (…) 56 (…) And I saw that He forsook that their house and their tower and gave them all into the hand of the lions, to tear and devour them, 57 into the hand of all the wild beasts. And I began to cry aloud with all my power, and to appeal to the Lord of the sheep, and to represent to Him in regard to the sheep that they were devoured.11

It is exactly the form of the motif of punishment attested in Second Chronicles – destruction of the Temple as the necessary prelude to redemption – that was picked up in later rabbinic traditions.12 Especially instructive is the passage in SifDeu 43:16, where a firm belief is ascribed to R. ‘Aqiva – who quotes Isa 8:2, Jer 26:18 and Zech 8:4 as proof texts – that until the full destruction of the (Second) Temple takes place and the murder of the ancient prophets is thus avenged, there may be no redemption for Israel.13 As is suggested below, it is with this biblical-turned-rabbinic pattern in mind that Luke’s approach may be better appreciated. The identification of Jesus as a prophet or a man of great standing “before God and all the people” features prominently in a number of passages reflecting Luke’s own contribution to the Gospel narrative, such as Luke 4:14–29, 13:33, 24:19; Acts 2:22,36, 7:37; this clearly reflects the author’s particular interest in portraying Jesus as a prophet.14 Our focus, however, will be on Luke’s reworking of the inherited Gospel tradition with an emphasis on two such instances. The first is Luke’s treatment of Jesus’ lament over Jerusalem, attested also in Matthew:15 11 English translation follows R. H. Charles, The Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament in English, London 1913. 12 See the discussion in Flusser, Sanctifying the Name (n. 8), 238–245. 13 Cf. yTaan 4:9 [69a–b], bGit 57b, bSan 96b. See also the comment in Scholer, Israel Murdered Its Prophets (n. 8), 182–183. 14 See, for example, B. E. Beck, “Imitatio Christi” and the Lucan Passion Narrative, in: Horbury / McNeil (ed.), Suffering and Martyrdom (n. 4), 29; R. L. Brawley, The Identity of Jesus in Luke 4:16–30 and the Program of Acts, in: idem, Luke-Acts and the Jews: Conflict, Apology and Conciliation, Atlanta 1987, 6–27. 15 See K. Aland (ed.), Synopsis of the Four Gospels, 7th ed., Stuttgart 1984, nos. 212–213/ 285. This pericope is widely held to have been derived from a Q-tradition; see J. A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke (X–XXIV), The Anchor Bible, Garden City 1985, 1034; J. M. Robinson et al. (ed.), The Critical Edition of Q, Minneapolis 2000, 420–423 (Q 13:34–35).

Jesus’ Crucifixion in Luke and Acts Luke 13:33–35 33 Nevertheless I must go on my way today and tomorrow and the day following; for it cannot be that a prophet should perish away from Jerusalem. 34 O Jerusalem, Jerusalem, killing the prophets and stoning those who are sent to you! How often would I have gathered your children together as a hen gathers her brood under her wings, and you would not! 35 Behold, your house is forsaken. And I tell you, you will not see me until you say, ‘Blessed is he who comes in the name of the Lord!’

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Matt 23:33, 36–39 33 You serpents, you brood of vipers, how are you to escape being sentenced to hell? (…) 36 Truly, I say to you, all this will come upon this generation. 37 O Jerusalem, Jerusalem, killing the prophets and stoning those who are sent to you! How often would I have gathered your children together as a hen gathers her brood under her wings, and you would not! 38 Behold, your house is forsaken and desolate. 39 For I tell you, you will not see me again, until you say, ‘Blessed is he who comes in the name of the Lord.’

In Matthew this lament concludes a whole series of passionate polemic by Jesus against the Pharisees, with Jerusalem as the setting. In Luke, the Pharisees are portrayed as friendly to Jesus, and the scene is located away from Jerusalem. What pertains to our discussion, however, is that before the utterance that is shared in common with Matthew, Luke’s Jesus declares (13:33): “Nevertheless I must go on my way today and tomorrow and the day following; for it cannot be that a prophet should perish away from Jerusalem.” This addition unequivocally establishes (a) that Jesus is a prophet and (b) that what follows is nothing less than a prophetic speech representing God’s own lament. The second example also represents a tradition shared by Matthew and Luke,16 but with Luke attributing the saying to God’s wisdom, thus again emphasizing Jesus’ (prophetic) role as one who transmits God’s oracles:17 Luke 11:49–51 49 Therefore also the Wisdom of God said, ‘I will send them prophets and apostles, some of whom they will kill and persecute,’ 50 that the blood of of all the prophets, shed from the foundation of

16

Matt 23:34–35 34 Therefore I send you prophets and

wise men and scribes, some of whom you will kill and crucify, and some you will scourge in your synagogues and persecute from town to town, 35 that

Again Q; see Aland (ed.), Synopsis, no. 284; Robinson et al. (ed.), Critical Edition of Q, 284–289. 17 But see Flusser, Sanctifying the Name (n. 8), 243, where he suggests that “Wisdom” is to be understood as a reference to a Wisdom literature text. On the basis of the attribution of the saying in question to the Wisdom of God, it was held by a number of scholars that this saying is of Jewish provenance; see discussion in Scholer, Israel Murdered Its Prophets, 170 and n. 1 there. Moreover, a reconstruction of the “pre-Q, pre-Christian” version of the saying has been suggested; see M. J. Suggs, Wisdom, Christology and Law in Matthew’s Gospel, Cambridge 1970, 15.

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the world, may be required of this generation, 51 from the blood of Abel to the blood of Zechariah, who perished between the altar and the sanctuary. Yes, I tell you, it shall be required of this generation.

upon you may come all the righteous blood shed on earth, from the blood of innocent Abel to the blood of Zechariah the son of Barachiah, whom you murdered between the sanctuary and the altar.

These examples clearly demonstrate Luke’s tendency to highlight the portrayal of Jesus as a rejected and suffering prophet,18 with the adjunct idea of God’s anger resulting in punishment of Israel – in the first example the destruction of the Temple is explicitly mentioned. As noted, the motif of persecuted prophets seems to have been a widespread one in Second Temple Judaism; it thus stands to reason that both Luke and his sources within the Gospel tradition were trying to adapt an existing exegetical pattern to Jesus' situation. Later rabbinic narratives appropriated the motif – while reacting to the actual destruction of the Temple – with more elaborately related and gory details.19 In view of the absence of such elaboration, it can be suggested that the Gospels here basically bear witness to an early – pre70 – stage in the development of the pattern.20 This pattern should rather be seen as proto-rabbinic, since it is not attested in sectarian writings from Qumran, where the themes of the persecution of the “anointed with Spirit” – be it the Teacher of Righteousness or the community at large – and the anticipated destruction of the defiled Temple remain dissociated, the latter not being explained as the punishment for the former.21

The Book of Acts on Jesus’ suffering Unlike his reworking of the inherited tradition in the Gospel, where he enhances the theme of God’s persecuted messenger with its inevitable repercussions, in Acts the author drops completely the motif of “God’s set18 As an example of Luke’s employing the identification of Jesus as a prophet – without the accompanying motif of rejection and punishment – where the Synoptic parallels entirely lack this identification see Luke 7:36–50, esp. v. 39 (cf. Matt 26:6–13, Mark 14:3–9). 19 See, for example, yTaan 4:9 [69a–b], bSan 96b, bGit 57b. 20 With several exceptions, e.g., Matt 22:7; 23:32–36, where a post-70 editing of an earlier tradition is suspected. See D. Flusser, Two Anti-Jewish Montages in Matthew, and: Matthew’s “Verus Israel”, in: idem, Judaism and the Origins of Christianity, Jerusalem 1988, 552–574; Hatred of Israel in Matthew’s Gospel, in: idem, Sages and Literature (n. 8), 345–347. 21 See CD 4–6; 4Q174 (= 4QFlor) Frgm. 1 i 1–19; 1QpHab 2:7; 1QHa 12; cf. 4Q521 (= 4QMessApoc) Frgm. 8, where the list of the prophetically anointed is not built around biblical figures perceived as having been persecuted.

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back.”22 This tendency, introduced in the programmatic independent addition to the post-resurrection narrative in Luke 24, has multiple attestations in Acts. We have seen that already in the opening section of the book (Acts 1:6–11) the author denies that what seems like a postponement of Israel’s salvation is in any sense a failure, claiming instead that this postponement is in fact a necessary prerequisite for the prophetic “winning out” of Israel in anticipation of their redemption. The passage in 2:22–24 seems in this respect to express the author’s basic stance throughout the composition: 22 Men of Israel, hear these words: Jesus of Nazareth, a man attested to you by God

with mighty works and wonders and signs which God did through him in your midst, as you yourselves know – 23 this Jesus, delivered up according to the definite plan and foreknowledge of God (ͥ‫)͖ٓ͠ͱ ٓͥ͠ ͚͖͔ͤͯ͞͠΃͡ ת͒΂ ط͓ͦ͜͠ ش͎͚ͤ͞͝΃ו ط‬, you crucified and killed by the hands of lawless men (͕͚‫ ͣ׬΃͚͖ͨ פ‬րͭͪ͞͝͞). 24 But God raised him up, having loosed the pangs of death, because it was not possible for him to be held by it.

Far from being a setback, Jesus’ death is depicted as an inherent part of God’s salvation design, an essential prerequisite for entering the era of resurrection. The meaning of the Messiah’s crucifixion here seems to be that resurrection cannot be achieved without the death that precedes it. This in fact is a continuation of the line employed already at the end of the Gospel. The recurring argument is clear: What looks like a setback in the salvation plan is actually the fulfillment of the main element of its agenda, established not post factum as a reaction to tragic developments but from the very beginning in God’s mind and in his – previously not comprehended – revelation to Israel. It should be noted that in contrast to Jesus’ prophetic laments addressed in the previous section, at the end of the Gospel of Luke and at the beginning of Acts, it turns out that Jesus’ rejection and death, lamented by the unaware disciples, should not be lamented at all! Thus in Luke 24:26, crucifixion is portrayed as nothing but a needed transitory stage on the way to glorification: “Was it not necessary that the Christ should suffer these things and enter into his glory?” Again, continuing the line adopted in the Gospel, the author of Acts emphasizes the immediate nature of the transition from what might have been perceived as the tragedy of death to the glory of ascension. The narrative does not dwell on Jesus’ death; there is no substantial gap in time between the tragedy and salvation, a gap that would be necessary to enhance the motif of God’s suffering (a setback). The suffering of God’s chosen one here is nothing but

22

Cf. Rom 11.

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a prelude to his immediate entering “into his glory” – his resurrection and the victorious preaching of messianic salvation “to all nations.”23 The key-motif of the preordained, uninterrupted salvation scenario, discerned in Peter’s kerygmatic speech in Acts 2:22–24, related to above, dominates also the joint proclamation by Peter and John in Acts 4.24 The latter passage is also characterized by an emphasis on immediately granted salvation – this time, however, it is not Jesus’ resurrection but the disciples’ redemption from the fear of persecution (Acts 4:27–31): 27 “For truly in this city there were gathered together against thy holy servant Jesus,

whom thou didst anoint, both Herod and Pontius Pilate, with the Gentiles and the peoples of Israel, 28 to do whatever thy hand and thy plan had predestined to take place (͚͡͠‫)͚͒ͱ͎͖͔ͤ͞ ͖͚ͤ͞΃ͯ͠΃͡ ]ͦͤ͠[ ͏͓ͦ͜͠ ֝ ת͒΂ ͦͤ͠ ΃͖͐ͨ ֝ ׁ͒ͤ ͚͒ͤض‬. 29 And now, Lord, look upon their threats, and grant to thy servants to speak thy word with all boldness, 30 while thou stretchest out thy hand to heal, and signs and wonders are performed through the name of thy holy servant Jesus.” 31 And when they had prayed, the place in which they were gathered together was shaken; and they were all filled with the Holy Spirit and spoke the word of God with boldness.

Throughout Acts, the author insists on defining various communities of the nascent Jesus movement as sharing the gift of the Holy Spirit – in other words, as a prophetic movement.25 And he acknowledges the obstacles and persecutions God’s new latter-day prophets have to overcome in Jerusalem.26 Yet, in a balancing act, he avoids presenting those obstacles as a fiasco, insisting instead on portraying the mission – again, first in Jerusalem and Judea and then in the Diaspora – as extremely successful. Moreover, our author claims – as in Acts 2:41–47, 6:1–7 – success within the variegated strata of Jewish society. Whether or not the author is really Luke the physician, the companion of Paul, he is generally believed to have been familiar with details of the apostle’s mission.27 It comes as no surprise then that he recounts Paul’s problems vis-à-vis both the Jerusalem apostles and the general Jewish populace. However, here too our author performs a balancing act, integrating Paul’s personal troubles and setbacks into a broader, and brighter, picture. To that end the author employs a number of tactics. First, he consistently plays down the tension and the (sometimes bitter) polemic between Paul and the “Jerusalem group” – most prominently in Acts 15 and 21. This 23 This was often observed; see, for example, Beck, Imitatio Christi (n. 14), 34; cf. ibid., 47. For a different appraisal see E. Scheffler, Suffering in Luke’s Gospel, Zürich 1993. 24 See Beck, Imitatio Christi, 39. 25 See, for example, Acts 2:14–21; 7:51–56; 8:14–17; 10:44–48; 15:7–9. 26 See Acts 4:1–31. 27 See Conzelmann, Acts (n. 5), xxxiii.

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tendency of Acts is well known and has received much attention in research;28 it is even more conspicuous in light of Paul’s attitude reflected in Gal 1–2 and his famous diatribe in Gal 4:24–26: “Now Hagar is Mount Sinai in Arabia; she corresponds to the present Jerusalem, for she is in slavery with her children. But Jerusalem above is free, and she is our mother.” Second, the author of Acts has Paul return again and again to preach in synagogues or to Jews generally – notwithstanding his recurrent declarations that now, having been rejected, he is turning to the Gentiles. This again in clear contradistinction from, e. g., Gal 1:13–16, where Paul explicitly presents himself as the apostle to the Gentiles and thus distances himself from Peter, who is to proclaim the good news to the Jews. The Book of Acts accordingly avoids ascribing to Jesus, or God, a preference for the Gentiles – at the expense of the Jews – even at this troubled intermediary stage. Here it is Rom 11, where Paul gives vent to the feeling of failure and despair concerning the present state of the mission to the Jews, that may provide an illuminating point of comparison. The author of Acts must have been fully aware of the developments that had led to the Jesus movement turning into a mostly Diaspora phenomenon. Moreover, the main objective of Acts is to explain and justify the “reaching out” of Paul’s mission. It is thus significant that the opening sections of the narrative give no hint that God might have abandoned Jerusalem because of Jesus’ crucifixion there. On the contrary, the resurrected Jesus commands his disciples to stay in the city, which is to be the locus of the outpouring of spirit. The author also repeatedly reminds us – even at later stages of Paul’s ministry – “how many thousands there are among the Jews of those who have believed; they are all zealous for the Torah (law)” (Acts 21:20).29 Finally, he is ready to ascribe Paul’s failure to convince the Jews to that apostle’s problematic past (Acts 22:17–21)! As demonstrated by R. Brawley, all this amounts to a refusal to see the current stage as one of rejection on the part of Israel and, hence, a refusal to transfer the election to the Gentiles.30 As noted, the motif of punishment was at the core of biblical and later elaborations on the theme of prophets’ suffering, as well as of the Gospel portrayal of Jesus’ rejection. Thus the modification of this motif, or rather its practical elimination in the narrative of Acts, is instructive. True, the lines of Joel (2:30–32) that the author has Peter quote in Acts 2:19–21 include a reference to the Day of Judgment (“The sun shall be turned to darkness, and the moon to blood, before the great and terrible day of the LORD 28

See, for example, ibid., xlvi, 115–117. See also Acts 9:15. Cf. an unexpectedly optimistic ending to the description of Paul’s initial troubles in Acts 9:23–31. 30 See Brawley, Identity of Jesus (n. 14). 29

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comes”), but this theme does not receive emphasis in the continuation of the narrative. Moreover, further along in the description of the same Pentecost event it is stressed that the reaction to Peter’s speech, even by those who had had Jesus “crucified and killed by the hands of lawless men” (Acts 2:23; cf. 2:36), was immediately to repent and join the group, thus making irrelevant the avenue of punishment (Acts 2:36–41):31 36 “Let all the house of Israel therefore know assuredly that God has made him both Lord and Christ, this Jesus whom you crucified.” 37 Now when they heard this they

were cut to the heart, and said to Peter and the rest of the apostles, “Brethren, what shall we do?” 38 And Peter said to them, “Repent, and be baptized every one of you in the name of Jesus Christ for the forgiveness of your sins; and you shall receive the gift of the Holy Spirit. 39 For the promise is to you and to your children and to all that are far off, every one whom the Lord our God calls to him.” 40 And he testified with many other words and exhorted them, saying, “Save yourselves from this crooked generation.” 41 So those who received his word were baptized, and there were added that day about three thousand souls.

Moreover, the author clearly wants to create the impression that even those who had not joined the ranks of the prophesying community held it in great esteem (Acts 2:46–47): 46 And day by day, attending the temple together and breaking bread in their homes, they partook of food with glad and generous hearts, 47 praising God and having

favour with all the people. And the Lord added to their number day by day those who were being saved.

This last passage faithfully represents another important feature of Acts: no destruction of the Temple is foreseen as a punishment for the rejection of Jesus and / or his disciples. This is the more striking in view of the tendencies present in the common Gospel tradition and enhanced in Luke that have been discussed above. Notwithstanding that Jesus had been crucified following his clash with the Temple authorities after prophesying the destruction of the Jerusalem sanctuary, in Acts the disciples cling resolutely to the Temple precincts as to the center of sanctity, the true omphalos of the world, to which the Messiah should return and where he should be awaited. Moreover, in Acts 21 the author insists on the Temple’s unchallenged sanctity for Paul even at a later stage of his mission to the Gentiles.32 It may be 31 For a different interpretation see G. W. H. Lampe, Martyrdom and Inspiration, in: W. Horbury / B. McNeil (ed.), Suffering and Martyrdom (n. 4), 131. 32 See Conzelmann, Acts (n. 5), 180, where he attributes the picture to the express design of the author of Acts – not to the real facts. Cf. F. F. Bruce (Stephen’s Apologia, in: B. P. Thompson [ed.], Scripture, Meaning and Method, Hull 1987, 37–38), who sees the author of Acts as differing on this point from both the apostles and the Hellenists. D. L. Wiens (Stephen’s Sermon and the

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added that a differentiation between the sanctuary proper and the holy city of Jerusalem is nowhere highlighted in the composition.33 But this generally positive attitude to the Temple throughout the book does have its moments of crisis. The author enables us to realize that in the nascent Jesus movement a variety of attitudes toward the Temple existed. In Acts 7, Stephen, a member of the Hellenistic Jewish branch of the movement, speaks boldly against the Temple and pays dearly for that.34 There seem, however, to be certain proto-Christian Jewish sentiments underlying his speech, which do not have to be perceived as exclusively Hellenistic. Marcel Simon comes to the conclusion that “the most authentic lineage” of Stephen’s speech is to be found not in the Hellenistic Jewish-Christian outlook but in certain Palestinian (e. g., Essene) trends characterized by hostility to the Temple.35 Maybe in the final account one does not need to draw too sharp a dividing line here between “Hellenistic” and “Palestinian”. Yet, the author of Acts gives no indication that Stephen’s stance was looked upon favorably by the non-Hellenistic part of the Jesus movement – those who are emphatically presented in his narrative as coming daily to the sanctuary. It may be surmised that the speech in Acts 7 represents the stance of neither the non-Hellenistic part of the Jerusalem community nor of Luke himself. Moreover, Stephen’s attitude has been described as an aberration in the early Church, being distinct not only from that of the majority of the Jerusalem community but also from that of Paul and even the Epistle to the Hebrews: Stephen appears to have seen in the Temple from the very beginning a “falling away from the authentic” God-inspired tradiStructure of Luke-Acts, Richland Hills, Tex. 1995, 188) discerns in the report of Paul’s visit to Jerusalem (Acts 21–23) an indication of the annulment of the authority of “those who continue to claim to be the temple’s guardians” on behalf of the group that “represents a gentile people-in-themaking who claim to dwell in the rebuilt tent of David” – a claim without substantiation in the text of Acts, to my mind. 33 See J. J. Collins, Jerusalem and the Temple in Jewish Apocalyptic Literature of the Second Temple Period, International Rennert Guest Lecture Series 1, Bar-Ilan University 1998. Cf. Conzelmann, The Theology (n. 5), 133. As pointed out by Justin Taylor (personal communication), Acts 1:11 may possibly indicate a return to the Mount of Olives (cf. Zech 14:4). 34 It has been suggested that the author draws here upon a different source; see Bruce, Stephen’s Apologia, 37. For a discussion of the historical circumstances reflected in the narrative, see N. H. Taylor, Stephen, the Temple, and Early Christian Eschatology, RB 110, 2003, 62–85. 35 M. Simon, Saint Stephen and the Jerusalem Temple, in: idem, Le Christianisme antique et son contexte religieux: Scripta varia, vol. 1, Tübingen 1981, 160–167 (relying on H. J. Schoeps, Theologie und Geschichte des Judenchristentum, Tübingen 1949). Cf. Bruce, Stephen’s Apologia, 37–38. A Samaritan influence as the background of Stephen’s speech has also been suggested; see A. Spiro, Stephen’s Samaritan Background, in: J. Munck, The Acts of the Apostles, AncB 31, Garden City 1967, 285–300. This suggestion is rejected by many scholars, among them B. T. Donaldson (Moses Typology and Sectarian Nature of Early Christian Anti-Judaism: A Study in Acts 7, JSNT 12, 1981, 27–52), who attempts to contextualize Acts 7 within the Second Temple Jewish world, classifying it as a sectarian polemic.

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tion of Israel.36 Paula Fredriksen has recently suggested a new assessment of Paul’s attitude toward the Temple, noting, e. g., a lack of emphasis on even the Temple’s current inadequacy – and anticipation of the impending destruction – which puts in even greater relief the difference from Acts 7.37 In fact, even Stephen does not anticipate destruction of the Temple as punishment for Jesus’ rejection; rather, he claims that from the very beginning there was no need at all to build a temple – obviously a motif completely different from that of punishment meted out for persecution of the prophets.38 Moreover, in the preamble to Stephen’s speech the author takes care – another balancing act – to provisionally mitigate Stephen’s position, presenting as a false one the accusation that Stephen had talked about the destruction of the Temple as God’s vengeance (Acts 6:12–14):39 12 And they stirred up the people and the elders and the scribes, and they came upon him and seized him and brought him before the council, 13 and set up false witnesses

who said, “This man never ceases to speak words against this holy place and the law; 14 for we have heard him say that this Jesus of Nazareth will destroy this place, and will change the customs which Moses delivered to us.”

This attempted mitigation / elimination in Acts of the destruction theme – the theme that, as we have seen, featured prominently in the biblical promise of punishment for rejection of God’s messengers – was prepared already in the passion section of the Gospel. Here Luke is reworking the common tradition of Jesus being interrogated by the High Priest: Matt 26:59–66 Mark 14:55–64 Luke 22:66–71 59 Now the chief priests 55 Now the chief priests 66 When day came, the and the whole council and the whole council assembly of the elders of 36 See Simon, Saint Stephen, 153–154. But see N. H. Taylor (Stephen, the Temple, 63–64, 73–77, 80–81), who believes that the extreme criticism of the Temple in Acts 7 faithfully represents the attitude of the early Christian movement as a whole and presupposes here continuity with Jesus’ prophecy of destruction. Accordingly, Taylor does not think that Stephen’s speech goes against Luke’s theology. Cf. Bruce, Stephen’s Apologia, 37–38, where he sees Luke’s own stance as differing both from the apostles and from the Hellenists. 37 P. Fredriksen, Paul, Purity, and the EkklƝsia of the Gentiles, in: M. Mor and J. Pastor (ed.), The Beginnings of Christianity: A Collection of Articles, Jerusalem 2005, 205–218. 38 See Simon, Saint Stephen, 153–154. Cf. Bruce (Stephen’s Apologia, 39), who, harmonizing, as it seems, Stephen’s speech with Hebrews, reads into Acts 7 a claim that “All that the temple order stood for had become rendered for ever obsolete by the work of Christ.” Cf. E. Haenchen, The Acts of the Apostles: A Commentary, Oxford 1982, 286. 39 Notwithstanding the protestation to the contrary, the speech itself seems strangely enough to confirm the accusation; see Conzelmann, Acts (n. 5), 48. H. A. Brehm (Vindicating the Rejected One: Stephen’s Speech as a Critique of Jewish Leaders, in: C. A. Evans / J. A. Sanders [ed.], Early Christian Interpretation of the Scriptures of Israel, Sheffield 1997, 266–299) attempts to alleviate the problem by presenting the crux of Stephen’s polemics as directed against “Jewish leaders” rather than against the Temple itself.

Jesus’ Crucifixion in Luke and Acts sought false testimony against Jesus that they might put him to death, 60 but they found none, though many false witnesses came forward. At last two came forward 61 and said, “This fellow said, ‘I am able to destroy the temple of God, and to build it in three days.’ ” 62 And the high priest stood up and said, “Have you no answer to make? What is it that these men testify against you?” 63 But Jesus was silent. And the high priest said to him, “I adjure you by the living God, tell us if you are the Christ, the Son of God.” 64 Jesus said to him, “You have said so. But I tell you, hereafter you will see the Son of man seated at the right hand of Power, and coming on the clouds of heaven.” 65 Then the high priest tore his robes, and said, “He has uttered blasphemy. Why do we still need witnesses? You have now heard his blasphemy. 66 What is your judgment?” They answered, “He deserves death.”

sought testimony against Jesus to put him to death; but they found none. 56 For many bore false witness against him, and their witness did not agree. 57 And some stood up and bore false witness against him, saying, 58 “We heard him say, ‘I will destroy this temple that is made with hands, and in three days I will build another, not made with hands.’ ” 59 Yet not even so did their testimony agree. 60 And the high priest stood up in the midst, and asked Jesus, “Have you no answer to make? What is it that these men testify against you?” 61 But he was silent and made no answer. Again the high priest asked him, “Are you the Christ, the Son of the Blessed?” 62 And Jesus said, “I am; and you will see the Son of man seated at the right hand of Power, and coming with the clouds of heaven.” (…) 64 (…) And they all condemned him as deserving death.

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the people gathered together, both chief priests and scribes; and they led him away to their council, and they said, 67 “If you are the Christ, tell us.” But he said to them, “If I tell you, you will not believe; 68 and if I ask you, you will not answer. 69 But from now on the Son of man shall be seated at the right hand of the power of God.” 70 And they all said, “Are you the Son of God, then?” And he said to them, “You say that I am.” 71 And they said, “What further testimony do we need? We have heard it ourselves from his own lips.”

In passages discussed earlier, we saw that elsewhere in the Gospel Luke emphasizes – while applying it to Jesus – the biblical motif of the rejection of prophets, including eventual punishment and the destruction of the Temple, the motif present in the shared Gospel tradition. Luke also retains Jesus’ apocalyptic speech, with its reference to the destruction of the Temple in an undisclosed future (Luke 20:5–36, esp. 20:5–8). With Luke, this catastrophe is, again following the biblical pattern, a necessary step on the way

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to salvation; wishing to explicitly encourage his readers, he has Jesus say: “Now when these things begin to take place, look up and raise your heads, because your redemption is drawing near” (21:28).40 However, here, in the section immediately connected to the crucifixion, Luke goes in the opposite direction, avoiding any mention of the touchy issue of Jesus’ prophecy regarding the destruction of the Temple – the issue that in the Matthew and Mark parallels is clearly at the heart of the accusation.41 The same holds true for Luke’s depiction of crucified Jesus mocked by the bystanders – unlike in the other Synoptics, there is no mention here of the destruction of the Temple or even of the “chief priests,” who are supplanted by the “rulers”:42 Matt 27:39–43 39 And those who passed by derided him, wagging their heads 40 and saying, “You who would destroy the temple and build it in three days, save yourself! If you are the Son of God, come down from the cross.” 41 So also the chief priests, with the scribes and elders, mocked him, saying, 42 “He saved others; he cannot save himself. He is the King of Israel; let him come down now from the cross, and we will believe in him. 43 He trusts in God; let God deliver him now, if he desires him; for he said, ‘I am the Son of God.’ ”

Mark 15:29–32a

Luke 23:35–38

29 And those who passed

35 And the people stood

by derided him, wagging their heads, and saying, “Aha! You who would destroy the temple and build it in three days, 30 save yourself, and come down from the cross!” 31 So also the chief priests mocked him to one another with the scribes, saying, “He saved others; he cannot save himself. 32 Let the Christ, the King of Israel, come down now from the cross, that we may see and believe.”

by, watching; but the rulers (֭͠ ք΃͖ͨͥͣ͠͞) scoffed at him, saying, “He saved others; let him save himself, if he is the Christ of God, his Chosen One!” 36 The soldiers also mocked him, coming up and offering him vinegar, 37 and saying, “If you are the King of the Jews, save yourself!” 38 There was also an inscription over him, “This is the King of the Jews.”

40 Unparalleled in the other Gospels. See a discussion in S. Notley, Learn the Lesson of the Fig Tree, in: idem et al. (ed.), Jesus’ Last Week, Leiden 2006, 107–120, esp. 116. 41 It has been repeatedly observed that Luke’s attitude toward the Temple is much more positive than that of Mark (and Matthew). See, for example, Fitzmyer, Luke X–XXIV (n. 15), 1461; J. B. Green, The Death of Jesus and the Rending of the Temple Veil (Luke 23:44–49): A Window into Luke's Understanding of Jesus and the Temple, in: E. H. Lovering (ed.), SBL.SP 1991, Atlanta 1991, 543–546 and. n. 9 there. In a recent study, Eyal Regev attempted to demonstrate that this tendency should be seen as a conscious attempt to play down the uncomfortably anti-Temple attitude that characterized the historical Jesus; see E. Regev, Temple or Messiah: On the Trial of Jesus, the Temple, and Roman Policy, Cathedra 119, 2006, 13–36 (in Hebrew). 42 In accordance with the exegesis of Ps 2:1 presented in Acts 4:25–27.

Jesus’ Crucifixion in Luke and Acts

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Two additional peculiarly Lukan traits are noteworthy in this context. One is the recurrent emphasis on Jesus’ adherence to the Temple even after the cleansing episode (Luke 19:47; 21:37–38 and 22:53): 19:47 And he was teaching daily in the temple. (…) 21:37 And every day he was

teaching in the temple, but at night he went out and lodged on the mount called Olivet. 38 And early in the morning all the people came to him in the temple to hear him. (…) 22:53 I was with you day after day in the temple …

This clearly is to set a precedent for the disciples’ faithfulness to the Jerusalem sanctuary as suggested in Luke 24:53; Acts 2:46–47; 21:20–26 et al. (see above).43 Another peculiarity is Luke’s version of the cleansing of the Temple – the most peaceful and least violent version when compared with those of the other Gospels (Luke 19:45–46; cf. Matt 21:12–13, Mark 11:15–17, John 2:13–17).44 As noted, in Acts’ treatment of the crucifixion and its repercussions this tendency, felt already in Luke’s Gospel, develops into subduing or even eliminating the punishment / destruction motif. This feature of Luke / Acts stands in even greater relief when compared with First Thessalonians, the earliest Pauline epistle and thus the earliest extant Christian document, where we read (1Thess 2:14–16): 14 For you, brethren, became imitators of the churches of God in Christ Jesus which

are in Judea; for you suffered the same things from your own countrymen as they did from the Jews, 15 who killed both the Lord Jesus and the prophets, and drove us out, and displease God and oppose all men 16 by hindering us from speaking to the Gentiles that they may be saved – so as always to fill up the measure of their sins. But God’s wrath has come upon them at last!

This passage bears witness to the notion of Jesus’ crucifixion as a continuation of the line of the rejection and killing of Israel’s prophets, with the complementing traditional motif of punishment – albeit without reference to 43

For a review of Luke’s and other New Testament authors’ attitudes toward the Temple, see E. Regev, Kingdom of Priests or Holy Nation? Attitude to the Temple in Nascent Christianity, Cathedra 113, 2004, 5–34 (in Hebrew). 44 According to Flusser’s interpretation (D. Flusser, Literary Relationship between the Three Synoptic Gospels, in: idem, Jewish Sources in Early Christianity, Tel Aviv 1979, 28–49 [in Hebrew]), this peculiarity of Luke’s points to the third Gospel’s priority here as regards closeness to the initial tradition. For an illuminating shift in appraisal of the meaning of the episode with regard to the historical Jesus, see three consecutive studies by C. A. Evans: Jesus’s Action in the Temple: Cleansing or Portent of Destruction? CBQ 51, 1989, 237–270; From “House of Prayer” to “Cave of Robbers”: Jesus’ Prophetic Criticism of the Temple Establishment, in: C. A. Evans / S. Talmon (ed.), The Quest for Context and Meaning: Studies in Biblical Intertextuality in Honor of James A. Sanders, Leiden 1997, 417–442; Diarchic Messianism in the Dead Sea Scrolls and the Messianism of Jesus of Nazareth, in: L. H. Schiffman et al. (ed.), The Dead Sea Scrolls: Fifty Years after Their Discovery, Jerusalem 2000, 558–567.

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the Temple – to be meted out to Jesus’ (and consequently Paul’s) Jewish opponents.45 However, further along Paul’s position46 seems to have undergone a substantial transformation: Although the expression “wrath of God” (ּ΃͔‫)͖ٓ͠ͱ ר‬, central to the passage just quoted, also features prominently in Romans,47 the later epistle is distinguished – especially in Rom 9–11 – by a more serene attitude toward “unbelieving Jews.” The motif of Jesus as a persecuted prophet to be avenged seems also to have eventually been dropped in Paul’s writing. The stance of Acts may, then, reflect something more than a personal fancy of the author, known for his penchant for harmonization and fondness of “Jewish heritage,” though these personal inclinations of the author may well have contributed to his sensitivity to the problem.48

Conclusion Beginning with the internal New Testament evidence that Jesus’ death was a challenge for early Christian exegesis, this study has dealt with the biblical pattern of persecuted prophet(s) as it functions in the hermeneutical strategy employed in Luke and Acts vis-à-vis the “scandal of the crucifixion.” This pattern, with its sub-motif of God’s vengeance through the destruction of the Temple, was picked up and developed in Second Temple and rabbinic Judaism; the Gospels may be seen as bearing witness to its relatively early (pre-70) form. The punishment-destruction motif featured also as a self-evident argument in Christian anti-Jewish polemics as early as mid-second century.49 We have seen, however, that in the general outline of Luke and Acts this motif, inherited from the Synoptic tradition, is first subdued in the concluding chapters of the Gospel and then completely 45

A suggestion has been even raised, though it is not completely convincing, that not only the obvious “Jews” but also “your own countrymen” from verse 14 denote here Jewish opponents – in the latter case, those acting in the Diaspora; see K. P. Donfried, Paul and Judaism: I Thessalonians 2:13–16 as a Test Case, Interp. 38, 1984, 242–253. 46 Doubts have been expressed with regard to the authenticity of the passage from 1Thess 2; I however tend to agree with those who see it as coming back to Paul himself. For a discussion on the variety of positions on the issue and the arguments propagated, see Donfried, Paul and Judaism. See also G. O. Okeke, I Thess. II 13–16: The Fate of the Unbelieving Jews, NTS 27, 1980, 127–136. 47 See Rom 1:18; 2:5, 8; 3:5; 4:15; 5:9; 9:22; 12:19; 13:4, 5. I believe that Donfried (above, n. 45) is right in stressing the eschatological dimension of Paul’s usage of ּ΃͔‫͖ٓ͠ͱ ר‬. 48 See, for example, Luke 1:5–10; 2:21–24, 39, 41–49; 23:56. See also the discussion in Conzelmann, Acts (n. 5), xliii–xlvi. 49 See, for example, Iust.dial. 16.

Jesus’ Crucifixion in Luke and Acts

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abandoned in Acts. In the latter, the author shows no inclination to invoke either the general motif of punishment or that of the destruction of the Temple; this seems to be one of the reasons for dropping the murdered prophet theme.50 It could be argued that it is the clash of the “rejected prophet” pattern – entailing punishment and destruction – with the programmatic insistence on the realization, albeit partial, of messianic salvation in Jesus’ resurrection that made this pattern not only unsatisfactory51 but also inadequate. I thus suggest seeing in Luke / Acts a prime example of nascent Christian tradition’s reaction to this inadequacy. Another obvious source of inadequacy of the biblical persecuted prophet pattern is that it lacks the motif of resurrection, which is definitely central to Acts: this composition – as well as the Gospel of Luke – does not develop the view of Christ’s death as atoning, focusing instead entirely on the resurrection as the salvation event.52 Vis-à-vis the observed inadequacy of the rejected prophet motif, alternative foundational patterns were seemingly probed by the author of Luke / Acts for understanding Jesus’ crucifixion. In this regard the pattern of martyrdom / beneficiary death has been addressed in the research, most recently by van Henten.53 Characteristic features of the Lukan narrative indicating closeness to 2Macc 7–8, notably the emphasis on the speedy delivery were outlined by Hermann Lichtenberger.54 Another possible pattern is that of a prophet whose suffering has a vicarious redemptive meaning – with Isa 53 as the biblical proof text. Yet, as I am trying to show elsewhere,55 these alternative exegetical schemes also had their shortcomings, so that Luke / Acts becomes an instructive test case for an early Christian author’s ongoing quest for the satisfactory hermeneutical solution.

50 It is noteworthy that even the Letter of Barnabas, with its vehemently polemical stance, interprets the destruction of the Temple as a punishment for Israel’s general disobedience toward God, spelled out in biblical prophecy – without establishing a link to Jesus’ death; see Barn 16. 51 Once the messianic claim concerning Jesus became the core point of the kerygma, the prophetic title could clearly no longer suffice. 52 See Conzelmann, Acts (n. 5), xlvi. 53 See discussion in van Henten, Jüdisches Märtyrertum, in the present volume. See also J. W. van Henten, The Maccabean Martyrs as Saviours of the Jewish People: A Study of 2 and 4 Maccabees, Leiden 1997; D. R. Hare, The Theme of Jewish Persecution of Christians in the Gospel According to St. Matthew, Cambridge, Mass. 1967, 176; Scholer, Israel Murdered Its Prophets (n. 8), 11–12. Flusser (Sanctifying the Name [n. 8], 238–247) discerns the martyrdom pattern also in Qumran, e.g., in 1QS 4:7–8, 1QHa 17:10, 24–26, and 1QM 16:13, 17:1–3. 54 H. Lichtenberger, Martyrdom in the New Testament, in: Z Nového Zákona / From the New Testament, Prague 2001, 96–105, esp. 99. 55 See my Mapping the New Testament (above, n. *), 199–213.

Wolfgang Kraus

Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu nach Röm 3,21–26

Wer sich mit Röm 3,21–26, insbesondere 3,25 f beschäftigt, betritt kein unbeackertes Terrain. An kaum eine andere Stelle des Corpus Paulinum wurde so viel exegetische Energie „verschwendet“1 – seltsamerweise bislang ohne allgemein akzeptiertes Ergebnis.2 Vielleicht liegt es an dem Text selbst, dessen Sprache Eindeutigkeit, wie Exegeten sich dies wünschen, nicht zulässt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Interpretation von 3,21–26 nicht nur historisch-exegetische, sondern auch systematisch-theologische Fragestellungen tangiert und dass deshalb neben historisch-exegetischen Erwägungen auch systematisch-theologische Prämissen und Vorverständnisse – auch unbewusst – in die Auslegung hineinspielen.3 Zwei Dinge sollten jedenfalls klar sein: (1) Probleme des sog. modernen Menschen mit biblischen Vorstellungen (Kult, Sühne, Zorn Gottes etc.) dürfen, auch wenn biblische Topoi heute unbequem oder schwer vermittelbar sind,4 nicht die Richtschnur des Auslegers sein.5 (2) Der Text, insbesondere 3,25 f, 1 Stökl Ben Ezra, Yom Kippur (s. Anm. 6), 197, bemerkt zu Röm 3,21–26: „There are few verses in the New Testament about which more ink has been spilled.“ Zur Literatur bis ca. 1990 s. meine Dissertation: Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Untersuchungen zum Umfeld der Sühnevorstellung in Röm 3,25–26a, WMANT 66, Neukirchen 1991, 4 ff Anm. 16–21. 2 Auch D. Zeller, der sich seit 1967 mehrfach mit diesem Text beschäftigt hat, bemerkt am Schluss seines jüngsten Beitrags zum Thema (Gerechtigkeit [s. Anm. 6], 69): „Das alte Gemäuer Röm 3,24–26 … erwies sich als Baustelle, auf dem die Exegeten weiter ihre Konstruktionen errichten. Welche am ehesten dem Plan des Paulus entspricht, muss offen bleiben.“ Wenn ich ihn in meiner Diss. „nicht immer korrekt dargestellt“ habe (so a. a. O., 67 Anm. 22), so bedaure ich das. Ich ging jedoch davon aus, dass u. a. aufgrund der in: Tod Jesu, 145 Anm. 165, zitierten Aussage Zellers die Gleichsetzung von Langmut und Vergebung seiner Meinung entspräche. 3 Vgl. dazu auch J. Frey, Probleme der Deutung des Todes Jesu in der neutestamentlichen Wissenschaft. Streiflichter der Diskussion, in: Frey / Schröter, Deutungen (s. Anm. 6), 3–50: 6 f. 4 Harsche Kritik an biblischen Topoi, speziell an bestimmten Deutungen des Todes Jesu, kommt nicht nur von Seiten der Philosophie (Herbert Schnädelbach) oder Psychologie (Tilman Moser), sondern auch aus den Reihen der Theologie. Um nur drei zu nennen: D. Sölle, Christologie auf der Anklagebank, JK 57, 1996, 130–140; J. Vollmer, Zur Deutung des Todes Jesu, DtPfBl 1997, 119–122; W. Zager, Wie kam es im Urchristentum zur Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen? Eine Auseinandersetzung mit Peter Stuhlmachers Entwurf einer ‚Biblischen Theologie des Neuen Testaments‘, ZNW 87, 1996, 165–186. 5 Nach Theißen, Kreuz (s. Anm. 6), war die Deutung des Todes Jesu als „Sühne“ – auch im Sinn einer stellvertretenden „Ersatzleistung“ (432) – in der Antike gerade kein Ärgernis, sondern „kulturkonform“ (444).

Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu nach Röm 3,21–26

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muss zunächst aus sich erklärt werden. Aussagen, die sich vom Kontext der Briefe oder einem Gesamtverständnis der Theologie des Paulus her ergeben, dürfen erst in zweiter Linie bzw. zur Kontrolle herangezogen werden.6 6

Aus der Fülle neuerer Literatur seien genannt Kommentare: M. Theobald, Römerbrief, SKK.NT 6.1-2, Stuttgart 1992 (21998) / 1993; J. A. Fitzmyer, Romans. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 33, New York 1993; S. Bénétreau, L’Épître de Paul aux Romains, CEB 17/19, Vaux-sur-Seine 1996/1997; B. Byrne, Romans, SacPS 6, Collegeville 1996; D. J. Moo, The Epistle to the Romans, NICNT, Grand Rapids 1996; T. R. Schreiner, Romans, BECNT 6, Grand Rapids 1998; K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Berlin 1999; E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 2003; R. Penna, Lettera ai Romani I, SOCr 6, Bologna 2004; R. Jewett, Romans. A Commentary, Hermeneia, Augsburg (MN) 2007. Paulusbücher: J. Gnilka, Paulus von Tarsus. Zeuge und Apostel, HThK.S 6, Freiburg 1996; R. Penna, Paul the Apostle. A Theological and Exegetical Study I-II, Collegeville 1996; J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998; U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003 (dort weitere Literatur). Sammelbände: R. Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. GewaltOpfer-Sühne, Neukirchen 2001; J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005. Forschungserträge bis 2000 bei: M. Theobald, Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000. Wichtige Literatur zu Röm 3,21–26 seit 1991: D. A. Campbell, The Rhetoric of Righteousness in Romans 3.21–26, JSNT.S 65, Sheffield 1992; G. Barth, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen 1992, 37–71; B. H. McLean, The Absence of an Atoning Sacrifice in Paul’s Soteriology, NTS 38, 1992, 531– 553; C. Breytenbach, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne. Semantische und traditionsgeschichtliche Bemerkungen am Beispiel der paulinischen Briefe, NTS 39, 1993, 59–79; P.-G. Klumbies, Das Gottesbild des Paulus. Röm 3,21–31 als Brennpunkt paulinischer Theologie, ZNW 85, 1994, 192–196; W. Schenk, ‚Sühnemittel‘ oder ‚Gnadenort‘? Zur ursprünglichen Codierung von ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ in Röm 3,25, in: C. Mayer u. a. (Hg.), Nach den Anfängen fragen, FS G. Dautzenberg, Gießen 1994, 553–567; B. H. McLean, The Cursed Christ. Mediterranean Expulsion Rituals and Pauline Soteriology, JSNT.S 26, Sheffield 1996; M. Gaukesbrink, Die Sühnetradition bei Paulus. Rezeption und theologischer Stellenwert, fzb 82, Würzburg 1999; C. Breytenbach, Gnädigstimmen und opferkultische Sühne im Urchristentum und seiner Umwelt, in: U. Mell / U. B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte, FS J. Becker, BZNW 100, Berlin 1999, 419–442; H. Merklein, Der Sühnegedanke in der Jesustradition und bei Paulus, in: A. Gerhards / K. Richter (Hg.), Das Opfer. Biblischer Anspruch und liturgische Gestalt, QD 186, Freiburg 2000, 59–91; G. Röhser, Stellvertretung, SBS 195, Stuttgart 2002; D. Stökl Ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity. The Day of Atonement from Second Temple Judaism to the Fifth Century, WUNT 163, Tübingen 2003; D. Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens im Römerbrief. Eine linguistisch-theologische Untersuchung, BWANT 163, Stuttgart 2004, 134–162; J. Schröter, Sühne, Stellvertretung und Opfer. Zur Verwendung analytischer Kategorien zur Deutung des Todes Jesu, in: Frey / Schröter, Deutungen, 51–71; B. Janowski, Das Leben für andere hingeben. Alttestamentliche Voraussetzungen für die Deutung des Todes Jesu, in: Frey / Schröter, Deutungen, 97–118: 110–115; C. Schluep, Der Ort des Christus. Soteriologische Metaphern bei Paulus als Lebensregeln, Zürich 2005, 65–145, bes. 78–130; G. Theißen, Das Kreuz als Sühne und Ärgernis. Zwei Deutungen des Todes Jesu bei Paulus, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 427–455; D. Zeller, Gottes Gerechtigkeit und die Sühne im Blut Christi. Neuerlicher Versuch zu Röm 3,24–26, in: J. Hainz (Hg.), Unterwegs mit Paulus. Otto Kuss zum 100. Geburtstag, Regensburg 2006, 57–69; S. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25, ZNW 97, 2006, 88–110. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund im AT und Frühjudentum s. v. a.: J. W. van Henten, Martyrdom and Persecution Revisited. The Case of 4 Maccabees, in: W. Ameling (Hg.), Märtyrer und Märtyrerakten, AWKol 6, Stuttgart 2002, 59–75; C. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament. Die Signifikanz von Blut- und Verbrennungsriten im kultischen Rah-

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1. Der unmittelbare Zusammenhang Röm 3,21–26 bringt sprachlich und argumentativ einen Neueinsatz: „this pericope departs from the intermediate style of the preceding sections of Romans and moves into the grand or elegant style“7. Der Stil zeichnet sich aus durch eine „extended periodic syntax“, durch komplexe Diktion mit teilweise asyndetischen Satzanschlüssen, die jedoch – nach Cicero – zugleich als einem herausgehobenen Gegenstand angemessen gelten.8 Mit dem Begriff ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ (bzw. ͒‫ )ٓͥ͠׈‬wird nicht nur von 3,21 nach 3,26 eine inclusio gebildet, er ist vielmehr Leitwort im gesamten Abschnitt: Es begegnet auch in 3,22.25, und die verbalen Ausdrücke ͕͚΂͚͖͚͒ͮ͠͝͞͠ (3,24), ֲ͖͚͒͞ ͕͐΂͚͒͠͞ und ͕͚΂͚͒ٓͥ͒͠͞ (3,26), die entweder auf eine Aktion Gottes zurückgeführt werden oder eine ‚Eigenschaft‘ Gottes darstellen, kommen noch hinzu. Dieser Stil und diese Häufung der Begrifflichkeit aus dem Stamm ͕͚΂- verleihen dem Text einen monumentalen Charakter. In 3,21–26 ist ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ durch zusätzliche Angaben bestimmt: Sie ist (1) ͦ͞͞‫ ͎͕ ת‬unabhängig vom Gesetz offenbart worden, steht (2) ihm aber nicht entgegen, da sie von Gesetz und Propheten bezeugt wird.9 Sie ist (3) Glaubensgerechtigkeit durch Christus Jesus, der alle, die gesündigt haben, geschenkweise erlöst / befreit, erweist sich (4) durch die Einsetzung Jesu zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ und hat (5) ihre Finalität zum jetzigen Zeitpunkt in der Erkenntnis, dass Gott gerecht sei und die an Jesus Glaubenden rechtfertige. Demnach steht die Gerechtigkeit Gottes in bestimmter Kontinuität und hat eine präzise aktuelle Zuspitzung: Sie stellt Gottes universales Heilshandeln dar. Hieran kann es jetzt – trotz der Aussichtslosigkeit, die sich aus der Schuldverfallenheit aller Menschen ergeben müsste (1,18–3,20) – keinen Zweifel mehr geben. Damit wird auch der andere Aspekt dieser Gerechtigkeit, von der bereits in 3,5, d. h. „im argumentativen Vorfeld der ‚architektonischen Mitte des Briefes‘ “10 die Rede war, nämlich Gottes „Im-RechtSein“,11 als Kehrseite göttlichen Heilshandelns erkennbar: men, WMANT 94, Neukirchen 2002; J. W. van Henten, The Tradition-Historical Background of Romans 3,25. A Search for Pagan and Jewish Parallels, in: M. C. de Boer (Hg.), From Jesus to John, FS M. de Jonge, JSNT.S 84, Sheffield 1993, 101–128; F. Hartenstein, Zur symbolischen Bedeutung des Blutes im Alten Testament, in: Frey / Schröter, Deutungen, 119–137; H. S. Versnel, Making Sense of Jesus’ Death. The Pagan Contribution, in: Frey / Schröter, Deutungen, 213–294; J. W. van Henten, Jüdisches Märtyrertum und der Tod Jesu (in diesem Band). 7 Jewett, Romans, 269. 8 Campbell, Rhetoric, 81 f, Zitat: 81. Vgl. Cic.or. 97. 9 Dieser Aspekt wird von Schreiber, Weihegeschenk, 89 f und 96, m. E. unterbewertet. 10 Theobald, EdF 294, 208. 11 So m. E. richtig Zeller, Gerechtigkeit, 63; ebenso Haacker, Römer, 78; vgl. Lohse, Römer, 80. Theobald, EdF 294, 208, denkt in Richtung Bundestreue, vermutlich deshalb, weil er 3,25 auf „die ‚Vergebung der vorher geschehenen Sünden‘ “ bezieht (ebd.).

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The issue of the righteousness of God entails divine faithfulness to the promises of salvation as well as a will to defend the right by means of ֝ ּ΃͔͏ (‚the wrath‘), both in the present and in the final judgement … If Paul does undermine the wrath of God, divine righteousness itself is jeopardized.12

Damit ergibt sich für den unmittelbaren Zusammenhang: Gottes universaler Heilswille manifestiert sich in und ist Ausdruck seiner Gerechtigkeit. Die Rechtfertigung der Sünder bedeutet nicht das Übergehen der Sünde, sondern die Erlösung / Befreiung durch Christus.

2. Zur Frage einer vorpaulinischen Überlieferung Die Frage, ob Paulus die ganze Passage Röm 3,21–26 selber formuliert oder in 3,24 ff ein Überlieferungsstück verwendet hat und welchen Umfang dies ggf. hatte, ist umstritten.13 Die Feststellung Klaus Haackers, die Suche nach einem vorpaulinischen Überlieferungsstück verdanke sich „mehr dem Interesse an solchen Traditionsstücken, die womöglich in die Urgemeinde zurückgehen, als klar in diese Richtung weisenden Indizien“14, kann ich jedoch nicht teilen. Die Überladenheit der Satzkonstruktion sowie die verwendeten Begriffe, die z. T. Hapaxlegomena darstellen, sind eben solche Indizien. Die Wortstatistik hat in der Tat nur dienenden Charakter.15 Aber sie kann Indizien sichtbar werden lassen. Dass v. a. in 3,25 f sowohl auf der syntaktischen als auch auf der begrifflichen Ebene Indizien vorliegen, die nach einem Überlieferungsstück fragen lassen, sollte unbestritten sein.16 Eine große Zahl der Ausleger erkennt in 3,25–26a aufgrund dieser Indizien ein vorpaulinisches Überlieferungsstück, das folgenden Umfang hatte: ֿ͞ ͡΃͎͠ͱ͖ͥ͠ ֽ ͱ͖‫ͥ ͞֐ ͚͞͠΃͏֭ͥͤ͒͜ ͣ׬‬١ ͒‫ֱ͚ͥ͒͒͝ ٓͥ͠׈‬ ͖֬ͣ ͕͖͚͚֔͟͞͞ ͥ‫ٓͥ͠׈͒ ͚ͣͮͤ͒͘͞͠΂͚͕ ͣض‬ ͕͚‫ͥ ͚͖ͤ͞΃͍͡ ͞רͥ פ‬٠͞ ͡΃͔͖͔ͭͥͪ͠͠͞͞ ց͒͝΃͍ͥͥͪ͘͝͞ ֐͞ ͥ‫ ط‬րͨ͞͠‫͖ٓ͠ͱ ٓͥ͠ ط‬

In Weiterführung anderer Arbeiten17 habe ich seinerzeit für einen kürzeren Umfang votiert: 12

Jewett, Romans, 247 f. Die jüngeren Kommentare votieren unterschiedlich, vgl. jeweils z. St.: Bénétreau: unsicher; Byrne: ja (V. 25–26a); Fitzmyer: ja (analog Käsemann ab V. 24); Haacker: nein; Jewett: ja (analog Kraus); Lohse: ja (V. 25–26a); Moo: nein; Penna: eher nicht; Schreiner: nein; Theobald: ja. 14 Haacker, Römer, 89. 15 Auf den „begrenzten Argumentationswert von Wortstatistiken“ macht Zeller, Gerechtigkeit, 68, im Anschluss an Campbell, Rhetoric, 51–54, aufmerksam. 16 Siehe dazu im Detail Kraus, Tod Jesu, 15–20. 17 H. Zimmermann, H.-J. van der Minde, H. Langkammer, B. F. Meyer, M. Theobald. 13

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ֿͣ ͡΃͖͎ͥ͠ͱ͘ ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ ֐͞ ͥ١ ͒‫ֱ͚ͥ͒͒͝ ٓͥ͠׈‬ ͕͚‫ͥ ͚͖ͤ͞΃͍͡ ͞רͥ פ‬٠͞ ͡΃͔͖͔ͭͥͪ͠͠͞͞ ց͒͝΃͍ͥͥͪ͘͝͞ ֐͞ ͥ‫ ط‬րͨ͞͠‫͖ٓ͠ͱ ٓͥ͠ ط‬

Dabei kann die Frage, ob das Überlieferungsstück sich auf Christus als logisches Subjekt bezog, also mit ׁͣ (Nom.) begann, oder auf Gott, sodass mit ׁ͞ (Akk.) zu rechnen ist, als untergeordnet gelten.18 Immerhin sind die Beziehung von ͒‫ ٓͥ͠׈‬in ֐͞ ͥ١ ͒‫ – ֱ͚ͥ͒͒͝ ٓͥ͠׈‬wenn denn Gott Satzsubjekt ist – sowie das ͥٓ͠ ͱ͖ٓ͠ bei ֐͞ ͥ‫ ط‬րͨ͞͠‫ – ͖ٓ͠ͱ ٓͥ͠ ط‬wenn denn ֽ ͱ͖ͭͣ zum ursprünglichen Bestand gehört – als sprachlich sperrig zu beurteilen. Wichtiger ist die Frage, ob die Phrase ͖֬ͣ ͕͖͚͚֔͟͞͞ ͥ‫͚ͣͮͤ͒͘͞͠΂͚͕ ͣض‬ ͒‫ ٓͥ͠׈‬in 3,25 zum Grundbestand gehörte oder nicht. Neben dem Argument, es sei schwer vorstellbar, dass der Erweis der Gottesgerechtigkeit in 3,25 einen anderen Sinn als den in 3,26 haben sollte,19 ist ein Weiteres zu bedenken: Angenommen, der Begriff ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ gehörte ursprünglich zum Überlieferungsstück,20 dann fragt es sich, warum die Rede von der ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ (ͥٓ͠) ͱ͖ٓ͠ und deren ͕͖͚͚֔ͣ͟͞ in den frühen Briefen des Paulus keine Rolle spielt.21 Im 1Thess fehlt ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ ganz. Im 1Kor findet sich nur in 1,30 in Zusammenstellung mit ͤͧ͐͒͠ ր͡‫ٓͥ͠ ׬‬ ͱ͖ٓ͠ das Wort ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞, hier jedoch bezogen auf die Gemeinde und zudem durch ͥ‫ ͐͒΂ צ‬eng verbunden mit dem Folgenden: ց͔͚͒ͤ͝‫ת͒΂ ͣ׬‬ րͮͥ͜͡͠΃͚ͪͤͣ. Im Gal, wo Rechtfertigungsterminologie durchgehend verwendet wird und die Rechtfertigungslehre des Paulus erstmals in ausgeführter Form begegnet, fehlt der Begriff ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ – Gal 3,21 ist anders gelagert22 –, auch wenn die Rede von Gottes Gerechtigkeit in der Argumentation hervorragend gepasst hätte. Erstmals vor dem Röm begegnet ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ in 2Kor 5,21, und zwar in einer Zuspitzung auf die Glaubenden.23 Phil 3,9 spricht von der ֐΂ ͱ͖ٓ͠ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ als Glaubens18 Zur Begründung auf formgeschichtlicher und syntaktischer Basis s. Kraus, Tod Jesu, 17.18 f. Inwiefern hierbei ein „ziemlich gewaltsamer Umgang mit dem Text“ vorliegen soll (so der Vorwurf bei Zeller, Gerechtigkeit, 68 Anm. 25), kann ich nicht so recht einsehen. Wenn man bedenkt, welche Umformungen das Tempellogion Jesu oder die Einsetzungsworte des Herrenmahls im Neuen Testament durchgemacht haben, sind Modifikationen oder Adaptionen durchaus vorstellbar. Für Paulus selbst mag man auch an die situativen Adaptionen denken, die zwischen 1Kor 7,19, Gal 5,6 und Gal 6,15 bzw. zwischen 1Kor 12,13 und Gal 3,28 sichtbar werden. 19 M. Theobald, Das Gottesbild des Paulus nach Röm 3,21–31, in: ders., Studien zum Römerbrief, WUNT 136, Tübingen 2001, 30–67: 44 f. 20 Die Frage nach Herkunft und Sitz im Leben ist davon zu unterscheiden. Zur Frage, ob das Überlieferungsstück aus dem Bereich der Hellenisten um Stephanus stammte, s. u. Abschnitt 4. 21 Natürlich könnte man annehmen, Paulus habe das Überlieferungsstück erst spät kennen gelernt. Gleichwohl bleibt die Frage unbeantwortet, warum er die Rede von der ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ erst in späteren Briefen aufgreift, sollte sie schon vor und neben ihm in Gebrauch gewesen sein. 22 Vgl. auch Theobald, EdF 294, 207. 23 Vgl. Theobald, EdF 294, 207. Die Rede von der Gerechtigkeit Gottes ist m. E. auch ein Argument zur Bestimmung der zeitlichen Abfolge von Gal und 2Kor: 2Kor (zumindest Kap. 1–8)

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gerechtigkeit (֐͡‫ )͚͖ͥͤ͐͡ طͥ ת‬im Gegenüber zu ֐͝‫΂֐ ͞רͥ ͚ͮͤ͒͘͞͞͠΂͚͕ ͞ר‬ ͭͦ͞͝͠, nicht aber von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes.24 Ich bin daher der Meinung, dass es sich bei der Vorstellung einer Offenbarung (Röm 1,17 f), eines Erscheinens (3,21) bzw. Erweises der Gerechtigkeit Gottes (3,25.26) um ein Spezifikum im Röm handelt. Die Rede von der Gerechtigkeit Gottes mit ihren heilvollen Aspekten hat zwar unbestreitbar ihre Vorläufer im AT und Frühjudentum.25 Das rechtfertigende Handeln Gottes in Jesus Christus in den Horizont der Gerechtigkeit Gottes gestellt zu haben, scheint mir jedoch eine Besonderheit des Paulus zu sein. Die Rede von der Gerechtigkeit Gottes hat er demnach wohl selbst in die urchristliche Theologiegeschichte eingebracht und nicht aus vorpaulinischer Tradition übernommen. Die Wendung ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ ist damit zwar keine paulinische Schöpfung,26 aber sie ist im NT paulinische „Zuthat“ (Kierkegaard). Damit bietet sich der o. g. Umfang der vorpaulinischen Überlieferung doch als die wahrscheinlichste Lösung an.27

3. Begrifflichkeit und Aussageabsicht der vorpaulinischen Überlieferung Bei der Analyse der von Paulus verwendeten Überlieferung, die in ihrem Inhalt auch bei denen, die ein Überlieferungsstück voraussetzen, hoch umstritten ist, liegt es methodisch nahe, vom philologisch Gesicherteren auszugehen, dann den umstrittenen Begriff ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ zu betrachten und schließlich eine Interpretation des Überlieferungsstückes zu versuchen. 3.1 պ͚͊͘͢ Das Substantiv ist im NT zweimal belegt: Röm 2,4; 3,26, jeweils mit Gott als Subjekt. In 2,4 steht րͨ͞͠͏ neben ٓͥͣ͜͡͠͠ ͥ‫ ͣͥͥͭͥͤ͘͘͠΃ͨ ͣض‬und ͒͝΂΃͠ͱͦ͐͒͝. Gottes Übermaß an Güte, seine րͨ͞͠͏ und Geduld sollen nicht missverstanden werden als Zeichen von Untätigkeit oder mangelnder Fähigkeit zu strafen, sondern als „Ermöglichung der Umkehr“28. րͨ͞͠͏ dürfte nach dem Gal entstanden sein. Vgl. zur zeitlichen Einordnung jüngst M. Hengel, Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien, Tübingen 2006, 106 ff, hier: 108 Anm. 215. 24 Die Unterschiede zwischen den Belegen im Röm und denen in anderen Briefen betont auch Haacker, Römer, 41 f mit Anm. 81. Das Bild ändert sich nur wenig, wenn der Phil nicht als letzter Gemeindebrief des Paulus anzusehen ist, sondern aus einer ephesinischen Gefangenschaft stammt. 25 Vgl. dazu die Exkurse bei Lohse, Römer, 78–81; Haacker, Römer, 39–42. 26 Richtig Theobald, EdF 294, 211. 27 So auch Jewett, Romans, 271.283–291. 28 Haacker, Römer, 61; vgl. Lohse, Römer, 99.

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heißt in diesem Kontext „Langmut“ im Sinn der Verzögerung des Gerichts, also „Zurückhaltung“ oder „An-Sich-Halten“ Gottes. Der Zusammenhang von Gottes Geduld und Umkehr der Menschen ist im AT und Frühjudentum belegt, vgl. Joel 2,13; Ps 7,12 ff; Sir 5,4–7 (jeweils ͒͝΂΃ͭͱͦͣ͝͠) u. ö. Gleiches gilt für den Zusammenhang von ͒͝΂΃ͭͱͦͣ͝͠ und Vergebung, vgl. Ex 34,6 f; Num 14,18; 2Esr[Neh] 19,17 u. ö., auch wenn man nicht von einer Identifikation, sondern eher von einer Assoziation sprechen kann.29 Die Vorstellung, wonach Gott ‚durch seine Geduld vergebe‘,30 lässt sich hingegen nicht nachweisen. Vor allem lässt sich kein Zusammenhang von րͨ͞͠͏ und Vergebung nachweisen. Das Substantiv րͨ͞͠͏ begegnet im AT nur in 1Makk 12,25. Dort heißt es im Kontext des Krieges „Verschnaufpause“. Dieser Kontext spielt auch im profangriechischen Gebrauch eine wichtige Rolle.31 Bei Philon (legat. 100) und Josephus (Bell. 1,173; Ant. 6,72 f; 7,281) hat րͨ͞͠͏ ebenfalls mit Kriegshandlungen zu tun und meint Kampfpause, Aufschub, Waffenstillstand, Verschnaufpause; v. a. in Ant. 7,281 dominiert wiederum der zeitliche Aspekt.32 Innerhalb der jüdischen Pseudepigraphen, in Arist 194 und 1Hen 13,2, bedeutet րͨ͞͠͏ die Zurückhaltung bzw. das Zuwarten und die Nachsicht bzw. den Strafaufschub, jeweils auf das Gericht Gottes bezogen. Die Verben ր͎͖͚ͨ͞͞ und ր͎͖ͨͤ͞ͱ͚͒ bezeichnen mit Gott als Subjekt ein Aushalten (Jes 1,13), Tragen / Ertragen (46,4), ein Verhalten des Zuwartens oder Sich-zurück-Haltens, das sich auf das Gericht wie auf das erwartete Heil beziehen kann: Jes 63,15; 64,12[11] (Gott hält sich vor dem Volk zurück); Hag 1,10; PsSal 17,18; Sir 48,3 (der Himmel hält den Regen zurück). Damit ergibt sich: րͨ͞͠͏ ist nicht gleichzusetzen mit ͒͝΂΃͠ͱͦ͐͒͝ und kann daher auch nicht mit Vergebung assoziiert werden. Ebenso wenig lassen die verbalen bzw. adjektivischen Belege für ր͎͖͚ͨ͞͞ ΂ͥ͜. und ͒͝΂΃͠ͱ͖ͦ͝‫ͥ͜΂ ͞ل‬. eine Gleichsetzung zu.33 րͨ͞͠͏ meint nicht die gött29

Zeller, Gerechtigkeit, 67 Anm. 22. Dies gilt jedoch für Gottes Langmütig-Sein (͒͝΂΃ͭͱͦͣ͝͠), nicht für րͨ͞͠͏ bzw. ր͎͖͚ͨ͞͞. 30 So U. Wilckens, Der Brief an die Römer I, EKK 6.1, Zürich u. Neukirchen 21987, 196 f. Den von ihm genannten Belegen lässt sich das m. E. nicht entnehmen. Die „Traditionslinie, die im Kontext der Exhomologese unter Berufung auf Ex 34,6 f Vergebung der voll eingestandenen Sünden durch Gottes Güte und Langmut und Geduld erbittet“ (197), kann ich nicht erkennen. Gottes Geduld kann Motiv, aber nicht Mittel der Vergebung genannt oder mit dieser identifiziert werden. 31 Belege bei Kraus, Tod Jesu, 113. 32 Ich kann daher der Aussage Zellers (Gerechtigkeit, 64 Anm. 16) nicht zustimmen: „րͨ͞͠͏ hat nirgends den Sinn eines Zeitraums – die Recherche von Kraus, 112–149 ändert daran nichts.“ 33 Vgl. zu diesen Belegen im Detail Kraus, Tod Jesu, 116–149. Mehrfach ist dabei ր͎͖͚ͨ͞͞ / ր͎͖ͨͤ͞ͱ͚͒ Wiedergabe von hebr. Īħē hitp. (Gen 45,1; Jes 42,14; 63,15; 64,12[11]). Beim einzigen Beleg, wo hebr. Īħē hitp. mit ͒͝΂΃͠ͱ͖ͦ͝‫ ͞ل‬wiedergegeben wird, Sir 35,19 (Rahlfs), heißt es, dass Gott gegenüber den Völkern nicht Geduld walten lässt, sondern Vergeltung übt. Die griechische Wiedergabe der Stellen, an denen hebr. Īħē hitp. begegnet, lässt demnach keine Beziehung zwischen րͨ͞͠͏ / ր͎͖͚ͨ͞͞ / ր͎͖ͨͤ͞ͱ͚͒ und Vergebung erkennbar werden.

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liche Vergebungsbereitschaft und ist nicht in sich selbst eine Bezeichnung für Gottes Heilshandeln. Vielmehr ist mehrfach ein Nicht-Handeln Gottes gemeint, das an einigen Stellen selbst einen Ausdruck göttlichen Gerichtshandelns darstellt: Jes 63,15; 64,12[11]; Am 4,7; Hag 1,10; Sir 48,3 (Zurückhaltung des Regens bzw. des Heils). Die zeitliche Komponente, die den vorübergehenden Aspekt dieses Verhaltens unterstreicht, ist an vielen Stellen evident. Von daher ist es wahrscheinlich, dass die Phrase ֐͞ ͥ‫ ط‬րͨ͞͠‫ط‬ ͥٓ͠ ͱ͖ٓ͠ in Röm 3,26 auf eine bestimmte Zeitspanne hinweist, in der Zurückhaltung geübt wurde. Der zeitliche Aspekt ergibt sich nicht erst aus der Parallelität zu ֐͞ ͥ١ ٓ͞͞ ΂͚͒΃١, sondern liegt in րͨ͞͠͏ selbst. Wenn, wie oben dargestellt, die Phrase ֲ͖ͣ ͕͖͚͚֔͟͞͞ ͥ‫ٓͥ͠׈͒ ͚ͣͮͤ͒͘͞͠΂͚͕ ͣض‬ nicht zum ursprünglichen Bestand der Überlieferung gehörte, dann ist durch den zeitlichen Sinn von րͨ͞͠͏ auch nicht die göttliche Gerechtigkeit infrage gestellt;34 vielmehr muss dann րͨ͞͠͏ auf eine bestimmte Epoche göttlichen Zuwartens bezogen werden, die durch ein in der Jetztzeit erfolgtes Handeln Gottes an ihr Ende gekommen ist. Ob es sich dabei um ein Zuwarten zum Gericht oder zum Heil handelt, muss der Kontext ergeben. 3.2 ͈͛ͽ͕͑͞͝ Hierzu sind vorweg drei Dinge festzuhalten: (1) ͍͡΃͖͚ͤͣ ist von Hause aus nicht gleich ք͖͚ͧͤͣ,35 (2) ͍͡΃͖͚ͤͣ / ͒͡΃͚͎͚͒͞ kann in bestimmten Kontexten Erlass / erlassen bedeuten, in anderen Kontexten hingehen lassen / nicht beachten / übersehen.36 Entscheidend für das Verständnis ist der Kontext. (3) Die Interpretation von ͍͡΃͖͚ͤͣ in Röm 3,25 darf dabei nicht von der Heilsgerechtigkeit her präjudiziert werden, sondern muss vom Text der vorpaulinischen Überlieferung aus erfolgen.37 In der LXX ist das Substantiv nicht, das Verbum dagegen häufig belegt. Die Ausleger sind sich darin einig, dass eine Entscheidung über das Verständnis von ͍͡΃͖͚ͤͣ/͒͡΃͚͎͚͒͞ nur vom Kontext her erfolgen kann. Wenn nun ͒͡΃͚͎͚͒͞ im Verbund mit Sünden bzw. Verfehlungen begegnet, dann ist die Lage bei drei von insgesamt vier Stellen (Xenophon, Eq.mag. 7,10; 34

Gott muss sich in der Tat „nicht rechtfertigen wegen eines Strafaufschubs in der Vergangenheit“; so mit Recht Zeller, Gerechtigkeit, 68. 35 Anders Lohse, Römer, 133.135 f. Vorsichtiger Haacker, Römer, 92 Anm. 47, mit Verweis auf Apg 14,16; 17,30: Gott habe die Heidenvölker bisher ihre eigenen Wege gehen lassen bzw. die Zeiten der Unwissenheit, d. h. heidnischen Götzendienst, „übersehen“. Hat Gott damit „vergeben“? 36 Die Belege müssen hier nicht noch einmal aufgeführt werden, sie sind verzeichnet in Kraus, Tod Jesu, 98–102. Den Beleg bei Appian Bas. 13.1, den Campbell, Rhetoric, 45 für „Übersehen“ bietet und Zeller, Gerechtigkeit, 60 Anm. 5, als neuen Beleg für „Übersehen“ aufführt, habe ich in Kraus, Tod Jesu, 99 Anm. 34, genannt. Einen neuen Beleg für „Schuldenerlass“ bietet Penna, Romani, 341: SEG 39 § 1243 (vgl. auch Zeller, ebd.). 37 Campbell, Rhetoric, 45–51, der für „release“ oder „forgive“ plädiert, bestreitet eine vorpaulinische Überlieferung und begründet sein Verständnis vom Kontext der Heilsgerechtigkeit her.

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Dionysius Halic., Ant.Rom. 2,35,4; Josephus, Ant. 15,48) relativ eindeutig: Es handelt sich nicht um den Sinn „Erlass / erlassen“, sondern um „left unpunished and passed over but not pardoned“38. Schwierigkeiten bietet das Verständnis von Sir 23,2 f, dem einzigen LXX-Beleg für ͒͡΃͚͎͚͒͞ im Verbund mit Verfehlungen. Im Hintergrund steht hier – dies legt das Stichwort ͘͜͡ͱ͖͚ͮ͞͞ nahe – die Vorstellung vom „Sündenmaß“, vgl. Sir 5,4 ff; 2Makk 6,12–17; PsSal 10,1, auch Hebr 12,5 ff u. ö.39 Die Unbedachtsamkeiten sollen nicht überhand nehmen und die Sünden nicht zum Vollmaß kommen, denn das würde unweigerlich das Gericht Gottes provozieren. Damit dies nicht geschieht, straft bzw. züchtigt Gott diejenigen, die er liebt, bevor das Sündenmaß voll ist. Im Gebet Sir 23,1–6 wird Gott eben darum gebeten, die Peitsche über das Denken und die Zuchtrute der Weisheit über das Herz zu schwingen, „damit sie40 die Vergehen nicht schonen und ihre41 Verfehlungen nicht durchgehen lassen“ (23,2). So ist auch für diese schwierige Stelle „hingehen lassen“ als wahrscheinlichstes Verständnis anzunehmen, wodurch für alle vier Belege, an denen ͒͡΃͚͎͚͒͞ im Verbund mit Sünden bzw. Verfehlungen begegnet, der gleiche Sinn vorausgesetzt werden darf: hingehen lassen, nicht jedoch vergeben. 3.3 ֧͍͗͊͟͞ͽ͕͚͘ Das Wort ist ein substantiviertes Adjektiv und begegnet im Corpus Paulinum nur hier. Es findet sich im übrigen NT nur noch in Hebr 9,5, hier jedoch mit Artikel. Die adjektivischen bzw. substantivischen Belege für ֭͒ͤͥ͜͏΃͚ͣ͠ bzw. ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ werden seit über 100 Jahren diskutiert und sind allgemein bekannt.42 Alle neueren Interpreten sind sich im Übrigen darin einig, dass in Röm 3,25 f eine Aussage mit heilvoller Absicht vorliegt. Der Mensch erfährt Gottes Heilshandeln, indem Gott Jesus zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ einsetzt. Die Diskussion dreht sich also „lediglich“ um den traditionsgeschichtlichen Hintergrund, der mit diesem Begriff angesprochen ist. Das Verständnis schwankte im Wesentlichen – mit gewissen Schattierungen und vermittelnden Akzentsetzungen – zwischen zwei Ableitungsmöglichkeiten: entweder vom stellvertretenden Sühnetod der Märtyrer her

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Jewett, Romans, 290 (die Belege a. a. O., 289 Anm. 206, für Xenophon und Dionysius Halic. sind zu korrigieren). 39 Zur Sache vgl. R. Stuhlmann, Das eschatologische Maß im Neuen Testament, FRLANT 132, Göttingen 1983; P. W. Skehan / A. A. di Lella, The Wisdom of Ben Sira, AncB 39, New York 1987, 179 ff. 40 „Sie“ bezieht sich wohl auf die Peitsche und die Zuchtrute. 41 „Ihre“ bezieht sich wohl zurück auf Denken und Herz. Der griechische Text liest hier ͒‫ͥ׈‬٠͞, was aber vielleicht in ͦ͝͠ zu korrigieren ist, vgl. Kraus, Tod Jesu, 101 Anm. 51. 42 Soweit ich sehe, ist zu den bei Kraus, Tod Jesu, 21–32, genannten Belegen nur einer aus der Lindischen Tempelchronik hinzugekommen; dazu s. u. nach Anm. 47.

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oder aus dem Tempelkult, speziell von der ĭīħĞ bzw. (offener) vom Sühneort her.43 Jüngst ist eine dritte Möglichkeit hinzugekommen. Nun kann vorweg Folgendes festgehalten werden: (1) ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ ist in Röm 3,25 Prädikatsnomen. Beim Prädikatsnomen und wenn es sich um Formelsprache handelt, kann der Artikel fehlen. (2) Für sich genommen bedeutet das substantivisch gebrauchte ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ nirgends sonst „Sühnopfer“ oder „Sühnemittel“ (zu Ant. 16,182 s. u.), ganz zu schweigen von „Sühnung“ oder „Sühner“ oder „Versöhnungsdenkmal“ o. ä.44 (3) Die Übersetzung durch „Sühne“ weicht dem eigentlichen Interpretationsproblem aus. (4) Die Endung -ͥ‫ ͚͞͠΃ש‬weist normalerweise auf lokalen Bezug hin.45 Stefan Schreiber hat jüngst den Vorschlag gemacht, den Begriff ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ als Weihegeschenk zu verstehen.46 Die bekannten Belege für diesen Sprachgebrauch sind zwei Inschriften der Insel Kos (Nr. 81 und 347) sowie je eine Stelle bei Dion Chrysostomos (or. 11,121) und Josephus (Ant. 16,182).47 Schreiber hat die bisher diskutierten Belege um einen aus der Lindischen Tempelchronik ergänzt,48 dessen Schreibweise jedoch abweicht: ֭͒ͥ͜͏[΃͚]͠͞. Der Text lautet übersetzt: „Telephos (gab) eine Trinkschale mit goldenem Mittelteil, auf dem geschrieben stand: Telephos der Athana (als) Weihegeschenk, wie der Lykische Apollon sagte.“49 Schreiber deutet dann – unter der Voraussetzung, dass die Praktiken, Weihegeschenke für die Gottheit aufzustellen, als „regelrechte Massenphänomene“50 zu beurteilen seien – die Aussage in Röm 3,25 so: Paulus ruft … eine verbreitete, konkrete Praxis bei Hörerinnen und Hörern seines Briefes wach. Aber während im bekannten Vollzug es immer der Mensch ist, der etwas gibt, um die Gottheit gnädig zu stimmen, funktioniert das bei Paulus gerade umgekehrt: Gott stellt ein Weihegeschenk für die Menschen hin! Und zwar in aller Öffentlichkeit, für alle sichtbar.51

Das Verständnis dieses paradoxen Bildes steuere Paulus mit zwei Appositionen: mit der Wendung „durch den Glauben“ und dem Ausdruck „in seinem Blut“, der metonymisch den gewaltsamen Tod Jesu bezeichne. 43

Literatur bis ca. 1990 bei Kraus, Tod Jesu, 4 ff Anm. 16–21. Siehe die verschiedenen Vertreter dieser Übersetzungen bei Kraus, Tod Jesu, 6 Anm. 21. 45 BDR § 109.8, vgl. § 1131. 46 Schreiber, Weihegeschenk, 88–110; vgl. zuvor bereits K. Grayston, HILASKESTHAI and related words, NTS 27, 1981, 640–656: 653: „votive gift“ (vgl. Kraus, Tod Jesu, 6 Anm. 21). 47 Belege bei Schreiber, Weihegeschenk, 100 f, vgl. schon A. Deißmann, ֭͒ͤͥ͜͏΃͚ͣ͠ und ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞, ZNW 4, 1903, 193–212: 195 f; Kraus, Tod Jesu, 26.27 f. 48 Der Text findet sich bei C. Blinkenberg (Hg.), Die Lindische Tempelchronik (KlT 131), Bonn 1915, 12 (Inschrift B 49 Z. 48–50). 49 Übersetzung nach Schreiber, Weihegeschenk, 101. 50 Schreiber, Weihegeschenk, 103. 51 Schreiber, Weihegeschenk, 105. 44

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Das Weihegeschenk Gottes ist also der ermordete Jesus von Nazaret; es geht nicht um Dinge, sondern um Personen. Das ist blutiger Ernst, eine tatsächliche Wirklichkeit, die jeder sehen kann.52

Die Interpretation von Stefan Schreiber ist philologisch möglich. Seine Deutung des Todes Jesu als Gottes Heilstat passt in den Kontext paulinischer Theologie.53 Dennoch halte ich sie in ihrer speziellen Zuspitzung für höchst unwahrscheinlich. Gegen Schreibers These spricht: (1) Zunächst muss man fragen, warum Paulus für eine so spezifische, von Schreiber selbst als „Ungeheuerlichkeit, nahezu Blasphemie“54 bezeichnete Aussage nicht die geläufigeren Begriffe ր͍͞ͱ͒͘͝, ͨ͒΃͚ͤͥ͏΃͚͠͞ oder ͖‫ ͚͞͠΃͏͚ͥͤ΃͒ͨ׈‬bzw. ͕٠΃͠͞, sondern das seltene Wort ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ verwendet.55 Wie für die anderen Ableitungsversuche gilt auch hier: Das Verständnis von ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ als Weihegeschenk ist in der Kürze des Ausdrucks in Röm 3,25 nicht eindeutig. In Abwandlung einer Aussage von Schreiber könnte man formulieren: Die Voraussetzung für diese Deutung ist, „dass ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ in Röm 3,25 mit hinreichender Eindeutigkeit auf [Weihegeschenk] Bezug nimmt. Diese Voraussetzung ist falsch.“56 (2) Bei keinem der Belege für Weihegeschenk spielt Blut bzw. Lebenshingabe irgendeine Rolle. (3) Schreiber führt gegen das Verständnis von ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ als „Sühneort“ u. a. an, dass Philon, bevor er (Mos. 2,95) den Begriff ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ einführt, diesen durch einen Vorsatz, der die „konkrete Vorstellung eines Ladedeckels“ enthält, erklärt57 (֐͐͡ͱ͖͒͝ ‫͡ ת͖͒ͤ͞ו‬٠͒͝ ͥ‫)͚͞͠΃͏֭ͥͤ͒͜ ͚͓͓ͣ͐͜͠ ͣل͒΃͖֭ ͞֐ ͖͔͖ͭ͜͞͠͞͝ ׬‬. Entsprechendes gilt für das Verständnis als Weihegeschenk im Kontext von Röm 3 umso mehr. Die Erklärung, die Philon gibt, ist eher durch Bedürfnisse seiner Leserschaft hervorgerufen und sagt nichts aus darüber, ob der Begriff ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ auch ohne Erklärung eindeutig sein kann. Dass Philon darüber hinaus mit diesem Begriff etymologisch inspirierte „allegorische Interpretationen“ verbindet, „ohne dabei ein Sühnopfer auch nur zu erwähnen“58, besagt hinsichtlich der Möglichkeit, ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ als „Sühneort“ zu verstehen, weder positiv noch negativ etwas – zumal, wenn man bedenkt, dass ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ eben nicht für 52

Schreiber, Weihegeschenk, 106. Schreiber, Weihegeschenk, 90 f, geht davon aus, dass es sich in Röm 3,21–26 um genuin paulinische Formulierungen und nicht um die Aufnahme eines Überlieferungsstückes handelt. 54 Schreiber, Weihegeschenk, 106. 55 Schreiber, Weihegeschenk, 107, beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf ͍֭ͤ͜΂͚͒͠͝ (Med.): Das Verb „bedeutet ‚die Gottheit für sich wieder geneigt machen‘; das Suffix -ͥ‫͚͞͠΃ש‬ bezeichnet den Ort des Geschehens (BDR § 109,10) – etymologisch ist das ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ also ein ‚Geneigtmach-Ort‘.“ Es stellt sich die Frage, ob die Leser des Röm dies nachvollziehen konnten. 56 Schreiber, Weihegeschenk, 93 (kursiv im Original). Statt „[Weihegeschenk]“ steht im Text bei Schreiber „Lev 16“. 57 Schreiber, Weihegeschenk, 102. 58 Schreiber, Weihegeschenk, 95. 53

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Sühnopfer steht. (4) Der einzige Beleg aus dem jüdischen Bereich, in dem ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ möglicherweise im Sinn von Weihegeschenk benutzt wird, ist Ant. 16,182.59 Dabei ist nicht unumstritten, ob ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ hier adjektivisch oder substantivisch zu verstehen ist.60 Adolf Deißmann hielt prädikativen Gebrauch eines Substantivs für „wahrscheinlicher“. Er interpretierte daraufhin ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ als „Sühnemittel“. Dann meint ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ hier gerade nicht „Weihegeschenk“, sondern Letzteres besteht im Denkmal (͝͞‫!)͒͝ض‬ Dies ist nach Deißmann zwar „nicht ausgesprochen, darf aber vermutet werden“61. Substantivisches Verständnis ist in Ant. 16,182 jedoch nur möglich, nicht sicher. Es wäre im Übrigen die einzige Stelle, an der ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ „Sühnemittel“ bedeutete.62 D. h., die sicheren substantivischen Belege für ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ als Weihegeschenk schrumpfen auf drei, die sämtlich aus dem nichtjüdischen Bereich stammen. Alle (!) anderen substantivischen Belege aus dem jüdischen Bereich haben entweder die ĭīħĞ oder einen anderen Ort im Blick, der mit kultischen Vollzügen in Beziehung steht.63 Dies gilt auch für den einzigen weiteren neutestamentlichen Beleg, Hebr 9,5. (5) Schließlich, und dies scheint mir wichtig zu sein: die Interpretation von Schreiber funktioniert nur, weil er die zweite Vershälfte von Röm 3,25 und die erste von 3,26 bei seiner Auslegung – so weit ich sehen kann – vernachlässigt. In seiner Übersetzung gibt er 3,25b–26a so wieder: „wegen des Erlasses der vorher geschehenen Vergehen während der Geduld Gottes“.64 Er versteht also – m. E. sachgemäß – ͕͚͍ mit Akk. in kausalem Sinn.65 Was bedeutet dann die Aussage, Jesus sei eingesetzt als Weihegeschenk zum Offenlegen der Gerechtigkeit Gottes wegen des Erlasses früherer Verfehlungen während der Geduld Gottes? Mir bleibt die Logik verschlossen. Hinsichtlich der Möglichkeit, ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ in Zusammenhang mit dem stellvertretenden Sühnetod der Märtyrer zu verstehen, sind die entscheiden59 Die Aussage von Schreiber, Weihegeschenk, 101, verschiebt die Proportionen: „Auch jüdisch-hellenistischem Sprachgebrauch gilt ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ somit als ‚Weihegeschenk‘.“ Es handelt sich um eine Ausnahme! 60 Diskussion bei Deißmann, ֭͒ͤͥ͜͏΃͚ͣ͠, 196. 61 Deißmann, ֭͒ͤͥ͜͏΃͚ͣ͠, 196. 62 Schreiber, Weihegeschenk, 102 Anm. 61, notiert mit Recht, dass die Allgemeinbedeutung „Sühne“ oder „Sühnemittel“ für ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ „praktisch nicht belegt“ sei. 63 Nach Theißen, Kreuz, 435 Anm. 22, bestehe ein „unwesentlicher Unterschied“ zwischen 4Makk 17,22 und Röm 3,25 darin, dass ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ in 4Makk Adjektiv, in Röm 3 Substantiv sei, denn „das Adjektiv ist in 4Makk 17,22 eindeutig substantiviert. Wörtlich steht dort: ‚durch das Sühnende ihres Todes hat er … gerettet.‘ “ Diese Übersetzung basiert auf der Lesart von Rahlfs (ͥٓ͠ ֭͒ͤͥ͘͜΃͐ͦ͠ ͥٓ͠ ͱ͍͒ͥͦ͞͠), die v. a. durch den Sinaiticus bezeugt wird (in der Revision von R. Hanhart beibehalten), daneben nur durch die Minuskeln 62 und 577 und durch MenologienHss. Die „eindeutig besser bezeugte Lesart“ (H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch, JSHRZ III.6, Gütersloh 1989, 753 Anm. 22a) ist jedoch die adjektivische: „durch ihren sühnenden Tod …“ 64 Schreiber, Weihegeschenk, 89. 65 Für kausales Verständnis votiert auch Theißen, Kreuz, 436 f.

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den Aspekte in der Literatur ausführlich diskutiert worden. Die neueren Arbeiten fügen den bekannten Argumenten insofern Wesentliches hinzu, als immer mehr Zurückhaltung geübt wird, die Stellen aus dem 2. Makkabäerbuch als Belege für einen stellvertretenden Sühnetod der Märtyrer anzusehen.66 Es bleibt daher dabei: Nur in 4Makk 6,28 f und 17,21 f ist von einem stellvertretenden Sühnetod der Märtyrer die Rede. Dan 3,40LXX, von Schreiber und anderen als Vergleichstext für die „Lebenshingabe des Märtyrers als Sühnopfer“ herangezogen,67 ist (a) textkritisch nicht ohne Probleme und enthält (b) nicht den Gedanken der Stellvertretung.68 Letzteres gilt auch für 2Makk 7,37 f: Die Märtyrer sterben als „Zeugen“ für die väterlichen Gesetze und nicht schuldlos oder stellvertretend.69 Ein entscheidendes Problem der Herleitung besteht in der Datierung des 4. Makkabäerbuches. Nach gegenwärtigem Forschungsstand ist die wahrscheinlichste Datierung die zwischen 90 und 100 n. Chr.70 Damit kommt man wohl an folgender Einsicht nicht vorbei: „This new dating removes one of the most important texts from the hands of those scholars who used this passage to explain Rom 3:25 against the background of Jewish martyr theology.“71 Nach Daniel Stökl 66

Vgl. Frey, Probleme, 35; Versnel, Making Sense; van Henten, Märtyrertum. Schreiber, Weihegeschenk, 97. 68 Vgl. Kraus, Tod Jesu, 36 f mit Anm. 28.34 ff. Inzwischen liegt zu Daniel die durch O. Munnich bearbeitete 2. Aufl. der Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum 16.2 (Göttingen 1999; 1. Aufl. ed. J. Ziegler, 1954) vor, in der P 967 vollständig eingearbeitet ist. In Dan 3,40LXX bietet P 967 statt ΂͒‫( ͦͤ͠ ͎͞ͱ͚ͤ͡׀ ͚͍͚͒ͤ͜͟֐ ת‬so Minuskel 88 und Syh) nur ΂͒‫͚͍͚͒ͤ͜͟֐ ת‬. Munnich (53 f) hält dies für eine auf den Schlusssatz ΂͒‫ ͚͚͖͖͒ͤͯͥ͜ ת‬bezogene Glosse. Diese Entscheidung mag man bezweifeln. In seiner Bearbeitung der Handausgabe von A. Rahlfs (Editio altera, Stuttgart 2006) ist R. Hanhart bei der früheren Lesart geblieben, hat jedoch die Akzentsetzung von ֐͚͍͚ͤ͒͟͜ (3. Sing. Opt. Aor. akt.) in ֐͚͐͒ͤ͒͟͜ (Imp. Aor. med.) geändert. Zur Diskussion vgl. demnächst: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in Übersetzung, Stuttgart 2007, z. St. Inhaltlich gilt aber das bereits früher Ausgeführte: Nach Dan 3,28 ff.37LXX gehören die ihr Leben opfernden Männer zur Solidargemeinschaft der Sünder, es lässt sich daher nicht von stellvertretendem Sühnetod sprechen. Ihre Lebenshingabe soll auf Gott begütigend einwirken. 69 Vgl. Kraus, Tod Jesu, 34 f. Kritisch gegen eine Deutung auf das Selbstopfer der Märtyrer auch Röhser, Stellvertretung, 72 ff.117 ff. Zum Interpretationsproblem von 2Makk 7,37 vgl. auch van Henten, Märtyrertum, 155 f. 70 Klauck, JSHRZ III.6, 668 f. Auch J. W. van Henten, Datierung und Herkunft des Vierten Makkabäerbuches, in: Tradition and Re-interpretation in Jewish and Early Christian Literature, FS J. C. H. Lebram, StPB 36, Leiden 1986, 136–149, geht von einer Entstehung in dieser Zeit aus; jüngst (vgl. ders., Märtyrertum, 148–151) plädiert er aufgrund von Überlegungen D. Boyarins für eine noch spätere Datierung. U. a. deshalb schreibt er (Märtyrertum, 158): „4Makk 17,22 spielt für die Traditionsgeschichte von Röm 3,25 kaum eine Rolle …“ Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 116, vermutet eine Entstehung zu Beginn des 2. Jh. und bezieht sich dabei u. a. auf eine mündliche Mitteilung van Hentens (ebd. Anm. 191). Vgl. zur Sache auch B. Schaller, Zur Methodologie der Datierung und Lokalisierung pseud- und anonymer Schriften, dargestellt an Beispielen vornehmlich aus dem Bereich der JSHRZ, in: H. Lichtenberger / G. S. Oegema (Hg.), Jüdische Schriften in ihrem antik-jüdischen und urchristlichen Kontext, SJSHRZ 1, Gütersloh 2002, 59–74: 66–69. 71 Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 116. Wenn das Zeitargument zutrifft, dann ist der Bezug auf 4Makk, wie ihn in jüngerer Zeit z. B. noch Barth, Tod, 60 (er datiert 4Makk in die erste Hälfte des 67

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Ben Ezra steht die in 4Makk begegnende Vorstellung vielmehr selbst im Kontext des „apocalyptic imaginaire of Yom Kippur“72 und stellt insofern – unter Aufnahme des „sacrificial imagery“ – eine Allusion an den Versöhnungstag in der Zeit nach der Tempelzerstörung dar.73 Nach Jan Willem van Henten ist 4 Makk wahrscheinlich „in Auseinandersetzung mit frühen christlichen Verherrlichungen des Märtyrertums entstanden“74. Scheiden die Interpretationen von ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ auf dem Hintergrund von Weihegeschenk oder sühnendem Märtyrertod aus, bleibt nur die Möglichkeit, es von den Belegen her zu verstehen, an denen es im AT das Äquivalent zu ĭīħĞ oder einem anderen Ort, an dem Kult vollzogen wird, darstellt. Die Beleglage ist bekannt.75 Vorab darf festgehalten werden: (1) ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ begegnet in der LXX als Übersetzung für die ĭīħĞ im Allerheiligsten (im Pentateuch),76 für die Altareinfassung in Ez 43,14.17.20, in Am 9,1 vermutlich wieder für ĭīħĞ.77 Immer geht es um eine Lokalität, und zwar einen zentralen Ort am jeweiligen Heiligtum.78 Im Pentateuch ist das ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ der Ort der Sühne, Gottespräsenz und Gottesbegegnung;79 bei Ez repräsentiert es das Zentrum im ezechielischen Tempelentwurf. In Am 9,1 ist entweder eine Lokalität im Tempel in Bethel oder – sofern sich die Stelle auf Jerusalem beziehen sollte – die ĭīħĞ in Jerusalem gemeint. Aufgrund der überwältigenden Zahl der Belege, an denen ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ das Äquivalent für ĭīħĞ darstellt, kann eine Interpretation von diesem Kontext nicht absehen. Damit wird Lev 16, der Text, der nicht nur die „kompositorische und kompositionelle Mitte“ des Buches Lev,80 sondern auch den „ ‚Schlußstein‘ des priesterlichen Systems der Sündenvergebung“ 1. Jh.); Haacker, Römer, 90 f; Lohse, Römer, 134 f; Theißen, Kreuz, 435 f, vertreten haben, so wohl nicht durchführbar. Das Zeitargument für 4Makk lässt sich nicht durch Verweis auf 2Makk entkräften (so Schnelle, Paulus, 509 Anm. 162), dagegen vgl. van Henten, Märtyrertum, 153–160. 72 Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 115. 73 Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 116. 74 Van Henten, Märtyrertum, 151. 75 Vgl. im Detail Kraus, Tod Jesu, 22–32. 76 Ex 25,18[17] liegt (singulär im LXX-Pentateuch) adjektivischer Gebrauch vor: ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ ֐͐͡ͱ͖͒͝. In 1Chr 28,11 bildet ֲ͠΂ͣ͠ ͥٓ͠ ֐͚͒ͤٓ͟͜͝͠ Wiedergabe von ĭīħĞė ĭĜĔ. 77 Hier bieten die Hss. B W und die Rezensionen L und C ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞, die Hss. A und Q ͱ͚ͦͤ͒ͤͥ͏΃͚͠͞. ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ entstand vielleicht aufgrund einer Verlesung von īĘĭħĞ als ĭīħĞ. Der Übersetzer würde dann ein ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ im Betheler Heiligtum voraussetzen (vgl. dazu Kraus, Tod Jesu, 24 f). Oder bezieht sich die Vision auf den Tempel in Jerusalem? Doch wie kann Amos auf das dortige ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ schlagen als einer, der nicht Hohepriester ist? Oder benennt ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ ähnlich wie in Ez 43 das Zentrum der Kultanlage, den Ort, an dem Gott begegnet? 78 Der Beleg Am 9,1 steht dem nicht entgegen, ebenso wenig Gen 6,15Sym, wo die Arche als ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ bezeichnet wird, da man annehmen kann, dass die Arche hier entweder als Gnadenort verstanden (Deißmann) oder aufgrund einer Fehldeutung der Wurzel īħĞ im Sinn von „sühnen“, anstatt „(mit Pech) verpichen“, zu einem Sühneort wurde (vgl. dazu Kraus, Tod Jesu, 25). 79 Janowski, Leben, 113. 80 Janowski, Sühne (s. u. Anm. 101), Anhang: 439.

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darstellt,81 zum zentralen Prätext für Röm 3,25 f und ein Bezug dieses Textes zu den Riten am Jom Kippur unabweisbar. (2) In 3,25 f wird kein Kultgeschehen intendiert, es geht vielmehr um Kultmetaphorik.82 Daher verfängt der Einwand nicht, die ĭīħĞ beziehe sich auf den Ersten Tempel und habe im Zweiten nicht mehr existiert,83 es sei darum „unwahrscheinlich, dass Christus sie eschatologisch erneuern soll“84. Dem Einspruch gegen ein Verständnis im Sinn von „Sühneort“ aufgrund des „Sprung[es]“, den das Bild aufweise, ist Bernd Janowski mit dem Hinweis auf die Kultmetaphorik mit Recht noch einmal entgegengetreten.85 Doch es gibt auf dieser Interpretationslinie ein anderes Problem. Diverse Autoren, die ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ von ĭīħĞ / Sühneort her verstehen, deuten zugleich Jesu Tod nach 3,25 f als Sühne bzw. Vergebung für alle Sünden: Entscheidend für die kultmetaphorische Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25 ist … der doppelte Sachverhalt, daß ‚sowohl die Sünden beseitigende Wirkung des Blutes als auch der Ort, an dem sich dieser Vorgang vollzieht, auf Jesus übertragen wurde‘.86

Damit bekommt unversehens das in ֐͞ ͥ١ ͒‫ ֱ͚ͥ͒͒͝ ٓͥ͠׈‬genannte Blut implizit oder auch explizit die Funktion des universalen Sühnemittels.87 Das an die ĭīħĞ applizierte Blut beseitigt jedoch nicht generell Sünden und ist nicht generell Sühnemittel, sondern hat eine spezifische Funktion. Diese Funktion hat mit Reinigung bzw. Weihe des Heiligtums zu tun, was verschiedentlich nicht wahrgenommen oder bestritten wird.88

81

So der Titel des Aufsatzes von T. Seidl zu Lev 16 (s. u. Anm. 122). Janowski, Leben, 110 f.113 f; ähnlich J. Schröter, Metaphorische Christologie. Überlegungen zum Beitrag eines metapherntheoretischen Zugangs zur Christologie anhand einiger christologischer Metaphern bei Paulus, in: J. Frey u. a. (Hg.), Metaphorik und Christologie, TBT 120, Berlin 2003, 53–73: 63–66; T. Söding, Sühne durch Stellvertretung. Zur zentralen Deutung des Todes Jesu im Römerbrief, in: Frey / Schröter, Deutungen, 375–396: 383 („Der Kult wird zur Metapher der Christologie.“), aber mit je eigenen Akzentsetzungen. Merklein, Sühnegedanke, 66, spricht von „Typologie“ und betont deren Denkbewegung: „Der Ort der Sühne gewährenden Gegenwart Gottes, der bislang im Allerheiligsten zu finden war, wird nun von Christus her definiert.“ 83 Schreiber, Weihegeschenk, 95; Theißen, Kreuz, 434. In Hebr 9,5 ist mit dem ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ die ĭīħĞ gemeint – jedoch die der Stiftshütte und nicht die des Ersten Tempels! 84 Theißen, Kreuz, 434. 85 Janowski, Leben, 113 f, gegen Theißen, Kreuz, 435. 86 Janowski, Leben, 115 (Zitat: Schröter, Christologie, 65; Hervorhebung: Janowski). Schröter (64 f) ist aber zurückhaltend bezüglich der Frage, ob ֭͒ͤͥ͜͏͚͢͠͞ von Lev 16 her zu verstehen sei. 87 Vgl. P. Stuhlmacher, Cilliers Breytenbachs Sicht von Sühne und Versöhnung, JBTh 6, Neukirchen 1991, 339–354: 350, der „das Blut Christi“ in Röm 3,25 „als das von Gott selbst eingesetzte eschatologisch wirksame Sühnemittel (vgl. Lev 17,11)“ gedeutet sieht. 88 Jewett, Romans, bes. 283 ff, macht diese Differenzierung zur Grundlage seiner Auslegung von 3,21–26. T. Knöppler, Sühne im Neuen Testament, WMANT 88, Neukirchen 2001, unterstellt denen, die hier stärker differenzieren, die Konsequenzen „nicht genügend durchdacht zu haben“ (24 Anm. 117) oder „voreingenommen“ zu sein (25 Anm. 119). Die jüngere Forschung zu Lev 16 scheint jedoch – trotz solch forscher Urteile – Differenzierungen zu unterstützen. 82

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Jesus wurde nach 3,25 als ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ eingesetzt, nicht als Sühnopfer.89 „Die ĭīħĞ ist kein Opfer.“90 Trotzdem ist es möglich, Jesu Tod im Rahmen des ĭēěĚ-Rituals zu verstehen;91 die Frage ist nur, wie? 3.4 Die Aussage der vorpaulinischen Überlieferung Die Einsetzung Jesu zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ ֐͞ ͥ١ ͒‫ ֱ͚ͥ͒͒͝ ٓͥ͠׈‬geschah ͕͚‫פ‬ ͥ‫ͥ ͚͖ͤ͞΃͍͡ ͞ר‬٠͞ ͡΃͔͖͔ͭͥͪ͠͠͞͞ ց͒͝΃͍ͥͥͪ͘͝͞. Da ͕͚͍ mit Akk. in der Regel den Grund angibt und da zwischen 3,24 (hier steht ͕͚͍ mit Gen.) und 3,25 ein Kasuswechsel vorliegt, dürfte ͕͚͍ dort kaum instrumental zu verstehen sein,92 sondern wahrscheinlich kausal.93 Für րͨ͞͠͏ wurde oben der Sinn „Zurückhaltung“, „Zuwarten“ mit temporalem Aspekt, für ͍͡΃͖͚ͤͣ die Bedeutung „Aufschub“, „Hingehenlassen“ wahrscheinlich gemacht. Demnach ist 3,25b–26a folgendermaßen wiederzugeben: „wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden in (der Zeit) göttlicher Zurückhaltung.“ Wie aber ist die erste Hälfte des Überlieferungsstückes zu verstehen und wie die beide Teile miteinander verbindende Logik? Drei Verständnismöglichkeiten werden in neueren Publikationen vertreten: (1) ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ wird allgemein als „Sühne“ oder spezieller im Sinn von „Sühnemittel“ oder „Sühnopfer“ verstanden. Als Sinn ergibt sich, dass auf dem Hintergrund der Märtyrervorstellung Jesu „Blut“, d. h. Lebenshingabe, als Stellvertretung gemeint ist. Die zweite Hälfte der Überlieferung in 3,25b-26a wird dann entweder als finale Aussage „um der Vergebung der zuvor geschehenen Sünden willen unter der Geduld Gottes“ angeschlossen,94 einschränkend aufgefasst: „so wollte Gott seine Gerechtigkeit (zunächst) darin erweisen, dass er die früher geschehenen Verfehlungen in seiner Geduld durchgehen ließ“95, oder kausal gedeutet: „ ‚wegen des Übergehens früher begangener Sünden‘ will Gott jetzt zeigen, dass er gerecht ist und Sünden nicht straflos lässt“96. Das Problem dieser Interpretation besteht zunächst darin, dass die Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod der Märtyrer explizit nur in 4Makk 6,28 f; 17,21 begegnet, nach gegenwärtigem 89

Vgl. Breytenbach, Versöhnung, 167. Dass s. E. bereits das zitierte Überlieferungsstück explizit von einer Tat Gottes spricht, hängt mit seiner Abgrenzung desselben (166) zusammen. 90 So richtig Breytenbach, Versöhnung, 168. 91 Gegen Breytenbach, der alle Opferbezüge in Röm 3,25 ausschließen möchte. 92 Dies ist auch für Theißen, Kreuz, 436 f, der entscheidende Grund. 93 Zur seltenen Möglichkeit, dass ͕͚͍ mit Akk. finalen Sinn hat, s. Kraus, Tod Jesu, 94 f. 94 So Lohse, Römer, 128. Nach Zeller, Gerechtigkeit, 64, ist Gottes Geduld „das Motiv des Sündenerlasses“, meint also nicht eine Zeit, „in der Gott die Sünden der Menschen übersah“. 95 So Haacker, Römer, 85 mit 86 Anm. 2. 96 So Theißen, Kreuz, 437, der betont, dass die Sühne eine „Ersatzleistung“ (436) zur Überwindung göttlichen Zorns (433) darstelle, nachdem aufgrund des Übergehens früherer Sünden Zweifel an Gottes Gerechtigkeit angebracht waren: „Jesu Tod … zeigt, dass Gott als ‚Richter‘ gerecht ist (vgl. Röm 3,5 f).“ (436) „Gott will seine Gerechtigkeit dadurch erweisen, dass er jetzt die Sünde straft, indem er stellvertretend für alle Jesus verurteilt.“ (437)

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Forschungsstand also erst gegen Ende des 1. Jh. n. Chr. bezeugt ist. Sodann findet sich kein Beleg, an dem ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ ohne Zusatz (ͱٓ͒͝ oder ͝͞‫ )͒͝ض‬Sühnemittel bzw. Sühnopfer bedeutet.97 (2) ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ wird als Weihegeschenk aufgefasst. Als Sinn ergibt sich, dass Gott in paradoxer Weise Jesus als „Geneigtmach-Ort“ (Schreiber) für die Menschen eingesetzt hat. Eine Anknüpfung an die geläufige Vorstellung gibt es hier nur im antithetischen Sinn. Welche Funktion hat dann aber die Erwähnung des Blutes, und welche Begründung liefert die Aussage Röm 3,25b-26a? Die beide Teile verbindende Logik bleibt unklar. (3) ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ wird (mit ĭīħĞ = ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ aus Lev 16 und den anderen Belegen aus Ez 43 und Am 9 im Hintergrund) als Ort der Sühne und Präsenz Gottes verstanden – d. h. als Inbegriff dessen, worum es am Heiligtum geht: um die Gottesbegegnung. Dann muss die Metapher daraufhin befragt werden, wofür ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ steht und was am ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ geschieht. ֐͞ ͥ١ ͒‫ֱ͚ͥ͒͒͝ ٓͥ͠׈‬, „kraft seines Blutes“, d. h. seiner Lebenshingabe, wird Jesus zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞. Er ist der Ort, an dem sich für die Glaubenden (͕͚‫ )͖ͣͪͥͤ͐͡ ͣضͥ פ‬Gottesbegegnung vollzieht, und – zumindest in Röm 3,25 – nicht selbst das Opfer.98 Cilliers Breytenbach ist also zuzustimmen: „Die vorpaulinische Tradition begreift den schmählichen Kreuzestod … als Tat Gottes, der … Christus selbst öffentlich als Sühnemal oder Sühneort aufstellt.“99 Was heißt aber dann: Röm 3,25 nehme „auf den Ritus des Versöhnungstages nach Lev 16 Bezug“100? Jedenfalls findet diese Bezugnahme so statt, dass Jesus nicht mit dem Opfertier gleichgesetzt wird, sondern mit dem Ort, an den das Opferblut gelangt. Ausgangspunkt für meine Interpretation der vorpaulinischen Überlieferung im Sinn von „Heiligtumsweihe“ war seinerzeit für mich die Erkenntnis, dass am Jom Kippur unterschiedliche Tiere für unterschiedliche Sünden dargebracht werden. Außerdem muss für die Frage einer neutestamentlichen Aufnahme von Lev 16 die redaktionelle Endgestalt maßgebend sein, nicht eine bestimmte Schicht innerhalb des Kapitels. Dabei ist davon auszugehen, dass in ihm sowohl literarkritisch als auch ritualgeschichtlich zu 97

Es empfiehlt sich daher nicht, aufgrund der „Bedeutungsbreite von ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞“ und der „Probleme einer einlinigen traditionsgeschichtlichen Ableitung“ bei dem Verständnis als „Sühnemittel“ zu bleiben; so aber Schnelle, Paulus, 509. 98 Insofern kann man mit Breytenbach, Versöhnung, 166 (der dabei P. Stuhlmacher zitiert), sagen: „In Röm 3,25 bleibt das Moment des Opfers unbetont“. 99 Breytenbach, Versöhnung, 167. Breytenbach schreibt, dass Gott „durch das Vergießen des Blutes Christi, d. h. durch seinen Kreuzestod“ so gehandelt habe. „Blut“ sei jedoch, so wieder Janowski, Leben, 113 Anm. 83; Röhser, Stellvertretung, 118, eher im Sinn einer Metonymie für Jesu gewaltsamen Tod zu verstehen (dagegen Schröter, Metaphorische Christologie, 65 Anm. 38). Selbst wenn eine Metonymie vorliegt, heißt das nicht, dass für die damaligen Hörer alle konkrete Anschauung ausgeblendet wäre; s. u. bei Anm. 135. 100 Knöppler, Sühne, 113.

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differenzieren ist.101 Die ritualgeschichtliche Differenzierung schlägt sich bei den „Sühnopfern“ nieder in einer Unterscheidung der Blutriten bzw. der Handaufstemmung bei der ĭēěĚ in Lev 16 bzw. Ez 43; 45.102 Die ritualgeschichtlich ältere Funktion des Blutritus wird nach Bernd Janowski und Rolf Rendtorff die der dinglichen Entsühnung gewesen sein,103 auch wenn sie in Lev 16 erst in der Bearbeitungsschicht begegnet. Diese Funktion dinglicher Entsühnung findet sich noch in Ez 43,20; 45,19, aber eben auch in Lev 16,16*.18 f.20a.104 Es ist daher zu überlegen, ob die Erwähnung des Blutes in Röm 3,25 nicht ebenso auf Reinigung / Weihe hinweist. Die Auslegungsgeschichte von Lev 16 in Mischna und Talmud bestätigt diese Differenzierung, kann aber freilich nicht Ausgangspunkt der Überlegungen zu Röm 3 sein. Beachtenswert scheint jedoch, dass auch in zeitlich größerer Nähe zu Paulus – nämlich in Hebr 9,18–22 – Blut als Reinigungsbzw. Weihemittel für das (himmlische) Heiligtum angesehen wird.105 Den Bezug von Röm 3,25 f zum Jom-Kippur-Ritual im Grundsätzlichen sieht auch Daniel Stökl Ben Ezra.106 Er lehnt jedoch ein Verständnis, das sich v. a. auf Reinigung bzw. Weihe des Heiligtums bezieht, ab. „Jesus is inaugurated as ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ and he atones as such.“107 Dafür gibt er drei Gründe an: (1) Das Konzept unterschiedlicher Funktionen, wie es rabbinische Texte bezeugen (bes. tJoma 2,1; mShevu 1,2–7; mJoma und bJoma), lasse sich für die Zeit des Zweiten Tempels nicht erweisen oder höchstens 101

Hierbei war für mich die Analyse von K. Elliger, Leviticus, HAT 1.4, Tübingen 1966, maßgeblich. Sie wurde von B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift, WMANT 55, 2. erweiterte Aufl. Neukirchen 2000 (1. Aufl. 1982 mit anderem Untertitel), 234 Anm. 245. 266, ausdrücklich bestätigt; vgl. die Zusammenfassung a. a. O., 267 f. Diese Einschätzung von Lev 16 wurde in Kraus, Tod Jesu, 50, aufgenommen. Es lag sicher ausschließlich an meiner ungeschickten und unpräzisen Darstellung, dass sich T. Knöppler, Sühne, 22, zu der Feststellung genötigt sah: „Solcher kult- und überlieferungsgeschichtlichen Differenzierung zwischen den beiden Grundtypen kultischer Entsühnung, die auf das Heiligtum einerseits und die Kultteilnehmer andererseits bezogen sind, hat W. Kraus widersprochen“ (kursiv im Original). Im Gegenteil! Vgl. Kraus, Tod Jesu, 54 mit Anm. 46, wo unter Aufnahme von Rendtorff und Janowski gerade die ritualgeschichtliche Differenzierung behauptet wird. Sie ist Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen zur Heiligtumsweihe, vgl. a. a. O., 55 mit Anm. 54 oder 55 Anm. 60 oder 57 Anm. 66. 102 Eberhart, Studien, 156.173, hat dieser These widersprochen. Dazu s. u. Vgl. aber zur Differenzierung der Handaufstemmung inzwischen Janowski, Sühne, Anhang: 430 f.453. 103 Vgl. Janowski, Sühne, 234 f. 104 Vgl. Janowski, Sühne, 235. 105 Vgl. hierzu Kraus, Tod Jesu, 238–245; G. Gäbel, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes, WUNT II.212, Tübingen 2006, 405–424, mit einigen anderen Akzentsetzungen. Die jüdischen Traditionstexte (bes. mShevu 1,2–7; bJoma 61a) und Hebr 9,18–22 nennt auch Eberhart, Studien, 263 f, als Bestätigung seiner Interpretation des Blutritus. 106 Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 197–205, auch wenn er die bei vielen Auslegern zu findende kritische Spitze im Sinn einer Ablösung oder Überbietung des Jom-Kippur-Rituals nicht nachvollzieht (198). Letzteres wird aber wieder betont von Janowski, Leben, 115. 107 Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 203 (kursiv im Original).

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als eine von vielen möglichen Interpretationen ansehen. (2) Die Belege aus der Zeit des Zweiten Tempels stünden dieser Unterscheidung entgegen: Ant. 3,240–243 unterstütze zwar die „ritual procedure“, nicht aber die mischnische Interpretation; Jub 34,12–19 unterscheide nicht die zwei Böcke und deren Funktion; 11QTa 25 ff widerstreite solcher Unterscheidung. (3) Die Reinigungsterminologie, wie sie im Hebr vorliege, fehle in Röm 3. Man könne daher Paulus nicht in das rabbinische Schema einpassen.108 Hierzu ist zu sagen: (1) Die Belege aus der Mischna können zwar nicht Ausgangspunkt der Unterscheidung sein, unterstützen jedoch die in Lev 16 festgestellte Differenzierung; sie bestätigen eine durchgehaltene Interpretationslinie (die sich bei Raschi und Maimonides fortsetzt), mehr nicht, aber auch nicht weniger.109 Jacob Milgrom hat anders als Stökl Ben Ezra votiert: Despite the expansion and reinterpretation of the ritual of the Day of Atonement during the Second Temple period, the Mishna is a reliable guide to the interpretation of the biblical account of the ritual, because the function never changed.110

(2) Josephus wendet sich an ein heidnisches Leserpublikum.111 Ihm will er jüdische Riten verständlich machen. Josephus will die Vielzahl der Opfer aufzeigen und damit den Ernst des Tages. Seine Darstellung stimmt weder mit Lev noch mit der Mischna überein. Nur die Orte der Handlung entsprechen denen der Mischna.112 Eine Deutung bietet Josephus lediglich beim Asasel-Bock. – Jub 34 gibt zur Interpretation nur wenig her, denn hier wird nur von einem Bock geredet; der Ton liegt auf der Buße. – 11QTa spricht nicht gegen eine Unterscheidung, sondern bietet keinen Anhaltspunkt dafür oder dagegen.113 Die Formulierung „er vollzieht damit Sühne Ġĥ ğĘĞ ğĥ ğėĪė“ (11QTa 26,16[7]) bezieht sich auf den Jungstier, nicht auf den Sühnopferbock für JHWH.114 Die gleichlautende Formulierung in 11QTa 26,18[9], die sich auf das Sündopfer bezieht, blickt zurück auf die gesamte Opferhandlung und nicht nur auf den Blutritus.115 Die Sühne geschieht ğĥ, 108

Vgl. zu diesen drei Argumenten Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 202 f. Dunn, Theology, 221, hält die Belege aus mShevu 1,7 und mJoma 3,8 für Texte „from near Paul’s time“, deutet sie ebd. Anm. 77 jedoch in die umgekehrte Richtung: Sie würden gerade eine Differenzierung der Riten nicht zulassen. 110 J. Milgrom, Appendix zum Art. Day of Atonement, EJ 5, 1971, 1384–1387: 1384. 111 Das gibt auch Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 200, zu: „Josephus’ addressees are mainly pagan“; vgl. a. a. O., 22 Anm. 16: „the wording of Josephus’ explanation of the Yom Kippur ritual clearly reveals that he was addressing a Gentile audience.“ 112 Vgl. Stökl Ben Ezra, Yom Kippur, 22 mit Anm. 15. 113 Die Ansicht von Stökl Ben Ezra, ich hätte 11QTa nicht genügend beachtet, weil der Beleg meiner Intention widerspreche, kann ich so nicht teilen. 114 F. García Martínez, The Dead Sea Scrolls Translated, Leiden 1994, übersetzt: „and with it he will atone for all the people of the assembly“. J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer I, München 1995, übersetzt: „er entsühnt damit für das ganze Volk der Gemeinde“. 115 Vgl. dazu die Darstellung von Eberhart, Studien, 158 (s. u. S. 211 ff). 109

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d. h. „für“ oder „hinsichtlich“.116 (3) Der Umstand, dass Reinigungsterminologie in Röm 3 – anders als in Hebr 9 – nicht enthalten ist, muss bei der Kürze des Überlieferungsstückes kein Hinderungsgrund sein, es dennoch in dieser Richtung zu verstehen – zumal dann, wenn man die Phrase ֐͞ ͥ١ ͒‫ ֱ͚ͥ͒͒͝ ٓͥ͠׈‬als Kurzform der Reinigung / Weihe gelten lässt. (4) Die oben zitierte Aussage „Jesus is inaugurated as ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ and he atones as such“ trifft so nicht zu. Das ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ als solches sühnt nicht (s. u.). Die Einwände von Daniel Stökl Ben Ezra können also das vorgeschlagene Verständnis nicht problematisieren. Ganz anders steht es um die neueren Untersuchungen von Christian Eberhart117 und Friedhelm Hartenstein118 zu Lev 16 im Rahmen ihrer Überlegungen zum Sühnopfer.119 Sie können die Interpretation von Röm 3,25 nachhaltig beeinflussen. Die Dissertation von Christian Eberhart ist ein breit angelegter Versuch, einen „Neuansatz zur Interpretation der alttestamentlichen Opfer“ zu gewinnen und „Grundzüge einer Theorie der alttestamentlichen Opfer“ zu entwickeln.120 Es muss hier nicht diskutiert und schon gar nicht entschieden werden, ob das dabei herausgestellte zentrale Charakteristikum als Mincha für alle Opfer gleichermaßen sachgemäß ist.121 Für die Interpretation von Lev 16 und dann auch Röm 3,25 entscheidend sind die Neubewertungen der Blutriten und der Handaufstemmung bei Eberhart und Hartenstein. Eberhart geht aus von der redaktionellen Endgestalt des Textes Lev 16.122 Den archaischen Kern des Festes erblickt er in dem vermutlich aus Nordsyrien stammenden Asasel-Ritus. Er dient der Beseitigung von Gotteszorn. Sünden und Verunreinigungen werden auf ein Tier geladen und „durch

116 Schließlich wäre zu überlegen, ob nicht aufgrund der Übertragung von Tempelmetaphorik auf die Qumrangemeinde und deren Selbstverständnis als Tempel sich das erwähnte Opfer auf die Gemeinde beziehen muss. Doch dies soll hier nur notiert und nicht diskutiert werden. 117 Eberhart, Studien, für unseren Zusammenhang bes. 113–138.140–173.250–267.281–288. 118 Hartenstein, Bedeutung, bes. 124–131. 119 Vgl. außerdem B. Jürgens, Heiligkeit und Versöhnung. Leviticus 16 in seinem literarischen Kontext, HBS 28, Freiburg 2001; R. Rendtorff, Erwägungen zu kipper in Leviticus 16, in: F.-L. Hossfeldt / L. Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch, FS E. Zenger, HBS 44, Freiburg 2004, 499–510. 120 Zitiert sind die Überschriften zu den §§ 4 und 5. 121 Eberhart, Studien, 334–360. Würdigung und vorsichtige Kritik bei Hartenstein, Bedeutung, 135 f. Anders als Eberhart tritt I. Willi-Plein, Opfer im Alten Testament, in: Gerhards / Richter, Opfer, 48–58, dafür ein, das Sündopfer als „Wirklichkeitsbewältigung im darstellenden Vollzug vor Gott“ zu verstehen (49, im Original kursiv) bzw. als „Sündendarstellung“ (57). Die als Gaben an Gott zu verstehenden Opfer im AT müssen als „Huldigungsgaben an den Gott Israels und den Herrn der ganzen Welt“ interpretiert werden (57). Vgl. I. Willi-Plein, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse, SBS 153, Stuttgart 1993. 122 Zu den gängigen literarkritischen Thesen s. T. Seidl, Levitikus 16 – ‚Schlußstein‘ des priesterlichen Systems der Sündenvergebung, in: H.-J. Fabry / H.-W. Jüngling (Hg.), Levitikus als Buch, BBB 119, Berlin 1999, 219–248: 221–228.

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räumliche Entfernung beseitigt“123. Was die Blutriten bei den ĭēěĚ -Opfern angeht, so wird eine kürzere Vorschrift in 16,6–10 anschließend detailgenauer dargestellt. Dies geht nach Eberhart aus dem wörtlichen Rückbezug von 16,11a auf 16,6 hervor. „In V. 11–19 geht es zunächst um die Reinigung des Heiligtums durch Blutriten. In V. 20–22 anschließend um die Beseitigung von Schuld per Asasel-Bock.“ (144)124 Was den sachlichen Inhalt des Blutritus beim Sühnopfer und speziell an der ĭīħĞ angeht, so widerspricht Eberhart der von Hartmut Gese eingebrachten, von Bernd Janowski ausgebauten These, wonach das Sühnegeschehen am Jom Kippur Existenzstellvertretung bedeute, eine Begegnung des Menschen mit Gott darstelle und die ĭīħĞ als der „eigentliche Sühneort“, der „Ort der Gottesnähe“ zu verstehen sei (145). Dagegen wendet er ein: Sühne nach Lev 16 geschieht nicht nur durch Blutapplikation an die ĭīħĞ, sondern auch durch den Asasel-Ritus. Blutapplikation geschieht nicht nur an der ĭīħĞ, sondern auch im Begegnungszelt und am Brandopferaltar, daher können diese Orte nicht allesamt Orte der Gottespräsenz sein (146). Die Handaufstemmung darf nicht im Sinn von Subjektübertragung verstanden werden, sondern lediglich als „Besitzanzeige“ (265). Schließlich sei die kultische Wirkung der Verbrennungsriten zu wenig bedacht (289–331).125 Nur der Gesamtvorgang, die Verbrennung eingeschlossen, erwirke Sühne.126 Die Blutriten aller atl. Opfer (nicht nur der ĭēěĚ) hätten es mit Reinigung und Weihe zu tun (288). Mit den ĭēěĚ-Opfern (Stier und erster Ziegenbock) beginnt das zentrale Ritual am Jom Kippur. Die Blutapplikation wirkt nach 16,16a Sühne für das Heiligtum von Verunreinigungen und Übertretungen (147). Mit 16,20a wird signalisiert, dass die Riten für die Reinigung des Heiligtums abgeschlossen seien, es kann der Asasel-Ritus folgen (149). Es fällt auf, dass alle Blutriten am Jom Kippur an Gegenständen, nicht an Menschen vollzogen werden. Die Funktion dieser Blutapplikationen wird in 16,19b als „reinigen“ bzw. „weihen“ bezeichnet (148.156). Hintergrund dieser Handlungen ist die Vorstellung, dass Sünden der Menschen das Heiligtum affizieren: „der Ort der Präsenz des heiligen Gottes“ muss aber selbst heilig sein (157).127 Dies wird 123

Eberhart, Studien, 143. Im Folgenden verweise ich in Klammern auf Seiten dieses Buches. Zur Gliederung von Lev 16 s. auch Janowski, Sühne, Anhang: 440 f, im Anschluss an Jürgens, Heiligkeit, 437 ff. 125 Vgl. auch die Kritik an diversen Konzeptionen des Verständnisses der ĭēěĚ bei Eberhart, Studien, 230–250, wo immer wieder auf die stärkere Beachtung der Verbrennung insistiert wird. 126 Vgl. dazu Eberhart, Studien, 266: „Sühne bei der ĭēěĚ wird in zweifacher Weise, nämlich durch den Blutapplikationsritus (kultische Sühne) und die kultische Verbrennung (unkultische Sühne) bewirkt. Der Blutritus gilt stets dem Kultinventar und reinigt dieses, da ĭēěĚ-Blut sowohl hochheilig (Lev 6,17–23) als auch Träger des Lebens ist (Lev 17,11).“ 127 Eberhart spricht von zwei Dimensionen der Sünde. Nach dem in Lev 16,1 benannten Anlass sind die Sühnopfer am Jom Kippur aufgrund der Sünde von Adab und Nabihu erforderlich. „Beide Priester fanden jedoch als unmittelbare Konsequenz ihres vorschriftswidrigen Handelns 124

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durch die Blutriten erreicht. Durch den Asasel-Ritus und die anschließend dargebrachten ĭĘğĥ wird „die Schuld gesühnt, die Menschen tragen“ (158). Daher umfasst der Gesamtvorgang am Jom Kippur sowohl Reinigung des Heiligtums wie auch kultische Vergebung für persönliche Schuld (158). Die Handaufstemmung und deren Interpretation im Sinn von Identifikation werden von Eberhart mit schwerwiegenden Gründen problematisiert. Er stellt die Funktion der Handlung als Identifikationsgestus in Frage und geht zudem davon aus, dass eine Handaufstemmung im Ritualverlauf nach Lev 16 bei allen Tieren stattfand, auch dort, wo sie nicht berichtet wird (156). Daher schließt er aus der Nicht-Erwähnung, dass diese Handlung für die Sühne am Jom Kippur und darüber hinaus für die ĭēěĚ insgesamt – im Unterschied zu der Handaufstemmung beim Asaselbock – keine „wesentliche Bedeutung“ haben konnte.128 Sühnende Wirkung auf die Menschen entfalten nach 16,24 ff erst die Brandopfer, die am Jom Kippur im Anschluss an die Reinigung des Heiligtums dargebracht werden (150 f). Friedhelm Hartenstein hat den Duktus der Auslegung Eberharts im Wesentlichen bestätigt. Er betont, dass nach Lev 16,1 das Folgende „unter dem doppelten Vorzeichen des Schutzes Aarons vor der Gottespräsenz und des Heiligtums vor der Verunreinigung“ zu verstehen sei.129 Die rituellen Handlungen seien von der räumlichen Zuordnung von „innen“ und „außen“ geprägt, wobei analog zum Wüstenheiligtum das Innere des Heiligtums, das Allerheiligste mit der ĭīħĞ, „Ursprung und Ziel aller Handlungen bildet“ (126). Auch Hartenstein sieht in 16,16 eine eindeutige Zweckbestimmung vorliegen: der Sinn der Blutapplikation sei „kathartisch“ (128). Wie später am Altar, so gelte die Bluthandlung im Allerheiligsten den Auswirkungen der Verfehlungen, den Verunreinigungen.130 In 16,19b sei darüber hinaus „die Parallelverwendung der beiden Pi‘el-Verben īėě ‚reinigen, rein machen‘ und ĬĖĪ ‚heiligen, heilig machen‘ bemerkenswert. Offenbar handelt es sich um semantische Äquivalente für das übergreifende īħĞ Pi‘el (wie den Tod (Lev 10,2). Damit ist ihre Sünde in jedem Fall abgegolten. Wenn die Sühnerituale in Lev 16 dennoch als notwendige Folge dieses ‚priesterlichen Sündenfalls‘ verstanden werden, kann es folgerichtig bei den ĭēěĚ-Darbringungen in Lev 16 nicht um die Vergebung dieser Sünde gehen. Wozu dienen dann die Blutriten im Bereich des Heiligtums? Es ist evident, daß es nach atl. Verständnis noch eine andere Dimension von Sünde geben muß, die in der Tat außerhalb der individuellen Person existent und wirkmächtig ist. Bei dieser anderen Dimension der Sünde handelt es sich um die Verunreinigung des Heiligtums.“ (156 f) 128 Eberhart, Studien, 149.156.179.265 f (Zitat 156). Ez scheint „die Handaufstemmung insgesamt nicht zu kennen“ (179). Janowski, Sühne, Anhang: 430 f.453 (vgl. ders., Art. Handauflegung II, RGG4 3, 2000, 1407–1410: 1408), sieht nur noch in der Handaufstemmung beim Sühnopfer in Lev 4,3 f.14 f.23 f „neben der designatorischen eine stellvertretende Funktion“ vorliegen (431). 129 Hartenstein, Bedeutung, 125 (kursiv im Original). Im Folgenden verweise ich in Klammern auf Seiten dieses Buches; bei Zitaten entsprechen Kursivierungen dem Original. 130 Vgl. „ihre Unreinheiten“ in Lev 16,16b. – Zu einem Ergebnis, das ebenfalls in diese Richtung weist, gelangt auch Jürgens, Heiligkeit (s. Anm. 119); s. insbesondere a. a. O., 425.428.

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dieses in V. 16 jeweils mit privativem Ģġ).“ (129) Das „konstitutive zweite Element der ‚Sündopfer-Ordnung‘ nach Lev 4“, das aber auch in Lev 16 auftauche, sei die gemeinsam mit dem Brandopfer stattfindende „Verräucherung“ der restlichen Opfermaterie (131). Der ganze Vorgang und nicht nur der Blutritus schaffe dabei Sühne. Das werde u. a. durch die Ausnahmebestimmungen in Lev 5,1 ff, bes. 5,1, deutlich, wonach sogar Feinmehl Sühne schaffen kann. Das aber bedeute, „daß Blut als solches kein exklusives Mittel der kultischen Sühne darstellte“ (131). Zwischen Handaufstemmung und Blutritus sollte man „keinen wesentlichen Zusammenhang“ herstellen (135 Anm. 49).131 Der Sinn des Blutritus sollte vielmehr im jeweiligen Kontext definiert132 und nicht aufgrund von Lev 1,4b – der einzigen Stelle, wo ein solches Verständnis vorliegt – generell auf „Stellvertretung“ eingeengt werden (ebd.). „Die Funktion der Blutapplikationsriten besteht … in der Reinigung von Menschen und Kultgegenständen. Sie wird als kultische Sühne bezeichnet.“133 Diese Funktion des Blutes wird im Übrigen durch die Aussagen in Hebr 9,18–22 bestätigt: Blut reinigt und weiht.134 Wenn also die Blutapplikation am ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ – und nur dies ist in unserem Zusammenhang wichtig – nach den neuerlichen Überlegungen zu Lev 16 (vgl. aber auch Ez 43; 45) mit Reinigung und Weihe des heiligen Ortes, nicht mit Sündenvergebung allgemein zu tun hat, dann kann dies für die Interpretation von Röm 3,25 nicht gleichgültig sein. Dann ist es nicht möglich, die Einsetzung Jesu zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ allgemein auf Sühne oder Sündenvergebung zu deuten, sondern sie verlangt nach Differenzierung. Sofern man die Formulierung ֐͞ ͥ١ ͒‫ ֱ͚ͥ͒͒͝ ٓͥ͠׈‬nicht nur metonymisch auf Jesu Kreuzestod bezogen sehen möchte, sondern davon ausgeht, dass sie konkrete Anschauung beinhaltet,135 könnte aufgrund dieses Zusammenhangs vielleicht doch die öffentliche Einsetzung Jesu zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ im Sinn von „Weihe“ gemeint sein. Damit hätte sich meine frühere Interpretation des vorpaulinischen Überlieferungsstückes in zweierlei Hinsicht bestätigt: (1) Der traditionsgeschichtliche Hintergrund von Röm 3,25 f ist in den alttestamentlichen Zusammenhängen zu suchen, in denen ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ begegnet. (2) Die Einsetzung zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ hat mit „Weihe“ des Ortes der Sühne, Präsenz und Offenbarung Gottes zu tun. Über den Begriff 131

Dort in Auseinandersetzung mit Janowski. Vgl. dazu auch Eberhart, Studien, 218–220. Vgl. zu dieser Differenzierung auch Janowski, Sühne, Anhang: 453. Für Ez 43,20 und 45,18 f spricht Janowksi, ebd., von „Entsühnung des Heiligtums“ (kursiv im Original). 133 Hartenstein, Bedeutung, 136, Zitat von Eberhart, Studien, 287. 134 Vgl. dazu Eberhart, Studien, 263 f. Wenn man Eberhart, Studien, 270–273.287, zustimmt, dann gilt dies bereits für den Blutritus in Ex 24, denn auch dort dient das Blut der Weihe. 135 Es ist nicht richtig, die Kreuzigung als „unblutige“ Todesart zu bezeichnen, denn sie ist im römischen Bereich in der Regel mit einer flagellatio verbunden. Vgl. dazu M. Hengel, Mors turpissima crucis, in: J. Friedrich u. a. (Hg.), Rechtfertigung, FS E. Käsemann, Göttingen u. Tübingen 1976, 125–184, bes. 144 f. 132

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„Heiligtumsweihe“ mag man streiten, ich weiß derzeit keinen besseren.136 ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ bezeichnet in der LXX mehr als nur ĭīħĞ. Der Bezug allein auf den Begriff ĭīħĞ und damit eine Übersetzung als Deckplatte / Sühneplatte / Sühnedeckel wäre aufgrund der Stellen bei Ez zu speziell. Sühneort oder Sühnmal nimmt die sonst noch mit ĭīħĞ / ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ verbundenen, über Sühne hinausgehenden Aspekte (Gottespräsenz und Gottesbegegnung) nicht wahr. ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ unübersetzt zu lassen wäre ein Ausweichen vor dem Problem. Sollte man, wie Luther dies in seiner Bibelübersetzung ursprünglich tat, Gnadenstuhl (mercy seat) verwenden?137 Von der Symbolik her, die mit ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ verbunden ist, müsste man sagen: Ort der Gottespräsenz und Gottesbegegnung – also doch „Heiligtum“? Inhaltlich sagt unser Überlieferungsstück: Jesus wurde aufgrund seiner Lebenshingabe als ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞, als Ort, an dem Gott anzutreffen ist, inauguriert. Die Metaphorik, wonach Jesus den „Ort“ repräsentiert, an dem Gott anzutreffen ist, stellt im Kontext des Frühjudentums und Frühchristentums kein unüberwindliches Verständnisproblem dar. Die Metaphorisierung von Kultusbegriffen im Sinn einer personalen Interpretation ist sowohl in Qumran wie auch im übrigen NT belegt (vgl. 1Kor 3,16; 2Kor 6,16; Joh 2,19 ff; Joh 7,37 f; Apk 21,22 usw.).138

4. Zurück zu Paulus und Röm 3,21–26 Die Einsetzung Jesu zum (endzeitlichen) Ort der Gottespräsenz und Gottesbegegnung geschah nach dem Überlieferungsstück wegen des Hingehenlassens der früheren, in der Zeit göttlicher Zurückhaltung geschehenen Sün136 Ein Kritikpunkt von D. P. Bailey, Review of ‚Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe‘, JThS 45, 1994, 247–252: 249, war, dass es keinen Beleg gebe, wo „֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ is a word well suited to represent the sancturary as a whole“. Dem ist zuzustimmen. Man kann nur von dem Gedanken her, dass das ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ den zentralen Ort im Tempel, nämlich die ĭīħĞ im Allerheiligsten oder den Altar im Tempelentwurf des Ez, repräsentiert, diese Gleichsetzung rechtfertigen. 137 Darauf läuft der Vorschlag hinaus, den D. P. Bailey in seiner unveröffentlichten Dissertation: Jesus as the Mercy Seat. The Semantics and Theology of Paul’s Use of Hilasterion in Romans 3:25, Ph.D. dissertation, University of Cambridge 1999, 170.173, unterbreitet (Abstract unter dem gleichen Titel in TynB 51, 2000, 155–158). Die Luther-Übersetzung in der Revision von 1984 übersetzt in Lev 16 mit „Gnadenthron“, die Einheitsübersetzung mit „Deckplatte“, die Jerusalemer Bibel (1968) mit „Versöhnungsplatte“. Die Übersetzung in Septuaginta Deutsch verwendet im Pentateuch „Sühnestätte“, in Ez und Am „Sühneort“. 138 Zu 1Kor 3,16 und 2Kor 6,16 und den darin enthaltenen unterschiedlichen Akzentsetzungen s. jüngst J. Becker, Die Gemeinde als Tempel Gottes und die Tora, in: D. Sänger / M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament, FS C. Burchardt, NTOA / StUNT 57, Göttingen u. Freiburg 2006, 9–25. Die Unterschiede stellen jedoch nicht die Tatsache in Frage, dass Kultbegriffe im metaphorischen Sinn personal interpretiert werden.

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den. Es gab also Sünden, die hat Gott nicht vergeben, sondern „hingehen lassen“.139 Die vorpaulinische Überlieferung sieht die Einsetzung Jesu zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ in kausalem Zusammenhang mit dieser ͍͡΃͖͚ͤͣ. Paulus hat den Akzent anders gesetzt: Die Einsetzung Jesu zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ geschah nach Paulus ֐͞ ͥ١ ٓ͞͞ ΂͚͒΃١ (in der Jetztzeit) zum Erweis der Gerechtigkeit Gottes. Er will zeigen, dass Gott gerecht sei und denjenigen rechtfertige, der an Jesus glaubt. Damit definiert Paulus, was er unter Gerechtigkeit Gottes versteht. Für ihn liegt der Akzent bei der Einsetzung Jesu zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ im Unterschied zur Überlieferung also nicht auf dem kausalen Zusammenhang mit der ͍͡΃͖͚ͤͣ, sondern auf dem finalen Sinn des Erweises der Gerechtigkeit Gottes. Dies bringt er in zweifacher Weise, in 3,25 mit ͖֬ͣ ͕͖͚͚֔͟͞͞ und in 3,26 mit ͡΃‫͚͚͖͕֔͟͞͞ ͞רͥ ͣ׬‬, zum Ausdruck. Dass Paulus vorpaulinische Überlieferung aufnehmen und gleichzeitig in seinem Sinn akzentuieren kann, zeigt sich m. E. auch in Röm 1,3 f.140 Woher Paulus dieses Überlieferungsstück übernommen hat, kann man nur vermuten. Die Möglichkeit, dass es im Umkreis der aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten um Stephanus entstand, hat einige Plausibilität für sich. Paulus könnte es dann in Antiochia kennen gelernt haben. Geht man nach kritischer Analyse von Apg 6 f davon aus, dass es bei den Hellenisten (evtl. unter Aufnahme jesuanischer Aussagen, vgl. 6,14) zu einer endzeitlichen Infragestellung der Effizienz des Tempelkultes kam,141 ließe sich das Überlieferungsstück hier einpassen. Dann hätten diese Kreise im Bewusstsein, in der Endzeit zu leben, Jesu Einsetzung zum ֭͒ͤͥ͜͏΃͚͠͞ als eschatologische Anknüpfung an den bisherigen Ort der Gottespräsenz und Gottesbegegnung verstanden.142 Das konnte Paulus aufgreifen und in seinem Sinn als endgültigen Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tod Jesu zuspitzen.

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Die Vorstellung des „Aufschubs“ von Sünden ist ein entscheidender Aspekt im Kontext des „imaginaire“ (Stökl Ben Ezra) des Jom Kippur. 140 Vgl. mit unterschiedlicher Analyse im Detail, grundsätzlich jedoch darin einig, dass Paulus Überlieferung aufnimmt und diese akzentuiert: Jewett, Romans, 103–108; Fitzmyer, Romans, 229–238; J. D. G. Dunn, Romans 1–8, WBC 38A, Dallas 1988, 5 f. 141 Die Denkstruktur wäre dann die gleiche, wie B. Schaller, Jesus und der Sabbat, FDV 1992, Münster 1994, sie für den Umgang Jesu mit dem Sabbat voraussetzt. Das Bewusstsein, in der Endzeit zu leben, gäbe dann den Ausschlag. 142 Vgl. hierzu W. Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die ‚Hellenisten‘, Paulus und die Aufnahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk, SBS 179, Stuttgart 1999, 49–55. Vgl. Merklein, Sühnegedanke, 65 ff, der 66 Anm. 37 auf die „eschatologische Qualität der Botschaft und der Person Jesu“ hinweist, die für eine solche Interpretation die Voraussetzung darstellten.

Lutz Doering

Much Ado about Nothing? Jesus’ Sabbath Healings and their Halakhic Implications Revisited*

1. For many years, views on Jesus’ stance toward the Sabbath have been dominated by approaches seeing Jesus critical, some of them extremely critical, of the Sabbath. Especially for Protestant scholars the Sabbath was, alongside ritual purity and the antitheses, main proof of Jesus’ critical attitude toward “the Law.” Thus, to take but one example, Ernst Käsemann stated in his influential article “The Problem of the Historical Jesus”: “Jesus felt himself in a position to override, with an unparalleled and sovereign freedom, the words of the Torah and the authority of Moses. This sovereign freedom not merely shakes the very foundations of Judaism and causes his death, but, further, it cuts the ground from under the feet of the ancient world-view with its antithesis of sacred and profane …”1

The “criterion of difference,” argued for by Käsemann in this article, did an impressive job: It yielded a Jesus who not only stood against “the foundations of Judaism,” but finished off the Weltanschauung of antiquity as well. Characteristic of Käsemann as of others – who may in detail and emphasis otherwise differ from him2 – are two claims: that Jesus himself transgressed the Sabbath law, and that he thereby criticized it – either its administration in ancient Judaism or even its foundation in the Torah. Recently, however, a completely different approach has won broader sympathy, which claims that by healing with a mere word Jesus did not * Earlier versions of this paper were given to the “Jesus” Seminar of the British New Testament Conference in September 2004, the Biblical Research Seminar of the School of Divinity at Edinburgh in October 2004, the Biblical Research Seminar of King’s College London in January 2005, and the Ehrhardt Seminar of the Centre for Biblical Studies at the University of Manchester in November 2005. I am grateful for all the valuable comments and suggestions I received. 1 E. Käsemann, The Problem of the Historical Jesus, in: idem, Essays on New Testament Themes, London 1964, 15–47: 40 (German: Das Problem des historischen Jesus [1954], in: idem, Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 187–214: 208). 2 For typologies of approaches see S.-O. Back, Jesus of Nazareth and the Sabbath Commandment, Åbo 1995, 2–13; L. Doering, Schabbat: Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 399 f.

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transgress mainstream first century Sabbath halakhah at all. Argued by scholars thoroughly familiar with Ancient Judaism, this view merits close attention. While others have followed suit, its main proponents are the late Phillip Sigal, David Flusser and Hyam Maccoby, as well as Geza Vermes and Ed Parish Sanders.3 It seems that particularly the circulation of the latter’s theses has secured this approach an important place in British and North American academia (while in continental Europe Flusser seems to play a significant role). Nevertheless, this approach has also prompted occasional criticism. In view of its popularity in Anglophone scholarship it is presumably not by chance that the interpretation of Sanders (and, to a lesser degree, of Vermes) is the main target of Tom Wright’s critique in his alternative reading of the controversy stories.4 Since this critique, however, is a very general one and reveals more about Wright’s own agenda than about healing and Sabbath law in first century Judaism, I deem it appropriate to re-open the issue here.5 I shall examine and critique in detail the arguments put forward for what may be termed the “no serious conflict” approach and ask for a viable alternative to this view while appreciating its efforts to understand Jesus as firmly grounded in first century Judaism. 3 P. Sigal, The Halakah of Jesus of Nazareth according to the Gospel of Matthew, Lanham 1986, 138–140; D. Flusser, Jesus, 2nd ed., Jerusalem 1998, 61–64 (cf. the original German ed. Jesus: Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1968, 47 ff); H. Maccoby, Early Rabbinic Writings, Cambridge 1988, 170 f; G. Vermes, Jesus the Jew: A Historian’s Reading of the Gospels, London 1973, 25; idem, The Religion of Jesus the Jew, London 1993, 23; E. P. Sanders, Jesus and Judaism, London 1985, 264–267; idem, Jewish Law from Jesus to the Mishnah: Five Studies, London 1990, 21; idem, The Historical Figure of Jesus, London 1993, 212–218; E. P. Sanders / M. Davies, Studying the Synoptic Gospels, London 1989, 157. Cf. C. Burchard, Jesus von Nazareth, in: J. Becker et al., Die Anfänge des Christentums: Alte Welt und neue Hoffnung, Stuttgart 1987, 12–58: 48; A. J. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community, Chicago 1994, 133; G. Dautzenberg, Jesus und die Tora, in: E. Zenger (ed.), Die Tora als Kanon für Juden und Christen, HBS 10, Freiburg 1996, 345–378: 350 (but relativizing 355: “Sabbatkonflikte mögen sich ursprünglich im Zusammenhang mit Heilungen am Sabbat ergeben haben …”); W. Kahl, Ist es erlaubt, am Sabbat Leben zu retten oder zu töten? (Marc 3:4): Lebensbewahrung am Sabbat im Kontext der Schriften vom Toten Meer und der Mischna, NT 40, 1998, 313–335: 331; A. J. Mayer-Haas, “Geschenk aus Gottes Schatzkammer” (bSchab 10b): Jesus und der Sabbat im Spiegel der neutestamentlichen Schriften, NTA NS 43, Münster 2003, 198, more subtly 672 f. Support has also come from an otherwise different camp: A. Lindemann, Jesus und der Sabbat: Zum literarischen Charakter der Erzählung Mk 3,1–6, in: S. Maser / E. Schlarb (ed.), Text und Geschichte: Facetten theologischen Arbeitens aus dem Freundes- und Schülerkreis D. Lührmann zum 60. Geburtstag, Marburg 1999, 122–135: 131, although he seems to assume a breach of the Sabbath later (133 f). 4 Cf. N. T. Wright, Jesus and the Victory of God: Christian Origins and the Question of God, Vol. 2, London 1996, 369–442, on the Sabbath in particular: 390–396. 5 Cf. the brief remarks in Doering, Schabbat (n. 2), 446–450, following B. Schaller, Jesus und der Sabbat: Franz-Delitzsch-Vorlesung 1992, in: idem, Fundamenta Judaica: Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament, ed. L. Doering / A. Steudel, StUNT 25, Göttingen 2001, 125–147: 132 f.

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2. As already indicated, this position claims that by healing with a mere word Jesus did not transgress contemporary halakhah, at least not of Pharisaic provenance. So, are the Sabbath conflict stories in the gospels merely “much ado about nothing”? These scholars would either answer that Jesus wanted to provoke extreme hard-liners, “bigots” (Flusser), or that his opponents were Essenes or held an Essene-like position (Maccoby, Sigal), or that the controversy was mainly the result of later “retrojection” of early Christian conflicts to the life of Jesus (Sanders). We will deal with these explanations later. In this paragraph we merely assess upon what evidence the thesis that Jesus did not transgress Sabbath law is built. Some of the scholars concerned do not produce any ancient evidence for their claim but simply refer back to either Flusser or Sanders.6 Flusser, in turn, does not give any references from primary sources either. Rather, after indicating in general terms that danger to life or the suspicion of such a danger allowed for any form of healing – the principle of piqqua½ nefesh, on which later –, he merely states: “Moreover, even when the illness was not dangerous, while mechanical means were not allowed, healing by word was always permitted on the Sabbath.”7 What is the base for such a judgement? In a footnote Flusser refers to Jacob Nahum Epstein’s seminal “Introduction into Tannaitic Literature” from 1957.8 It seems that Epstein’s deliberations have indeed prepared the ground for the approach taken by Flusser, Vermes, Sanders and others. They had in part been anticipated by Yehezkel Kaufmann in his monumental “Golah we-Nekhar” (1929–30).9 But do Epstein’s and Kaufmann’s observations prove, as Flusser states, that “healing by word was always permitted on the Sabbath”? Epstein argues that Jesus’ healings “were of the kind of ‘whispering over a wound’, and this is allowed on the Sabbath also according to the [sc. rabbinic] Halakhah.”10 As evidence he adduces three rabbinic texts.11 The most foundational of these is tShab 7[8]:23 [Ms. Erfurt].

6 E.g., Vermes, Jesus the Jew (n. 3), 231 n. 68, referring to Flusser; Kahl, Ist es erlaubt (n. 3), 331 n. 40, referring to Sanders. 7 Flusser, Jesus (n. 3), 62. 8 J. N. Epstein, Mevo’ot le-sifrut ha-tanna’im: Mishnah, tosefta’ u-midreshei halakhah, ed. E. Z. Melamed, Jerusalem & Tel Aviv 1957, 280 f. 9 Cf., in C. Efroymson’s translation, Y. Kaufmann, Christianity and Judaism: Two Covenants, Jerusalem 1988, 62 n. 16, referring to bSan 101a (see below). See Schaller, Jesus (n. 5), 132 f n. 26. 10 Epstein, Mevo’ot, 280 (translation is mine). 11 tShab 7[8]:23; yShab 14.3 [14c]; bSan 101a. Cf. Epstein, ibid. n. 41; the last reference already in Kaufmann, Christianity and Judaism, 62 n. 16.

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Lutz Doering ĔīĪĥė ğĥĘ ĬĚģė ğĥĘ ĢĜĥė ğĥ ĢĜĬĚĘğ ĭĔĬĔ ĢĜĥė ĭē ĢĜīĜĔĥġĘ ĭĔĬĔ ğěĜģĬ īĔĖĔ ıġĘē ığġĕ ĢĔ ĢĘĥġĬ ĢĔī [ĠĜĖĬ] īĔĖĔ ĢĜĬĚĘğ ĢĜē ĠĜĖĬ īĔĖĔ ĢĜĬĚĘğ ĢĜē ğĘĚĔ Ħē ıĘē ĜĤĘĜ ıī

A B C D E

A One may whisper over the eye and over the snake and over the scorpion. B And one may stroke the eye12 (with an implement) on the Sabbath. C Rabban Shim‘on ben Gamli’el says: (Only) with something that may be handled on the Sabbath. D One may not whisper with a word (or: in an issue) [add with MSS: of demons]. E R. Yose says: Even on an ordinary day one may not whisper with a word (or: in an issue) of demons.

In the mss. there is some confusion about the reading ĢĜĥė “the eye”: Ms. London replaces the first occurrence with Ģ ĂĜĥġė “the bowels” but retains the second one; Ms. Vienna retains the first occurrence but replaces the second one with Ģ ĂĜĥġ and has also an inverted order of the rulings, with statements B and C coming before A. Both mss. construe īĔĥ hi. in statement B with the preposition ğĥ “over,” not with the nota accusativi ĭē as in Ms. Erfurt. The parallel in yShab 14:3 [14c] [Ms. Leiden] combines both “the eye” and “the bowels” in its opening statement13 and adds to the permission of stroking over the eye a ma‘aseh (a practical case from which halakhah may be derived) as well as an aphoristic saying: ĠĜĔīĪĥğĘ ĠĜĬĚģğĘ ĠĜĜĥġğĘ ĢĜĥğ ĢĜĬĚĘğ ĭĔĬĔ ĢĜĥė ğĥ ĢĜīĜĔĥġĘ ĭĔĬĔ ĠĜğĞ ĘĜğĥ ĘīĜĔĥėĘ ĢĜĥė ĘĭęĚēĬ ėĔĜĪĥ ıīĜĔ ėĬĥġ ĠĜġĬ ĜĖĜĔ ĖĚēĘ ĢĜĥĔ ĠĜĭġ ėĥĬĭĘ ĠĜĥĬĭ ĢĜīġē ĢĘėĜīĭ ėĔī ėĜĜĚ ıīĘ Ĕī

A B C' D'

A One may whisper for the eye and the bowels and the snakes and the scorpions. B And one may stroke over the eye (with an implement). C' Ma‘aseh: R. Aqiba had an attack of the eye, and they stroked him14 with implements on the Sabbath. D' Both Rav and R. Hiyyah Rabbah said: Ninety-nine die because of the eye, but one through Heaven.15 12

Or perhaps: “remove the (evil) eye.” See discussion below. However, a Yerushalmi quotation in Tashbetz Qatan has ĠĜĜĥġĔĬ ĢĜĥğĘĭğ “the worms that are in the bowels,” according to S. Lieberman(n), Hayerushalmi Kiphshuto […], 2nd ed., New York 1995, 184 (in Hebrew) a possible reading (> ĢĜĥğ[Ęĭğ] ). 14 Thus the grammatically correct reference of the masc. preposition; see R. Ulmer, The Evil Eye in the Bible and in Rabbinic Literature, Hoboken, N.J. 1994, 25: “used vessels on his body.” However, the German translation in F. G. Hüttenmeister (transl.), Shabbat – Schabbat, Übersetzung des Talmud Yerushalmi II/1, Tübingen 2004, 372 renders “darüber,” apparently referring the preposition to the eye. J. Neusner, The Talmud of the Land of Israel: A Preliminary Translation and Explanation, 35 vols., Chicago 1982–93, XI, 389 leaves both alternatives open. See below. 13

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We note, first of all, that these texts deal with a special form of verbal utterance, “whispering.” Before asking what this means, we conclude that this evidence does not substantiate Flusser’s claim that healing by word was always permissible on the Sabbath. Instead, the rabbis’ concession here refers to the particular case of “whispering.” Secondly, we observe some ambiguity, both in the texts themselves and in subsequent rabbinic tradition, whether the objects mentioned denote the damage or the cause of (possible) damage, i. e., whether the conceded treatment is curative or preventive. In the first case, one would whisper over a sore eye or a wound caused by a snake or scorpion. In the latter, one would take apotropaic means in order to keep off snakes and scorpions or the evil eye (the latter is borderline between preventive and curative since it may have already taken possession of the human being).16 For snakes and scorpions, both options are equally conceivable and also attested in ancient literature, Jewish and Christian as well as Greco-Roman.17 Regarding the “eye,” it is quite likely impossible to recover any “original” meaning here: Both the reference to eye disease and to the evil eye seem to be reflected in the textual and redactional history of the passages in question. On the one hand, the reading in statement B of Tosefta Ms. London and Yerushalmi Ms. Leiden (ĭĔĬĔ ĢĜĥė ğĥ ĢĜīĜĔĥġĘ) suggests that implements, perhaps metallic ones with cooling properties, were stroked “over” a sore eye.18 On the other hand, Tosefta Ms. Erfurt’s reading (ĭĔĬĔ ĢĜĥė ĭē ĢĜīĜĔĥġĘ) 15 The parallel in bSan 101a prefixes the first rule with a regulation familiar from mShab 22:6 “The rabbis teach: One may anoint and massage the bowels on the Sabbath,” relates whispering only to “a whisper (over) snakes and scorpions,” and offers an addition to Tosefta’s part C: “but with an implement that may not be handled it [sc. stroking] is forbidden.” 16 Cf. S. Lieberman, Tosefta ki-Fshutah: A Comprehensive Commentary on the Tosefta, 10 vols., New York 1955–88, III, 102 ff (in Hebrew). For the preventive understanding regarding snakes and scorpions see Rashi on bSan 101a: “so that they may not do harm”; for the curative notion see Maimonides, Mishneh Torah, ‘Avodah Zarah 11:11–12; cf. G. Veltri, Magie und Halakha: Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum, TSAJ 62, Tübingen 1997, 164. As to the ambiguity regarding the eye as either affected organ or evil eye, see the medieval rabbinic debate recorded in the Responsa of Meir ben Baruch of Rothenburg; cf. Lieberman(n), Hayerushalmi Kiphshuto, 184. A mixture of warding off (snakes and scorpions) and healing (eye disease) is suggested by J. Preuss, Biblisch-talmudische Medizin: Beiträge zur Geschichte der Heilkunde und der Kultur überhaupt, Berlin 1911, 165. 17 Preventive: Pliny nat. 28:5:24: a scorpion can be checked by saying duo “two,” and it will not sting; tYev 14:4, mentioning a snake-charmer (ī Ćş ąĚ) (fallen into a pit full of snakes and scorpions!); bBer 62a: decency on the toilet saves from snakes, scorpions or ghosts (R. Tanhum b. Hanilai); cf. a Christian prayer with an incantation against a “snake called scorpion” (A. A. Barb, Der Heilige und die Schlangen, MAGW 82, 1952, 1–21: 6); Luc. Philopseudes 12: (satirical remarks on) a Babylonian snake-charmer gathering and killing snakes by his spell (͡΃‫͞רͥ ͣ׬‬ ֐͕ٞ͡͏͞); cf. also Luke 10:19. Curative: Luc. Philopseudes 11: the same Babylonian cures a snakebite by a spell (֐͕ٞ͡‫ ;)͚͚ͥ͞ ط‬Galen, apud Alexander Trallianus 11:1 (II 475 Th. Puschmann) on usefulness of incantations (ͥ‫͡֐ ͣפ‬͕͍ٞͣ), e.g., with scorpion bites. 18 Thus Rashi on bSan 101a, referring to contemporary practice; cf. Veltri, Magie, 163.

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may suggest the removal of the (evil) eye – but only if īĔĥ hi. + nota accusativi indeed denotes removal.19 Particularly ambiguous is the ma‘aseh in the Yerushalmi: Although it follows statement B immediately and takes up the catchwords “eye” and “stroke,” the verb in use seems to point rather to an “attack” by the evil eye, and the referent of the preposition ĘĜğĥ with masculine suffix is, provided the rules of grammar are kept, not the eye (as in B), which is feminine in Hebrew, but Aqiba himself, which makes us think of an “expulsion” of the evil eye by means of stroking the sage’s body. Finally, in the further course of yShab 14:3 [14c], statement D' is explained with reference to Rav’s country of residence (Babylonia), since the evil eye (Aramaic ēĬĜĔ ēģĜĜĥ) was allegedly frequent there.20 Taking this ambiguity into account, we ask, thirdly, whether the dangers mentioned should be considered life threatening, as has been suggested by some scholars.21 To be sure, this is not the opinion of Epstein, Flusser and those who follow them, since that would outright question the applicability of these rulings to the healings performed by Jesus (see below). Generally, it is conceivable to regard snakes and scorpions, as well as their bites, as causing suspicion of mortal danger.22 The Gemara mentions criticism by the so-called Early Hasidim of the practice of killing snakes and scorpions on the Sabbath (bShab 121b), thus testifying both to strong anxieties and pietist objections to the resulting practice. On the other hand, one could argue that snakes and scorpions as to be found in Palestine do not generally pose a threat to human life, since only a few snakes are dangerous and no species of scorpions is lethal for human adults (but some are for children).23 As far 19 Thus Lieberman, Tosefta ki-Fshutah III (n. 16), 102. Cf. M. Jastrow, A Dictionary of the Targumim, the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic Literature, 2 vols., London 1886–1903, [II] 1038 “to cause to pass; to remove, displace” (but suggesting the reading ğĥ for the passage in question). However, no difference between use of īĔĥ hi. with nota accusativi and ğĥ is noted by J. Levy, Neuhebräisches und chaldäisches Wörterbuch über die Talmudim und Midraschim, 4 vols., Leipzig 1876–89, III, 610 [= 21924], and E. Ben Iehuda, Thesaurus totius hebraitatis et veteris et recentioris, New York 1960, V, 4285. 20 Cf. Ulmer, Evil Eye (n. 14), 25 f. I doubt that the alternative translation given by Hüttenmeister, Shabbat (n. 14), 372, “kranke Augen,” is an appropriate rendition of ēĬĜĔ ēģĜĜĥ. 21 Schaller, Jesus (n. 5), 133: “Fälle unheimlicher bzw. lebensbedrohlicher Krankheiten”; “nur in wirklich lebensbedrohenden Fällen”; M. Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum: Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus, WUNT II.144, Tübingen 2002, 180: “offenbar als lebensbedrohliche Gefahren eingestuft.” 22 This is especially true for snakebites; cf. Pliny nat. 25:99: ordiendumque a malorum omnium pessimo est, serpentium ictu “and one must begin with the worst of all evils, the bite of snakes.” Cf. on snakes in ancient literature and religion the wealth of material in J. A. Kelhoffer, Miracle and Mission: The Authentication of Missionaries and Their Message in the Longer Ending of Mark, WUNT II.112, Tübingen 2000, 340–416. 23 Cf. J. F[eliks], Snake, EJ 15, 1971 [repr. 1996], 14 f; O. Kehl u. a., Orte und Landschaften der Bibel, Vol. 1: Geographisch-geschichtliche Landeskunde, Zürich & Göttingen 1984, 166 f. But would a person wounded by a snake or a scorpion differentiate?

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as “stroking (over) the eye” is concerned (= B), we have already noted that it relates either to cooling an affected eye off with some metal implement (Ms. London and Yerushalmi) or to removing the danger created by the evil eye (perhaps Ms. Erfurt). Are these plainly cases of piqqua½ nefesh? At least the view represented by Rabban Shim‘on ben Gamli’el in the Tosefta would not affirm this, since it provides the restriction that only implements allowed for handling on the Sabbath be used (= C). Thus, the measurement to be taken must remain below an infringement of the Sabbath regulations, a concern unnecessary in case of piqqua½ nefesh. As well, it is unclear whether R. Aqiba’s condition according to the Yerushalmi (= C') implies acute mortal danger; however, the saying in D' points to possible lethal consequences of affection by the evil eye.24 It is therefore safe to conclude that the various conditions possibly envisioned are acute and serious, while some may even be life threatening. Thus, we end up again with some ambiguity, but for our purpose of questioning the validity of Epstein and Flusser’s thesis this poses no problem. We conclude that the threats cured or warded off by “whispering” may constitute either mortal danger or at least a serious and acute affection. Whatever be the case, the diagnoses are incomparable to the situations in the accounts of Jesus’ Sabbath healings (a “withered” hand [֐͘͟΃͎͒͘͝͝͞͞ Mark 3:1], a “bent” woman [͔ͤͦ΂ͮͥͦͤ͒͡͠ Lk 13:11], a man suffering from “dropsy” [‫ ͣͭ΂͚ͪ͡΃͕׉‬Luke 14:2]; cf. someone “for 38 years in his illness” [John 5:5], or “born blind” [John 9:1]), which are typically neither life threatening nor acute in a strict sense.25 Furthermore, we observe that “whispering” is a specific treatment against specific serious wounds and diseases (or their causes). In naming three (or four) exceptional situations in which this means on the Sabbath is allowed,26 the rabbinic tradition takes a minimalist view on applicability of this practice. The reason lies in the nature of such “whispering,” which comes into relief as soon as we realize its clear magical connotations. Incantations against snakebites or other wounds, as well as charms of snakes and the like, are well attested in ancient literature.27 The connection with magic is also reflected by the place of the Tosefta passage in its compositional con24 Cf. Ulmer, Evil Eye (n. 14), 26: “In the rabbinic mind, the evil eye was the cause of inexplicable deaths.” 25 “Dropsy” is a serious condition that may finally lead to death (cf. Diogenes Laertius 4:27), but it is a long-term phenomenon (Arist. problemata 871b24 f mentions it together with diseases like rheumatism). It was considered medically treatable (cf. Polybius 13:2:2; Dioscurides 1:103 [I 94 f Wellmann]; P. Oxy. VIII 1088:63[–65] with a recipe of a ‘draught for dropsy-patients’). 26 Contrast the broader formulation “the one who whispers over the wound” ( ğĥ ĬĚĘğė ėĞġė), not specifically relating to the Sabbath, in mSan 10:1; tSan 12:10; see below. 27 See above, n. 17; and Veltri, Magie (n. 16), 163; M. Becker, Wunder (n. 21), 179 f.

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text: It belongs to tShab 6[7]–7[8], where, amongst other things, the socalled “ways of the Amorites” (ĜīĘġēė ĜĞīĖ) are discussed, i. e. forbidden magical practice.28 The magical connotations are further evident in the possibility, raised but at the same time refuted in the Tosefta, that one might venture to “whisper” with “a word (or: in an issue) of demons” (= D), something prohibited in general, thus also on ordinary days (= E). In the context of our passage, both the parallels in the Yerushalmi and Bavli mention another form of magical “whispering,” namely over oil, and discuss its modalities. And finally, how close “whispering over the wound” comes to forbidden magic is evident from mSan 10:1 and tSan 12:10, which prohibit it generally when it is accompanied by recitation of Exod 15:2629 or, according to the Tosefta, by spitting.30 In sum, “whispering over the eye, the snake, and the scorpion” on the Sabbath appears to be magical practice (incantation or charm) that is permissible, though in an area treated with much suspicion by the rabbis. It is hard to see how this magical practice should match Jesus’ Sabbath healings. We have already seen that the medical situation in these therapies is not comparable to the cases for which “whispering” on the Sabbath is conceded. Neither is the way Jesus acts in relation to the sick comparable to magical “whispering.” To be sure, there is a lively discussion about whether – and if so, to which extent – Jesus can be considered a magician.31 The Beelzebul saying (Mark 3:22) shows that Jesus’ exorcisms and healings have been early associated with allegations of magic. But with the one possible exception of the mention of spittle in the healing of the man born blind (John 9:6), which is a healing agent also found in magical contexts,32 there are no indications of magical practice in the accounts of Jesus’ Sabbath therapies. To the contrary, the words Jesus says, “Stretch out your hand” (Mark 3:5b parr.) or “Woman, be free from your illness” (Luke 13:12b) are very different from the elaborate spells (or biblical pas28

See most comprehensively Veltri, Magie, esp. 93–183. “I will put none of these diseases upon you, which I have brought upon the Egyptians: for I am the Lord who heals you.” For the use of biblical verses in magic practice cf. J. Naveh / S. Shaked, Magic Spells and Formulae: Aramaic Incantations of Late Antiquity, Jerusalem 1993, 22–31 (see 23 f on Exod 15:26 in particular); B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter: Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996, 160 ff. 30 Cf. Veltri, Magie (n. 16), 164. The Bavli (bSan 101a) discusses the specific “whispering” on the Sabbath within the context of this generally forbidden practice. 31 The two most influential proposals are M. Smith, Jesus the Magician, San Francisco 1978 and, with a characterisation of Jesus as “magician and prophet,” J. D. Crossan, The Historical Jesus: The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, San Francisco 1991, esp. 137–167, 303–353. More balanced are J. P. Meier, A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus, Vol. 2: Mentor, Message, and Miracles, New York 1994, esp. 537–616; M. Becker, Wunder (n. 21), 421–442. 32 Cf. Veltri, Magie (n. 16), 164 (references). Cf. further Mark 7:33; 8:23, omitted in Matt. 29

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sages recited) we find elsewhere in ancient magical texts. There is no way from the conceded magical “whispering” on certain severe wounds or threats to Jesus’ acts of healing on the Sabbath.33

3. The proponents of the “no serious conflict” approach to Jesus’ Sabbath therapies are not the first ones to claim that Jesus healed merely by word on the Seventh Day. We find this allegation already in Ps.-Athanasius’ homilia de semente (PG 28:144–168), with a tentative date from early fourth to early fifth century, apparently from an area where Syriac or Aramaic was known (cf. § 4, col. 149),34 and in a Christian interpolation in the Slavonic version of Josephus’ Jewish War, dating from the Middle Ages.35 Ps.Athanasius hom. de semente § 16 (col. 168) has Jesus deliver the following monologue whilst healing the man with the withered hand: ͖ͭͥͅ ͎͔͖͚͜ ͡΃‫ װ͔֐ ΂׈͠ ̫ͦͤ͠ ͍΃ل͖ͨ ͞רͥ ͚͖ͥ͞͠͞΂֚ ̫ͭͥ͞׈͒ ͣ׬‬օ͚ͥ͒͡͠͝, ֱ͒͞ ͝‫ר‬ ִ͕ͦ͒͠‫ ׬ͥ ר͝ ֱ͒͞ ̫͚ͤͪͤ͞͏΃͔ͥ͒͘͠΂ ͚͠ل‬օͩ͒ͤͱ͚͒ ֔΃͔͠͞ ֲ͖͚͒͞ ͚͐ͤͪͤ͞͠͝, ͔ͭٞ͜ ͒͜͜٠. ́‫ͣ׬͖̺ ֽ ֲ͖͖͞͡ ΂׈‬, ̾‫͍͓͓ͥ͒̈́ ͞֐ ͚͖͍͜͜ ר‬ٞ. ֖‫͔͞͠΃֔ ͔ͣͭ͜͠ ֽ צ͕ ͞פ‬ ͔͎͚ͥ͒͘͞, ͱ͎͒ͦ͒͗ͤ͝ͱͪ ֽ ͒͜͜͏ͤ͒ͣ. Then he says to him: Stretch out your hand. I am not touching, lest the Jews find accusation. Lest they think that touching is labour, I shall speak with a word. God did not say, Do not speak on the Sabbath. But if the word became labour, he who speaks should be amazed.

This Christian text from late antiquity is remarkable for engaging the reflection on what constitutes “labour” prohibited on the Sabbath. Touching is identified as labour but speaking is not. However, as we shall see below (section 4), matters are not quite so easy in pertinent Jewish texts. It should also be noted that the homily questions the prohibition of plucking grain on the Sabbath (§ 1, cols. 144–145), probably shared by many Jews in antiq33

Thus also Schaller, Jesus (n. 5), 132 f; E. Ottenheijm, Genezen als goed doen: Halachische logica in Mt 12, 9–14, Bijdr. 63, 2002, 335–366: 352. 34 Reasons why this text cannot be attributed to Athanasius but should nevertheless be considered “old” are given by E. Schwartz, Der s.g. Sermo maior de fide des Athanasius, SBAW.PPH 1924/6, München 1925, 44. I owe bibliographic references and suggestions for date and provenance to Dr. Annette von Stockhausen, Edition Athanasius Werke, University of Erlangen. 35 See the discussion of provenance and date in E. Bickerman, Sur la version vieux-russe de Flavius Josèphe [1936], in: idem, Studies in Jewish and Christian History, Part 3, AGJU 9, Leiden 1986, 172–195; and the summary of subsequent scholarship in L. H. Feldman, Josephus and Modern Scholarship (1937–1980), Berlin 1984, 48–56.

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uity,36 asking how the hungry disciples could be denied food. In sum, the homily tends to exonerate Jesus and the disciples with claims of the permissibility of their Sabbatical actions and is replete with anti-Jewish polemic.37 Our second witness, the interpolation in the Slavonic Jewish War (2:9:3, addition to Bell. 2:174), makes the following claim: Others thought that he [sc. Jesus] was sent from God. But he was in much opposed to the Law and did not observe the Sabbath according to the ancestral custom, yet did nothing dirty, , nor with the use of hands (ϒϕόϐφϵύςϏϊς) but worked everything by word (ϓύϐτϐώ) only.38

Here, Jesus is seen in conflict with “ancestral custom” regarding the Sabbath, although the “verbality” of his actions is emphasized. However, these verbal actions on the Sabbath seem to be merely a special example of Jesus’ ministry in general, since the Slavonic text a few lines earlier and unrelated to the Sabbath states that “everything, whatever he did, he did by some unseen power, by word (ϓύϐτϐώ) and command (ϑϐτχύϵϏϊχώϞ).” 39 We take from this intriguing interpretation of Jesus’ ministry the cue to ask two questions regarding the synoptic Sabbath healings: First, do the synoptic gospels attribute a significant difference to Jesus’ miracle-working on the Sabbath as compared with his general ministry? Second, are Jesus’ Sabbath healings generally and necessarily performed by mere word? As to the first question: When we look at the inventory of motifs in the synoptic miracle stories40 we note that use of words alone in healing41 is not 36

Cf. Doering, Schabbat (n. 2), 94 f, 155–158, 342 f, 428 f, 573 f. Cf., e.g., the charge that “the Jews” do “not keep the weightier things of the law” (§ 1, col. 145; cf. Mt 23:23). In fact, the author oddly contrasts “the Jews’” reproach of the hungry disciples with their alleged willingness to kill Jesus on the “great Sabbath” (sic), for which John 19:31 is mistakenly invoked. This is apparently influenced by a reading of Mark 3:4 in conjunction with Mark 3:6. 38 This passage has also been adduced by E. Nodet (RB 111, 2004, 304), although with far greater optimism as to its relevance for Jesus’ own Sabbath conduct. I follow the text as edited by N. A. Mešþerskij, Istorija iudejskoj vojny Iosifa Flavija v drevnerusskom perevode, Moscow 1958, 259, lines 22–25 (Codex no. 109/147, Vilnius Public Library). The English translation is that of Josephus’ Jewish War and its Slavonic Version: A Synoptic Comparison of the English Translation by H. St. J. Thackeray with the Critical Edition by N. A. Mešþerskij of the Vilna Manuscript translated into English by H. Leeming and L. Osinkina, ed. H. & K. Leeming, AGJU 46, Leiden 2003, 261. The word “unclean” is missing from Codex no. 651/227 (formerly in the Volokolamsk Monastery); see text and French translation in V. Istrin, La prise de Jérusalem de Josèphe le Juif: Texte vieux-russe publié intégralement, 2 vols., Paris 1934, I, 148/149, line 32 – 150/151, line 3. I wish to thank Professor Christfried Böttrich, Greifswald, for help with issues of the Slavonic text. 39 Leeming, Josephus’ Jewish War, 261 (emphasis is mine); Mešþerskij, Istorija iudejskoj, 259, lines 19 f; cf. Istrin, La prise, 148/149, lines 30 f. Another reference to the “word” comes a bit later: Mešþerskij, 259, lines 31 f; Leeming, ibid.; cf. Istrin, 150/151, line 8. 40 Cf. G. Theissen, The Miracle Stories of the Early Christian Tradition, Edinburgh 1983, esp. 63 ff. 37

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restricted to Sabbath therapies. Blind Bartimaeus is cured after Jesus asks him what he should do for him and tells him, “Go (‫ ;)͖͔͒͡׍‬your faith has cured you” (Mark 10:51 f). Naturally also healing over a distance, like in Mark 7:29 or Matt 8:13, is by word alone. Within talking distance, the ten lepers are also merely told, “Go (͡͠΃͖ͦͱ͎͖ͥͣ͞) and show yourselves to the priests,” and they become clean while on their way (Luke 17:14). In the healing of the paralytic Jesus cures by mere word, “Get up, take your bed and go home” (Mark 2:11). Use of a mere word is also found in Jesus’ exorcisms. Matt 8:16 explicitly states, “he drove the spirits out with a word” (֐͎͓͖͒͟͜͞ ͥ‫͔ͭ͜ ͖͒ͥ͒ͮ͝͞͡ פ‬ٞ). A further example is Mark 9:25 parr. (Jesus “threatened” [֐͖͖ͥ͐ͤ͘͡͝͞] a demon).42 In sum, the use of mere words in therapies and exorcisms suggests that Jesus’ cures in the Sabbath pericopae do not in principle differ from comparable procedures in narratives situated on ordinary days. In fact, the wording at Mark 3:5, “he says to the man: ‘Stretch out your arm’ (͎͔͖͚͜ ͥ١ ր͞ͱ΃̫ͯٞ͡ ֔΂͖͚ͥ͞͠͞ ͥ‫͞ר‬ ͖ͨ‫ ”)͒΃ل‬can hardly carry the burden of evidence attributed to it by Flusser and others. The first part of this phrase is even identical to the earlier phrase describing how Jesus calls the man into the centre, “and he says to the man (΂͒‫ͥ ͚͖͔͎͜ ת‬١ ր͞ͱ΃ͯٞ͡) with the withered hand: ‘Come to the centre’ ” (Mark 3:3). There is no indication that the text would pay special attention to the “verbality” of the healing or the avoidance of manual actions. Moreover, on the second question we observe that Jesus is portrayed as healing by word on the Sabbath only at Mark 3:1–6 parr. and at John 5:1–18 – but here the Sabbath is anyway broken (vv. 10, 16, 18). Elsewhere, curative manipulations carried out by Jesus are reported: Mark quite naturally retains such manipulations in a healing story, indirectly dated on the Sabbath due to its connection with the preceding text containing a Sabbath reference (Mark 1:21b): When Peter’s mother-in-law was ill with fever on the Sabbath, Jesus “took her by the hand and helped her up” (͔͖͚֠΃͖͞ ͒‫)ͣͭ΃͚͖ͨ ͣضͥ ͣ͒ͤ͏ͥ͒΃΂ ͞רͥ׈‬,43 and her fever was cured (Mark 1:31; only Luke 4:39 has a mere verbal healing here, while Matt 8:15 is not dated on a Sabbath). Luke strikingly reports curative manipulations in his additional Sabbath pericopae,44 without indicating any shift in the nature of the Sab41

It should be noted that for some of the following cases, as well as for Mark 3:1–6, the exact relation between the word and the cure is debatable. See further below. 42 See also Mark 1:25 par. Luke 4:35, within a pericope dated on a Sabbath, albeit without any controversy. 43 Cf. Preuss, Medizin (n. 16), 162 f: “Unterstützung der verbalen Suggestion”; Kollmann, Wundertäter (n. 29), 223 n. 4: “Möglicherweise ist an Kraftübertragung gedacht.” 44 It is probable that Luke 14:1–6 is a Lukan composition analogous to Mark 3:1–6; cf. Kollmann, Wundertäter, 244; Doering, Schabbat (n. 2), 462 f; Mayer-Haas, “Geschenk” (n. 3), 341– 345. Furthermore, it is likely that Luke 13:10–17 is a pericope for which Luke has joined an earlier therapy (vv. 11–13), not dated on the Sabbath, with the Sabbath controversy motif; cf. Kollmann,

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bath controversies. Thus, Luke 13:13 says that Jesus “laid his hands” on the bent woman (֐͎͡ͱ͘΂͖͞ ͒‫ )ͣ͒΃ل͖ͨ ͣפͥ طͥ׈‬after speaking the miracle word. Laying-on of hands is considered an act of transmitting healing power and is “a familiar miraculous gesture.” 45 But also “touching,” as in Luke 14:4, aims at strengthening and healing the sick (֐͚͓͖͒ͭͣ͜͡͝͞͠ ͍֬ͤ͒ͥ͠ ͒‫)ͭͥ͞׈‬.46 Therefore, the wider synoptic tradition does not show consistency in portraying Sabbatical healings by word alone. But even Mark 3:1–6 poses questions in this respect. Its clear signs of stylisation, including the malevolent watching of Jesus aimed at accusing him (v. 2) and the historically unlikely plot of “the Pharisees” together with “the Herodians” to kill him (v. 6),47 render the assumption unlikely that this pericope “depicts” a single incident in Jesus’ life accurately. The coordination of vv. 3 and 5, noted above, suggests that the portrayal of the healing is part of this stylisation as well. It makes it difficult to argue that Jesus, historically speaking, healed exactly as related in Mark 3:5 or – if the pericope reflects recurrent praxis,48 as the attestation of the topic would suggest – that he consistently healed that way on the Sabbath. As Graham Stanton notes, “Jesus may well have used some form of ‘physical action’ which is not recorded.” 49 Another complication is noteworthy: It has been argued that the word in Mark 3:5 does not effect the miracle but is rather a command to demonstrate the healing, which is not explicitly narrated.50 Thus, we would not be able to say anything specific about the mode of healing. However, I am unsure whether early recipients of the story would have sensed this fine distinction, which has escaped most critical scholars. In sum: There does not seem to be a particular emphasis on the mode of healing in Mark 3:1–6. Apart from this, the pericope is hardly a “depiction” of a historical incident. And other Sabbath texts in the gospels are not conop. cit., 242; Doering, op. cit., 463 f; Mayer-Haas, op. cit., 326–332. Different J. A. Fitzmyer, The Gospel according to Luke, 2 vols., AB 28–28a, New York 1981–85, II, 1011, 1038 f. 45 Theissen, Miracle Stories (n. 40), 62. 46 Cf. Theissen, ibid.; contra Sanders, Jewish Law (n. 3), 20, who disregards the participle and claims, “there is no specification of how the healing was performed” here. My argument is not affected by the suggestion that pre-Christian examples of healing by a mere touch boil down to a few passages; cf. P. J. Lalleman, Healing by a Mere Touch as a Christian Concept, Tyndale Bulletin 48, 1997, 355–361 (who focuses on օ͚ͥ͒͡͠͝). For the present argument, I ignore the robust manipulations reported in John 6:6, 14 f, because the pericope betrays signs of growth and the image of Jesus as “Sabbath transgressor” follows a rhetorical-theological agenda (vv. 13–17). 47 Accusations of Sabbath breach do not feature in any of the New Testament passion narratives. They appear only later in the Gospel of Nicodemus / Acts of Pilate (chs. 1–2, 6; fourth c. CE, possibly with earlier roots). 48 So C. Dietzfelbinger, Vom Sinn der Sabbatheilungen Jesu, EvTh 38, 1978, 281–298: 287. 49 G. Stanton, The Gospels and Jesus, 2nd ed., Oxford 2002, 263. 50 W. Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting: A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective, FRLANT 163, Göttingen 1994, 109 f.

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cerned with “verbal” healing at all. In contrast, what does seem to be constitutive in the synoptic (and Johannine) texts discussed so far (and Matt 12:11 f par. Luke 14:5;51 perhaps also Mark 2:27 [f]52) is Jesus’ healing on the Sabbath and thereby causing controversy.

4. We are now in a position to ask for Jesus’ therapeutic practice on the Sabbath within the context of early Jewish Sabbath law. Recently, it has been argued in relation to the Sabbath therapies that we do not have any evidence of a consistent and (for Jews) generally binding Sabbath law in the early first century.53 This is correct. It should, however, not mislead us to the assumption that we are dealing with a multi-optional society in which any conduct would be acceptable. There was a fair amount of general agreement on issues of law, over against which the sharp divergences were simply more feasible. The rabbis did not invent halakhah, it was in various forms already quite developed in the first century. But early Jewish halakhic texts tend to cover only selected aspects of legally structured life. At times, when we ask for halakhah and practice in the New Testament we cannot simply take a Jewish source and “adduce” it for comparison. Sometimes the New Testament reference is the earliest evidence for a certain regulation. This is also the case with healing on the Sabbath: No non-Christian pre-Tannaitic source mentions it at all.54 Was it therefore generally considered allowed? 51 Although its source-critical provenance is unclear and its “authenticity” debated (defended by Mayer-Haas, “Geschenk” [n. 3], 345–359; caution pleads Doering, Schabbat [n. 2], 457–461). 52 Mark 2:27 [f] sits uncomfortably with the disciples’ plucking of grain. Cf. discussion in Doering, Schabbat, 408–432, esp. 413 f, 417; similarly Kollmann, Wundertäter (n. 29), 248; Mayer-Haas, “Geschenk”, 190. I am aware that I disagree here with numerous scholars who think v. 27 originally belonged with vv. 23 f (see Doering, op. cit., 409 n. 64, from which to subtract those mentioned in n. 66) or who see vv. 23–28 describe an authentic incident (from an Aramaic source: M. Casey, Culture and Historicity: The Plucking of the Grain [Mark 2. 23–28], NTS 34, 1988, 1–23). Unfounded is the suggestion by M. Ebner that the logion originally served to justify travel on the Sabbath by Jesus and his disciples as wandering radicals; idem, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß, HBS 15, Freiburg 1998, 178 f. 53 Cf. Ottenheijm, Genezen (n. 33), 352; Mayer-Haas, “Geschenk”, 214 f. This has also been one of the results of Doering, Schabbat, e.g., 566–578, esp. 575. 54 CD 11:9 f is not pertinent, since it does not prohibit “carrying around” medications on the Sabbath (pace Kollmann, Wundertäter [n. 29], 248), but only carrying them out of or into a house. Some have compared the ban on the physician’s service, recorded for days 7, 14, 19, 21 and 28 of the lunar month in the Assyrian cuneiform series Inbu bêl arhim (7th c. BCE), with Pharisaic opposition to sabbatical therapies (cf. S. Langdon, Babylonian Menologies and the Semitic Calendars, The Schweich Lectures 1933, London 1935, 73–96, esp. 85, 89), but it is uncertain whether there is any bridge from the Assyrian ban to the 1st c. CE Jewish status quaestionis.

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In order to clarify this issue, let us, in a first step, take a brief look at the related issue of life saving, rabbinically termed piqqua½ nefesh. This is of some heuristic value, since life saving is the more severe issue, and if we saw a concern for stringency here we could assume something similar also for the lighter issue of healing non-mortally dangerous diseases. This is indeed the case. The rabbinic texts record some hesitation on the part of common people to engage in life saving out of respect for the Sabbath, and therefore they encourage it, e. g., by stating that one does not have to ask permission for it at the beit din (tShab 15[16]:11, 13).55 In the Dead Sea Scrolls we find even stricter provisions for life saving that aim at combining sanctification of the Sabbath and care for a human life. One regulation, at CD 11:16–17, is concerned with making sure that forbidden implements are not being used, while it would seem to be permissible to extend one’s hand in order to rescue an endangered fellow human being:56 And any human (ĠĖē Ĭħģ) who falls into a place of water or into a place of (…), / let no man bring him up with a ladder, a rope, or an implement (ĜğĞĘ).

The second text, 4Q265 6 6–7, offers a more sophisticated rule that concedes casting one’s garment into the pit, but at the same time, too, prohibits the use of “implements”:57 And if it is a human being (ĠĖē Ĭħģ) that falls into the water / [on] the Sabbath [day], let him cast his garment (ĘĖĕĔ ĭē) to him to raise him up therewith, but an implement (ĜğĞ) he may not carry.

The difference between garment and implement is that one is allowed to carry about one’s garment on the Sabbath, for it is not considered an “implement” (ĜğĞ) with regard to Sabbath law. This approach seems to concede life saving only as far as no breach of the Sabbath is involved.58 55 Cf. S. Lowy, Some Aspects of Normative and Sectarian Interpretations of the Scriptures, ALUOS 6, 1966–68, 98–163, 113 with 148 f n. 126. A leaning toward stringency is also attested in tDemai 5:2, where the ‘amme ha-’arets are credited with “fear of the Sabbath” (ĭĔĬ ĭġĜē). However, alongside this we have also rare evidence of non-observant Sabbath conduct, e.g., the “extreme allegorists” mentioned by Philo migr. 89–93 or records of trading on the Sabbath in Palestinian ostraca from the 1st century CE; see Doering, Schabbat (n. 2), 347 f, 387–397. 56 Text and translation: J. Baumgarten in: J. H. Charlesworth (ed.), The Dead Sea Scrolls: Hebrew, Aramaic, and Greek Texts with English Translations, Vol. 2, Tübingen & Louisville 1995, 48 f (translating “a utensil” instead of “an implement”). 57 J. Baumgarten et al., Qumran Cave 4. XXV. Halakhic Texts, DJD 35, Oxford 1999, 68. 58 See for this interpretation Doering, Schabbat (n. 2), 201–204, 232–235, initially proposed in L. Doering, New Aspects of Qumran Sabbath Law from Cave 4 Fragments, in: M. Bernstein et al. (ed.), Legal Texts and Legal Issues: Proceedings of the Second Meeting of the IOQS, Cambridge 1995. Published in Honour of J. M. Baumgarten, StTDJ 23, Leiden 1997, 251–274. Against L. H. Schiffman’s harmonizing view, idem, The Halakhah at Qumran, SJLA 16, Leiden 1975,

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Alongside this strict and obviously old position arose a new one that conceded profanation of the Sabbath for the sake of the life of a human being. This approach apparently originated during the Maccabean rising, when for the first time (in Palestine) it was decided that one may fight back on the Sabbath when attacked (1Macc 2:39 ff). Somehow by analogy this was extended to danger in various situations of life. Tannaitic texts then reflect the clear stance that “nothing impedes life saving (Ĭħģ ĚĘĪħ, piqqua½ nefesh) except … idolatry and licentiousness and bloodshed” (tShab 15[16]:17 parr.) and that even “every suspicion of mortal danger overrides the Sabbath (ĭĔĬė ĭē ėĚĘĖ ĭĘĬħģ ĪħĤ ğĞĘ).” 59 I deem it likely that Jesus’ question at Mark 3:4 makes also reference to the principle that life saving overrides the Sabbath: Is it permitted (͖͚֔ͤͥ͟͞) to do good or to evil on the Sabbath, to save life (ͩͦͨ‫͞ר‬ ͤ٠͚ͤ͒) or to kill?

As it stands, the question “Is it permitted …?” makes use of a terminology frequent in Jewish debate on what is allowed and forbidden on the Sabbath.60 Thus, Jesus’ interlocutors are being “picked up” at their own presuppositions.61 It seems that they too would endorse the precedence of life saving, albeit not in the case of a withered hand. However, in line with recognition of the stylisation of Mark 3:1–6 (see above, section 3), it has in recent years been increasingly questioned whether this logion can be traced back to Jesus. The main argument is that the reported health state of the man is not life threatening and thus the second part of the saying (“to save life – to kill”) off the point, while the first part (“to do good – evil”) is referred to the contrast between Jesus the healer and the opponents negatively portrayed in vv. 2 and 6. Thus, it is argued, this verse is partly or totally redactional and makes only sense in a Markan setting.62 Although I appreciate that the logion was most likely adapted to its context with its negative portrayal of the opponents, I assume that the argument concerning life sav128: “It must be assumed … that if impossible to save a man without the use of articles in the category of muqseh, one could use these articles.” 59 See mYoma 8:6; cf. tShab 9[10]:22; 15[16]:11, 15 ff; MekhY Shabbta Ki tissa 1 on Exod 31:13. Cf. Kahl, Ist es erlaubt (n. 3), 324–335; Doering, Schabbat, 547–554, 566–568. 60 Cf. Mark 2:24; John 5:10; Flav.Jos.Ant. 13:252; cf. rabbinic ’asûr – mûtar (see Jastrow, Dictionary [n. 19], [I] 98, [II] 946; a pertinent reference regarding healing on the Sabbath is TanB Lekh lekha 20 [76 Buber]). 61 Cf. Schaller, Jesus (n. 5), 145 f. Contra Back (n. 2), Jesus, 114 who makes the unfounded claim that “Jesus implicitly criticizes a way of thinking that, regarding Sabbath healing, compels the question ‘is it lawful?’” (the original has italics). 62 Cf. F. Vouga, Jésus et la loi selon la tradition synoptique, Genève 1988, 56 f; Kahl, Ist es erlaubt (n. 3), 329 f; Lindemann, Jesus und der Sabbat (n. 3), 129 f; Mayer-Haas, “Geschenk” (n. 3), 206 ff. Cf. also Dautzenberg, Jesus und die Tora (n. 3), 350 f.

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ing has nevertheless some base in Jesus’ attitude toward the Sabbath, because concern for “life” is a major halakhic issue in Jewish debate about the Sabbath. In this respect, it should be noted that the single other combination of ͩͦͨ͏ and ͤ٠͚ͤ͒ attested in Mark is both differently construed and semantically different (Mark 8:35: “For those who want to save their life [ͥ‫ͤ ٓͥ͠׈͒ ͞רͨͦͩ ͞ר‬٠͚ͤ͒] will lose it”). In contrast, anarthrous and absolute usage as at 3:4 aptly matches the technical, formulaic use of Ĭħģ “life” both in the Qumran passages and in the rabbinic texts on life saving given above. Thus, with due caution as to the exact formulation, we may consider it likely that Jesus refers to the concession of life saving and then broadens its applicability to include non-life threatening diseases.63 What do we know about healing proper on the Sabbath for early Judaism? Since the criterion of mortal danger – or suspicion of such – plays a decisive role for the debate on piqqua½ nefesh we may assume that healing would not have been universally conceded.64 A first indication that should be taken seriously is the phenomenon discussed above that Jesus’ healing, as witnessed by the gospel tradition, aroused controversy.65 That his opponents were in total mere extremists (Sadducean, Essene or Essene-like, as has been claimed by Maccoby and Sigal),66 is at least very unlikely with respect to the firm place of the label “Pharisees” for his main interlocutors in matters of law.67 Also, the argument about life saving (see above) would make less sense because those extremists would not agree that it overrides the Sabbath. Secondly, even though healing does not feature in the list of thirty-nine main prohibited labours (mShab 7:2), this does not mean that according to the Tanna’im healing was only forbidden when performed by 63 Cf. Doering, Schabbat (n. 2), 450–454, although I would now be less confident about what we can establish as exact “authentic” wording. Cf. also R. Pesch, Das Markusevangelium, 2 vols., HThK 2.1–2, Freiburg 51989–41991, I, 193; R. A. Guelich, Mark 1–8:26, WBC 34A, Dallas 1989, 134 f; M. Kister, Plucking on the Sabbath and Christian-Jewish Polemic, Immanuel 24/25, 1990, 35–51: 40; Schaller, Jesus (n. 5), 143–146; Kahl, Ist es erlaubt (n. 3), esp. 329–335 (but with a different assessment of the halakhic corollaries of Jesus’ therapies); P. J. Tomson, “If this be from Heaven …”: Jesus and the New Testament Authors in their Relationship to Judaism, The Biblical Seminar 76, Sheffield 2001, 155. 64 Cf. tShab 15[16]:15, where it is clear that only for someone in suspicion of mortal danger may water be heated “to heal him with it.” 65 Thus also Back (n. 2), Jesus, 47 f. 66 Cf. Maccoby, Writings (n. 3), 171; Sigal, Halakah (n. 3), 138 ff. 67 Back, Jesus, 111 n. 22 thinks the name “Pharisees” was traditionally connected with Mark 3:1–6 but moved by Mark from v. 2 to v. 6. That Jesus’ other main opponents were Pharisees can hardly be denied; cf. A. J. Saldarini, Pharisees, Scribes and Sadducees in Palestininan Society: A Sociological Approach, Wilmington 1988, 291 f. A certain number of Pharisees seem to have been present at least in the towns of Galilee; cf. S. Freyne, Galilee from Alexander the Great to Hadrian 323 B.C.E. to 135 C.E.: A Study of Second Temple Judaism, Wilmington, 1980, 319–323; Saldarini, op. cit., 295; too much downplayed by Vermes, Jesus the Jew (n. 3), 52–57.

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one of these labours.68 As is well known, there were other prohibitions, partly derived from these labours, partly considered merely “rabbinic,” and partly disputed as to their status, among which various forms of healing are concerned. Thus, mShab 14:3 declares:69 A B C D

They do not eat Greek hyssop (ĢĘĜĔĘęĜē) on the Sabbath, because it is not food for healthy people. But one eats “yo‘ezer” (īęĥĘĜ) or drinks “shepherd’s flute” (water) (ėĥĘī ĔĘĔē). One eats all (ordinary) foods for healing and drinks all (ordinary) drinks.

The point is that one may not consume herbs, like Greek hyssop, which are not normally used except as medicine (= A–B). However, any curative effect that is merely the by-product of regular nutrition is allowed (= D), and this applies also to herbs that happen to have also a medical quality (= C).70 Further, we read at mShab 14:4 (cf. tShab 12[13]:9, 11): A B C D E F G H

He who is concerned about his teeth may not suck vinegar through them. But he dunks (his bread in it) in the normal way, and if he is healed, he is healed (ėħīĭģ ėħīĭģ ĠēĘ). He who is concerned about his loins may not anoint them with wine or vinegar. But he anoints with oil – not with rose oil. Sons of kings anoint themselves with rose oil on their wounds, since it is their way to do so on ordinary days.

The principle of tolerated “by the way” cure is not restricted to remedies taken orally (= A–C), but also to ointments, of which only those used for cosmetic purpose on ordinary days are allowed (= D–H). This is further clarified in mShab 22:6: A They anoint and massage [mss. add: the stomach]. B But they do not have it kneaded or scraped. 68

Thus, however, Maccoby, Writings (n. 3), 171. Translations from the Mishnah follow, though with some adaptations, J. Neusner, The Mishnah: A New Translation, New Haven 1988. Hebrew quotations follow Cod. Kaufmann. 70 There is some debate about identification of the herbs mentioned. Notoriously difficult is “Greek hyssop” (note the spelling [ĢĘĜĔĘęĜē], e.g., in Cod. Kaufmann); cf. already bShab 109b and I. Löw, Aramäische Pflanzennamen, Leipzig 1881, 134 ff [no. 93]. As to “yo‘ezer,” yShab 14:3 [14c] considers it to be ĢĘĞĜīěĜğĘħ = ͮͥ͜͡͠΃͚ͨ͠͞, “maiden-hair” (Adiantum capillus Veneris, “Frauenhaar”), cf. Löw, op. cit., 278 f [no. 223], whereas bShab 109b identifies it as ĪģĭĘħ, “pennyroyal” (Mentha pulegium, “Polei-Minze”), cf. Löw, op. cit., 315 [no. 256]. Concerning “shepherd’s flute,” it is unclear whether the Hebrew and Aramaic terms denote the same plant; for Hebrew ėĥĘī ĔĘĔē Löw suggests “water-plantain” (Alisma plantago, “Froschlöffel”), but it may also be, as bShab 109b claims, the same as ēĜīěġĘĚ = Aramaic ēĜĥīĖ ēīěĘĚ, “prostrate knotweed” (Polygonum aviculare, “Vogelknöterich”); cf. Löw, op. cit., 34 [no. 2]. Rather misleading are the suggestions in Jastrow, Dictionary (n. 19), [I] 3: Eupatorium, and W. Nowak, Schabbat (Sabbat), Gießener Mischna II.1, Gießen 1924, 101: ͍֭͒͒ͥ͝΃͚͒, some styptic herb. 69

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They do not go down to a muddy wrestling ground (ēġĘğĜħğ)71. And they do not induce vomiting (ĢĘęĜħēěĪĜħē)72 [mss. add: on the Sabbath]. And they do not straighten (the limb of) a child or set a broken limb. He whose hand or foot was dislocated should not pour cold water over them. But he washes in the usual way. And if he is healed, he is healed (ēħīĭĜģ ēħīĭĜģ ĠēĘ).

This passage is highly pertinent, since besides anointing and massaging it mentions healing injured limbs on the Sabbath. It emerges that all purposeful cures are forbidden, including straightening a child’s limb or restoring a broken limb. Even directly cooling off a dislocated hand or foot is prohibited, and it may only be washed in an ordinary manner, with a “by the way” cure being acceptable. The Tosefta also records rulings involving oral application of mastic and herbs, which is forbidden “when one intends it for healing” (ėēĘħīğ ĢĜĘĞĭġĬ; tShab 12[13]:8; cf. 13). In addition to the rule on tooth pain also found in the Mishnah, it provides a similar rule concerning the treatment of a sore throat: keeping oil in the throat for a “lubricant” is forbidden, while swallowing a significant amount of oil is permitted (12 [13]:10). The Tosefta further approves of anointing with oil or a mixture of oil and wine (but not with pure wine or vinegar, which are not regular ointments), which most require to be prepared before Sabbath (12[13]:11 f). Also, very limited care for wounds is allowed for (12[13]:14). Even if Rn. Shim‘on ben Gamli’el, in an occasional ruling, allows a mother to wash her child in wine73 “even though she intends it for healing” (12[13]:13), the general tenor of both Mishnah and Tosefta is that intentional healing of minor diseases is forbidden, while “by the way” cures seem acceptable. The discussion so far has shown that the involvement of physical labour is not necessary for something to be considered forbidden. It is rather the effect the treatment takes, and its designation for the purpose of healing. Thus, Sanders’s general assertion that “talking is not work”74 (cf. Ps.Athanasius above, section 3) is untenable. It may be recalled that, obviously inspired by Isa 58:13, talk about work is forbidden according to both the Dead Sea Scrolls and rabbinic texts,75 with some traditions indicating that even thoughts about work were not permitted.76 Besides that, we find evi71 Greek ͡͏ͪ͒͜͝; cf. Levy, Wörterbuch IV (n. 19), 53. The Bavli eds. have ēġĜĖīĘĪğ instead, according to Levy, ibid., 373, “Pfütze, eig. Einschnitt” (puddle, gash). 72 From Greek, although the exact wording is debated; various proposals with bibliographical references are conveniently gathered in Hüttenmeister, Shabbat (n. 14), 461 n. 10. 73 According to yShab 14:3 [14c], such washing is normally to remove sweat. 74 Sanders, Historical Figure, 215; cf. Jewish Law (n. 3), 21; Vermes, Jesus the Jew (n. 3), 25. 75 Cf. CD 10:19; 4Q264a i [frg. 1] 5–8 par. 4Q421 13+2+8 3–4; bShab 113b; 150a. 76 Cf. Philo Mos. 2.211; WaR 34:16 on Lev 25:35 [IV 815 Margulies]; yShab 15:3 [15a–b]; cf. MekhY Yitro Ba-½odesh 7 [on Exod 20:8] [230 Horovitz / Rabin]: ėĖĘĔĥ ĭĔĬĚġġ ĭŴĔŘþ

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dence that the House of Shammai forbade prayer for the sick: Like other deeds of charity (such as distribution of alms in the synagogue or arranging a marriage), intercession for the sick was considered inappropriate because of the doxological character of the Sabbath (tShab 16[17]:22; bShab 12a has “visit the sick” instead).77 Generally, the Shammaites stressed the holiness of the Sabbath as compared with human well-being. However, even the Hillelites, who reportedly conceded killing lice on the Sabbath (ibid.) to increase bodily well-being, are not said to have allowed immediate cures of chronic diseases either, and the valuation of intention in the prohibitions of purposeful healing given above is close to Hillelite concerns.78 Although it can neither be established beyond doubt that the “Houses” were indeed Pharisaic factions nor that the details mentioned in the Tannaitic texts can already be presupposed in full early in the first century, there seems to be a clear line running between Pharisaic opposition to Jesus’ sabbatical therapies and reservations about cures of non-life threatening diseases in the Tannaitic texts. In light of this it may therefore be suggested that first century Pharisees are likely to have considered an immediate therapy of a nonlife threatening disease unlawful, even if effected by mere word.79 The rationale would probably be that such a therapy involved the deliberate change in circumstances from sick to healthy.80 What does this result imply for Jesus’ stance within first century Judaism? Clearly, we can no longer follow Käsemann’s misguided claim that Jesus, with his Sabbath practice, “left the boundaries of Judaism,” and we are deeply indebted to scholars like Flusser, Vermes or Sanders to have pointed this out early on. There was neither uniformity nor normativity in the pertinent rulings, and particularly within the (proto-)rabbinic (Pharisaic?) milieu different stances usually tolerated one another, as emphasized by Sanders.81 I have further considered it likely that Jesus took a principle shared by many contemporary Jews (that life saving sets the Sabbath aside) “rest from thought about labour”; PesR 23 [116b Friedmann]: ėĔĬĚġė Ģġ ĭŴĔŘþ “rest from the thought”; cf. for the whole issue Doering, Schabbat (n. 2), 225 ff, 348–352. 77 Cf. E. G. Chazon, On the Special Character of Sabbath Prayer: New Data from Qumran, Journal of Jewish Music and Liturgy 15, 1992/3, 1–21: 4 ff, 15 f n. 12 ff; Ottenheijm, Genezen (n. 33), 359–362. Since Jesus does not heal by prayer it cannot be this specific Shammaite view that is contested in the gospel pericopae; contra Kollmann, Wundertäter (n. 29), 253. 78 The House of Hillel broadly developed the impact of “intention” over against the more “physical” concerns in determining halakhic status amongst the Shammaites. See E. Ottenheijm, Disputen omwille van de Hemel: Rol en betekenis van intentie in de controverses over sjabbat en reinheid tussen de Huizen van Sjammai en Hillel, Amsterdam 2004. 79 With a similar result Back, Jesus (n. 2), 46–49; cf. G. Theissen / A. Merz, The Historical Jesus: A Comprehensive Guide, London 1998, 367 ff; Stanton, Gospels, 263. 80 Similarly now Tomson, “If this be from Heaven …” (n. 63), 154. 81 Cf. Sanders, Jewish Law (n. 3), 22 f, 88 f (reported violence is either fictitious or has to do with “something other than purely legal disagreements”) and elsewhere.

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as point of departure and extended its application (Mark 3:4). Disagreement on this legal issue must therefore be regarded as about the “fine points” of the law,82 not as blunt confrontation or abrogation. I have already pointed out that Mark’s report of the death plot against Jesus following the Sabbath healing (Mark 3:6) is greatly exaggerating and historically misleading. On the other hand, however, one should not downplay the potential of conflict inherent in debates about the minutiae of the law. We know of some polemic between the various parties and their followers, and this can be fierce at times, particularly when it comes to the question of what ‘supersedes’ the Sabbath (cf. 4Q513 4 2–5; mMen 10:3). This is also at stake in the issue of life saving. Someone who healed chronically sick on the Sabbath was likely to cause some irritation with some of his contemporaries. Thus, there would have been at least some “ado” about Jesus’ Sabbath conduct, and, although disagreement was about details, this was in fact no small thing.

5. According to all four canonical gospels, Jesus healed people with non-life threatening diseases on the Sabbath. This seems to be a reliable trait in the tradition. What can we say about Jesus’ motivation for this specific conduct? Viewing Jesus thoroughly in the context of first century Judaism makes it impossible to see the gist of Jesus’ Sabbath conduct in the display of unsurpassed sovereignty, as Käsemann and others claimed.83 On the other hand, when we realize that Jesus typically violated the Sabbath by his healing according to the view of his interlocutors, we can no longer downplay this behaviour as mere “teaching the bigot a lesson,” as Flusser would have it, either. Is Jesus’ Sabbath practice, as has recently been argued by Andrea Mayer-Haas, merely an insignificant part of his ministry, in which he combined the necessities of a wandering charismatic with an average relaxed regard for the Sabbath?84 I would question this, since Jesus’ therapeutic Sabbath conduct as broadly attested in the gospels is hardly the praxis of an “average, non-rigorist” first-century Jew. It is rather quite specific and conspicuous and therefore calls for an explanation. To my mind, it is more promising to view Jesus’ Sabbath conduct as a corollary of the apocalyptic-eschatological outlook of his mission in gen82

As stressed by Sanders, Jewish Law, 22. I deem it also impossible to claim the present Christological notion of Mark 2:28 (“Thus [‫]͖ͥͤי‬, the Son of Man is lord even of the Sabbath”) for the “historical Jesus”; see below, n. 94. 84 Mayer-Haas, “Geschenk” (n. 3), 677–680. 83

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eral. This is not totally new.85 In doing so, I accept the view that Jesus’ ministry was shaped by the concern for the inaugurated kingdom of God, which manifested itself in Jesus’ teaching as well as in his actions, of which therapies and exorcisms constitute one part. This cannot be demonstrated in detail within the limited scope of this article, but it has been, to my mind, sufficiently argued for, and defended against criticism, in recent study of the historical Jesus.86 However, among advocates of an eschatological interpretation of Jesus’ Sabbath conduct there is no consensus as to how such an interpretation should look like in detail. I can only discuss here some of the suggestions. Building on earlier work, Sven-Olav Back has proposed a religious understanding of the term ͩͦͨ‫ͤ ͞ר‬٠͚ͤ͒ (Mark 3:4), taking it, like at Mark 8:35, as dealing with salvation, with what happens “when a diseased person is confronted with the kingdom of God.” 87 But we have already observed the syntactic and semantic differences between the two sayings, which make this solution quite improbable. Neither is T. W. Manson’s older suggestion convincing that Jesus needed to heal on the Sabbath, since the matters of the kingdom demanded haste.88 We simply cannot see elsewhere that Jesus aimed at curing or reaching out at as many people as possible; the inauguration of the kingdom is by way of example. Another variant of the eschatological interpretation of Jesus’ Sabbath conduct has been proposed by Tom Wright. According to Wright, Jesus aimed at a “redrawing of the symbolic world, as part of his kingdomannouncement,” whereby he “was insisting that, now that the moment for fulfilment had come, it was time to relativize those god-given markers of Israel’s distinctiveness.” 89 Wright is certainly right about the lack of “nationalist” traits in the way the Sabbath is represented in the Jesus tradition. However, I cannot see that Jesus would militate particularly against the alleged boundary the Sabbath created between Jews and Gentiles. First of 85

Cf., e.g., already T. W. Manson, The Sayings of Jesus as Recorded in the Gospels According to St. Matthew and St. Luke, London 1949, 189 f. Dietzfelbinger, Sinn (n. 48), 295, has programmatically advocated viewing Jesus’ Sabbath therapies as commenting on his preaching of God’s kingdom. Cf. recently Schaller, Jesus (n. 5), esp. 146 f; Back, Jesus (n. 2), esp. 161–193. 86 Cf. J. Becker, Jesus of Nazareth, New York 1998, esp. 85–323; Theissen / Merz, Historical Jesus (n. 79), esp. 240–280, 309; L. Schenke, Die Botschaft vom kommenden “Reich Gottes”, in: idem et al., Jesus von Nazaret: Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 106–147 (with a more future notion of the kingdom of God); and Wright, Jesus (n. 4), esp. 28–82, 198–474, who takes issue with interpretations that tone down the apocalyptic-eschatological notion of the kingdom of God in the ministry of Jesus, such as M. Borg, Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge 1994; Crossan, The Historical Jesus (n. 31); B. L. Mack, A Myth of Innocence: Mark and Christian Origins, Philadelphia 1988. 87 Back, Jesus (n. 2), 114, referring to earlier work by E. Lohmeyer and W. Grundmann. 88 Manson, Sayings (n. 85), 189 f; cf. D. E. Nineham, The Gospel of St Mark, Harmondsworth 1969, 109 f. 89 Wright, Jesus (n. 4), 368, 389.

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all, this boundary does hardly exist in the form claimed by Wright and, before him, by Sanders and others.90 On the contrary, by the time of the early Roman Empire the Sabbath had, except for a pagan elite denouncing it as idleness, largely become an object of sympathy among non-Jews and one of the most easily accessible symbols of Israel at all.91 (This observation should more generally urge caution as to the naming of the Sabbath among the “boundary markers” in theories of “covenantal nomism.”) Second, nonJews do not feature at all in Jesus’ Sabbath controversies. What Wright does not sufficiently account for is the remarkable concentration on healing in the pericopae on Jesus’ Sabbath conduct. This hardly fits the type of programmatic “relativization of a symbol” Wright is looking for. In contrast, I consider it more appropriate to see the eschatological perspective of the Sabbath therapies in a focus on the need of human beings as similarly reflected in other elements of Jesus’ ministry in the horizon of the inaugurated kingdom of God.92 The following points are worth considering: 1. In view of the kingdom of God individual sick move in such a way into the centre that their cure may not be subordinated to Sabbatical rest. In eschatological perspective, a human being’s illness is being taken “deadly serious,” so that their relief can be understood as an extended form of life saving,93 as has been argued above with respect to Mark 3:4. This focus on commissioning the Sabbath for the service to people in need is further suggested by Mark 2:27, which may originally also have been related to a case of Sabbatical healing (see above) and according to most interpreters can be attributed to Jesus:94 And he said to them: The Sabbath has become (֐͔͎͖ͥ͞͠) for the sake of humankind (͕͚‫ ͞׬ͥ פ‬ք͞ͱ΃ͪ͡͠͞), and not humankind for the sake of the Sabbath.

When and how has the Sabbath thus “become”? The use of ֐͔͎͖ͥ͞͠ is conspicuous. The occurrence here may be compared with other references 90

Cf., e.g., Wright, Jesus, 385; Sanders, Historical Figure (n. 3), 222. Cf. Doering, Schabbat (n. 2), 285–289; R. Goldenberg, The Jewish Sabbath in the Roman World up to the Time of Constantine the Great, ANRW II.19,1, Berlin 1979, 414–447. 92 Cf., e.g., Matt 11:5 par. Luke 7:22 (therapies); Mark 2:13–17 parr. (company with taxcollectors and sinners); Mark 1:40–45 parr.; 5:25–34 parr.; 5:21–24, 35–43 parr. (approach to impurity); Matt 5:3–6 par. Luke 6:20 f (beatitudes); Luke 15:4 f par. Matt 18:12 f; Luke 15:8 f (attention to the lost ones); Matt 8:11 f (ingathering of “many” for the eschatological banquet). 93 Cf. Back, Jesus (n. 2), 113. 94 See the authors listed in Doering, Schabbat (n. 2), 414 n. 91 (also dissenting voices); authenticity is now also affirmed by Mayer-Haas, “Geschenk” (n. 3), 670 ff; Tomson, “If this be from Heaven …” (n. 63), 153. – There is no room here to discuss the problems of v. 28 (see above, n. 83) in detail. Suffice it to note that if it were original the best explanation of its logic would be Aramaic idiomatic use of “son of man” = “an (individual) human being” in the background, if not, we would have to assume secondary Christological interpretation; cf. Doering, op. cit., 419–423. 91

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of ͔͚͐͒͞͠͝ signifying “to come into existence” and referring to God’s creative act;95 it probably relates to the institution of primordial Sabbath. This has recently been challenged by Martin Ebner, who claims that we have no evidence in Old Testament and ancient Jewish texts of the notion that the Sabbath “was created.” 96 However, this is not entirely correct; MTeh 92:2 [401 Buber] reads, “And what was created on the seventh (day)? – The Sabbath” ( ĜĥĜĔĬĔ ēīĔģ ėġĘ ĭĔĬ).97 Earlier, Jub 2:17 says that God “gave” (Ge‘ez wa-wahabana) the Sabbath day to the higher classes of angels, and in Jub 2:23, according to 4Q216 vii 16, we read that the Sabbath and Jacob “were made (ĘĬĥģ, Ge‘ez here kona) one with the other” for holiness and blessing.

Similar antithetical arguments are known from Greco-Roman, Jewish and New Testament texts.98 The most pertinent of these is the oft-quoted Sabbath saying of R. Shim‘on ben Menasya (late second century CE) in the Mekhilta on Exod 31:12, 14: ĭĔĬğ ĢĜīĘĤġ Ġĭē ĜēĘ ėīĘĤġ ĭĔĬ ĠĞğ

To you the Sabbath has been delivered, and not you have been delivered to the Sabbath.

We shall limit ourselves to comparing the structure and semantics of the sayings, without making claims about genealogical dependence (in either way). In both sayings the Sabbath is said to serve human beings or a group of them, and the converse relation between Sabbath and human beings, with the former as the governing side – however theoretical it may be –, is excluded. To be sure, the literary co-text of R. Shim‘on’s dictum is the exegetical justification of the maxim of piqqua½ nefesh. But we have seen that life saving, albeit in “extended” form, plays a role in the Jesus tradition as well. Nevertheless, two differences should be noted: Apart from the variation in the group of people in view (Jesus: “humankind”; R. Shim‘on: “you,” referring to Israel), which should however not be overemphasized,99 95 Cf. BDAG, s. v. ̵͖͐ͤ͞ͱ͚͒ refers to divine creation at John 1:3, 10; 1Cor 15:45; Heb 11:3; and notably in Philo (e.g., LA 1:2; opif. 13 f, 26 ff) and Josephus (e.g., Ant. 1:27, 28, 33); cf. Ps.Philo LibAnt 60:2 (fieret). The form present in Mark 2:27 should not be called a passivum divinum (pace Doering, Schabbat, 414), since ͔͚͐͒͞͠͝ is a passive deponent with active perfect forms (Professor Friedrich Avemarie, Marburg, has kindly alerted me to this problem); nevertheless, the implied relation to God’s creational work is equally arguable without this grammatical label. 96 Cf. Ebner, Jesus (n. 52), 168–171. 97 Cf. also Mayer-Haas, “Geschenk” (n. 3), 167 with n. 163. 98 Plut.mor. 230 f, 1071d–e; Ps.-Crates ep. 24 [74 Malherbe]; 2Macc 5:19; 1Cor 11:8 f; 2Bar 14:18; MekhY Shabbta Ki tissa 1, on Exod 31:12, 14 [341 Horovitz / Rabin]; bYoma 85b. 99 Note that ĠĞğ “to you” in the Mekhilta is a lemma of the verse interpreted, Exod 31:14, and the main thrust of R. Shim‘on’s saying is the relation between the addressees and the Sabbath, not the exclusion of other peoples. Conversely, it is unlikely that, in the Jewish context of Jesus’

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R. Shim‘on uses the verb īĤġ and thereby refers to the Sabbath being “handed over” (at Mt. Sinai?100), while Jesus, according to our interpretation, stresses the “genesis” of the day and thus invokes a primordial arrangement, in which the Sabbath was destined to serve human beings. 2. While the eschatological perspective has been established so far merely by way of matching the focus on need in the Sabbath sayings with a similar focus in other materials in the Jesus tradition that can be related to the inaugurated kingdom of God, some scholars take the evidence of Mark 2:27 further and propose an intrinsic link between the protological argument here and Jesus’ eschatological ministry. Most notably among these scholars, the late Hartmut Stegemann assumed here what he called an Urzeit-Endzeit correlation: In the context of Jesus’ eschatological mission human beings are refocused in a way that corresponds to primordial creation.101 I find this idea appealing, although I am much less convinced by Stegemann’s claim that this restitution implies dismissal of the Torah with its Sabbath commandment.102 However, one could claim that attention to chronically sick on the Sabbath in view of the kingdom of God is in agreement with, and a recovery of, the serving role of the Sabbath with respect to humankind in primordial creation. 3. Finally, in eschatological perspective it is possible to see some convergence between Jesus’ healing activity and the nature of the Sabbath. To be sure, it cannot be substantiated that Jesus particularly healed on the Sabbath.103 But it is quite probable that misfortune and disease, in Jesus’ view, are incommensurable with the nature of the Sabbath, a day on which God is particularly close to Israel104 and which should be celebrated in rest, words, “humankind” would have been expressly related to human beings irrespective of their membership in the people of Israel. 100 So Schaller, Jesus (n. 5), 139; Back, Jesus (n. 2), 98; Mayer-Haas, “Geschenk” (n. 3), 166. However, the reference to Mt. Sinai remains conjectural, since other references in the Mekhilta use īĤġ in connection with the Sabbath irrespective of Sinai; thus MekhY Shabbta Ki tissa 1, on Exod 31:15 [343 Horovitz / Rabin]: “To the Name [i.e., God] the Sabbath has been delivered, and it has not been delivered to the beit din.” 101 H. Stegemann, Der lehrende Jesus: Der sogenannte biblische Christus und die geschichtliche Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft, NZSTh 24, 1982, 3–20, esp. 15 f; Kollmann, Wundertäter (n. 29), 251–254; cf. further M. Hengel, Jesus und die Tora, ThBeitr 9, 1978, 152–172; U. Schnelle, Jesus, ein Jude aus Galiläa, BZ NS 32, 1988, 107–113; H. von Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, WMANT 64, Neukirchen 1990, 247 f. 102 I remain also sceptical as to the applicability of the notion of “Messianic Torah” or the prerogatives of a “prophet like Moses” (cf. Deut 18:15, 18) to the “historical Jesus.” Cf. also the criticism in Ebner, Jesus (n. 52), 15 f. 103 Thus, however, Dietzfelbinger, Sinn, 297 (n. 48); Hengel, Jesus und die Tora, 166; cf. Schaller, Jesus (n. 5), 146 f; Kahl, Ist es erlaubt (n. 3), 334 f. Critical: Back, Jesus (n. 2), 159. 104 Parts of the Jewish tradition emphasize, exclusively to Israel among humankind, united with the upper classes of angels, thus Jub 2:17–33; cf. ShirShabb; the rabbinic Qedushah, see L. Doering, The Concept of the Sabbath in the Book of Jubilees, in: M. Albani et al. (ed.), Studies in the

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joy and praise, as suggested by the important passage Isa 58:13 f and subsequent Jewish emphasis on Sabbath joy.105 This would imply that in the context of the inaugurated kingdom Jesus feels obliged to heal on this day of encounter and joy as well. It has been suggested that the eschatological symbolism attached to the Sabbath, as witnessed by a number of Jewish sources,106 comes into play here, too. According to some, the Sabbath is a particularly apt symbol of the inaugurated kingdom.107 However, I would urge some caution here since we do not find any clear reference to such a symbolic understanding of the Sabbath in the Jesus tradition. Particularly, we have no basis for the claim that for Jesus an “eschatological Sabbath” has begun which has blurred the distinction between weekdays and the Seventh Day.108 All Sabbath texts in the gospels maintain the distinction between Sabbath and weekdays. A final remark may be in order. It should be noted that in the materials surveyed here Jesus nowhere gives a precise halakhic ruling. Except for Jesus’ acts of healing we have no hints how precedence of humankind is to be translated into practice. Thus, Jesus, according to the Gospel tradition, can hardly be viewed as a founder of “new halakhah.” He seems to have had a distinctive Sabbath practice, but our sources do not record any systematisation of it in normative form, which would be necessary for something to be considered “halakhah.” Thereby, the Sabbath issue as handled by Jesus remains somewhat “open.” Within early Christianity this “openness,” together with an increasingly Christological interpretation of Jesus’ attitude towards the Sabbath,109 seems to have facilitated the growing abandonment of Sabbath halakhah proper.

Book of Jubilees, TSAJ 65, Tübingen 1997, 179–205. Closeness to God is, however, also suggested in the universalistic notion of the Sabbath offered, e.g., by Philo; cf. H. Weiss, A Day of Gladness: The Sabbath Among Jews and Christians in Antiquity, Columbia 2003, 32–51. 105 See discussion in Doering, Schabbat (n. 2), 105 ff, 254 f, 350, 382 f, 571. 106 The Sabbath is of the holiness of the world to come (MekhY Shabbta Ki tissa 1, on Exod 31:13 [341 Horovitz / Rabin]; the world to come will totally be Sabbath (ibid.; mTam 7:4; bRHSh 31a; MTeh 92:2 [402 Buber]; ARN A 1 [3b Schechter]; PRE 19; TFrag Exod 20:1 [41 Ginsburger]); the Sabbath is of the kind (bBer 57b), is image (BerR 17:5; 44:17 [I 157, 439 Theodor / Albeck]) or the sixtieth part of the world to come (bBer 57b). LibAnt 51:2 (Latin) views the Seventh Day as “sign of the resurrection,” as “repose of the coming age” (signum resurrectionis … futuri seculi requies). For the NT, cf. Heb 4:1–11; T. Friedman, The Sabbath: Anticipation of Redemption, Judaism 16, 1967, 443–452; S. Bacchiocchi, Sabbatical Typologies of Messianic Redemption, JSJ 17, 1986, 153–176; Weiss, Day (n. 104), passim; J. Laansma, “I Will Give You Rest”: The Rest Motif in the New Testament with Special Reference to Mt 11 and Heb 3–4, WUNT II.98, Tübingen 1997, 65 ff, 103–106, 122–129, 353 f. 107 Cf. Dietzfelbinger, Sinn (n. 48), 297; Schaller, Jesus (n. 5), 146 f; Kollmann, Wundertäter (n. 29), 251 f. 108 Thus, however, J. Becker, Jesus (n. 86), 301 f. 109 Cf. Mark 2:25–6, 28; Matt 12:8; Luke 6:5; John 5:17 f; 9:13–17.

Annette Steudel

Die Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser Erwägungen zum antik-jüdischen Hintergrund

Beim Stichwort „Heiligung des Gottesnamens“ denken Christen gewöhnlich an das Vaterunser. Hier, in der ersten Bitte des Gebets wird – sowohl in der Fassung des Vaterunsers bei Matthäus als auch bei Lukas – um die Heiligung des Namens Gottes gebeten. So bekannt und geläufig von daher die Heiligung des Gottesnamens ist, im Neuen Testament kommt sie allein in diesem Zusammenhang vor. Die Rede von einer ausdrücklichen Heiligung Gottes überhaupt ist neutestamentlich auf das Vaterunser beschränkt. Auch wenn in diesem Gebet seit jeher gesprochen wird „Geheiligt werde Dein Name“ und jeder Betende bis heute bestimmte Vorstellungen damit verknüpft, ist es in der Forschung doch umstritten, wie die erste Bitte des Vaterunsers tatsächlich zu verstehen ist. Eine sichere Antwort auf diese Frage wird vermutlich nie zu geben sein. Ein vorsichtiges Herantasten an die ursprüngliche Bedeutung der ersten Bitte des Vaterunsers scheint am ehesten möglich durch eine Betrachtung der jüdischen Tradition, in welcher dieses Gebet entstand. Ohne auch nur annähernd eine Vollständigkeit in der Behandlung dieses Themas anstreben zu wollen, sei im Folgenden auf vier Punkte eingegangen:1 1. der Befund der ersten Bitte im Vaterunser und die Problemstellung, 2. verschiedene Auslegungen der Heiligungsbitte und die Frage, worin die Heiligung Gottes besteht, 3. Heiligung des Gottesnamens im Antiken Judentum, und schließlich 4. die Möglichkeit einer Interpretation der Heiligungsbitte des Vaterunsers im Kontext antik-jüdischer Texte (Ergebnisse). 1

Außerhalb der einschlägigen Evangelien-Kommentare und der Enzyklopädie-Beiträge beschäftigten sich mit der ersten Bitte des Vaterunsers z. B. P. Fiebig, Das Vaterunser, Gütersloh 1927; E. Lohmeyer, Das Vater-Unser, Zürich 1946, 51962; R. E. Brown, „The Pater Noster as an Eschatological Prayer“, in: ders., New Testament Essays, New York 1965, 217–253; J. Jeremias, Das tägliche Gebet im Leben Jesu und in der ältesten Kirche, in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 67–80; J. Carmignac, Recherches sur le „Notre Père“, Paris 1969; H. Schürmann, Das Gebet des Herrn, Leipzig 1958, 41981; G. Strecker, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 1984, 21985, 109–132; O. Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament, Tübingen 1994, 21997; G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen, 1996, 32001, passim; A. Ruck-Schröder, Der Name Gottes und der Name Jesu, Neukirchen 1999, 144–150; M. Philonenko, Das Vaterunser. Vom Gebet Jesu zum Gebet der Jünger, Tübingen 2002 (franz.: Le Notre Père …, Paris 2001).

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1. Zum Befund der Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser und zur daraus resultierenden Problemstellung Das Vaterunser gliedert sich bekanntlich in die ͍͖͂ͥ΃-Anrede, gefolgt von den Du-Bitten (bei Lukas zwei, bei Matthäus drei) und den Wir-Bitten (bei Lukas drei, bei Matthäus vier). Die Du-Bitten beziehen sich auf Gott, die Wir-Bitten auf das menschliche Leben. Die Bitte um Heiligung des Gottesnamens steht bei Matthäus wie bei Lukas am Anfang und lautet ց͔͚͒ͤͱ͏ͥͪ ͥ‫ͦͤ͠ ͍͝͠͞׀ ׬‬. Weder zu Mt 6,9 noch zu Lk 11,2 sind textkritische Varianten verzeichnet. Gleiches gilt für die Didache. Anders als im Fall der meisten anderen Bitten ist die Textüberlieferung der Heiligungsbitte also einheitlich. Die kürzere Vaterunser-Fassung des Lukas, die nur die ersten beiden matthäischen Du-Bitten aufweist, die Heiligungs- und die ReichsBitte,2 macht es wahrscheinlich, dass die erste Bitte gemeinsam mit der zweiten zum Grundbestand des Gebets gehörte. In der matthäischen Fassung ist dann eine dritte Du-Bitte überliefert: „Dein Wille geschehe“. In der Heiligungsbitte bildet das Element „dein Name“ kein besonderes Problem für die Auslegung. Ohne Zweifel ist der Name Gottes gemeint.3 Schwierigkeiten dagegen bereitet die Verbform. ց͔͚͒ͤͱ͏ͥͪ ist aor. imp. 3. sg. pass. von ց͔͚͍͖͚͗͞. Als aramäisches Äquivalent ist dahinter ĬĖĪĭĜ zu vermuten, eine Itpaal-Bildung von ĬĖĪ. Sprachlich ist es an dieser Stelle unerheblich, ob man etwa mit Dalman, Kuhn und Jeremias eine aramäische Urfassung des Vaterunser annimmt4 oder z. B. mit Carmignac und Starcky eine hebräische.5 Zwar ist die Etymologie von ĬĖĪ nicht sicher zu klären und das semantische Spektrum des Verbs in der späteren, v. a. rabbinischen Literatur Veränderungen unterworfen. Doch noch in neutestamentlicher Zeit sind die Grundbedeutungen von ĬĖĪ (hebr. / aram.) ebenso wie von ց͔͚͍͖͚͗͞ (gr.) klar umrissen: Gemeint ist entweder „eine Person oder eine Sache dem kultischen Bereich übergeben“ – was soviel heißt wie „heiligen“ oder „weihen“ – oder auch „eine Person für heilig halten“; in Ausnahme kann es auch die Bedeutung „reinigen“ annehmen.6

2

Bei Mt und Lk im Wortlaut identisch. Den Ersatz des Gottesnamens (Tetragramm), welcher nicht mehr gesprochen wurde, durch „der Name“ bezeugen etwa die Targume, z. B. TNeofiti zu Ex 35,5; ebenso wird das Personalpronomen für Gott ersetzt, z. B. in TNeofiti zu Num 20,12. Vgl. dazu Philonenko, Vaterunser, 45 f. 4 G. Dalman, Die Worte Jesu I, Leipzig 21930, 283–365; K. G. Kuhn, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim, WUNT 1, Tübingen 1950, 32–40; J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie 1. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 190 f. 5 J. Carmignac, Recherches, 52; J. Starcky, La quatrìeme demande du Pater, HTR 64, 1971, 401–409. 6 Später findet ein semantischer Wandel statt; vgl. F. Avemarie, Zeugnis in Öffentlichkeit (in diesem Band). 3

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Annette Steudel

Sowohl die Aoristbildung als auch die passivische Form des Verbs in der Heiligungsbitte haben in der Forschung seit jeher zu Spekulationen darüber geführt, wie ց͔͚͒ͤͱ͏ͥͪ ͥ‫ ͦͤ͠ ͍͝͠͞׀ ׬‬angemessen zu verstehen sei. Auf zwei Fragen laufen die Verständnisprobleme der ersten Bitte im Vaterunser hinaus: Wer soll die Heiligung des Namens vollziehen? Und: Worin besteht die Heiligung des Gottesnamens? Daher:

2. Zu Möglichkeiten der Interpretation der Heiligungsbitte Im Wesentlichen lassen sich drei Verstehensmöglichkeiten unterscheiden: 1. Um ein endzeitliches Einschreiten Gottes für seinen Namen wird gebeten. Vertreter eines solchen Auslegungs-Ansatzes sind etwa Lohmeyer,7 Procksch,8 Gnilka9 und Jeremias10. Dabei versteht man das Passiv des Verbs als Passivum divinum,11 wie es in semitischen Texten oft anzutreffen ist und auch im Fall des Vaterunsers durchaus als eine mögliche Verstehensweise gelten kann. Zu vergleichen wären etwa Mt 5,4: „Sie werden getröstet werden“ für „Er wird sie trösten“ und Mt 5,6: „Sie werden gesättigt werden“ für „Er wird sie sättigen“. Demnach würde Gott um die Heiligung seines Namens gebeten. Bei Lohmeyer tritt das Argument hinzu, die Zeitform des Aorist beschreibe eine einmalige Handlung, bei der es sich nur um Gottes Einschreiten zugunsten seines Namens am Ende der Zeit handeln könne. Die Gewährsstelle für eine solche Interpretation schlechthin ist Ez 36,23: Meinen großen, bei den Völkern entweihten Namen, den ihr mitten unter ihnen entweiht habt, werde ich wieder heiligen (ց͔͚͍ͤͪ / ĜĭĬĖĪĜĘ) …

Der Satz steht vor einer großen Heilsansage an Israel,12 die sich im Grunde durchzieht bis Ez 37,28, wo es heißt: „… dann werden die Völker erkennen, dass ich der Herr bin, der Israel heiligt …“ Die Heiligung des Namens Gottes und die Heiligung, die Israel durch Gott zuteil werden wird, gehen Hand in Hand. Sie bestehen in der Errettung Israels aus den Völkern und seiner Sammlung im Land. Die Gabe eines neuen Herzens und des Geistes Gottes, die Reinigung von Sünden, die Fruchtbarkeit des Landes und der 7

Lohmeyer, Vater-Unser, 53. O. Procksch, Art. օ͔͚ͣ͠ im Neuen Testament, THWNT I, 1933, 101–116: 113. 9 J. Gnilka, Das Matthäusevangelium I, HThK 1.1, Freiburg 1986, 218. 10 J. Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, in : ders., Abba, 152–171. 11 „Königliches Passiv“ (Passivum regium) nennt dies C. Macholz, „Das ‚Passivum divinum‘, seine Anfänge im Alten Testament und der ‚Hofstil‘ “, ZNW 81, 1990, 247–253. 12 Ruck-Schröder, Name, 149, spricht sich gegen eine ausschließlich eschatologische Interpretation der ersten Bitte aus. Der Grund liege in der bei Matthäus fehlenden Gerichtsankündigung. Die Stellung von Ez 36,23 zwischen Gerichts- und Heilsansage entkräftet diesen Einwand. 8

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Menschen sind in Ez 36 damit verbunden, in Ez 37 kommen weitere Aspekte, die Belebung der ausgetrockneten Gebeine und die Vereinigung von Israel und Juda in einem Reich, hinzu. Am Ende von Ez 38, einer Gerichtsaussage gegen Gog, wird erneut von Gottes Heiligung gesprochen (Ez 38,23): So werde ich mich als groß und heilig erweisen und mich vor den Augen vieler Völker zu erkennen geben. Dann werden sie erkennen, dass ich der Herr bin.

„Dann werden sie erkennen, dass ich der Herr bin“, dieses häufig bei Ezechiel wiederkehrende Fazit gibt deutlich den Grund an, warum Gott seinen Namen zukünftig heiligen wird: Unter den Völkern soll Gottes Macht erkannt werden. Dass dieses „Herr-Sein Gottes“ bei den Völkern in Frage gestellt sein könnte, ergibt sich aus dem Exil Israels. Durch das Verstreut-Sein unter die Völker entweiht Israel den heiligen Namen Gottes. Ez 36,20 f beschreibt die Ursache für Gottes Beschluss, seinen Namen zu heiligen, so: Als sie (sc. die Israeliten) zu den Völkern kamen, entweihten sie überall, wohin sie kamen, meinen heiligen Namen, denn man sagte von ihnen: ‚Das ist das Volk Jahwes, und doch mussten sie sein Land verlassen.‘ Da tat mir mein heiliger Name leid, den das Haus Israel bei den Völkern entweihte, wohin es auch kam.

Dass Gottes Name an sich heilig ist, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Das „Entweihen“ des Namens (hebr. ğğĚ) ist das negative Pendant zur „Heiligung“. Nicht nur hier in Ez, sondern an vielen Stellen im AT, auch vereinzelt in Qumran, ist davon die Rede. Entweiht wird Gottes heiliger Name nach alttestamentlicher Vorstellung auch z. B. durch Kinderopfer (Lev 20,3), wenn Vater und Sohn zu demselben Mädchen gehen (Am 2,7) und durch Wieder-Versklavung freigelassener Sklaven (Jer 34,16). In rabbinischer Zeit ist die Entweihung des Namens eine Sünde, die als noch gravierender als der Götzendienst betrachtet wird. Vor diesem Hintergrund kann man ց͔͚͒ͤͱ͏ͥͪ als Passivum divinum und Gott selbst – wie in Ez – in der ersten Vaterunser-Bitte als den endzeitlich Handelnden verstehen.13 2. In der ersten Bitte des Vaterunsers wird von Gott erbeten, dass Menschen den Namen Gottes heiligen mögen. Die Wurzeln dieser paränetischen Interpretation reichen bis in die Alte Kirche, und bis zum Aufkommen der eschatologischen Deutung des Vaterunsers war sie vorherrschend.14 Die Passivform des Verbs lässt sich selbstverständlich so verstehen, dass Men13 Die engste neutestamentliche Parallele – hier ist Gott das Subjekt des Handelns – stellt Joh 12,28 dar (die handschriftliche Überlieferung liest allerdings nicht einheitlich). Vgl. dazu z. B. Carmignac, Recherches, 84. 14 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus I, EKK 1.1, Zürich u. Neukirchen 52002, 445, der als beispielhafte Vertreter dieser Auffassung Johannes Chrystostomus und Martin Luther zitiert und für einen auslegungsgeschichtlichen Überblick verweist auf A. Tholuck, Ausführliche Auslegung der Bergpredigt Christi nach Matthäus, Hamburg 31845, 346 f.

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schen das Subjekt des Heiligens sind, und das Aorist-Argument, das für ein einmaliges Handeln Gottes zu sprechen scheint, wird durch die Beobachtung entkräftet, dass Bildungen im Aorist zum Gebetsstil gehören.15 Auch diese Deutung der ersten Bitte kann sich auf das AT stützen. Die engste Parallele, welche dafür herangezogen wird, ist Jes 29, 23. Der nicht ganz unproblematische Text von 29,23 ließe sich wörtlich etwa folgendermaßen übersetzen: Denn wenn es sieht, seine Kinder, das Werk meiner Hände in seiner Mitte, werden sie meinen Namen heiligen (ĘĬĜĖĪĜ), und sie werden heiligen (ĘĬĜĖĪėĘ) den Heiligen Jakobs und sich fürchten vor Israels Gott.

Das ĘĜĖğĜ („seine Kinder“) ist ein Zusatz, der offenbar das Subjekt näher bestimmen soll. Etwas freier, aber den Sinn vermutlich treffend, müsste wohl übersetzt werden: „Denn wenn das Volk sieht, was meine Hände vollbringen in seiner Mitte, wird es meinen Namen heilig halten. Es wird den Heiligen Jakobs heilig halten und erschrecken vor Israels Gott.“16 Der Vers selbst ist zusammen mit V. 22 und 24 aufgrund seiner Verschiedenheit zu V. 17–21 als ein Zusatz zu verstehen.17 Die hinzugesetzten Verse ergänzen – nun in deutlicher Beziehung des Heils auf die Größe Israel („Haus Jakob“) – das vorausgehende Wort in V. 17–21, in welchem für die nahe Zukunft Heil verkündet wird: Die Tauben werden hören, die Blinden werden sehen, die Erniedrigten sich freuen, die Armen jubeln usw. 3. Die heute in der Forschung wohl am häufigsten vertretene Interpretation lautet: In der ersten Bitte des Vaterunsers dürfte an eine Heiligung des Namens sowohl durch Gott als auch durch die Menschen gedacht sein. Beides sei, wie gezeigt, vom AT her bekannt. Das eine müsse das andere nicht ausschließen. Im Gegenteil: Ein Heiligungshandeln Gottes verlange nach der entsprechenden Antwort der Menschen. Solch eine Kombination der oben beschriebenen Ansätze befürworten etwa Carmignac, Philonenko und Luz, freilich mit unterschiedlicher Gewichtung. Für Carmignac18 und Philonenko19 ist Gott das eigentliche Subjekt des Heiligens, doch Engel und Menschen partizipieren daran; Luz tendiert eher zu einer umgekehrten Gewichtung20. Die bedeutsame Rolle, welche traditionell die Engel bei der 15

Vgl. BDR § 337. Aus metrischen Gründen zieht H. Wildberger, Jesaja 28–39, BKAT 10.3, Neukirchen 1982, 1133.1135, – anders als die Masoreten – ĘĔīĪĔ zum folgenden ĘĬĜĖĪĜ statt zum vorausgehenden Versteil. So würde betont, dass die Heiligung des Gottesnamens inmitten des Volkes geschieht. 17 Vgl. z. B. Wildberger, Jesaja, 1135 f. 18 Carmignac, Recherches, 84 f. 19 Philonenko, Vaterunser, 45–50. Siehe dort auch zum Folgenden. 20 Luz, Matthäus, 446 f: „Fazit: All das spricht für eine offene Deutung. Die Bitte ist so allgemein und knapp formuliert, daß sie sowohl an ein Handeln des Menschen als auch an ein Handeln Gottes zu denken erlaubt. Die Mehrzahl der Parallelen deutet allerdings in erstere Richtung, 16

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Heiligung des Gottesnamens spielen, wird besonders bei Philonenko betont, nämlich durch Verweise auf das Trishagion Jes 6,2 f, dessen Verwendung in Apk 4,8 und auf 1Hen 61,1. An dieser Stelle in den Bilderreden heißt es: … jeder Geist des Lichts, der deinen gepriesenen Namen preisen, verherrlichen, erhöhen und heiligen kann, und alles Fleisch, das deinen Namen von Ewigkeit zu Ewigkeit gewaltig verherrlichen und preisen wird.

In Entlehnung der Ausdrücke aus Num 16,22 bezieht sich „jeder Geist“ auf die Engel und „alles Fleisch“ auf die Menschen. Worin aber besteht bei diesen Deutungen die Heiligung des Gottesnamens? Ist Gott das Subjekt des Heiligens, wie in Ez, ist klar: Gott erweist seinen Namen als heilig, indem er seine Funktion als Herrscher voll wahrnimmt durch Gerichtsvollzug bzw. Gnadenerweise an seinem Volk. Gottes „Sich-als-heilig-Erweisen“ und sein Königsein fallen hier nahezu in eins. Als Heiligung des Gottesnamens durch die Menschen sieht man im Wesentlichen den rechten Gebrauch dieses Namens und den Gehorsam gegenüber Gottes Willen an.21 Der doxologische Aspekt der Namensheiligung ist keinesfalls zu verkennen, er gipfelt im Ausrufen des Trishagion (Jes 6,3); man vergleiche im NT etwa Apk 4,8. Zwar sind es hier jeweils Engel, die Gott heiligen, doch dürfte das Preisen der Heiligkeit Gottes durch Menschen, wie wir es in den Psalmen finden, dem irdischerseits entsprechen.22 Eine weitere Weise, in der der Gottesname geheiligt werden konnte, finden manche Forscher bei Matthäus: Für ihn habe auch die konsequente Vermeidung des Gottesnamens zu dessen Heiligung gehört.23 Verwiesen wird auf Mt 23,9, wo es heißt: „Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen, denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel.“ Insbesondere beruft man sich auf das Fehlen der direkten Anrede Jesu mit seinem Namen.24 Der Grund für diesen Befund wird im theophoren Element gesehen,

so daß ein ethisches Moment auf keinen Fall ausgeschlossen werden darf. (…) Nur für eine exklusiv eschatologische Deutung der Bitte gibt es keine Argumente.“ Ähnlich ders., Art. Vaterunser I, TRE 34, 2002, 504–512: 508. 21 Vgl. z. B. Luz, Matthäus, 444 ff; Strecker, Bergpredigt, 116 f. Vgl. ferner Luz, Vaterunser, 508: „Eine verkappte Selbstaufforderung (‚laßt uns den Namen Gottes heiligen‘) ist die Bitte dennoch nicht; sie bleibt eine Bitte: menschliche Erkenntnis, menschliches Handeln und menschliche Erfahrung wird von Gott ermöglicht, ermutigt und getragen“. 22 Das Verb „heiligen“ kommt nirgends in den Psalmen vor. 23 Vgl. M. Kiley, The Lord’s Prayer and Matthean Theology, in: J. Charlesworth u. a. (Hg.), The Lord’s Prayer and Other Prayer Texts from the Greco-Roman Era, Valley Forge 1994, 15–27: 16, und – mit Bezug auf Jesus und allgemein-jüdische Praxis – L. Brun, Der Name und die Königsherrschaft im Vaterunser, in: FS A. Harnack, Leipzig 1921, 22–31: 29, sowie Ruck-Schröder, Name, 149 f. 24 Kiley, Prayer, 16.24, verweist auf das Fortlassen des Namens Jesu durch Mt in zwei von Mk übernommenen Heilungs-Perikopen, vgl. Mt 8,29 par. Mk 5,7 und Mt 20,30 par. Mk 10,47.

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welches im Namen Jesus steckt. Bei einer streng verstandenen Heiligung Gottes müsse daher auch der Name Jesus vermieden werden. Damit ergibt sich eine Überleitung zum nächsten Abschnitt:

3. Zur Heiligung des Gottesnamens im Antiken Judentum 3.1. Qumran Aus der Perspektive der Forschung zum Antiken Judentum, insbesondere zu den Qumran-Texten, ergibt sich bei der Frage, was unter Heiligung des Gottesnamens zu verstehen sei, zunächst eine ähnliche Assoziation. Es zeigt sich nämlich eine besondere Art der Heiligung im Umgang mit dem Gottesnamen in den Manuskripten vom Toten Meer. Allerdings, und das sei hier vorausgeschickt, scheint dieses Verfahren in den überlieferten Texten nirgendwo reflektiert und explizit als „Heiligung des Gottesnamens“ bezeichnet worden zu sein. In den Handschriften vom Toten Meer lassen sich besonders zwei Phänomene eindrücklich beobachten. 1. In bestimmten Werken aus Qumran wird es vermieden, den Gottesnamen schlechthin, das Tetragramm, zu gebrauchen. Was das Corpus der Funde vom Toten Meer angeht, so wird deutlich, dass der Gottesname ab dem 2. Jh. v. Chr. nur noch in Schrift-Zitaten Verwendung findet. Bei frei formuliertem Text werden andere Gottesnamen, v. a. El oder Adonai gewählt. Wann eine solche Vermeidung der freien Verwendung des Gottesnamens tatsächlich einsetzte, ist historisch nicht ganz sicher. Nach rabbinischer Überlieferung hörten unter Simon dem Gerechten die Priester auf, das Tetragramm beim Segen wortlautgetreu auszusprechen.25 Mit Simon dem Gerechten könnte der Hohepriester Simon gemeint sein, der zu Beginn des 2. Jh. am Jerusalemer Tempel amtierte. Die Aussprache des Gottesnamens war seither, so die rabbinischen Quellen, allein dem Hohepriester am Versöhnungstag vorbehalten. Hartmut Stegemann hat aufgrund dieser Befunde und Beobachtungen anhand der Handschriften aus Qumran postuliert, dass mit Beginn des 2. vorchristlichen Jh. die Verwendung des Tetragramms in frei formulierten Texten aufgegeben worden sei.26 Das Vorkommen des Tetragramms im Danielbuch wird von Stegemann als archai25 tSota 13,8, bJoma 39b und bMen 109b. Vgl. hierzu und zum Folgenden H. Stegemann, Die Gottesbezeichnungen in den Qumrantexten, in: M. Delcor (Hg.), Qumrân. Sa piété, sa théologie et son milieu, Paris u. Leuven 1978, 195–217. 26 H. Stegemann, ̼̻͆̓́̈́ ́ ̷̺́̈́ und ̼̻͆̓́̈́ ̻̹̈́́͆̈́, Habilitationsschrift Bonn 1969, 173–183, und ders., Gottesbezeichnungen.

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sierender Sprachgebrauch erklärt: Wenn Daniel am Hof Nebukadnezars weilt, müsse auch die Sprache dieser Zeit angepasst, also auch das Tetragramm verwendet werden.27 Doch Daniel stellt, wie jüngere QumrantextEditionen zeigen, nicht das einzige Problem dar. Ein weiteres Hindernis für eine solche sehr frühe Datierung für das Aufhören des Gebrauchs des Gottesnamens stellt das Jubiläenbuch dar. Die hebräischen Handschriften dieses Buchs aus Höhle 4 von Qumran, deren älteste (4QJuba) paläographisch um 125–100 v. Chr., möglicherweise aber auch in die Mitte des 2. Jh. v. Chr. zu datieren ist, zeigen, dass der Verfasser noch das Tetragramm verwenden konnte.28 In der gegenwärtigen Forschung wird in der Regel eine Entstehung des Jubiläenbuchs zwischen 175–100 v. Chr. angenommen, am wahrscheinlichsten m. E. 175–172 v. Chr. (Hellenisierungsbestrebungen unter dem Hohepriester Jason) oder kurz danach, jedenfalls vor 165 v. Chr. (Schändung des Jerusalemer Tempels durch Antiochus IV. Epiphanes wird nicht reflektiert).29 Für Stegemann stellten die Tetragramm-Befunde des Jubiläenbuchs kein Problem dar, da er eine Entstehung des Werk spätestens im 3. Jh. v. Chr. annahm.30 Leichter lässt sich das Ende des TetragrammGebrauchs ungefähr in die Mitte des 2. Jh. v. Chr. datieren. Dies entspräche in etwa dem Zeitpunkt, zu dem auch die Gemeinschaft, der wir die Qumran-Texte verdanken, vermutlich die Essener, eigenständig zu schreiben beginnt.31 Émile Puech, der diesen zeitlichen Ansatz vertritt, fand den Anlass für das Aufkommen der Vermeidung des Gottesnamens in der Wiedereinweihung des Jerusalemer Tempels.32 Die Texte, die aufgrund verschie27

Vgl. den Tetragramm-Gebrauch in Dan 9,2 ff.8.10.13 f.20. 4QJuba 1,3 (Jub-Prolog), 1,5 (Jub 1,1), wahrscheinlich 1,7 (Jub 1,1 f), möglicherweise 4QJubd 2,21 (Jub 21,20) und 4QJubg Frgm. 1 Z. 5 (Jub 25,12) nach der Edition durch J. C. VanderKam in: H. Attridge u. a. (Hg.), Qumran Cave 4. VIII. Parabiblical Texts, Part 1, DJD 13, Oxford 1994, 1–140 mit Tafeln I–IX. Zur paläographischen Datierung von 4QJuba vgl. a. a. O., 2. 29 Vgl. zur Datierung und ihren Schwierigkeiten jüngst B. Schaller, Zur Methodologie der Datierung und Lokalisierung pseud- und anonymer Schriften, in: H. Lichtenberger / G. S. Oegema (Hrsg.), Jüdische Schriften in ihrem antik-jüdischen und urchristlichen Kontext, SJSHRZ 1, Gütersloh 2002, 59–74: 61 ff. Schaller favorisiert eine Datierung zwischen 175–72 und 165 v. Chr. 30 Vgl. ders., Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 11993 ff, 131; ähnlich bereits M. J. Krüger, Die Chronologie im Buch der Jubiläen, auf ihre biblische Grundlage zurückgeführt und berichtigt, ZDMG 12, 1858, 279–299, und S. Zeitlin, The Book of Jubilees. Its Character and Significance, JQR NS 30, 1939–40, 1–31; vgl. dazu Schaller, Methodologie, 62. 31 Für eine Identifizierung der Gemeinschaft mit den Essenern sprechen auch heute noch einige gute Gründe. Vertreten wird diese Hypothese etwa von Stegemann, Essener, 194–290, und J. C. VanderKam, Einführung in die Qumranforschung, Göttingen 1998, 92–119 (engl.: The Dead Sea Scrolls Today, Grand Rapids 1994). Hinsichtlich einer Identifizierung sind vorsichtig z. B. J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer III, München 1996, 21, und G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991. 32 Vgl. ders., Les deux derniers Psaumes Davidiques du rituel d’exorcisme, 11QPsApa IV 4 – V 14, in: D. Dimant / U. Rappaport (Hg.), The Dead Sea Scrolls. Forty Years of Research, STDJ 10, Leiden 1992, 64–89: 80. 28

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dener Kriterien mit hoher Wahrscheinlichkeit als echte Qumrantexte bezeichnet werden, wie etwa die Hodajot, die Pescharim, die Gemeinderegel und die Damaskusschrift, verwenden das Tetragramm außerhalb von Schriftzitaten nicht. Von dieser Beobachtung her wird das Auftreten des Tetragramms als ein exkludierendes Kriterium für die „essenische Verfasserschaft“ von Qumrantexten angeführt.33 D. h., in Qumran gefundene Texte, die das Tetragramm außerhalb von Schriftzitaten verwenden, wurden nicht von der Gemeinschaft (der Essener), vom Ja½ad, verfasst. Hin und wieder setzte man sich allerdings darüber hinweg. Besonders eindrücklich ist der Fall der in Qumran gefundenen Tempelrolle. Die heute am weitesten verbreitete Datierung der Tempelrolle führt ins 2. Jh. v. Chr.34 In ihr tritt nicht nur das Tetragramm als übliche Gottesbezeichnung auf, sondern es kommt sogar Gott selbst in der 1. Person zu Wort, und dies entgegen dem „Bibeltext“, der an diesen Stellen die 3. Person aufweist. Wäre das – trotz Archaisierung – noch in einem Umfeld möglich, welches die allgemeine Verwendung des Tetragramms nicht mehr pflegt? Auch andere Werke, die wie die Tempelrolle in eine Grauzone zwischen „biblischen“ und „nicht-biblischen“ Werken gehören, z. B. der Reworked Pentateuch (4Q364–367) und 4Q158, verwenden das Tetragramm. Ist dies Stilmittel, oder müssen diese Texte in eine Zeit vor ca. 150 datiert werden? Verstehen sie sich als „biblisch“? Man beginnt sich hier leicht im Kreis zu drehen und die Argumente so zu wählen, wie sie der eigenen Deutung am besten stehen. Irgendwann im 2. Jh. v. Chr. dürfte aber die Vermeidung des Tetragramms zumindest für bestimmte Gruppen im Judentum zur Regel geworden sein.35 2. Während man zwar das Tetragramm nicht mehr frei verwendete, kopierte man es dennoch weiterhin. D. h., in den Texten, in denen ursprünglich das Tetragramm gestanden hatte, behielt man es beim Kopieren einer Handschrift offenbar bei und ersetzte es nicht etwa. Dies wird besonders an den „Bibelhandschriften“ deutlich. Es treten dann hin und wieder, sowohl in „Bibelhandschriften“ als auch in Zitaten, von Stegemann so genannte Reverential-Schreibungen des Tetragramms auf.36 So kann der Gottesname etwa in althebräischen Buchstaben wiedergegeben werden, gelegentlich 33

Vgl. A. Lange, Kriterien essenischer Texte, in: J. Frey / H. Stegemann, Qumran kontrovers. Beiträge zu den Textfunden vom Toten Meer, Einblicke 6, Paderborn 2003, 59–69: 63; C. Hempel, Kriterien zur Bestimmung „essenischer Verfasserschaft“ von Qumrantexten, ebd., 71–85: 78. 34 Eine Entstehung in der ersten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. nimmt Stegemann, Essener, 137, an. 35 Die Vermeidung des Tetragramms ist dabei nicht auf „essenische“ Texte beschränkt, vgl. Hempel, Kriterien, 78. 36 Vgl. Stegemann, ̼̻͆̓́̈́, und ders., Gottesbezeichnungen; vgl. P. W. Skehan, The Divine Name at Qumran, in the Masada Scroll, and in the Septuagint, BIOSCS 13, 1980, 16–44, und bes., da auf einer erweiterten Textgrundlage basierend, E. Tov, Scribal Practices and Approaches Reflected in the Texts Found in the Judaean Desert, STDJ 54, Leiden 2004, 238–246.

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auch in Form von vier Punkten, manchmal paarweise angeordnet. An einer Reverential-Schreibung des Tetragramms partizipiert sekundär auch das Wort ğē. Ein System lässt sich hinter solchen Reverential-Schreibungen nicht erkennen. Sie ziehen sich durch mindestens drei Jahrhunderte und scheinen eher eine Eigenart des jeweiligen Schreibers denn ein theologisches Konzept gewesen zu sein.

Althebräisches Tetragramm in 11QPsa

Althebräisches EL in 4Q183

Vier paarweise angeordnete Punkte als Ersatz des Tetragramms in 4Q176

Zwar ist hinsichtlich der Frage einer Vermeidung oder Hervorhebung des Gottesnamens sicher noch nicht das letzte Wort gefallen. Dennoch wird die Tendenz, diesen auszusondern, bereits lange in vorchristlicher Zeit deutlich sichtbar. Dass eine solche Vermeidung oder Hervorhebung des Gottesnamens, die faktisch eine Aussonderung, also Heiligung darstellt, auch als solche in uns erhaltenen antik-jüdischen Quellen bezeichnet worden wäre, ist mir nicht bekannt.37 Anhand von 1QS 6,27–7,1 wird allerdings deutlich, dass ein Aussprechen des Namens Gottes den Mitgliedern der Gemeinschaft, des Ja½ad, nicht erlaubt war. Eine Übertretung dieser Regel hatte den Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge (1QS 7,2).38 Wie nicht anders zu erwarten, ist in Qumran ebenso wie im AT häufig von einem Preisen und Loben Gottes und seines Namens die Rede. Von einer Heiligung des Gottesnamens ist dagegen im erhaltenen Bestand der Qumrantexte wenig zu lesen. Die Stellen, an denen explizit von einer solchen gesprochen wird, werden im Folgenden dargestellt. a) Relativ sicher kommt die Heiligung des Gottesnamens vor in Aufnahme eines Zitates von Jes 29,23 im – wahrscheinlich ältesten – Pescher („Kommentar“), nämlich einem Pescher zu Jesaja, 4Q163.39 Eine Kombination der Fragmente 18 und 19 lässt in Z. 6 die bruchstückhafte Lesung von 37 Gleiches gilt für das Gegenteil; auch vom Entweihen des Gottesnamens, etwa durch die freie Verwendung des Gottesnamens, wird explizit nicht gesprochen. Entweiht wird der Gottesname nach CD 15,2 f etwa durch das Übertreten nach einem Schwur. 38 Vgl. L. H. Schiffman, Sectarian Law in the Dead Sea Scrolls, BJS 33, Chico 1983, 133– 136. 39 Zum Text vgl. M. Horgan, Pesharim, CBQ.MS 8, Washington 1979, 100 f (Übersetzung) u., im separaten Textteil des Buches, 27 (hebr.).

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ĜġĬ ĘĬĜĖĪĜ zu. Bei der auf diesen Fragmenten überlieferten Textpassage

handelt es sich um ein Zitat von Jes 29,18–23. Die Interpretation der Schriftstelle ist leider verloren. So lässt sich im Hinblick auf die Heiligungsbitte des Vaterunsers kein Nutzen aus diesem Beleg ziehen. b) Im Midrasch zur Eschatologie, 4Q177 11,15, ist folgender Text überliefert:

[… und die,] die Gott fürchten, werden seinen Namen heiligen (ĘġĬ ĘĬĜĖĪĜ), und sie werden zum Zion kommen mit Freude und nach Jerusalem […]40

In einer leider nur fragmentarisch erhaltenen Beschreibung der anbrechenden Heilszeit wird hier Jes 29,23 mit 35,10; 51,11 kombiniert. Subjekt der als zukünftig verstandenen Heiligung des Gottesnamens sind eindeutig Menschen, nämlich die ğē ĜēīĜ, „die, die Gott fürchten“. Nicht zuletzt aus Z. 16, welche in gleichem Kontext die „Söhne des Lichts“ erwähnt, lässt sich schließen, dass mit denen, die Gott fürchten, die Gemeinschaft selbst gemeint ist. Deren Mitglieder also werden gemäß diesem Midrasch diejenigen sein, die Gottes Namen heiligen werden. Und zwar, dies lässt der bruchstückhafte Text Z. 14 ff vermuten, werden sie diese Heiligung angesichts von Gottes Heilstat(en) vollziehen, nämlich dem vernichtenden Einschreiten gegen Belial, den Feind der Gemeinschaft schlechthin. c) Lediglich eine weitere Handschrift aus Qumran spricht vermutlich von einer Heiligung des Gottesnamens. In einem von Eileen Schuller 1999 veröffentlichten Hodajot-Hymnus aus Höhle 4 von Qumran wird folgender Text von ihr vorgeschlagen (4Q427 Frgm. 7 i 16 f): … ĠĜĩĪ ğĘ[ĞĔ] ėġĞğĘĪ ĖĔğ ĘġĜīė Ěĩģ ĢĘĬğĘ ęĘĥ ĜĭħĬĔ ĘġĬ ĘĬ[ĜĖĪė]

„[Sanc]tify his name with strong lips and mighty tongue, raise up your voice [at a]ll times …“41

Diese Phrase aus 4Q427 Frgm. 7 i 16 f reiht sich ein in eine Folge von Imperativen, in denen die Gemeinschaft der Beter aufgefordert wird, gemeinsam mit den Engeln Gott zu loben und zu preisen.42 Der Hymnus, welcher sich bruchstückhaft auch in Kol. 25 f der großen Hodajot-Rolle aus Höhle 1Q sowie in 4Q471b/4QHe Frgm. 1 findet,43 ist deshalb von einzigartiger Bedeutung, weil kurz vor dem Beginn der zitierten Passage die Gemeinschaft der Beter, von der ansonsten allerlei Niedrigkeitsaussagen ihr Verhältnis zu Gott beschreiben, in „ich“-Form von ihrer unvergleichlichen 40

Zitiert nach A. Steudel, Die Texte aus Qumran II, Darmstadt 2001, 210 f. E. Schuller, 4Q427, in: E. Chazon u. a. (Hg.), Qumran Cave 4. XX. Poetical and Liturgical Texts, Part 2, DJD 29, Oxford 1999, 77–123, bes. 96.99, vgl. Tafel V. 42 Näheres vgl. Schuller, 4Q427, 100 ff. 43 Kolumnen-Zählung nach H. Stegemann, Die Rekonstruktion der Hodajot, Diss. Heidelberg 1963. 41

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Erhabenheit / Erhobenheit als Genossen der Engel zu erzählen weiß.44 Was den Ausdruck „Heiligt seinen Namen“ angeht, den einzigen Beleg in Qumran außerhalb von Schriftzitaten für die Namensheiligung, so ist Vorsicht geboten. „Sein Name“ (ĘġĬ) ist zwar komplett erhalten, doch vom Verb „Heiligt“ (ĘĬĜĖĪė) sind gerade zwei winzige Schriftreste vom Wortende erhalten, von denen man das Suffix „sein“ (Ę) mit sehr viel gutem Willen als sicher bezeichnen kann (so die Edition). Von Ĭ in ĘĬĜĖĪė ist nur noch ein winziger Tintenrest erhalten. Aufgrund seiner Nähe zum folgenden Ę und der Tatsache, dass dieser Schriftrest von einem senkrechten Strich kommen muss, bietet sich Ĭ als Lesung an.45 Die Kombination mit dem folgenden ĘġĬ macht eine Ergänzung des Wortes zu ĘĬĜĖĪė wahrscheinlich, sicher ist sie leider nicht. Für einen Vergleich mit dem Vaterunser ist im Übrigen nicht uninteressant, dass innerhalb dieses Hodajot-Hymnus Gott mehrfach als König bezeichnet wird, einmal unmittelbar dem „Heiligt seinen Namen“ vorausgehend am Ende von Z. 14. Träfe die von E. Schuller vorgeschlagene Lesung ĘĬ[ĜĖĪė] zu, so läge in der Passage 4Q427 Frg. 7 i 6–17 ein weiterer Beleg für die etwa von Carmignac und Philonenko stark gemachte Einheit des Heiligens durch Menschen und Engel vor.46

3.2. Qaddish Bei der Suche nach antik-jüdischen Parallelen zur ersten Bitte des Vaterunsers erweist sich – trotz gesehener Unterschiede – doch der erste Teil des jüdischen Qaddish Gebets als nächster Verwandter. Fiebig, Jeremias und Elbogen beispielsweise sowie jüngst auch wieder Philonenko haben mit Nachdruck auf diese Parallele hingewiesen.47 Zum ersten und ältesten Teil des Qaddish Gebets zählen die Eulogie und die damit zusammenhängenden Bitten um die Heiligung des Namens und das Kommen der ĭĘĞğġ, der Königsherrschaft. Übersetzt lauten die beiden ersten Strophen des Qaddish etwa wie folgt:48 Groß gemacht werde und geheiligt werde (ĬĖĪĭĜĘ) sein großer Name in der Welt, die er geschaffen hat nach seinem Willen. 44

Eine andere Version des Hymnus in 4Q427 Frgm. 7 i 6–17 findet sich in einer KriegsregelHandschrift aus Qumran, 4Q491 Frgm. 11 i 8–24. 45 Paläographisch wäre aber bes. auch ę nicht ausgeschlossen. 46 Explizit genannt werden die Engel z. B. in Z. 8 und 11 (ĠĜğē). 47 Fiebig, Vaterunser, 34 ff; Jeremias, Vater-Unser; 164, I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt a. M. 31931 (Nachdr. Darmstadt 21995), 93; Philonenko, Vaterunser, 27. 48 Übersetzung mit Philonenko, Vaterunser, 25; Hebr. von Verf. hinzugefügt.

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Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel in Eile und in naher Zeit. Und sprechet: Amen. Es sei sein großer Name gepriesen für die Ewigkeit und für die Ewigkeiten der Ewigkeiten.

Über den Entstehungshintergrund dieses Gebets ist nicht viel bekannt, und so übt etwa Lehnardt in seiner Untersuchung des Qaddish diesbezüglich äußerste Zurückhaltung.49 Wie alt der Grundbestand des Qaddish ist, in dem die Bitte um die Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser ihre Parallele hat, ist nicht mehr mit Sicherheit festzustellen.50 Vier Gründe werden insbesondere in der älteren Forschung für ein hohes Alter des Qaddish-Kerns ins Feld geführt: 1. das Fehlen von Hinweisen auf die Zerstörung des Zweiten Tempels, 2. die sehr einfache Form der Eschatologie, 3. der schlichte Ausdruck und 4. die Übereinstimmungen mit dem Vaterunser.51 So wird für die Entstehung des ältesten Teils des Qaddish in jedem Fall die tannaitische Zeit angenommen. Häufig wird dieser ursprüngliche Kern noch in die Zeit vor der Tempelzerstörung datiert. Im Laufe seines Jahrhunderte währenden Gebrauchs hat das Qaddish zahlreiche Erweiterungen und Umdeutungen erfahren.52 Und so existieren in der Überlieferung des Gebets bis heute mannigfaltige Varianten. Interessanterweise wird aber der erste Teil des Qaddish, der Kern des Gebets, der die Parallele zu den Du-Bitten des Vaterunsers aufweist, auffällig gleich bleibend überliefert. Sein Text kann also wohl als zuverlässig gelten.53 Unverkennbar ist, dass sowohl im Qaddish als auch im Vaterunser die Bitte um Heiligung des Namens Gottes zusammen mit der Bitte um das Kommen der ĭĘĞğġ, der Königsherrschaft / des Reiches, überliefert ist,54 49 A. Lehnardt, Qaddish. Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebetes, TSAJ 87, Tübingen 2002. Lehnardt streift das Verhältnis von Qaddish und Vaterunser nur am Rand, vgl. S. 4.6 f.11.14 u. 298. 50 „Redlicherweise muß man aber aufgrund des bekannten Materials festhalten, daß sich über eine vermeintliche ‚proto-rabbinische‘ Geschichte des Qaddish ebensowenig etwas Definitives ausmachen läßt wie über Vorläufer anderer vergleichbarer jüdischer Gebete, die außerhalb rabbinischer Schriften überliefert werden“ (Lehnardt, Qaddish, 298). 51 Vgl. zum Folgenden Elbogen, Gottesdienst, 92–98. 52 Vgl. auch Lehnardt, Qaddish, 298: „… ist festzuhalten, daß sich das Qaddish nur als ein Text verstehen läßt, der sukzessiv, in einem Prozeß von Erweiterung, Umdeutung und Neuverwendung entstanden ist“. 53 Zu den Textvarianten vgl. D. de Sola Pool, The Old Jewish-Aramaic Prayer. The Kaddish, Leipzig 1909. 54 Auch andere jüdische Gebete, wie z. B. das Alenu, kennen diese Doppelheit; vgl. dazu z. B. Luz, Matthäus, 444 Anm. 70.

Die Heiligung des Gottesnamens im Vaterunser

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und zwar jeweils in der Reihenfolge Heiligung des Namens, dann Kommen der Königsherrschaft / des Reichs und in beiden Fällen zu Beginn des Gebets. Das Vaterunser bietet dabei eine kürzere, prägnantere Form. Die Parallelen zu Ez 36 und besonders zu Ez 38,23 am Beginn des Qaddish sind so deutlich, dass man nicht daran vorbei kommt, als Subjekt des Heiligens wie in Ezechiel Gott anzunehmen: Ez 38,23 liest ĜĭĬĖĪĭėĘ ĜĭğĖĕĭėĘ, das Qaddish liest ĬĖĪĭĜĘ ğĖĕĭĜ. Nirgendwo sonst im AT findet sich eine vergleichbare Wort-Kombination.55 Zu vergleichen ist 1QM 11,15:56 Hier in der Kriegsregel ist innerhalb einer hymnischen Aussage über Gott ebenfalls Ez 38,23 aufgenommen: ĠĜĘĕė īēĬ ĜģĜĥğ ĬĖĪĭėğĘ ğĖĕĭėğĘ

und um dich groß und heilig zu erweisen vor den Augen der übrigen Völker

Der erste Teil des Qaddish scheint wegen der Ezechiel-Parallelen, die jeder Beter sicher assoziiert haben wird, Gott als Subjekt des Heiligens zu implizieren; erst im folgenden, späteren zweiten Teil wird das Segnen etc. des Namens durch die Menschen (und / oder Engel) stark gemacht.57 Der Aspekt des Segnens etc. durch die Menschen (und / oder Engel) wäre dann – die Heiligung des Namens durch Gott selbst ergänzend – im Qaddish sekundär hinzugekommen.

4. Ergebnisse Heiligt nun nach der ersten Bitte des Vaterunsers Gott selbst seinen Namen, oder sind es die Menschen? Der alttestamentliche Hintergrund lässt beide Möglichkeiten als gleich wahrscheinlich zu. Jes 29 spräche für Heiligung durch Menschen, Ez 36 und 38 für Heiligung durch Gott. In der Forschung zum Vaterunser kann beobachtet werden, dass die Interpretation des Subjekts der ersten Bitte stark abhängt vom Gesamtcharakter, den man dem Vaterunser zuschreibt. Betont man den ethischen Charakter des Gebets, so werden in der Regel die Menschen als Heiligende angenommen, betont man den eschatologischen Charakter des Gebets, so wird die Heiligung als end55

Luz, Matthäus, 446, übersieht diesen wichtigen Befund und nimmt mit wenig überzeugenden Argumenten für die Bitte im Qaddish den Menschen als Subjekt des Heiligens an, meint allerdings: „Wahrscheinlich ist aber die erste Qaddischbitte so offen, daß sie den Gedanken an die Heiligung des Namens durch Gott selbst nicht ausschließt.“ 56 Für die Existenz eines „Proto-Qaddish“ in Qumran ist die folgende Parallele allerdings kein Indiz. Vgl. zur Forschungslage Lehnardt, Qaddish, 11. 57 Zehn unterschiedliche Verben, die umschreibend das Heiligen des „Namens des Heiligen“ ausdrücken, werden hier im Qaddish verwendet.

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zeitliches Eingreifen Gottes interpretiert. Die Textfunde von Qumran tragen zur Lösung dieses Problems im Grunde nicht viel bei: Im Midrasch zur Eschatologie und vielleicht auch in den Hodajot (4Q427) sind für das Heiligen des Gottesnamens Menschen, konkreter die Gemeinschaft (und Engel) vorgestellt. In 1QM 11,15 erweist sich Gott in eschatologischem Kontext als heilig. Die Erwähnung seines Namens fehlt an dieser Stelle. Die Parallelen zwischen Qaddish und dem Vaterunser sind nach wie vor die deutlichsten, die wir besitzen. Sie lassen allerdings unterschiedliche Interpretationen zu. Mir scheint die Annahme nahe zu liegen, dass nicht im Vaterunser direkt auf das Qaddish – wie alt dieses auch immer sein mag – zugegriffen ist, sondern dass die Verbindung von Heiligungsbitte und ĭĘĞğġ-Bitte in zeitgenössischen jüdischen Gebeten, wie zahlreiche Beispiele belegen, verbreitet war und je nach Bedarf unterschiedlich ausgeformt werden konnte. Insbesondere die Form des Gebets machte dies möglich.58 Geht man vom ersten Teil des Qaddish aus, so würde sich als Subjekt des Heiligens im Vaterunser ebenfalls Gott anbieten. Wir sehen allerdings im Qaddish selbst die Tendenz, die Menschen (und / oder Engel) ins Heiligen einzubeziehen. Möglicherweise assoziierte man bei der Heiligung des Gottesnamens in Heilszusammenhängen ohnehin stets beide Traditionen, die durch Jesaja und die durch Ezechiel bekannte. Dafür, dass bereits in frühester Zeit die Heiligung des Namens ambivalent betrachtet werden konnte, dürfte Lev 22,32 sprechen. Das Heiligen des Namens scheint mit der gleichzeitigen Möglichkeit der Heiligung des Namens durch Gott und die Menschen zu spielen, wenn es dort heißt: Ihr sollt meinen heiligen Namen nicht entweihen, damit ich inmitten der Israeliten geheiligt werde (ĜĭĬĖĪģ); ich, der Herr, bin es, der Euch heiligt.

Ein Befund wie dieser macht es leichter, eine bereits ursprünglich intendierte in beide Richtungen offene Interpretation des Subjekts im Vaterunser anzunehmen. Grundsätzlich wäre es aber in Analogie zur Entwicklung des Qaddish auch möglich, dass die erste Bitte zunächst auf ein zukünftiges Heiligungs-Handeln Gottes zielte, es sehr bald aber im Rahmen eines ethischen Verständnisses des Gebets dazu kam, die Menschen als Subjekt des Handelns zumindest mit zu verstehen.59 58 Zu fragen wäre, warum die Bitten dann nicht auch in Qumran überliefert sind. Verantwortlich dafür könnte der fragmentarische Charakter des Fundes sein, ebenso auch die Tatsache, dass kaum aramäische Gebete in Qumran gefunden wurden. 59 Gleiches scheint m. E. im Vaterunser möglich für die 7. Bitte. Vor dem Hintergrund der Qumranfunde könnte diese als Bitte um endzeitliche Erlösung vom personifizierten Bösen, dem Teufel, verstanden worden sein. Der Gebrauch von ֽ ͘͡͠͞΃ͭͣ bei Mt schließt diese Möglichkeit keineswegs aus. In sehr früher Zeit, dies zeigt ein Blick auf die Wirkungsgeschichte, ist es dann auch zu einer ethischen Interpretation der Bitte (Erlösung vom Übel, welches Menschen denken und tun) gekommen.

Friedrich Avemarie

Zeugnis in Öffentlichkeit Zur Entwicklung des Begriffs der Heiligung des Gottesnamens in der frühen rabbinischen Überlieferung

Schlägt man ĠĬė ĬĘĖĜĪ, „Heiligung des Namens“, in einem IwritWörterbuch nach, findet man gewöhnlich Wiedergaben, die dem christlichabendländischen Begriff Martyrium entsprechen.1 Das spiegelt den modernen umgangssprachlichen Gebrauch wider; dem der Rabbinen würde es indes nicht gerecht. In rabbinischer Zeit machte die Rede von der Heiligung des Gottesnamens eine Entwicklung durch, die u. a. dazu führte, dass man einschlägige Formulierungen früher Überlieferungsstücke schon wenige Generationen später nicht mehr richtig zu verstehen vermochte. Dieser Entwicklung geht der vorliegende Beitrag nach.

1. Rückblick in die Forschung Dass ĠĬė ĬĘĖĜĪ bei den Rabbinen nicht einfach Martyrium bedeutet, hat im Detail vor allem Shmuel Safrai aufgezeigt.2 Die Tannaiten des 2. Jh., so Safrai, hätten das Sterben für die Tora auch mit anderen Ausdrücken bezeichnet,3 wie sie umgekehrt von der Heiligung des Gottesnamens auch in Kontexten gesprochen hätten, in denen der Gedanke an ein Martyrium 1 J. Lavy, Langenscheidts Handwörterbuch Hebräisch-deutsch, Berlin 1975, 493, s. v.: „Märtyrertum“, „Aufopferung für Gott“. A. Even-Shoshan, Millon Even-Shoshan, mechuddash u-me‘udkan li-shenot ha-alpajim, Bd. 5, Israel o. O. 2003, 1625, paraphrasiert den Ausdruck mit „Dahingabe des Leben zur Heiligung (ĭĬĘĖĪ) des Gottes Israels und seiner Tora; Nicht-Abgehen von den Grundlagen des Glaubens Israels, selbst wenn einem das Leben genommen wird“. 2 S. Safrai, Martyrdom in the Teachings of the Tannaim, in: T. C. de Kruijf / H. van der Sandt (Hg.), Sjaloom. Ter nagedachtenis van Mgr. Dr. A. C. Ramselaar, Arnheim 1993, 145-164, bes. 146-149; vgl. ders., Qiddush ha-Shem be-toratam shel ha-tanna’im, Zion 44, 1979, 28–42. 3 Safrai, Martyrdom, 146, weist hierzu auf Formulierungen wie ğĥ ĠĬħģ ĢĜģĭĘģ (MekhJ Yitro Ba-½odesh 6 [227 Horovitz / Rabin]), ĢėĜğĥ ĢĬħģ ğēīĬĜ Ęģĭģ (MekhJ Shabbta Ki tissa 1 [343 Horovitz / Rabin]), ėĜğĥ ĠĬħģ ğēīĬĜ ĘīĤġ (SifDev 86 [141 Finkelstein]) und ĘīĤġ ėĜğĥ Ģġĩĥ ğēīĬĜ (bShab 130a, Baraita) hin. Solche Ausdrücke der Selbsthingabe begegnen gleichfalls auch in anderen als martyrologischen Kontexten; vgl. F. Avemarie, Lebenshingabe und heilschaffender Tod in der rabbinischen Literatur, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 169–211, bes. 203–206.

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völlig fern lag. Die von Safrai angeführten Beispiele sind in der Tat eindeutig,4 und wie wir sehen werden, lassen sie sich leicht vermehren.5 Mit einem anderen Problem hatte sich bereits viel früher Harry Friedman befasst,6 mit der von Moritz Lazarus und anderen vertretenen Auffassung, ĠĬė ĬĘĖĜĪ sei ein ethischer Begriff, der auf dem Gedanken beruhe, dass „durch die Handlung des Menschen die Macht und Wirkungskraft des Sittlichen offenbar werde“.7 Friedman hielt dem entgegen, dass die Verhaltensweisen, die die Rabbinen als Heiligung des Namens bezeichneten, überwiegend religiöser, nicht ethischer Natur seien. Gerade der martyrologische Sprachgebrauch lieferte ihm hierfür einen vorzüglichen Beweis, waren es doch in erster Linie religiöse Pflichten, für die die Märtyrer ihr Leben ließen: das Studium der Tora, die Verweigerung von Götzendienst, die Beschneidung u. Ä. m.8 Wenn einschlägige Texte zudem immer wieder betonen, dass die Heiligung des Namens eine Sache der Öffentlichkeit sei, widerstreite auch dies der angeblichen ethischen Ausrichtung des Begriffs; die Moralität eines Handelns sei ja davon unabhängig, ob es öffentlich oder im Geheimen geschehe.9 Den Gottesnamen heiligen heiße, für Gott, Israel und die Tora einzutreten und dafür zu sorgen, dass ihr Ansehen gemehrt, nicht geschmälert werde; nach Friedman ein durch und durch religiöses Anliegen. Wenn dennoch auch Formen zwischenmenschlichen Verhaltens als Heiligung – oder im gegenteiligen Fall mit dem geläufigen Antonym als Entweihung – des Namens bezeichnet würden, so deshalb, weil jener religiöse Zweck auch durch sie erreicht – oder verfehlt – werden könne.10 Dass die Beobachtungen von Safrai und Friedman im Wesentlichen zutreffen, können wir hier voraussetzen.11 Ihre Einsichten lassen sich aber noch vertiefen. Wenn man zu den von Safrai analysierten tannaitischen 4 Nämlich bBQ 113a (Baraita); MekhJ Be-shalla½ 5 [106 Horovitz / Rabin] par. tBer 4,16 [I 24 Lieberman]; SifDev 306 [342 f Finkelstein]; s. Safrai, Martyrdom, 147 ff. 5 Vgl. unten Abschnitt 3. mit Sifra Shemini und SifDev 38. 6 H. Friedman, Kiddush Hashem and Hillul Hashem, HUCA 1, 1924, 193–214. 7 M. Lazarus, Zur Charakteristik der talmudischen Ethik, 44, zitiert nach Friedman, Kiddush, 209, Anm. 5. 8 Friedman, Kiddush, 210. 9 Ebd.: „Purely moral conduct has … no relation to the publicity or secrecy under which it occurs“. Ein eklatantes Beispiel liefert der Rat des R. Ilai, man möge dem Drängen seines Triebes auswärts und heimlich nachgeben, um eine Entweihung des Namens zu vermeiden (s. u. Anm. 43). Seelsorgerlich mag ein solcher Rat vertretbar sein, moralisch ist er nicht. 10 Vgl. ebd., 210 f, auch 212: Gerade im Blick auf erlittene Anfeindungen werde deutlich, „why so much importance is attributed to the avoidance of conduct that discredits Judaism, not only from its moral aspect, but on account of its consequences to the Jewish community.“ 11 Einschlägiges zur Sache findet sich ferner bei E. E. Urbach, The Sages. Their Concepts and Beliefs, Cambridge (Mass.) u. London 21979, Paperback 1987, 356 ff; ders., Qiddush ha-Shem, in: ders., Studies in Judaica II, Jerusalem 1998, 510–519; E. M. Menn, Judah and Tamar (Genesis 38) in Ancient Jewish Exegesis, JSJ Supplements 51, Leiden 1997, 262–270.

Zeugnis in Öffentlichkeit

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Stoffen das amoräische Material hinzunimmt, so zeigt sich, dass die Begriffe der Heiligung und der Entweihung des Gottesnamens in der antiken rabbinischen Tradition eine Entwicklung durchmachen, die sowohl mit dem von Friedman betonten Öffentlichkeitsbezug des Begriffspaars als auch mit der von Safrai thematisierten nachtalmudischen Verengung12 der Bedeutung von ĠĬė ĬĘĖĜĪ auf das Martyrium zu tun hat. Denn jener Öffentlichkeitsbezug, der in einschlägigen Texten der Talmude und der jüngeren Midraschim zutage tritt, macht sich in tannaitischen Traditionen nur vereinzelt bemerkbar. Unter denjenigen tannaitischen Stücken allerdings, in denen der Aspekt der Öffentlichkeit eine Rolle spielt, stehen die martyrologischen an erster Stelle. So legt sich die Vermutung nahe, dass gerade sie auf die später so selbstverständliche Fixierung von ĠĬė ĬĘĖĜĪ und ĠĬė ğĘğĜĚ auf ein Handeln in Öffentlichkeit maßgeblichen Einfluss hatten. Wenn wir als den Fluchtpunkt dieser Entwicklung die heutige umgangssprachliche Verwendung von ĠĬė ĬĘĖĜĪ im Blick behalten, können wir cum grano salis geradezu von einer schon in der Antike einsetzenden Martyrologisierung des Begriffs sprechen, und zwar auch in Kontexten, die von anderem als dem gewaltsamen Schicksal der Märtyrer handeln. Dieser Entwicklung möchte ich hier anhand von ausgewählten rabbinischen Textbeispielen nachgehen.

2. „Heiligung des Namens“ in frühen martyrologischen Texten Die klassischen Sammelwerke der tannaitischen Tradition – Mischna, Tosefta und halachische Midraschim – enthalten insgesamt drei Passagen, die im martyrologischen Sinne von der Heiligung des Gottesnamens sprechen. 1. Tosefta Shabbat 15[16],17 [II 75 Lieberman] Keinerlei Gebot hat bei Lebensrettung Bestand, ausgenommen (die Verbote) von Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen. Wo gelten diese Worte? (Sie gelten bei Lebensgefährdung) außerhalb der Stunde der Verfolgung (ĖġĬė ĭĥĬĔ ēğĬ). Doch zur Stunde der Verfolgung gibt ein Mensch selbst für ein leichtes unter den leichten Geboten sein Leben, denn es heißt: Und entweiht nicht meinen heiligen Namen, (auf dass ich geheiligt werde) usw. (Lev 22,32), und heißt: Alles hat der Herr um seinetwillen gemacht (Spr 16,4).

Der Text knüpft an eine Erörterung über den Vorrang der Pflicht zur Lebensrettung vor dem Sabbatgebot an. Vom Problem des Sabbatbruchs abs12 Vgl. Safrai, Martyrdom (s. Anm. 2), 147: ĠĬė ĬĘĖĜĪ, ursprünglich „a broad term“, „eventually came to mean martyrdom exclusively.“

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trahierend, formuliert er den Vorrang der Lebensrettung in allgemeiner Form und fügt dann zu den genannten Ausnahmen von Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen eine weitere Einschränkung an: Die Situation der Verfolgung verleiht selbst minderen Torageboten eine Verbindlichkeit, die den Grundsatz der Lebenserhaltung übersteigt. Hier wird das Leben um der Gebote willen preisgegeben, und zwar nun das bedrohte eigene, nicht das eines anderen. Impliziert ist, dass in der Verfolgung die jüdische Religion im Ganzen auf dem Spiel steht; das Eintreten für die Gebote vor den Verfolgern dient der jüdischen Selbstbehauptung und bekräftigt das Gottsein des Gottes Israels. So lässt sich diese Lebenshingabe mit Lev 22,32 als eine Form der Heiligung (bzw. Nicht-Entweihung) des Gottesnamens begreifen. Den historischen Hintergrund des Textes bilden vermutlich die Erfahrungen der Religionsverfolgung unter Hadrian in den dreißiger Jahren des 2. Jh.13 Der tannaitische Ursprung dieser Halacha steht außer Frage. 2. Sifra A½are mot, Pereq 13,14 [86b Weiss] R. Jischmael pflegte zu sagen: Von woher kannst du sagen, dass, wenn man einem Menschen unter vier Augen (Ęġĩĥ ĢĜĔğ ĘģĜĔ) sagt: Treibe Götzendienst, dann wirst du nicht erschlagen, er (Götzendienst) treiben und sich nicht erschlagen lassen soll? Die Schrift lehrt: Dass er durch sie lebe (Lev 18,5) – nicht, dass er durch sie sterbe. Oder sollte er ihnen selbst in der Öffentlichkeit (ĠĜĔīĔ) gehorchen? Die Schrift lehrt: Und entweiht nicht meinen heiligen Namen, auf dass ich geheiligt werde (Lev 22,32). Wenn ihr meinen Namen heiligt, werde auch ich meinen Namen an euch heiligen.14

Wie in Tosefta Shabbat geht es um die Treue zu Gott und der Tora in der Verfolgung; so wird auch hier aus Lev 22,32 der Begriff der Heiligung des Namens eingebracht. Allerdings wird hier nun zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, nicht zwischen Verfolgung und Friedenszeiten unterschieden, was zumindest theoretisch die Möglichkeit gewährt, Unterdrückungsmaßnahmen nachzugeben, solange sie nicht coram publico geschehen. Begründet wird dies mit Lev 18,5, demjenigen Vers, unter dem Sifra das Diktum R. Jischmaels in seine fortlaufende Levitikus-Auslegung einbindet. 13 Eine entsprechende Beschlussfassung wird erwähnt in jShevi 4,2/3–5 [35a] (Schäfer / Becker I.2, 238 f); jSan 3,6/10–12 [21b] (ebd. IV, 171); bSan 74a; zum historischen Hintergrund vgl. M. D. Herr, Persecutions and Martyrdom in Hadrian’s Days, ScrHie 23, 1972, 85–112: 108 f; Menn, Judah and Tamar, 264 ff. 14 Parallelen: bSan 74a, bAS 27b; die Kommentierung von Lev 22,32 durch „Wenn ihr meinen Namen heiligt, werde auch ich“ usw. fehlt aber dort; so scheint es, dass sie nicht ursprünglich zum Diktum R. Jischmaels gehörte, sondern bei der Redaktion des Sifra-Abschnitts als Überleitung zu den folgenden Ausführungen über die Jünglinge aus Dan 3 hinzukam. In bAS 27b werden Lev 18,5 und 22,32 auf R. Elazar ben Dama bezogen, der, wie es heißt, an einem Schlangenbiss starb, statt sich von einem Götzendiener heilen zu lassen, und der (wohl deshalb) im Mittelalter zu den „Zehn Märtyrern“ der hadrianischen Verfolgung gezählt wurde. Zu bAS 54a s. u. Anm. 38.

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Der stärkere Ton liegt allerdings auf der martyrologischen zweiten Hälfte des Diktums, denn diese illustriert der Midrasch im Folgenden an den drei Jünglingen aus Dan 3, die, mit Hhld 7,8 f gesprochen, aufrecht „gleich Palmen“ standen, als „alle Völker der Welt hingestreckt vor dem Bildnis“ lagen. Wiederum dominiert der Aspekt der Öffentlichkeit; es ist die Selbstbehauptung des Judentums vor dem Forum der Welt, auf die es bei der Heiligung des Namens ankommt; sie ist ein Akt öffentlicher Demonstration. Mit einer Gottesrede schließt der Text: „Heute werde ich durch sie verherrlicht vor den Augen der Völker der Welt, die die Tora leugnen; heute vergelte ich ihnen an ihren Feinden; heute mache ich bei ihnen die Toten lebendig.“ Diese Rettungszusage spiegelt nicht nur den Ausgang der biblischen Erzählung, sie entspricht auch der vorangehenden Auslegung von Lev 22,32: Auf die Heiligung Namens durch die Märtyrer antwortet Gott, indem er selbst durch die Errettung der Märtyrer seinen Namen heiligt. Wir haben es hier mit einem zweifachen Konzept von ĠĬė ĬĘĖĜĪ zu tun. 3. Sifra Emor, Pereq 9,4 [99d Weiss; Hs. Assemani 66] Und entweiht nicht (Lev 22,32). Von dem Wortsinne her, welcher lautet: Entweihe nicht, sage: heilige!15 – Und wenn es heißt: dann werde ich geheiligt (ebd.), (so bedeutet das:) Gib dich selbst dahin und heilige meinen Namen. – Kann (es sein, dass dies) bei einem einzelnen (ĜĖĜĚĜĔ) (gilt)? Die Schrift lehrt: unter den Kindern Israels (ebd.) – unter den vielen (ĠĜĔĘīġĔ16).

Kommentiert wird hier der Vers, mit dem in Tosefta Shabbat und in Sifra A½are mot die Pflicht zur Lebenshingabe für die Gebote begründet wird, Lev 22,32. Eine martyrologische Auslegung ist von daher nur zu erwarten. Wie in Sifra A½are mot wird zwischen privatem und öffentlichem Bereich unterschieden; die Beschränkung der Heiligungspflicht auf Letzteren wird mit der Erwähnung des Volkes im Schrifttext begründet. Dass implizit die Situation der Religionsverfolgung im Blick steht, zeigt sich daran, dass im Fortgang abermals die Rede auf die drei Männer im Feuerofen aus Dan 3 sowie auf die beiden Märtyrer Pappus und Lulianus kommt, die unter „Trugianos“17 (= Trajan?) in „Ladiqijja“ (= Laodicea) hingerichtet wurden. So nach Hs. Assemani 66 (Faks. ed. Finkelstein, 442): īĘġē ğğĚĭ ğē ıģĬ ĥġĬġġ ĬĜĖĪ; nach der supralinearen Vokalisierung ist ĬĜĖĪ Imperativ Pi‘el. Der Text von ed. Weiss (99d), ĬĖĪ īĘġē ğğĚĭ ğē īġēģĬ ĥġĬġġ Ĝģē ĥġĘĬ, hat allerdings nach W. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur, Ndr. Hildesheim 1990, I, 192, Anm. 5, den gleichen Sinn. Dass das Syntagma ğğĚĭ ğē eher dem Wortlaut von Lev 18,21 als dem von Lev 22,32 folgt, scheint nichts zur Sache zu tun. 16 So Hs. Assemani 66; ed. Weiss hat ĠĜĔĘīġė, ein sachlicher Unterschied besteht nicht. 17 So der vokalisierte Text von Hs. Assemani 66. Zu den Märtyrern vgl. W. Horbury, Pappus and Lulianus in Jewish Resistance to Rome, in: J. Targarona Borrás / A. Sáenz-Badillos (Hg.), Jewish Studies at the Turn of the Twentieth Century I, Leiden 1999, 289–295. Parallelen: MekhSh 15

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Die Überleitung zu diesen Beispielen bildet ein anonymer Ausspruch, wonach dem, „der sich mit der Absicht dahingibt, dass ihm ein Wunder (Ĥģ) gewirkt wird“, kein Wunder widerfahre; Wunder geschähen nur denen, die ohne solche Hintergedanken ihr Leben einsetzen. Im Falle von Pappus und Lulianus, die dem Tyrannen freimütig ihre Todesschuld vor Gott gestehen, liegt das Wunder anscheinend darin, dass unmittelbar nach ihrer Hinrichtung den Unterdrücker selbst der Straftod ereilt. Wie in Sifra A½are mot gilt auch hier, dass Gott auf die Heiligung seines Namens im Martyrium unmittelbar reagiert. Anders als dort wird dieses göttliche Antworthandeln jedoch weder als ĠĬė ĬĘĖĜĪ interpretiert noch exegetisch mit Lev 22,32 begründet; ĜĭĬĖĪģĘ wird ebenso wie ĘğğĚĭ ēğĘ auf die Lebenshingabe der Märtyrer selbst bezogen; ĠĬė ĬĘĖĜĪ ist hier nur das Martyrium. Es könnte sein, dass dieser Unterschied in der Auslegung von Lev 22,32 und folglich im Verständnis von ĠĬė ĬĘĖĜĪ damit zusammenhängt, dass der Passus aus Sifra A½are mot zu einer längeren Texteinheit, der so genannten Mekhilta de-Arajot, gehört, die erst spät in den Sifra-Text eingedrungen ist und einer anderen tannaitischen Auslegungstradition entstammt.18 Gemeinsam ist beiden Passagen aber, dass sie den Öffentlichkeitscharakter des Martyriums betonen. Die Überzeugung, dass die Selbsthingabe zur Heiligung des Gottesnamens eine öffentliche Angelegenheit ist, dürfte demnach spätestens gegen Ende der tannaitischen Epoche zum Allgemeingut geworden sein.19 Durch die Zuschreibung an R. Jischmael, die von den Parallelen im Talmud Bavli bestätigt wird, ist sie bereits für die zweite Generation der Tannaiten und damit für das frühe 2. Jh. bezeugt.

3. Frühes nicht-martyrologisches Material Gemessen an der Gesamtzahl der Belege für ĠĬė ĬĘĖĜĪ, das synonyme ĠĬė ĭĬĘĖĪ und entsprechende verbale Ausdrücke in Mischna, Tosefta und halachischen Midraschim ist der Anteil an martyrologischen Texten eher gering,20 und noch bescheidener nimmt er sich aus, wenn man den Gegenzu Ex 21,13 [169 f Epstein / Melamed]; bTaan 18b; Sem 8,15 [164 f Higger]; QohR 3,17 [12a]; MegTaan, Scholion 12. Adar [117 f Noam]. 18 Nach G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81992, 258 f, zählt Mekhilta de-Arajot zur „Gruppe I“ der halachischen Midraschim (Schule Jischmaels), Sifra zur „Gruppe II“ (Schule Aqivas). 19 Auch wenn die halachischen Midraschim erst im 3. und 4. Jh. redigiert wurden (vgl. Stemberger, Einleitung, passim), ist ihr Material zum weitaus größten Teil tannaitischen Ursprungs. 20 Selbst wenn man die Belege für ĠĬė ĭĬĘĖĪ als Bezeichnung der dritten Benediktion des Achtzehngebets (z. B. in mRHSh 4,5; Sifra Emor, Parasha 11,3) übergeht.

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begriff ĠĬė ğĘğĜĚ und dessen Verbalformen mitberücksichtigt. Es wäre daher kaum zweckmäßig, das nicht-martyrologische Material hier in aller Breite aufzuführen; einige aussagekräftige Beispiele mögen genügen, zunächst zur Heiligung, anschließend zur Entweihung des Namens. 1. Sifra Shemini, Mekhilta de-Millu’im 36 [45d Weiss] Es geht hier um den Tod Nadabs und Abihus nach ihrem Versuch, „fremdes Feuer“ vor Gott zu bringen, Lev 10,1 f: Und Mose sagte: Das ist, was der Herr geredet hatte: An denen, die mir nahe sind, erweise ich mich als heilig (ĬĖĪē ĜĔĘīĪĔ, Lev 10,3). Dieses Wort war Mose am Sinai gesagt worden, und er verstand es nicht, bis ihm das Ereignis widerfuhr. Und als ihm das Ereignis widerfahren war, sprach Mose zu ihm: Aaron, mein Bruder, deine Söhne starben nur zur Heiligung des Namens (ĘġĬ ĭĬĘĖĪ) des Heiligen, gepriesen sei er, denn es heißt: Und ich will dort (sc. im Stiftszelt) den Kindern Israels begegnen, und es wird geheiligt durch meine Herrlichkeit (Ex 29,43).21

Der Begriff der Heiligung ist hier aus Lev 10,3 gewonnen und wird durch Ex 29,43 verstärkt. Die Substantivierung des Begriffs ermöglicht allerdings eine Formulierung, die neben Gott auch Nadab und Abihu als Subjekte des Geschehens erscheinen lässt: Sie starben zur Heiligung des Namens. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass der Text ihren Tod als Zeichen göttlicher Zuwendung, nicht als Strafe darstellt.22 Aus dem Schluss von Lev 10,3 („vor allem Volk“) hätte der Midrasch leicht das Motiv der Öffentlichkeit aufgreifen können. Dass er es nicht tut, lässt auf mangelndes Interesse schließen. „Heiligung des Namens“ ist hier die Suche nach Gottesnähe und auch ihre letzte Konsequenz, aber keine öffentliche Demonstration. 2. Sifre Devarim 38 [76 Finkelstein] R. Schimon ben Jochai sagt: Das ist keine Heiligung des Namens (ĠĬė ĬĘĖĪ), dass die Worte der Gerechten Bestand haben, solange sie leben, nach ihrem Tod aber aufgehoben werden. – R. Elasar, der Sohn R. Schimons, sagte: … Dies ist Heiligung des Namens, dass, solange die Gerechten in der Welt sind, Segen in der Welt ist; verschwinden die Gerechten aus der Welt, verschwindet der Segen aus der Welt.

Zwei Regelmäßigkeiten aus dem Bereich religiöser Welterfahrung werden hier miteinander kontrastiert, bei denen jeweils der impliziten Öffentlichkeit eine Schlüsselrolle zufällt; denn es sind offenbar die Zeitgenossen, die dem ersten Ausspruch zufolge die Worte der Gerechten anerkennen und nach 21

Eine ausführlichere Fassung findet sich in bSev 115b. Positiv beurteilte den Tod von Nadab und Abihu auch Philon, vgl. LA 2,57; her. 309; fug. 59; somn. 2,67; dazu R. Kirschner, The Rabbinic and Philonic Exegeses of the Nadab and Abihu Incident (Lev. 10:1–6), JQR 73, 1983, 375–393, bes. 383 und 390. 22

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dem zweiten von ihrem Segen profitieren. Insofern lässt sich ĠĬė ĬĘĖĜĪ hier als öffentliche Demonstration für den Gott Israels verstehen: Dass mit den Gerechten Segen kommt und geht, beglaubigt ihre Frömmigkeit; dass aber nach ihrem Tod ihre Worte nichts mehr gelten, öffnet dem Zweifel die Tür. Die Heiligung geht hier allerdings nicht von menschlichen Subjekten aus, sondern von jenen Gesetzmäßigkeiten, als deren Urheber der Text vielleicht Gott selbst betrachtet. 3. Mischna Sanhedrin 6,4 Im Zuge einer Erörterung über die Aufhängung hingerichteter Gotteslästerer und Götzendiener wird hier auch die Vorschrift von Dtn 21,23 erläutert: Seine Leiche soll nicht über Nacht am Holz hängen, sondern du sollst ihn am selben Tage begraben, denn ein Fluch Gottes (ĠĜėğē ĭğğĪ) ist ein Gehängter – als würde man sagen: ,Warum wurde dieser aufgehängt? Weil er den Namen gelästert hat (ĠĬė ĭē ğğĪĬ)!‘, und es würde sich der Name des Himmels entweiht finden (ğğĚĭġ ĠĜġĬ ĠĬ ēĩġģĘ).23

Die Entweihung des Gottesnamens wird hier von seiner Lästerung scharf unterschieden; Erstere stellt sich erst dadurch ein, dass über eine geschehene Lästerung geredet wird.24 Für die Annahme, dass eine längere Zurschaustellung der Leiche solches Gerede begünstigen würde, ist der Öffentlichkeitsaspekt sicherlich maßgeblich. Betont wird er allerdings nicht. 4. Mischna Avot 1,11 Avtalion sagt: Ihr Weisen, seid vorsichtig mit euren Worten, dass ihr nicht der Verbannung schuldig werdet und an einen Ort schlechten Wassers verbannt werdet und die Schüler, die nach euch kommen, trinken und sterben und sich der Name des Himmels entweiht findet (ğğĚĭġ ĠĜġĬ ĠĬ ēĩġģĘ).25

„Schlechtes Wasser“ dürfte eine Metapher sein; in späteren Auslegungen wird es gewöhnlich auf ein Leben unter Häretikern oder fremden Völkern gedeutet;26 das Trinken und Sterben versinnbildlicht dann vermutlich den Übersetzung nach Hs. Kaufmann; statt ğğĪĬ lesen andere Textzeugen ein euphemistisches ĝīĜĔĬ, „… gesegnet hat“, s. S. Krauss, Sanhedrin (Hoher Rat), MakkǀÝ (Prügelstrafe), Gießen 1933, 393. Zur Übersetzung von īġĘğĞ vgl. ebd., 200 Anm. z. St. 24 So Jom-Tov Lipmann Heller, in: Shishsha Sidre Mishna im perushe ha-rishonim we-haacharonim, Bd. 7, Jerusalem 1957, 224. 25 Übersetzung nach Hs. Kaufmann (Faks. ed. Beer, 338), dort als Mischna 1,8 gezählt. 26 Vgl. ARN A 11,28 [126 f Becker]: „Was ist ,schlechtes Wasser‘? Sage: Und sie vermischten sich mit den Völkern und lernten ihre Werke (Ps 106,35). Eine andere Erklärung: ,Schlechtes Wasser‘ (ist) wörtlich (zu verstehen). Und manche sagen: Dass sie nicht zu Schwerarbeit verbannt werden.“ Die erste und die dritte dieser Erklärungen haben Parallelen in ARN B 23,6 [354 Becker]. Maimonides: „,Schlechtes Wasser‘ – ein Ausdruck für Epikureismus (ĭĘĤīĘĪĜħē)“, in: Shishsha Sidre Mishna im perushe ha-rishonim we-ha-acharonim, Bd. 8, Jerusalem 1957, 164; 23

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Verfall der Lehre, wodurch es zur Entweihung des Gottesnamens kommt. Ob dies im Privaten oder in der Öffentlichkeit geschieht, scheint belanglos. 5. Mischna Avot 4,4 R. Jochanan ben Beroqa sagt: Jeden, der den Namen des Himmels im Verborgenen entweiht (īĭĤĔ ĠĜġĬ ĠĬ ğğĚġė ğĞ), bestraft man öffentlich ( Ęģġġ ĠĜĥīħģ ĜĘğĕĔ). Ob jemand versehentlich (ĕĕĘĬ) oder absichtlich sündigt (ĖĜęġ), ist bei der Entweihung des Namens einerlei.27

Da der heimliche Frevel von irdischen Richtern nicht geahndet wird, kann das unpersönliche Partizip ĠĜĥīħģ nur auf Gott als Strafenden verweisen. Vielleicht hängt damit auch zusammen, dass dieser Frevel als „Entweihung des Namens“ bezeichnet wird: Er ist ein Angriff auf Gott, darum hat Gott ein geradezu persönliches Interesse an der Bestrafung. Unklar bleibt, welches Delikt einen solchen Angriff darstellt, denn dass grundsätzlich jede heimliche Übertretung einer Entweihung des Namens gleichkäme, wird kaum gemeint sein. Wie dem auch sei, der andernorts beobachteten Fokussierung von ĠĬė ĬĘĖĜĪ und ĠĬė ğĘğĜĚ auf öffentliches Handeln läuft das Diktum eklatant zuwider. Auf die Schwierigkeiten, die dies späteren Auslegern bereitete, kommen wir noch zu sprechen. 6. Tosefta Terumot 10,17 [I 164 Lieberman] Man bringt keine Hebe von der Tenne in die Stadt noch von der Ödnis in eine Ansiedlung. Doch (für) Orte, wo Wild sie frisst und Vieh sie frisst, verordnete man, dass man (sie) bringen und vom Priester seinen Lohn28 empfangen solle, wegen der Entweihung des Namens (ĠĬė ğĘğĜĚ Ĝģħġ).

Normalerweise holen Priester die für sie bestimmte Agrarabgabe, die Priesterhebe, bei den Bauern ab.29 Da sich die Abholung aber verzögern kann, macht man, wo Fraß durch Vieh oder Wild droht, eine Ausnahme und liefert ihnen die Hebe an. Die befürchtete Schädigung würde deshalb eine Entweihung des Gottesnamens bedeuten, weil die Hebe durch ihre Absonderung geheiligt worden ist,30 vielleicht auch, weil der Schwund den Bauern Obadja Bertinoro: „,Und ihr verbannt werdet an einen Ort‘ – an dem es Menschen gibt, die die Tora auslegen, wie es nicht der Halacha entspricht“, in: Shishsha Sidre Mishna, Bd. 8, 163. 27 Übersetzung nach Hs. Kaufmann (Faks. ed. Beer, 342); dort gezählt als Mischna 3,3. 28 Nämlich den Lohn für den Transport. 29 Zur Praxis von Zehnt und Hebe im antiken Judentum vgl. S. Freyne, Galilee from Alexander the Great to Hadrian, Edinburgh 1980, Paperback 1998, 284. 30 Vgl. Lieberman, Anm. z. St.; G. Mayer, Terumot – Orla, Die Tosefta. Seder I: Zeraim 1,2, Stuttgart 1997, 146 Anm. 147. Beide sprechen von einer Ausrufung des Gottesnamens über der Hebe. In der Berakha zur Absonderung in tBer 6[7],14 [I 37 Lieberman] wird der Gottesname jedoch nicht in besonderer Weise herausgehoben.

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knauseriger erscheinen ließe, als er es in Wirklichkeit ist. Der Gesichtspunkt der Öffentlichkeit scheint keine Rolle zu spielen.31 7. Tosefta Joma 4[5],12 [II 253 Lieberman] Man entlarvt (ĢĜġĤīħġ) die Heuchler wegen der Entweihung des Namens ( Ĝģħġ ĠĬė ğĘğĜĚ), denn es heißt: Und wenn sich ein Gerechter von seiner Gerechtigkeit abkehrt und Sünde tut, lege ich einen Fallstrick vor ihn, dass er stirbt (Ez 3,20), um ihn zu entlarven.

Wie der Schriftbeweis nahelegt, wird der Heuchler dadurch entlarvt, dass Gott seine Sünde öffentlich macht und dann die verdiente Strafe folgen lässt. Aber inwiefern wird dadurch eine Entweihung seines Namens verhindert? Raschi zufolge könnte die Entweihung dadurch geschehen, dass man an Gott, wenn er einen scheinbar Gerechten mit Strafe überzöge, zweifeln würde;32 in diesem Fall liefe ĠĬė ğĘğĜĚ tatsächlich auf eine öffentliche Schmälerung von Gottes Ansehen hinaus. Aber vielleicht steht Raschi schon unter dem Einfluss der späteren Begriffsentwicklung, in der sich der Öffentlichkeitsaspekt verabsolutiert. Setzt man dagegen mit Mischna Avot 4,4 voraus, dass der Gottesname auch im Verborgenen entweiht werden kann, wäre es das Nächstliegende, dass Tosefta Joma das heimliche Sündigen des Heuchlers selbst als die Entweihung begreift, die Gott zu verhindern weiß. Der Wortlaut ist allerdings zu unbestimmt, als dass man zwischen diesen Möglichkeiten definitiv entscheiden könnte. 8. Tosefta Sota 6,7 [III 186 Lieberman, Hs. Erfurt33) Zwei Schriftstellen werden hier miteinander verglichen, die beide davon handeln, wie Mose an Gottes Wundermacht zweifelt: Siehe, es heißt: Können denn für so viele Kleinvieh und Rinder geschlachtet werden …? (Num 11,22) – ja, wer könnte sie ihnen bereitstellen? Können denn alle Fische des Meeres (für sie gefangen werden) …? (ebd.) – ja, wer könnte sie ihnen bereitstellen? So, wie es heißt: Und wenn sie für ein Schaf nicht genug aufbringt (Lev 12,8). Doch was (war) härter, dies oder jenes: Hört doch, ihr Ungehorsamen! (Können wir euch etwa aus diesem Felsen Wasser hervorbringen? Num 20,10) –? Sage: Hört doch ihr Ungehorsamen! Allein, wer den Namen des Himmels im Verborgenen (īĭĤĔ) entweiht, den verschont man, (wer) aber in Öffentlichkeit (ĜĘğĕĔ), den verschont man nicht. Dort, wo (Mose es) im Verborgenen (tat), verschonte ihn die Schrift, dort aber, wo (er es) in Öffentlichkeit (tat), verschonte die Schrift ihn nicht.

31 Es sei denn, die Entweihung bestünde – statt in dem Fraß – darin, dass der Verlust der Hebe den falschen Eindruck nähren könnte, der Bauer habe das Abgabengebot nicht ernst genommen. 32 Vgl. Raschi zu bJoma 86b unten (wo das Diktum von tJoma 4[5],12 fast wortgleich wiederkehrt); Gleiches meint auch Lieberman, Anm. z. St. 33 Die Abweichungen in Hs. Wien sind sachlich unbedeutend.

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In Num 11,22 wähnt Mose, Gott könne Israel nicht mit Nahrung versorgen,34 und in 20,10 erklärt er das Wasserwunder für unmöglich, das gleich darauf geschieht. Die Konsequenzen der beiden „Entweihungen“ des Gottesnamens sind auffällig verschieden: Der Zweifel an der Nahrungsbeschaffung bleibt folgenlos, den am Wasserwunder hingegen ahndet Gott, indem er Mose und Aaron den Einzug in das gelobte Land versagt, und zwar, weil sie ihm nicht geglaubt und ihn nicht „vor den Augen der Kinder Israels geheiligt“ hätten (20,12); von hier hat der Midrasch das Stichwort für seinen Diskurs über ĠĬė ğĘğĜĚ. Der Grund für die krasse Gegensätzlichkeit der Konsequenzen liegt in der Verschiedenheit der Redesituationen: In 11,22 sprach Mose allein zu Gott, in 20,10 vor allem Volk. Für jene in martyrologischen Zusammenhängen vorherrschende Auffassung, wonach es bei der Heiligung des Namens entscheidend auf die Öffentlichkeit ankommt, gibt dieser Text mithin ein vorzügliches Beispiel. Gleichzeitig spricht er allerdings auch von einer Entweihung des Namens „im Verborgenen“. 9. Tosefta Bava Qamma 10,15 [IV 53 Lieberman] Wer einen Nichtjuden beraubt, ist dem Nichtjuden gegenüber zur Rückerstattung verpflichtet. Die Beraubung eines Nichtjuden wiegt schwerer als die Beraubung eines Israeliten: Wenn jemand einen Nichtjuden beraubt und es ihm eidlich abstreitet und (der Nichtjude35) stirbt, erlangt er keine Sühne,36 wegen der Entweihung des Namens (ĠĬė ğĘğĜĚ Ĝģħġ).

Was den Unterschied der Beraubung eines Juden von der eines Nichtjuden ausmacht und hier „Entweihung des Namens“ genannt wird, kann nur von der Beurteilung des Verbrechens durch das Opfer herrühren. Anders als ein beraubter Jude wird der geschädigte Nichtjude dazu neigen, das Verbrechen mit dem Jüdischsein des Täters in ursächliche Verbindung zu bringen und damit auch dem Judentum Schuld anzulasten. So geschieht das Gegenteil einer Heiligung des Namens; Israel, seine Religion und sein Gott geraten in 34

In SifBem 95 [94 f Horovitz] und SifDev 31 [50 Finkelstein] wird dieser erste Teil des Midraschs R. Aqiva zugeschrieben, und diese Zuschreibung ist auch in Tosefta-Hs. Wien aufgenommen. Ob sie auch auf das übrige Stück zu beziehen ist, scheint fraglich. Zum Ganzen vgl. H. Bietenhard, Der Toseftatraktat SoÔa, JC 9, Bern 1986, 120 f Anm. 95. 35 Oder der jüdische Räuber selbst; Satzbau und Kontext lassen auch diese Möglichkeit zu (worauf mich dankenswerterweise Jürgen Wehnert aufmerksam macht). Dass der Täter schon in seinem Erdenleben die Unmöglichkeit einer Wiedergutmachung tragen muss, scheint mir aber besser zum Kasus zu passen als eine postmortale (wenn auch insofern gravierendere) Ahndung. 36 Die Übersetzung folgt hier dem Erstdruck (īħĞĭġ ĘģĜē ĭġĘ Ęğ ĥĔĬģĘ), denn Hs. Wien scheint hier durch eine unsinnige Wiederholung verdorben (īĜęĚėğ ĔĜĜĚ ĭġĘ ĥĔĬģĘ); vgl. Lieberman, Anm. z. St. Hs. Erfurt [368 Zuckermandel] hat von diesem ganzen Satz nur das Schlussglied „wegen der Entweihung des Namens“, das sich direkt an den vorangehenden Satz anschließt. Dieser kürzere Text ist offenbar der inhaltlich am wenigsten problematische, was aber nicht bedeuten muss, dass es sich um den genetisch ältesten handelt.

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Verruf. Der Gesichtspunkt der Öffentlichkeit, und zwar einer nichtjüdischen, ist hier entscheidend, auch wenn er nicht expliziert wird. Die angeführten Beispiele erlauben ein erstes Fazit. Der bei der Namensheiligung der Märtyrer regelmäßig betonte Öffentlichkeitsaspekt ist auch für einige dieser nicht-martyrologischen Texte grundlegend, gleichgültig, ob sie von der Heiligung oder der Entweihung des Namens sprechen. Es gibt aber auch Texte, in denen er praktisch keine Rolle spielt, und zweimal ist sogar explizit von einer Entweihung „im Verborgenen“ (īĭĤĔ) die Rede (mAv 4,4; tSota 6,7). So kann man im Blick auf die tannaitische Tradition zwar von einer gewissen Tendenz sprechen, unter der Heiligung des Namens das öffentliche Eintreten für die jüdische Sache und unter seiner Entweihung deren öffentliche Verunglimpfung zu verstehen, doch festgelegt auf diese Bedeutungen ist das Begriffspaar noch nicht. Das erklärt einerseits, weshalb sich ĠĬė ĬĘĖĜĪ zur Bezeichnung des Martyriums anbietet, andererseits aber auch, weshalb in jenen frühen martyrologischen Texten der Öffentlichkeitsaspekt stets ausdrücklich thematisiert wird.

4. Akzentverlagerungen in amoräischer Zeit Die amoräische Literatur liefert zu den Stichworten der Heiligung und Entweihung des Gottesnamens ein überaus reichhaltiges Material, an dem sich gegenüber den tannaitischen Traditionen einige auffällige Verschiebungen bemerkbar machen: Die Rede von einer Heiligung bzw. Entweihung „im Verborgenen“ tritt fast völlig zurück. Hingegen mehren sich die Belege für eine Betonung des Öffentlichkeitsaspekts, wie sie in tannaitischer Überlieferung etwa in tBQ 10,15 begegnet. In martyrologischen Texten wird dieser Aspekt allerdings kaum noch thematisiert, sie scheinen ihn vielmehr als selbstverständlich vorauszusetzen. Vor allem letzteres lässt erkennen, wie sich allmählich die bekannte martyrologische Sonderbedeutung von ĠĬė ĬĘĖĜĪ herausbildet, auch wenn vom „Heiligen des Namens“ weiterhin gern und häufig auch in nicht-martyrologischen Zusammenhängen geredet wird. – Eine kleine Auswahl an Beispielen mag genügen. ad 1. Für die Rede von einer heimlichen Heiligung oder Entweihung des Gottesnamens findet sich in Talmud Jerushalmi, Midrasch Rabba und Pesiqta de-Rav Kahana kein Beleg; im Talmud Bavli gibt es immerhin einen, bSota 10b: Während der Stammvater Juda den Gottesnamen „öffentlich“ (ēĜĤėīħĔ) heiligte, indem er Tamar für gerecht erklärte (Gen 38,26),37 37 Mit der Erzählung von Juda und Tamar verbinden auch die Targume das Motiv der Heiligung des Namens: Die vom Feuertod bedrohte Tamar spricht hier eine Prophezeiung über die von

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heiligte ihn sein Bruder Joseph bei der Frau des Potiphar „im Verborgenen“ (īĭĤĔ). Charakteristischer ist es, wenn etwa in bQid 40a nur die Sünde in Öffentlichkeit als „Entweihung“ bezeichnet wird, die heimliche dagegen als „Übertretung“: „Es ist besser für einen Menschen, wenn er im Verborgenen eine Übertretung begeht (īĭĤĔ ėīĜĔĥ īĘĔĥĜĬ), als wenn er öffentlich den Namen des Himmel entweiht (ēĜĤėīħĔ ĠĜġĬ ĠĬ ğğĚĜ).“38 Eine quantitative Definition von ēĜĤėīħĔ (͒͡΃΃ͤ͐͒͘) bietet übrigens bSan 74b: Es bezeichne die Anwesenheit von mindestens zehn Personen. ad 2. Der Eindruck, den ein Verhalten beim Publikum hinterlässt, wird oft ausführlich berücksichtigt. So heißt es von David, er sei während des Staatsstreichs des Absalom sogar zum Götzendienst bereit gewesen, damit, wenn er durch Absaloms Hand fiele, sein Tod gerechtfertigt erschiene „und der Name des Himmels nicht öffentlich (ēĜĤėīħĔ) entweiht würde.“39 Ruths Nächtigung bei Boas hätte zufällige Zeugen zu falschen Schlüssen verleiten können; so bat Boas: „Herr der Welten, offenbar und bekannt ist es vor dir, dass ich sie nicht berührt habe; so sei es Wille vor dir, (dass) nicht bekannt werde, dass die Frau zur Tenne kam (Rut 3,14), und nicht der Name des Himmels entweiht werde.“40 Als Sara nach Isaaks Geburt um Ammendienste bei heidnischen Nachbarinnen gebeten wurde, die für lästerliches Reden über Saras angebliche Unfruchtbarkeit mit einem Versiegen ihrer Muttermilch gestraft worden waren, ermunterte sie Abraham: „Sara, … heilige den Namen des Heiligen, gepriesen sei er, und setze dich auf den Markt und stille ihre Kinder!“41 Eine Entweihung des Namens ist es, wenn ein Rabbi beim Einkauf nicht sofort bezahlt, offenbar, weil solche Nachlässigkeit den Gelehrtenstand in Verruf bringt.42 Einem Gelehrten, den sein „Trieb“ (ĘīĩĜ) übermannt, wird empfohlen, auswärts und schwarz vermummt seinen Gelüsten zu frönen, auf dass er „nicht öffentlich (ēĜĤėīħĔ) den Namen des Himmels entweihe“.43 Am deutlichsten tritt der Aspekt der Öffentlichkeit hervor, wenn die Heiligung dazu führt, dass sich Nichtjuden ihr abstammenden drei Männer im Feuerofen aus (Gen 38,25 in CN und TPsJ); vgl. Menn, Judah and Tamar, 214–285. 38 Die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat findet sich auch in einer sachlich Sifra A½are mot, Pereq 13,14 (s. o.) entsprechenden Diskussion über die Pflicht zum Martyrium in bAS 54a; auch hier wird das „Heiligen“ des Namens mit Lev 22,32 der Öffentlichkeit zugeordnet (ēĜĤėīħĔ), während im Privaten (ēĥģĩĔ) nach Lev 18,5 die Lebensrettung Vorrang hat. 39 bSan 107a; exegetische Basis: 2Sam 15,32. Zum mutmaßlichen historischen Hintergrund Herr, Persecutions (s. Anm. 13), 119. Weitere Belege für die Entweihung des Namens „in Öffentlichkeit“: bMQ 17a par. bChag 16a par. bQid 40a; bJev 79a; BemR 8,4 [23b]; s. u. Anm. 43 u. 52. 40 RutR 7,1 [11c]. 41 PesK 22,1 [326 Mandelbaum]. 42 bJoma 86a; im Fortgang ist die Rede vom öffentlichen Missfallen an unehrlichen und rüpelhaften Gelehrten. 43 bMQ 17a; nahezu identisch in bChag 16a und bQid 40a. Das Stück wird R. Ilai, einem Tannaiten der 2. Generation, zugeschrieben, Belege in älteren Werken sind aber nicht bekannt.

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zu dem Gott Israels bekehren. Das war u. a. der Fall, als Gott die drei Männer aus dem Feuerofen rettete, wie sich Jes 29,23 f entnehmen lässt: „Wenn seine Kinder das Werk meiner Hände in seiner Mitte sehen (und) meinen Namen heiligen – Was steht danach geschrieben? – dann werden die, die irrenden Geistes sind, Einsicht gewinnen.“44 Ein weiteres Beispiel liefert die Erhängung der sieben Sauliden in Gibeon, die ebenfalls viele zum Übertritt bewog; wir kommen darauf zurück. ad 3. Anders als die Tannaiten heben die Amoräer, wenn sie vom Martyrium als einem Heiligen des Namens sprechen, dessen öffentlichen Charakter meist nicht mehr eigens hervor. Von Abraham heißt es knapp, er habe „den Namen des Heiligen, gepriesen sei er, im feurigen Ofen geheiligt“,45 dem Ofen, in den man ihn warf, als er sich weigerte, die Götzen seines Vaters Terach anzubeten.46 In ähnlich knappen Formulierungen werden Märtyrer generell als Menschen beschrieben, die „zur Heiligung des Namens ihr Leben hingeben“47 oder „ihr Blut zur Heiligung meines Namens vergossen haben“.48 „Erschlagen zur Heiligung meines Namens“ wurden siebzig Älteste, weil sie die Anbetung des goldenen Kalbes verweigerten.49 Die Jünglinge im Feuerofen erklärten sich nicht nur bereit, „zur Heiligung seines Namens unser Leben“ hinzugeben,50 sie wussten sich „zur Heiligung des Namens“ auch verpflichtet.51 Anders als in der halachischen Exegese der Tannaiten haben wir es in diesen Texten mit reiner Haggada zu tun; deshalb spielt die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, die ja der halachischen Spezifikation dient, keine Rolle; auch die Anbindung an Schriftbelege wie Lev 22,32 entfällt. Was aber bleibt, ist die Rede von der „Heiligung des Namens“. So beobachten wir hier das erste Stadium der allmählichen Genese des späteren Terminus technicus.

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ShirR zu Hhld 1,3 [6d]; die Zuschreibung an den Amoräer R. Chanina könnte bei einem so späten Midraschwerk allerdings frei erfunden sein. 45 Und zwar in Auslegung zu Gen 14,7 (ŘĖă ĆĪ ēĘė) Ă in BerR 41[42],2.7 [401.412 Theodor/ Albeck]; WaR 11,7 [230 Margulies]; RutR Petichta 6 [2b]; EstR Petichta 11 [2b], bei jeweils leicht variierendem Wortlaut. Ausführlicher zur Namensheiligung durch Abraham: BemR 2,12 [6b]; QohR zu Pred 2,15 [8a]; TanB Lekh Lekha 2 [30a Buber]. 46 Vgl. BerR 38,13 [361–364 Theodor / Albeck]; auch LibAnt 6. 47 PesK 11,14 [189 Mandelbaum]; dem Martyrium gilt wohl auch eine ähnliche Formulierung in bBer 20a. 48 ShirR zu Hhld 2,7 [16b]. 49 BemR 15,21 [67d]; der Tod dieser in Ex 24,9 erwähnten Ältesten wird anscheinend aus dem Auftrag zur Einsetzung (weiterer) siebzig Ältester in Num 11,16 f erschlossen. 50 ShirR zu Hhld 7,8 [37d]. 51 bPes 53b; dass die Pflicht zur Namensheiligung die Bereitschaft der Lebenshingabe impliziert, folgern sie aus dem Verhalten der Frösche von Ex 7,28, die sich in geheizte Backöfen stürzten. Vgl. Herr, Persecutions (s. Anm. 13), 118.

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5. Die spätere Deutung tannaitischer Traditionen unter dem Aspekt der Öffentlichkeit Dass die ursprünglich vornehmlich martyrologische Betonung der Öffentlichkeit in amoräischer Zeit zunehmend auch die nicht-martyrologische Rede von der Heiligung bzw. Entweihung des Namens durchdringt, zeigt sich nicht zuletzt an überraschend vielen, teils amoräischen, teils auch viel jüngeren Belegen dafür, dass tannaitische Traditionsstoffe unter dem Gesichtspunkt der Öffentlichkeit überformt wurden. 1. Mischna Sanhedrin 6,4 (s. o.) spricht davon, wie Gottes Name entweiht wird, wenn eine geschehene Gotteslästerung ins Gerede kommt; der Aspekt der Öffentlichkeit spielt dabei, wie wir sahen, vermutlich eine Rolle, aber betont wird er nicht. Die Gemara des Talmud Jerushalmi rückt ihn jedoch ganz in den Vordergrund, indem sie der Mischna, die vom Aufhängen hingerichteter Gotteslästerer handelt, die Erhängung von sieben Nachfahren Sauls zur Rächung von dessen Blutschuld an den Gibeonitern gegenüberstellt und als einen Fall von ĠĬė ĬĘĖĜĪ interpretiert:52 R. Ba bar Semina sagte im Namen von R. Hoschaja: Die Heiligung des Namens ist größer als die Entweihung des Namens. Denn bei der Entweihung53 des Namens steht geschrieben: Seine Leiche soll nicht über Nacht (am Holz) hängen (Dtn 21,23), aber bei der Heiligung54 des Namens steht geschrieben: Und sie blieben hängen (vom Beginn der Ernte), bis Wasser (vom Himmel) über sie troff (2Sam 21,10). Das lehrt, dass sie vom 16. Nisan bis zum 17. Marcheschwan hängen blieben. Und die Durchreisenden sagten: „Was haben sie gesündigt, dass ihretwegen das Maß des Rechts geändert wurde?“ Und man sagte ihnen: „Dafür, dass sie ihre Hände gegen verfluchte55 (Jos 9,23) Proselyten ausgestreckt hatten. Und siehe, die Dinge (verhalten sich wie) Leichtes zu Schwerem: Wenn der Heilige, gepriesen sei er, das Blut dieser einforderte, die nicht um des Himmels willen Proselyten wurden, um wie viel mehr (wird er es bei denen tun), die um des Himmels willen Proselyten wurden!“56 Viele wurden an diesem Tag zu Proselyten, wie es heißt: Und Salomo zählte die Proselyten … und machte 70.000 von ihnen zu Lastenträgern usw. (2Chr 2,16 f).

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jSan 6,9/15–16 [23d] (Schäfer / Becker IV, 182); par. jQid 4,1/13–14 [65b–c] (ebd. III, 424); eine wesentlich ausführlichere Fassung findet sich in BemR 8,4 [23b–c], eine kürzere in bJev 79a. Die biblische Basis ist 2Sam 21,1–14. 53 ğĘğĜĚĔ, so sachlich richtig jQid und BemR, statt ĬĘĖĜĪĔ in jSan; vgl. G. A. Wewers, Sanhedrin, Gerichtshof, Übersetzung des Talmud Yerushalmi 4.4, Tübingen 1981, 155 Anm. 115. 54 ĬĘĖĜĪĔĘ, so sachlich richtig jQid und BemR, statt ğĘğĜĚĔĘ in jSan; vgl. Wewers, Sanhedrin, 155 Anm. 116. 55 ĠĜīĘīē, so in jSan; jQid und BemR lesen ĠĜīĘīĕ, „gezogene (Proselyten)“. Wewers, Sanhedrin, 155, übersetzt frei mit „Proselyten …, die sich aufgedrängt haben“, im Sinne von Jos 9. 56 jQid hat hier zusätzlich: „Es gibt keinen Gott wie euren Gott, und es gibt kein Volk wie euer Volk!“ Der Ausdruck „um des Himmels (d. h. Gottes) willen“ bezeichnet die Lauterkeit der Beweggründe.

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Das eigentlich torawidrige Hängenlassen der Leichname wird durch seine Öffentlichkeitswirkung zu einer Heiligung des Gottesnamens. 2. In Sifre Devarim 344 wird erzählt, wie sich in Rabban Gamliels Toraunterricht zwei römische Spione einschleichen, ein volles Studium absolvieren und am Ende, da sie nichts weiter auszusetzen finden, als dass Raubgut aus jüdischem Besitz zur Nutznießung verboten sei, solches nichtjüdischer Herkunft hingegen erlaubt, mit dem Versprechen scheiden, dies ihrer Behörde zu verschweigen.57 Eine erweiterte Fassung im Talmud Jerushalmi berichtet auch, wie der Rabbi darauf reagierte:58 „Zu dieser Stunde verordnete Rabban Gamliel betreffs des von einem Nichtjuden Geraubten, es sei verboten, wegen der Entweihung des Namens.“ Der Fall ist vergleichbar mit dem von tBQ 10,15 (s. o.); durch den schlechten Ruf, den jene Halacha dem Judentum eintrüge, würde Gottes Name entweiht, was Rabban Gamliel verhindern will. Dass in Sifre Devarim von dieser Reaktion keine Rede ist, könnte auf einen sekundären Zuwachs hindeuten, der dann wohl eher aus amoräischer als aus tannaitischer Überlieferung stammt.59 3. Die berühmte Anekdote von Choni, der sein Gebet um Regen erfolgreich mit der Drohung unterstreicht, andernfalls den um sich gezogenen Kreis nicht mehr zu verlassen, endet in Mischna Taanit 3,8 damit, dass Schimon ben Schetach ihm bestellt, er müsste ihn eigentlich mit dem Bann belegen, könne es aber nicht, da Gott ihm nachgegeben habe wie ein Vater seinem quengelnden Kind. In der Fassung des Bavli begründet Schimon auch, weshalb der Kreiszieher Strafe verdient hätte: „Wärst du nicht Choni, verhängte ich den Bann über dich, denn wenn (wir jetzt) Jahre wie die Jahre Elias (hätten), als die Schlüssel des Regens in Elias Händen lagen, fände sich dann nicht der Name des Himmels durch dich entweiht?“60 Zwischen den Zeilen muss man lesen,61 dass in einer Dürreperiode wie der in den 57 SifDev 344 [401 Finkelstein]. Mutmaßungen über den historischen Hintergrund äußert H. Graetz, Agrippa II. und der Zustand Judäa’s nach dem Untergange Jerusalems, MGWJ 30, 1881, 481–499, bes. 493–499. 58 jBQ 4,3/3 [4b] (Schäfer / Becker IV, 24); einen längeren und wohl auch besseren Text als Hs. Leiden bietet Hs. Escorial. Eine weitere, wieder etwas kürzere Fassung findet sich in bBQ 38a. 59 Dafür spräche, dass die Fassung des Jerushalmi noch weitere Zusätze enthält: Die Römer bemängeln auch zwei andere für Nichtjuden ungünstige Halachot, die die Beschäftigung von Hebammen und die Haftung bei Schäden durch Rindvieh betreffen; zuerst nennen sie die Halacha über die Hebammen, dann die über das Raubgut (woraufhin Rabban Gamliel sein Dekret verkündet), zuletzt die über das Rindvieh und schließen dann mit den Worten: „Über diese Dinge [so Hs. Escorial; Hs. Leiden: diese Sache] machen wir dem Reich keine Mitteilung.“ Die Bearbeitung – genauer: ihr mangelndes Geschick – zeigt sich v. a. darin, dass von den drei Problemhalachot nur die zweite wegen ĠĬė ğĘğĜĚ zurückgenommen wird, das Schweigeversprechen am Ende sich aber entweder auf alle drei (so Hs. Escorial) oder nur auf die letzte (so Hs. Leiden) bezieht. 60 bTaan 23a. 61 Vgl. die Erläuterungen von A. Steinsaltz, Talmud Bavli Massekhet Taþanit, mevoÿar meturgam u-menuqqad, Jerusalem 1983, 98, z. St.; Raschi ad loc. sieht die Entweihung des Himmels

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Tagen Elias auch das Kreisziehen nichts gefruchtet hätte; dann aber hätte Chonis Provokation Zweifel an dem angerufenen Gott aufkommen lassen, dessen Name auf diese Weise entweiht worden wäre. Der Gesichtspunkt der Öffentlichkeit, wiewohl unausgesprochen, ist aus diesen Worten nicht wegzudenken; er wird eingetragen im Zuge der amoräischen Bearbeitung. 4. Die Auffassung, dass es sieben Gebote gibt, die auch für die nichtjüdischen Nachkommen Noahs bindend sind, ist bereits tannaitisch belegt,62 doch erst bei den Amoräern kommt es zu Diskussionen darüber, ob den Noachiden auch die „Heiligung des Namens“ geboten sei. Im Talmud Jerushalmi wird die Frage verneint;63 die biblische Begründung liefert zum einen Lev 22,32, wo es ausdrücklich „unter den Kindern Israels“ heißt, und zum anderen 2Kön 5,18 f, wo Elischa es freundlich duldet, dass der geheilte Naeman seinem Herrn, dem König von Aram, auch künftig assistieren will, wenn dieser seinem Gott Rimmon huldigt. Im Talmud Bavli sind die Meinungen geteilt;64 die eine Seite argumentiert, die Heiligung des Namens sei unter jenen sieben Geboten nicht genannt, die andere entgegnet, sie sei darin impliziert.65 Den Hinweis auf 2Kön 5,18 f pariert man mit der Unterscheidung zwischen „privat“ (ėĥģĩĔ) und „öffentlich“ (ēĜĤėīħĔ); da die Pflicht zur Heiligung des Namens nur in der Öffentlichkeit gilt, ist also der private Rimmonsdienst des Naeman kein Gegenbeweis. Auch hier wird tannaitischer Stoff unter dem Aspekt der Öffentlichkeitswirkung erörtert, wenngleich nicht nur dieser allein, sondern auch die Frage der Namensheiligung selbst erst durch die amoräische Rezeption eingetragen wird. 5. Schwankungen in der Textüberlieferung widersetzen sich oft einer zeitlichen Einordnung; das gilt auch für einen in Tosefta Sota 5,12 überlieferten Streit zwischen Sara und Abraham über die Verstoßung der Hagar, der in Hs. Erfurt folgenden Wortlaut hat:

darin, dass dann entweder der Schwur Chonis oder aber der Schwur Elias von 1Kön 17,1 als falsch erwiesen worden wäre. Die Übersetzung von L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud III, Den Haag 1933, 491, scheint dem Text und seiner intendierten Bedeutung nicht gerecht zu werden. 62 Vgl. tAS 8[9],4 [473 Zuckermandel]; bSan 56a (Baraita); ferner BerR 34,8 [316 f Theodor / Albeck]; zum Hintergrund Klaus Müller, Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum, SKI 15, Berlin 1994, 25–33 sowie 47: „Nachdem sich alle Versuche einer [sc. noch weiter gehenden] Frühdatierung als nicht überzeugend herausgestellt haben“, erlaube der Quellenbefund nur den Schluss: „Die noachidische Tora ist eine Lehrentwicklung der tannaitischen Rabbinen.“ 63 jShevi 4,2/7 [35a] (Schäfer / Becker I.2, 238–241) par. jSan 3,6/13 [21b] (ebd. IV, 171). 64 bSan 74b–75a. 65 Eine Zusammenstellung der sechs bereits Adam gegebenen Gebote, die statt des Verbots der „Gotteslästerung“ (ĠĬė ĭğğĪ) das der „Entweihung des Namens“ (ĠĬė ğĘğĚ) nennt, findet sich erst in DevR 2,25 [103b–c].

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Sie sprach zu ihm: Ich sehe Ismael, wie er eine Höhe baut und Heuschrecken66 fängt und dem Götzendienst räuchert. Wenn er (dies) meinen Sohn Isaak lehrt, würde sich nicht der Name des Himmels entweiht finden? Er sagte zu ihr: Sollte man einen Menschen, nachdem man ihn freigesprochen hat, schuldigsprechen? Sollten wir sie, nachdem wir sie zur Herrin gemacht haben, aus dem Hause verstoßen? Was werden die Geschöpfe über uns sagen? Sie sprach zu ihm: Weil ich so sage und du so sagst, soll Gott (ĠĘĪġė) zwischen uns entscheiden (vgl. Gen 16,5).67

Dass Hagars Verstoßung öffentliche Missbilligung über das Erzelternpaar heraufbeschwören würde, stellt der Text klar heraus, doch nicht hier spricht er von möglicher Entweihung des Gottesnamens, sondern nur im Blick auf Isaaks befürchtete Apostasie. In Hs. Wien hingegen erscheint der Ausdruck an beiden Stellen: Sie sprach: Vielleicht wird mein Sohn Isaak solches lernen und hingehen und solches tun, und der Name des Himmels fände sich dadurch entweiht! Er sagte zu ihr: Sollte man einen Menschen, nachdem man ihn freigesprochen hat, schuldigsprechen? Sollten wir sie, nachdem wir sie zur Herrin gemacht und zur Königin gemacht und zu solcher Größe gebracht haben, aus unserem Hause verstoßen? Was werden die Geschöpfe über uns sagen? Fände sich nicht dadurch der Name des Himmels entweiht?68

Man darf wohl annehmen, dass Hs. Erfurt mit der kürzeren Fassung die ursprünglichere bewahrt hat; dass die so unterschiedlichen Verwendungen des Motivs der Namensentweihung auf ein und denselben Autor zurückgehen, ist unwahrscheinlich. Die in Hs. Wien dokumentierte Einfügung aber bringt den Aspekt der Öffentlichkeit in eben jener Weise zur Geltung, der für die amoräische Überlieferung im Unterschied zur tannaitischen charakteristisch ist. Älteren Datums ist die Einfügung daher vermutlich nicht. 6. Der Ausspruch des R. Jochanan ben Beroqa aus Mischna Avot 4,4, „Jeden, der den Namen des Himmels im Verborgenen entweiht, bestraft man öffentlich“ (s. o.), findet sich mit gleicher Zuschreibung auch in Avot de-Rabbi Natan B, Hs. Parma, allerdings in einer erweiterten Fassung, die im Anschluss zunächst erläutert, was die Strafe bewirkt, und dann das Ganze kontrastierend umkehrt, indem sie die Adverbialglieder des Diktums vertauscht und entsprechend die Wirkung der Strafe modifiziert: Wer den Namen des Himmels im Verborgenen entweiht (īĭĤĔ), den straft man öffentlich (ĜĘğĕĔ) – und der Name wird nicht entweiht. – Wer den Namen des Himmels öffentlich entweiht, den straft man im Verborgenen – und der Name wird entweiht, und man straft ihn (doch) nur öffentlich.69 66

Ist er für größere Opfertiere noch zu klein? Anders Bietenhard, SoÔa, 102 Anm. 130. tSota 5,12 [III 180 f Lieberman]. 68 Ebd.; der Erstdruck bietet (bis auf ĠĬė ĠĬ statt ĠĜġĬ ĠĬ) den gleichen Wortlaut. 69 ARN B 32,8 [365 Becker]; Hs. Vatikan bietet (wie auch ed. Schechter, 35a) nur die zweite Hälfte dieser Fassung, die isoliert allerdings wenig sinnvoll wirkt. In Rezension A fehlt der Aus67

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Die erste Hälfte dieses Komplexes scheint unproblematisch; durch die öffentliche Strafe wird die heimliche Entweihung unterbunden. Doch die zweite Hälfte führt in einen Widerspruch, denn die heimliche Strafe wird hier am Ende ebenfalls zu einer öffentlichen. Das lässt auf ein Textwachstum schließen, eines, das sich mit einem Wandel im Verständnis von ğĘğĜĚ ĠĬė leicht erklären lässt: Wenn Gott, wie es der ursprüngliche Wortlaut besagt, den öffentlichen Frevel nur im Verborgenen ahndet, die Öffentlichkeit also von der Strafe nichts erfährt, nährt dies Zweifel an seiner Verlässlichkeit. Im Sinne des Bearbeiters macht aber erst dies die Entweihung des Namens aus; daher belässt er es nicht bei der verborgenen Strafe, sondern korrigiert sie zu einer öffentlichen. Trifft diese Vermutung zu, dürfte der Schluss der ersten Hälfte von derselben Hand stammen; die Feststellung, der Name werde nicht entweiht, bezöge sich dann nicht auf den verhinderten Frevel, sondern auf die Öffentlichkeitswirkung der Strafe: Geschah der Frevel auch im Verborgenen, so führt die öffentliche Strafe dennoch nicht zur Entweihung, da der Frevler, so die Implikation, durch die Strafe öffentlich überführt wird. Dass der Wortlaut der Passage auf den ersten Blick irritierend wirkt, rührt also daher, dass hier zwei verschiedene Begriffe von ĠĬė ğĘğĜĚ kollidieren: der der Vorlage, die von einem Frevel gegen Gott spricht, und der des Bearbeiters, der sich an der Öffentlichkeitswirkung der Strafe orientiert. Dass Letzteres der auch sonst in amoräischen Traditionen dominierenden Auffassung entspricht, passt zu den gängigen Ansetzungen von Avot de-Rabbi Natan auf das 3. Jh. oder später.70 Auch die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kommentatoren taten sich mit Mischna Avot 4,4 schwer. Raschi paraphrasiert das Satzglied „der den Namen des Himmels im Verborgenen entweiht“ abschwächend mit „der im Verborgenen eine Übertretung begeht“ (īĭĤĔ ėīĜĔĥ īĔĘĥĬ).71 Jom-Tov Lipmann Heller führt zu ĠĬė ğĘğĜĚ diverse Worterklärungen an (andere zur Sünde verführen, im Schülerkreise sündigen u. a.), wonach eine heimliche Entweihung eigentlich unmöglich sein müsste, und vermutet dann, es sei an Übertretungen gedacht, die man nicht ohne Beteiligung anderer begehen könne, etwa Sexualdelikte.72 Nach Machsor Vitry schließlich ist gemeint, dass „jemand im Geheimen eine Übertretung begeht, durch die, wenn er sie öffentlich beginge, der Name des Himmels entweiht

spruch ganz; vgl. auch A. J. Saldarini, The Fathers According to Rabbi Nathan, SJLA 11, Leiden 1975, 188 Anm. 9. 70 Vgl. Stemberger, Einleitung (s. Anm. 18), 226. 71 In ed. Wilna, fol. 10b. 72 In Shishsha Sidre Mishna, Bd. 8, 201. Obadja Bertinoro schweigt zur Stelle, definiert aber zu mAv 5,9 (ebd., 221) ĠĬė ğĘğĜĚ als das Begehen einer Übertretung ėġī ĖĜĔ ēĜĤėīħĔ, „in Öffentlichkeit mit erhobener Hand“.

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würde“.73 Den Gedanken einer Entweihung im Verborgenen konnten diese Ausleger offenbar nicht nachvollziehen. Eine Begriffsverschiebung, die, wie wir sahen, bereits in amoräischer Zeit stattgefunden hatte, machte es ihnen unmöglich.

6. Biblische Perspektiven Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die biblischen Wurzeln, so sehen wir, dass diese Entwicklung, diese Verfestigung des Öffentlichkeitsaspekts im Begriff der Heiligung des Namens, wie sie sich zunächst vor allem in der tannaitischen Martyrologie abzeichnet, im Grunde schon in Tora und Propheten angelegt ist. Das Buch Levitikus bekräftigt mit Warnungen vor einer Entweihung des Gottesnamens verschiedene Tabus im kultischen Bereich,74 ebenso übrigens die Damaskusschrift,75 und in Prophetenbüchern werden mitunter auch Vergehen gegen Mitmenschen als Entweihung des Gottesnamens bezeichnet.76 Von hier erklärt sich die frühe tannaitische Verwendung von ĠĬė ğĘğĜĚ als eines zunächst recht unspezifischen Ausdrucks für Sünde, die auch die Vorstellung von einer Entweihung des Namens „im Verborgenen“ zulässt. Der Aspekt der Öffentlichkeit kommt im Buch Ezechiel hinzu, wo auch der oppositäre Zusammenhang zwischen der Entweihung und der Heiligung des Namens deutlich hervortritt. Der Sachkontext ist die Heils- und Unheilsgeschichte des Volkes: Wieder und wieder hätte Israel Vernichtung verdient, aber Gott schonte sie – „um meines Namens willen, damit er nicht entweiht würde vor den Augen der Völker“, so heißt es refrainartig in einem Geschichtsrückblick in Ez 20 (V. 9.14.22). Mit dem gleichen Gedanken wird in Ez 36 die Zusage der Heimführung der Verbannten begründet: 73 Zitiert nach J. Goldin, The Living Talmud. The Wisdom of the Fathers and Its Classical Commentaries, New York 1957, 159: „That is to say, if a person commits a transgression in secret, which, had it been in the open, would have involved profaning the name of God.“ 74 Nämlich das Verbot von Moloch-Opfern (Lev 18,21; 20,3), das Verbot falschen Schwörens beim Gottesnamen (19,12), die Vorschrift über die Haar- und Barttracht der Priester (21,6) und den Regelkomplex über den Genuss von Opfergaben (22,2.32). Um Götzendienst geht es in Ez 20,39. Zum Ganzen vgl. J. Milgrom, Cult and Conscience. The Asham and the Priestly Doctrine of Repentance, SJLA 18, Leiden 1976, 86 mit Anm. 302; F. V. Reiterer, Art. Ġ ăŘ I–IV.1, ThWAT 8, 1995, 122–174: 166. 75 CD 15,3 (zum Schwören beim Gottesnamen); vgl. auch 4Q387 Unidentified Frgm. A 1 (DJD 30, 197, zum Inzest); nicht mehr erkennbar ist der Bezug in 4Q385a Frgm. 18 i a–b 11 (DJD 30, 159). Zu unsicheren Textrekonstruktionen an weiteren Stellen in 4Q385–390 vgl. D. Dimant, Qumran Cave 4. XXI. Pseudo-Prophetic Texts, DJD 30, Oxford 2001, 268, s. v. ğğĚ. 76 So der Widerruf der Sklavenfreilassung in Jer 34,16 und der Verkehr von Vater und Sohn mit derselben Frau in Am 2,7; s. hierzu Reiterer, Art. Ġ ăŘ, 165.

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(20) Und als sie zu den Völkern kamen, zu denen sie kamen, entweihten sie77 meinen heiligen Namen, indem man von ihnen sagte: Sie sind das Volk des Herrn, und sie sind aus seinem Land gezogen! … (22) Deshalb sage dem Hause Israel: So spricht der Herr: Nicht um euretwillen tue ich es, Haus Israel, sondern um meines heiligen Namens willen, den ihr unter den Völkern entweiht habt, zu denen ihr kamt. (23) Und ich werde meinen großen Namen heiligen, der unter den Völkern entweiht wurde …

Entweiht wird der Name, wo Israels Ergehen das Ansehen Gottes schmälert;78 wo das Gegenteil geschieht, wird er geheiligt. Eben diesen Sprachgebrauch nimmt auch ein früher Midrasch auf, wenn er den Exodus, die Plagen Ägyptens, die Wunder an Schilfmeer und Jordan, die Rettung Daniels aus der Löwengrube und die der drei Jünglinge aus dem Feuerofen als Machttaten aufzählt, durch die Gott seinen Namen heiligte.79 Da nun das Heiligen wie das Entweihen des Namens schon nach biblischem Verständnis ebenso vom Menschen ausgehen konnte wie von Gott,80 ließ sich der Gesichtspunkt der Öffentlichkeitswirkung vom göttlichen auf das menschliche Handeln leicht übertragen. Das waren die Voraussetzungen, unter denen sich dieses Bedeutungselement in der rabbinischen Tradition derart fest in die Begriffe der Heiligung und der Entweihung des Namens einlagern konnte, dass jene tannaitische Sentenz, die von einer Entweihung „im Verborgenen“ sprach, schon in amoräischer Zeit als korrekturbedürftig erschien. Als Katalysator dieser Entwicklung dürften die martyrologischen Diskurse der Tannaiten gewirkt haben, bei denen der Öffentlichkeitsaspekt aus halachischen Gründen von vornherein im Zentrum stand und auch die Entsprechung von göttlichem und menschlichem Handeln besonders klar zutage lag. Wenn Gott seinen Namen heiligte, indem er die drei Jünglinge aus dem Feuer rettete, so hatten diese zuvor ihrerseits Gottes Namen geheiligt, indem sie im Feuer ihr Leben dahingaben. Pointiert formuliert dies Sifra in der Auslegung von Lev 22,32: „Und entweiht nicht meinen heiligen Namen, auf dass ich geheiligt werde – Wenn ihr meinen Namen heiligt, werde auch ich meinen Namen an euch heiligen“ (A½are mot, Pereq 13,14, s. o.). Noch keine Vorahnung von diesen semantischen Fokussierungen lassen allerdings die Heiligungsbitten des Qaddish und des Vaterunsers spüren, die hier selbstverständlich nicht unerwähnt bleiben sollen. „Dein Name werde 77

Dass die Israeliten gemeint sind, geht aus Ez 36,21 f hervor. In diesem Sinne können auch Leidende in ihren Protestrufen an Gottes Namen appellieren; vgl. 4Esr 4,24 f (Wir vergehen wie Heuschrecken und Dunst, was aber wird aus seinem Namen?); bGit 58a (Wenn schon nicht über uns, warum erbarmst du dich nicht wenigstens zur Heiligung deines Namens?). Auch wenn alle anderen Gründe versagen, hofft man auf Beistand „um deines großen Namens willen“, MTann zu Dtn 26,15 [177 Hoffmann]. 79 SifDev 306 [342 f Finkelstein]. 80 Zur Entweihung durch Gott vgl. Ez 39,7; zur Heiligung durch Menschen vgl. Jes 29,23. Bewusst ambivalent wirkt das Nif‘al ĜĭĬĖĪģ in Lev 22,32. 78

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geheiligt“, das kann im anbetenden Lobpreis geschehen,81 in der alltäglichen Lebensführung, in der Öffentlichkeit gewiss, aber vielleicht doch auch im Verborgenen,82 und fraglos auch dadurch, dass Gottes Heilshandeln an Welt und Menschheit seinen Ruhm vermehrt. Die Kommentare halten üblicherweise verschiedene Möglichkeiten offen,83 und nach allem, was wir gesehen haben, liegen sie damit richtig. Mit eindeutigem Öffentlichkeitsbezug spricht Röm 2,24 von einer Lästerung des Namens: „Denn euretwegen wird Gottes Name unter den Völkern gelästert, wie geschrieben steht (Jes 52,5).“ Wie bei den Rabbinen (und abweichend von Jes 52) ist es hier jüdisches Sündigen, das den Gottesnamen in Verruf bringt; anders als nach rabbinischem Verständnis ist aber das Subjekt der Entweihung das schmähende Heidentum, nicht der jüdische Sünder selbst.84 Um öffentlichkeitswirksame Heiligung geht es in 1Petr 3,15: „Heiligt aber den Herrn, Christus, in euren Herzen, allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft verlangt …“85 Zwar geschieht die Heiligung hiernach im Herzen, also gerade nicht vor den Augen der Öffentlichkeit, doch als Beweggrund öffentlichen Eintretens für den Glauben hat sie mit dem rabbinischen ĠĬė ĬĘĖĜĪ Wesentliches gemeinsam. Dass sie auch unmittelbar mit dem in V. 14 angesprochenen Leiden der Gläubigen zusammenhinge, lässt sich dem Text wohl nicht abgewinnen. Altkirchliche Märtyrerberichte begründen umgekehrt das Leiden zwar oft genug mit dem „Namen“ Christi, sprechen dabei aber nicht von Heiligung.86 Was die rabbinische Tradition in ĠĬė ĬĘĖĜĪ verdichtet, bringt die Alte Kirche mit ͒͝΃ͥͮ΃͚͠͞, „Zeugnis“, zum Ausdruck. In der Sache konvergieren die beiden Begriffe, terminologisch jedoch gehen die altkirchliche und die rabbinische Martyrologie getrennte Wege. 81 Die Heiligungsbitte lässt sich ohne weiteres als selbstreferentiell verstehen: Durch den Akt des Bittens wird das Erbetene Wirklichkeit. Vgl. ferner Lk 1,49. 82 Auch das ēġğĥĔ („in der Welt“) des Qaddish schließt eine Heiligung im Verborgenen nicht aus. 83 So etwa U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus I, EKK 1.1, Zürich u. Neukirchen 31992, 343 f; W. D. Davies / D. C. Allison, The Gospel According to Saint Matthew, ICC 1, Edinburgh 1988, 602 f. Zu der relativ spät einsetzenden Interpretation des Qaddish mit Ez 38,23 vgl. A. Lehnardt, Qaddish. Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebets, TSAJ 87, Tübingen 2002, 256–264. 84 Zur Funktion von Jes 52,5 in Röm 2 vgl. F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus, FRLANT 179, Göttingen 1998, 73 f; zur rabbinischen Rezeption von Jes 52,5 s. ebd. 178 f; zur sachlichen Nähe von Röm 2,24 zum rabbinischen Begriff der Entweihung des Namens vgl. K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHK 6, Leipzig 21999, 71. 85 Übersetzung nach R. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus, ThHK 15.1, Leipzig 2005, 128. 86 Vgl. Martyrium Carpi lat. 5 (propter nomen tuum haec patimur [34 Musurillo]); 6,3 (ut pro nomine Christi patiar [ebd.]); Acta Sanctorum Scilitanorum 17 (Et statim decollati sunt pro nomine Christi [88 Musurillo]); Passio Iuli veterani 4,4 (Domine Iesu Christe pro cuius nomine haec patior [264 Musurillo]); Passio Bonifatii 9 (͕͚‫[ ͍ͪͨͤ͡ ͒ͥٓ͒ͥ ͦͤ͠ ͍͝͠͞׀ ׬ͥ פ‬329 Ruinart]).

Hermann Lichtenberger

Schöpfung und Ehe in Texten aus Qumran sowie Essenerberichten und die Bedeutung für das Neue Testament

In seiner durch nichts überholten Dissertation „Gen.1.2 im antiken Judentum“1 hat Berndt Schaller die Aussagen der biblischen Schöpfungsberichte umfassend in ihrer Aufnahme durch die frühjüdische Theologie untersucht und dargestellt. Dieses Werk reicht in seiner Bedeutung weit in die neutestamentliche Wissenschaft hinein. Die vorliegende Untersuchung möchte, ausgehend von einem zentralen Text, der die Bestimmungen für die Ehe mit Gen 1,27 ĠĭĘē ēīĔ ėĔĪģĘ īĞę begründet (CD 4,20 f), die Textbasis erweitern und ihre Bedeutung für das Neue Testament andeuten.

1. Gen 1,27 ĠĭĘē ēīĔ ėĔĪģĘ īĞę in der Damaskusschrift Schaller hat bereits einen wichtigen Hinweis zur Argumentation von CD 4,20–5,1 gegeben: Mit dem Zitat von Gen 1,27 ĠĭĘē ēīĔ ėĔĪģĘ īĞę wird die Gefangenschaft der Kritisierten im Netz der Hurerei ĠĜĬģ ĜĭĬ ĭĚĪğ ĠėĜĜĚĔ benannt: Sie sind gefangen in der Hurerei, „dass sie zwei Frauen zu ihren Lebzeiten nehmen“ (CD 4,20 f). Die anschließende Argumentation mit Gen 7,9, dass „sie je zwei und zwei“ (ĠĜģĬ ĠĜģĬ CD 5,1) in die Arche gingen, nimmt nicht allein das ėĔĭė ğē Ěģ ğē ĘēĔ ĠĜģĬ ĠĜģĬ auf, sondern auch dessen Fortsetzung ėĔĪģĘ īĞę (Gen 7,9): „In CD 4,20 ff geht die Beweisführung aus von der Wendung ĠĜģĬĘ ĠĜģĬ, die in Gen 7,9 ėĔĪģĘ īĞę erläutert. Diese Erläuterung ist auf Gen 1,27 übertragen und von hier aus auf die Einehe als schöpfungsmäßige Ordnung (männlich und weiblich, d. h. paarweise schuf er sie) abgeleitet.“2 Offen bleibt dabei die Frage, ob 1 J. B. Schaller, Gen.1.2 im antiken Judentum. Untersuchungen über Verwendung und Deutung der Schöpfungsaussagen von Gen.1.2 im antiken Judentum, Diss. theol. Göttingen 1961. 2 Schaller, Gen.1.2, 70. Schaller geht dabei auch auf den Bezug zu Mk 10,5 ff parr ein, ausführlicher in: ders., Die Sprüche über Ehescheidung und Wiederheirat in der synoptischen Überlieferung, in: E. Lohse u. a. (Hg.), Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde, FS J. Jeremias, Göttingen 1970, 226–246; wieder abgedr. in: B. Schaller, Fundamenta Judaica. Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament, hg. v. L. Doering / A. Steudel, StUNT 25, Göttingen 2001, 104–124 (nachfolgend danach zitiert).

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die Einehe hier im Gegensatz zu Polygamie steht, oder ob die Einehe des Mannes auf Lebenszeit geboten wird. Für letzteres Verständnis spricht eindeutig das maskuline Pluralsuffix in ĠėĜĜĚ (CD 4,21)3; kritisiert wird also, dass die Männer zu ihren Lebzeiten zwei Frauen nahmen, d. h. nach Scheidung von oder Tod der ersten Frau wieder heirateten. Da eine derartige Vorschrift, die die Einehe auf Lebenszeit fordert, weder im Alten Testament noch sonst im Judentum vertreten wird (doch s. u. zur Jesusüberlieferung), hat bereits Louis Ginzberg4 vertreten, das maskuline Suffix stünde für ein feminines (ĢėĜĜĚĔ):5 „… es soll damit nur gesagt werden, dass dies Eheverbot von allen den anderen sich darin unterscheidet, als es nur so lange, als er in ehelicher Gemeinschaft mit der ersten lebt, gilt.“6 Es wird also nicht Ehescheidung verboten, sondern Polygamie.7 Nun löst das Verständnis des maskulinen Suffixes im Sinne eines femininen nur scheinbar das Problem: Wann sollten Frauen anders geheiratet („genommen“) werden als zu ihren Lebzeiten? Das kann beides heißen: Während sie jeweils leben (also sukzessiv geheiratet werden) oder während sie gleichzeitig leben (also zur selben Zeit in ehelicher Gemeinschaft mit ein und demselben Mann leben). Das Verständnis als von Frauen „während ihrer Lebzeiten“ ändert an dem grundsätzlichen Sachverhalt nichts, dass Männer Subjekt des Satzes sind, die zwei Frauen heiraten, sei es sukzessiv, sei es gleichzeitig. Für ein gleichzeitiges Verständnis, also ein Verbot der Polygamie, könnte die Fortsetzung in Blick auf das Königsgesetz sprechen: „Und über den Fürsten ist geschrieben: ‚Er soll sich nicht Frauen viel machen‘ (d. h. viele Frauen haben).“ Hier wird wörtlich8 Dtn 17,17 zitiert, wobei der „König“ durch den „Fürsten“ ersetzt ist. David mit seinen vielen Frauen konnte das Königsgesetz des Pentateuch (Dtn 17,17) nicht kennen, denn das „Buch des Gesetzes“ war versiegelt in der Lade, „denn es wurde nicht geöffnet in Israel seit dem Tag des Todes Eleazars und Josuas {und Josuas} und der Ältesten, als man den Astarten diente. Und es war verborgen, was offenbart war, bis Zadoq auftrat“ (CD 5,2–5). Davids Polygamie ist also wegen Nichtkennens des Königsgesetzes entschuldigt, nicht aber sein Mord an Uria (CD 5,5 f). Worin bestand Davids unwissentliches Vergehen gegen das Königsgesetz „Er soll Frauen nicht viel machen“? David hatte nach den biblischen 3 In 6Q15 Frgm. 1 sind Buchstabenreste von CD 4,19–20 erhalten, aber nicht das in Rede stehende Wort. 4 L. Ginzberg, Eine unbekannte jüdische Sekte, New York 1922 (= Hildesheim 1972), 26. 5 Vielfach ist man ihm darin gefolgt, z. B. E. Lohse, Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch, München 1964, 75, Anm. 26 (wie 41986, 288): „Das heißt: zu Lebzeiten der Frauen. Es wird also eindeutig gegen die – an sich im Judentum durchaus erlaubte – Polygamie polemisiert“. 6 Ginzberg, Sekte, 26. 7 Ginzberg, Sekte, 183. 8 Mit Auslassung von Ę vor ēğ.

Schöpfung und Ehe in Texten aus Qumran sowie Essenerberichten

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Berichten acht namentlich genannte Frauen, dazu wohl etliche nicht mit Namen genannte (Neben-)Frauen, zum Teil sukzessiv, zum Teil gleichzeitig (vgl. 2Sam 3,2–5; 5,13–16; 1Chr 3,1–9; 14,3–7). Der Vorwurf gegen David gilt allgemein seiner Polygamie mit mehreren Frauen gleichzeitig. Bedeutend ist, dass hier die Schöpfungsordnung mit der Rettungsordnung beim Eingang in die Arche und das Königsgesetz verbunden werden. David hat unwissend gegen das ihm unbekannte Königsgesetz verstoßen, darum kann er nicht als negatives Beispiel für Polygamie herangezogen werden. Nun aber, da das Gesetz allen bekannt ist, können der Verstoß und die Schuld festgestellt werden. Das negative Beispiel Davids kann entschuldigt werden; dies gilt nicht für die, die nun in diesem zweiten Netz Belials gefangen sind. Möglicherweise liegt implizit ein umgekehrter qal wachomer-Schluss zugrunde: Wenn schon für den Fürsten gilt: „Er soll nicht viele Frauen haben“ – um wie viel mehr gilt das für jeden Israeliten.

2. Das Königsgesetz der Tempelrolle Das Königsgesetz der Tempelrolle verschärft die Bestimmungen von Dtn 17,17 im Blick auf die Ehe des Königs (11QTa 57,22–26): Und eine Frau darf er sich nicht nehmen von allen Töchtern der Völker, sondern aus dem Haus seines Vaters nehme er sich eine Frau, aus der Familie seines Vaters. Und nicht darf er sich eine andere Frau zu ihr hinzu nehmen, denn sie allein soll mit ihm sein alle Tage ihres Lebens. Und wenn sie stirbt, dann soll er sich eine andere aus dem Haus seines Vaters nehmen, aus seiner Familie.9

Für unsere Fragestellung sind die folgenden Präzisierungen wichtig: 1. Das Verbot für den König, viele Frauen zu haben, wird präzisiert: Nur eine Frau, und diese aus seiner Familie. 2. Die Ehe endet mit dem Tod der Frau („… sie allein soll mit ihm sein alle Tage ihres Lebens“); Ehescheidung wird nicht erwogen. 3. Im Fall des Todes seiner Frau soll der König erneut eine Frau aus seiner Familie heiraten. Das Königsgesetz will gewiss nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen, sondern regelt die speziellen Ehefragen des Königs.10 Damit stellt 11QTa 57,22–26 eine wichtige Relecture des Königsgesetzes des Deuteronomiums 9 Alte Zählung: 57,15–19. Übers. (mit leichten Veränderungen) nach: A. Steudel, Die Texte aus Qumran II, Hebräisch / Aramäisch und Deutsch, Darmstadt 2001, 124–127. 10 Allgemeine Bestimmungen zur Ehe finden sich in der Tempelrolle in 63,17–64,8; 65,14– 67,5 (alte Zählung, soweit vorhanden: 63,10–64,1; 65,7–66,17). Text in: Steudel, Texte, 144–157.

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dar. Wichtig ist: Der König darf nur mit einer Frau verheiratet sein, die Ehe endet durch den Tod der Frau (!), erst danach ist Wiederverheiratung möglich. Beide Ehen sind nur mit Frauen der eigenen Familie möglich. Dass diese Bestimmungen nur den König betreffen, geht eindeutig aus der erbrechtlichen Bestimmung von 11QTa 64,2–8 und aus der Regelung für die schöne Kriegsgefangene 11QTa 63,17–64,2 hervor: Die erbrechtlichen Bestimmungen regeln das Erbrecht von Söhnen zweier Frauen, mit denen der Erblasser zugleich verheiratet ist (vgl. Dtn 21,15–17): Wenn ein Mann zwei Frauen hat, eine, die er liebt, und eine andere, die er nicht liebt, und sie gebären ihm Söhne – sowohl die, die er liebt als auch die, die er nicht liebt, und der erstgeborene Sohn ist von der, die er nicht liebt –, dann darf er an dem Tag, an dem er seine Söhne erben lässt, was ihm gehört, den (Sohn) derer, die er liebt, nicht als Erstgeborenen behandeln zum Nachteil des Sohnes derer, die er nicht liebt, der (doch aber) der Erstgeborene ist. Vielmehr soll er den Erstgeborenen, den Sohn derer, die er nicht liebt, anerkennen, indem er ihm den doppelten Anteil von allem, was er besitzt, gibt; denn er ist der Erstling seiner Kraft, ihm gehört das Recht der Erstgeburt.11

Ein Israelit darf eine außerisraelitische Kriegsgefangene heiraten (vgl. Dtn 21,10–14): Wenn du zum Krieg ausziehst gegen deine Feinde, und ich gebe sie in deine Hände, und du führst ihre Gefangenen weg, und du siehst unter den Gefangenen eine Frau von schönem Aussehen, und du hängst an ihr und nimmst sie dir zur Frau …12

Ein absolutes Scheidungsverbot gibt es nach Dtn 22,13–19 in 11QTa 65,14–66,1 bei Verleumdung und nach Dtn 22,25–29 in 11QTa 66,16–19 nach Vergewaltigung. Polygamie ist möglich, doch nicht mit zwei Schwestern 11QTa 67,2.13 Das Königsgesetz stellt in der Tempelrolle ein spezielles Gesetz dar, das nicht allgemeine Gültigkeit hat. Israeliten dürfen gleichzeitig zwei Frauen haben; aus den beiden Beispielen, die Scheidung kategorisch untersagen, wird deutlich, dass es Scheidungsrecht aufseiten des Mannes gibt, Israeliten dürfen Nichtisraelitinnen (die „schöne Kriegsgefangene“) heiraten. Das alles trifft für den König nicht zu: Er darf nur eine Frau haben, es wird keine Scheidungsmöglichkeit eingeräumt (Ende der Ehe nur durch den Tod der Frau), er darf eine Frau nur aus seiner Familie heiraten. Erst nach dem Tod seiner Frau darf er sich wiederverheiraten. 11

11QTa 64,2–8; Übers. nach: Steudel, Texte, 144–147. 11QTa 63,17 ff; Übers. nach: Steudel, Texte, 144 f. 13 Text und Übers. in: Steudel, Texte, 154 f. Hier schließt sich logisch das Thema der Schwagerehe an (11QTa 67,2–5). 12

Schöpfung und Ehe in Texten aus Qumran sowie Essenerberichten

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Mit Schöpfungsaussagen wird an keiner Stelle argumentiert. Dennoch ist diese Radikalisierung des Königsgesetzes aufschlussreich für unsere Thematik: Dem König ist polygame Lebensweise verboten, nur sukzessiv darf er zwei Frauen haben.

3. Texte zu Ehe und Familie in 4QInstruction14 4Q416 Frgm. 2 iii 20–21 und 4Q416 Frgm. 2 iv15 handelt vom Verhältnis von Mann und Frau.16 4Q416 Frgm. 2 iii 20–iv 7: (20) [vacat] Eine Frau hast du genommen in deiner Armut. Verstehe ihre Herkünfte17[ (21) vom Geheimnis des Kommenden und indem du mit ihr verbunden bist, wandle gemeinsam mit der Hilfe deines Fleisches [… „Darum wird ein Mann verlassen] (1) seinen Vater [und] seine Mutter und (er wird) [seiner Frau] anhangen, [und sie werden ein Fleisch sein]18 (2) Er hat dich zum Herrschen über sie gesetzt, und sie soll […] (3) hat er nicht zu herrschen über sie gesetzt. Von ihrer Mutter hat er sie getrennt, und zu dir [ist ihr Verlangen, und sie wird sein]19 (4) für dich ein Fleisch. Deine Tochter wird sie für einen andern trennen, und deine Söhne […] (5) Und du sollst sein zur Gemeinschaft mit der Frau deines Busens, denn sie ist Fleisch [deiner] Nack[theit …] (6) Und wer außer dir über sie herrscht, hat die Grenze seines Lebens verrückt. Über [ihren Geist] (7) Hat er dich zur Herrschaft eingesetzt, damit sie nach deinem Wohlgefallen wandle, damit sie nicht fortfährt, Gelübde und Gab[e] zu geloben (folgt: Z. 8–13)

Die Bezüge zu Gen 1–2 (und 3) sind bei Benjamin Wold20 erfasst. Unsere Frage richtet sich darauf, ob die Aussagen über das Verhältnis von Mann und Frau etwas über Einzelehe bzw. Polygamie erkennen lassen. 14

Edition J. Strugnell / D. J. Harrington, in: DJD 34, Qumran Cave 4. XXIV, Oxford 1999; zum Thema vgl. B. G. Wold, Women, Men and Angels, WUNT II.201, Tübingen 2005; weiter die noch ungedruckte Dissertation von J.-S. Rey, 4QInstruction: sagesse et eschatologie, Thèse de doctorat, Strasbourg 2006, besonders 54–99. Zur Abgrenzung vgl. Wold, Women, 185. 15 Strugnell / Harrington (s. Anm. 14), 123 ff. 16 Deutsche Übersetzung (z. T. von der im Folgenden gebotenen abweichend) in: J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer II, UTB 1863, München 1995, 434 f; Verifizierung der Lesungen in: Strugnell / Harrington, Plate VI. 17 So mit Wold, Women, 186 gegen Strugnell / Harrington, 113: „her offspring.“ 18 So Strugnell / Harrington, 123. 19 Ergänzung mit Strugnell / Harrington, 123. 20 Wold, Women, 95–97.185–206.

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Der ganze Abschnitt geht davon aus, dass es sich um das Verhältnis eines Mannes zu einer Frau handelt. Frgm. 2 iii 20 könnte implizieren, dass wer in seiner Armut geheiratet hat, die Herkunft seiner Frau bedenken sollte. Eindeutig das Verhältnis eines Mannes zu einer Frau beschreibt die Aufforderung Frgm. 2 iii 21 ėĞīĬĔ īęĥ Ġĥ ĝğėĭė, eine deutliche Aufnahme von Gen 2,18 īęĥ21 und 2,23 ĜīĬĔġ īĬĔ. Es ist daher nicht von ungefähr, dass sich das Zitat aus 2,24 anschließt, das in Frgm. 2 iv 1 teilweise erhalten ist: [„Darum wird ein Mann verlassen] seinen Vater [und] seine Mutter und wird anhang[en seiner Frau und sie werden ein Fleisch sein.“]22 Frgm. 2 iv 5 nimmt Gen 2,2523 auf: „das Fleisch [deiner] Na[cktheit …]. Beherrschendes Thema von 2 iv 2–10 ist die ausschließliche Herrschaft des Ehemanns über die Ehefrau24 nach Gen 3,16. Sie realisiert sich u. a. in der Berechtigung des Ehemanns, Gelübde der Frau zu lösen (Num 30,11–16). Eine besondere Bedeutung könnte der Wendung ėĞĪĜĚ ĭĬē zukommen, die in Frgm. 2 iv 5 und 13 begegnet.25 Sie geht zurück auf Dtn 13,7 und 28,54; Dtn 13,7 wird in 11QTa 54,27[20]26 verwendet. ĝĪĜĚ ĭĬē (Dtn 13,7, vgl. 11QTa 54,27) bzw. ĘĪĜĚ ĭĬē (Dtn 28,54) steht für die Ehefrau in einer Reihe der nächsten Verwandten und Vertrauten.27 Der Zusammenhang der Zeile 5 und die Determination von ėĞĪĜĚ ĭĬē machen deutlich, dass es sich um die Frau des Mannes handelt, nicht um eine seiner Frauen. Gestützt wird dies durch 4Q416 Frgm. 2 ii 21 ėĞĪĜĚ ĜğĞ, die älteste Analogie zu 1Thess 4,4 (͖͕͎͚֬͒͞ ֕΂͒ͤͥ͠͞ ‫͝׉‬٠͞ ͥ‫͖ͣٓ͠΂ͤ ֑ٓͥͦ͒͠ ׬‬ ΂ͥ‫)͚͒ͱͤا‬.28 Zweifellos ist in beiden Fällen die eigene Frau gemeint.29 Der dargestellte Text und die besprochenen Wendungen lassen keinen Zweifel, dass darin von Einehe ausgegangen wird. Bestimmungen über Scheidung oder Wiederverheiratung finden sich nicht. Der fragmentarische Erhaltungszustand der Texte erlaubt keine sicheren Schlüsse darüber, ob solche Möglichkeiten diskutiert wurden. Der deutliche Rückbezug auf Gen 1–2 (und 3) in den erhaltenen Passagen schließt eine restriktive Auslegung der Schöpfungsaussagen im Sinne einer Einehe auf Lebenszeit nicht aus. 21 22 23

190 f). 24

Vgl. auch 4Q418a Frgm. 16b + 17,3 ėĞīĬ]Ĕ īęĥ. Vgl. auch Zeile 4 ĖĚē īĬĔğ ĝğ. Statt ėĞĭĘ]īĥ lies möglicherweise besser ėĞġĘī]Ĝĥ (so auch erwogen von Wold, Women,

Vgl. auch 4Q418a Frgm. 18,4. Vgl. Strugnell / Harrington, 128; Wold, Women, 189–192. 26 Zählung nach: Steudel, Texte, 116 f (in Klammern alte Zählung). 27 Vgl. Dtn 28,56 ėĞĜĚ ĬĜē. 28 Ausführlich Strugnell / Harrington, 108–110; Wold, Women, 191–206. 29 Abweichend T. Elgvin, To Master His Own Vessel, 1 Thess 4:4 in Light of New Qumran Evidence, NTS 43, 1997, 604–619; völlig anders liest M. Kister, A Qumranic Parallel to 1Thess 4:4? Reading and Interpretation of 4Q416 2 II 21, DSD 10, 2003, 365–371. Vgl. auch 4Q415 Frgm. 9,2 ėĞģěĔ „dein Mutterleib“ (mask.!), d. h. „deine Frau“, Strugnell / Harrington, 54 f. 25

Schöpfung und Ehe in Texten aus Qumran sowie Essenerberichten

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Ein weiterer Text aus 4QInstruction zum Verhältnis der Geschlechter gibt Ratschläge für die Verheiratung der Tochter und deren Beurteilung.30 Der Text 4Q415 Frgm. 11 trägt nur insofern zu unserer Thematik bei, als darin Ratschläge für einen Bestand der Ehe gegeben werden. 4Q423 1,231 stellt eine Relecture von Gen 2 und 3 in eschatologischer Perspektive dar,32 trägt aber zu unserer Fragestellung nichts bei.33

4. Philo zum Verhältnis von Männern und Frauen bei den Essenern34 und Therapeuten De vita contemplativa Es gibt Therapeuten, die ursprünglich verheiratet waren: „Aus Verlangen nach dem ewigen, glückseligen Leben glauben sie, das vergängliche Leben schon beendet zu haben, und überlassen daher ihr Vermögen Söhnen, Töchtern oder auch anderen Angehörigen“ (13),35 bei anderen lässt sich keine Aussage darüber machen: „Die aber, welche keine Angehörigen haben, vermachen ihren Besitz Gefährten und Freunden“ (13; vgl. auch 18).36 Bei den gottesdienstlichen Versammlungen am Sabbat werden die Geschlechter räumlich getrennt: Das gemeinsame Heiligtum, in welchem sie jeweils am siebten Tag zusammenkommen, besteht aus einer doppelten Einfriedung, die eine abgesondert für Männer, die andere für Frauen. Denn auch Frauen hören gewöhnlich dem Vortrag zu, von demselben Eifer und demselben Streben beseelt. Die Mauer zwischen den beiden Räumen ist drei oder vier Ellen vom Boden hoch gebaut nach Art einer Brustwehr, der Teil darüber bis zur Decke ist offen gelassen. Hierbei waren zwei Gründe bestimmend: die der weiblichen Natur angemessene Zurückhaltung sollte gewahrt bleiben, sodann aber sollten die Frauen in Hörweite sitzen. (32 f)37

30

Siehe dazu Strugnell / Harrington, 59. T. Elgvin, in: DJD 34, Qumran Cave 4. XXIV, Oxford 1999, 505–533: 507–513. 32 Elgvin, 509. 33 Anmerkungsweise sei auf den Fluch des Verleugnens der Ehe hingewiesen: Abraham und Sara nach dem Genesis-Apokryphon (1QGenAp). Abraham leugnet, mit Sara verheiratet zu sein; darauf wird sie ihm vom Pharao weggenommen, bleibt aber auf wunderbare Weise wegen der Impotenz des Pharao bewahrt, von der dieser nur durch die Rückgabe Saras und das Gebet Abrahams befreit werden kann. 34 In Philo prob. findet sich bezüglich der Essener keine Aussage über Männer und Frauen. 35 Übers. nach K. Bormann, in: Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. L. Cohn u. a., Bd. 6, Berlin 1964, 51. 36 Übers. Bormann, 51. 37 Übers. Bormann, 55 f. 31

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Bei den Mählern nehmen auch Frauen teil: in der Mehrzahl alte Jungfrauen (͔͘΃͚͒͒‫)͚͎͠͞ͱ΃͒͡ ת‬, die ihre Reinheit nicht unter Zwang bewahrten, wie einige von den Priesterinnen bei den Griechen, als vielmehr durch freien Entschluß, aus eifrigem Streben und Sehnen nach Weisheit. Da sie mit ihr zusammen zu leben begehrten, kümmerten sie sich nicht um die Freuden des Körpers, weil sie nicht nach sterblicher, sondern nach unsterblicher Nachkommenschaft verlangten, welche allein die gottgeliebte Seele aus sich selbst hervorbringen kann, da der Vater intelligible Strahlen als Samen in sie eingehen ließ, durch welche sie die Lehrsätze der Weisheit betrachten kann. (68)38

Beim Mahl sitzen Männer und Frauen getrennt: „Die Sitzordnung ist so eingerichtet, daß Männer und Frauen getrennt sind, und zwar sitzen die Männer rechts, die Frauen links“ (69).39 Die Bedienung bei Tisch erfolgt durch die Jüngeren gegenüber den Älteren, „wie eheliche Söhne ihren Vätern und Müttern; denn sie betrachten die älteren Mitglieder der Vereinigung als ihre gemeinsamen Eltern, die ihnen näher stehen als die natürlichen Eltern“ (72).40 Bevor serviert wird, singt zunächst der Vorsteher einen Hymnus, dann die andern der Reihe nach, bis schließlich Männer und Frauen gemeinsam in den Refrain einstimmen (80). Bei der Pannychis schließlich (83–90) werden zunächst getrennte Chöre von Männern und Frauen gebildet; zunächst singt jeder Chor für sich oder sie singen im Wechselgesang, dann vereinen sie sich zu einem Chor in Analogie zum Gesang am Schilfmeer (86–88). Obgleich Angehörige der Therapeuten früher verheiratet gewesen waren, sind sie es offenbar nun nicht mehr. Sie leben je einzeln, kommen aber zu Mählern und Gottesdiensten zusammen, wobei auch hier auf strikte Trennung geachtet wird. In der „schönen Trunkenheit“ (89) des gemeinsamen Chores bei der Pannychis bleiben die beiden Chöre je wahrnehmbar. Ausdrücklich wird von zölibatären Frauen auf Lebenszeit gesprochen (68).

5. Josephus über das Verhältnis von Männern und Frauen bei den Essenern41 Diese (scil. die Essener) verwerfen die sinnlichen Freuden als Frevel, erachten aber die Enthaltsamkeit und das Sich-nicht-von-der-Leidenschaft-beherrschen-Lassen als 38

Übers. Bormann, 65. Übers. Bormann, 65. 40 Übers. Bormann, 66. 41 Es muss dahingestellt bleiben, ob Josephus ein historisch zutreffendes Bild zeichnet oder ob er seiner hellenistisch-römischen Leserschaft ein Idealbild vorstellen möchte. 39

Schöpfung und Ehe in Texten aus Qumran sowie Essenerberichten

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Tugend. Und über die Ehe herrscht bei ihnen ein geringschätziges Urteil, die fremden Kinder aber, die sie in einem für die Bildung aufnahmefähigen Alter aufnehmen, schätzen sie als Angehörige und prägen sie nach ihren Sitten; die Heirat und die eheliche Nachkommenschaft lehnen sie zwar nicht grundsätzlich ab, sie scheuen aber die Begehrlichkeit der Frauen und sind überzeugt, dass keine von ihnen einem Mann allein die Treue halten kann (Bell. 2,120 f).42 Es besteht aber auch ein anderer Verband der Essener, der in Lebensführung, Sitten und Gesetzen mit den übrigen übereinstimmt und sich nur in der Ansicht über die Ehe von ihnen scheidet. Sie glauben nämlich, dass diejenigen, die nicht heiraten, ein wichtiges Stück des Lebens außer Acht lassen, die Nachkommenschaft, vor allem aber, dass das Menschengeschlecht baldigst erlöschen würde, wenn alle ebenso dächten. Sie erproben jedoch drei Jahre lang die zukünftigen Gattinnen; wenn sie sich einer dreimaligen Reinigung unterzogen haben zum Beweis dafür, dass sie imstande sind, zu gebären, so führen sie sie heim. Während der Schwangerschaft ihrer Frau aber enthalten sie sich des ehelichen Verkehrs, ein Beweis dafür, dass sie nicht um der Lust, sondern um der Kinder willen heiraten (Bell. 2,160 f).43

In diesen Berichten ist weder von Ehescheidung noch von Wiederverheiratung die Rede. Die Zurückhaltung der erstgenannten Gruppe der Essener gegenüber der Ehe hat als Pendant die skrupulösen Ehebedingungen der zweiten Gruppe. Von Einehe auf Lebenszeit ist nicht die Rede.

6. Ertrag Hier soll zunächst der Ertrag für die Texte vom Toten Meer und den ihnen zugeordneten Berichten über die Essener und Therapeuten gesichtet, dann nach ihrer Bedeutung für neutestamentliche Aussagen gefragt werden. CD 4,20 f lässt sich für sich genommen eindeutig als ein durch die Schöpfung (Gen 1,27) begründetes Gebot der Einehe auf Lebenszeit verstehen; dafür könnte auch CD 5,1a sprechen. Die Fortsetzung CD 5,1b–6a mit dem Zitat aus dem Königsgesetz Dtn 17,17 in CD 5,2 macht eher eine Polemik gegen Polygamie wahrscheinlich. Das Königsgesetz der Tempelrolle verschärft die Ehegesetze für den König gegenüber Dtn 17,17: Er darf nur eine Frau haben, und diese aus seiner Familie; die Ehe endet mit dem Tod der Frau; danach heiratet er wieder eine Frau aus seiner Familie. Dem König ist Polygamie untersagt, die den andern Israeliten erlaubt ist. 4QInstruc42 Josephus, Bell. 2,120 f; Übers. nach: O. Michel / O. Bauernfeind (Hg.), Flavius Josephus, De bello Judaico. Der Jüdische Krieg, Griechisch und Deutsch I, Buch 1–3, München 1959, 204 f (leicht modifiziert). Zum zölibatären Leben vgl. auch Plinius Secundus d. Ä., naturalis historia 5,73: „gens (…) sine ulla femina, omni venere abdicata, sine pecunia, socia palmarum“; zitiert nach: A. Adam / C. Burchard (Hg.), Antike Berichte über die Essener, KlT 182, Berlin 21972, 38. 43 Michel / Bauernfeind, 212 f (leicht modifiziert).

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tion geht in seinen Aussagen zu Ehe und Familie eindeutig von der Einehe aus und begründet sein Ehebild durch Gen 1–2 (und 3). Von Scheidung und Wiederverheiratung ist in den erhaltenen Textteilen nicht die Rede; eine Deutung im Sinn einer Einehe auf Lebenszeit (vgl. CD 4,20 f) ist nicht ausgeschlossen. Philos Bild der Therapeuten legt Wert auf die Trennung der Geschlechter; er nennt solche, die verheiratet gewesen waren und solche, die schon immer zölibatär gelebt haben. Josephus weiß von Essenern, die zölibatär leben, und von solchen, die (in Erfüllung von Gen 1,28) heiraten. Dem Befund ist – außer in der Tempelrolle bezogen auf die Israeliten – eindeutige Kritik an Polygamie gemeinsam (Königsgesetz der Tempelrolle), CD 4,20 f lässt sich darüber hinaus im Sinne einer Einehe auf Lebenszeit verstehen. Nur Philo (Therapeuten) und Josephus (eine Gruppe der Essener) kennen dauerhafte (z. T. lebenslange) zölibatäre Lebensweise. Bezogen auf das Neue Testament lässt sich der Ertrag zusammenfassen:44 CD 4,20 f spielt für Mk 10,2–12/Mt 19,3–12 insofern eine entscheidende Rolle, als jeweils Gen 1,27 (ĠĭĘē ēīĔ ėĔĪģĘ īĞę – ք΃͖ͤ͞ ͛͒‫ͦ͜ضͱ ת‬ ֐͖͐ͤ͘͡͠͞ ͒‫ )ͣͮͥ͠׈‬zitiert wird. Steht das Zitat in Mk / Mt im Kontext der Ehescheidung, so in CD 4,20 f in der Polemik gegen Wiederverheiratung oder Polygamie. In den vorgestellten Texten ist, wo Ehe zugelassen wird, die Einehe im Blick (siehe 4QInstruction und das Königsgesetz der Tempelrolle), die Tempelrolle rechnet jedoch durchaus mit Polygamie bei den Israeliten. Im Neuen Testament ist ausschließlich von der Einehe die Rede.45 Diese kann im Sinn der möglichen Deutung von CD 4,20 f auch als Einehe auf Lebenszeit verstanden werden, sei es in dem von Paulus zitierten apodiktischen Herrenwort ͝‫( ͚͒͞ضͱ͚ͤ΃ͪͨ ר‬1Kor 7,10; vgl. Lk 16,18), sei es in der Qualifizierung der Scheidung als Ehebruch (Mk 10,2–9), sei es im Verbot einer neuen Heirat (1Kor 7,11a) nach der Trennung.46 Gen 2,24, das in 4Q416 Frgm. 2 iv 1 (sichere Ergänzung) und 4 die Ermahnung bestimmt, wird in Mk 10,7–9/Mt 19,5 f zum Argument für die Untrennbarkeit der Ehe, in 1Kor 6,16 für die Unmöglichkeit des Verkehrs mit der Dirne.47 Auch zur Hierarchie der Geschlechter nach Gen 3,16 in 1Kor 11,3; 14,34; 1Tim 2,12 bietet 4Q416 Frgm. 2 iv 7 eigene Realisationen. 4QInstruction harrt noch der Auswertung für die neutestamentliche Paränese.48

44

Vgl. Schaller, Gen.1.2 (s. Anm. 1), 187–190; Schaller, Ehescheidung (s. Anm. 2), passim. 1Tim 3,2 lässt kaum die Interpretation zu, in den Gemeinden der Pastoralbriefe hätte es Polygamie gegeben, von der die Episkopen auszunehmen wären. 46 Einen guten Überblick gibt C. Landmesser, Art. Ehescheidung II. Neues Testament, RGG4 2, Tübingen 1999, 1094 f; vgl. dazu Schaller, Ehescheidung, 122 f. 47 Zu Eph 5,31 vgl. Schaller, Gen.1.2, 189. 48 Ein erster Schritt ist mit der Dissertation Rey, 4QInstruction (s. Anm. 14) gemacht. 45

Reinhard Feldmeier

Die Wirklichkeit als Schöpfung Die Rezeption eines frühjüdischen Theologumenons bei Paulus

1. Die jüdische Tradition 1.1 Kosmos – Natur – All. Worte für „Welt“ Das Wort „Schöpfung“ ist heute auch außerhalb des eigentlich religiösen Kontextes geläufig: In verschiedenen Zusammenhängen wird derzeit ganz unbefangen von der Bedrohtheit der Schöpfung gesprochen und von der Notwendigkeit ihrer Bewahrung. Ich nehme das immer noch mit einem gewissen Erstaunen wahr, denn wenn man Anfang der 70er Jahre im gesellschaftlichen Diskurs das Wort „Schöpfung“ verwendete, dann galt dies als Ausweis rückschrittlicher Apologetik, nicht fortschrittlicher Ökologie. Hier ist nicht der Ort, diesen Paradigmenwechsel und die darin zum Ausdruck kommende Veränderung der Weltwahrnehmung näher zu kommentieren, so reizvoll das sein könnte. Die oben gemachte Feststellung soll hier nur als Hinweis dafür dienen, dass die uns gegenwärtig wieder so vertraute Rede von der Schöpfung so selbstverständlich keineswegs ist – und dass ihre Bedeutung vom jeweiligen Kontext entscheidend mitbestimmt wird. Das ist nicht erst heute so; die Prägung des Wortes ΂͚ͥ͐ͤͣ „Schöpfung“ als Inbegriffs des Seienden ist eine theologische Leistung des Diasporajudentums, mit der dieses – in Auseinandersetzung mit anderen Weltbildern – die Implikationen des biblischen Glaubens für sein Wirklichkeitsverständnis auf den Begriff gebracht hat, eine Leistung, von der auch das Christentum profitiert hat. Beides soll hier kurz skizziert werden. Spricht man in der griechischsprachigen Antike von der Wirklichkeit als ganzer, so sagt man entweder generalisierend ͥ‫„ ͞׀ ׬‬das Sein“ bzw. ͥ‫פ‬ ͍ͥ͒͡͞ „das All“ oder bedient sich qualifizierterer Begriffe wie ΂ͭͤͣ͝͠ oder ͚ͧͮͤͣ. Qualifizierter sind letztere Begriffe, insofern beiden ein jeweils spezifischer Assoziationshorizont eignet: Bei ΂ͭͤͣ͝͠, das bekanntlich auch Schmuck und Ordnung heißt, steht die Vorstellung der Wohlordnung des Ganzen im Vordergrund; bereits Platons Timaios hatte die Welt so als Ergebnis einer Gestaltung durch die göttliche Vernunft gedeutet, und für die Stoiker ist dieser Kosmos gerade als die vom Logos durchwaltete und so vernünftig bestimmte Welt Gegenstand religiöser Verehrung und normative

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Reinhard Feldmeier

Instanz der Daseins- und Handlungsorientierung in einem (vgl. Sen.ep. 41). Auch der Begriff ͚ͧͮͤͣ kann einen solchen normativen Gehalt haben (vgl. das stoische ֽ͔͎ͦͪͣ͜͝͠͠͠͝͞ ͥ‫ ͞ض͗ ͚͖ͤͮͧ ط‬/ secundum naturam vivere), wobei allerdings mit dem Begriff ͚ͧͮͤͣ (als Derivat von ͖͚ͧͮ͞ „wachsen lassen“, „erzeugen“) primär die Assoziation von „Natur“ im Sinne der sich selbst erhaltenden und fortpflanzenden Lebendigkeit verbunden ist. Das hellenistische Judentum (und in seinem Gefolge das Christentum) hat alle diese Begriffe vorgefunden und sich ihrer bedient. Nun sind solche Wörter nicht neutral: Die Sprache bestimmt das Denken, und wer bestimmte Begriffe verwendet, begreift damit seine Welt auf eine bestimmte Weise. Konkret: Wer vom Kosmos, von der Natur, vom Seienden spricht, deutet damit die Wirklichkeit als in sich bestehendes bzw. sich selbst reproduzierendes System. Das Göttliche wird dem zugeordnet. Das kann durchaus so geschehen, dass man dieses Göttliche als Ursprung des Seienden bestimmt und als Bedingung der Möglichkeit seiner Ordnung oder Lebendigkeit. Doch auch in diesem Fall wird das, was Gott ist bzw. die Götter sind, im Bezug auf das bestimmt, was man in dieser Wirklichkeit vorfindet. Erst recht gilt das dort, wo Gott bzw. die Götter Exponenten der in der Welt waltenden Mächte sind – letztlich sind Gott bzw. die Götter nichts anderes als „Grundgestalten der Wirklichkeit“, wie es Hermann Kleinknecht gesagt hat,1 oder um mit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zu reden: Als in der Wirklichkeit wirksame Macht ist das Göttliche „das ΂΃͖‫ ͥͥ͞͠ل‬uns gegenüber“ und damit „Prädikatsbegriff“.2 Diese bereits in der Begrifflichkeit angelegte Vorordnung der Ontologie vor die Theologie aber ließ sich nicht ohne weiteres mit dem biblischen Gottesglauben in Einklang bringen, der in Gott den souveränen Schöpfer und Herrn sah und dessen Weltüberlegenheit etwa in dem vom Frühjudentum gebildeten oder doch geprägten Gottesprädikat ͒ͥ͡͞͠΂΃͍ͥͪ΃ auf den Begriff brachte,3 das dann im christlichen Glaubensbekenntnis zwischen die Prädikate „Vater“ und „Schöpfer“ tritt. Schon früh gab es verschiedene Versuche, dieses Gottesverständnis in die griechische Begrifflichkeit zu übersetzen. In gewisser Weise genial ist die Personalisierung der Ontologie in der LXX-Übersetzung von Ex 3,14: Aus ͥ‫ ͞׀ ׬‬wird die göttliche Selbstvorstellung: ֐͔ͯ ͖͚֬͝ ֽ ‫͞ט‬. Ähnliches tut Philon, wenn er über der platonischen Welt der Ideen noch einen ‚Großkönig‘ als höchsten Gipfel des Geistigen annimmt.4 Eine andere Mög1

H. Kleinknecht, Art. ͱ͖ͭͣ A. Der griechische Gottesbegriff, ThWNT III, 1938, 65–79: 68. U. v. Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen I, Berlin 1931, 17 f. 3 Vgl. R. Feldmeier, Nicht Übermacht noch Impotenz. Zum biblischen Ursprung des Allmachtsbekenntnisses, in: W. Ritter / R. Feldmeier (Hg.), Der Allmächtige. Annäherungen an ein umstrittenes Gottesprädikat, Göttingen 1997, 13–42. 4 opif. 71. Dabei ist Philo insofern biblischem Denken verpflichtet, als für ihn dieser oberste Gott zugleich der Schöpfer der Ideen und der Welt ist und über beidem steht (vgl. opif. 15 ff). 2

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lichkeit ist die Neuinterpretation der Begriffe durch den veränderten Kontext. Um das Gemeinte gleich an Paulus zu exemplifizieren: Der Apostel spricht relativ häufig vom Kosmos, wenn er das bezeichnen will, was das deutsche Wort „Welt“ meint. Allerdings meint ΂ͭͤͣ͝͠ für Paulus nicht wie in der paganen Tradition die Welt als unmittelbaren Ausdruck der göttlichen Ordnung und somit als zu verehrende und normative Größe; als die von Gott geschaffene Welt (Röm 1,20) ist der Kosmos vielmehr von seinem Schöpfer zu unterscheiden. So kann er dann auch als die durch die Sünde des Menschen kontaminierte Wirklichkeit5 in Opposition zu Gott treten: Er kann sich der Gotteserkenntnis verweigern, sodass die ͤͧ͐͒͠ ͥٓ͠ ΂ͭͤͦ͝͠ in expliziten Gegensatz zur Weisheit Gottes tritt (1Kor 1,20 f). Die Möglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis wird hier faktisch immer verfehlt.6 Entsprechend versklaven die Mächte des Kosmos den Menschen (Gal 4,3). Doch trotz dieser Widergöttlichkeit bleibt der Kosmos Gottes Schöpfung und damit auch Adressat des göttlichen Versöhnungshandelns (2Kor 5,19). Der bemerkenswerteste Vorgang aber war wohl die Tatsache, dass das Diasporajudentum einen eigenen Begriff für das Ganze der Wirklichkeit geprägt hat, und zwar bezeichnenderweise v. a. dort, wo es diese Wirklichkeit in Beziehung zu seinem Gott in den Blick nimmt. Dieser Begriff ist der der ΂͚ͥ͐ͤͣ,eben das, was wir im Deutschen mit „Schöpfung“ wiedergeben.

1.2 Der Begriff der ΂͚ͥ͐ͤͣ im hellenistischen Judentum Dabei ist, um die im Folgenden ausgeführte These gleich vorwegzunehmen, weder das Wort ΂͚ͥ͐ͤͣ noch die Vorstellung einer göttlichen Weltschöpfung etwas spezifisch Jüdisches. Spezifisch jüdisch ist vielmehr die Verbindung der Schöpfungsaussage mit dem Begriff ͼ͕͋͟͞͝. Was ist gemeint? Dass die Welt durch einen Gott bzw. die Götter gemacht wurde, wird in zahlreichen antiken Schöpfungsmythen dargestellt – archaisch als Zeugung und Kampf der Götter bei Hesiod (theog. 116 ff), reflektierter als Überwindung des Chaos durch das ordnende Wirken eines Gottes am Beginn von Ovids Metamorphosen (met. 1,5 ff, bes. 1,21 ff). Diese Überzeugung wurde dann auch wiederholt philosophisch ausgedeutet, wie etwa Platons Timaios und dessen wiederholte Kommentierung im Platonismus, aber auch der Preis der göttlichen Weltherrschaft im Zeushymnus des Stoikers Kleanthes zeigen. Als Begriff für das schöpferische göttliche Handeln wurde – neben Verben wie ͚͖͡͠‫͞ل‬, ͍͖͚ͤͤ͜͡͞ und ͱ͖͖͚ٓ͜͝͠͞ – v. a. ͕͚ͦ͘͝͠΃͔ͭͣ samt 5 6

Vgl. Röm 5,12 (s. u. Anm. 13). Röm 1,18 ff; zur Deutung s. u. Abschnitt 2.1.

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seinen Derivaten verwendet (so etwa bei Platon in Tim. 40c oder polit. 530a). Bemerkenswerterweise hat jedoch die LXX eben diesen Begriff, der eine deutliche Affinität zum Verfertigen eines Handwerkers hat, kein einziges Mal für die Schöpfertätigkeit Gottes verwandt.7 Stattdessen hat sie das hebräische ēīĔ mit ΂͖͚ͥ͐͗͞ und dessen Derivaten wiedergegeben. Nun ist, wie gesagt, auch dieser Begriff schon in der Profangräzität gebräuchlich. Das Verb hat dort die Bedeutung „gründen“, „errichten“, das Substantiv kann entsprechend die Gründung oder Ansiedlung (etwa einer Kolonie), also die „Setzung“ eines Gemeinwesens durch die Absicht und den Willen eines Gründers bezeichnen.8 Es ist also durchaus nicht das Wort, das einem Griechen als erstes einfiele, wenn er an Schöpfung denkt! Ehe darauf näher eingegangen wird, noch eine weitere sprachliche Beobachtung: Für ΂͚ͥ͐ͤͣ als Bezeichnung der Welt als des Resultats der göttlichen Schöpfertätigkeit, also für unser Wort „Schöpfung“, scheint es im AT kein hebräisches Äquivalent zu geben; in der LXX kommt ΂͚ͥ͐ͤͣ nur viermal in Texten vor, die aus dem Hebräischen übersetzt wurden, und dort wurde der Begriff von den Übersetzern interpretierend eingefügt.9 Dagegen findet er sich vergleichsweise häufig in ursprünglich griechisch verfassten Schriften wie Jdt, SapSal und 3Makk sowie in den Pseudepigraphen, dreimal auch in Sir. Die Verwendung des Substantivs zeigt eine Ontologisierung der Schöpfungsvorstellung und damit eine nicht unbedeutende Hellenisierung der jüdischen Theologie. Wenn nun aber die göttliche Schöpfungstätigkeit mit ΂͖͚ͥ͐͗͞ „gründen“ wiedergegeben und deren Resultat, die ganze Welt, als göttliches Gründen, als ΂͚ͥ͐ͤͣ bezeichnet wird,10 so bedeutet dies gegenüber allen anderen Begriffen für die Welt und Wirklichkeit eine klare Neuinterpretation, und zwar in folgenden Aspekten: 1. Diese Welt hat nicht aus sich selbst Bestand, ihr Wesen besteht nicht darin, dass in ihr eine Ordnung waltet oder dass sie Leben hervorzubringen vermag, sondern sie wurde durch einen göttlichen Willensakt hervorgebracht und wird durch diesen erhalten. „Die Beständigkeit des Universums beruht nicht auf sich selbst, sondern ist begründet, gesetzt. Das Universum ist das Abbild der Beständigkeit der Liebe und der Treue des Schöpfers.“11 2. Als Schöpfer ist dieser Gott ihr souveräner Herr, der in seinen Möglichkeiten nicht vom Seienden eingeschränkt ist, sondern es aus dem 7

W. Förster, Art. ΂ͥ͐͗ͪ ΂ͥ͜. ThWNT III, 1938, 999–1034: 1022. H. G. Liddell / R. Scott, A Greek-English Lexicon, Oxford 91996, 1003: founding, settling. 9 Laut E. Hatch / H. A. Redpath, A Concordance to the Septuagint, Oxford 1897, s. v., gibt ΂͚ͥ͐ͤͣ in Ps 103[104],24; 104[105],21 ĢĜģĪ „Eigentum“, in Spr 1,13; 10,15 ĢĘė „Güter“ wieder. 10 Im Wort ΂͚ͥ͐ͤͣ ist noch das Moment des göttlichen Setzens bestimmender als in ΂ͥ͐ͤ͒͝. 11 R. Brágue, Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken, München 2006, 64. 8

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Nichts hervorruft. In diesem Sinn unterscheidet etwa Philon in somn. 1,76 zwischen ͕͚ͦ͘͝͠΃͔ͭͣ und ΂ͥ͐ͤͥͣ͘: „Wie … die aufgehende Sonne das Verborgene an den Körpern zeigt, so brachte auch Gott, der alles geschaffen hat, es nicht nur ans Licht, sondern er schuf auch das, was vorher nicht war, da er nicht nur Werkmeister (͕͚ͦ͘͝͠΃͔ͭͣ), sondern ein Schöpfer (΂ͥ͐ͤͥͣ͘) ist“. 3. Insofern ΂͚ͥ͐ͤͣ die ganze Wirklichkeit als Verwirklichung eines souveränen göttlichen Willens bezeichnet, setzt dieser Wille auch die Bedingungen für das, was möglich ist. Nur so ist eine Aussage von Gott wie die in SapSal 5,17: „und er wird die Schöpfung zur Waffe machen in Abwehr der Feinde“, vorstellbar oder auch die „Hoffnung wider Hoffnung“ eines Abraham, der sich nicht an den Möglichkeiten des Seienden orientiert, sondern an dem Gott, der das Nichtseiende ins Sein ruft (Röm 4,17 f). Nicht zufällig entwickelt sich in diesem Denkzusammenhang dann die Überzeugung von einer Auferstehung der Toten (ebd., vgl. 2Makk 7,28 f). 4. Insofern der Zusammenhang von Schöpfer und Schöpfung nicht in einer ontologischen Verbundenheit, sondern im göttlichen Willen gründet, kann sich dieser Gott dann auch zu seiner Schöpfung willentlich in Beziehung setzten; die Ontologie wird der Theologie nachgeordnet. Das frühe Christentum hat sich diese theologische Errungenschaft des antiken Judentums im Blick auf sein Wirklichkeitsverständnis zu Eigen gemacht. Vor allem dessen erster großer Denker Paulus hat dies zugleich im Horizont seiner Theologie fruchtbar weiter entfaltet. Ich will im Folgenden skizzieren, wie der Apostel v. a. im Römerbrief dieses Theologumenon rezipiert und welche Implikationen dies für das Verhältnis von Gott und Welt und damit für das Verständnis der Wirklichkeit hat.

2. Die paulinische Rede von der Schöpfung 2.1 Die strikte Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf In Röm 1,18–3,20 entfaltet bekanntlich Paulus seine These von der Rechtfertigung aus Glauben zunächst nach ihrer negativen Seite hin, indem er zeigt, dass die Menschheit Gott ungehorsam war und deshalb unter Gottes Zorn steht. In 1,18–32 wird dies zuerst am Beispiel der Heiden vorgeführt. Diese kennen zwar nicht die Tora, aber es wäre ihnen möglich gewesen, Gottes Macht und seine Gottheit aus seinen Schöpfungswerken zu erkennen (1,19 f); der Kosmos erscheint hier geradezu als Ort der Selbstoffenbarung Gottes. Doch diese Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis wurde und wird faktisch immer verfehlt, weil die Menschen „die Herrlichkeit des

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unvergänglichen Gottes in das Bild eines vergänglichen Menschen und das von Vögeln und Vierfüßlern und Kriechtieren verkehrt haben“ (1,23). Die Argumentation entstammt dem apologetischen Arsenal der Diasporasynagoge; sie rechtfertigt die bildlose jüdische Gottesverehrung durch Kontrastierung mit den anthropomorphen und theriomorphen Götterbildern. Das ist, wie gesagt, Polemik, der es mehr um den Effekt zu tun ist denn darum, dem religiösen Gegner gerecht zu werden.12 Doch hinter der Polemik steckt ein ernsteres Anliegen. Über die bloße Kritik anderer Religiosität hinaus hat diese Abgrenzung auch den Zweck, deutlich zu machen, dass der biblische Gott nicht in irgendeiner Weise ein Aspekt von Welt ist, eben nicht ein wie auch immer gearteter „Prädikatsbegriff“, sondern der ihr frei gegenüberstehende Schöpfer und Herr. Ihm als dem Ursprung allen Seins (Röm 4,17: ΂͒͜٠͞ ͥ‫ )͒ͥ͞׀ ͣו ͒ͥ͞׀ ר͝ פ‬gebührt im Gegensatz zu allem Geschaffenen allein Anbetung. Der Apostel bringt dies denn auch sehr klar auf den Begriff, wenn er seinen Vorwurf dahingehend präzisiert, dass die Heiden „der Schöpfung anstelle des Schöpfers religiöse Verehrung erwiesen“ und damit „die Wahrheit Gottes in Lüge verkehrt haben“ (1,25). Dem polemischen Charakter dieser Ausführungen gemäß ist hier alles auf die Entgegensetzung von Schöpfer und Schöpfung konzentriert. Aber diese Entgegensetzung erschließt schon die Weltwahrnehmung in spezifischer Weise, denn so kommen gerade auch das Leid und das Elend dieser Welt mit aller Deutlichkeit in den Blick. Diese Schöpfung steht, so sagt es Röm 1, unter Gottes Zorn, sie ist, wie Paulus dann in Röm 5 und nochmals in Röm 8 entfaltet, durch die Sünde kontaminiert und dem Vergehen unterworfen. Mit erstaunlicher Schärfe nimmt der Apostel die Unvollkommenheiten der Schöpfung wahr, und er gibt dafür auch im Rückgriff auf Gen 3 eine heilsgeschichtliche Erklärung. Damit ist er – neben den Verfassern der SapSal und der ApkMos – der erste uns bekannte Theologe aus dem Bereich des antiken Judentums, der die negativen Aspekte der „sehr gut“ geschaffenen Welt durch Rückgriff auf die Urgeschichte erklärt und Gen 3 als Ätiologie des Nichtigen, des Bösen und des Todes deutet.13 Als Folge der adamitischen Übertretung ist die Verdammnis über alle Menschen gekommen (Röm 5,18), die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen (8,20). Doch dies ist nur die eine, gleichsam die dunkle Seite der Medaille. Schon die Polemik von Röm 1,18–32 hat ja ihren Sinn letztlich darin, das paulinische Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Glauben verständlich zu machen. Denn die strikte Unterscheidung von Schöpfer und 12 Zu den Götterbildern vgl. Porphyrius, Über die Götterbilder; speziell zu der auch im paganen Bereich umstrittenen Tierverehrung vgl. Plutarch, de Iside 71–76. 13 Vgl. erneut Röm 5,12: „Durch einen Menschen kam die Sünde in den Kosmos und durch die Sünde der Tod“ (s. o. Anm. 5); verkürzt findet sich dieselbe Aussage nochmals 1Kor 15,21a.

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Geschöpf ermöglicht eine neue Bestimmung des Verhältnisses beider, die der Schöpfung zugute kommt. Damit sind wir beim nächsten Text, in dem der Apostel näher auf die Schöpfung eingeht, bei Röm 8,18 ff.

2.2 Das Stöhnen der Schöpfung und ihre sehnsüchtige Erwartung Röm 8 ist der Zielpunkt des ersten Hauptteiles des Römerbriefs, wo Paulus das neue Leben als Folge der Rechtfertigung schildert. Rechtfertigung bedeutet in letzter Konsequenz, das entfaltet 8,1–17, die ֭ͦ͠ͱ͖ͤ͐͒, die Einsetzung derer, die in Christus sind, zu Söhnen Gottes. Das heißt: Aus Geschöpfen werden Kinder! Als solche haben sie Frieden mit Gott und Zugang zu ihm (vgl. 5,1 f), sie sind mit seinem Geist erfüllt und haben so bereits jetzt an der lebendig machenden Macht Gottes teil (8,9 ff), sie sind der Teilhabe an der göttlichen Herrlichkeit gewiss (8,17). Die Gottesgegenwart bestimmt bereits so das Leben der Glaubenden, dass die bedrängenden Aspekte der Schöpfung in den Hintergrund treten. Entsprechend heißt es in 8,18 weiter: „So bin ich der Überzeugung, dass die Leiden der Gegenwart nicht ins Gewicht fallen gegenüber der künftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.“ Nun liegt es nahe, angesichts des Leidens in und an der Welt dies als Befreiung der frommen Seelen von der Nichtigkeit des irdischen Jammertals zu verstehen. So aber will der Apostel die րͮͥ͜͡͠΃͚ͪͤͣ ͥٓ͠ ͤͯ͒ͥͣ͝͠ ֝͝٠͞, von der er in 8,23 spricht, keineswegs verstanden wissen. Vielmehr nimmt er gerade aus der Perspektive des in der Gottesgemeinschaft begründeten Heils noch einmal in aller Schärfe die Unerlöstheit der ganzen Schöpfung wahr, eben ihr Stöhnen und Seufzen (8,20). Was Paulus dabei genau mit ΂͚ͥ͐ͤͣ meint, ist umstritten – am ehesten dürfte damit hier die außermenschliche Schöpfung gemeint sein,14 die geradezu als ein lebendes Wesen wahrgenommen wird, das leidet und in diesem Leiden sich letztlich nach Gottes Eingreifen sehnt. Ihr Seufzen wird von Paulus als Zeichen von ր͡͠΂͒΃͕͒͠΂͐͒, als Ausdruck einer sehnsüchtigen Erwartung gedeutet, der Hoffnung auf Befreiung von der Sklaverei des Vergehens. Und diese Hoffnung ist nicht vergebens – eben weil sie sich auf Gott den Schöpfer richtet. Als Schöpfer steht dieser Gott zum einen selbst über dem universellen Verhängnis der Nichtigkeit und des Vergehens, zum andern bleibt er das Ziel des durch ihn geschaffenen Alls (11,36, vgl. 1Kor 8,6). Er 14 ΂͚ͥ͐ͤͣ wird hier jedenfalls von den Christen unterschieden. Der Bezug auf die Engel passt nicht, da diese ja nicht der Nichtigkeit unterworfen sind. Vertreten wird auch der Bezug auf die außerchristliche Menschheit, aber auch das überzeugt bei näherem Zusehen nicht; die Menschheit soll ja missioniert werden und partizipiert daher nicht nur an der Offenbarung der Kinder Gottes. Zum Ganzen vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer II, EKK 6.2, Düsseldorf 42003, 153.

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hat zwar diese Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen, aber „auf Hoffnung hin“ (Röm 8,20). Anders also als das schlechthin jenseitige Göttliche der platonischen Metaphysik bleibt der von seiner Schöpfung strikt unterschiedene Schöpfer mit dieser verbunden, weil er als ihr Ursprung und Ziel sie an sich gebunden hat. Damit ist klar, was der positive Sinn der paulinischen Entgegensetzung von Schöpfer und Schöpfung ist: An die Stelle eines seinsmäßigen Zusammenhangs des Göttlichen mit der Wirklichkeit, welche deren Mängel gegenüber der göttlichen Vollkommenheit immer nur als ontologische Defizite interpretieren kann, tritt die strikte Unterscheidung beider – und zwar die Unterscheidung als Bedingung der Möglichkeit von Beziehung und damit von Gemeinschaft. An die Stelle gleichbleibender Ontologie tritt die Geschichte; als Schöpfung wird diese Welt eingebunden in die von Gott bestimmte Heilsgeschichte zwischen Fall und Gericht bzw. Erlösung.15

2.3 Die eschatologische Dimension der Rede von der Schöpfung Die Rede von der Schöpfung hat also bei Paulus letztlich eine soteriologische Pointe; sie macht deutlich, „daß die Schöpfung als ganze und vor allem der Mensch als ihr durch die Liebe des Schöpfers in besonderer Weise ausgezeichneter Teil es von Anfang an mit dem Erlöser zu tun haben“.16 Deswegen kann der Apostel dann auch umgekehrt seine Erlösungshoffnung unter Rekurs auf Gottes Schöpfungshandeln plausibel machen – im Auferstehungskapitel 1Kor 15 im Blick auf das Wirken Gottes in der Schöpfung, das immer wieder aus Totem Lebendiges entstehen lässt, in Röm 4 unter Bezug auf die creatio ex nihilo. Gott ist als der Schöpfer der Erlöser. Und als der Erlöser bleibt er der Schöpfer, der in Christus als der die Glaubenden von neuem Schaffende gegenwärtig und wirksam ist. Deshalb kann Paulus in 2Kor 5,17 die Spitzenaussage formulieren, dass für diejenigen, die in Christus sind, das Alte vergangen und Neues geworden ist, dass hier bereits die neue Schöpfung gegenwärtig ist. 15

Vgl. O. Wischmeyer, ͇̻͆̈́̈́ und ̼̻̻̈́̈́ͅ bei Paulus. Die paulinische Rede von Schöpfung und Natur; in: E.-M. Becker (Hg.), Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des NT, Tübingen 2004, 207–228: 210: „΂͚ͥ͐ͤͣ ist also weder geschichtslos gleichbleibende noch sich nach inneren Notwendigkeiten entwickelnde Natur, sondern das mächte- und epochenmäßig strukturierte Schöpfungswerk, das ins Dasein gerufen ist und auf Vernichtung – so die Mächtesphäre des Todesbereiches – oder auf Vollendung wartet.“ 16 O. Hofius, Christus als Schöpfungsmittler und Erlösungsmittler. Das Bekenntnis 1Kor 8,6 im Kontext der paulinischen Theologie, in: U. Schnelle / Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie, Göttingen 2000, 47–58: 56.

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Das Ziel des Gesetzes nach Röm 10,4–13

Berndt Schaller, dem dieser Beitrag gewidmet ist, ist ein Ausleger der Schrift, bei dem man unter anderem eins lernen kann: Geduld beim Versuch, einen Text zu verstehen, Präzision, Hartnäckigkeit. In der neueren Literatur mag es manchmal scheinen, als werde die Bedeutung eines Textes wie die Halacha (mEd 1,5) nach der Mehrheit entschieden – verlockend suggestiv sind die Listen mit immer mehr Namen, wie sie in den Anmerkungen üblich geworden sind (und vielleicht auch unvermeidlich). Doch die Mehrheit kann irren, Trends kommen und gehen. Was bleibt, ist der Text und seine Probleme, und da hilft nur eins: Genau hinsehen, immer und immer wieder. Sich nicht mit ungenauen Erklärungen zufrieden geben. Den Wahlspruch Schallers ernst nehmen: „Das Philologische muss stimmen, es muss – mit Hermann Cohen zu sprechen – ‚immer in Ordnung sein‘.“1 Die Wahl des Textes Röm 10,4–13 hat eine persönliche Geschichte, die 20 Jahre zurückreicht. Als ich als Student mit Berndt Schaller über das Thema für die Hauptseminararbeit sprach, verwies er mich an Römer 10, etwa mit den Worten: Was Paulus da eigentlich sagen wolle, sei bis heute nicht wirklich geklärt. Ist es das mittlerweile? Einigkeit über den Sinn des Textes besteht nach wie vor nicht, im Gegenteil. Mir scheint aber, dass die Literatur der letzten 20 Jahre wichtige Hinweise gegeben hat, die es möglich machen, die Argumentation des Paulus zumindest in den Hauptzügen nachvollziehen zu können.

1. Röm 9,30–10,3 Ausgangspunkt ist die Feststellung: Heiden, die Gerechtigkeit nicht verfolgt haben, haben Gerechtigkeit erlangt, nämlich Glaubensgerechtigkeit. Israel aber, obwohl es ein Gesetz verfolgte, dessen Zweck die Gerechtigkeit ist,2 1 B. Schaller, ̴̳̹͂́́̽ – ̹͉̻͂̓́̈́̽̾̈́. Zur Übersetzung und Deutung von Röm 11,15, in: W. Kraus u. a. (Hg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, WUNT 162, Tübingen 2003, 135–150: 135 (unter Bezug auf R. A. Fritzsche, Hermann Cohen aus persönlicher Erinnerung, Berlin 1922, 10). 2 ̿ͭͣ͝͠ ͕͚΂͚͒ͤͮͣ͘͠͞, verstanden als Gen. des Zweckes wie Röm 5,18 ͕͚΂͚͒͐ͪͤͣ ͗ͪ‫ͣض‬, vgl. BDR § 166. Auch eine Hypallage (O. Hofius, Zur Auslegung von Römer 9,30–33 [1993], in:

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ist nicht – man erwartet: zur Gerechtigkeit, nämlich Glaubensgerechtigkeit; Paulus aber schreibt – „zum Gesetz“ gelangt (V. 30–31). Was ist mit der eigentümlichen Wendung ִͤ΃͒‫΂׈͠ ͭ͞͠͝͞ ͖ͣ֬ ͜ר‬ ֔ͧͱ͖͒ͤ͞ gemeint? Bleibt man streng beim Text, wird man zunächst einmal sagen müssen: Der Satz ist nicht klar, am Schluss bleibt der Leser hängen, liest noch einmal von vorn. Nimmt man V. 30–31 für sich, lässt sich vorerst nur erahnen, was Paulus sagen will: Irgendwie scheint es ihm um den Zweck, um die Intention,3 um das Ziel des Gesetzes4 zu gehen. M. E. versteht man ͖֬ͣ ͭ͞͝͠͞ ͠‫ ͖ͤ͒͞ͱͧ֔ ΂׈‬am besten als Metonymie. „Gesetz“ steht hier metonymisch „für den Zweck des Gesetzes, eben die Gerechtigkeit“5, und zwar für die Glaubensgerechtigkeit, wie sie, recht gelesen, vom Gesetz selbst bezeugt wird (vgl. 3,21 f).6 V. 32 f gibt den Grund dafür an, warum Israel nicht „zum Gesetz“ gelangt ist. Weil sehr viele aus Israel7 an den Stein des Anstoßes gestoßen sind. Weil sie, mit anderen Worten, „auf Christus nicht mit Glauben, sondern mit Werken antwortete[n]“ 8 (9,32). Diese Reaktion führt ins Unheil, ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 155–166: 162) ist möglich, wenn auch unwahrscheinlich (vgl. C. E. B. Cranfield, Some Notes on Romans 9:30–33, in: E. E. Ellis / E. Gräßer [Hg.], Jesus und Paulus, FS W. G. Kümmel, Göttingen 1975, 35–43: 36–38). Der Sinn ist jedenfalls: Israel hat die bessere Ausgangsposition als die Heiden, weil es mit dem Gesetz immer schon Gerechtigkeit verfolgt. Dass der Zweck des Gesetzes die Gerechtigkeit ist, ist für sich genommen übrigens kein Missverständnis (trotz Gal 2,21; anders viele, z. B. E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980, 268). Das Nähere dazu sagt Paulus im Folgenden. 3 Z. B. F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus, FRLANT 179, Göttingen 1998, 85: „unter ‚Erreichen‘ des Gesetzes [ist] die Erkenntnis seiner Intention und das ihm wahrhaft entsprechende Verhalten zu verstehen“. 4 Z. B. J. A. Fitzmyer, Romans, AncB 33, New York 1993, 578: „Paul’s sentence is not clear; he undoubtedly means something like, ‚Israel was pursuing uprightness of the law, (but) did not achieve (such) uprightness,‘ i. e., did not reach the goal“; S. R. Bechtler, Christ, the ͎ͣ͜͠ͅ of the Law: The Goal of Romans 10:4, CBQ 56, 1994, 288–308: 294. 5 F. Siegert, Argumentation bei Paulus. Gezeigt an Röm 9–11, WUNT 34, Tübingen 1985, 142. Vgl. H. Lietzmann, An die Römer, HNT 8, Tübingen 41933, 94: „gemeint ist … ganz präzise ͖֬ͣ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞͞“; Hofius, Auslegung (s. Anm. 2), 162 f. 6 Vgl. W. Reinbold, Paulus und das Gesetz. Zur Exegese von Römer 9,30–33, BZ 38, 1994, 253–264: 261–263; C. Burchard, Glaubensgerechtigkeit als Weisung der Tora bei Paulus, in: C. Landmesser u. a. (Hg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, FS O. Hofius, BZNW 86, Berlin 1997, 341–362: 358 f: Israel kam „trotz seiner laufenden Bemühung, den ͭͣ͞͝͠ (sc. ͕͚΂͚͒ͤͮͣ͘͠͞) zu erfüllen, damit nicht zu Rande (…), als die Gerechtigkeit aus Glauben [die in Christus als Ziel der Tora erkennbar wird, W. R.] (…) erreichbar war“. Auch Siegert, Argumentation, 141: „Israel (…) hat die Gottesgerechtigkeit – die wahre Gottesbeziehung, die auch vom Gesetz beabsichtigt ist – nicht erreicht.“ 7 Subjekt in 9,32; 10,1–3 ist ein unbestimmtes „sie“, das sich offenbar auf „sehr viele aus Israel“ bezieht, s. 10,16, d. i. auf die nicht christgläubigen Juden. 8 Burchard, Glaubensgerechtigkeit, 357. Ich freue mich der Übereinstimmung mit Burchard, dass in Röm 9,32 (gegen die übliche Meinung) kein (zweites) Prädikat ergänzt werden muss. Die gewohnte Interpretation, die nach ֐͟ ֔΃͔ͪ͞ einen Punkt setzt, reißt den Satz ohne Not und gegen die Signale im Kontext auseinander (v. a.: Neuansatz mit ͕͚‫ ;͐ͥ פ‬Wechsel des Subjekts [Israel

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wie die Schrift sagt Jes 28,16 / 8,14 (Röm 9,33). Denn (nur) wer auf den Stein des Anstoßes vertraut, d. i. wer an Christus glaubt,9 wird nicht zuschanden werden. Das ist die Lage, und sie betrübt Paulus in äußerstem Maße (10,1). Seine Stammesgenossen nach dem Fleisch (9,3), die nicht-christgläubigen Juden, haben zwar Eifer für Gott (wie es sich für fromme Juden gehört). Aber ihr Eifer führt sie in die Irre (10,2).10 Indem sie Christus verkennen (9,32 f), verkennen sie Gottes Gerechtigkeit (10,3) – mit der Folge, dass ihr nach ihrer Auffassung frommes Tun zum vergeblichen11 Versuch wird, der Gerechtigkeit Gottes die eigene Gerechtigkeit (͕֬͐͒ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞) entgegenzusetzen.12 So sind sie, die Gott mit Eifer dienen wollen, in Wirklichkeit Gott ungehorsam geworden (10,3).

2. Röm 10,4 Röm 10,4 begründet, warum das so ist: ͎ͥͣ͜͠ ͔‫͖ͣ֬ ͣ׬͚ͥͤ΃͈ ͦͭ͠͝͞ ΃פ‬ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞͞ ͒ͥ͡͞‫ͥ ת‬١ ͚͖͚ͤͥͮͥ͡͠͞. Seit langem ist strittig, was das bedeutet. Die Hauptprobleme: a) ͎ͣ͜͠ͅ ist mehrdeutig, es kann „Ende, Abschluss, Ziel, Ausgang“ und Ähnliches mehr heißen.13 Paulus verwendet ͎ͥͣ͜͠ c. gen. Röm 6,21 f; 2Kor 11,15; Phil 3,19 i. S. v. „Ausgang, Ergebnis“, 2Kor 3,13 i. S. v. „Ende“.14

V. 31 / „sie“ V. 32]; die Hauptursache für das Scheitern des „Gelangens zum Gesetz“ steht in V. 32 Ende). Sie zwingt zur Annahme eines Anakoluthes bei gleichzeitigem asyndetischen Anschluss und Subjektwechsel (!) innerhalb von V. 32 (͡΃͎ͤ͛ͩ͒͠͠͞ …). Für einen solchen Satz gibt es in Röm 9–11, ja, wenn ich recht sehe, im ganzen Römerbrief keine Analogie (der Hinweis auf Sätze wie 9,1; 10,1; 10,19b; 11,2 u. ä. führt nicht weiter). Vgl. Reinbold, Paulus (s. Anm. 6). 9 Zu dieser Deutung von Jes 28,16 s. insbes. Wilk, Bedeutung (s. Anm. 3), 162–166. 10 Paulus erkennt den Wert des ͗‫ ͣ͜͠ض‬an, mindert ihn aber durch Kontrast mit dem höheren Wert der ֐͔͚͐ͪͤͣ͡͞, vgl. Siegert, Argumentation (s. Anm. 5), 149. Es geht also nicht „um die typisch jüdische, im ͗‫ ͣ͜͠ض‬begründete, objektiv vorliegende Verfehlung“ (Käsemann, Römer [s. Anm 2], 271). 11 „[̸]͖ͥٓͥͣ͘͠͞ ͤͥ‫ ͚͒ͤض‬meint den Versuch; und dem Kontext ist zu entnehmen, daß er mißlingt“ (Siegert, Argumentation [s. Anm. 5], 149 Anm. 3). 12 „Eigene Gerechtigkeit“ ist sie, weil sie die Gerechtigkeit Gottes verkennt, nicht weil sie „an den Werken der Leistungsfrömmigkeit orientiert ist“ (Käsemann, Römer [s. Anm. 2], 271), noch weniger, weil der „perverse (…) Eifer der Juden (…) im Prostituieren der eigenen Gerechtigkeit [besteht], das der Sache nach ein Sich-Rühmen“ ist (H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9–11, FRLANT 136, Göttingen 1984, 75). Was für die „Gerechtigkeit Gottes“ charakteristisch ist, erfährt der Leser in V. 4–13. 13 W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. K. u. B. Aland, Berlin 1988, s. v. Das Material bei R. Badenas, Christ the End of the Law. Romans 10.4 in Pauline Perspective,

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b) Die Syntax ist uneindeutig. Ist ͈΃͚ͤͥͭͣ Subjekt und also das eigentliche Thema des Satzes? Oder ist ͎ͥͣ͜͠ ͭͦ͞͝͠ Subjekt und der Satz demnach primär eine Aussage über die Tora und ihr ͎ͥͣ͜͠?15 Damit zusammenhängend: Wie lautet das Prädikat? ͎ͣ͜͠ͅ ͭͦ͞͝͠ (so die meisten)?16 Oder ͈΃͚ͤͥͭͣ,17 u. U. sogar inklusive des ganzen restlichen Satzes? c) Ebenso wie 10,2 und 10,3 beginnt der Satz mit ͔͍΃. Welche Aspekte des zuvor Gesagten erläutert er? Das, was in V. 3 steht? Oder spannt Paulus den Bogen weiter zurück, u. U. bis zum Beginn des Abschnittes in 9,30?18 Von V. 4 aus sind diese Fragen nicht zu entscheiden. Nur der Kontext kann weiter helfen, d. i. die Interpretation der Verse 5–13. Wie sind sie zu verstehen?

3. Röm 10,5 Mein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass auch V. 5 mit einem ͔͍΃ beginnt. Es folgt die Begründung aus der Schrift. Wiederum ist zu fragen: Was wird begründet? Das, was in V. 4 steht? Oder spannt Paulus den Bogen weiter, beginnt ein neuer Abschnitt? Nestle-Aland rückt V. 5 durch Leerzeichen von V. 4 ab und suggeriert somit Letzteres. Mir scheint Ersteres wahrscheinlicher zu sein: V. 5–13 begründen V. 4. ͎ͣ͜͠ͅ ͔‫ͦͭ͠͝͞ ΃פ‬ ͈΃͚ͤͥ‫ͥ תͥ͒͞͡ ͚ͮͤ͒͘͞͞͠΂͚͕ ͖ͣ֬ ͣ׬‬١ ͚͖͚ͤͥͮͥ͡͠͞, wie die Schrift sagt, V. 5–13.19 In den Versen 5–13 zeigt Paulus, dass das, was er in V. 4 behauptet, aus der Schrift mit aller Klarheit hervorgeht. Was sagt die Schrift? Zunächst, V. 5: Die Gerechtigkeit aus dem Gesetz zeichnet sich nach dem Zeugnis des Mose20 (Lev 18,5) dadurch aus, dass derjenige, der die Gebote tut, in ihnen21 leben wird.

JSNT 10, Sheffield 1985, 38–80 (vgl. aber O. Hofius, Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3 [1989], in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen ²1994, 75–120: 110 f Anm. 217). 14 So Bauer, Wörterbuch, und die meisten. Anders Badenas, Christ, 75 („In 2 Cor 3.13 ͎ͥͣ͜͠ is most probably used in a sense very near to that of ‚summit‘, ‚culmination‘, ‚climax‘, etc.“). 15 So, gegen die Mehrheitsmeinung, Burchard, Glaubensgerechtigkeit (s. Anm. 6), 354–362. 16 Z. B. F. Lang, Erwägungen zu Gesetz und Verheißung in Römer 10,4–13, in: Landmesser (Hg.), Jesus Christus (s. Anm. 6), 579–602: 581. 17 Burchard, Glaubensgerechtigkeit, 362; ebenso Berndt Schaller (s., zustimmend, Wilk, Bedeutung [s. Anm. 3], 167 Anm. 45). 18 Hier beginnt der zweite Hauptteil, s. z. B. Reinbold, Paulus (s. Anm. 6), 260 f; Fitzmyer, Romans (s. Anm 4), 576 f; E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 2003, 284 f. 19 So viele, z. B. Käsemann, Römer (s. Anm. 2), 274: „Der Abschnitt ist ein Schriftbeweis für 4“; Fitzmyer, Romans, 587: „This section offers a scriptural proof for what was asserted in v 4.“ 20 Darauf, dass Mose „schreibt“, während die Glaubensgerechtigkeit V. 6 „spricht“, liegt kein Akzent, vgl. die Zusammenstellung von ͎͔͖͚͜͞ und ͔΃͒ͧ͏ in V. 11 (anders Käsemann, Römer,

Das Ziel des Gesetzes nach Röm 10,4–13

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Diejenigen, die Eifer für Gott haben, aber nicht gemäß rechter Einsicht (Röm 10,2), verstehen diesen viel zitierten Satz als Verheißung eines wahren Lebens im Wandel in den Geboten.22 Für Paulus ist das ein Missverständnis. Der Punkt, um den es ihm geht, ist, wie mir scheint, der gleiche wie in Gal 3, wo er das Wort aus Lev 18,5 einige Jahre zuvor bereits zitiert hat: „Das Gesetz aber ist nicht aus Glauben, sondern wer sie [die Gebote] tut, wird in ihnen leben“ (3,12). Hier wie dort versteht man den Text am besten, wenn man davon ausgeht, dass Paulus das ֐͞ ͒‫ ͣلͥ͠׈‬im eigentlichen Sinn der Partikel ֐͞ lokal auffasst (und nicht instrumental).23 Wer die Gebote tut, wird in ihnen leben: Sie sind sein Lebensraum, sein „Lebenshorizont“24, sie bestimmen seine Existenz, im Guten wie im Schlechten. Im Guten, denn durch das Tun der Gebote entgeht der Mensch dem Fluch des Gesetzes, der nach Dtn 27,26 (zitiert Gal 3,10) jeden trifft, der nicht in allem bleibt, was im Gesetz geschrieben steht.25 Im Schlechten, denn es gibt (ohne den Glauben) keinen Weg heraus aus diesem Lebensraum der Existenz ֐͞ ͭٞ͞͝. Wenn im Gesetz tatsächlich ein vor Gott gerechtes Leben zu haben wäre, wie die Gegenseite meint, wäre das nun nicht weiter schlimm. Das aber ist für Paulus nicht der Fall. „Im Gesetz wird niemand gerecht vor Gott“ (Gal 3,11), wie die Schrift sagt: ֽ ͕͐΂͚͒ͣ͠ ֐΂ ͖͐ͤͥͪͣ͡ ͗͏͖͚ͤͥ͒ (Hab 2,4). Gerecht vor Gott wird allein der, der glaubt, und so sind diejenigen, die in den Geboten des Gesetzes leben, eingeschlossen in einem vom Fluch (Gal 3,10) streng bewachten Gefängnis – ein heilloser Lebensraum, ohne Glauben, ohne wahre Gerechtigkeit, fern von Gott. Mose selbst bezeugt also, dass das Tun des Gesetzes lediglich zu einer „Gerechtigkeit“ führt, die vor Gott nichts gilt.26 Wie aber erlangt der 277 f; A. Ito, The Written Torah and the Oral Gospel: Romans 10:5–13 in the Dynamic Tension Between Orality and Literacy, NT 48, 2006, 234–260). 21 ֖͞ ͒‫ =( ͣلͥ͠׈‬Lev 18,5LXX; mit Pap. 46, ē2 u. a.) Nestle-Aland26/27 gegen Nestle-Aland25 (֐͞ ͒‫طͥ׈‬, ē*, A, B u. a.). Zur Textkritik s. A. Lindemann, Die Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Erwägungen zur Auslegung und zur Textgeschichte von Römer 10,5, ZNW 73, 1982, 231–250). 22 Z. B. Philo: ͠‫ ͣ׬΃͡ ֝ ٓ͞͠΂׈‬ր͜͏ͱ͖͚͒͞ ͗ͪ‫͖ٓ͠ͱ ٓͥ͠ ͣل͒ͥ ͞֐ ͚ͥͤ͞֐ ͚ͣͭͥٓͥ͒͞͠͡΃͖͡ ר‬ ΂΃͖͚͐ͤͤ ΂͒‫( ͚͖͍ͤͥͤ͟͞͠΃͡ ת‬congr. 87). 23 Vgl. W. Reinbold, Gal 3,6–14 und das Problem der Erfüllbarkeit des Gesetzes bei Paulus, ZNW 91, 2000, 91–106; Lindemann, Gerechtigkeit (s. Anm. 21), 241 f; A. Reichert, Der Römerbrief als Gratwanderung. Eine Untersuchung zur Abfassungsproblematik, FRLANT 194, Göttingen 2001, 171 ff; D. Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens im Römerbrief. Eine linguistisch-logische Untersuchung, BWANT 163, Stuttgart 2004, 329 f. 24 Lindemann, Gerechtigkeit, 241. 25 So ist der Vers m. E. zu verstehen, vgl. Reinbold, Gal 3 (s. Anm. 23), bes. 97 ff. Das Leben im Gesetz ist nicht per se „verflucht“, sondern ein Leben unter der Herrschaft des Fluches, der die Menschen im Gesetz einschließt, wo es keine Gerechtigkeit vor Gott gibt. Dass das Gesetz unerfüllbar sei und deshalb nicht zum Ziel führe, meint Paulus m. E. nicht (anders z. B. H.-J. Eckstein, „Nahe ist dir das Wort“. Exegetische Erwägungen zu Röm 10,8, ZNW 79, 1988, 204–220: 204 ff).

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Mensch wahre Gerechtigkeit? Auch den Weg zu ihr hat die Schrift nach Auffassung des Paulus deutlich markiert. Dreierlei ist charakteristisch für diesen Weg, der zur rettenden Gerechtigkeit (Röm 10,10) führt: Er hat erstens zu tun mit Christus (V. 6–7 [9.11–13]), er hat zweitens zu tun mit dem Glauben (V. 8–11), und er ist drittens ein Weg, der jedem offen steht (V. 11–13).

4. Röm 10,6–8 Der Weg zur Gerechtigkeit vor Gott hat zu tun erstens mit Christus (V. 6–7) und zweitens mit dem Glauben (V. 8). Die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht den Menschen direkt an: Sage nicht in deinem Herzen (Dtn 8,17; 9,4): Wer wird hinauf in den Himmel fahren? (Dtn 30,12) – das ist, um Christus herabzuholen. Oder: Wer wird hinab in die Unterwelt fahren? (Dtn 30,13) – das ist um Christus von den Toten heraufzuführen. Sondern was sagt sie? Das Wort ist dir nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen (Dtn 30,14) – das ist das Wort des Glaubens, das wir verkündigen.

Das Verständnis der drei Verse gilt allgemein als besonders schwierig. „The problem is to understand his logic, if there is any.“27 Wie kommt Paulus zu dieser Kombination aus eigentümlich zurechtgeschnittenen Schriftzitaten und Anspielungen auf die Schrift? Wie kann er ausgerechnet diese Worte der Tora wie selbstverständlich auf Christus und den Glauben beziehen, obwohl sie doch ebenso wie Lev 18,5 ursprünglich vom Gebot Gottes sprechen, das getan werden will? Wie kann er sie als Wort der personifizierten Glaubensgerechtigkeit interpretieren, die der Gerechtigkeit aus dem Gesetz von Lev 18,5 entgegensteht? Mir scheint: Paulus’ Ausgangspunkt ist sein Verständnis des Verses Dtn 30,14 (den er ohne den Schlussteil zitiert, der seine Interpretation unmöglich machen würde).28 Im Kontext des Deuteronomiums bezieht sich ֐͔͔ͮͣ ͤͦ͠ ͥ‫΃ ׬‬٨‫͚ͥͤ͞֐ ͍͝ض‬29 auf die Worte, die Mose den Israeliten vorgelegt hat. Das „nahe Wort“, es ist die „Stimme des Herrn“ des Volkes Israel (ͧͪ͞‫ͦͤ͠ ͖ٓ͠ͱ ٓͥ͠ ͦ͐͠΃ͦ΂ ר‬, 30,8.10; vgl. 30,2), es ist das Wort Gottes selbst.

26 Vgl. Röm 4,2. Abwegig ist es, 10,5 im Gefolge Karl Barths auf Christus zu deuten; vgl. Fitzmyer, Romans (s. Anm. 4), 587 („an eisegetical solution, which solves nothing“). 27 Fitzmyer, Romans, 588. 28 (ͅ‫΃ ׬‬٨‫͞ل͖͚͠͡ ׬ͥ׈͒ ͦͤ͠ ͐ͤ͞΃͖ͨ ͣل͒ͥ ͞֐ ת͒΂ … )͒͝ض‬. 29 LXX: ͚֔ͤͥ͞ ͤͦ͠ ֐͔͔‫΃ ׬ͥ ͣ׮‬٨‫͒΃͕ͭͧͤ ͒͝ض‬.

Das Ziel des Gesetzes nach Röm 10,4–13

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Über diese Interpretationsbrücke ergibt sich der in V. 8b explizierte Sinn. Dtn 30,14 spricht vom nahen Wort Gottes. Paulus interpretiert das so:30 Gemeint ist das nahe Wort Gottes katexochen, d. i.31 das „Wort des Glaubens, das wir verkündigen“,32 das Wort von Christus (vgl. Röm 10,17). Dieses Wort Gottes ist „Dir“ nahe, und zwar jedem „Du“, nicht nur den Israeliten. Ist das Schriftwort aber so zu verstehen, dann ist es in Wahrheit ein Satz der ֐΂ ͖͐ͤͥͪͣ͡ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ (V. 6), und mit ihm sind es zugleich die vorausgehenden Verse Dtn 30,12–13. Erleichtert wird diese kühne Auslegung33 durch Zweierlei. a) Schon vor Paulus wurden die prominenten Worte des Mose am Ende des Deuteronomiums, die sich ursprünglich auf das deuteronomische Gesetz beziehen (30,11), in einem umfassenderen Sinne interpretiert. Bar 3,29–31 zitiert Dtn 30,12–13 als einen von vielen Belegen dafür, dass die Weisheit (Bar 3,12.23) dem Menschen verborgen ist: Niemand steigt zum Himmel hinauf und holt sie hinab, niemand fährt über das Meer und findet sie, ͠‫ͣضͥ׈͒ ͞׬ֽ͕ ͞רͥ ͪ͞΂͚͔ͤͯ͞ ֽ ͚ͥͤ֔͞ ΂׈‬.34 Philo bezieht die Worte von Dtn 30,12–14 auf das Gute, das dem Menschen nahe ist: (̾ͪͦͤ‫ͥ ͣ׮͔͔֐ ת͒΂ ͐ͤ͘͜͞͠͡ צ͕ ل͖͒͜΂ )ͣض‬ր͔͒ͱͭ͞; es ist nicht nötig, in den Himmel zu fliegen oder über das Meer zu fahren, um das Gute zu suchen, denn das Gute ist dir nahe in deinem Mund und deinem Herz und deinen Händen, d. h. in Worten, Plänen und Taten (post. 84 f). b) Dtn 30 formuliert in der 2. Person Singular: Das Wort ist Dir nahe. Für Paulus heißt das, wie die folgenden Verse zeigen: „Dir“, wer immer dieses „Du“ sei. Das nahe Wort des Glaubens richtet sich an jeden und jede, ohne Bedingung. Wer glaubt, wird gerettet werden (V. 9), gleichgültig ob er Jude ist oder Grieche (V. 12). Auch diese über die Grenzen Israels hinaus30 Inspiriert durch Worte von der Nähe der göttlichen ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ wie Jes 46,13; 51,5; 56,1? (so Eckstein, Wort [s. Anm. 25], 217 ff). Vgl. u. Anm. 44. 31 Verbreitet ist die These, Paulus folge mit dem dreimaligen ͥٓͥ͠’ ͚֔ͤͥ͞ „der aus den Qumran-Schriften vertrauten Pescher-Methode“ (Eckstein, Wort, 211). Das ist schwerlich der Fall. Die Formel ist in der griechischen Exegese gängig (pagan und jüdisch, vgl. nur Philo LA 1,16.52.98) und die Methode des Paulus eine ganz andere als in Qumran, vgl. D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986, 227–230; Siegert, Argumentation (s. Anm. 5), 157–164. 32 Also wohl fides quae creditur, s. Fitzmyer, Romans (s. Anm. 4), 591. Anders U. Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK 6.2, Zürich u. Neukirchen 31993, 227; Eckstein, Wort, 219 f. 33 Ich denke nicht, dass Paulus V. 6–7 zugleich entnimmt, dass „Mose (…) seine Nachfolger (…) in die Unruhe unablässigen Suchens stell[t]“, während die Glaubensgerechtigkeit die Verzweiflung beendet, von der Bengel sagt: Vult semper, nec scit, quid velit (Käsemann, Römer [s. Anm. 2], 280). Eher lohnt es sich, umgekehrt zu fragen, ob es ausgemacht ist, „daß Paulus den Literalsinn von Dtn 30,11–14 nicht auch bejaht. Er könnte mühelos den Text auf die Rechtsforderungen der Tora deuten, die die Christgläubigen durch den Geist erfüllen (…) Das neue Herz (…) hat die Tora in sich und folgt ihr“ (Burchard, Glaubensgerechtigkeit [s. Anm. 6], 361 Anm. 91). 34 Freilich mit der entgegengesetzten Konsequenz: Der einzige Ort, an dem die Weisheit ist, ist das Gesetz des Mose, Bar 3,37–4,1.

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blickende Interpretation des von Gott angeredeten „Du“ findet sich ähnlich bereits bei Philo, der post. 84 konstatiert, dass das Gute jedem Menschen nahe ist.35 Spricht Dtn 30,14 vom nahen Glaubenswort katexochen, dann liegt es nahe, auch die bereits im Urtext absurden Bilder von Dtn 30,12–13 auf Christus zu beziehen.36 Dtn 30,12 lässt sich zwanglos in diesem Sinne interpretieren. ‚Hinauf in den Himmel zu fahren‘, ist weder möglich noch nötig, ist Christus doch längst vom Himmel herabgekommen (Röm 10,6).37 Nicht ganz so gut steht es mit dem Bild in Dtn 30,13, das Paulus in Anlehnung an Ps 106,26LXX 38 umbildet, um zur gewünschten Interpretation zu gelangen. ‚Hinab in die Unterwelt zu fahren‘,39 ist weder möglich noch nötig, ist Christus doch längst von den Toten auferstanden (Röm 10,7). Damit ist die christologische Interpretation von Dtn 30,12–14 vollständig durchgeführt.40 Paulus leitet sie ein durch die aus Dtn 8,17 / 9,4 übernommene Wendung ͝‫( ͦͤ͠ إ͕͐΃͒΂ طͥ ͞֐ ͣشְ͖͡ ר‬Röm 10,6). Die ursprüngliche Einleitung Dtn 30,11 hat in seiner Argumentation keinen Platz, denn in ihr ist explizit von der ֐ͥ͜͞͠͏ die Rede, die Mose Israel im Namen Gottes gebietet, um sie zu tun.41 Der Weg zu dieser neuen Einleitung führt über drei Brücken: a) Wie Dtn 30 ist sie in der 2. Person Singular formuliert (͝‫)ͣشְ͖͡ ר‬. b) Wie Dtn 30,14 spricht sie von einem Geschehen ֐͞ ͥ‫ͦͤ͠ إ͕͐΃͒΂ ط‬. c) Der Sache nach geht es im Kontext von Dtn 8,17 wie 9,4 um eine Haltung, die sich als Haltung der Glaubensgerechtigkeit verstehen lässt: Die Israeliten sollen sich nicht überheben und nicht meinen, es sei ihre eigene Kraft und Stärke, die all den Reichtum bewirkt hat seit dem Auszug aus Ägypten; sie sollen nicht meinen, es sei ihre eigene Gerechtigkeit, um deretwillen der Herr all die Völker vertreibt im Land.42 So spricht für Paulus die ֐΂ ͖͐ͤͥͪͣ͡ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞, die um den Unterschied weiß zwischen der Gerechtigkeit vor Gott, auf die es ankommt, und der ͕֬͐͒ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ (Röm 10,3). 35

֖͔͔‫͍ͥͤ΂֑ ͚͒ͱֱͤ͒ͥͤ ͐ͤ͘͜͞͠͡ ת͒΂ ΃פ͔ ͣ׮‬ٞ. Vgl. die Deutung von Dtn 30,12 auf Mose und von 30,13 auf Jona im Fragmententargum und in Targum Neofiti I. Dazu: Koch, Schrift (s. Anm. 31), 158–160. 37 Alternative: Christus wird bald vom Himmel kommen (vgl. 1Thess 4,13–18). Dagegen spricht V. 7, der auf ein Ereignis der Vergangenheit rekurriert. Vgl. Koch, Schrift, 155 f. 38 ֈ͓͚͒͒͐ͦͤ͞͞͠͞ ֕ͪͣ ͥ٠͞ ͠‫͒͞΃׈‬٠͞ ΂͒‫ͥ ͣͪ֕ ͚͓ͤͦ͐͒͒ͥ͒͞͠͞΂ ת‬٠͞ ր͓ͮͤͤͪ͞. 39 LXX: ͥ͐ͣ ͕͚͖͒͡΃͍͖͚ͤ ֝͝‫͍ͣͤͤ͒͘͜ͱ ͣضͥ ͒͞΃͎͡ ׬ͥ ͖ͣ֬ ͞ل‬. 40 Ich denke, sie stammt originär von Paulus, vgl. Koch, Schrift (s. Anm. 31), 154–156. 41 ‫ͥ͘׍͒ רͥ͜͠͞֐ ֝ ׇ͚ͥ‬, ֟͞ ֐͔‫͞͠΃͖͝͏ͤ ͚ͤ͠ ͎͐͒ͥ͜͜͝͠͞֐ װ‬, ͠‫צ͕׈͠ ͚ͥͤ͞֐ ͣͭ΂͔͠΃͎͡׉ ͨ׈‬ ͒͝΂΃‫ ͞פ‬ր͡‫ٓͤ͠ ׬‬. 42 Dtn 9,4–6: ̾‫ … ͦ͠͝ ͚ͣ͒ͮͤ͒͞͠΂͚͕ ͣפͥ פ̶͚ … ͣشְ͖͡ ר‬5 ͠‫͚ͮͤ͒͘͞͞͠΂͚͕ ͞רͥ פ͚͕ תͨ׈‬ ͤͦ͠ … 6 … ͠‫… ͦͤ͠ ͚ͣ͒ͮͤ͒͞͠΂͚͕ ͣפͥ פ͚͕ תͨ׈‬ 36

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5. Röm 10,9–10 Der Weg zur Gerechtigkeit vor Gott hat zweitens zu tun mit dem Glauben (V. 9–10). V. 9 greift die Stichworte aus V. 8 auf (֐͞ ͥ١ ͤͥͭ͒ͥ͐͝ ͤͦ͠, ֐͞ ͥ‫ط‬ ΂͒΃͕͐‫ͦͤ͠ إ‬, ͚͐ͤͥͣ͡) und erläutert sie aus der Perspektive des Christglaubens. Das „nahe Wort im Mund und im Herzen“ ist „das Wort des Glaubens, das wir verkündigen“, hatte Paulus V. 8 gesagt. Inwiefern ist dieses Wort „nahe“? Paulus antwortet: Nahe ist es im Mund beim Bekenntnis an den Herrn Jesus (das für jeden Christgläubigen selbstverständlich ist, V. 9a). Nahe ist es im Herzen beim Glauben daran, dass Gott ihn von den Toten erweckt hat (ebenfalls eine Selbstverständlichkeit für den Getauften, V. 9b).43 Über das Schriftzitat und dessen Auslegung hinausgehend fügt er hinzu: Wenn du das tust, wirst du gerettet werden. Bevor dieser Aspekt näher expliziert wird, folgt ein weiterer erläuternder Satz, der sich am besten als – wichtige – Parenthese verstehen lässt: Denn Glauben mit dem Herzen führt zur Gerechtigkeit, und Bekennen mit dem Mund zur Rettung (V. 10). Wichtig ist die Parenthese insbesondere aus zwei Gründen. Zum einen betont Paulus, dass zwischen den beiden Zielen der christgläubigen Existenz kein Unterschied besteht. „Rettung“ und „Gerechtigkeit“ (vor Gott) sind ein- und dasselbe, wie der chiastisch angeordnete, synonyme Parallelismus zum Ausdruck bringt.44 Zum anderen kommt hier die ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ins Spiel, die seit V. 6a fehlte und von der auch in V. 11–13 nicht mehr ausdrücklich die Rede sein wird. Ohne V. 10 fehlte der Argumentation ein wichtiger Pfeiler, denn man könnte sich fragen: Selbst wenn es so ist, wie Paulus sagt: Was hat das mit der Gerechtigkeit vor Gott zu tun, um die es doch eigentlich gehen sollte (V. 4– 6)? Paulus antwortet: Die Gerechtigkeit ist das unausgesprochene Thema von Dtn 30,12–14, denn das „nahe Wort im Herzen“ ist „das Wort des Glaubens, das wir verkündigen“, und dieser Glauben führt – für Paulus überflüssig zu betonen – zur Gerechtigkeit.

43 Zumal dann, wenn die These, es handele sich bei der Wendung um eine alte Formel (z. B. Wilckens, Römer II [s. Anm. 32], 227: eine Anspielung „auf die urchristliche Taufliturgie“), richtig sein sollte. 44 Vgl. schon Röm 1,16–17 und darüber hinaus Worte wie Ps 70,15LXX: ͥ‫ͦ͠͝ ͒ͭͥͤ͝ ׬‬ ֐͔͔͖͖͒͟͜‫ͦͤ͠ ͚ͮͤ͒͘͞͞͠΂͚͕ ͞רͥ ل‬, ׁ͘͜͞ ͥ‫ͦͤ͠ ͒͐͞΃ͥͪͤ͘ ͞רͥ ͒͞΃͎֝͝ ͞ר‬, Jes 46,13: ͔͔͚֠ͤ͒ ͥ‫͞ר‬ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞͞ ͦ͝͠ ΂͒‫͕ͦ͒͞΃͓ ׈͠ ٓ͠͝֐ ’΃͒͡ ͞רͥ ͒͐͞΃ͥͪͤ͘ ͞רͥ ת‬٠ und 51,5: ֐͔͔͖͚͐͗ ͥ͒ͨ‫֝ ׮‬ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͦ͝͠, ΂͒‫ͧ ͣו ͚͖͖͖͒ͥͤͮ͜͟֐ ת‬٠ͣ ͥ‫ͦ͠͝ ͚ͭ͞΃͏ͥͪͤ ׬‬.

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6. Röm 10,11–13 Der Weg zur Gerechtigkeit vor Gott hat zweitens zu tun mit dem Glauben (V. 11), und er steht drittens allen offen (V. 11–13). V. 11 folgt die Begründung aus der Schrift (͎͔͖͚͜ ͔‫ )͏ͧ͒΃͔ ֝ ΃פ‬für die These V. 9, die nicht jedem ohne weiteres einleuchten wird. Bekenntnis zu Christus und Glauben führen zur Rettung, sagt Paulus. Zwar würde dem kein Christgläubiger im Prinzip widersprechen, auch seine Gegner in Jerusalem (Röm 15; Apg 21,20–21) und darüber hinaus nicht. Nur würden die „Eiferer für das Gesetz“ (Apg 21,20) sogleich hinzufügen, dass zur Rettung aber doch mehr gehört als nur das, nämlich das Tun des Gesetzes. Dieser Sichtweise, die ihm seit dem Konflikt um die Beschneidung der Heiden (Gal 2,1–10 / Apg 15) auf Schritt und Tritt begegnet, setzt Paulus in V. 11 das Schriftzitat Jes 28,16 entgegen, das er wenige Verse zuvor (9,33) schon einmal zitiert hat. Das Wort des Jesaja versteht Paulus so: „Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“. „Ihn“, d. i., wie er bereits in 9,33 expliziert hat, den „Stein des Anstoßes“, d. i. Christus. Also: Wer an Christus glaubt, wird nicht zuschanden werden. „Nicht zuschanden werden“ wiederum ist für Paulus nur eine andere Formulierung für „gerettet werden“ (V. 9.10.13), wie es in der Schrift oft der Fall ist.45 Der Sinn von Jes 28,16 ist also: Wer an Christus glaubt, wird gerettet werden. So gelesen, enthält die Schrift selbst den allerklarsten Hinweis darauf, dass der Glaube an Christus rettet, und zwar er allein. Diese Zusage gilt, wie Paulus zum Zitat hinzusetzt, für jedermann (͡‫)ͣا‬, nicht nur für die gebürtigen Juden. V. 12 hält diese den Lesern des Römerbriefes vertraute46 Tatsache noch einmal ausdrücklich fest: Es gibt in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Einer – nämlich Christus47 – ist Herr über alle, reich für alle (͖֬ͣ ͍ͥ͒ͣ͡͞), die ihn anrufen. Mit diesen Worten ist der Übergang zum abschließenden Schriftzitat geschaffen, das noch einmal in aller Deutlichkeit formuliert, was vor Gott der Fall ist: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden“ (V. 13, Joel 3,5). Für Paulus steckt in diesem Wort, das er wörtlich nach der Septuaginta zitiert, noch einmal alles, worauf es ankommt:

45 ̼͚͖͚͒ͥ͒ͤͨͮ͞͞ steht als Gegenbegriff zu ͖͚ͤͯ͗͞ z. B. (LXX) Ps 43,8; 69,2 f; Sach 10,5 f; ͠‫ ͚͖͚ͮͨͤ͒ͥ͒͞͞΂ ׈‬gleichbedeutend mit ͖͚ͤͯ͗͞ (LXX) Ps 33,6 f; 70,1 f und vor allem Ps 21,6: ͡΃‫͒ͤ͘͞ͱͯͤ֐ ת͒΂ ͒͒͟͞΃΂͎΂֐ צͤ ͣ׬‬, ֐͡‫͒ͤ͘͞ͱͮͨͤ͞شͥ͒΂ ׈͠ ת͒΂ ͚͒ͤ֠͜͞͡ תͤ͠ ת‬. 46 Vgl. 1,16; 3,22.29 u. ö. 47 Nicht Gott, wie die an die geläufige Rede vom Pantokrator erinnernde Formulierung zunächst vermuten lässt. Vgl. Apg 10,36; Fitzmyer, Romans (s. Anm. 4), 592.

Das Ziel des Gesetzes nach Röm 10,4–13

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Jeder [d. i. Jude oder Grieche oder aus irgendeiner anderen Nation: dieser Weg zu Gott steht allen Menschen offen], der den Namen des Herrn [d. i. den Namen des Herrn Jesus (V. 9.11.12)] anruft [d. i. sich mit dem Munde zu ihm bekennt, was impliziert, dass er zugleich mit dem Herzen glaubt (vgl. V. 9)],48 wird gerettet werden [d. i., mit anderen Worten, zur Gerechtigkeit kommen vor Gott (V. 10)].

So verstanden, sagt nicht Paulus, sondern die Schrift selbst klipp und klar: Christus (der Herr) ist das Ziel des ͭͣ͞͝͠ (der ͔΃͒ͧ͏), zur Gerechtigkeit (Rettung) für jeden, der glaubt (ihn anruft). Ich nehme an: Für Paulus selbst wird dieser Satz Joel 3,5 einer der zentralen Sätze der Schrift gewesen sein. Wenn er ihn anders als die beiden Schlüsseltexte Hab 2,4 (Gal 3,11; Röm 1,17) und Gen 15,6 (Gal 3,6; Röm 4,3) nur hier zitiert, dann wohl deshalb, weil es einen langen Anlauf braucht, bis der Leser versteht, wie er ihn interpretiert: Als die an keine Bedingungen gebundene Zusage der Schrift, dass alle Menschen, die an Christus glauben, gerettet werden. Auf diesem Wege könnte Israel, wenn es die eigenen Schriften recht auslegte, nach Überzeugung des Apostels „zum Gesetz gelangen“ (9,31).

7. Ergebnisse Blicken wir zurück. Die Verse Röm 10,6–13 erläutern die These 10,4 Punkt für Punkt, und zwar, so dürfte deutlich geworden sein, ihr Prädikat, das offenbar den gesamten zweiten Teil des Satzes umfasst (ab ͖֬ͣ).49 Die These Röm 10,4 ihrerseits rekurriert auf die Eingangsthese des zweiten Abschnittes von Röm 9–11 in 9,31: Israel ist nicht „zum Gesetz“ gelangt, obwohl es ein Gesetz der Gerechtigkeit verfolgte.50 D. h.: Israel ist nicht zum Ziel des Gesetzes gelangt, obwohl es ein Gesetz der Gerechtigkeit verfolgte, nämlich zur Glaubensgerechtigkeit (wie sie vom Gesetz selbst bezeugt wird). Warum das? Den negativen Teil der Antwort gibt 9,32–10,3: Sie sind nicht zum Gesetz gelangt, weil sie an Christus, dem Stein des Anstoßes, Anstoß genommen haben. Was aussteht, ist der Erweis für die 9,31–33 implizierte Behauptung, man könne eben dadurch „zum Gesetz“ gelangen, dass man nicht an Christus Anstoß nimmt – und nicht dadurch, dass man 48 Vgl. das Bekenntnis des Beters in Ps 115,1–4LXX (֐͖͐ͤͥͦͤ͒͡, ͕͚‫͒͝͠͞׀ ׬ͥ … ͍͒ͤ͘͜͜֐ ׬‬ ΂ͦ΃͐ͦ͠ ֐͚͡΂͎͚͒ͤ͒͜͠͝) und die Anrede der korinthischen Christgläubigen als ֐͚͡΂͖͚͒ͮ͜͠͝͞͠ ͥ‫׬‬ ‫֝͝ ͦ͐͠΃ͦ΂ ٓͥ͠ ͒͝͠͞׀‬٠͞ ִͤٓ͘͠ ͈΃͚ͤͥٓ͠ (1Kor 1,2). 49 Mit Burchard, vgl. o. Anm. 17. 50 Auch die Konkordanz legt den Rückbezug von 10,4 (f) auf 9,31 nahe: Nur hier spricht Paulus in Röm 9–11 vom ͭͣ͞͝͠. Vgl. P. von der Osten-Sacken, Die Heiligkeit der Tora. Studien zum Gesetz bei Paulus, München 1989, 33–40.

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das Gesetz tut. Den Beweis für diese Implikation liefert Röm 10,4–13. Paulus zeigt, dass das Ziel des Gesetzes tatsächlich Christus ist. Durch ihn kämen die nicht-christgläubigen Juden heraus aus dem falschen Eifer (10,2) und dem Ungehorsam gegenüber der Gerechtigkeit Gottes (10,3). Ihre eigene Schrift (vgl. 9,4) sagt es, recht verstanden, in aller Deutlichkeit:51 Das Ziel des Gesetzes ist Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt (10,4). Beweisführung: a) Negativ, V. 5: Ziel des Gesetzes ist nicht, wie viele unter Berufung auf Sätze wie Lev 18,5 meinen, das Tun der Gebote, denn das Tun der Gebote führt geradewegs hinein ins Gesetz und damit am Heil vorbei. Paulus impliziert – und diese Implikation kann wohl nur recht verstehen, wer den Apostel kennt bzw. wer weiß, was er in Gal 3,10–14 bereits zur Sache geschrieben hat52 –: Im Gesetz wird niemand gerecht vor Gott, denn, wie die Schrift selbst sagt, „der Gerechte wird aus Glauben leben“, das Gesetz aber ist nicht aus Glauben (Gal 3,11 f mit Zitat Hab 2,4). b) Positiv,53 V. 6–13, Punkt für Punkt die Worte aus V. 4 erläuternd: Das tatsächliche Ziel des Gesetzes (͎ͥͣ͜͠ ͔‫ )ͦͭ͠͝͞ ΃פ‬ist vielmehr ͈΃͚ͤͥͭͣ (V. 6–7 [9.11–13]) ͖֬ͣ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞͞ (V. 10) ͒ͥ͐͡͞ (V. 11–13) ͥ١ ͚͖͚ͤͥͮͥ͡͠͞ (V. 8–11).54 Recht verstanden, enthalten bereits die in V. 11 und V. 13 zitierten Schriftworte Jes 28,16 und Joel 3,5 alles, was für Paulus zur Antwort auf die Frage nach dem ͎ͥͣ͜͠ ͭͦ͞͝͠ nötig ist: Das Ziel des Gesetzes ist die 51 Vgl. schon 3,21, wo die Pointe ist: der ͭͣ͞͝͠ selbst ist „Zeuge der Offenbarung der ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞ ͱ͖ٓ͠ ͤ͢ͽ‫ͧ͘ ͝פ‬v͚͠“ (Koch, Schrift [s. Anm. 31], 343). 52 Ein weiteres Mal zeigt sich, dass der Römerbrief neben der römischen Gemeinde einen weiteren, unausgesprochenen Adressaten hat: die christgläubigen Gegner des Paulus in Jerusalem (Röm 15) und darüber hinaus. Vgl. Lohse, Römer (s. Anm. 18), 44. 53 Gegen die Interpretation von ͎ͥͣ͜͠ als „Ziel“ hat man oft eingewandt, dass sie „must deny that a contrast is intended between v. 5 and v. 6“ (H. Räisänen, Paul and the Law, WUNT 29, Tübingen 21987, 54; vgl. Käsemann, Römer [s. Anm. 2], 274 f). Nicht zwangsläufig! Die Verse stehen sehr wohl in einem Kontrast, nämlich dem zwischen den grundverschiedenen Prinzipien der Gesetzesgerechtigkeit und der Glaubensgerechtigkeit – nur letztere führt zum Ziel des Gesetzes, erstere nicht. Um den Kontrast zwischen den grundverschiedenen Ordnungen der Gerechtigkeit der Israeliten (deren Interpret Mose ist) und der der Getauften (die sich selbst vorstellt) geht es hingegen nicht (anders J.-N. Aletti, Israël et la loi dans la lettre aux Romains, LeDiv 173, Paris 1998, 222, vgl. 214–226). Das Problem besteht ja eben darin, dass beide Prinzipien von Mose bezeugt werden, „in seinem eigenen Buche steht schon, daß gerecht wird, der da glaubt“ (Lietzmann, Römer [s. Anm. 5], 101). Das Gesetz des Mose enthält (in der Perspektive des Paulus) widersprüchliche Sätze, so dass nach der eigentlichen Absicht des Gesetzgebers zu fragen ist (nach der voluntas legis, in der Terminologie der Rhetoren, vgl. Quintilian, inst. orat. 7,7; J. S. Vos, Die Kunst der Argumentation bei Paulus. Studien zur antiken Rhetorik, WUNT 149, Tübingen 2002, 121–134). In ähnlicher Weise fragt Philo angesichts widersprüchlicher Schriftverse nach dem ͎ͥͣ͜͠ des Gesetzgebers Mose (ͥ١ ք΃͚ͤͥ͒ ͞͠͝͠ͱ͖ͥ͏͚ͤͥ͠͞ ͎ͥͣ͜͠ ֓͞ ͕͖‫)͚͒ͱͤل͖΂͠΃͡ ل‬, Deus 61, vgl. 67. 54 Vgl. Burchard, Glaubensgerechtigkeit (s. Anm. 6), 361 f (mit etwas anderer Zuordnung).

Das Ziel des Gesetzes nach Röm 10,4–13

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Rettung = Gerechtigkeit (V. 10) vor Gott, die sich dadurch auszeichnet, dass sie jedem zuteil wird, der an Christus glaubt (Jes 28,16) bzw. den Namen des Herrn anruft (Joel 3,5). Damit sind die eingangs aufgeworfenen Fragen beantwortet: a) ͎ͣ͜͠ͅ bedeutet in Röm 10,4 „Ziel“ oder ähnlich.55 b) ͎ͣ͜͠ͅ ͭͦ͞͝͠ ist Subjekt und somit Thema;56 ͈΃͚ͤͥͭͣ und der Rest des Satzes sind Prädikat. c) V. 4 begründet nicht V. 3, sondern greift zurück bis zum Beginn des Abschnittes in 9,30. Röm 9,30–10,13 ist damit am besten wie folgt zu gliedern: 9,30–33 / 10,1–3 / 10,4–13 (gegen das Druckbild im Nestle-Aland). „Neither lexical study nor considerations of grammar and syntax result in unquestionable results. Scholars will continue to interpret this verse [Röm 10,4, W. R.] in accordance with their general understanding of the law and righteousness in Paul and in conformity with their construct of the immediate context.“ E. P. Sanders’ Mahnung zur Vorsicht bei der Auslegung von Röm 10,4–13 gilt nach wie vor.57 Eindeutige Ergebnisse sind nicht zu haben, das Gesamtbild des Auslegers und seine Konstruktion des Kontextes spielen eine beträchtliche Rolle bei der Interpretation der so voraussetzungsreichen Verse des Paulus. Ich denke allerdings nicht, dass wir Anlass haben, die Frage, wie Röm 10,4 zu übersetzen ist, für unentscheidbar zu erklären. Nach meinem Eindruck ist die Übersetzung mit „Ziel“ geeignet, den Kontext jedenfalls einigermaßen plausibel zu konstruieren. Für die Übersetzung mit „Ende“ gilt das trotz ihrer Verbreitung m. E. nicht: Sie scheitert an der Tatsache, dass es nicht gelingen will, die Verse 5–13 so zu interpretieren, dass sie tatsächlich die in V. 5 angekündigte Begründung für die These von Christus als dem „Ende des Gesetzes“ liefern. Gewiss kann man argumentieren: Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden (V. 13), jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden (V. 11) – wozu braucht es da das Gesetz? Aber die verbreitete These, Paulus wolle sagen, Christus sei „das Ende für das Gesetz als Heilsweg“58, weil er selbst 55

Für die gelegentlich erwogene Übersetzung „Erfüllung“ (z. B. von der Osten-Sacken, Heiligkeit [s. Anm. 50], 35–37) bieten der Kontext und die Briefe des Paulus insgesamt wenig Anhalt. Dass Christus die Tora erfüllt hätte, sagt Paulus nie (͖͎ͥͪ͜ ͥ‫ ͭ͞͠͝͞ ͞׬‬Röm 2,27; ͘͜͡΃ͭͪ ͭ͞͝͠͞ Gal 5,14; Röm 13,8; vgl. 8,4, auch Gal 6,2, jeweils in anderem Sinne). 56 Die wichtigste syntaktische Parallele ist Plut. mor. 780e: ͕͐΂͘ ͝‫͐ͥͤ֐ ͎ͣͥ͜͠ ͦͭ͠͝͞ ͞׎͠ ͞צ‬. Vgl. 750e: ͎ͥͣ͜͠ ͔‫ ת͒΂ ר͕֝͞͠ ͣ͒͐ͦ͝ͱ͚͡֐ ΃פ‬ր͚ͭ͒ͦͤͣ͜͡ und 1Tim 1,5: ͥ‫ͣضͥ ͎ͣͥ͜͠ צ͕ ׬‬ ͒͡΃͔͔͖͒͐͒ͣ͜ ֐ͤͥ‫ ͞ת‬ր͔͍͘͡. 57 E. P. Sanders, Paul, the Law, and the Jewish People, Philadelphia 1983, 39. 58 Lohse, Röm (s. Anm. 18), 293, stellvertretend für viele, z. B. J. P. Heil, Christ, the Termination of the Law (Romans 9:30–10:8), CBQ 63, 2001, 484–498. Philologisch unmöglich ist die mit diesem Verständnis gelegentlich einhergehende Deutung von ͖֬ͣ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞͞ als einer Näherbestimmung zu ͭͣ͞͝͠ (z. B. Hübner, Gottes Ich [s. Anm. 12], 85: Christus ist „das Ende des Gesetzes hinsichtlich der Bestimmung ͖֬ͣ ͕͚΂͚͒ͤͮ͘͠͞͞“; J. D. G. Dunn, Romans 9–16, WBC 38B, Dallas 1988, 590.596).

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der Heilsweg sei, kollidiert mit der Tatsache, dass Paulus wenige Kapitel zuvor betont hat, dass das Gesetz zu keinem Zeitpunkt Heilsweg war und sein kann (Röm 3,20; vgl. Gal 2,16; 3,21). Die Pointe seiner Argumentation ist ja gerade, dass schon Abraham aus Glauben gerecht wurde (Röm 4,3; vgl. Gal 3,6) und eben nicht durch die Werke des Gesetzes – denn aus Glauben wird der Gerechte leben (Röm 1,17), und aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerecht vor Gott (3,20). Wenn aber nicht diesen, welchen Sinn könnte die These, Christus sei das „Ende des Gesetzes“, sonst haben? M. E. ist keiner in Sicht. Dass Paulus bestimmte Funktionen der Tora, namentlich die verfluchende und die anklagende, für die Christgläubigen für beendet erklärt,59 ist gewiss richtig, aber es ist nicht das Thema von Röm 10,4 ff.60 Dass er das Ende des „gesetzlichen“ Missverständnisses des Gesetzes konstatieren will,61 ist philologisch wie sachlich abwegig.62 Dass er schließlich erklären will, die Zeit des Gesetzes des Mose sei nunmehr beendet, ist eine Möglichkeit, die für Röm 10,4–13 angesichts der Argumentation mit Dtn 30 und angesichts von Sätzen wie Röm 7,12 kaum ernstlich zu erwägen ist.63 Im Übrigen gilt für diesen wie für jeden anderen Versuch, 10,5–13 als Schriftbeweis für die These, Christus sei das „Ende des Gesetzes“ zu verstehen:64 Müsste Paulus zur Begründung dieser Behauptung 59 Vgl. Wilckens, Römer II (s. Anm. 32), 222; O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi (1983), in: ders., Paulusstudien (s. Anm. 13), 50–74: 64 ff. 60 Vgl. R. Bergmeier, Vom Tun der Tora, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, WUNT 182, Tübingen 2005, 161–181: 178 f; Burchard, Glaubensgerechtigkeit (s. Anm. 6), 359 Anm. 81: Es „gehört auf der Ebene der paulinischen Theologie sehr wohl neben Röm 10,4, aber (…) nicht im Text, zumal dann nicht, wenn Paulus in Röm 9,30–10,21 die Folgen der göttlichen Verstockung Israels aufweist, nicht seine Schuld“ – was mir der Fall zu sein scheint, s. W. Reinbold, Israel und das Evangelium. Zur Exegese von Römer 10,19–21, ZNW 86, 1995, 122–129. 61 Z. B. Dunn, Romans (s. Anm. 58), 596. 62 Vgl. o. Anm. 58; F. Refoulé, Romains, X, 4. Encore une fois, RB 91, 1984, 321–350: 334– 342. Auch Röm 9,32 (‫ )͔ͪ͞΃֔ ͟֐ ͣו‬geht es m. E. nicht um das „gesetzliche“ Missverständnis des Gesetzes, vgl. o. S. 298 mit Anm. 8. 63 Anders Gal 3,19, wo das Gesetz wie eine Parenthese zwischen Abrahamsverheißung und Christus erscheint, vgl. J. L. Martyn, Galatians, AncB 33A, New York 1997, 355. 64 Auch vermittelnde Vorschläge führen nicht weiter, sie lösen das Problem nur scheinbar elegant (z. B. Siegert, Argumentation [s. Anm. 5], 149 Anm. 5: „Christus ist das Ende des Gesetzes [als eines Mittels menschlicher Bemühung um Gerechtigkeit], indem er dessen Ziel vorwegnimmt“; G. S. Oegema, Versöhnung ohne Vollendung? Römer 10,4 und die Tora der messianischen Zeit, in: F. Avemarie / H. Lichtenberger [Hg.], Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher, frühjüdischer und urchristlicher Tradition, WUNT 92, Tübingen 1996, 229–261: 255: „Christus ist die Vollendung der Tora zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt“ [im Orig. kursiv]; J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 369 Anm. 143: „What is often forgotten is that a ‚goal‘ attained is still an ‚end‘ reached“). Gewiss ist es richtig, dass das Gesetz für Paulus in gewisser Weise „beendet“ ist: Er lehrt in seinen Gemeinden, die überwiegend aus geborenen Heiden bestehen, viele Gebote des Gesetzes nicht und bereitet damit den gesetzestreuen christgläubigen Juden große Sorge (Apg 21,20 f). Gal 3,19 sagt er, dass

Das Ziel des Gesetzes nach Röm 10,4–13

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nicht ganz andere Texte anführen als die, die wir jetzt lesen?65 Alles in allem: Die Übersetzung von ͎ͥͣ͜͠ ͔‫͚ͮͤ͒͘͞͞͠΂͚͕ ͖ͣ֬ ͚ͣͭͥͤ΃͈ ͦͭ͠͝͞ ΃פ‬ ͒ͥ͡͞‫ͥ ת‬١ ͚͖͚ͤͥͮͥ͡͠͞ mit „denn das Ziel des Gesetzes ist Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt“ ist vorzuziehen.

8. Schluss „Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu – wenn man doch den Text hat – brauchte man sie sonst?“ Das Bonmot Odo Marquards66 trifft auch auf die Hermeneutik des Paulus zu. Seine christgläubige Hermeneutik führt ihn dazu, aus den Texten herauszukriegen, was nicht drin steht, zum Teil im Einklang mit ihrem ursprünglichen Kontext,67 zum Teil aber auch geradewegs gegen den originalen Schriftsinn. Gerade in Röm 10 schneidet er die Schrift zurecht, bis sie sagt, was sie seines Erachtens in Wahrheit sagt. Er kombiniert Bruchstücke von Zitaten aus höchst unterschiedlichen Zusammenhängen. Er lässt Entscheidendes weg und setzt Anderes hinzu. Leitend für seine Hermeneutik ist sein individueller christgläubiger „Kanon im Kanon“, für den, wie mir scheint, Dreierlei charakteristisch ist: a) Die Aufhebung der unter seinen jüdischen Zeitgenossen selbstverständlichen Relevanzregel, wonach die Tora das Fundament ist, auf das die Propheten und die Schriften aufbauen.68 b) Die Überzeugung, dass die Schrift auf die eigene Gegenwart zielt, dass sie „um unsretwillen“ geschrieben ist (Röm 4,23 f; 1Kor 9,10).69

das Gesetz nur zwischenhineingekommen ist. Bei der Exegese von Röm 10,4–13 helfen diese Beobachtungen aber kaum weiter, denn es geht, präzise, um die Frage, was der Sinn dieses Textes ist (mit dessen Übersetzung die paulinische Theologie im Übrigen weder steht noch fällt, s. K. Haacker, „Ende des Gesetzes“ und kein Ende? Zur Diskussion über ͎ͥͣ͜͠ ͭͦ͞͝͠ in Röm 10,4, in: K. Wengst / G. Saß [Hg.], Ja und nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels, FS W. Schrage, Neukirchen 1998, 127–138). 65 Freilich: Welche Texte sollten das sein? Weder in der Schrift noch in der zeitgenössischen jüdischen Literatur gibt es Vergleichbares, vgl. Oegema, Versöhnung. 66 O. Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 117–146: 117. 67 Die Einsicht, dass Paulus die Kontexte der Schriftzitate im Blick hat, verdanken wir nicht zuletzt Berndt Schaller. Siehe z. B. ders., 1Kor 10,1–10(13) und die jüdischen Voraussetzungen der Schriftauslegung des Paulus, in: ders., Fundamenta Judaica. Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament, hg. v. L. Doering / A. Steudel, StUNT 25, Göttingen 2001, 167–190. Vgl. Siegert, Argumentation (s. Anm. 5), 160; Wilk, Bedeutung (s. Anm. 3), 207–266. 68 Vgl. Siegert, Argumentation, 162–164. 69 Dazu insbes. Koch, Schrift (s. Anm. 31), 322–331.

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c) Die Einsicht, dass die Schrift selbst bezeugt, dass der Glauben an den Herrn Jesus gerecht macht vor Gott (Röm 10,6–13) und dass sie von diesem ͖‫ ͚͎͔͔͒͜͞͠׈‬her insgesamt zu verstehen ist.70 Auf die Leser und Leserinnen der Briefe wirkt die Schriftauslegung des Paulus je nach Standpunkt sehr unterschiedlich. Seit alters her reichen die Urteile von „souverän“71 bis „haarsträubend“72. Souverän erscheint sie denen, die die Voraussetzungen des Paulus teilen und die Kunst des großen Auslegers bewundern, die schon in der Antike eben darin besteht, den Texten einen Sinn zu entlocken, der erst auf den zweiten oder dritten Blick zum Vorschein kommt.73 Haarsträubend erscheint sie denen, die seine Prämissen nicht teilen und die Ergebnisse für eine böswillige Verdrehung des Gesetzes halten oder für vollständig wirr.74 Den Einen gilt Paulus als die authentische Stimme des Evangeliums, das ihm von Gott selbst anvertraut worden ist (1Tim 1,11). Die Anderen polemisieren gegen die „gesetzlose und unsinnige Lehre des feindlichen Menschen“75. In einem nur sind sich die Leser einig: Die „gesättigte Undurchsichtigkeit seiner Sprache“76 zuerst einmal zu durchleuchten, ist ein hartes Stück Arbeit, auch in Zeiten von elektronischen Thesauri und Computerkonkordanzen. Berndt Schaller sei Dank für die vielen Anregungen, die er uns dazu gegeben hat!

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Vgl. Koch, Schrift, 331–353. Z. B. Hübner, Gottes Ich (s. Anm. 12), 80. 72 Z. B. H. Maccoby, The Mythmaker. Paul and the Invention of Christianity, London 1986, 69 f: „a ludicrous travesty of Pharisee thinking (…) failing miserably because of his inability to think in the logical manner one expects of a legal expert“. 73 Vgl. F. Siegert, Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. II, WUNT 61, Tübingen 1992, 55–64 (zur stoischen Homerexegese: „Pressen der Worte, bis sie irgendwelche kontextfremden Nebenbedeutungen hergeben, Etymologisieren, Allegorisieren und überhaupt Anachronismen aller Art“ sind übliche Methoden [62]); Vos, Argumentation (s. Anm. 53), 115–134 (zur juristischen Rhetorik, über die der Kritiker Sextus Empiricus urteilen konnte: sie macht mit den Gesetzen, was sie will [adv. math. 2,36–39]). 74 „Der größte Betrüger aller Orten und Zeiten“, urteilt Kaiser Julian, Gal. 100A (ed. W. C. Wright, LCL 157, 340 f): ͥ‫ ת͒΂ ͔ͣ͒ͥͭ͘ ͖ͥͯ͠͡͡ ͣ׮ͥ͠ ٓͨ͒ͥ͒͠͞͡ ͍ͣ͒ͥ͞͡ ͞׬‬ր͖͒ͥ͡٠͒ͣ͞ ‫΃͖͡׉‬͓͖͒ͭ͜͜͝͞͠͞ ͂͒ٓ͜͠͞; er ändert seine Ansichten über Gott wie der Tintenfisch die Farbe 106B (ebd., 342 f). Julian versteht übrigens unsere Stelle i. S. v. „Ende des Gesetzes“ 319E (ebd., 410 f) und kontrastiert sie mit Texten wie Ex 12,14 f; Dtn 4,2; 27,26. Weitere Beispiele für scharfe Urteile über Paulus bei M. Mayordomo, Argumentiert Paulus logisch? Eine Analyse vor dem Hintergrund antiker Logik, WUNT 188, Tübingen 2005, 1–5. 75 PsClem H, Epistula Petri 2,3 (GCS3 42,2: ͥٓ͠ ֐ͨͱ΃ٓ͠ ր͞ͱ΃ͯͦ͡͠ քͭ͞͠͝͞ ͚ͥ͒͞ ΂͒‫ת‬ ͧͦ͒͜΃͕ͯ͘ ͕͚͕͒ͤ΂͒͐͒͜͞). 76 P. Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, (New York 1988, dt.) München 1991, 61. 71

Peter J. Tomson

Das Matthäusevangelium im Wandel der Horizonte: vom „Hause Israels“ (10,6) zu „allen Völkern“ (28,19)

Vereinfacht gesagt hat das Matthäusevangelium (MtEv) zwei Gesichter: Ein jüdisches und ein antijüdisches. Unmittelbar damit verbunden ist die Stellung des Gesetzes: Einerseits soll es nicht „aufgehoben“, sondern bis in die kleinsten Gebote „erfüllt“ werden; und da gibt es, wie an vielen anderen Stellen, gerade rabbinisch klingende Ausdrücke (Mt 5,18í19). Andererseits wird gesagt, dass „die Gerechtigkeit von Pharisäern und Schriftgelehrten“ nicht genügt und dass Gott sich „ein anderes Volk“ wählen wird, das „die Früchte des Gottesreichs bringt“ (5,20; 21,43). Zwischen diesen zwei Gesichtern besteht eine Spannung, die das ganze Evangelium durchzieht. Mit dieser ganzen Spannung ist Matthäus aber auffallenderweise das prominenteste Evangelium der frühen Heidenkirche geworden, ausgenommen vielleicht in Kleinasien. Im heidenchristlichen Zusammenhang musste die Gesetzesfrage dann mit gesteigerter Dringlichkeit gestellt werden. Hiermit muss eine andere Spannung zusammenhängen, die im matthäischen Drama eine herausragende Rolle spielt, und die wir hier thematisieren wollen: das Verhältnis der Jesusgemeinde zu den Nichtjuden. In Mt 10,5 f klingt es schroff innerjüdisch, wenn Jesus seine Boten ausschickt: „Geht nicht auf einem Weg zu den Heiden, betretet keine Stadt der Samariter, geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels.“ Laut 15,24 hat Jesus auch von sich selber gesagt, er sei „nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels gesandt“. In 28,19, ganz am Ende, sagt der Auferstandene dann aber ganz anders: „Geht hin, macht alle Heiden (Völker) zu meinen Jüngern …“ Gerade in einer Zeit, in der Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft in einer erfreulichen Vertrautheit zusammenarbeiten, sind solche Spannungen unüberhörbar.1 Es genügt nicht mehr, sie im Rahmen des Evangeliums zu harmonisieren, d. h. faktisch zu verkennen. Es wäre besser, sie erst einmal zu akzeptieren. Sodann sollen wir als Wissenschaftler und Lehrer der Kirche versuchen, sie aus inhaltlichen oder historischen Gründen zu verstehen. 1 Vgl. G. N. Stanton, A Gospel for a New People. Studies in Matthew, Edinburgh 1993, 146: „Matthew’s vigorous anti-Jewish polemic is acutely embarrassing to most modern readers of this gospel.“

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Wichtig ist zuallererst die allgemeine Einsicht, dass Evangelien Gemeinschaftstexte sind, Texte, die aus der Tradition einer Gemeinschaft heraus und für diese Gemeinschaft selber geschrieben, durch ihre Mitglieder geschaffen und rezipiert wurden; Texte also, deren Aussagekraft es nicht nur im theologischen, sondern auch im sozialen Kontext zu befragen gilt.2 Bei einem solchen Zuhören besagen die angeführten Passagen vieles über die soziale Zugehörigkeit des MtEv und über die möglichen Spannungen und Entwicklungen in diesen Bezügen. Hierbei haben Daten halachischer Art, also die jüdische Gesetzestradition betreffend, wegen ihrer spezifischen sozialen Relevanz einen hohen Informationswert.3

1. Deutungsversuche Zuerst ein Blick auf die Auslegungsgeschichte. Am Anfang stehen zwei einflussreiche patristische Beispiele, die in ihrer einheitlichen Interpretation lehrreich sind. Konsequent allegorisiert Origenes, der große christliche Philo-Exeget, „die verlorenen Schafe des Hauses Israels“ aus Mt 15,24,4 wie er gleichzeitig den universellen Missionsbefehl 28,19 moralisiert. In seinem Matthäuskommentar (11,17) erklärt er die „Schafe“ als ͔͎ͣ͞͠ ͩͦͨ٠͞ ͕͚͠΃͚͒ͥ΂٠͞ րͪͭͣ͜͜͡͠, „verlorenes Geschlecht klarsehender Seelen“. Im Hintergrund steht hier Philos Deutung des Namens „Israel“ als ͥ‫͎͔ͣ͠͞ ͞׬΂͚ͥ͒΃ֽ ׬‬, „das sehende Geschlecht“,5 nur dass Origenes, anders als Philo, dabei die Juden praktisch ausschließt. Das deutet er anderweitig an: Der Ausdruck der „verlorenen Schafe Israels“ sei „nicht nach dem Fleische zu verstehen“, so „wie es die geistig armen Ebioniten tun“. Die judenchristliche Deutung wird also abgewiesen.6 Ebenfalls im Matthäuskommentar (10,18) legt Ori2 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK 1, 4 Bde., Düsseldorf u. Neukirchen 2002, 42007, 1997, 2002, I, 94; Stanton, Gospel, 45í53; P. J. Tomson, „If this be from Heaven …“. Jesus and the New Testament Authors in their Relationship to Judaism, The Biblical Seminar 76, Sheffield 2001, 122í125. 3 Vgl. P. J. Tomson, The Halakhic Evidence of Didache 8 and Matthew 6 and the Didache Community’s Relationship to Judaism, in: H. van de Sandt (Hg.), Matthew and the Didache. Two Documents from the Same Jewish-Christian Milieu? Assen u. Minneapolis 2005, 131í141. Vgl. auch Zetterholm und Bockmuehl, s. u. Anm. 82. 4 Vgl. auch W. D. Davies / D. C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to St. Matthew, ICC, 3 Bde., Edinburgh 1988í1997, II, 551: Or.princ. 4,3,8. (Vgl. ebd., 165 über Allegorisierungen von Mt 10,6 außer bei Tertullian und Chrysostomus). 5 Philo migr. 18; fug. 140. 6 Comm. in Matth. 11,17 ff; Comm. in Ioan. 20,5,39: ͠‫;͚͒ͱͤض΃͖֬ ͞׬΂͚ͥ͒ͪͤ͝ ׬ͥ פͥ͒΂ ׈‬ princ. 4,3,8: ͠‫ֽ ΃פ͔ ͓ͪ͐͞֐ … ͚͠ل͚͓֖͒ͪ͞ إ͚͕͐͒͠͞ طͥ תͨͪͥ͠͡ ֭͠ ͣו ͒ͥٓ͒ͥ ͖͍͓͒͜͞͝͠͞͝΂֐ ΂׈‬ ͥͪͨ͡‫ּ͚͖͍͒ͥ͗͝͠͞ ͚ͣ͐͒͠΃͓֗ ’΃͒͡ ͣ׬‬. 5

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genes Mt 28,19 aufgrund des allgemeinen Spruches Mt 13,57 aus, der Prophet sei nur im eigenen Lande und Hause nicht anerkannt: „Deshalb haben die Apostel Israel verlassen und haben den Befehl des Erlösers ausgeführt: ‚Macht alle Völker zu Jüngern‘.“ Jesus sei also nur zum „geistlichen Israel“ gesandt, und die ungläubigen Juden sind nicht in die hoffnungsvolle Zukunft des Evangeliums einbegriffen. Ähnliches, aber in historisierter Form, erfahren wir beim späteren Nachfolger des Origenes, Euseb. In seiner Kirchengeschichte (3,5,2) bezieht er den Missionsbefehl an die „Völker“ auf die Zerstörung der jüdischen Hauptstadt als Strafe Gottes für die Verfolgung Christi und seiner Apostel.7 Radikal historisiert und von matthäischen Zitaten unterstützt erscheint dasselbe in der Demonstratio evangelica (9,11): Jesus sei als Prophet „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israels“ gekommen. Die hätten seine Gnadenbotschaft aber nicht angenommen, weshalb der Herr ihnen gesagt habe: „Das Reich wird euch genommen und einem Volk, das seine Früchte bringt, gegeben werden“ (Mt 21,43). Nachdem er dann seinen Jüngern gesagt habe: „Geht hin, macht alle Völker zu meinen Jüngern“, seien jetzt „wir, die Heiden“ es, die den prophetischen Auftrag erfüllten, während das jüdische Volk seine von Gott auferlegte Strafe trage. Dieser Textauswahl beleuchtet stringent die antijüdische Linie im MtEv. Ein wichtiges Detail: Bei beiden Kirchenvätern bedeutet ֔ͱ͘͞ nicht im alttestamentlichen Sinn „Völker“, sondern „Nichtjuden“, dem mittelhebräischen, individualisierten ĠĜĜĘĕ entsprechend. Beide Theologen vertreten eine exklusiv-heidenchristliche Deutung der Schrift, die das Halten des jüdischen Gesetzes im Prinzip ausschließt.8 Judenchristliche Elemente wie der Schafespruch werden allegorisiert oder in die Vergangenheit hinein historisiert. Das MtEv wird konsequent antijüdisch gelesen. Moderne Exegeten zeigen mehr Distanz zu Matthäus und mehr Verständnis für die alttestamentlich-jüdische Perspektive, die in diesem Evangelium eine wichtige Rolle spielt. Daneben ist der seit dem 19. Jahrhundert

7

Dies betrifft eine der vor-nizänischen Zitationen mit dem Kurztext: ͡͠΃͖ͦͱ͎͖ͥͣ͞ ͒͝ͱ͖͖ͥͮͤ͒ͥ͘ ͍ͥ͒͡͞ ͥ‫ͥ ͞֐ ͘͞ͱ֔ פ‬١ ּͭ͒ͥ͐͞͝ ͦ͝͠. Seit F. C. Conybeare, The Eusebian Form of the Text Matth. 28,19, ZNW 2, 1901, 275í288 haben manche Exegeten gemeint, dies sei die ursprüngliche Version, die Euseb nach Nizäa 325 aufgegeben habe und die unter kaiserlichem Druck aus allen erhaltenen Handschriften verschwunden sei. Aufgrund der langen Zitate an anderen Stellen bei Euseb schlägt M.-J. Lagrange, Évangile selon St. Matthieu, EtB, Paris 41927, 544 vor, Euseb habe hier gekürzt, um das Unterrichten im Namen Christi zu betonen. Luz, Evangelium IV (s. Anm. 2), 431 Anm. 15 folgert aus der Handschriftenlage, sie biete „methodisch keine Möglichkeit“, den Kurztext für ursprünglich zu halten. Dennoch bleibt Conybeares Erklärung zu bedenken. 8 Vgl. die Mühe, die sich Eus.d.e. 1í5 gibt zu erklären, weshalb die Kirche die Schrift geerbt hat und dennoch das Gesetz nicht hält.

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verbreitete Weltmissionsgedanke hinzugekommen, in den die Mission an die Juden wie selbstverständlich einbegriffen wird.9 Père Lagrange nimmt in seinem kenntnisreichen Matthäuskommentar (1927)10 Mt 10,5 wie 28,19 traditionsgemäß für authentisch-jesuanisch und folgert hinsichtlich des letztgenannten Textes: „On comprend très bien que la restriction aux brebis d’Israël (Mt. x,5 s.) ait été levée en ce moment.“ Ähnlich wie Origenes es versteht, habe der Auferstandene die jesuanische Beschränkung auf Israel aufgehoben, aber eine Mission an die Juden noch immer vorausgesetzt. Wie die ihm ganz vertrauten Kirchenväter versteht Lagrange das matthäische ֔ͱ͘͞ durchaus als „gentils“, d. h. Nichtjuden. Harmonisierend wird hier eine Evolution innerhalb der matthäischen Erzählung vorausgesetzt. Dagegen betonte Georg Strecker (1962)11 einen scharfen Gegensatz zwischen der judenchristlichen und der exklusiv-heidenchristlichen Schicht und stellte fest, dass die judenchristliche Schicht des MtEv „eine ältere Entwicklungsstufe des Gemeindelebens“ repräsentiere, während die letzte Redaktion des Textes einer heidenchristlichen Orientierung entspreche. In Passagen wie Mt 8,5í13 und 21,33í22,14 komme die „heilsgeschichtliche Ablösung des jüdischen Volkes“ zum Vorschein. Strecker stellt hier kritisch die antijüdische Linie im Evangelium heraus, die Euseb seinerzeit bevorzugte. Nach Strecker habe der Evangelist in 15,24 und 10,6 absichtlich, aufgrund „historischer Reflexion“ (nämlich über die von Strecker öfter vorausgesetzte „Ablösung Israels“), die judenchristlicher Tradition entnommenen Worte von der Sendung „an die verlorenen Schafe des Hauses Israels“ eingefügt. David Flusser, der das MtEv nur gelegentlich aufgegriffen hat, behauptet in seinem Artikel über „Zwei Beispiele antijüdischer Redaktion bei Matthäus“ (1975),12 das MtEv sei deshalb außergewöhnlich, weil wir in ihm einerseits „echte antijüdische Passagen“ finden, es aber andererseits „alten, ursprünglichen Stoff“ und sogar „einige Perikopen in ihrer ursprünglicheren, jüdischen Fassung“ enthalte. Insbesondere am Beispiel der Geschichte des Hauptmanns von Kafarnaum (Lk 7,1í10; Mt 8,5í13) und des Gleichnisses der bösen Winzer (Mk 12,1í12; Lk 20,9í18; Mt 21,33í46) werde 9 Vgl. für die Entwicklungen im Rheinland P. G. Aring, Christliche Judenmission. Ihre Geschichte und Problematik dargestellt und untersucht am Beispiel des evangelischen Rheinlandes, FJCD 4, Neukirchen 1980. 10 Lagrange, Évangile (s. Anm. 7), 544. 11 G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus, FRLANT 82, Göttingen 31971, v. a. 15í35, „Der Redaktor í ein Judenchrist?“ 12 In: D. Flusser, Entdeckungen im Neuen Testament, Bd. 1: Jesusworte und ihre Überlieferung, hg. v. M. Majer, Neukirchen 1985, 78í96. Die Paragraphen IíIII erschienen ursprünglich als: Two Anti-Jewish Montages in Matthew, Immanuel 5, 1975, 37í45; mit einem Neudruck dieses Artikels erschien Paragraph IV als „Matthew’s ‚Verus Israel‘ “ in: ders., Judaism and the Origins of Christianity, Jerusalem 1988, 552í560, 561í574.

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klar, wie der matthäische Redaktor seinen Stoff im antijüdischen Sinne redigiert habe. Den geschichtlichen Ort der matthäischen Gemeinde hat Flusser durch Vergleich mit 5Esr und Justin dem Märtyrer gesucht.13 Der Kommentar von W. D. Davies und Dale C. Allison (1988) nimmt wegen der „jüdischen Färbung“ des traditionellen und redaktionellen Materials und wegen der vermuteten Verwendung des hebräischen AT an, der „Autor“ des MtEv sei Jude gewesen. Im Hinblick auf den universellen Missionsbefehl 28,19 sei es jedoch „merkwürdig“ (odd), dass in 5,47 und an anderen Stellen „herablassend“ über die ֐ͱ͚͞΂͐͠ gesprochen werde. Zwischen 10,5 und 28,19 bestehe eine Verbindung im wiederholten ͡͠΃͖͖ͮͤͱ͖, eine Spannung wird hier aber nicht registriert. 28,19 werde der universelle Missionsbefehl gegeben, weil „die Auferstehung das Ende der exklusiven Konzentration auf Israel markiere“. Die „Weltmission“ aber „schließe Israel ein“.14 Die heuristische Zielvorstellung scheint Harmonie zu sein. In seinem Buch „A Gospel for a New People“ (1993) legt Graham Stanton die Auffassung dar, dass der Verband von matthäischen Gemeinden den Bruch mit dem Judentum vollzogen habe und sich als ein „neues Volk“ sah, in das bereits manche Heiden aufgenommen waren. Die scharfe antipharisäische und antijüdische Polemik, die das ganze Evangelium durchzieht, diene dem Zweck, diese traumatisierte Gemeinschaft abzugrenzen und vor Verfolgung von Seiten der jüdischen Behörden zu schützen. In 21,43 zeige sich so „am deutlichsten, dass die matthäische Gemeinschaft sich als eine gesonderte und ganz verschiedene Größe gegenüber dem Judentum sah“. Die Mission an Israel bleibe aber in Kraft, weil ͍ͥ͒͡͞ ͥ‫„ ͘͞ͱ֔ פ‬Individuen innerhalb Israels einschließe“.15 Ulrich Luz nimmt in zwei Aufsätzen (1989, 1993) im MtEv einen Antijudaismus wahr, der einem Bruch mit dem rabbinischen Judentum entspreche.16 Diesem sei eine Stufe von enger Verwandtschaft mit der pharisäischen Bewegung vorangegangen. Die Mission „an den verlorenen Schafen 13

Und zwar in einer „heidnisch-zionistischen Sekte“, die die Beobachtung des jüdischen Gesetzes mit einer antijüdischen Ausrichtung kombiniert habe. Flusser las m. E. die Schichten des MtEv allzu buchstäblich als einheitlichen Text. Die Nähe seiner Interpretation zu der Streckers hat er nachträglich angemerkt, s. Anm. 11 im ursprünglichen Artikel und Anm. 23 im Nachtrag. Auch Stanton, Gospel (s. Anm. 1), 256í277 hat das Verhältnis zu 5Esr ausführlich untersucht. 14 Davies / Allison, Commentary (s. Anm. 4) I, 33.58.559; II, 167; III, 368. 15 Stanton, Gospel (s. Anm. 1), 124.146í168. F. Wilk, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin 2002, 126í131 vergleicht Mt 10,5í8 und 28,18 ff mit der Schlussfolgerung (129): In 28,19 „wird der in 10,5í8 erteilte Sendungsauftrag Jesu weder ausgeweitet noch aufgehoben, sondern ergänzt.“ 16 U. Luz, Das Matthäusevangelium und die Perspektive einer biblischen Theologie, in: D. R. Daniels u.a., „Gesetz“ als Thema Biblischer Theologie, JBTh 4, Neukirchen 1989, 233í248; ders., Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem, EvTh 53, 1993, 310í327 (2005 in englischer Übersetzung publiziert).

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des Hauses Israel“, bei der die Jünger nicht „auf einem Weg der Nichtjuden“ gehen sollen (10,5í6), sei von der Mission „an allen Nichtjuden“ oder „Völkern“ abgelöst worden (28,19). Doch wird das nicht am ganzen Evangelium, sondern nur an einzelnen Passagen durchgeführt, wie Luz im 4. Band seines Matthäuskommentars (2002) nochmals betont hat.17 Die neugefasste Einleitung zum Kommentar (52002) nennt das MtEv ein judenchristliches Evangelium, das „eine deutliche Distanz zum pharisäisch-protorabbinischen Judentum“ erkennen lasse. Ein richtiger Bruch zeige sich, nochmals, in der Wende zur Heidenmission: „Der Missionsbefehl des auferstandenen wird dem Gebot des irdischen Jesus antithetisch gegenübergestellt.“18 Hinsichtlich der Stellung der matthäischen Gemeinde im Judentum schließt sich Luz der Auffassung Stantons an, sie habe den Bruch mit der Synagoge bereits hinter sich, aber anders als Strecker meinte, sei der Redaktor kein geschichtstheologisch reflektierender Heidenchrist gewesen. Strecker, Flusser, Stanton und Luz deuten also die inneren Spannungen des MtEv im Rahmen der Zeitgeschichte; Lagrange und Davies / Allison harmonisieren sie. Luz kommt der Wirklichkeit des MtEv wohl am nächsten, weil er die offensichtlichen Widersprüche und verborgenen Aporien dieses durchlebten Textes in ihrer Unvermitteltheit stehen lässt. Ein Blick auf die jüdische Geschichte des 1. Jahrhunderts, insbesondere auf die Ereignisse am Ende des Jahrhunderts um die „Trennung“ von Juden und Christen, soll helfen, die Spannungen innerhalb des MtEv besser zu begreifen.

2. Nichtjuden in der Jesustradition Zunächst soll die Haltung Jesu selbst bzw. der ihm zugeschriebenen Tradition zu Nichtjuden ins Auge gefasst werden. Während diese Tradition, die hypothetische erste Schicht des Evangeliums, meistens schwer zu beschreiben ist, lässt sich die Position Jesu in diesem Zusammenhang ziemlich leicht von ihrem Überlieferungszusammenhang unterscheiden. Mit dem Ergebnis werden wir dann nachher den Werdegang des MtEv besser beschreiben können. Vorausgeschickt werden muss, dass es im Frühjudentum unterschiedliche Haltungen gegenüber Nichtjuden gab. Die Qumranschriften machen den Eindruck, dass die mit ihnen zu assoziierenden Essener äußerst abweisend waren. Laut ihrer Halacha sind Heiden lauter Götzendiener, mit denen 17 Auch die Bedeutung von ֔ͱ͘͞ í „Nichtjuden“ / „Völker“ í ist nach Luz nicht eindeutig, vgl. Luz, Evangelium IV (s. Anm. 2), 449í454. 18 Luz, Evangelium I, 88.91.

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z. B. kein Handel getrieben werden darf.19 Sofern wir die Halacha der zeitgenössischen Pharisäer rekonstruieren können, war ihre Haltung insgesamt pragmatischer.20 Von den beiden Pharisäerschulen zeichnete sich aber die konservativere Schule Schammais durch eine größere Reserve gegenüber Nichtjuden aus.21 Auch müssen wir uns darüber verständigen, was wir unter „Jesustradition“ verstehen, und wie sie erschlossen werden soll. Wahrscheinlich hat die Tradition der Jesusworte, wie die anderer frühjüdischer Lehrer, sich in mündlicher Form gebildet und fortgesetzt.22 Besonders an der rabbinischen Literatur lassen sich in einem solchen Prozess zwei entgegengesetzte Tendenzen wahrnehmen: ein Streben nach Bündigkeit und Uniformität sowie eine bewusste oder unbewusste Neigung zur Anpassung an neue Umstände. Dabei lässt sich sehr wenig von individuellen Autoren sprechen.23 Der „Autor“ eines Spruchs hat wohl wichtige Elemente von seinen Lehrern übernommen; vielleicht gelingt es erst einem seiner Schüler, die vollendete Form zu finden. Dennoch nennt man es, nicht ganz zu Unrecht, „seinen“ Spruch. Oft spricht man aber besser von „der Tradition des Rabbi NN“. Das gilt für viele Lehrer des 1. Jahrhunderts, deren Worte die rabbinische Literatur aufbewahrt. Wenn wir diese relative Unsicherheit akzeptieren, sind wir doch manchmal imstande, inmitten der so überlieferten Geschichten und Sprüche charakteristische Züge einer Gestalt zu erkennen, wie z. B. der Hillels oder Jochanan ben Zakkais,24 wenn auch nicht ein genaues Bild dieser Person in all ihren Einzelheiten. Im Fall der Worte Jesu ist der Abstand zwischen „Urheber“ und Redaktor kürzer und die Möglichkeit der Vermischung mit den Worten anderer Lehrer geringer, aber auch hier gibt es einen Unsicherheitsfaktor, der es im allgemeinen ratsam macht, von der „Tradition Jesu“ zu sprechen. Doch 19

pel).

CD 12,6í11 (Handel mit Nichtjuden); 4Q174 1 i 3í4 (Nichtjuden und Proselyten im Tem-

20 Vgl. die rabbinische Halacha in Sachen Handel, mAS 1,5í8. Nach Flav.Jos.Bell. 2,409 war es normal, dass Opfer von Nichtjuden im Tempel angenommen wurden. 21 Vgl. mChul 2,7: R. Eliezer (bekannter Schammait) verbietet es, für einen Nichtjuden zu schlachten, denn „die normale Einstellung des Nichtjuden ist Götzendienst“. Weitere Belege s. u., Abschnitt 3. 22 Nach aller Polemik der letzten Jahrzehnte scheint es mir klar, dass das (mit einem Vorwort von J. Neusner!) neu herausgegebene Buch von B. Gerhardsson, Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity, Uppsala 1961, Grand Rapids 1998, auf seine umfassende Würdigung und Auswertung noch wartet. 23 Vgl. für dieses und andere Kennzeichen S. Safrai, Oral Tora, in: ders. (Hg.), The Literature of the Sages, Bd. 1: Oral Tora, Halakha, Mishna, Tosefta, Talmud, External Tractates, CRI II.3a, Assen u. Philadelphia 1987, 35–119. 24 Vgl. wegweisend D. Flusser, Hillels Selbstverständnis und Jesus, in: ders., Entdeckungen I (s. Anm. 12), 210í215. Vgl. auch die verschiedenen Aufsätze in J. H. Charlesworth / L. L. Johns (Hg.), Hillel and Jesus. Comparative Studies of Two Major Religious Leaders, Minneapolis 1997.

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geschieht es auch hier bei Gelegenheit, dass ein Wort dieses jüdischen Lehrers im Überlieferungskontext einen so außerordentlichen oder originellen Klang hat, dass sich der Eindruck von Authentizität aufdrängt. Das ist bei unserem Thema der Fall. Es gibt einige von Matthäus unabhängige synoptische Geschichten, die wertvolle Informationen über die Jesus zugeschriebene Haltung zu den Nichtjuden vermitteln. Im wohl für Nichtjuden konzipierten Markusevangelium25 zeichnet sich die Geschichte 7,24í30 durch eine unerwartete Abneigung gegen die Heiden aus. Jesus wanderte ins Gebiet von Tyrus, wo er „in einem Hause verblieb und niemanden sehen wollte“, also anscheinend in einem jüdischen Hause; das finden wir sogar nur im MkEv, nicht im „judenchristlichen“ MtEv. Dennoch weiß ihn „eine Griechin, eine Syrophönizierin“ zu finden, die ihn bittet, ihre Tochter von einem Dämon zu befreien. Jesu Antwort, es gezieme sich nicht, „das Brot der Kinder … den Hunden zu geben“ (7,27), hat einen so heidenunfreundlichen Klang, dass sie unmöglich der nichtjüdischen Gemeindetradition entstammen kann. Die Erwiderung der Frau, dass die Hunde die unter den Tisch gefallenen Brotstücke fressen, überzeugt Jesus aber í und das überrascht wiederum die späteren Leser. Ebenfalls im MkEv befindet sich die Geschichte des im Lande der Schweinehüter herumwandernden Besessenen (5,1í20). Obzwar weniger beachtet,26 begegnet uns in dieser offenbar nichtjüdischen Umgebung nochmals die bemerkenswerte Zurückhaltung Jesu. Als er nach dem Exorzismus wieder ins Boot stieg, bat ihn der Geheilte, bei ihm bleiben zu dürfen. „Aber Jesus erlaubte es ihm nicht, sondern sagte: Geh nach Hause und berichte den Deinen alles, was der Herr für dich getan hat“ (5,18 f). Einzigartig ist diese Weigerung Jesu, jemanden ihm folgen zu lassen. Sie hängt anscheinend mit dessen Nichtjudesein zusammen. Jesus sendet ihn dagegen „zu den Seinen“, um ihnen über die wunderbare Heilung zu erzählen. Die Heidenmission wird von einem geheilten Heiden begonnen.27 Das passt natürlich gut zu Markus, liegt aber auch auf der Hand. In der lukanischen Überlieferung finden sich zwei Geschichten von einem nichtjüdischen Hauptmann, die als Beispiel der lukanischen Dubletten-

25

Vgl. Irenäus bei Eus.h.e. 5,8,3 f: Markus habe die Predigt Petri, der auch in Rom gepredigt habe, schriftlich abgefasst. Eine Ausrichtung auf Nichtjuden geht eindeutig aus dem Text selber hervor, wie etwa in der Erklärung jüdischer Reinheitsbräuche Mk 7,3í4 und in der nichtjüdischen Fassung des Ehescheidungsverbots 10,12; vgl. 1Kor 7,10. 26 Kennzeichnend ist etwa die Erklärung von S. Légasse, L’Évangile de Marc, LeDiv Commentaires 5, Paris 1997, 329: „L’heure de la mission universelle n’a pas encore sonné“ (vgl. Lagrange zu Mt 28,19: oben S. 316). 27 Wilk, Jesus (s. Anm. 15), 65 f sieht, wie viele andere, im ehemaligen Besessenen einen Juden und liest hier einen für Mk außergewöhnlichen Befehl zur Verkündigung, die sich – jedenfalls primär – an Diasporajuden richtet.

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Technik betrachtet werden können (Lk 7,1í10; Apg 10,1í11,18).28 An sich sollte das die Frage der Authentizität nicht präjudizieren. Der Autor arrangiert empfangene Traditionen ungezwungen zu einer einheitlichen Erzählung und erreicht so einen hohen Grad von verisimilitudo, „Wahrscheinlichkeit“.29 Höchstens könnte man ihm die Tendenz vorhalten, Konflikte zu „deeskalieren“, wie etwa den zwischen Paulus und Barnabas Apg 15,39 f. Andererseits verwendet er offensichtlich bewusst „authentisches“ Vokabular der Zeitgeschichte.30 Dass die Beschreibung des guten Verhältnisses zwischen den zwei Hauptleuten und ihren jeweiligen jüdischen Stadtgenossen (Lk 7,3–5; Apg 10,2.22) überlieferter historischer Wirklichkeit entsprechen könnte, bestätigen archäologische Daten über die Koexistenz von Juden und „Gottesfürchtigen“.31 Zudem muss das Anliegen des Autors bedacht werden, die „harmonische“ Aufnahme der Nichtjuden in die Jesusgeschichte zu unterstreichen. Völlig klar wird das in der zweiten, paulinischen Hälfte der Apostelgeschichte, es wird aber schon in den Berichten über die Hauptleute angekündigt. Daneben steht allerdings die Zurückhaltung an der Grenze zwischen Juden und Nichtjuden, die Jesus wie seinen wichtigsten Jünger Petrus kennzeichnet. Jesus betritt das Haus des Nichtjuden nicht, spricht sogar (ungleich der matthäischen Parallele) überhaupt nicht mit ihm, und Petrus braucht den dreimal wiederholten, schockierenden Traum, um über die Schwelle gezogen zu werden. Überraschenderweise scheint der Hauptmann aus Kafarnaum das zu verstehen und ihm zuvorzukommen: „Herr, … ich bin nicht geeignet, dass du unter mein Dach kommst“ (Lk 7,6).32 Im Hintergrund steht anscheinend hier wie in Apg 10 das halachische Prinzip der ĠĜīĞĘģ ĭēġĘě, „Unreinheit der Nichtjuden“, insbesondere die 28 Über Dubletten („pairs“) vgl. H. J. Cadbury, The Making of Luke-Acts [1927], Neudr. London 1958, 231–234. 29 Wichtig ist z. B., dass das lukanische Bild der jüdischen „Sekten“ mit dem des Josephus und der rabbinischen Literatur übereinstimmt, vgl. S. Mason, Chief Priests, Sadducees, Pharisees and Sanhedrin in Acts, in: R. Bauckham (Hg.), The Book of Acts in its Palestinian Setting, Carlisle 1995, 115–177; P. J. Tomson, Les systèmes de halakha du Contre Apion et des Antiquités, in: F. Siegert / J. U. Kalms (Hg.), Internationales Josephus-Kolloquium Paris 2001. Studies on the Antiquities of Josephus; Études sur les Antiquités de Josèphe, MJSt 12, Münster 2002, 189–220. 30 Wie ͨ΃͚ͤͥ‫ ͦ͐͠΃ͦ΂ ͣ׬‬Lk 2,26 oder ͒͡‫ ]͖ٓ͠ͱ[ ͣل‬Apg 3,13.26; 4,27, vgl. die kritische Bemerkung über ͈΃͚͚ͤͥ͒͐͞͠ Apg 11,26; vgl. M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, 57; Cadbury, Making, 229 f. E. Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte, StUNT 9, Göttingen 1992, 72í79 betrachtet dies als das typisch hellenistische Phänomen der „Archaisierung“, rechnet aber damit, dass Lukas dafür in der Tat alte Überlieferungselemente verwendet. 31 Berühmt ist das Beispiel von Aphrodisias, vgl. J. Reynolds / R. Tannenbaum, Jews and Godfearers at Aphrodisias. Greek Inscriptions with Commentary, Cambridge 1987, mit der Liste von „gottesfürchtigen“ Synagogenmitgliedern. 32 Ähnlich, auch zum Folgenden, J. A. Fitzmyer, The Gospel According to St. Luke, 2 Bde., AncB 28, Garden City 1981í1985, I, 652.

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spezielle Kategorie des ĠĜġĥė īĘĖġ, der „heidnischen Wohnung“, die wie die Leichenunreinheit durch ĭĘğĜėē, „Überzeltung“, übertragen wird: Alles, was sich im „Zelt“ befindet, wird unrein, und deshalb solle nach bestimmter Auffassung ein frommer Jude solch ein Haus nicht betreten. Der von Lukas (Q) verwendete Ausdruck „unter mein Dach“ ist insofern sachgemäß, und ebenso das vom Hauptmann gebrauchte ֭΂͒ͭͣ͞, „geeignet“.33 Juden waren sich hierüber aber gar nicht einig; zudem ist eine allmähliche Verschiebung der Erklärungsgründe zu beobachten.34 Auch auf diesem Gebiet scheint übrigens die konservativere Schule Schammais zurückhaltender gegenüber Nichtjuden gewesen zu sein.35 Nach den lukanischen Berichten hatten Jesus sowie, anfänglich, sein Jünger Petrus eine ähnlich konservative Auffassung. Diese Auffassung steht der Tendenz des Autors, die Aufnahme von Nichtjuden in die Jesusbewegung zu begrüßen, entgegen. Nehmen wir die beiden Markusberichte dazu, dann stellt sich die relative Geschlossenheit der Jesustradition gegenüber Nichtjuden heraus. Sie ist anscheinend in der frühen „Apostelgeschichte“ beim Hinzukommen einzelner Nichtjuden ins Schwanken geraten. Bei näherer Betrachtung ist die in der Apostelgeschichte implizierte Botschaft, dass Petrus für die Entwicklung der Heidenmission der Haltung seines Meisters untreu werden musste, ein fast unwiderlegliches Argument für die Authentizität dieser Jesustradition: Jesus hat sich ja gegenüber Nichtjuden reservierter verhalten als z. B. Philippus, der spätere Petrus und natürlich Paulus. Das steht frühchristlichen Auffasssungen so sehr entgegen, dass nur eine große Autorität dahinter stehen kann: Jesus selbst. Betrachten wir aufgrund obiger Schlussfolgerung die beiden matthäischen Sprüche über die Sendung zum „Hause Israels“, so können wir nicht ausschließen, dass sie ebenfalls aus der frühen Jesustradition stammen. Dies wird wahrscheinlich, wenn wir die Sendung Jesu vor ihrem alttestamentlich-jüdischen Hintergrund in den Blick nehmen. Sowohl in Mt 10,6 als auch í in einem Zwischengespräch í in 15,24 wird den Jüngern gesagt, Jesus und seine Jünger seien „vielmehr“ (͝‫͜͜͞͠ا‬, 10,6) oder „nur“ (͠‫͏͝ ͖֬ … ΂׈‬, 15,24) ͖֬ͣ ͥ‫ פͥ ͓͒ͥ͒ͭ΃͡ פ‬րͪͭͥ͒͜͜͡͠ ְ͠΂ͦ͠ ִͤ΃͒͏͜ gesandt. Der Ausdruck ͡΃͓ͭ͒ͥ͒ րͪͭͥ͒͜͜͡͠ kommt aus 33

Vgl. BDAG s. v. ֭΂͒ͭͣ͞: „fit, appropriate, qualified …“ Im Munde der Juden ist er aber ք͚ͣ͟͠ (7,4), obzwar er dem selber widerspricht: ͠‫( ͒ͤͪ͐֜͟ ͞׬ͥͦ͒͝֐ צ͕׈‬7,7). 34 mOh 18,7í10; tAh 18,7í11. Alon machte plausibel, dass die Erklärung aufgrund von Totenunreinheit sekundär ist, weil nach Auffassung vieler eine nichtjüdische Leiche keine Unreinheit verursachte; die eigentliche Ursache sei vielmehr der vorausgesetzte Götzendienst: G. Alon, The Levitical Uncleanness of Gentiles, in: ders., Jews, Judaism and the Classical World. Studies in Jewish History in the Times of the Second Temple and the Talmud, Jerusalem 1977, 146–189, v. a. 183í186 und Anm. 75. Die Kritik J. Klawans’ in seiner im Übrigen glänzenden Untersuchung Impurity and Sin in Ancient Judaism, Oxford 2000, 134 f tut Alon m. E. Unrecht. 35 mOh 18,8 schreibt sie eine gründlichere Nachprüfung eines verdächtigten Hauses vor.

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dem Jeremiabuch: Das Volk wird so bezeichnet, weil „ihre Hirten sie verführt haben“.36 Dem hat sich der semitisierende Ausdruck ְ͠΂ͣ͠ ִͤ΃͒͏͜ zugesellt.37 Semitisierend ist auch ͠‫͏͝ ͖֬ … ΂׈‬.38 Der ganze Spruch Mt 15,24 muss aus einer bestimmten schriftlichen oder mündlichen Tradition stammen.39 Am ehesten doch wohl aus der Jesustradition; in welchem Maße Jesus selbst Vorgefundenes weitergebildet hat, kann dahingestellt bleiben. Der polemische Untergrund des Spruchs kann jedenfalls gut mit dem „geheimen Programm“ zu tun haben, das auch aus anderen seiner Sprüche hervorgeht: seinem Streit mit der Verwaltung des Jerusalemer Tempels, auf den seine ganze Sendung hinauslief,40 der im prophetischen Akt der Tempelreinigung symbolisiert wurde.41 Das scheint ein seltsamer, bei Lk überlieferter Rätselspruch zusammenzufassen: „Es geht nicht an, dass ein Prophet außerhalb Jerusalems umkommt“ (13,33). Nach der ihm zugehörigen Überlieferung meinte Jesus also im Anschluss an alttestamentlich-jüdische prophetische Traditionen, er sei nur gesandt, das „in die Irre geführte Israel“ zu Umkehr und Heil aufzurufen.42 Im Hinblick auf die dargelegte polemische Ausrichtung hätten Heiden hier bloß eine negative Rolle: „Der Menschensohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überliefert, und die werden ihn … den Heiden überliefern“ (Mk 10,33; Lk 18,32). Die oben zitierten mk und lk Entsprechungen des Schafespruchs machen es unwahrscheinlich, ihn als nur auf die Art der Mission Jesu bezogen zu verstehen. Es ist wahrscheinlicher, dass er auch mit seiner allgemeinen Reserve Nichtjuden gegenüber zusammenhängt. 36 Jer 27,6 (MT 50,6): ͡΃͓ͭ͒ͥ͒ րͪͭͥ͒͜͜͡͠ ֐͔͖͞͏ͱ͘ ֽ ͒ͭͣ͜ ͦ͝͠, ֭͠ ͚͎͖ͣ͡͠͝͞ ͒‫ͥ׈‬٠͞ ֐͟٠ͤ͒͞ ͒‫ͣͮͥ͠׈‬. Lk 15,6: ͥ‫ ׬ͥ ͦ͠͝ ͓ͭͥ͒ͭ͞΃͡ ׬‬րͪͭͣ͜͜͡͠ entstammt eher Ps 119,176: ֐͒͜͡͞͏ͱ͘͞ ‫ ͓ͥ͒ͭ͞͠΃͡ ͣו‬ր̫ͪͭͣ͜͜͡͠ ͗͏ͥͤ͘͠͞ ͥ‫΂׈͠ ͦͤ͠ ͍ͣͥ͜͠͞֐ ͣפͥ ֽ͚ͥ ͦͤ͠ ͕ͭٓ͜͞͠ ͞׬‬ ֐͖͒͜͡ͱͭ͘͝͞, aber auch hier ist das Umherirren in Ermangelung guter Leitung impliziert. 37 Lagrange, Évangile (s. Anm. 7), 197: „ְ͠΂ͦ͠ sans article, comme un mot sémitique à l’état construit“; ähnlich BDR § 262.2. 38 BDR § 376.1 í und zwar nicht nur „in Anlehnung an das Aram.“, sondern ganz klar auch ans Hebr.: ēğē … ĢĜē / ēğ. Nach M. H. Segal, A Grammar of Mishnaic Hebrew, Oxford 1927 (Neudr. 1970), 237 (§ 505 f) sei ēğē äquivalent mit bibl. ēğ Ġē í also genau ͖֬ ͝͏. Davies / Allison, Commentary II (s. Anm. 4), 550 nennen noch ր͎ͤͥͪ͜͜͡͠ ͖֬ͣ + die Betroffenen als Semitismus (nach Jeremias). 39 ְ͠΂ͣ͠ ִͤ΃͒͏͜ wird nur noch Apg 2,36 außerhalb biblischer Zitate verwendet (vgl. Apg 7,42; Hebr 8,8.10) und soll dort den Eindruck empfangener Tradition vermitteln. 40 Dem entspricht außer dem polemischen Rätselspruch Lk 13,31–33 auch der Davidssohnspruch Mk 12,35í37 (Lk 20,41–44), der in Apg 2,34–36 aufgenommen wird. 41 Siehe v. a. Mk 11,11í18 mit einzigartigen und aufschlussreichen Elementen. Die Weissagung der Tempelzerstörung gehört auch hierher, vgl. C. A. Evans, Predictions of the Destruction of the Herodian Temple in the Pseudepigrapha, Qumran, and Related Texts, JSP 10, 1992, 89í147. 42 Vgl. Lagrange, Évangile (s. Anm. 7), 197: „Le Messie était envoyé à Israël. Cette restriction est en harmonie avec xv,24, et très vraisemblable“ (d. h. keine Rejudaisierung). Insoweit hat auch Strecker, Weg (s. Anm. 11), 107í109 Recht, dieses vom Evangelisten „eingeschobene“ Wort einer Tradition „judenchristlicher Theologie“ zuzuschreiben.

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3. Die jüdische Geschichte im 1. Jahrhundert Um den zeitgeschichtlichen Rahmen des MtEv im Ganzen darzustellen, bedarf es eines Überblicks der jüdischen Geschichte im 1. Jahrhundert. Hierfür müssen wir uns auf die Untersuchungen sachkundiger Historiker stützen. Wir skizzieren insbesondere die zweite Hälfte des Jahrhunderts in drei aufeinander folgenden „Aufnahmen“. (1) Hauptsächlich auf Josephus basiert die Information, die man in maßgebenden historischen Darstellungen des 1. Jahrhunderts findet, dass mit der Zeit der Prokuratoren 44 n. Chr. und v. a. nach 52 ein wachsendes Klima von Chaos und Gewalt entstand, aus dem schließlich der Krieg gegen Rom erwuchs.43 In der englischen Übersetzung des Schürer heißt es so: „Felix’s term of office manifestly constitutes the turning-point in the drama which started in A. D. 44 and reached its bloody climax in A. D. 70.“44 Es liegt auf der Hand, hiermit die rabbinischen Berichte zu verbinden, die von der Vorkriegszeit als einer Periode „grundlosen Hasses“ sprechen.45 Es ist ebenfalls anzunehmen, dass sich die Vorherrschaft der Schule Schammais, von der die rabbinische Literatur berichtet und die, wie wir gleich sehen werden, beim Kriegsausbruch entscheidend war, in dieser Periode herausbildete. Die ihnen selbstverständliche Reserve gegenüber Nichtjuden hat anscheinend dazu beigetragen, dass die Schammaiten die wichtigsten Anstifter des Krieges wurden, dass sich also am meisten unter ihnen eine „zelotische“ Haltung abzeichnete í wie sie auch nach dem Kriege am stärksten dezimiert erscheinen.46 Sodann halte ich es für wahrscheinlich, dass diese wachsende heidenfeindliche Atmosphäre auch auf die Kirche eingewirkt hat und dass namentlich die Gesetzesfrage dadurch eine gesteigerte Dringlichkeit bekam. Die Paulusbriefe spiegeln einen wachsenden Druck auf die Nichtjuden wider,

43 Vgl. E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, bearbeitet von G. Vermes u. a., Edinburgh 1973í1987, I, 455í470, mit generellem Verweis auf Ant. 20,1í16; 97í258; Bell. 2,204í308 und Tacitus ann. 15,44; hist. 5,9í10. Vgl. für diese Periode und weitere Literaturverweise (M. Stern, M. Hengel, E. M. Smallwood) auch P. J. Tomson, „Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“ (Röm 2,13) – Zu einer adäquaten Perspektive für den Römerbrief, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, WUNT 182, Tübingen 2005, 183– 221: 215í220. In seinem Nachwort im selben Band lehnt J. D. G. Dunn, The Dialogue Progresses, in: ebd., 388í430: 407 diesen Zeitrahmen mit einem simplen Verweis auf E. P. Sanders ab. Vgl. insbesondere die sicarii, „Dolchmänner“, in Bell. 2,247–279. 44 Schürer / Vermes, History I, 460. 45 ĠģĚ ĭēģĬ, tMen 13,22 = jJoma 1,1 [38c]; vgl. bJoma 9b; Kalla Rabbati 5,1. 46 M. Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I bis 70 n. Chr., AGJU 1, Leiden 21976; I. Ben Shalom, The School of Shammai and the Zealots’ Struggle against Rome, Jerusalem 1993 (hebr).

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sich beschneiden zu lassen und das jüdische Gesetz auf sich zu nehmen.47 Diese Entwicklung kann man vermutlich an der Apg ablesen.48 (2) War unsere erste Aufnahme eher eine „Zeitaufnahme“ der Jahre um 50, ist die zweite eine Momentaufnahme: der Kriegsausbruch 66 n. Chr. Nach der einleuchtenden Rekonstruktion von Heinrich Graetz ist der Tempelkommandant Eleazar, der Sohn des Hohepriesters Ananias, der nach Josephus die Initiative zum Krieg ergriff,49 identisch mit Eleazar ben Chananja, dem führenden Nationalisten und Repräsentanten der Schule Schammais in der rabbinischen Literatur.50 In dieser Zeit muss auch die „Räubersynode“ (so Graetz ironisch, nach der gewaltsamen Synode von Ephesus 449) im Hause des Vaters von Eleazar, Ananias, stattgefunden haben, auf der nach rabbinischen Texten die Schammaiten den Hilleliten mit Waffengewalt eine Anzahl v. a. antiheidnischer Maßnahmen auferlegten.51 Gab es somit einen Bürgerkrieg unter den Juden Palästinas, so kam es auch in der angrenzenden Diaspora zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Nichtjuden, z. B. in Antiochien.52 Wie es unlängst im ehemaligen Jugoslawien dramatisch zu beobachten war, führte auch damals der Kriegsausbruch zu einer mehrfachen sozialen Spaltung. Es ist wiederum anzunehmen, dass diese Spaltung nicht an der Kirche vorüberging und dass die bereits bestehenden Spannungen zwischen zelotischen und anderen Judenchristen sowie zwischen Juden- und Heidenchristen sehr stark anwuchsen. (3) Die dritte Aufnahme machen wir in der Amtszeit Rabban Gamli’els des Jüngeren, der wohl der Enkel des Gamli’el aus der Apg war. Die hierfür verwertbaren rabbinischen Quellen müssen mit externen Quellen und archäologischen Daten kritisch verglichen werden; wir folgen hier insbeson47

Vgl. den einschlägigen Unterschied zwischen 1 und 2Kor; ferner Gal, Phil, Kol und Röm. Für weitere Hinweise vgl. Tomson, „Die Täter“ (s. Anm. 43), 215í220. 49 Bell. 2,409 f; H. Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart III.2, Leipzig 1888, 470–472 und Anm. 24.26.27 (795 ff). 50 Ihm werden MekhJ Yitro Ba-½odesh 7 [229 Horovitz / Rabin] die gleichen Sabbatsitten zugeschrieben wie Schammai MekhSh [148 Epstein / Melamed]; bBez 16a; PesR 23 [115b Friedmann]. Auch soll er die ursprünglich hasmonäische Daten festhaltende Fastenrolle „geschrieben“ haben, d. h. um zeitgenössische Ereignisse ergänzt: Scholion zu MegTaan, hg. v. H. Lichtenstein, in: HUCA 8–9, 1931–32, 257–351: 351; vgl. bShab 13b. Vgl. jetzt den hervorragenden Artikel von V. Noam, Megillat Taanit – the Scroll of Fasting, in: S. Safrai u. a. (Hg.), The Literature of the Sages II: Midrash and Targum; Liturgy, Poetry, Mysticism; Contracts, Inscriptions, Ancient Science; and the Languages of Rabbinic Literature, CRI II.3b, Assen u. Minneapolis 2006, 339í362, die aber Graetz’ Rekonstruktion m. E. zu skeptisch beurteilt. 51 Siehe mShab 1,4; tShab 1,15 f; jShab 1,7 [3c–d]. Zu dieser Episode vgl. Graetz, Geschichte, ebd.; Hengel, Zeloten (s. Anm. 46), 204–211; A. Goldberg, Commentary to the Mishna Shabbat, Jerusalem 1976 (hebr.); P. J. Tomson, Paul and the Jewish Law. Halakha in the Letters of the Apostle to the Gentiles, CRI III.1, Assen u. Minneapolis 1990, 173–177. 52 Flav.Jos.Bell. 7,45í53. 48

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dere der í gewiss nicht unumstrittenen í Synthese von Gedalyahu Alon.53 Die Amtsperiode Gamli’els hat wahrscheinlich erst nach dem Tode des Kaisers Domitian 96 n. Chr. angefangen, also um 100. In der rabbinischen Literatur wird er als ein herrschsüchtiger Charakter dargestellt, der seine Gegner hart anzupacken wusste. Zudem scheint er die Anerkennung der römischen Behörden erlangt zu haben, was seine Macht noch gesteigert haben muss. Gewissermaßen der richtige Mensch zur richtigen Zeit, hat er anscheinend die von seinem Vorgänger Jochanan ben Zakkai angefangene Konsolidierungspolitik weitergeführt und die Gestaltung des jetzt entstehenden rabbinischen Judentums energisch angefasst. Zu den Errungenschaften, die Gamli’el II. wohl zugeschrieben werden können, gehören der Pessachseder, d. h. die Hausliturgie des Passamahles, das täglich dreimal zu betende Achtzehnbittengebet, und der Kanon der heiligen Schriften.54 Mit dem Achtzehnbittengebet verbunden war wahrscheinlich das „Trennungsdekret“, d. h. eine oder mehrere Maßnahmen, die die Trennung der Juden- und Heidenchristen von der jüdischen Gemeinschaft zum Zweck hatten; die Einfügung der birkat ha-minim gehörte wohl dazu.55 Ungefähr in dieselbe Zeit muss auch die Einführung des Titels „Rabbi“ für ordinierte Toralehrer datiert werden; Lehrer, die vor der Tempelzerstörung wirkten, tragen ja keinen solchen Titel, wohl aber die späteren,56 und das stimmt gerade mit der noch zu nennenden Stelle Mt 23,8 überein.57 Zusammen mit den anderen Maßnahmen markiert sie die Entstehung des „rabbinischen“ Judentums. In diesen Jahren oder gar bereits unter Jochanan ben Zakkai scheint der mündliche Redaktionsprozess der rabbinischen Tradition begonnen zu haben, der mehr als ein Jahrhundert später in die Fertigstellung der Mischna münden sollte, der Kernschrift des rabbinischen Judentums. 53 G. Alon, The Jews in Their Land in the Talmudic Age I, Jerusalem 1980, 107–124; zur Datierung vgl. S. Safrai, In Times of Temple and Mishnah. Studies in Jewish History, Jerusalem 1996 (hebr.), 331 f. Das Problem der Reisen der rabbinischen Führer nach Rom spielt hier eine wichtige Rolle; vgl. Alon, ebd.; Safrai, ebd., 365–381. Zur Diskussion über die „zionistische“ Anschauung Alons vgl. jetzt P. J. Tomson, Transformations of Post-70 Judaism. Scholarly Reconstructions and their Implications for our Perception of Matthew, Didache, and James, in: J. Zangenberg / H. van de Sandt (Hg.), Matthew, James and the Didache. Three Related JewishChristian Documents in their Historical, Social and Religious Setting (in Vorb.). W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, Cambridge 1966, 256í315 vermittelt, wie Luz, Evangelium I (s. Anm. 2), 98 Anm. 261 bemerkt, eine „verdichtete“ Vorstellung der Periode von „Jamnia“, in der Frühes und Spätes unkritisch durcheinander verwendet wird. 54 Vgl. Alon, ebd., 253í287. 55 Weiteres s. in P. J. Tomson, The Wars against Rome, the Rise of Rabbinic Judaism and of Apostolic Gentile Christianity, and the Judaeo-Christians. Elements for a Synthesis, in: ders. / D. Lambers-Petry (Hg.), The Image of the Judaeo-Christians in Early Jewish and Christian Christian Literature, WUNT 158, Tübingen 2003, 1–31: 14í18. 56 Ähnlich Davies / Allison, Commentary I (s. Anm. 4), 135. 57 Der einzige Anhaltspunkt ist Mt 23,7í12, s. u. S. 329 f.

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Ein Rückblick auf das Jahrhundert zeigt, wie aus dem Chaos der Vorkriegs- und Kriegsjahre die mehr oder weniger festumrissene Gestalt des rabbinischen Judentums hervortritt. Von Uniformität zu reden wäre aber unangebracht; schon die unzähligen Meinungsverschiedenheiten in der Mischna vermitteln den Eindruck großer Vielfalt. Nichtsdestoweniger stehen wir vor einem ungeheuren Sichtungsprozess, in dem die Kirche aus Juden und Nichtjuden wohl überaus schwerem Druck ausgesetzt war. In diesem Schmelztiegel hat offenbar das MtEv seine Form finden müssen.

4. Die Entstehung des MtEv Es liegt nahe, die großen Spannungen, die das MtEv in der Frage des Gesetzes und des Verhältnisses zu den Nichtjuden erkennen lässt, im Rahmen dieses gerade in dieser Frage so bewegten Jahrhunderts zu sehen. Es drängt sich die Vorstellung einer Entwicklung auf, in der die dramatische Abfolge von ganz verschiedenen Situationen zu einem schnellen Wandel von Anschauungen geführt hat. Die Eignung eines solchen evolutionären Erklärungsmodells steht, anders als im 19. Jahrhundert, nicht mehr im Voraus fest. Wenn es uns aber ermöglicht, die verschiedenen, z. T. widersprüchlichen Daten unseres Textes in einem einleuchtenden Zusammenhang zu sehen, kann es nicht übergangen werden. Zudem legt die Differenz zwischen der Haltung der frühen Jesustradition und der späteren matthäischen Gemeinde gegenüber Nichtjuden ein solches Modell nahe. Etwas schematisch stellen wir uns jetzt den Werdegang des Evangeliums in vier aufeinanderfolgenden Schichten vor, die sukzessiven Stadien in der Sozialgeschichte des MtEv entsprechen könnten. Wie gesagt haben sozialrelevante halachische Daten großen historischen Wert. Schließlich ergibt sich eine mögliche örtliche Bestimmung. (a) Eine jesuanische Schicht. Texte aus dem MkEv und aus Lk-Apg zeigen die frühe Jesustradition als eher zurückhaltend gegenüber den Nichtjuden. Daher könnte der nur im MtEv enthaltene Schafespruch auch dieser Tradition entstammen. Im Hinblick auf den alttestamentlichen Hintergrund des Spruches entspricht der Reserve gegenüber Nichtjuden positiv die Überzeugung, „der Menschensohn“ sei gesandt, um das irregeführte Israel zurechtzubringen und seine falschen Führer in Jerusalem anzuklagen. (b) Eine judenchristlich-pharisäische Schicht. Eine Nähe zur pharisäischen Tradition zeigt sich in matthäischen Ausdrücken wie „das Königreich der Himmel“ (32 ×), das „Verzehnten von Minze, Dill und Kümmel“ (Mt 23,23), ein „Schriftgelehrter, der ein Jünger des Reichs der Himmel geworden ist“ (13,52), „ein Iota oder ein Häkchen des Gesetzes“ (5,18), die

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alle große Ähnlichkeit mit rabbinischem Traditionsgut aufweisen. Die schwer zu entscheidende Frage ist: Entstammen diese Ausdrücke bereits der matthäischen Redaktion oder noch der Jesustradition? Können die aufeinanderfolgenden matthäischen Redaktoren nicht all diese Ausdrücke beibehalten haben, weil sie ihnen entgegenkamen, während der lukanische Redaktor sie für seine griechischen Leser meistens nicht brauchen konnte?58 Entscheiden können wir erst, wo sich Unterschiede abzeichnen. Einigermaßen deutlich scheint das beim Vaterunser sein. Die bündige lukanische Version (Lk 11,1í4), die Jesus laut der narrativen Einleitung auf die Frage eines Jüngers lehrte, klingt mit ihrem charakteristischen Anfang „Vater“ sicher ursprünglicher. Die matthäische Version dagegen hat nicht nur die Züge eines Gemeindegebets („unser Vater …“), sondern zudem matthäischen59 und „rabbinischen“60 Charakter („… der Du im Himmel“, Mt 6,9). Doch lässt sich nicht ausschließen, dass die betreffenden Redaktoren eine Version des Gebets verwendet haben, die nicht nur in der Gemeinde verwurzelt war, sondern auch aus der Jesustradition stammte.61 Jedenfalls haben sie sie mit dem wohl in der Tradition vorgefundenen Ausdruck zusammengestellt, der Jesus í wie wir jetzt besser wissen í vertraut gewesen sein kann: dass seine Jünger beim Beten nicht „plappern“ sollen „wie die Heiden“ (Mt 6,7).62 Ganz klar ist der Unterschied zwischen Jesustradition und Matthäusredaktion beim Gebot der Ehescheidung,63 und zwar mit bezeichnender Wiederholung: Mt 5,32; 19,9.64 Es betrifft hier ein sozial höchst relevantes halachisches Element, weil die in der einschlägigen Literatur genannten „Unzuchtsklauseln“ genau mit der schammaitischen Halacha übereinstim58 Das war auch die Arbeitshypothese David Flussers, die aber die Gegenhypothese einer matthäischen Redaktion nicht genügend einbezogen hat. í Im Fall des MtEv rechne ich mit mehreren, sukzessiven Redaktoren, während das vorliegende LkEv offensichtlich einen Endredaktor hatte. 59 Vgl. nuanciert Luz, Evangelium I (s. Anm. 2), 435 f. 60 ĠĜġĬĔĬ ĘģĜĔē ist rabbinisch, vgl. mSota 9,15 (3 ×) und zumal Seder Eliyahu (11 ×); sehr häufig ist ĠĜġĬĔĬ Ģ\ĠėĜĔē. 61 Vgl. P. J. Tomson, The Lord’s Prayer as a „Short Prayer“ from Pre-Rabbinic Judaism (in Vorb.). 62 Der Ausdruck kommt auch Mt 5,47; 18,17 vor. Auf Zugehörigkeit zur Jesustradition weist der Kontrast zum dreifach umschließenden, sicher redaktionellen ͝‫ ר‬/ ͠‫ͣו … ΂׈‬/‫͠͡׉ ֭͠ ΃͖ͤ͡י‬΂΃͚ͥ͒͐ 6,2.5.16, das Did 8,1.2 in genau entsprechender Funktion vorkommt. 63 Vgl. die ausführliche Behandlung in P. J. Tomson, Halakhah and the New Testament. A Research Overview Focussing on Divorce Law, in: R. Bieringer / F. García Martínez / D. Pollefeyt / P. J. Tomson (Hg.), The New Testament and Rabbinic Literature, SJSJ, Leiden (in Vorb.). Vgl. auch die wichtigen traditionskritischen Bemerkungen von B. Schaller, Die Sprüche über Ehescheidung und Wiederheirat in der synoptischen Überlieferung [1970], in: ders., Fundamenta Judaica. Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament, hg. v. L. Doering / A. Steudel, StUNT 25, Göttingen 2001, 104í124. 64 Vgl. die Liste von Wiederholungen, insbesondere Dubletten, in Davies / Allison, Commentary I (s. Anm. 4), 89í91; Luz, Evangelium I (s. Anm. 2), 29 f.

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men (mGit 9,10),65 im Gegensatz einerseits zur hillelitischen, andererseits zur essenischen Auffassung.66 Strecker67 hat hier richtig gesehen: Der matthäische Redaktor hat die schammaitischen Unzuchtsklauseln in die synoptisch-markinische Tradition eingeschoben. Man könnte hier von einer auffallenden „Schammaisierung“ sprechen. Anscheinend wollte der betreffende Redaktor die Ehescheidungslehre Jesu nicht als hillelitisch und auch nicht (wie bei Markus, Lukas und Paulus) als „essenisch“, sondern gerade als schammaitisch darstellen. Das bleibt erstaunlich, und man fragt sich, warum dem so ist. (c) Eine antipharisäische Schicht. Der judenchristlich-pharisäischen Phase scheint eine antipharisäische gefolgt zu sein. Das erweist sich im deutlichen Kontrast zur oben herausgestellten Nähe zur pharisäischen Tradition. Dreimal im Abschnitt der Bergpredigt über Almosengeben, Beten und Fasten und sechsmal in der Rede gegen die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ wird durch Verwendung der Bezeichnung ‫ ͚͐͒ͥ΃΂͠͡׉‬eine scharfe Abgrenzung gegenüber den Pharisäern vollzogen. Dies betrifft Lehren Jesu über religiöse Bräuche, die inhaltlich viel mit der pharisäischen Tradition gemein haben.68 Die Parallelen zwischen Mt 6,1–18 und Did 8 machen eine relative Datierung bezüglich der rabbinischen Tradition möglich, und zwar im Hinblick auf halachische Elemente,69 die auf die eingreifenden Maßnahmen Rabban Gamli’els Ende des 1. Jh. zu verweisen scheinen.70 Eine weitere Abgrenzung liegt im Jesus zugeschriebenen Verbot, sich í offenbar amtlich í ΃٨͓͓͒͐ nennen zu lassen (Mt 23,8). Es wurde oben die Annahme ausgesprochen, dass dies ebenfalls eine Erneuerung aus der Zeit Gamli’els des Jüngeren (vielleicht auf seine Anregung) betrifft.71 Der matthäisch-redaktionelle Ursprung von 23,7í12 erscheint in den Ausdrücken ֽ 65 Vgl. z. B. E. Neudecker, Das „Ehescheidungsgesetz“ von Dtn 24,1–4 nach altjüdischer Auslegung. Ein Beitrag zum Verständnis der neutestamentlichen Aussagen zur Ehescheidung, Bib. 75, 1994, 350–383. 66 J. A. Fitzmyer, The Matthean Divorce Texts and Some New Palestinian Evidence [1976], in: ders., To Advance the Gospel. New Testament Studies, New York 1981, 79í111. 67 Strecker, Weg (s. Anm. 11), 16 f. 68 Mt 6,2.5.16 (vgl. Did 8,1.2) – gemeint sind Pharisäer; 23,1.13.15.23.25.27.29 (vgl. 15,7; 22,18) sind Pharisäer direkt als „Heuchler“ angesprochen. 69 Dazu und zur Sache Tomson, Halakhic Evidence (s. Anm. 3). 70 Vgl. genauer Tomson, ebd. D. Flusser, Paul’s Jewish-Christian Opponents in the Didache, in: S. Shaked u.a. (Hg.), Gilgul. Essays on Transformation, Revolution and Permanence in the History of Religions, FS Z. Werblowski, Leiden 1987, 71í90 sieht hier zu Unrecht eine heidenchristliche Abspaltung; ebenso, etwas abgeschwächt, H. van de Sandt / D. Flusser, The Didache. Its Jewish Sources and Its Place in Early Judaism and Christianity, CRI III.5, Assen u. Minneapolis 2002, 295 f. Fasten am Mittwoch und Freitag entspricht eher dem essenischen Solarkalender, das Festhalten am Vaterunser dem Widerstand gegen das jüngere Achtzehnbittengebet. Vgl. knapp Tomson, „If this be from Heaven …“ (Anm. 2), 388. 71 Vgl. Strecker, Weg (s. Anm. 11), 33, der hier aber ahistorisch eine „Ablösung vom Judentum“ sieht. Vgl. des Weiteren Tomson, The Wars against Rome (s. Anm. 55), 12 f u. Anm. 63.

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͒ͥ͡‫( ͚͍ͣ͠͞΃׈͠ ֽ ΃ר‬V. 9) und, erstaunlich, ֽ ͈΃͚ͤͥͭͣ (V. 10). Vielleicht sollte also richtiger von einer antirabbinischen Schicht des MtEv gesprochen werden.72 Auf das im JohEv erwähnte Trennungsdekret (Joh 9,22; 12,42; 16,2) gibt die Endform des MtEv jedoch keine Hinweise. (d) Eine heidenchristlich-antijüdische Schicht. Schließlich hat sich im MtEv und also in der matthäischen Gemeinde ein heidenchristlich-antijüdisches Denken niedergeschlagen. Im Prinzip ist das zu unterscheiden von der Öffnung zu den Nichtjuden, die an einigen Stellen zum Ausdruck kommt (Mt 10,18; 24,14; vielleicht auch 28,19?). Wie Paulus in seinen Briefen (Röm 9í11!) zeigt, braucht Heidenmission nicht notwendigerweise mit Antijudaismus einherzugehen. In einigen matthäischen Passagen tut sich dann aber doch ein solcher auf. Zunächst erklingt in der Geschichte vom Hauptmann von Kafarnaum (Mt 8,5í13), in der die ganze Sympathie zwischen dem Hauptmann und den Juden aus der lukanischen Parallele fehlt, der verstörende Satz aus Jesu Mund, dass „die Kinder des Königreichs hinausgeworfen werden“, während vom Osten und Westen andere, anscheinend Nichtjuden, hinzutreten í was seine Überraschung über den Glauben des Hauptmanns ernsthaft beeinträchtigt.73 Sodann kommen im Gleichnis von den bösen Winzern nicht, wie in Mk 12,12 und Lk 20,19, die „Schriftgelehrten und Hohenpriester“ in den Blick, sondern „die Hohenpriester und Pharisäer“ (Mt 21,46), denen gesagt wird, dass „das Königreich einem anderen Volk gegeben wird, das seine Früchte bringt“ (21,43).74 Aus der von Verleumdung durchzogenen Geschichte von den Wächtern am Grab spricht sogar ein antijüdisches Ressentiment (Mt 27,62í66; 28,11í15), wenn es auch ein antichristliches Gerücht „unter Juden“ (͒͡΃‫ ִ͚͕ͣ͐͒ͦ͠͠ פ‬28,15) herausstellen soll.75 Hier finden sich ebenfalls „die Hohenpriester und Pharisäer“ unhistorisch zusammen, sogar in der Gesellschaft des Pilatus (27,62). Luz folgert aus Mt 21,43, der matthäische Redaktor sei „tatsächlich einer der Väter der kirchlichen ‚Sukzessionstheorie‘ “; 28,15 sei solches aber nicht zu entnehmen.76 Diese Nuance erscheint mir wichtig zu sein. Die Wächtergeschichte setzt gerade in der zentralen Auferstehungsgeschichte einen ganz verfremdenden Akzent, 72 Die Formulierung von Davies / Allison, Commentary I (s. Anm. 4), 137 trifft zu: „Matthew’s gospel fits perfectly into the Jamnian period of Jewish reconsolidation.“ 73 Im Vergleich ist die lukanische Version kohärent: Jesus stand dem Nichtjuden reservierter gegenüber als die Kafarnaumer Juden! 74 Flusser, Beispiele (s. Anm. 12); Strecker, Weg (s. Anm. 11), 99í101.110í113. Luz, Evangelium IV (s. Anm. 2), 216í229, mit Rückverweis auf Mt 8. Stanton, Gospel (s. Anm. 1), 151 meint zu Recht, dass die Verwerfung der Hohenpriester und Pharisäer mit ihrem Volk von den Exegeten oft übersehen wird. 75 Luz, Evangelium IV, 389í391.420í427. Der Zusammenhang mit dem ebenfalls antijüdischen Petrusevangelium (vgl. 8í10) ist wichtig. 76 Luz, Evangelium III, 228; IV, 425.

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entspricht aber eher ungebildetem populärem Empfinden. Weitere Retuschen in dieser Schicht sind quantitativ gering. Sie wurden anscheinend in einer letzten Redaktionsphase unsystematisch hinzugefügt und bezeugen, mit welchem Interesse das Evangelium damals gelesen wurde. Die früheren Schichten blieben dabei in aller Widersprüchlichkeit bestehen. Für die Datierung des MtEv ergibt sich ein terminus ad quem aus Hinweisen auf Rezeption bei Ignatius, also bis ca. 110 n. Chr.77 Es gibt keine Spuren einer ähnlichen Rezeption in der mit dem MtEv eng verwandten Didache;78 das MtEv ist also nicht früher als sie anzusetzen.79 Terminus a quo ist der beiden Texten gemeinsame Protest gegen das Gebet der „Heuchler“, das mit der Amtszeit Gamli’els II. zu assoziieren ist. Es ergibt sich eine Endredaktion um 100 n. Chr., also relativ spät.80 Das lässt aber genug Zeit für die Entstehung der Wächtergeschichte und der damit verwandt erscheinenden Pilatussaga 27,19.24 f, die man als Anfang der langen Entwicklung volkstümlicher Evangelienapokryphen ansehen kann.81

5. Gesamtschau Aus Obenstehendem geht hervor, dass die Entstehung der heidenchristlichantijüdischen Schicht mit der der antirabbinischen fast zusammengefallen ist. Wir müssen uns eine Kirchengemeinschaft vorstellen, in der eine beträchtliche Gruppe von Judenchristen noch in den Konflikt mit den eben hervorgetretenen „rabbinischen“ Behörden verwickelt war, als in einer anderen, heidenchristlichen Gruppe bereits antijüdische Geschichten umliefen. Unter den Heidenchristen existierte wohl schon die Vorstellung, dass Israel durch die (Heiden-)Kirche ersetzt wird. Genügend Stoff für Konflikte zwischen beiden Gruppen wäre dann vorhanden. 77

Insbesondere IgnSm 1,1: ͓͖͓͚͎͒ͥͤ͡͝͞͠͞ … ֱ͒͞ ͘͜͡΃ͪͱ‫ ;͚ͮͤ͒͘͞͠΂͚͕ ͒ͤا͡ ط‬vgl. Mt 3,15, aber auch die möglichen Anspielungen auf Röm 1,3 f; Lk 23,7 ff; ferner IgnPol 2,2 / Mt 10,16; IgnEph 19,2 f / Mt 2,2; vgl. R. E. Brown / J. P. Meier, Antioch and Rome. New Testament Cradles of Catholic Christianity, New York 1983, 24 f. 78 Tomson, Halakhic Evidence (s. Anm. 3); anders van de Sandt / Flusser (s. Anm. 70). 79 Vgl. aber Luz, Evangelium I (s. Anm. 2), 103: Die Didache (v. a. Kap. 8) sei „fast sicher“ in einer „durch Mt geprägten Gemeinde entstanden“ und setze die matthäische Redaktion „zweifellos“ voraus. 80 Im Hinblick auf die heidenchristliche Endredaktion kommt Strecker, Weg (s. Anm. 11), 15–85 auf 95 n. Chr.; vgl. Stanton, Gospel (s. Anm. 1), 113–168 (Mitte der 80er Jahre); Luz, Evangelium I, 103 f („nicht lange nach 80“); Davies / Allison, Commentary I (s. Anm. 4), 127 f.138 (70í100 bzw. 80í95). Zur Einordnung des Gebets der „Heuchler“ vgl. Tomson, Halakhic Evidence (s. Anm. 3). 81 Vgl. Luz, Evangelium IV, 268. Zur Wächtergeschichte vgl. das EvPetr, s. o. Anm. 75.

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Peter J. Tomson

Dieses Profil passt gut zu John P. Meiers Beschreibung des syrischen Antiochien.82 In der bedeutenden antiochenischen Kirche sind die frühesten Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen bezeugt (Gal 2,11í14; Apg 15,1í5); eine christlich-zelotische, antipaulinische „Partei“ ist in den Quellen bezeugt. Nach dem Kriegsausbruch A. D. 66 brachen in dieser Stadt blutige Streitigkeiten zwischen Juden und Nichtjuden aus.83 Nach dem Jahrhundertwechsel trat der örtliche Bischof Ignatius, der früheste sichere Zeuge für das MtEv, im Konflikt zwischen Juden- und Heidenchristen entschieden auf die heidenchristliche Seite, obwohl er noch um das paulinische Ideal der einen Kirche aus Juden und Heiden wusste.84 Seit längerem hat man noch weitere Gründe für einen antiochenischen Ursprung des MtEv angeführt.85 Auch die römische Soldatensprache der Wächtergeschichte würde gut in die syrische Provinzhauptstadt passen,86 ebenso, im Zusammenhang damit, die schroffe Antijudaisierung der Kafarnaumer Hauptmannsgeschichte. So steht uns das MtEv im spannungsvollsten Sinne als „Gemeinschaftstext“ vor Augen: als der Text einer Gemeinschaft, die, wohl in Antiochien, in kurzer Zeit dramatische Wandlungen des sozialen Horizontes erlebt hat. Fast gleichzeitig erklingen die heidenchristlich-antijüdischen Verleumdungen und die judenchristlich-antirabbinischen Protestschreie; dahinter können wir die Stimmen der zelotisch-antipaulinischen Judenchristen hören und, bei genauem Zuhören, den leisen Nachklang der Jesustradition. Nach der frühesten Überlieferung wusste Jesus sich mit seiner Verkündigung positiv zum „irregeführten Israel“ gesandt; dem entspricht negativ seine Zurückhaltung gegenüber Nichtjuden. Er musste erst von der phönizischen Mutter und vom römischen Hauptmann überzeugt werden, dass die Predigt des Gottesreichs auch für Heiden gilt. Seinen Jüngern lag dies 82 J. P. Meier, Antioch, in: Brown / Meier, Antioch and Rome, 11í86. Vgl. M. Zetterholm, The Formation of Christianity in Antioch. A Social-Scientific Approach to the Separation Between Judaism and Christianity, London 2003. Die soziale Verortung des MtEv (S. 215 f) würde meinerseits natürlich anders ausfallen: Die Endfassung des MtEV entstammte dem ignatianischen Lager, die Didache dem von mir angenommenen „lukanischen“: Tomson, „If this be from Heaven …“ (Anm. 2), 247í254. Für die politischen und halachischen Daten der früheren Periode grundlegend ist M. Bockmuehl, James, Israel and Antioch, in: ders., Jewish Law in Gentile Churches. Halakhah and the Beginning of Christian Public Ethics, Edinburgh 2000, 49í83; zuvor als: Antioch and James the Just, in: B. Chilton / C. A. Evans (Hg.), James the Just and Christian Origins, NT.S 98, Leiden 1999, 155í198. 83 Siehe o. Anm. 52. 84 IgnMagn 10,3; vgl. 8,1; 9,1; IgnPhil 6,1; die Kirche aus Juden und Heiden: IgnSm 1,2. 85 Zuerst behauptet von B. H. Streeter, vgl. Meier, Antioch, 22í27; Luz, Evangelium I (s. Anm. 2), 100–103 (faktisch eine Entscheidung für Antiochien); Davies / Allison, Commentary I (s. Anm. 4), 143í147. 86 ΂͕ͦͤͥͪ͐͒͠ (27,65 f; 28,11), ein fast einzigartiger Latinismus, vgl. LSJ, s. v.; auch ͓͚ͤͦͮ͜͝͠͠͞ ͓͍͖͚͒͜͝͞͞ ist ein reiner Latinismus, vgl. BDR § 5.3b.

Das Matthäusevangelium im Wandel der Horizonte

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schon näher; sie fanden neue Argumente, als Nichtjuden sich der Bewegung anzuschließen begannen. Eines des schönsten und wirksamsten war das vom pharisäisch geschulten Zeltmacher verwendete (stoisierende) Bild vom „einen Leib“ des gestorbenen und auferstandenen Messias aus jüdischen und nichtjüdischen Gliedern (1Kor 12,12 f). Die Zeitgeschichte kam dazwischen. „Eiferer für das Gesetz“ fingen an, die inklusiv denkenden Juden zu überschreien. In Judäa und Galiläa wuchs das Chaos, befördert durch die schwache römische Verwaltung. Es kam zur blutigen Auseinandersetzung, zum Krieg. Die Gesellschaft spaltete sich auf, Juden- und Heidenkirche fingen an, sich voneinander abzusetzen, die Rabbinen traten hervor und schufen Ordnung und Regel im eigenen Haus, und schließlich trat eine selbstbewusste, antijüdische Heidenkirche auf den Plan. Die Konstellation zweier sich gegenseitig abgrenzender und doch heimlich so verwandter Religionsgemeinschaften, Judentum und Christentum, bildete sich heraus, um sich jahrhundertelang zu behaupten. Wieder ist aber die Zeitgeschichte dazwischengekommen. Während sie sich von den Erschütterungen eines massenmörderischen und neopaganen Jahrhunderts erholt, hat die heutige Heidenkirche vorsichtig angefangen, trotz des überlieferten Antijudaismus und Antirabbinismus die Weisheit der pharisäischen Lehrer in einer neuen Perspektive zu sehen. So kann sie auch hoffen, die Botschaft immer besser zu begreifen, die auf Anstoß des galiläischen Lehrers „an die verlorenen Schafe des Hauses Israels“ ergeht sowie, genauso biblisch gesagt, „an alle Völker“.87

87 Gerne gestehe ich meinen Dank an die Herausgeber des Bandes für ihre sorgfältige sprachliche und stilistische Verbesserung meines Artikels.

Peter von der Osten-Sacken

Mordanklage und Todesurteil Realität, Religion und Rhetorik in der Predigt Melitos „Über das Passa“

1. Man mag die Rhetorik des Bischofs Melito von Sardes wie bereits einzelne Kirchenväter bewundern oder bespötteln, man mag sich an seinen endlosen, ausgeklügelten Wortkombinationen und Satzfolgen, an seinen hochpathetischen Einlagen von Herzen erfreuen oder nach einiger Zeit genervt aufseufzen – unberührt davon bleibt die Meisterschaft, mit der der kleinasiatische Kirchenmann (ca. 170) gleich im allerersten Satz seiner Osterpredigt zur Sache kommt (§ 1): Die Schrift vom hebräischen Exodus ist verlesen, und die Worte des Mysteriums sind dargelegt, wie das Schaf geschlachtet wird und wie das Volk gerettet wird.1 1 Textausgabe: Melito of Sardis, On Pascha and Fragments. Texts and Translations, hg. v. S. G. Hall, Oxford 1979. Er liest an dieser Stelle mit der lateinischen und der georgischen Übersetzung noch „und wie der Pharao gepeinigt wird durch das Mysterium“. Auch wenn die ägyptischen Plagen in der Rede breiten Raum einnehmen, dürfte der Satz doch Rhythmus wie Pointe verderben und schwerlich dem rhetorisch-stilistischen Ästheten Melito zuzutrauen sein; er hätte den Hauptsätzen mit 2×16 und den Nebensätzen mit 2×8 Silben (The Homily on the Passion by Melito Bishop of Sardis with Some Fragments of the Apocryphal Ezekiel, hg. v. C. Bonner, London 1940, 21) im dritten Nebensatz dann (in der Rückübersetzung Halls) 17 Silben (!) folgen lassen. Das Lob des rhetorischen Talents Melitos in Hier.vir.ill. 24 wird oft fälschlicherweise Tertullian zugeordnet. Von ihm sagt Hieronymus jedoch, er habe über Melitos Kunst gespottet – so richtig in der neueren Literatur anscheinend nur W. Huber, Passa und Ostern. Untersuchungen zur Osterfeier der alten Kirche, Berlin 1969, 45 (zuvor F. J. Dölger, Sol salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum, Münster 21925, 342). Umso mehr wird man die (von Huber [34 Anm. 11] auf Tertullian zurückgeführte) Wendung „elegans et declamatorium ingenium“ als Urteil des Hieronymus zu verstehen haben. Vgl. auch die Satzstruktur: Huius [sc. Melitonis] elegans et declamatorium ingenium Tertullianus in septem libris … cavillatur, dicens … – und jetzt folgt der Spott. – Der von Euseb bezeugte, von manchen Kritikern bestrittene Titel „Bischof“ bleibt Melito hier belassen. Zu den Konturen seiner Person und seines Werkes s. S. G. Hall, Art. Melito von Sardes, TRE 22, 1992, 424–428. Die früher geläufige Zuordnung der Rhetorik Melitos zum sog. asianischen oder asiatischen Stil, die auch bei Hall (425 ohne Nennung des Begriffs) erfolgt, ist jedoch problematisch, da sie auf eine in Melitos Zeit historisch abständige Unterscheidung zurückgeht. Vgl. dazu J. Adamietz, Art. Asianismus A / B.I, HWR 1, 1992, 1114–1120.

Mordanklage und Todesurteil

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Exodus – das Schaf geschlachtet – das Volk gerettet, das klingt fast wie der alte Paukerreim: „Drei, drei, drei, bei Issos Keilerei.“ Man hört es einmal und vergisst es nicht wieder. Und doch ist der Einstieg Melitos in seine Rede viel feiner angelegt als jener Paukvers zur griechischen Geschichte. Als Erstes erwähnt Melito den puren Tatbestand einer Schriftverlesung aus dem Buch Exodus bzw. zum Exodus Israels. In einem synonymen Parallelismus membrorum – „und die Worte des Mysteriums sind dargelegt“2 – benennt er denselben Tatbestand in neuer, gezielt gewählter Begrifflichkeit. Dies geschieht v. a. durch Verwendung des später in seiner Rede immer wieder begegnenden Wortes ͦͤͥ͝‫͚͞͠΃ש‬,3 das in der vollen Form ͥ‫ٓͥ͠ ׬‬ ͍ͤͨ͒͡ ͦͤͥ͝‫ §( ͚͞͠΃ש‬2 Z. 10 = 2,10; 11,65) geradezu das Schlüsselwort der Predigt bildet. Die beiden erläuternden Nebensätze kommen so von vornherein unter diesen Begriff „Geheimnis“ zu stehen. Damit wird gleich zu Beginn eine Art hermeneutischer Wechselbewegung fixiert: Was Mysterium ist, wird wesentlich durch jene beiden Komponenten bestimmt (das Schaf geschlachtet, das Volk gerettet), und umgekehrt erfasst man beide Komponenten nicht, wenn man sie nicht als in seinem tieferen Sinn zu enthüllendes Mysterium begreift. Das ist u. a. ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Text des Auslegers bedarf, hier des deklamierenden Redners. In welchem Maße jedenfalls das Geheimnis selbst bereits die Art und Weise bestimmt, wie der Exodus aufs Knappste präsentiert wird, zeigt sich, sobald man jenes didaktisch treffliche Resümee des Mysteriums in § 1 einen Moment genauer betrachtet. Das Lamm geschlachtet, das Volk gerettet – bezieht man diese beiden Aussagen eng auf den biblischen Exodustext zurück, so assoziiert man mit dem Lamm, das geschlachtet wird, das eine Lamm, das je Familie geopfert werden soll, und als Rettung dürfte man an die Erlösung aus Ägypten denken, aus der Knechtschaft Pharaos. In diesem Sinne hat man gemeint, „Exodus“ könne hier zu Beginn nicht das Geschehen, sondern nur das Buch meinen, weil Melito gar nicht auf den Auszug (Ex 14) Bezug nehme, sondern nur auf Ex 12.4 Die These übersieht, dass 2

Die Wiedergabe von ͕͚͖͒ͤ͒ͧ‫ ͞ل‬mit „darlegen“ folgt der Übertragung in: Papyrus Bodmer XIII. Méliton de Sardes, Homélie sur la Pâque, hg. v. M. Testuz, Cologny-Genf 1960, 29 („exposées“ bzw. – in der vorangegangenen Erörterung [19] – „clairement exposées“). Als Übersetzung vgl. jeweils: Meliton von Sardes, Vom Passa. Die älteste christliche Osterpredigt. Übers., eingel. u. komm. v. J. Blank, Freiburg 1963. Er überträgt hier sehr frei „verkündet“. 3 Vgl. 15,89; 16,98; 31,199; 33,208; 34,213.216; 46,302 u. ö. Die erste Zahl bezieht sich auf die von Bonner (s. Anm. 1) eingeführte Abschnittszählung, die zweite auf die Zeilenzählung Halls. 4 Dies Verständnis schließt ein, dass vor der Predigt die – in der Alten Kirche sonst nicht belegte – Lesung des hebräischen Textes erfolgte und die zweite Zeile („und die Worte …“) eine erste griechische Übersetzung meint oder eine Paraphrase – Letzteres eine Auffassung, die auch ohne Annahme einer hebräischen Lesung vertreten worden ist. Vgl. die Literatur und ihre überzeugende Widerlegung bei Huber, Passa, 31 ff, und S. G. Hall, Melito ̷̻͂̓ ̳͈̳͂̈́ 1 and 2. Text and Interpretation, in: P. Granfield / J. H. Jungmann (Hg.), Kyriakon. FS J. Quasten I, Münster 1970, 236–248. Vor allem übersehen, wie mehrfach hervorgehoben wurde, alle Deutungen, die § 1

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der bischöfliche Redner eben nicht allein vom Exodus in seinem üblichen Verständnis her denkt, sondern dass seine Aussagen im Stillen bereits christologisch bestimmt sind. So bezieht sich „das Schaf“, das geschlachtet wird, zum einen auf das je Familie geschlachtete Tier und zum anderen auf Jesus Christus als das eine-einzige Lamm. Wie Jesus Christus sodann mit seinem Tod die Rettung heraufführt, so gehören in den Eingangszeilen bei Melito die beiden Aussagen – das Schaf geschlachtet, das Volk gerettet – aufs Engste zusammen. Denn Melito denkt bei „gerettet“ in allererster Linie nicht an die Herausführung aus Ägypten, sondern an die Bewahrung des Volkes vor dem Todesengel durch das an die Türpfosten gestrichene Blut. Dieser Akt ist für ihn die Essenz des Exodus, und wenn er seine Rede wie dargetan beginnt, so gibt es für ihn keineswegs eine Spannung zwischen der Verlesung der Schrift über den Exodus der Hebräer und seiner Wiedergabe des Exodus in § 1. All dies wird durch § 31 bestätigt, wo Melito nach der Erwähnung der Bewahrung Israels resümiert: „O neues und unaussprechliches Mysterium! Die Schlachtung des Schafes wurde als Rettung Israels erfunden …“ Wenn er gleich darauf erläutert, dass der Verderberengel zurückschreckte, weil er im Schaf das Mysterium des Herrn geschehen sah, in seinem Tod den ͥͮͣ͡͠ des Kyrios (§ 33), dann ist auch von der Entfaltung der Rede her klar, dass die dargelegten „Worte des Mysteriums“ aus dem ersten Satz sich nicht auf eine bereits dieser Rede vorangegangene, die Verlesung des Textes ergänzende Erläuterung beziehen,5 sondern dass sie begrifflich vorwegnehmen, was dann in der Rede sachlich expliziert wird. Beide Sätze – das Schaf geschlachtet, das Volk gerettet – bilden damit eine geradezu perfekte Brücke zwischen dem alten Text und der neuen Gemeinde. Begründet ist dies darin, dass einerseits die Gegenwart die Art und Weise bestimmt, in der die „Worte des Mysteriums“ geformt werden, und dass andererseits so viel an wirklich zentralen Aspekten des Textes aufgenommen wird, dass die angesteuerte Zusammenschau als glaubwürdig erscheint6. Die hier auf kleinstem Raum beobachtbare – und wenig später in 12,72–15,91 gekonnt fortgeführte – sensible Art, in der Melito die Realität des Textes von seiner eigenen christologischen Bindung her und auf sie hin rhetorisch gestaltet und prägt, dürfte deshalb entscheidend zur Überzeugungskraft der Rede beitragen. Das Schaf geschlachtet, das Volk gerettet. Schlüssiger geht es kaum. Und doch waren es am Passa viele Lämmer. mehr als eine Lesung entnehmen, dass die Auslegung des Textes erst mit Melitos Predigt erfolgt. Vgl. auch die im Ergebnis im Wesentlichen mit Hall übereinstimmende Erörterung verschiedener Verständnismöglichkeiten von 1,1–2 durch J. C. Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1994, 260–263. 5 Vgl. Anm. 4. 6 Vgl. hierzu Melitos in diese Richtung gehende Ausführungen über die heilsgeschichtliche Ökonomie des Kyrios (§ 57).

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2. „Wende sie hin, wende sie her – es ist alles in ihr enthalten.“7 Ansatzweise lässt sich diese Aussage der Mischna über die Tora ebenso auf das Verhältnis zwischen dem ersten Satz und der anschließenden Rede Melitos über das Geheimnis des Passa und das Geheimnis des Kyrios in ihrer unlöslichen Einheit anwenden. Dies gilt umso mehr, wenn man den erörterten Satz als Teil des Proömiums versteht (§§ 1–10). Dessen erste, kompakte Einführung in ͥ‫( ͚͞͠΃שͥͤͦ͝ ͍͒ͨͤ͡ ٓͥ͠ ׬‬2,10) berührt wesentliche Teile der später entfalteten Zusammenhänge, so v. a. die typologische Beziehung zwischen Gesetz und Logos / Evangelium und die Reihen von fast formelhaften soteriologischen Prädikationen Jesu Christi, die sein Handeln den Menschen zugute zusammenfassen. Wenn im Proömium die heftige Polemik gegen Israel fehlt, die den langen Schluss der Rede kennzeichnet, und die Differenz zwischen Volk Israel und Kirche nur in den Antithesen angedeutet ist, die das Proömium beherrschen, so könnte dies antiker rhetorischer Tradition entsprechen.8 Deren Mittel sind in der ganzen Rede unübersehbar und entsprechend auch früh hervorgehoben worden,9 ebenso die Elemente biblisch-christlicher Redetradition, wie sie mit der Identifikationsformel „Dieser ist Jesus Christus“ (10,63, im Anschluss an die Prädikationen) und der nachfolgenden Doxologie vorliegen (10,64)10. Es kennzeichnet die Osterhomilie Melitos, dass er beide Redezweige zu handhaben und einzusetzen 7

mAv 5,22. Vgl. die Aussagen Quintilians zum Proömium, v. a. seine Empfehlung, mit der Erregung der Gefühle (pro und contra) dort zurückhaltender zu sein und erst im Epilog ggf. „den ganzen Strom der Gefühle zu entfesseln“ (Inst. orat. 4.1,28; Text u. Übers.: Marcus Fabius Quintilianus, Institutio oratoria / Ausbildung des Redners, hg. v. H. Rahn, 2 Tle., Darmstadt 31995). 9 Vgl. die Ausführungen von Bonner, Homily, 20–27. Als besonders gängige stilistische Mittel bei Melito werden seither im Allgemeinen hervorgehoben: Ausruf, Frage, Wiederholung, Antithese, Anaphora, Paronomasia, Homoioteleuton, Oxymoron sowie parallele Sätze mit möglichst derselben Silbenanzahl (vgl. 20 ff und 17 zu §§ 16–29). Vgl. außerdem E. J. Wellesz, Melito’s Homily on the Passion. An Investigation into Sources of Byzantine Hymnography, JThS 44, 1943, 41–52: 55 f, zum Proömium (zu Letzterem s. auch K. Berger, Antike Rhetorik und christliche Homiletik, in: C. Colpe u. a. [Hg.], Spätantike und Christentum, Berlin 1992, 173–187: 177 ff); A. Wifstrand, The Homily of Melito on the Passion, VigChr 2, 1948, 201–223; Méliton de Sardes, Sur la Pâque et fragments. Introduction, texte critique, traduction et notes par O. Perler, Paris 1966, 26–29; J. Smit Sibinga, Melito of Sardis. The Artist and His Text, VigChr 24, 1970, 81–104; T. Halton, Stylistic Device in Melito, ̷̻͂̓ ̳͈̳͂̈́, in: FS Quasten, 249–255; Hall, Melito, xix. xxiii f. Nicht zugänglich war mir G. F. Hawthorne, Melito of Sardis. His Rhetoric and Theology, University of Chicago, Unpubl. Ph.D. Dissertation 1969. 10 Vgl. zum hymnischen ͠‫ ͣͥ͠׏‬und dem korrespondierenden ֐͔‫ ͚͖֬͝ ױ‬Bonner (Homily, 22 ff und 18) und ihm folgend Hall (Melito, xxiii), die auf die – lange vor der Veröffentlichung von Melitos Predigt gesammelten – Beobachtungen E. Nordens verweisen: AGNOSTOS THEOS. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Darmstadt 41956, 177–207: 183–207. Norden (191) spricht in Anlehnung an Euseb treffend von einem „soteriologischen Redetypus“. Der Begriff ist im Folgenden in Gestalt der Rede von soteriologischen Prädikationen usw. aufgenommen. 8

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weiß, wenn auch die antike Rhetorik griechischer Provenienz vielleicht souveräner als die biblische. So oder so wird man seine Rede nur verstehen, wenn man sie als ein Ganzes aus diesen verschiedenen Elementen begreift. Nun gibt es zwar die genannten Beiträge, in denen die rhetorischen Gepflogenheiten Melitos in ihrem Zusammenhang mit zeitgenössischer Redekunst veranschaulicht sind. Es scheint jedoch, als seien die möglichen Beobachtungen nicht ausgeschöpft und als sei dem Phänomen insgesamt nicht das Gewicht beigemessen worden, das ihm für das Verständnis der Predigt zukommt. Dies gilt v. a. von dem bereits erwähnten letzten, über weite Strecken gegen Israel gerichteten und in den vergangenen Jahrzehnten im Blick auf seine antijüdischen Aussagen intensiv diskutierten Teil.11 Der forschungsgeschichtliche Sachverhalt mag exemplarisch an der Monografie von Alistair Stewart-Sykes verdeutlicht werden, der sich besonders um Aufbau und Erfassung der Form oder Formen der Rede bemüht hat.12 Nach Stewart-Sykes handelt es sich bei „Peri Pascha“ um ein aus verschiedenen Elementen gestaltetes „single piece of oratory“,13 das als solches durch verschiedene Gliederungssignale erkennbar werde, wie sie für eine antike Rede charakteristisch seien. Seine verstreuten Beobachtungen lassen sich in einer gewissen Verdichtung wie folgt resümieren: Auf die Einleitung (͡΃͚͐͠͠͝͠͞ / prooemium, exordium, §§ 1–10) folgt, eingeleitet durch den terminus technicus ͕͚͔͖͘‫( ͚͒ͱͤل‬11,68; vgl. 46,301), als zweiter Teil der Rede die Erzählung, d. h. die Darlegung des Sachverhalts (͕͚͏͔͚ͤͣ͘, ͕͚͏͔͒͘͝ / narratio, §§ 11–45), sodann ab § 46 als dritter Teil, wiederum gleich zu Beginn begrifflich ausgewiesen (46,302), die Beweisführung (΂͒ͥ͒ͤ΂͖ͦ͏ / probatio).14 Der von Stewart-Sykes mit Recht betonte Tatbe11 Vgl. A. T. Kraabel, Melito the Bishop and the Synagogue at Sardis. Text and Context, in: D. G. Mitten u. a. (Hg.), Studies Presented to G. M. A. Hanfmann, Mainz 1971, 77–85; K. W. Noakes, Melito of Sardis and the Jews, StPatr 13/2, 1975, 244–249; S. G. Wilson, Passover, Easter, and Anti-Judaism. Melito of Sardis and Others, in: J. Neusner / E. S. Frerichs (Hg.), „To See Ourselves as Others See Us“. Christians, Jews, „Others“ in Late Antiquity, Chico 1985, 337– 355; ders., Melito and Israel, in: ders. (Hg.), Anti-Judaism and Early Christianity II. Separation and Polemic, Waterloo 1986, 81–102; ders., Related Strangers. Jews and Christians 70–170 C.E., Minneapolis 1995; F. W. Norris, Melito’s Motivation, ATR 68, 1986, 16–24; R. S. MacLennan, Melito. A Poetic Defense. The Paschal Homily (c. 180 C. E.), in: Early Christian Texts on Jews and Judaism, Atlanta 1990, 89–116; D. Satran, Anti-Jewish Polemic in the Peri Pascha of Melito of Sardis. The Problem of Social Context, in: O. Limor / G. G. Stroumsa (Hg.), Contra Judaeos. Ancient and Medieval Polemics between Christians and Jews, Tübingen 1996, 49–58; M. S. Taylor, Anti-Judaism & Early Christian Identity. A Critique of Scholarly Consensus, Leiden 1995; A. Stewart[-]Sykes, Melito’s Anti-Judaism, Journal of Early Christian Studies 5, 1997, 271–283. 12 A. Stewart-Sykes, The Lamb’s High Feast. Melito, Peri Pascha and the Quartodeciman Paschal Liturgy at Sardis, Leiden 1998. Detaillierte Gliederungen im Sinne von strukturierten Überblicken über die Predigt bieten Sibinga, Melito, 88.99; Hall, Melito, xxii f; H. R. Drobner, Der Aufbau der Passapredigt Melitos von Sardes, ThGl 80, 1990, 205 ff: 207. 13 Stewart-Sykes, High Feast, 113. 14 Vgl. Stewart-Sykes, High Feast, 75 f.113 f.

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stand, dass die technischen Begriffe (͕͚͔͖͘‫͚͒ͱͤل‬, ͕͚͏͔͒͘͝ und ΂͒ͥ͒ͤ΂͖ͦ͏) von Melito selbst gezielt verwendet sind, zeigt besonders klar, wie eng dieser sich der griechischen rhetorischen Tradition verpflichtet weiß.15 Da der Text im Folgenden keine ausdrücklichen rhetorischen Gliederungssignale mehr gibt wie in 11,68 und 46,301 f, ist die rhetorische Zuordnung des Restes durch Stewart-Sykes tastender. Geleitet von der Doxologie in § 65 macht er in § 66 den Beginn eines weiteren Redeabschnitts aus, des bis ans Ende der Rede in § 105 reichenden Epilogs (֐͔͐ͣ͜͡͠͠ / peroratio), der dem Genre gemäß Lob und Tadel umfasse, v. a. aber dem Lobpreis Christi gelte. Aufgrund dieser Prägung klassifiziert er die Peroratio als Prosahymnus,16 dem er aus einer gewissen Verlegenheit heraus noch die vorangehende Probatio zuordnet, so dass §§ 46–105 zum „epideiktischen Prosahymnus“ mit vorangehender Passaerzählung (§§ 1–45) werden17 und das Ganze rhetorisch als Beispiel der epideiktischen oder Lobrede klassifiziert wird. Der Sache nach enthält der Zusammenhang §§ 66–105 allerdings größtenteils eine Attacke gegen das jüdische Volk (§§ 72–93.99), die in einen Scheindialog gefasst ist und in der Melito restlos alles, was er jemals rhetorisch gelernt hat, gegen Israel aufbietet – bis hin zu dem Vernichtung statuierenden Schlussurteil: Er – der vermeintlich von Israel getötete Gott, der König Israels – ist von den Toten auferstanden, Israel selbst aber liegt tot danieder! (99,745 f). Die von Stewart-Sykes an Melitos Rede nachgewiesene Abfolge der verschiedenen Redeteile nun war ursprünglich charakteristisch für die Gerichtsrede und wurde erst sekundär „auch den anderen Redegattungen zugrunde gelegt oder angepasst“.18 Vor allem aber weisen die zitierten Sätze mit ihrem Schlussurteil wie überhaupt der ganze Passus §§ 72–99 schwerlich auf einen Staats- oder Festakt, vielmehr in einen Gerichtssaal. So dürfte das Urteil von Stewart-Sykes dahingehend zu korrigieren sein, dass zumindest die lange Anklage Israels rhetorischen Gepflogenheiten der antiken Gerichtsrede folgt. Aufgabe von deren Schlussteil war es traditionell, nachhaltige Gemütsbewegungen hervorzurufen, also z. B. die 15

Diese Beobachtung wird auch in W. L. Petersens kritischer Rezension als besonderes Verdienst der Arbeit unterstrichen: VigChr 56, 2002, 103–111: 107. Methodologisch schwer nachvollziehbar ist dagegen das Verfahren von H. R. Drobner: Einerseits ist Melitos Predigt für ihn „ein Beispiel glänzend ausgefeilter asianischer Rhetorik“ (Lehrbuch der Patrologie, Frankfurt a.M. 2 2004, 130), andererseits sucht er die technisch gebrauchten Nomina ͕͚͏͔͒͘͝ und ΂͒ͥ͒ͤ΂͖ͦ͏, obwohl sie in der Bibel fehlen, ganz aus biblischem Zusammenhang zu erklären (Aufbau, 205 f). 16 Stewart-Sykes, High Feast, 76. 17 Stewart-Sykes, High Feast, 114. 18 E. R. Curtius, Rhetorik, in: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern (1948) 6 1967, 71–88: 79. Wenn man sich an den Quellen und der Sekundärliteratur zur Rhetorik sattgelesen hat, kann man nur die unerreichte Meisterschaft bewundern, mit der Curtius auf wenigen Seiten deren System beschrieben hat. Siehe als Einführung auch M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, Düsseldorf 52005, als monografische Abhandlung J. Martin, Antike Rhetorik, München 1974 (bes. die Hinweise über die Variabilität des Redenaufbaus bei gleichbleibender Grundstruktur [222 f]).

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Anklage „so schrecklich wie möglich … erscheinen zu lassen“19 und dadurch das Urteil der Hörer mit aller rhetorischen Macht in die gewünschte Richtung zu lenken20. Diese Anweisungen scheinen wie für den zentralen Teil des Epilogs bzw. der Peroratio in der Rede Melitos gemacht, und so wird dieser Faden später noch einmal thematisch aufzunehmen sein.21 Stewart-Sykes nennt als weiteres klassisches Redeelement die Einschaltung eines Exkurses, v. a. am Ende der Narratio. Er macht diesen Bestandteil in Melitos Rede überzeugend in dem hermeneutisch orientierten Lehrabschnitt über ͥͮͣ͡͠ und ր͜͏ͱ͖͚͒ aus, d. h. über die typologische Auslegungsmetheode (§§ 34–45).22 Ebenso hebt er wie andere vor ihm23 mit Recht als Gliederungselemente die Doxologien auf Jesus Christus hervor: so die schon erwähnte am Ende des Proömiums (10,64), sodann weitere am Ende der Narratio (45,300) sowie am Schluss der ganzen Rede (105,803) und schließlich die, die er, wie aufgezeigt, als Gliederungselement zwischen Probatio und Peroratio ausmacht (65,450).24 Die Doxologien haben deshalb seiner Auffassung nach überwiegend die Funktion, die traditionellen und von Melito ausdrücklich markierten rhetorischen Einschnitte zu verstärken, und in einem Fall die Aufgabe, eine weitere Zäsur zu setzen. So abgegrenzt erfüllt die Peroratio in der Tat die traditionell vorgesehenen Aufgaben eines solchen Schlussteils, nämlich die Gefühlswelt der Hörer zur Förderung ihrer Urteilsfindung in Wallung zu bringen und, hier ist Stewart-Sykes zu ergänzen, eine Zusammenfassung des bis dahin Ausgeführten darzubieten.25 Als solche Bündelung lassen sich der Anfang und der Schluss der Peroratio mit ihren kompakten christologischen Aussagen verstehen (§§ 66–71.100– 105), die sich wie Klammern um die Anklage Israels in §§ 72–93.99 legen. Ungeachtet der Wertschätzung der von ihm gesammelten Beobachtungen zur Rhetorik der Predigt Melitos sind die Ausführungen von Stewart-Sykes zu diesem Zeugnis am Ende freilich einigermaßen verwirrend: Aus einer Passaerzählung mit anschließendem epideiktischem Prosahymnus wird im Laufe der Arbeit, auf dieselben Textteile bezogen, eine Passahomilie mit Passahaggada.26 Die Einbeziehung aller drei auf das Proömium folgenden 19

Quintilian, Inst.orat. 6.1,15. Vgl. ebd. 21 Vgl. u. S. 349 f.356 f. Es ist verblüffend, in welchem Maß diejenigen, die Melitos Rede auf einer Vor- oder der Endstufe in irgendeiner Form als christliche Passahaggada einordnen, unbesorgt sind um eine Verifikation des formgeschichtlichen Urteils anhand von Gattungsmerkmalen. 22 Stewart-Sykes, High Feast, 91 f. 23 Vgl. z. B. A. Hansen, The Sitz im Leben of the Paschal Homily of Melito of Sardis with Special Reference to the Paschal Festival in Early Christianity (North Western University, Ph.D. Dissertation 1968), Univ. Microfilms, Ann Arbor 1969; Hall, Melito, xxii f; Drobner, Aufbau, 207. 24 Stewart-Sykes, High Feast, 114. 25 Vgl. Quintilian, Inst.orat. 4.1,1. 26 Vgl. hierzu auch die Rezension von Petersen, bes. 107–111. 20

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Redeteile (Narratio, Probatio, Peroratio / Epilog) in die weitere Erörterung dürfte die sicherste Gewähr sein, Sinn und Funktion des in § 66 einsetzenden, die antijüdischen Aussagen Melitos umschließenden Teils und damit zugleich das Ganze der Rede möglichst unverkürzt zu erfassen.

3. 1. In der Narratio (§§ 11–45) rekapituliert Melito die Erzählung Ex 12, d. h. „das Mysterium des Passa, wie es im Gesetz geschrieben und kurz zuvor verlesen worden ist“ (11,65 ff). Nach einer freien Zusammenfassung dessen, was er erzählen will (11,68–71), geht er von Gottes Gebot an Moses zu Beginn des Kapitels aus, berichtet mit knappen Sätzen von der Schlachtung und dem Genuss des Passalammes, über Ex 12 hinaus vom fröhlichen Feiern des Volkes27 und weiter von der Versiegelung der Häuser mit dem Blut des Lammes, die den Engel abschreckt und die Israeliten bewahrt (§§ 12– 16). Im Gegenzug, unvergleichlich viel länger und mit besonderer rhetorischer Dramatik, beschreibt er das zeitgleiche, Israel verschonende Wüten des Engels unter den Erstgeborenen Ägyptens (§§ 17–30). Hält man sich einerseits die zwei Verse Ex 12,29 f vor Augen, die sich dem Strafhandeln an Ägypten widmen, und lässt andererseits das verbale Schaustück Revue passieren, das Melito an dieser Stelle aufführt, so erscheint er als rhetorischer Meister des Schreckens, dem zu zeigen gelingt, was er selber indiziert: „ein neues [= noch nie dagewesenes] Schauspiel“ (΂͚͒͞‫͎͒͒͝ͱ ͞׬‬, 19,119), „eine neue Geschichte, über die ihr, wenn ihr sie hört, staunen werdet“ (22,137), „ein fürchterliches Schauspiel“ (29,187), in dem eine Szene „neuer und fürchterlicher“ (23,144) ist als die andere. Welche Empfindungen mögen die Verzweiflungsschreie der Erstgeborenen, das tödliche Schweigen des Todes, das irrsinnige Wehgeschrei der Eltern und das Gebrüll der Tiere in der Gemeinde Melitos ausgelöst haben – Mitleid oder, wohl eher, das blanke, zumindest gruseliges Entsetzen? Festen Boden für die Deutung dieses Teils der Narratio bilden die gewählten Leitbegriffe, da sie in späteren, mehr oder weniger analogen Zusammenhängen wiederkehren und deshalb helfen, das innere Gerüst des Ganzen zu erfassen. So wird 27 Diese Angabe entspricht den Aussagen über jüdisches Passafeiern z. Zt. der Kreuzigung Jesu in § 80 und ist zusammen mit ihnen ein deutliches Indiz, dass Melito nicht allein auf Ex 12, sondern auch auf nachbiblisches bzw. zeitgenössisches Passafeiern rekurriert. Zur Angabe in 80,576, Israel habe am Passa Befehle gegeben (wohl zum Einsetzen von Gesang) s. E. Peterson, Ps.-Cyprian, Adversus Iudaeos und Melito von Sardes, in: Frühkirche, Judentum und Gnosis, Darmstadt 1982, 137–145: 143; zur Angabe in 80,578, es habe getanzt, s. W. C. van Unnik, A Note on the Dance of Jesus in the „Acts of John“, VigChr 18, 1964, 1–5: 2 f.

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das, was Ägypten widerfährt, von Melito rückblickend und summierend als ր͡‫ ͚͖͒͜ױ‬/ Verderben bezeichnet, im Unterschied zu Israels Bewahrung ͖֬ͣ ͤͪͥ͘΃͐͒͞ / zur Rettung (34,214 f), und wie bereits hervorgehoben sind hervorstechende Begriffe für das, was das inszenierte Schauspiel bietet, die immergrünen rhetorischen Lockwörter ΂͚͒͞‫ ͣ׭‬und ͓͖ͧ͠΃ͭͣ28. Melito schließt die Narratio im engeren Sinne mit rhetorischen Fragen an den Gerichtsengel, was er, vor dem schützenden Blut zurückschreckend, hinter den Kulissen gesehen habe – das Mysterium des Herrn in dem Schaf, das Leben des Kyrios in seiner Schlachtung, den Typos des Herrn in dem Tod des Tieres (§§ 31–33). Da es um die Auslegung eines biblischen Textes geht, erhält der Verderberengel hier die Funktion eines Offenbarerengels, der den Schlüssel für das angemessene Verständnis des erzählten Textes an die Hand gibt. Wie es allerdings in §§ 31–33 Melito selbst ist, der die Antworten souffliert, so thematisiert er auch in dem anschließenden Exkurs selber Ansatz und theologische Implikationen seiner Auslegung der Heiligen Schriften Israels (§§ 34–45). Angesichts dieser Fortsetzung erweist sich das vorangegangene ‚Gespräch‘ mit dem Engel als sorgsam geknüpftes Bindeglied zwischen der Erzählung und dem anschließenden hermeneutischen Exkurs, der damit – rhetorischen Ansprüchen genügend29 – fest in den Zusammenhang integriert ist. Dies gilt im Übrigen sowohl aufgrund des dichten Anschlusses von § 34 an §§ 31–33 als auch angesichts des alsbald in den Blick zu fassenden Übergangs zwischen Narratio und Probatio. Der Exkurs ist zwar im Prinzip, zumal in seinem Anfangsteil, ein lehrhafter, über die Hermeneutik Melitos orientierender Einschub.30 Die Belehrung über ͥͮͣ͡͠ und ր͜͏ͱ͖͚͒, d. h. über den Wechsel der Kraft (͕͚ͮ͒ͣ͞͝) des Mysteriums vom Modell hin zu dessen Realisierung, ist jedoch zugleich eine sachbezogene Zeit- und Wertansage. „Wenn das wesenhaft Wertvolle offenbart wird, wird das, was einst wertvoll war, wertlos“ (37,239 f), unter diesem Vorzeichen hämmert Melito am Ende geradezu ein, dass und was 28 Vgl. die Feststellung von Quintilian (zum Proömium), es errege meistens die Aufmerksamkeit, „wenn es um eine Sache zu gehen scheint, die neu, bedeutend, grässlich … erscheint“ (Inst.orat. 4.1,33; Übers. H. Rahn), und als Beispiel den Anfang der Rede Ciceros für Quintus Ligarius (1,1): „Ein neuartiges und bis heute noch nie gehörtes Verbrechen hat mein Verwandter … bei dir zur Anzeige gebracht, Caesar …“ (Marcus Tullius Cicero, Drei Reden vor Caesar. [Lat. / Dt.]. Übers. u. hg. v. M. Giebel, Stuttgart 2005, 37). In der Moderne hat neu (nicht grässlich) einen festen Platz in den lockenden Anzeigen der Pharmawerbung in medizinischen Zeitschriften. 29 Vgl. Quintilian, Inst.orat. 4.3, v. a. 4.3,5. 30 Siehe hierzu J. Daniélou, Figure et événement chez Méliton de Sardes, in: Neotestamentica et Patristica. FS O. Cullmann, Leiden 1962, 282–292; Huber, Passa, 95–104; C. van der Waal, Het Pascha van onze verlossing. De schriftverklaring in de paaspreek van Melito van Sardes als weerspiegeling van de confrontatie tussen kerk en synagogue in de tweede eeuw, Johannesburg 1979, 45–69; H. M. Knapp, Melito’s Use of Scipture in Peri Pascha. Second Century Typology, VigChr 54, 2000, 343–374, dessen Behauptung, es gebe bisher „no extense analysis“ des Themas [348], allerdings angesichts der genannten Arbeiten von Daniélou und Huber unzutreffend ist.

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alles mit dem Kommen der Kirche und des Evangeliums als ր͜͏ͱ͖͚͒ wertlos geworden ist. Alles, was einmal teuer war um der darin vorgebildeten Zukunft willen, ist nun überholt wie ein Modell nach seiner Umsetzung – angefangen von der Schlachtung des Lammes (44,280) bis hin zum Erbteil Israels (45,292 f) und damit zu Israel selber (42,269–45,293). Es hat seine Kraft an die Kirche als Realisierung des Typos abgegeben, den Israel darstellt (42,271), und wurde daher „entleert, als die Kirche erstand“ (43,276). Den Abschluss der Kette von Aussagen, die monoton einprägen, was alles einmal wertvoll war, es nun aber nicht mehr ist, bildet die Feststellung: „Es war wertvoll das partikulare Erbe (Israels), nun aber ist es wertlos um der universalen Gnade willen“ 31 (45,292 f). Das Gewicht dieser Behauptung zeigt sich in der Schlussstellung sowie darin, dass sie als einziges Glied der Kette weiter ausgeführt wird (45,294–299) und den unmittelbaren Grund für die nachfolgende Christusdoxologie bildet (45,300). Mit dem Schritt vom Partikularen zum Universalen stellt sie auch inhaltlich den Höhepunkt des Exkurses dar, der mit diesem Wechsel des Rettungsgeschehens von Israel zu den Völkern das Thema vorgibt, das die Rede in der anschließenden Probatio bis zu der Zäsur durch die hervorgehobene Doxologie in § 65 (450) beherrscht. Beweisführung für die Narratio aber ist das Folgende, weil es diesen Wechsel nicht nur behauptet, sondern transparent macht. 2. Zu Beginn der Narratio hatte Melito „die Worte der Schrift“ mit der Anordnung über „das Passa des Herrn“ äußerst gedrängt wiedergegeben, um dann umso ausführlicher das Verderben der Ägypter vor Augen zu führen. Ähnlich verfährt er in der Probatio. Nur ist es hier kein Text, auf den er rekurriert, sondern die Bedeutung des Wortes „Passa“, das er in oft vermerkter Kühnheit dem Verb ͍͖͚ͤͨ͡͞ / leiden zuordnet (46,303 ff)32. Auf dieser Grundlage will er lehren, „wer der Leidende (ֽ ͍ͤͨͪ͡͞) und wer der mit dem Leidenden Mitleidende ist und warum der Kyrios mit dem Ziel auf der Erde ist, den Leidenden anzuziehen und in die Himmelshöhen hinaufzuführen“ (46,306–310). Den Grund, die ͒֬ͥ͐͒ (56,396) für das Mysterium des Passa, das rettende Leiden und Sterben Jesu Christi (56,396 f), sieht Melito in dem Sündenfall, der damit die wahre Ursache für die Passion des Kyrios bildet.33 Mit ähnlicher rhetorischer Leidenschaft wie die 31

Nicht zuletzt aufgrund des Kontextes dürfte dies der Sinn der beiden Adjektive ͖ͤͥ͞‫ ͣ׭‬und ͒ͥͮͣ͜͡ (wörtl. „eng“ und „weit“) sein. 32 Vgl. Huber, Passa, 112 f. 33 Die Betonung der ͒֬ͥ͐͒ scheint ein Topos aus der Probatio zu sein (s. Quintilian, Inst.orat. 3.11,1–6) und hätte ein Gegengewicht gegen die spätere Verdammung Israels sein können. Dort bleibt zwar das – an der entscheidenden Stelle dieses Teils der Rede fiktiv von Israel erinnerte – heilsgeschichtliche ͕͖͚֔ indirekt erhalten (74,528 f), doch wird es gerade nicht zur Entlastung Israels angeführt, sondern im Gegenzug zum Auftakt der nicht endenden Anklagen Israels (74,530 usw., im Grunde bis § 93): Es musste zwar sein, aber nicht durch dich; du hättest vielmehr …, doch du hast …

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ägyptische Finsternis in der Narratio expliziert er in der Probatio Erschaffung und Fall des – in den Kosmos wie in ein Gefängnis hineingeworfenen (48,328 f) – Menschen und in besonderer Breite seine Verfehlungen unter der Herrschaft der Sünde (§§ 49–56). War es in der Narratio das Verderben (ր͡‫ )͚͖͒͜ױ‬Ägyptens, das Melito an dieser Stelle thematisierte, so ist es hier, dem universalen Ansatz folgend, das Verderben der Menschen (ր͡‫͚͖͒͜ױ‬, 49,341 f34). Ungeachtet dessen, dass es sich bei dem Sündenfall und seinen Folgen um eine Uraufführung in der Menschheitsgeschichte handelt, bezeichnet Melito auch das geschilderte Unheil der Menschen als „neu und furchtbar“ (΂͚͒͞‫͍΃͖͓ͧ͠ ת͒΂ ר‬, 50,342), und wenig später weiß er zu gegebener Zeit auch hier noch „Neueres und Furchtbareres“ zu benennen (52,366; vgl. auch 53,372 f). Im Falle Ägyptens war es ein Entsetzen, wie es ein furchtbares Geschick anderer auslöst, das Melito am ehesten mit seiner Rede bewirkt hat. In diesem Teil dürften zum Entsetzen Abscheu und v. a. Angst hinzugekommen sein, insofern es nun nicht mehr um ein einzelnes, anderes Volk, sondern um den Menschen generell geht. Mit der Feststellung, dass das Mysterium des Passa um dieser Ursache willen, der hoffnungslosen Versklavung unter Sünde und Tod, „in dem Leib des Kyrios vollendet wurde“ (56,397), schließt Melito diesen Teil der Probatio ab und geht wie in der Narratio zu einem längeren typologisch orientierten Abschnitt über. In der Narratio war er weithin allgemeinerer Art. Hier, in der Probatio, lässt Melito dem Aufweis der Ursache des Geheimnisses des Passa eine gedrängte Einheit folgen (§§ 57–65), die noch einmal narrative Züge hat und dabei, der Tendenz der ganzen Probatio folgend, universal ausgerichtet ist. Er zeigt, dass sich das Mysterium des Herrn, d. h. des leidenden und sterbenden Kyrios, bereits seit Abel und damit seit den Tagen des Sündenfalls in einer Art Gegengeschichte zum Verderben der Menschen anschauen und erkennen lässt (59,415), da der Kyrios selber „sein Leiden in den Erzvätern und den Propheten und in dem ganzen Volk vorgestaltet hat“ (57,398 f). Die Reihe von angedeuteten Vorabschattungen der Leiden Jesu Christi in der Schrift mündet am Ende, zur Hauptmetapher der Rede zurückkehrend, in den Vergleich des leidenden Gottesknechtes von Jes 53 mit einem Lamm ein (V. 7 f). Der ganze Abschnitt schließt mit der Feststellung, es sei „noch vieles andere über das Mysterium des Passa von vielen Propheten verkündet worden“ (65,447 f), ebenso allgemein, wie er eröffnet worden war (57,398 f). Die bereits gestreifte Doxologie (65,450) aber zieht wie in 10,64 und 45,300 eine Art liturgischen Schlussstrich unter alle bisherigen Ausführungen in der Probatio und wird wie an den anderen Stellen durch „Amen“ bekräftigt. 34 Der Begriff ist hier zunächst das letzte Glied in einer antithetischen Begriffsreihe und wird im folgenden Satz thematisch wiederaufgenommen – beides deutliche Indizien seines Gewichts.

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3. Vor allem diese doxologische Zäsur gibt, ergänzt um weitere, noch zu erwähnende Sachverhalte, § 65/66 eindeutig als Ende der Probatio und als Anfang der Peroratio zu erkennen. Wie Melito der Rede mit den Doxologien seinen christlich geprägten, liturgischen Stempel aufdrückt, so scheint er an dieser Stelle bis ins Rhetorische hinein v. a. kerygmatische Interessen zu verfolgen. Seine ganze Energie ist in §§ 66–71 darauf gerichtet, Jesus Christus in einer langen Kette bekenntnishafter Aussagen als den zu proklamieren, der um des leidenden Menschen willen vom Himmel auf die Erde gekommen ist, d. h., um ihn, sein Leidensgeschick übernehmend, als „Passa(lamm) unserer Rettung“ (69,479) aus der Auslieferung an Leiden und Tod zu erlösen (§ 66). Der die Peroratio eröffnende Passus §§ 66–71 mit seiner schier endlosen Reihe: „Dieser ist …, dieser ist …, dieser ist …“, erscheint so als der Ort, an dem Melito – nach Maßgabe seines hermeneutischen Ansatzes geurteilt – Jesus Christus thematisch als die nun im Fleisch offenbarte ր͜͏ͱ͖͚͒ identifiziert und damit als die Realisierung der typologisch umschriebenen Rettung35. Die christologisch-soteriologischen, bekenntnishaften Sätze nehmen der Sache nach auf die Probatio wie auf die Narratio Bezug und haben in diesem Sinne resümierenden Charakter. Auf die einleitende Feststellung, Jesus Christus sei gekommen „um des Leidenden (sc. des Menschen) willen“ (66,451, vgl. Probatio), folgen Bekenntnisse, die die Rettung durch ihn zum Exodusgeschehen in Beziehung setzen (§§ 67 f)36 – bis dahin, dass möglicherweise an Traditionen angeknüpft wird, wie sie aus der Passa-Haggada geläufig sind (68,473 f)37. Eine Reihe von Aussagen, die auf die Gegenwart des Kyrios in den Leidenden von Abel an Bezug nehmen (§ 69), und Bekenntnissätze, die die Hauptstationen der Inkarnation nennen und die Schaf-Metapher bekenntnishaft durchbuchstabieren (§ 71), schließen den ersten Teil der Peroratio ab. Aufgrund seiner kerygmatisch-konfessorischen Prägung erscheint der Passus §§ 66–71 als eine äußerst verdichtete Verherrlichung Jesu Christi. Da in der Peroratio gemäß rhetorischer Tradition Lob und Schmähung Platz haben, lässt dieser Passus sich nicht nur wegen seines zusammenfassenden Charakters, sondern auch mit Blick auf seine implizite Lobstruktur dem abschließenden Redeteil zuordnen. Der Fortgang der Rede sticht formal von allen übrigen Teilen dadurch ab, dass er bis hin zu den Schlussabschnitten §§ 104 f, die wiederum im Bekenntnisstil formuliert sind, durchgehend – und nicht nur hier und da wie 35

Vgl. Drobner, Aufbau, 206, zu Christus als „Erfüllung der Typoi“ in §§ 66–71. Dies geschieht in Gestalt von Vergleichen: Die Rettung aus dem Kosmos entspricht der aus Ägypten usw. 37 Vgl. die vielzitierte Stelle mPes 10,5 und die Diskussion bei I. Angerstorfer, Melito und das Judentum, Diss. Regensburg 1985, 60–64, sowie aus der von ihr herangezogenen Literatur vor allem W. C. van Unnik, Een merkwaardige formulering van de verlossing in de Pascha-homilie van Melito van Sardes, in: Ex auditu verbi, FS G. C. Berkouwer, Kampen 1965, 297–311. 36

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die übrige Predigt38 – in Anredeform gehalten ist. Der größte Teil ist dabei Anrede Israels (§§ 72–93.99). Sie wird unterbrochen von einem Aufruf an die Geschlechter der Völker (§§ 94–98), und ihr folgt nach soteriologischen Proklamationen des Redners (§§ 100 f) und Jesu Christi (101,754–102,764) eine Rede des Letzteren an dieselben Adressaten (§ 103). Die Anrede Israels, die damit literarisch gesehen im Zentrum der Peroratio steht, ist der Sache nach Anklage, in deren Vollzug Melito von Neuem und eindringlicher als zuvor alle Register antiker Rhetorik zieht. Gleich der Auftakt, der später in der Rede an die Völker eine Parallele hat (§ 94), ist ein eindrückliches Beispiel dafür: „Dieser ist ermordet worden! Und wo ist er ermordet worden? Mitten in Jerusalem! Warum? Weil er ihre Gelähmten heilte …“ (72,505–508)39. Damit ist der Ton des Ganzen angeschlagen, das alsbald unter ähnliche Leitbegriffe gefasst wird wie die ägyptische Finsternis in der Narratio und das Verderben der Menschen in der Probatio. War es dort das Schaupiel bzw. die ր͡‫ ͚͖͒͜ױ‬der Ägypter und der Menschen, die nacheinander als „neu“ (nie dagewesen) und „furchtbar“ bezeichnet wurden, so ist es hier das vermeintliche Verbrechen (ր͕͐΂͒͘͝) Israels, das von Melito in immer neuen Anläufen als „noch nie dagewesen“ („neu“) angeprangert wird (73,519; 81,582)40 – die Tötung seines Kyrios. Der Abschnitt §§ 72–99 bildet damit deutlich eine Parallele zu jenen beiden ր͡‫͚͖͒͜ױ‬-Teilen in Narratio und Probatio.41 Allerdings besteht ein gravierender Unterschied. Das Verderben Ägyptens und der Menschheit nach dem Fall gehört der Zeit vor dem Erscheinen Christi als der ր͜͏ͱ͖͚͒ an, das sog. Verbrechen Israels der Zeit nach seinem Kommen.42 Dementsprechend klingt die Rede für Israel und die Völker je anders aus; v. a. wird beiden gegenüber eine völlig andere Einstellung bei der hörenden Gemeinde geweckt. In immer neuen Anläufen, verstärkt durch alle möglichen rhetorischen Finessen, stellt Melito Israel als abstoßenden, kriminellen Ausbund der Undankbarkeit dar: Jesus Christus hat als in der Geschichte Israels präsenter, rettend wirkender Kyrios durch endlose Wohltaten alles für das Volk getan, und dennoch hat es ihm dies nicht nur nicht gedankt, vielmehr mit einer ungeheuerlichen Tat beantwortet. Für deren Anzeige wählt Melito 38 Vgl. die verstreuten Anreden der Gemeinde („Geliebte“ / ր͔͒ͥ͐͘͡͠ – 2,6; 34,217) in 2,6; 22,137; 23,144; 34,216 f; 46,301.306 ff. 39 Die beiden eingeklammerten Sätze sind nicht in den griechischen Textzeugen, sondern nur – allerdings breit gestreut – in der lateinischen, koptischen und syrischen Übersetzung überliefert; s. die Ausgabe von Hall z. St. und im Übrigen zum Fortgang dieses Einstiegs bereits o. Anm. 33. 40 Vgl. ferner 94,694; 97,717. 41 Die formale Entsprechung ist anscheinend zuerst von Sibinga (Melito, 88.104) erkannt, der die Zusammenhänge jedoch nicht weiter erörtert. 42 Dem entsprechen die Betonung der Einheit oder Kontinuität zwischen Alt und Neu, ͥͮͣ͡͠ und ր͜͏ͱ͖͚͒ vor dem Kommen der Letzteren und der Bruch zwischen beiden mit ihrem Erscheinen. Vgl. dazu auch Hansen, Homily, 111.

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denunziatorisch das Forum der von ihm angeredeten Geschlechter der Völker, denen er – nach kaum zu steigernden Andeutungen des Ausmaßes der Untat43 – bekannt gibt: „Der Herr ist geschändet worden! Gott ist ermordet worden! Der König Israels ist beseitigt worden von israelitischer Hand!“ (96,714 ff). Melito selber besiegelt, nachdem er in §§ 97 f „das richtige Verhalten des Kosmos entgegen dem der Israeliten“ beschrieben hat,44 in erneuter Anrede das Todesurteil, das seiner Auffassung nach über das Volk gefällt ist: „Den Herrn hast du zugrunde gerichtet, gründlich bist du zugrunde gerichtet worden! Und du liegst tot danieder – jener aber ist von den Toten erstanden und aufgestiegen in die Himmelshöhen!“ (99,743–747). An die übrigen Menschen aber ergeht eine Adresse, die man mit einer Anleihe bei Jean Paul als „Rede des lebendigen Christus vom Himmel herab, dass eine Rettung sei“ bezeichnen könnte.45 Während Israel tot danieder liegt, werden die Völker der Welt vom Auferstandenen österlich eingeladen: „Kommt, ihr Menschengeschlechter, von Sünden besudelt, und empfangt Vergebung der Sünden! Denn ich bin die Vergebung, ich bin das Passa der Rettung!“ (103,766–770). Die so eingeladenen Menschen, vertreten durch die vor Ort angeredete Gemeinde, dürfen sich im Hafen der österlichen Gnade geborgen wissen. Wie sollten ihre Empfindungen nicht Dankbarkeit und Freude sein, gefördert durch das abschreckend hingestellte Beispiel Israels? Die von Melito intendierte Einstellung der Kirche zu Israel zielt jedoch auf mehr als auf diese eher implizite Wirkung, wie die Würdigung der Rede im Rahmen antiker Rhetorik zeigt. Zwar hieße es der Predigt ein zu enges Korsett anlegen, wollte man sie partout einer der drei klassischen Redearten zuordnen. Denn die Abschnitte, die als kerygmatisch-soteriologische Passagen gekennzeichnet wurden, haben durchaus epideiktischen oder demonstrativen Charakter. Und würde man dem Rat des Rhetoriklehrers Melanchthon folgend als vierte Gattung ein genus ͕͚͕͒ͤ΂͚͒͜΂ͭ͞ definieren,46 ließen sich auch deren Züge bei Melito ausmachen – man denke nur an den lehrhaften Passus über die typologische Schriftauslegung in der Narratio. 43 Vgl. § 94: „Hört, alle Geschlechter …, ein nie dagewesener Mord ist mitten in Jerusalem geschehen, in der Stadt des Gesetzes, in der Stadt der Hebräer … Und wer ist ermordet worden? Wer ist der Mörder? Ich schäme mich, es zu sagen, und bin doch gezwungen, es auszusprechen. Wenn der Mord bei Nacht geschehen wäre …, nun aber … usw.“ (Zur Übers. vgl. – wie auch im Folgenden – Blank). Zur Rhetorik der Anklage Israels vgl. im Übrigen Halton, Device, 253 ff, sowie die treffende Charakteristik durch H. Schreckenberg, Die christlichen Adversus-JudaeosTexte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh. [= Bd. 1]), Frankfurt a.M. 1982, 203. 44 Drobner, Aufbau, 207. 45 Vgl. den Text bei G. Bornkamm, Anhang: Jean Paul, Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei (mit einem Nachwort), in: Studien zu Antike und Urchristentum. Ges. Aufs. II, BETh 28, München 21963, 245–252. 46 Philipp Melanchthon, Elementa rhetorices / Grundbegriffe der Rhetorik, hg., übers. u. komm. v. V. Wels, Berlin 2001, 32 f.

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Doch ungeachtet dessen ist Melitos Rede in auffälligem Maße als Gerichtsoder Prozessrede modelliert. Sie trägt nicht nur die Kennzeichen der Gliederung einer solchen Rede – das hat sie mit den anderen Redearten mehr oder minder gemein; vielmehr ist sie, und damit wird gleich der erste größere Teil, die Narratio, erfasst, wie die Gerichtsrede47 auf die Vergangenheit bezogen, die in diesem Fall durch den biblischen Text Ex 12 vorgegeben ist. Vor allem aber wird sie durch den langen, indirekt durch den Exkurs in der Narratio vorbereiteten Schlussteil mit der Mordanklage gegen Israel in die Bahnen der Gerichtsrede gelenkt. Allein deshalb, weil sie am Ende das Gericht an Israel hinter sich lässt, erneut den Auferstandenen in den Vordergrund rückt und damit Passa / Ostern die Klammer um die ganze Rede sein lässt, wird man sie – aufs Ganze gesehen – weiterhin als gottesdienstliche Rede über das Passa oder als Osterpredigt zu bezeichnen und in diesem Sinne auch den epideiktischen Elementen erhebliches Gewicht beizumessen haben.48 Dieses enge Miteinander, wenn nicht Ineinander von diskriminierender, hoffnungsloser Gerichtsrede gegen Israel und Osterpredigt ist freilich nicht die Lösung, sondern das Problem dieses frühchristlichen Textes.

4. Wie angedeutet gibt es für den letzten Teil einer Gerichtsrede Regeln und Empfehlungen, die v. a. auf die Affekte des Auditoriums abzielen. Der Richter bzw. die Hörer sollen mit Hilfe aller möglichen rhetorischen Mittel in ihren Gefühlen so beeinflusst werden, dass sie sich in die Richtung einer Verurteilung des Angeklagten bewegen. Der Anwalt und Rhetoriker Cicero zählt in seiner Schrift „De oratore“ Hass, Zorn und Neid zu diesen Affekten49 und weiß für den Hass, dass man ihn dann erzeugt, „wenn man eine Tat, die für die Zuhörer selbst schädlich oder nutzlos ist, aufbauscht“50 und die intendierte Wirkung durch die gespielte Erregung über die Tat fördert51. Auf derselben Linie stellt Quintilian etwa ein Jahrhundert vor Melito fest: 47

Vgl. Martin, Rhetorik, 198. Der in diesem Teil geführte Nachweis der Struktur der Rede dürfte hinreichend gezeigt haben, in welchem Maße die Rede ein Ganzes ist, so dass das Bemühen, sie – mit der Trennlinie zu Beginn der Probatio in § 46 – in zwei Blöcke zu teilen und den ersten als Passahomilie, den zweiten als Passa-Haggada zu qualifizieren (so Stewart-Sykes), nicht als gelungen gelten kann. Man versuche einmal, allein die in §§ 46–105 begegnenden diversen Anreden (die meisten an das gar nicht anwesende Israel gerichtet) mit der Gattung „Passa-Haggada“ in Einklang zu bringen. 49 Marcus Tullius Cicero, De oratore / Über den Redner. (Lat. / Dt.), übers. u. hg. v. H. Merklin, Stuttgart 31995: 2,206. 50 Cic.orat. 2,208. 51 Cic.orat. 2,189.201.203. 48

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Auch Neid, Haß und Zorn zu entfachen, bietet der Schlußteil freieren Spielraum. Hierbei erweckt beim Richter eine einflußreiche Stellung Neid, schimpfliches Verhalten Haß … Das Hauptziel jedoch, worauf es dem Ankläger bei der Erregung des Gefühls ankommt, liegt darin, die Anklage, die er vorgebracht hat, so schrecklich wie möglich … erscheinen zu lassen. Der Eindruck des Schrecklichen läßt sich durch folgende Fragen steigern: Was ist getan worden? Von wem? Gegen wen? …52 [Denn] die Kraft der Beredsamkeit [liegt darin,] Erregung der Leidenschaft, die noch nicht vorhanden ist, zu schaffen oder sie über das Vorhandene hinaus zu steigern. Das ist die berühmte ͕͖͚͐ͪͤͣ͞ genannte Form der Rede: unwürdige, schwierige, Unwillen erregende Vorgänge zu gewaltiger Wirkung zu bringen.53

„Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen“, aber bestehe darin, „sich selbst der Erregung hinzugeben“54 und sie bei sich und anderen durch Phantasiebilder zu erzeugen, die das Gemeinte aufs Lebhafteste zur Anschauung bringen und dadurch die Gefühlswirkungen so nach sich ziehen, „als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen“55. Die Rede Melitos zeigt durchweg, dass er in all dem ein Meister gewesen ist, am nachhaltigsten in der Peroratio und hier bis hin zu peinlicher Penetranz.56 Interpretiert man die Rede des kleinasiatischen Bischofs „Über das Passa“ und insbesondere ihren Schluss aufgrund ihrer eindeutigen Zugehörigkeit zur antiken griechischen Rhetorik im Horizont der Leitlinien, wie sie bei Cicero, Quintilian und anderen niedergelegt sind, so ist zu resümieren: Melito von Sardes hat nicht zum Hass aufgerufen, aber er hat – am Ende gefährlicher noch – gezielt so geredet, dass Hass entsteht, bekräftigt wird, als legitim erscheint und sich einnistet.57 Warum dieses intensive, rhetorisch kaum zu steigernde Bemühen, Hass gegen Israel zu schüren? Warum – in geläufiger, wenn vielleicht auch verschleiernder Begrifflichkeit – dieser Antijudaismus, warum – unverhüllt – dieser gewollte Judenhass? 52

Quintilian, Inst.orat. 6.1,15 (Übers. jeweils v. H. Rahn). Quintilian, Inst.orat. 6.2,24. 54 Quintilian, Inst.orat. 6.2,26. 55 Quintilian, Inst.orat. 6.2,29–32, Zitat 32. Vgl. auch Cic.orat. 2,189.201; 3,202 und zum Zusammenhang zwischen Quintilian und Cicero (auch) an dieser Stelle H. Rahn (II, 713 Anm. 35). 56 Die Ausführungen erinnern teilweise an den Lehrer, der den Schüler fragt, obwohl er weiß, dass der die Antwort allemal kennt, da er sie ihm selber zuvor suggeriert hat. Vgl. besonders die Rede an die Geschlechter der Völker §§ 94–98, die allerdings der Fiktion nach von allem Vorangegangenen nichts wissen. 57 Gegen MacLennon (Melito, 91), dessen Behauptung, man könne vom Text her nicht erschließen, Melito habe beabsichtigt, feindliche Gefühle gegenüber den Juden zu wecken, unbewiesen bleibt. Das Motiv des Hasses spielt eine zentrale Rolle in dem Beitrag zu Melito von D. F. Winslow, The Polemical Christology of Melito of Sardis, StPatr 17/2, 1982, 765–776. Winslow erkennt jedoch nicht die Verankerung des Motivs in der rhetorischen Tradition und reflektiert entsprechend auch nicht seine Funktion, sondern subjektiviert den Hass, sieht ihn außer gegen die Juden gegen die gesamte Menschheit gerichtet (772 ff) und eher in der Konstitution Melitos begründet, der „a misanthrope of the most bitter and spiteful kind“ und „not a happy man“ gewesen sei (774). 53

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5. Die Frage nach den antijüdischen Aussagen in der Osterpredigt Melitos, v. a. in Gestalt des Vorwurfs des Gottesmordes, spielte in der Zeit nach der Veröffentlichung 1940 zunächst keine Rolle, hat jedoch in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Gewicht gewonnen. Eric Werner deutete den Vorwurf mit kritisch-polemischer, Karl Heinrich Rengstorf mit apologetischer Intention als Ausdruck einer bestimmten theologischen Konzeption.58 Wenig später suchte A. T. Kraabel die Erklärung der bischöflichen Judenfeindschaft vom theologischen Kopf auf die vermeintlichen zeitgeschichtlichen Füße zu stellen. Nach der Ausgrabung der imposanten, auf eine große und wohl situierte Gemeinde deutenden Reste einer antiken Synagoge in Sardes Anfang der sechziger Jahre des letzten Jh. deutete er den Antijudaismus der Osterpredigt als Niederschlag einer sozioökonomisch und religionspolitisch begründeten Konkurrenzsituation. Wahrscheinlich seien einige Christen in Sardes konvertierte Juden oder deren Nachfahren gewesen, und ob nun die jüdische Gemeinde der christlichen gegenüber feindlich gesinnt oder offen gewesen sei, angesichts der großen, reichen und mächtigen jüdischen Gemeinschaft habe sich Melito zu seiner Stellung gezwungen gefühlt, zusätzlich zur Abgrenzung gedrängt durch die missverständliche Nähe seiner Gemeinde zum Judentum aufgrund ihrer quartadecimanischen Osterpraxis.59 Möglicherweise hätten ihn auch seine Bemühungen bei der römischen Obrigkeit, die Situation der christlichen Gemeinschaft unter römischer Herrschaft zu stabilisieren, auf Kollisionskurs mit den Juden in Sardes gebracht.60 Auf jeden Fall habe er mit seiner Rede, d. h. mit seiner „langen, bitteren, persönlichen Attacke gegen ‚Israel‘ “61, „die Identität seiner Religion gegenüber den Juden zu behaupten und zu bewahren“62 gesucht. Diese Position Kraabels hat einerseits eine Reihe von Anhängern gefunden,63 andererseits ist seit den achtziger Jahren zunehmend Kritik laut geworden. Sie bezog sich zum einen auf die von ihm vorausgesetzte, bis ins 2. Jh. zurückreichende frühe Datierung der Synagoge, zum anderen – und 58

E. Werner, Melito of Sardis, The First Poet of Deicide, HUCA 37, 1966, 191–210; K. H. Rengstorf, Melito von Sardes und die „Gottesmörder“, in: ders. / S. von Kortzfleisch (Hg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Juden und Christen I, Stuttgart 1968, 72–74. 59 Kraabel, Melito, 83 f. Vgl. auch diesen und die weiteren Beiträge Kraabels zur Sache in: J. A. Overman / R. S. MacLennan (Hg.), Diaspora Jews and Judaism. Essays in Honor of, and in Dialogue with, A. T. Kraabel, Atlanta 1992. 60 Kraabel, Melito, 83. 61 Kraabel, Melito, 84. 62 Kraabel, Melito, 84. 63 Noakes, Melito, 244 f; A. M. Manis, Melito of Sardis: Hermeneutic and Context, GOTR 32, 1987, 387–401; Wilson, Passover, 350; MacLennon, Melito, 106 f.110.116; P. R. Trebilco, Jewish Communities in Asia Minor, Cambridge 1991, 54; Stewart[-]Sykes, Antijudaism, 275.

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zum Teil in Verbindung damit – auf seine sozialgeschichtlichen Rückschlüsse64 und lässt sich in der Faustregel zusammenfassen: Keine Belege über Juden in Sardes im 2. Jh. – also lässt sich auch nichts sagen. In Aufnahme dieser Ansätze haben zuletzt Miriam S. Taylor und Lynn Cohick einen Schlussstrich unter die Debatte zu ziehen gesucht.65 Cohick hat jede auch nur von ferne mit einer Hypothese arbeitende Erklärung zurückgewiesen und scheint nur bei ihrer eigenen Arbeit etwas großzügiger zu sein.66 Taylor hat demgegenüber die Diskussion um scharfsichtige ideologiekritische Analysen bereichert, in denen sie aufweist, in welchem Maß die historischen Erklärungsversuche, gefördert durch die Leerstellen verlässlicher Informationen, mit antijüdischen Stereotypen arbeiten.67 Interessanterweise sind beide Autorinnen in gewissem Sinne zum Anfang der Debatte zurückgekehrt, indem sie Melitos Verhältnis zu den Juden, wie es in seiner Osterpredigt Ausdruck findet, als theologisch zu erklärendes Phänomen zu verstehen suchen. Im Gefolge von Rengstorf sehen sie die von ihnen nicht bestrittene Schmährede gegen Israel allein gegen die Generation der Juden zur Zeit des Todes Jesu gerichtet; sie sei deshalb kein Ausdruck eines aktuellen Antijudaismus.68 Taylor betrachtet zudem alle zeitgeschichtlich orientierten Erklärungsversuche schon deshalb als inadäquat, weil in ihrer Sicht – ebenso wie dann bei Cohick – der Antijudaismus Melitos letztlich ein Bestandteil des Evangeliums ist. Der Bezug der Rede allein auf die Zeit des 1. Jh. nun scheitert zwar spätestens an deren Schlussteil, wo Israel und die Völker von Melito präsentisch angesprochen werden, die Rede des Auferstandenen keine reine Erinnerung an den Ostermorgen ist und nicht zuletzt die exzessive Rhetorik in der Anklage gegen Israel (§§ 72–99) auf eine gegenwärtige Auseinandersetzung weist.69 Die Art und Weise, in der Taylor und Cohick die Brisanz dieses Passus herunterspielen, erscheint zudem nicht gerade als eine Empfehlung für ihre These.70 Dennoch dürften beide 64

Vgl. F. W. Norris, Melito’s Motivation, AThR 68, 1986, 16–24: 22, und v. a. Satran, Pole-

mic.

65

Taylor, Anti-Judaism; L. H. Cohick, The Peri Pascha attributed to Melito of Sardis. Setting, Purpose, and Sources, Providence 2000. 66 Vgl. Cohick, Peri Pascha, 61.74.77.151 f u. ö. 67 Vgl. Taylor, Anti-Judaism, 52–74.189–196. 68 Taylor, Anti-Judaism, 63; Cohick, Peri Pascha, ix.2.87.150–153 u. ö. 69 Vgl. zur Ansiedlung der Rede Melitos in seiner eigenen Zeit ferner jene Stellen, an denen er von „heute“ spricht (43,278; 58,408). Weitere Hinweise, die deutlich gegen die These Rengstorfs – bzw. dann Taylors und Cohicks – sprechen, finden sich bei Hansen, Homily, 101 ff.112– 115, Noakes, Melito, 247, und Wilson, Passover, 343–345.350 f; ders., Melito, 93 f; ders., Strangers, 248 f. Vgl. auch R. L. Wilken, Melito, the Jewish Community at Sardis, and the Sacrifice of Isaac, JThS 37, 1976, 53–69, sowie bereits o. Anm. 27. 70 Vgl. Taylor, Anti-Judaism, 73: Die „Intensität“ der Sprache Melitos sei ein Anzeichen, dass er den Gegenstand seiner Predigt „with the greatest of seriousness“ aufgefasst habe. Ähnlich aussagelos Cohick, Peri Pascha, 74.

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Autorinnen den alten Ansatz Rosemary Ruethers71, nach der möglichen Verwurzelung christlicher Judenfeindschaft in Evangelium oder Theologie zu fragen, je auf ihre Weise mit Recht aufgenommen haben und gerade die Arbeit Taylors eine weiter zu bedenkende Provokation sein. Dies gilt, obwohl bei beiden eine gewisse Neigung besteht, das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Theologie im Übermaß aus ihren historischen Kontexten zu lösen. Denn zwar gibt es keine eindeutigen Belege für eine jüdische Gemeinde in Sardes im 1. und 2. Jh. n. Chr., und das Gebäude der großen, dem 3. und – in erweiterter Gestalt – dem 4. Jh. zugehörigen, an zentraler Stelle gelegenen Synagoge wurde allem Anschein nach erst im letzten Drittel des 3. Jh. angekauft72. Aber die blühende jüdische Gemeinschaft, von der der Bau Zeugnis ablegt und die nach einer Zeit schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse im Römischen Reich73 in der Lage war, das monumentale Gebäude zu erwerben, wird schwerlich Mitte des 3. Jh. vom sardischen Himmel gefallen sein, sondern hat viel eher auf eine Jahrhunderte lange, fest in der Stadt verankerte Geschichte zurückblicken können. Spricht daher alles dafür, dass es eine nennenswerte, wenn auch nicht näher beschreibbare jüdische Gemeinde zur Zeit Melitos in Sardes gab, so dürfte sich v. a. ein Erklärungsgrund für die Heftigkeit der Polemik nahe legen. Nach Ausweis einer solchen Spannweite, wie sie das 1. und 4. Jh. umfassen, hat man in frühem Christentum und Alter Kirche – und weit darüber hinaus – anscheinend bevorzugt dann Zuflucht zu heftigen Attacken gegen das Judentum genommen, wenn Christen in Gefahr standen, sich aus welchen Gründen und in welcher Weise auch immer dem Judentum anzunähern. Die eindrücklichsten Beispiele dafür sind der Brief des Paulus an die Gemeinden Galatiens, veranlasst durch beschneidungswillige Christen, und die antijüdischen Reden des Johannes Chrysostomos in Antiochien, zu denen er sich herausgefordert sah, als Christen in seiner Gemeinde dahin neigten, sich an jüdischem religiösem Leben statt an den Predigten ihres Priesters zu erfreuen74. Weitere Beispiele aus dem 2., 4. und 5. Jh. kommen hinzu.75 Ein Konflikt dieser Art war in Sardes – an diesem Punkt bleiben 71

R. Ruether, Nächstenliebe und Brudermord. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus, München 1978. 72 Vgl. M. Bonz, Differing Approaches to Religious Benefaction: The Late Third-Century Acquisition of the Sardis Synagogue, HThR 86, 1993, 139–154. 73 Vgl. Bonz, Approaches. 74 Vgl. pars pro toto: Johannes Chrysostomus, Acht Reden gegen die Juden, eingel. u. erl. v. R. Brändle, übers. v. V. Jegher-Bucher, Stuttgart 1995. 75 Vgl. zum 2. Jh. (Ignatius von Antiochien) J. Lieu, History and Theology in Christian Views of Judaism, in: dies. u. a. (Hg.), The Jews among Pagans and Christians in the Roman Empire, London 1992, 92–94; zum 4. Jh. (Ephraem der Syrer) S. Kazan, Isaac of Antioch’s Homily against the Jews, OrChr 47, 1963, 89–97 [= 3. Folge]: 89 f, und H. J. W. Drijvers, Jews and Christians at Edessa, JJS 36, 1985, 88–102: 97 f; zum 5. Jh. (Isaak von Antiochien) Drijvers, Isaac, 93–97. Zum

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Kraabels Überlegungen plausibel – umso eher denkbar, als dort das christliche Passa anscheinend noch quartadecimanisch gefeiert wurde. Die Versuchung, zum jüdischen Ursprung der Feier zurückzukehren, und damit zugleich die Notwendigkeit, sich abzusetzen, mochten in einer solchen Situation besonders groß sein. Freilich ist zu ergänzen, dass Melitos Predigt keine ausgesprochen quartadecimanischen Züge erkennen lässt und man deshalb bezweifelt hat, dass er überhaupt zu den Vertretern der christlichen Passafeier am Abend des 14. Nisan gehört hat.76 Wie dem auch sei, es ist die Heftigkeit der Polemik Melitos, die darauf schließen lässt, dass im Hintergrund ähnlich wie in Galatien, in Antiochien und an anderen Orten auch ein konkreter Konflikt oder Anlass steht, wie schwer greifbar er auch immer sein mag. Wesentlich bleibt bei dieser Erklärung, dass das Problem nicht nach außen verlagert wird, sondern ein innerchristliches ist – in Übereinstimmung mit dem Phänomen christlicher Judenfeindschaft als Ganzem.

6. Wie unerlässlich es ist, je und dann die Frage nach einer möglichen Verankerung von theologischem Antijudaismus im Zentrum der Christusbotschaft zu thematisieren, ist für Melitos Rede „Über das Passa“ verschiedentlich bereits benannt worden. So hat man darauf hingewiesen, wie eng bei ihm modalistische Christologie, Vorwurf des Gottesmordes und Antijudaismus verbunden sind.77 Die Annahme, dass das Problem mit der Ausprägung einer differenzierten Christologie und Trinitätslehre behoben worden wäre, wird jedoch durch die Kirchengeschichte mit ihrer bedrückend kontinuierlichen Judenfeindschaft widerlegt. Die Komplexität des Problems lässt sich noch weiter an Melitos Predigt selber verdeutlichen. So könnte man die gesamte Israel schmähende Anklage §§ 72–99 herausnehmen – die Predigt wäre auch dann ein geschlossenes Ganzes und angesichts des Exkurses §§ 34–45 zugleich nicht frei von Israel in toto negierenden Zusammenhängen.78 Man könnte auch diesen Exkurs herausnehmen, ohne dass die Predigt sinnlos würde, doch es bliebe immer noch das Gefälle: Das Mysterium des Passa heißt seit dem Kommen des Kyrios „Jesus Christus“, und diese GeTatbestand, dass es auch direkte Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden gegeben hat, s. die 2. Folge des Beitrags von Kazan, OrChr 46, 1962, 87–98: 90 f.94 f.97 f. 76 So Huber, Passa, 37–45; anders B. Lohse (Hg.), Die Passa-Homilie des Bischofs Meliton von Sardes, Leiden 1958, 7. 77 Vgl. Winslow, Christology, 765 f; Wilson, Passover, 346; Melito, 89.95.99; Strangers, 254. 78 In diesem Sinne scheint das Urteil Haltons (Device, 253) überdenkenswert, ohne die „rhetorical tour-de-force“ der „anti-semitic diatribe“ sei die Rede eine „magnificent homily“.

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wissheit ist es, die den biblischen Text sowie die Wirklichkeit der anderen, die sich auch auf ihn beziehen, definiert, so dass deren Auslegung derselben biblischen Zusammenhänge unter dem Vorzeichen „wertlos (geworden)“ abgetan wird. Wann und wo beginnen eine Verkündigung und Explikation der christlichen Botschaft, die nicht vom Ansatz her eine – zunächst verbale – Destruktion des Judentums sind?79 Solange nicht in diesem Sinn bis in die Mitte des Evangeliums hinein gefragt wird, scheint es von Grund auf zweifelhaft, dass die immer neue Suche nach – scheinbar plausiblen – ‚umweltbedingten‘ Gründen christlicher Judenfeindschaft theologisch, kirchlich und damit im konkreten Verhältnis zum Judentum weiterhilft. Sie könnte am Ende dazu beitragen, das Problem zu minimieren und eine nachhaltige Aufarbeitung dieser Seite der christlichen Tradition zu behindern.80

7. Zwei Fragen sind deshalb abschließend aufzunehmen. Die eine betrifft die Art der judenfeindlichen Äußerungen Melitos. Bei ihrer Erörterung werden früher behandelte Sachverhalte zu resümieren und unter den Leitbegriffen „Realität, Religion und Rhetorik“ weiter zu bedenken sein, v. a. mit Blick auf das Zentrum der Peroratio, die Anklage Israels.81 Die andere, die mit der ersten bereits ansatzweise auf der historisch-theologischen Ebene angegangen wird, gilt dem Umgang mit antijüdischen Traditionen wie der Osterpredigt Melitos als Teil christlicher Überlieferung. 1. Das Schlussurteil Melitos in seinem scheinbaren Rechtsverfahren gegen Israel lautet: So, wie es den Kyrios niedergemacht habe, sei es selbst niedergemacht worden und liege tot danieder, während er lebe. Geht man davon aus, dass die jüdische Gemeinschaft in Sardes quicklebendig war und zur selben Zeit, als Melito sie totsagte, ein fröhliches jüdisches Passa feierte,82 gewinnt an dieser Stelle die Diskrepanz zwischen Realität und Rhetorik besonders deutliche Züge. Nun gehören solche Diskrepanzen von jeher zu kritischer prophetischer Rede, und das NT bietet mit Blick auf Sardes ein relativ nah verwandtes Beispiel, wenn der Seher Johannes der dortigen 79

Vgl. die Skizzen des hermeneutischen Problems bei Wilson, Passover, 354 f; Melito, 101 f. Vgl. als Beispiel die schwächelnden, durch schiefe Alternativen gekennzeichneten Apologien von MacLennon, Melito, 90 (mit Anm. 10).105 f.116 (mit Anm. 144). 81 Es wäre zwar interessant zu untersuchen, wie Melito in den analogen Abschnitten in Narratio und Probatio die wenigen biblischen Verse über die Tötung der ägyptischen Erstgeburten bzw. über die Sündhaftigkeit der Menschen nach dem Fall midraschartig ausmalt und die Rhetorik die Realität gestalten lässt, dies würde jedoch im vorliegenden Zusammenhang zu weit führen. 82 Vgl. dazu bereits o. S. 341 mit Anm. 27. 80

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Gemeinde Jesu im Namen ihres Kyrios schreibt (Apk 3,1): „Ich kenne deine Taten, dass du im Rufe stehst, du lebest, doch du bist tot!“ Allerdings lassen sich gegenüber Melitos Rede gravierende Unterschiede beobachten. So handelt es sich bei dem Brief der Apokalypse um innerchristliche Kritik, die auf schriftlichem Wege unmittelbar an die Adresse der Gemeinde ergeht und nicht in ihrer Abwesenheit laut wird, auch wenn sie durch die Apokalypse einem größeren Kreis zugänglich gemacht wird. Vor allem aber wird die Gemeinde, obwohl als „tot“ bezeichnet, nachhaltig zur Umkehr aufgerufen. Bei Melito ist dies anders. Die Attacke ergeht von außen gegen die jüdische Gemeinde, die in dem Augenblick, da der Angriff erfolgt, gar nicht anwesend ist, so dass zu einer christlichen Gemeinde über die jüdische geredet wird, auch wenn letztere formal angeredet wird. Desgleichen fehlt – im Übrigen in der ganzen Rede – jeglicher Ruf zur Umkehr und damit die Eröffnung auch nur des Restes einer Chance. Das heißt: Mit dem Israel, das Melito von Sardes anredet, ist es, folgt man seiner Rede, in jeder Hinsicht aus. Es sind diese Faktoren, die das Verhältnis von Realität und Rhetorik in der Rede des Bischofs mit Blick auf Israel als rein destruktiv und schwerlich nachvollziehbar erscheinen lassen. 2. Das Verhältnis von Realität und Rhetorik steht auch zur Debatte, wenn es um die Argumente geht, die regelmäßig angeführt werden, wenn, wie vermutlich im Falle Melitos, im Hintergrund einer antijüdischen Schrift das Problem steht, dass Christen sich – wie auch immer – dem Judentum zu nähern oder zuzuwenden beginnen. Gemeint seien mit der herabwürdigenden Polemik gar nicht die Juden, heißt es, und frühere Zeiten hätten einen raueren Ton angeschlagen und auch vertragen. Selbst wenn man diese Argumentation als Lösung akzeptierte – was sie angesichts des Tatbestandes nicht ist, dass die Juden trotzdem durch alle Aussagen in eminentem Maße betroffen sind –, so würde sie im Falle Melitos durch das von ihm gewählte Genre als untauglich erwiesen. Der antiken Rhetoriklehre nach hatten jene Passagen des Schlussteils der Rede, in denen man den Gegner attackierte und herabsetzte, ausdrücklich die Funktion, Emotionen gegen ihn zu wecken, nicht etwa Mitleid mit ihm aufkommen zu lassen, sondern Zorn, ja, Hass zu säen und die Hörer dadurch gegen den Kontrahenten als Übeltäter einzunehmen. Da Rhetorik bis weit über das Mittelalter hinaus zum Grundstudium bzw. bereits zur gymnasialen Ausbildung gehörte,83 darf man davon ausgehen, dass antike wie auch spätere christliche Theologen über diese Funktion der Peroratio orientiert waren. Man wollte den Gegner Abscheu erweckend, mehr noch, Hass schürend an den Pranger stellen, und wie hätte man es destruktiver tun können als durch den von Melito zum 83 Vgl. Wels, Elementa rhetorices, Nachwort, 443 f, und für den französischsprachigen Bereich R. Barthes, Die alte Rhetorik, in: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, 16.46–49.

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ersten Mal erhobenen84 und ins Zentrum gerückten Vorwurf gegen Israel, es habe ein nie gehörtes, schreckliches Verbrechen begangen – das des Gottesmordes. Dieser durch Melitos Christologie begünstigte Vorwurf wird der Realität so flächendeckend übergestülpt, dass selbst Tatbestände wie die Qualen der Dornenkrone und die Geißelung, die die Evangelien eindeutig auf die römische Soldateska zurückführen,85 hier dem jüdischen Volk angelastet werden (79,559 f) und dass von Pontius Pilatus allein mit Mt 27,24 bemerkt wird, er habe seine Hände in Unschuld gewaschen (92,676)86. 3. Die praktizierte Rhetorik, v. a. in Gestalt des kunstvoll inszenierten Vorwurfs des Gottesmordes, hat sich nicht als verbales Glasperlenspiel erwiesen, sondern ist mit zunehmendem Machtgewinn der Kirche je und dann von erheblicher zerstörerischer Kraft gewesen. Sie hat Menschen animiert, das geistliche Todesurteil durch Einengung und Verelendung der leiblichen Existenz von Juden und auch durch den physischen Vollzug des Todesurteils in die Tat umzusetzen. In diesem Sinne ist die Realität der jüdischen Gemeinden je und dann gewaltsam an das Bild angeglichen worden, das man sich von jüdischer Existenz dogmatisch gemacht hatte und rhetorisch weitergab, auch wenn es andere, konstruktivere Phasen in der gemeinsamen Geschichte gegeben hat. Es wäre historisch fragwürdig, Melito pauschal mit den angedeuteten Folgen zu belasten. Ebenso wenig erschiene es als angemessen, seine Aussagen zu verharmlosen. „Stil war im Altertum eine Großmacht“,87 Rhetorik „eine Waffe, die auf die Realität einwirkt (Gorgias, Über die Natur)“,88 und die mehrsprachige Überlieferung des bischöflichen Textes spricht für seine Wertschätzung in den Kirchen89. Das, was Melito von dem vermeintlichen Verbrechen des Gottesmordes meinte suggerieren zu müssen: nie dagewesen, schrecklich …, fällt am Ende auf ihn selber und seine traditionsbildende christliche Rhetorik zurück. Dies mit Nachdruck zu vermerken erscheint auch insofern als sachgemäß, als es andere, dem Evangelium adäquate österliche Stimmen in der Alten Kirche gegeben hat. Während Melito mit seiner Predigt Hass säen will und sich damit „dieser Welt angleicht“ (Röm 12,2), heißt es im Exsultet, der alten gallikanischen österlichen Lichtdanksagung aus der Zeit um 400, von der Osternacht: „Sie vertreibt den Hass, 84

Vgl. Werner, Poet. Vgl. Mk 15,16–20 / Mt 27,27–31 / Joh 19,1 ff. 86 Vgl. hierzu auch Wilson, Passover, 348. 87 Norden, THEOS, 143. 88 G. Ueding, Einführung in die Rhetorik, Stuttgart 1976, 18. 89 Vgl. die Aufstellung über die Textzeugen bei Hall (Homily, xlv f) sowie die allerdings sehr allgemeinen enthusiastischen Bemerkungen von Testuz (Papyrus, 5) über die Hochschätzung des Textes bei den Alten. Zurückhaltender zur Wirkung (freilich auch ohne Belege) äußert sich Wilson bei gleichzeitiger kritischer Distanz zur Attacke gegen Israel (weithin „historically indefensible“ und ausnahmslos „theologically abhorrent“): Passover, 353; Melito, 101; Strangers, 256. 85

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Eintracht schafft sie und beugt die Gewalten.“90 So scheint etwas von Grund auf falsch zu sein, wenn die Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten zum Hass schürenden Gericht über das jüdische Volk wird. Wie kann man wirksam destruktiven Tendenzen begegnen, wie sie in Melitos Osterpredigt und in verwandten Traditionen aufbewahrt sind? Über das Exsultet hinaus ist die Grundrichtung für eine Antwort mit der dargetanen Analyse jener destruktiven Tendenzen gegeben. Durch die theologische Rhetorik hindurch und über Melito von Sardes hinaus ist der Realität jüdischen Lebens nachzuspüren, mithin nicht der Feststellung des vermeintlichen Todes Israels zu folgen, sondern den Spuren seines Lebens. Sie führen, bleibt man bei der Sache, auf neue, erstaunliche Weise mitten ins Zentrum des Passa zurück, in diesem Fall in die Haggada, die Liturgie für die Feier des Festes in der Familie am Pessachabend. Der rhetorisch am stärksten ausgeprägte Teil dieser Liturgie ist das Dajjenu, das rhetorisch klingt, als hätte man es bei Melito von Sardes in Auftrag gegeben.91 Früher hat man angenommen, es sei von Melito und in seinen Spuren in den Improperien der Karfreitagsliturgie aufgenommen und gegen Israel gewendet worden.92 Tatsächlich scheint der Passus jedoch eher in eine spätere Zeit zu gehören.93 So wird man fragen können, ob das Dajjenu nicht umgekehrt eine liturgische Reaktion auf ein christliches Predigen und Singen ist, das Israel seiner vermeintlichen Undankbarkeit wegen an den Pranger stellt. Wie es sich damit auch traditionsgeschichtlich verhalten mag, wie alt auch immer also das Dajjenu sei – die Passa-Haggada fließt über von Lob und Dank für die zukunftsweisende Errettung Israels aus Ägypten, und in ihrem Rahmen ist das Dajjenu ein schwerlich noch zu steigernder Ausdruck der Dankbarkeit für die Taten Gottes seinem Volk zugute. Es ist diese Realität, die am nachhaltigsten dazu drängt, das Urteil vermeintlich nicht mehr zu steigernder Undankbarkeit auf Seiten Israels zu revidieren und sein von Dank bestimmtes Gottesverhältnis in seiner Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit wahrzunehmen.94 90 Fugat odia (sic), concordiam parat et curvat imperia (V. 21). Text u. Übers. nach G. Fuchs / H. M. Weikmann, Das Exsultet. Geschichte, Theologie und Gestaltung der österlichen Lichtdanksagung, Regensburg 1992, 34/35. 91 Vgl. die breit ausgeführte, in lauter Parallelismen explizierte Grundbewegung: Hätte Gott Israel nur eine einzige der von Exodus bis Tempelbau erwiesenen Wohltaten getan, es wäre für uns genug gewesen (= dajjenu). Nun aber hat er … (Text in: Die Pessach-Haggada, hg. u. erl. v. E. D. Goldschmidt, Berlin 1936, 60 ff; Übers. in: S. Ben-Chorin, Narrative Theologie des Judentums anhand der Pessach-Haggada, Tübingen 1985, 139 ff = Übers. der Haggada v. R. R. Geis). 92 Vgl. Werner, Poet, 199.209. 93 G. Stemberger, Pesachhaggada und Abendmahlsberichte des Neuen Testaments, Kairos 29, 1987, 147–158: 153. 94 Der Beitrag wurde im November 2005 abgeschlossen, so dass seither erschienene Literatur nicht mehr berücksichtigt werden konnte.

Rainer Kampling

Erbstreit Kirchenschriftsteller über das Erbe Abrahams. Ein Konflikt mit dem rabbinischen Judentum?

1. Klärungen In der Übersetzung Martin Bubers heißt Gen 22,13a: „Abraham hob seine Augen und sah: da, ein Widder hatte sich dahinter im Gestrüpp mit den Hörnern verfangen …“ Wenn diese Szene in der christlichen Kunst der Spätantike dargestellt wird, ist es aber keine Hecke oder ein Gestrüpp, das dargestellt wird, sondern ein Baum.1 Denn der Baum erinnerte deutlicher an das Kreuz Christi. Wie die gesamte Szene der Bindung Isaaks typologisch auf den Kreuzestod Jesu gedeutet wird, so auch die verschiedenen Einzelheiten. Die bildende Kunst rezipiert die christologische Lesart der Abraham-Erzählung, wie sie in der kirchlichen Literatur und Homiletik gepflegt wurde.2 Dazu gehört dann auch, dass die Gestalt des Isaaks immer älter wird: Die Angleichung an Christus macht aus dem Knaben einen jungen Mann. Für die theologische christliche Literatur der Spätantike hatten die Figur und der Erzählkreis Abrahams eine unschätzbare Bedeutung. Die Philoxenia des Abraham galt nach weit verbreiteter Meinung als sicherer Schriftbeweis für die Trinität. Die „drei Männer“ nach Gen 18,2 1 Vgl. E. van den Brink, Abraham’s Sacrifice in Early Jewish and Early Christian Art, in: E. Noort / E. Tigchelaar (Hg.), The Sacrifice of Isaac. The Aqedah (Genesis 22) and its Interpretations, Themes in Biblical Narrative 4, Leiden 2002, 140–151; E. Paneli, Die Ikonographie der Opferung Isaaks auf den frühchristlichen Sarkophagen, Marburg 2001; I. Speyart van Woerden, The Iconography of the Sacrifice of Abraham, VigChr 15, 1961, 214–255. 2 Iren.haer. 4,5,4–5; Or.hom. in Gen. 8,5–9; Cyrill v. Alex., Glaphyra Gen. 3; Aug.civ. 16,32; Chrys.hom. in Gen. 47; vgl. E. Dassmann, „Bindung“ und „Opferung“ Isaaks in jüdischer und patristischer Auslegung, in: M. Hutter (Hg.), Hairesis. FS Karl Hoheisel, JbAC.E 34, Münster 2002, 1–18; A. Fitzgerald, Ambrose at the Well: „De Isaac et anima“, REAug 48, 2002, 79–99; J. C. Cavadini, Exegetical Transformations. The Sacrifice of Isaac in Philo, Origen, and Ambrose, in: P. M. Blowers (Hg.), In Dominico Eloquio. FS R. L. Wilken, Grand Rapids 2002, 35–49; M. B. Bourgine, Das Opfer Abrahams in jüdischer und christlicher Auslegung. Gen 22,1–19 im Midrasch Bereschit Rabba und in den Genesis-Homilien des Origenes, US 51, 1996, 308–316; L. Cignelli, The Sacrifice of Isaac in Patristic Exegesis, in: F. Manns (Hg.), The Sacrifice of Isaac in the Three Monotheistic Religions, Jerusalem 1995, 123–126; M. Mees, Isaaks Opferung in frühchristlicher Sicht. Von Clemens Romanus bis Clemens Alexandrinus, Aug. 28, 1988, 259– 272.

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waren für die Kirchenschriftsteller ein eindeutiger Ausweis.3 Abraham selbst war als Gotteszeuge der Vater der Kirche, des Glaubens, der Glaubenden; er konnte symbolhaft den Erlösungswillen Gottes abbilden und damit das Mysterion des Neuen Testaments vorwegnehmend anzeigen. Wie unerschöpflich die Interpretationsfähigkeit der kirchlichen Schriftsteller war, mag man daran erkennen, dass der Barnabasbrief die Beschneidung von 318 Männern des Hauses Abrahams (Gen 17,23) als Verweis auf das Kreuz Christi sieht. Die Zahl 18 verweist auf Jesus, da sie die Anfangsbuchstaben ih enthält, während dreihundert den Buchstabenwert t hat und damit das Kreuz meint.4 Wie zentral die Bedeutung des Abraham war, kann man bei Augustinus mit einer Zahl benennen: Der Index zu seinen Werken belegt 2161 Nennungen.5 Gewiss gibt es für dieses Interesse am Erzvater innere Gründe. Die Arbeit am biblischen Text, als welche sich die Theologie der Spätantike vollzog, musste wegen der besonderen Bedeutung des Erzvaters in der Hl. Schrift in ihren beiden Teilen zu einer intensiven Beschäftigung führen. Hinzu kommt, dass die traditionsausgerichtete Literatur der christlichen Spätantike das Thema immer schon vorfand. Seit dem Neuen Testament kann man fast von einer Omnipräsenz des Abraham im kirchlichen Schrifttum sprechen.6 Doch gibt es einen extratextuellen Zusammenhang, der der Figur des Abraham zu einer solchen Dominanz verhilft. Durch das paulinische Wort von Abraham als unserem Vater (Röm 4,1.12.16) legitimiert,7 war die Bindung an den Erzvater der Erweis des Alters und der Ehrwürdigkeit des christlichen Glaubens. Er trug nicht in geringem Maße die Last des 3 Vgl. H. Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh.), Frankfurt a. M. 31995, passim. 4 Barn 9,7–8. 5 Vgl. C. Mayer, Art. Abraham, in: AugL, Basel 1986–1994, I, 10–33: 12. 6 Vgl. jetzt: T. Heither / C. Reemts, Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern: Abraham, Münster 2005. 7 Vgl. etwa Iren.haer. 4,21: „Daß aber auch in Abraham unser Glaube im Voraus dargestellt wurde und der Patriarch unseres Glaubens und gleichsam Prophet war, hat der Apostel ganz deutlich im Briefe an die Galater ausgesprochen, indem er sagt …“; vgl. zur exegetischen Debatte u. a.: F. Wilk, Die Gestalt des Abraham im Neuen Testament, in: R. Möller / H.-C. Goßmann (Hg.), Interreligiöser Dialog. Chancen abrahamischer Initiativen, Berlin 2006, 61–82; M. Konradt, „Die aus Glauben, diese sind Kinder Abrahams“ (Gal 3,7). Erwägungen zum galatischen Konflikt im Lichte frühjüdischer Abrahamtraditionen, in: G. Gelardini (Hg.), Kontexte der Schrift 1: Text, Ethik, Judentum und Christentum, Gesellschaft. FS W. Stegemann, Stuttgart 2005, 25–48; N. Calvert-Koyzis, Paul, Monotheism and the People of God. The Significance of Abraham Traditions for Early Judaism and Christianity, JSNT.S 273, London 2004; A. E. Arterbury, Abraham’s Hospitality among Jewish and Early Christian Writers. A Tradition History of Gen 18:1–16 and Its Relevance for the Study of the New Testament, Perspectives in Religious Studies 30, 2003, 359–376; P. Müller, Unser Vater Abraham. Die Abrahamrezeption im Neuen Testament im Spiegel der neueren Literatur, BThZ 16, 1999, 132–143; G. Baumbach, Abraham unser Vater. Der Prozess der Vereinnahmung Abrahams durch das frühe Christentum, ThV 16, 1986, 37–56.

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Altersbeweises,8 der das Christentum vom Makel der Neuheit befreite. Für eine Theologie, die nicht den Weg des Marcion9 ging, war Abraham die Verkörperung der Kontinuität zwischen der Offenbarung Gottes in den alten Zeiten und der in Jesus Christus bis in die Jetztzeit der Kirche hinein. Die Kirchenschriftsteller übernahmen die jüdisch-frühchristliche Auffassung, dass Abraham der Garant des Bundes mit Gott ist. Aus diesem Grund gewann der Konflikt sein Profil und seine Schärfe. Für Legitimation und Identifikation der Kirche war Abraham unverzichtbar, wollte man nicht als eine geschichts- und kontinuitätslose Gruppe gelten,10 die außerhalb des Bundes mit Gott steht. Abraham musste in die christliche Selbstsinnstiftung eingefügt werden, wollten die Christen am Bund teilhaben. Dieses Problem der Aneignung und Anfechtung bestand auf jüdischer Seite nicht. Man lese nur, mit welcher Selbstverständlichkeit Paulus die Abrahamkindschaft für sich in Anspruch nimmt (Röm 11,1; 2Kor 11,22).11 Gewiss gibt es im ganzen Frühjudentum eine Debatte darüber, wer für sich die Abrahamkindschaft in Geltung bringen darf.12 Aber dieser Debatte fehlte der Zwang zur Legitimation. Es ging nicht um den zentralen Nachweis wie bei den christlichen Autoren, dass man sich überhaupt auf Abraham berufen dürfe, sondern um eine Definitionsfrage innerhalb einer theoretisch und praktisch kaum bestrittenen Identität. Der gravierende Unterschied ist auf jüdischer Seite die Frage, durch welche Praxis man Kind Abrahams sein kann, nicht, ob man zu seinen Kindern zu zählen ist. Freilich ist es angesichts der immensen Fülle von Texten immer vermessen, generalisierende Aussagen zu machen, aber es sei die These gewagt, dass die Frage nach Abraham für christliche Theologen der Spätantike 8 Vgl. etwa Eus.h.e. 1,4: „Die Art der Gottesverehrung, welche vor nicht langer Zeit durch die Lehre Christi allen Völkern verkündet wurde, muss man also offenbar für die erste, die allerälteste und ursprünglichste, schon von den Gottesfreunden zur Zeit Abrahams geübte ansehen (…) so wird augenfällig Gott nach Abrahams Art in der Jetztzeit nur von Christen auf dem ganzen Erdkreise durch Werke, die alle Worte übertreffen, verehrt. Was soll uns also noch weiterhin abhalten, zu gestehen, dass wir, die wir von Christus abstammen, und die Gottesfreunde der Vorzeit das gleiche Leben und dieselbe Art der Gottesverehrung haben? Somit haben wir den Beweis erbracht, dass die durch die Lehre Christi geforderte Art der Gottesverehrung nicht neu und fremd, sondern, um die Wahrheit zu sagen, die erste, die einzige, die wahre ist.“ Zum Motiv vgl. P. Pilhofer, Presbyteron kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte, WUNT II.39, Tübingen 1990. 9 Vgl. J. J. Clabeaux, Abraham in Marcion’s Gospel and Epistles. Marcion and the Jews, in: A. J. Avery-Peck u. a. (Hg.), When Judaism and Christianity Began. Essays in Memory of A. J. Saldarini, Bd. I: Christianity in the Beginning, SJSJ 85, Leiden 2004, 69–92. 10 D. R. MacDonald (Hg.), Mimesis and Intertextuality in Antiquity and Christianity, Harrisburg 2001; J. D. Dawson, Christian Figural Reading and the Fashioning of Identity, Berkeley 2001. 11 Vgl. D. C. Duling, 2 Corinthians 11:22. Historical Context, Rhetoric, and Ethnic Identity, in: J. Fotopoulos (Hg.), The New Testament and Early Christian Literature in Greco-Roman Context. FS D. E. Aune, NT.S 122, Leiden 2006, 65–89. 12 Vgl. K. Berger, Art. Abraham II, in: TRE 1, 1977, 372–382.

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daher um vieles drängender war als für jüdische. Die einen waren Vertreter einer werdenden, sich definierenden Religion, die anderen waren nicht zuletzt wegen der Abrahamkindschaft als altehrwürdig erwiesen.

2. Vergewisserungen13 Der Titel des Aufsatzes impliziert, wenn auch in Frageform gekleidet, die Annahme, es habe zwischen Rabbinen und Kirchenschriftstellern einen Austausch in exegetischen Fragen gegeben. Wenn man sich darunter eine direkte Kommunikation vorstellt, etwa in Form eines Lehrdisputs, dann wird man sagen können, dass diese nicht stattgefunden hat. Selbst Justins Dialog mit dem Juden Tryphon, der bisweilen als Beleg herangezogen wird, zeigt deutliche Züge eines Kunstdialogs, in dem der jüdische Disputant zwar Kritik anmelden darf, aber angesichts der Überlegenheit der Argumentation und des christlichen Glaubens überwunden wird. Die Vorstellung, ein schriftgelehrter jüdischer Theologe hätte sich durch Justins Exegese beeindrucken lassen, ist nur schwer nachvollziehbar.14 Es gab für den Nichtkontakt auch Gründe ganz praktischer Art: Zunächst sind die mangelnden Hebräischkenntnisse vieler kirchlicher Schriftsteller zu nennen. Die Sprachbarriere verhinderte einen möglichen Austausch über die Hebraica.15 Ein weiterer Grund ist die unterschiedliche Textgrundlage: Die LXX galt Christen weithin als inspiriertes Wort Gottes; die neuen jüdischen Übersetzungen des Aquila und Symmachus setzten sich in den christlichen Gemeinden nicht durch. Ein Austausch fand hier auch nicht statt, sondern die verschiedenen Bezugsgrößen zeitigten die bereits bei Justin belegten Vorwürfe von Schriftverfälschung und Sinnverdrehung.16 13

In diesem Abschnitt folge ich G. Stemberger, Exegetical Contacts between Christians and Jews in the Roman Empire, in: M. Sæbø u. a. (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of its Interpretation, I: From the Beginnings to the Middle Ages (until 1300), Göttingen 1996, 569– 586; vgl. A. Kamesar, The Church Fathers and Rabbinic Midrash, in: J. Neusner / A. J. Avery-Peck (Hg.), Encyclopedia of Midrash I, Leiden 2005, 20–40; ders., The Church Fathers and Rabbinic Midrash. A Supplementary Bibliography 1985–2005, RRJ 9, 2006, 190–196. 14 Vgl. D. Rokéah, Justin Martyr and the Jews, JCP 5, Leiden 2002; T. Rajak, Talking at Trypho. Christian Apologetic as Anti-Judaism in Justin’s Dialogue with Trypho the Jew, in: M. Edwards u. a. (Hg.), Apologetics in the Roman Empire. Pagans, Jews and Christians, Oxford 1999, 59–80; M. Mach, Justin Martyr’s Dialogus cum Tryphone Iudaeo and the Development of Christian Anti-Judaism, in: O. Limor / G. G. Stroumsa (Hg.), Contra Iudaeos. Ancient and Medieval Polemics between Christians and Jews, TSMJ 10, Tübingen 1996, 27–48. 15 NB: Hieronymus ist auch, was sein Hebräisch angeht, bisweilen ein Blender. 16 Etwa: Iust.dial. 9,1; 128,4; vgl. M. Hengel, Die Septuaginta als von den Christen beanspruchte Schriftensammlung bei Justin und den Vätern vor Origenes, in: J. D. G. Dunn (Hg.), Jews and Christians. The Parting of the Ways A. D. 70 to 135, WUNT 66, Tübingen 1992, 39–84.

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Der tiefere Grund für das Fehlen einer tatsächlichen Auseinandersetzung ist in dem jeweiligen hermeneutischen Vorverständnis zu suchen. Die christologische ist mit der israelbezogenen Lektüre nicht auf einen Nenner zu bringen. Der Gegenstand war zwar die Schrift, aber Fragerichtung, Fragehorizont und Frageintention unterscheiden sich wesentlich voneinander.17 Dieser Befund ist sogar an der Auswahl der biblischen Bücher zu erkennen: Seit Origenes setzte in der christlichen Theologie eine breite Kommentierung der Prophetenbücher ein, während es im Frühjudentum dazu keinen Midrasch gab. Umgekehrt ist dazu das Verhältnis bei der Behandlung des Pentateuch zu beobachten: Hier überwiegt die Rezeption und Tradierung im Judentum bei weitem die exegetische Tätigkeit der kirchlichen Autoren. Derselbe Gegenstand ist jeweils von einer ganz anderen Wahrnehmung gesehen. Das christologische prae jeder christlichen Lektüre verunmöglichte jeden wirklichen Dialog zwischen Rabbinen und Kirchenschriftstellern und wohl auch vice versa, wobei fraglich ist, ob es überhaupt eine Wissbegierde hinsichtlich der Meinung der Anderen gab. Bei den Kirchenschriftstellern war das Interesse nicht am empirischen Judentum ausgerichtet, sondern an dem von ihnen konstruierten.18 Da die Kennzeichen dieses christlichen Judentums für sie Unglaube, Blindheit und Unkenntnis waren, wäre es ein Widerspruch gewesen, ihnen auch nur ansatzweise eine Kompetenz in Schriftdingen zuzusprechen. Vielmehr lautete ein stereotyper Vorwurf an die jüdischen Gelehrten, dass sie durch ihre Schriftinterpretation die übrigen Juden an der Annahme des Glaubens an Christus hinderten.19 Augustinus deutet die Juden als „Büchersklaven“ der Christen; sie tragen ihnen die Bücher nach, die Juden verstehen sie aber nicht.20 Wenn ein direkter Kontakt in der Regel auszuschließen ist, so stellt sich freilich die Frage, ob man dann wenigstens einen indirekten annehmen kann. Dafür sprächen Parallelen zwischen exegetischen Motiven bei den Rabbinen und den Kirchenschriftstellern. Selbst wenn man ähnliche Motive in Texten verschiedener Herkunft findet, ist damit noch keineswegs gesagt, dass eine direkte oder indirekte Abhängigkeit vorliegt. Es wird immer zu 17

Die vorzustellende Gesprächssituation hätte wohl eher dem Befund von J. Neusner Rechnung getragen: The Jewish-Christian Argument in the First Century. Different People Talking About Different Things to Different People, Religious Studies and Theology 6, 1986, 8–19. 18 Vgl. D. Boyarin, Justin Martyr Invents Judaism, ChH 70, 2001, 427–461; J. M. Lieu, Image and Reality. The Jews in the World of the Christians in the Second Century, Edinburgh 1996. 19 Vgl. R. Kampling, Neutestamentliche Texte als Bausteine der späteren Adversus-JudaeosLiteratur, in: ders., Im Angesicht Israels. Studien zum historischen und theologischen Verhältnis von Kirche und Israel, SBB 47, Stuttgart 2002, 123–137. 20 Aug.en. Ps 40,14: „modo, fratres, nobis serviunt Iudaei, tamquam capsarii nostri sunt, studentibus nobis codices portant“, vgl. G. Folliet, Iudaei tamquam capsarii nostri sunt. Aug., Enarratio in Ps. 40,14, Aug. 44, 2004, 443–445; vgl. immer noch: B. Blumenkranz, Die Juden als Zeugen der Kirche, in: ders., Juifs et chrétiens, patristique et moyen âge, London 1977, 396–398.

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überprüfen sein, ob hier nicht Explikationen eines biblischen Textes vorliegen bzw. eine gemeinsame Tradition.21 Wenn man sich Judentum und Christentum als zwei Entwicklungslinien des Judentums des Zweiten Tempels denkt, ist damit sogleich auch gesagt, dass ein breites Traditionsgut beiden vorgegeben war. Dieses konnte in der Interpretation dann ebenfalls gemeinsam verstanden werden bzw. zu einer ähnlichen Praxis führen. So gibt es sowohl in der rabbinischen Überlieferung wie auch in der christlichen Literatur den Topos von Abraham als Vater der Proselyten.22 Doch auch hier wird man keine Abhängigkeiten annehmen können, denn dieses Motiv ist in anderen jüdischen Schriften weit verbreitet und begegnet desgleichen bei Philo. Zu fast allen möglichen Paralleltexten finden sich Belege in Texten, die den Kirchenschriftstellern und Rabbinen zeitlich vorgelagert sind. Beide können unabhängig voneinander auf existierende Traditionen zurückgreifen, die das jeweilige exegetische Ergebnis beeinflussen. Sie haben nicht nur denselben Gegenstand, sondern vielfach auch dieselben Traditionen.23 Wenn demnach eine direkte und indirekte orale oder literarische Beziehung auch weitgehend24 auszuschließen ist, so bedeutet dieser Befund nicht die völlige Unkenntnis oder Unwissenheit hinsichtlich des Denkens der Anderen. Denn es gab einen Austausch auf anderer Ebene, und zwar der gemeindlichen.25 Immer wieder begegnen in Texten von Kirchenschriftstellern kritische Bemerkungen zu bestimmten Positionen, die von Gemeindemitgliedern vertreten werden. Ob es nun die Gruppe im Barnabasbrief ist, die sagt: „Der Bund umfasst jene und uns“ (Barn 4,6), oder ob Gläubige Ignatius in Verwirrung setzen mit der Aussage: „Wenn ich es nicht in den Urkunden finde, im Evangelium glaube ich es nicht“ (IgnPhld 8,2): Hinter diesen Stimmen formuliert sich eine Position, die die gängige theologische Interpretation in Frage stellte.26 21

Vgl. M. Kister, Some Early Jewish and Christian Exegetical Problems and the Dynamics of Monotheism, JSJ 37, 2006, 548–593. 22 BerR 39,16 (381 Theodor / Albeck) heißt es zu Gen 12,8: „Er fing an Proselyten zu machen (einige Hss. ergänzen: und sie unter die Flügel der Schekhina zu bringen).“ 23 Dass sich christliche Theologen sehr gut in hellenistischen jüdischen Autoren auskannten, ist bekannt. Der Umstand, dass diese fast alle im christlichen Kontext bewahrt wurden, bedeutet ja keineswegs, dass sie nicht auch von Juden in der Spätantike noch gelesen wurden. 24 Die Einschränkung erklärt sich unschwer aus dem Umstand, dass bereits wegen biographischer Bezüge, etwa bei Origenes oder Hieronymus, eine Kenntnis anzunehmen ist; vgl. jetzt S. T. Katz, The Rabbinic Response to Christianity, in: ders. (Hg.), The Cambridge History of Judaism, Bd. 4: The Late Roman-Rabbinic Period, Cambridge 2006, 259–298. 25 Als Extrem der Transformation dürfen Fälle gelten, von denen Justin berichtet. Bei ihm findet sich der Hinweis auf Menschen, die sich taufen lassen und dann beginnen, die Speisegesetze zu halten. Es gibt auch Fälle, in denen Menschen durch das Christentum die jüdische Religion kennen lernen. Sie trennen sich von der Kirche und lassen sich beschneiden (Iust.dial. 47). 26 Die Gegenreaktion ist bekanntermaßen heftig; vgl. IgnMagn 8,1; 10,3.

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Es ist keineswegs angebracht, aus dem literarischen Zeugnis der Kirchenschriftsteller auf einen allgemein verbreiteten Antijudaismus zu schließen. Vielmehr belegen diese Texte indirekt eine durchaus vorhandene Wertschätzung und Akzeptanz der Praxis und Lehre des Judentums. Und hier ist dann auch das primäre mediale Verbindungsglied zwischen kirchlicher und synagogaler Theologie zu suchen. Die Kirchenschriftsteller reagierten auf das ihnen Mitgeteilte oder zu Ohren Gekommene als eine Konkurrenzmitteilung, die sie als belanglos oder falsch zu entkräften suchten. Freilich ist die Kraft der Imagination nicht zu unterschätzen: Die gedachten Gegner waren gleichsam gegenwärtig und führten zu immer neuen Versuchen der Legitimation. Das Hauptargument gegen jüdische Interpretationen wurde dabei keineswegs an Texten gewonnen, sondern eben an dem Umstand, dass es jüdische Interpretationen waren. Ihnen mangelte demnach von vornherein die Fähigkeit, den höheren Sinn, d. h. den christologischen, zu erfassen. Damit, so die Logik der kirchlichen Theologen, waren sie über die Buchstaben nicht hinausgekommen. Wie bei Erbstreitigkeiten üblich herrschte eisernes Schweigen bzw. Polemik.

3. Beispiele27 3.1 Origenes: Die Abrahamkindschaft kata sarka Origenes ist wie sonst auch in der Auslegungsgeschichte für die Traditionsbildung in der Exegese der Abrahamerzählung maßgeblich. Wie vor ihm Clemens Alexandrinus (strom. 1.5, 31 f) greift er die Vorstellung des Philo auf, dass Abraham durch die Belehrung Gottes zum höchsten Grad der Tugend gelangte. Mit Philo ist aber der Stammvater der christlichen Abrahamexegese benannt: Das, was die Väter an nicht-christologischen Motiven über Abraham zusammentragen, verdankt sich weitestgehend der kreativen Rezeption der philonischen Exegese, die man auch im Falle der Abrahamexegese nicht hoch genug einschätzen kann.28 Philos Traktat „Über Abraham“ hat die 27 Vgl. u. a. A. Rudolph, „Abraham“ in Justins Dialog mit dem Juden Tryphon, OS 50, 2001, 10–33; T. J. Horner, The Problem with Abraham: Justin Martyr’s Use of Abraham in the „Dialogue with Trypho a Jew“, Churchman 110, 1996, 230–250; R. Berton, Abraham est-il un modèle? L’opinion des Pères dans les premiers siècles de l’Église, in: Bulletin de littérature ecclésiastique 97, 1996, 349–373; L. J. van der Lof, The „Prophet“ Abraham in the Writings of Irenaeus, Tertullian, Ambrose and Augustine, Aug(L) 44, 1994, 17–29; J. S. Siker, Disinheriting the Jews. Abraham in Early Christian Controversy, Louisville 1991. 28 D. T. Runia, Philo and the Church Fathers, SVigChr 32, Leiden 1995; ders., Philo in Early Christian Literature. A Survey, CRI III.3, Assen 1993.

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kirchlichen Autoren maßgeblich beeinflusst. Die ganze alexandrinische Schule ist von ihm geprägt. Und was Clemens und Origenes über den edlen Stammvater, in jeder Hinsicht Vorbild an Glauben, Gelehrsamkeit und Gehorsam, zu sagen wissen, verdanken sie Philo. Der Traktat des Ambrosius von Mailand über Abraham ist im Ganzen von Philo abhängig.29 Mag die Frage, ob es überhaupt eine christliche Exegese ohne Philo gegeben hätte, auch überzogen scheinen: Gewiss ist jedoch, dass die christliche Abrahamexegese ohne Philo so, wie sie uns vorliegt, nicht denkbar wäre.30 Dass schlussendlich aus Philo Iudaeus so Philo Christianus wird, kann nicht wirklich verwundern.31 Abraham gilt Origenes als Vorbild der Vollkommenheit, die den Glauben an den wahren Gott einschließt. Zwar gab es auch schon vor Origenes die typologische Deutung der Bindung Isaaks auf Christus,32 aber er hat sie zu einem festen Topos der Deutung gemacht. Im Opfer des Isaak verweist Abraham bereits auf das endgültige Opfer. Abrahams ganzes Tun ist transparent für das Christusereignis. In seinem Kommentar zu Röm 4 thematisiert Origenes auch die Abrahamkindschaft.33 Nachdem er den Glauben des Abraham hervorgehoben hat, geht er bei der Bestimmung der Abrahamkindschaft von einer zweifachen Kindschaft aus: der nach dem Fleisch und der nach dem Geist bzw. Glauben. Die direkte genealogische Abrahamkindschaft bleibt Israel vorbehalten. Für die Völker könne nur von einer „geistigen“ gesprochen werden. Diese Interpretation ist jedoch nach Origenes selbst eine, die in die Enge führt. Allegorisch bedeute nämlich Vater nach dem Fleische vielmehr Lehrer. Und Lehrer sei Abraham gewesen, weil er in die fleischliche Lehre des Gesetzes eingeführt habe. Diese recht gewundene Auslegung der Vaterschaft kata sarka wird von Origenes nicht durchgehalten. Er greift das Thema nochmals auf und es gelingt ihm eine „Meisterleistung“, indem er das Problem verlagert. Nicht mehr die Kindschaft und der Bund der zum Glauben gekommenen Völker sind das Problem, sondern wie die aus der Beschneidung Kinder Abrahams genannt werden können. Origenes verweist zunächst Paulus folgend darauf, dass Abraham vor der Beschneidung wegen seines Glaubens gerecht gesprochen wurde. Daraus leitet er die Sohnschaft all derer ab, die an Christus glauben. Durch denselben Glauben werden sie zu Kindern Abrahams. Die aus der Beschneidung Stammenden können nur dann Abraham zum Vater haben, „wenn sie zu 29

A. Kamesar, Ambrose, Philo, and the presence of art in the Bible, JECS 9, 2001, 73–103. Vgl. ders., Philo of Alexandria and the Beginning of Christian Thought, SPhA 7, 1995, 143–160. 31 Hier.vir.ill. 11; Eus.h.e. 2,17. 32 Melito von Sardes, frag.; Iren.haer. 4,5,4; Tert.adv.Iud. 10,13. 33 Or.comm. Rom 4,1–5; übers. u. eingel. v. T. Heither, FChr II.2, Freiburg 1992, 164–216. 30

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dem Glauben gelangen, der Abraham die Rechtfertigung brachte“ (4,2). Die Annahme des Glaubens an Christus durch die Juden hält Origenes gemäß Röm 11,25 f für ein eschatologisches Geschehen. Die Verheißung nach Gen 12,3 realisiert sich jetzt bereits in der Kirche aus den Völkern. Erst durch das Ende wird Abraham auch zum Vater kata sarka werden: „Denn dann wird geschehen, was der Apostel sagt: Abraham wird durch den Glauben nicht nur Vater der Heidenvölker, sondern auch des Volkes der Beschneidung.“34 Origenes stellt damit die eigentliche Aussage über Abraham und den Abrahambund auf den Kopf. Die Juden, insofern sie nicht Christen werden, verbleiben gleichsam als Kinder im Wartestand, in dem Abraham auch als Vater steht. Sie sind zwar in einer gewissen Weise mit Abraham verbunden, so viel darf man annehmen, aber diese sarkische Verbindung bedarf des christlichen Glaubens, um wirklich zu werden. Die Beschneidung hat nach Origenes nur Verweischarakter auf die noch ausstehende Ratifizierung der Vaterschaft. Das Erstaunliche an der Argumentation des Origenes ist, dass er mit vermeintlicher Selbstverständlichkeit davon ausgeht, dass die Zugehörigkeit der Christen zu Abraham nicht strittig sein kann. Gewiss kann man daran erinnern, dass die Frage, ob die sarkische Bindung hinreichend ist, um im Abrahambund zu stehen, auch von den Rabbinen erörtert wurde. Auch sie verlangten eine Praxis der des Abraham entsprechend. Doch liegt hier der gravierende Unterschied darin, dass es eine Debatte innerhalb der sarkischen Abrahamnachkommenschaft war, nicht jedoch eine, die eben diese unterlief und zu einer Ausgrenzung von Juden führte. Unschwer kann man bei dem Entwurf des Origenes eine deutliche Lücke feststellen. Denn wenn man ihm folgt, bleibt nur der Befund, dass es bis zum Kommen Jesu keine Kinder Abrahams gegeben habe, mithin auch keinen Bund und keine erfüllte Verheißung.35 Diese Lücke schließt mit einem kühnen Konstrukt Eusebius.

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„Genau deshalb wurde Abraham im Glauben gerechtfertigt, noch bevor er beschnitten war, und erst später beschnitten, damit klar würde, daß er zuerst der Vater vieler Völker sein würde und später dann auch derer, die aus der Beschneidung zum Glauben kommen sollten. Auch diejenigen, die dem Fleisch nach aus Abraham geboren sind, dürfen nämlich nur dann Kinder Abrahams heißen, wenn sie den Glauben und die Werke Abrahams aufweisen.“ (FChr II.2, 187). 35 Vgl. die „Lösung“ Justins: „… dass einige eures Geschlechtes als Kinder Abrahams werden anerkannt werden, weil sie Anteil an Christus haben, während andere als Kinder Abrahams werden befunden werden, da sie dem ‚Sande am Gestade des Meeres‘ gleichen, welcher nichts hervorbringt und keine Früchte trägt, zwar zahlreich ist und nicht gezählt werden kann, aber absolut unfruchtbar ist, nichts als Meerwasser trinkt. Gerade so zeigt sich auch die große Masse eures Volkes. Lehren der Bitterkeit und Gottlosigkeit trinken sie miteinander, das Wort Gottes aber spucken sie aus“ (dial. 120,2).

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3.2 Eusebius: Abraham als Stammvater der Hebräer Die Lösung des Eusebius ist eine durchaus konsequente Fortsetzung der Gedanken des Origenes. Er verwaist die Juden und entlässt sie aus der Abrahamkindschaft, indem er aufzeigt, dass der christliche Glaube bedeutend älter ist und die, die an Christus glauben, die eigentlichen Kinder Abrahams sind. Die christliche Religion, so seine Grundthese, knüpft an eine an, „die älter und ehrwürdiger ist als die mosaische“; es ist die, „nach welcher der Gott wohlgefällige Abraham und seine Vorväter gelebt haben“.36 Die mosaische Religion ist die Religion in Ägypten sündig gewordener Hebräer, denen der Hebräer Mose das Gesetz zur Zähmung brachte. Der Anfang der Hebräer liegt bei Heber, dem Großvater Abrahams. Abraham aber ist der Ahne und Vorvater der Hebräer.37 Als Christ ist er zu bezeichnen, weil er an der Erkenntnis Christi teil hatte und ein gerechtes und tugendhaftes Leben ohne Gesetze, sei es Beschneidung oder Reinheitsgesetz, führte. Die Kenntnis Christi gewann Abraham durch Epiphanie. Nicht Engel oder Gott, so Eusebius, waren Abraham erschienen, sondern der Logos Christus.38 Es ist der Logos, der Abraham die Verheißungen zusagte, von denen gilt: „Offenbar sind diese Worte an uns in Erfüllung gegangen.“39 Eusebius konstruiert eine direkte Linie von Abraham zu den Christen. Sie alle glauben an den einen Gott und seinen Logos. Daher ist die wahre Abrahamkindschaft auch nur ihnen vorbehalten. Zum Hebräer wird man post Christum nur durch den Christusglauben, sei es als Jude oder Heide. In der Zeit zwischen Mose und Christus war es die heilsgeschichtliche Rolle der Juden, die Welt auf die Ankunft Christi vorzubereiten, indem sie an den wahren Gott glaubten und ihn verehrten. Sie können, obwohl sie nicht Hebräer sind, als Kinder Abrahams gelten, mit dem sie die Beschneidung als Zeichen gemeinsam haben.40 Doch ist diese heilsgeschichtliche Rolle mit dem Erscheinen Christi obsolet. Wenn man wollte, könnte man 36

Eus.h.e. 1,4,5 (GCS 9,40). Eus.h.e. 1,4,5 (GCS 9,40). 38 Die Vorstellung der Christophanie vor Abraham ist bei den Kirchenschriftstellern breit belegt; vgl. Heither / Reemts, Abraham (s. Anm. 6), 248–266; allerdings wird diese Interpretation auch auf andere Theophanien ausgeweitet: M. Harl, Citations et commentaires d’Exode 3,14 chez les Pères Grecs des quatre premiers siècles, in: P. Vignaux (Hg.), Dieu et l’être. Exégèses d’Exode 3,14 et de Coran 20,11–24, Paris 1978, 87–108; G. Madec, Ego sum qui sum de Tertullien à Jérôme, in: ebd., 121–139; E. zum Brunn, L’exégèse augustinienne de „Ego sum qui sum“ et la „métaphysique“ de l’Exode, in: ebd., 141–164. 39 Eus.h.e. 1,4,5 (GCS 9,40). 40 Eus.h.e. 1,2,11; 1,6,5; Eus.praep. 7,3; vgl. J. Ulrich, Euseb von Caesarea und die Juden, PTS 49, Berlin 1999, 80–81.146–153; Ulrich unterscheidet nicht immer genau, von welchen Juden Eusebius spricht; die Rolle der Juden post Christum wird bei ihm nicht deutlich. 37

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das eine in die Vergangenheit projizierte Substitutionstheorie nennen. Die Juden waren, insofern sie auf Christus vorbereiteten, Abrahamkinder. Jetzt, da der Glaube der Hebräer wieder offenbar geworden ist, ist diese Aufgabe vergangen und die bedingte Kindschaft durch die wahre ersetzt. Durch diese dialektische Sicht des Judentums kann Eusebius sowohl das vorchristliche Judentum rühmen als auch das nachchristliche Judentum polemisch verzeichnen. Eusebius hat mit seiner Konstruktion einen Grundtypus des Antijudaismus christlicher Theologie geprägt, der zwischen einem positiven Judentum, das christologisch besetzt und funktionalisiert wird, und einem negativen, d. h. dem je gegenwärtigen, unterscheidet.41 Die Abrahamkindschaft ist eine vorläufige, während die Verheißungen nur den Christen gelten.

3.3 Augustinus: Ja, aber – die wahre Kindschaft Im Werk des Augustinus hat die Figur des Abraham, wie schon angedeutet, eine wichtige Rolle gespielt. Abraham war für Augustinus insbesondere im Rahmen seiner Gnadenlehre von großer Bedeutung, aber auch heilsgeschichtlich und ekklesiologisch. Augustinus hat zwar nicht wie Ambrosius eine eigene Schrift über Abraham verfasst, aber die Bedeutung des Erzvaters begegnet in zahlreichen Schriften verschiedenster Gattungen. Augustinus ist unter den lateinischen Kirchenschriftstellern derjenige, der sich von den philonischen Vorgaben am weitesten löst und versucht, Abraham von Röm 4 aus in den Blick zu nehmen. Bezeichnenderweise setzt die Reflexion über Abraham mit der intensivierten Hinwendung zur Bibel nach der Rückkehr Augustins aus Italien nach Afrika um 388/89 ein, sie verdichtet sich in apologetischen Hauptwerken, in bestimmten Teilen des exegetischen Schrifttums, der Predigten und in den Auslegungen über die Psalmen.42

Für Augustinus ist Abraham der Träger der Verheißungen, die aber alle Verweischarakter auf das Christusereignis haben. Selbst bereits zur Erfül41 Dieser Unterschied wird nicht berücksichtigt von L. Perrone, Die „Verfassung der Juden“: Das biblische Judentum als politisches Modell in Origenes’ Contra Celsum, ZAC 7, 2003, 310– 328; R. L. Wilken, Creating a Context: „Anti-Judaism“ and Scholarship on Origen, in: L. Perrone (Hg.), Origeniana octava. Origen and the Alexandrian, BEThL 164, Leuven 2003, 55–59; so wird dann der Antijudaismus bei Origenes zu einer Fiktion der Forscher erklärt; letztlich entbirgt sich hier eine Apologie des christlichen Antijudaismus; ähnlich problematisch: T. Raveaux, Aduersus Judaeos – Antisemitismus bei Augustinus? in: A. Zumkeller (Hg.), Signum Pietatis. FS C. P. Mayer, Würzburg 1989, 37–51. 42 Mayer, Art. Abraham (s. Anm. 5), 11.

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lung gekommene Verheißungen tragen dieses Merkmal. „Was immer die Schrift über Abraham sagt, mag es eingetreten sein, es ist doch Prophetie“,43 hält Augustinus fest. Die gewichtigste Verheißung hat sich in Jesus Christus erfüllt. Er ist im Fleische der erhoffte wahre Sohn; Isaak eignet ebenfalls der Charakter des Typos. „Christus stammt aus dem Samen Abrahams durch Isaak und Israel und die Generationen.“44 Die Begründung für die Abrahamkindschaft der Christen wird bei Augustinus durch ein christologisches Argument verstärkt. Christus ist der Same Abrahams; da die Christen aber in Christo sind, sind sie durch Christus auch Kinder Abrahams. Da zum In-Christo-Sein der Glaube gehört, ist er das Medium der Kindschaft. Durch ihn haben die Christen die Abrahamkindschaft gewonnen, die die Juden durch Unglauben verloren haben.45 Durch Christus ist nach Augustinus die Abrahamkindschaft auf die Kirche, auf die civitas dei übergegangen, die nun das wahre Israel,46 das wahre Bundesvolk darstellt und zahlreich ist wie der Sand am Meer und die Sterne am Himmel (Cresc. 4,74). Die Juden aber können post Christum immer noch als Abrahamkinder gelten, jedoch nur dem Fleische nach, was eine wahre spirituelle Sohnschaft nicht begründen kann, wie Augustinus mit Gal 4,22–31 begründet. Da es ihnen am Glauben an Christus mangelt, gehen sie auch nicht den Weg des Abraham. Vielmehr haben sie durch ihren Glaubensabfall die Vorzüge Abrahams verspielt.47 Das Urteil des Augustinus lautet daher: „Im Fleische Juden, im Herzen Heiden.“48 In seinem Traktat zu Joh 8,37–4749 spielt Augustinus das Thema Abrahamkindschaft polemisch durch. Ja, die Juden sind Kinder Abrahams, aber nur fleischlich. Augustinus will das Wort Jesu nicht in Frage stellen, aber es gilt: „Ich anerkenne den Ursprung des Fleisches, aber nicht des Herzens.“ Die wahren Kinder sind die Christen aus den Völkern, die Gott aus Steinen zu Söhnen der Verheißung gemacht hat (in Aufnahme von Mt 3,9). Die 43

Quidquid scriptura dicit de Abraham, et factum est, et prophetia est (Aug.serm. 2,7). Venit autem Christus ex semine Abraham per Isaac et per Israhel et deinceps, sicut generationes ad ortum Christi pertinentes euangelista contexit (Aug.cath.fr. 15). 45 Inuenimus nos ut filii simus Abrahae. credendo quippe inuenimus quod illi (sc. Iudaei) non credendo amiserunt; quia credidit Abraham deo, et deputatum est illi ad iustitiam (Gal 3,16). et semen Abrahae Christus, et in Christo nos sumus; et ex Israel populus, de quo populo Maria, de qua Maria Christus, in quo Christo nos (Aug.en. Ps 148,17). 46 Vgl. E. Dassmann, Die Kirche als wahres Israel, ThZ 62, 2006, 174–192. 47 Quisquis degenerauerit a fide Abraham, perdidit progeniem Abrahae. ludaei degenerauerunt: perdiderunt (Aug.en. Ps 148,17). 48 (…) remanserunt in carne Iudaei, in corde Pagani (Aug.en. Ps 75,1). 49 Aug.Io.eu.tr. 42: Non ergo isti erant tales: et tamen filii Abrahae erant; filii hominis Dei, homines iniqui. Trahebant enim carnis genus, sed degeneres facti erant, non imitando fidem illius cuius filii erant. … Nos autem, carissimi, numquid de genere venimus Abrahae, aut ullo modo Abraham pater noster fuit secundum carnem? Originem de carne eius caro Iudaeorum ducit, non caro Christianorum: nos de aliis gentibus venimus; et tamen imitando, Abrahae filii facti sumus. 44

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Abstammung nach dem Fleische ist damit für das Heil irrelevant geworden. Sie wird den Juden sogar zum Verhängnis: Da sie sich der Abrahamkindschaft rühmen, glauben sie, frei von Sünde zu sein. Sie werden damit aber immer mehr zu Sklaven der Sünde und werden so auf dem Weg des Unglaubens und der Sünde zu Kindern ihres wahren Vaters, des Teufels. Damit schließt sich der Kreis. Die Bestreitung des Erbes, die Enterbung mündet in der Zuordnung zur gänzlichen Heillosigkeit. Aus den Abrahamkindern werden so Teufelkinder.

4. Von der reverentia memoriae Abraham ist in den Zeiten der sogenannten abrahamitischen Ökumene neuerlich in der theologischen Literatur fast omnipräsent.50 Hier kann die Frage beiseite gelassen werden, ob sich nicht eine erneute Konstruktion und Imagination des Abraham ereignet, er mithin wieder vereinnahmt wird.51 Für den jüdisch-christlichen Dialog, dessen Einzigartigkeit, welche im Gegenstand, im Anliegen, in der biblischen Fundierung und in der ekklesiologischen Notwendigkeit begründet ist, eine schlichte Überführung in einen 50 Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit: T. Bauer u. a. (Hg.), Kinder Abrahams. Religiöser Austausch im lebendigen Kontext, Münster 2005; M. Görg, Abraham als Ausgangspunkt für eine „abrahamitische Ökumene“?, in: A. Renz / St. Leimgruber (Hg.), Lernprozess Christen Muslime. Gesellschaftliche Kontexte – Theologische Grundlagen – Begegnungsfelder, Münster 2002, 142–151; B. Klappert, Abraham eint und unterscheidet. Begründungen und Perspektiven eines nötigen „Trialogs“ zwischen Juden, Christen und Muslimen, in: R. Weth (Hg.), Bekenntnis zu dem einen Gott? Christen und Muslime zwischen Mission und Dialog, Neukirchen 2000, 98–122; R. G. Kratz / T. Nagel (Hg.), Abraham, unser Vater. Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2003; H. Küng, Abraham – der Stammvater dreier Religionen. Zur Notwendigkeit des Trialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen, in: P. Neuner / H. Wagner (Hg.), In Verantwortung für den Glauben. Beiträge zur Fundamentaltheologie und Ökumenik. FS Heinrich Fries, Freiburg 1992, 329–343; V. Küster, Verwandtschaft verpflichtet. Erwägungen zum Projekt einer „Abrahamitischen Ökumene“, EvTh 62, 2002, 384–398; K. J. Kuschel, Die Aktualität des Projektes Weltethos und die Notwendigkeit einer abrahamischen Ökumene von Juden, Christen und Muslimen, in: C. Gestrich (Hg.), Moral und Weltreligionen, Berlin 2000, 13–33; ders., Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, Düsseldorf 42001; ders., Towards an Abrahamic Ecumene of Jews, Christians, and Muslims. Interfaith Dialogue in the Age of Globalization, in: T. Scheffler (Hg.), Religion Between Violence and Reconciliation, Würzburg 2002, 497–519; L. Massignon, Les Trois Prières d’Abraham, DViv 13, 1949, 25–37; J. Micksch, Abrahamische und Interreligiöse Teams, Interkulturelle Beiträge 21, Frankfurt a. M. 2003; N. Solomon (Hg.), Abraham’s Children: Jews, Christians, and Muslims in Conversation, London 2006; P. Valkenberg, Hat das Konzept der „abrahamitischen Religionen“ Zukunft?, Conc(D) 41, 2005, 553–561. 51 Vgl. die kritischen Anfragen von A. Goshen-Gottstein, Abraham and „Abrahamic Religions“ in Contemporary Interreligious Discourse. Reflections of an Implicated Jewish Bystander, Studies in Interreligious Dialogue 12, 2002, 165–183.

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Trialog theologisch verunmöglicht, ist angesichts der geschehenen Instrumentalisierung des Abraham in der gegen Juden und Judentum gerichteten Konfrontation eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dieser Formel angebracht. Man wird zumindest darauf zu sehen haben, dass die Abrahamkindschaft von Christen nicht triumphalistisch behauptet wird. Vielmehr ist sie als den Christen Zugesagte als das zu begreifen, was sie ist: ein ungeschuldeter Erweis der Gnade Gottes für die Völker.52 Die Auslegungsgeschichte kann dazu anhalten, die biblischen Texte in Erinnerung an die geschehene Instrumentalisierung selbstkritischer zu lesen, denn dass auch die Kirchenschriftsteller dieselben Texte lasen, sollte man nicht aus dem Blick verlieren. Der jüdisch-christliche Dialog kann ohne Exegese nicht bestehen, freilich sollten die Exegese und die Exegeten auch für diesen Dialog stehen. Theologische Antijudaismusforschung fragt nach den Bedingungen und Voraussetzungen der Entwicklung und Positionen des christlichen Antijudaismus53. Sie trägt damit zum Verstehen, nicht zum Verständnis dieses Phänomens bei. Allerdings kann sie sich darauf nicht beschränken. Sie muss vielmehr auch danach fragen, welchen Schaden der Antijudaismus denen gebracht hat, die ihn vertraten. Wenn der Antijudaismus von Christen ein Widerspruch zum Glaubensfundament der Christen ist, wird man Theologen und Theologien, denen der Antijudaismus inhärent ist, nach den Defiziten und dann nach ihrem bleibenden Zeugnis für die Kirche Jesu Christi befragen müssen. Eines der Defizite wurde aufgezeigt; doch geht das Phänomen der Bestreitung der Abrahamkindschaft der Juden tiefer. Es ist vielmehr ein Zweifeln an der ungeschuldeten Gnade Gottes, mithin an dem eigenen Fundament. Jeglicher Antijudaismus nimmt für sich in Anspruch, darüber entscheiden zu können, wem die Gnade Gottes zukommt. Damit wird nicht nur der Erweis der Gnade Gottes im Glauben und damit die Kirche aus den Völkern in Frage gestellt, sondern das Mysterium der Gnade und der Rechtfertigung verrechenbar gemacht. Antijudaismus ist im Letzten Verstockung gegenüber der Größe Gottes.

52 Vgl. dazu meine Überlegungen: Iudaeus Iesus Christus Dominus noster – Christologie als Verpflichtung auf das christliche Reden mit Israel, in: M. Bongardt u. a. (Hg.), Verstehen an der Grenze. Beiträge zur Hermeneutik interkultureller und interreligiöser Kommunikation, Jerusalemer Theologisches Forum 4, Münster 2003, 167–177. 53 Es sei darauf hingewiesen, dass die Verbindung christlicher Antijudaismus zur Beschreibung historischer Ereignisse angebracht ist, wenn man sich stetig vergegenwärtig, dass damit eine contradictio in adiecto vorliegt.

Roland Deines

Die Verwendung der Bergpredigt im ältesten erhaltenen Text der jüdischen Adversus-Christianos-Literatur

Der vorliegende Beitrag soll auf ein bisher wenig beachtetes frühes Zeugnis der literarisch-polemischen Begegnung zwischen Juden und Christen aufmerksam machen.1 Entstanden im 8. oder 9. Jh. unter islamischer Herrschaft, bezeugt dieser Text, dass Abgrenzung von Juden gegenüber Christen nicht erst eine Folge der Kreuzzüge oder der christlichen Missionsbemühungen unter Juden im mittelalterlichen Europa war, sondern früher begann und auch da eine Rolle spielte, wo beide Religionsgemeinschaften sich in einer Minderheitensituation befanden. Damit verweist der Text auf die andauernde Bezogenheit beider Religionen zueinander. Er zeigt, wie sehr Menschwerdung und Kreuzestod des von seinen jüdischen Nachfolgern als Messias und Gottes Sohn verehrten Jesus von Nazareth ein skandalon für eine Welt waren (und sind), die ihre Verehrung Gottes von der Niedrigkeit menschlicher Schwachheit kategorial verschieden wissen will (1Kor 1,23).

QiÈÈat MujÁdalat al-Usquf und Sefer Nestor Ha-Komer Der Text, der im Folgenden v. a. auf seinen Umgang mit der Bergpredigt hin angesehen werden soll, ist der älteste erhaltene polemische Traktat aus 1

Textausgabe: D. J. Lasker / S. Stroumsa, The Polemic of Nestor the Priest. QiÈÈat MujÁdalat al-Usquf and Sefer Nestor ha-Komer, 2 Bde., Jerusalem 1996. Weitere Literatur: S. Krauss, The Jewish-Christian Controversy From the Earliest Times to 1789, I: History, bearb. u. hg. v. W. Horbury, TSAJ 56, Tübingen 1996, 236–238; D. J. Lasker, The Jewish Critique of Christianity under Islam in the Middle Ages, PAAJR 57, 1990/91, 121–153; ders., QiÈÈat MujÁdalat al-Usquf and Nestor Ha-Komer. The Earliest Arabic and Hebrew Jewish Anti-Christian Polemics, in: J. Blau / S. C. Reif (Hg.), Geniza Research after Ninety Years: The Case of Judaeo-Arabic, Cambridge 1992, 112–118; ders., The Jewish-Christian Debate in Transition. From the Lands of Ishmael to the Lands of Edom, in: B. H. Hary u. a. (Hg.), Judaism and Islam, FS W. M. Brinner, BSJS 27, Leiden 2000, 53–65; ders., Art. Christianity, Medieval Jewish Debates with, in: EncJudaism 1, Leiden u. Boston 22005, 397–411 (400–403); J. E. Rembaum, The New Testament in Medieval Jewish Antichristian Polemics, Michigan 1976, bes. 62–112.142–211; ders., The Influence of Sefer Nestor Hakomer on Medieval Jewish Polemics, PAAJR 45, 1978, 155–185; S. Rosenkranz, Die jüdisch-christliche Auseinandersetzung unter islamischer Herrschaft. 7.–10. Jahrhundert, JudChr 21, Bern 2004, 107 f.249–308.407–426; S. Stroumsa, QiÈÈat MujÁdalat alUsquf. A Case Study in Polemical Literature, in: Blau / Reif, Geniza Research, 155–159.

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jüdischer Feder gegen das Christentum, d. h. das erste Werk (mit Ausnahme der Toledot Jeshu, die einen anderen Charakter haben), das ausschließlich als Widerlegung gegen die christliche Lehre und ihre Vertreter geschrieben wurde. Der Titel QiÈÈat MujÁdalat al-Usquf (= Geschichte der Disputation des Bischofs) nimmt auf die Autorfiktion Bezug, dass ein zum Judentum konvertierter ehemaliger Bischof oder Priester2 den Text verfasst habe. Anlass dazu sei die Bitte eines ehemaligen befreundeten Amtskollegen gewesen, ihn über die Gründe seines Übertritts zum Judentum zu informieren. Die fiktive Einleitung in diesen brieflichen Rechenschaftsbericht setzt also eine persönliche Bekanntschaft zwischen Absender und Empfänger voraus, die allerdings im weiteren Verlauf nicht mehr aufgenommen wird. Gleichwohl ist der dialogische Charakter des Schreibens weitgehend durchgehalten: Regelmäßig redet der intratextuelle Verfasser seine intendierten christlichen Leser an. Er argumentiert jedoch nicht nur gegenüber einem konturlosen „du“ bzw. „ihr“, sondern bekennt auch immer wieder in der 1. Person, was er selbst glaubt. Die Kenntnis des NT und einiger apokrypher Evangelien-Traditionen,3 dazu einige Zitate aus dem Nicaeno-Konstantinopolitanum verleihen dieser Fiktion eine gewisse Plausibilität. Andererseits enthält der Text so große Irrtümer über das Christentum bzw. das NT, dass man nicht hoffen will, der Verfasser oder Redaktor sei wirklich ehemals Priester oder gar Bischof gewesen. Die im Text bekämpfte Form des Christentums weist melkitische Züge auf, d. h. steht der byzantinischen Reichstheologie nahe,4 obwohl in dem vermuteten Entstehungsraum Syrien oder Irak auch monophysitische und nestorianische Kirchen und Einflüsse stark waren.5 Die Datierung ist nicht ganz eindeutig, doch gehen die beiden neuesten Arbeiten zur QiÈÈa von einem Ursprung im 8. Jh. oder spätestens in der Mitte des 9. Jh. aus.6 Die Datierung ins 6. Jh. durch den ersten Herausgeber,7 die bis in die Gegenwart Vertreter fand,8 ist aufgrund der vollständige2

Zur Übersetzung des Titels usquf s. Lasker / Stroumsa I, 52 Anm. 1. Eine vollständige Untersuchung fehlt bisher; am ausführlichsten Rembaum, Testament, 67– 78; ders., Influence, 160–164 (auf der Basis der späten Nestor-Handschrift P; dazu s. u. Anm. 7). 4 Rosenkranz, Auseinandersetzung, 265–266. Nach Lasker / Stroumsa I, 21, ist über das Milieu des Autors nicht mehr zu sagen, als dass es „that of Eastern Christianity“ gewesen sei. 5 Lasker / Stroumsa I, 19. 6 Lasker / Stroumsa I, 19, vgl. Rosenkranz, Auseinandersetzung, 107. Die Angabe S. 250, die ältesten Hss. seien vom Ende des 8. Jh., scheint mir ein Schreibfehler zu sein. In ihren vorläufigen Studien votierten Lasker (QiÈÈat, 117) und Stroumsa (Case Study, 157 f) eher für das 9./10. Jh. 7 Léon Schlosberg, ĦĪĤēğē ėğĖēĕġ ėĩĪ Controverse d’un Évêque. Lettre adressée à l’un de ses collègues vers l’an 514. Texte arabe publié d’après un ancien manuscrit de la Bibliothèque nationale de Paris, Wien 1880; ferner ders., Controverse […]. Traduite en français du texte arabe. Publiée d’après un ancien manuscrit de la Bibliothèque Nationale de Paris, (Versailles) 1888. Diese Ausgabe, basierend auf der einzigen vollständig erhaltenen Hs. aus dem 15./16. Jh. (= Paris, Bibliothèque Nationale, héb. 755, fortan: Ms. P) ist aber ungenau (vgl. Lasker / Stroumsa I, 47). Gegen diese frühe Datierung s. Lasker / Stroumsa I, 15 ff; Rosenkranz, Auseinandersetzung, 255 ff. 3

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ren textlichen Überlieferung nach Meinung von Lasker / Stroumsa nicht länger wahrscheinlich zu machen. Die ältesten Handschriftenfragmente stammen vom 9. Jh., spätestens um 1170 lag eine Version dieses Textes in Hebräisch vor. Die handschriftliche Überlieferung reicht bis ins 18. Jh. und zeigt die anhaltende Bedeutung dieses Textes.9 1880 erfolgte der Erstdruck der QiÈÈa, bereits 1875 der des hebräischen Pendants.10 Bezüglich ihrer literarischen Struktur gilt für die QiÈÈa wie für die rabbinische Literatur, dass sie eher ein flexibles Kompendium denn ein einheitliches Werk ist; es existiert keine feste Textgestalt und jede Handschrift weist Besonderheiten auf.11 Entscheidend für den Erfolg dieser Texte war ja gerade ihre Adaptierbarkeit an die jeweilige Situation. So scheint der Text auch nicht von einem Autor geschrieben zu sein, sondern stellt eine Kompilation vorhandener Texte, Traditionen und Einzelstücke unterschiedlicher Herkunft dar, die lose miteinander verbunden wurden.12 Die Doppelungen etwa beim Thema des Umgangs Jesu bzw. der Christen mit der Tora sind hierfür typisch. Eine genaue Analyse der literarischen Brüche steht noch aus. Die Edition von Lasker / Stroumsa ermöglicht diese Aufgabe nur bedingt, da ihr Mischtext es oft schwer macht, die genaue Lesart der einzelnen Manuskripte nachzuprüfen. Damit steht die Arbeit an der QiÈÈa noch ganz 8

M. van Esbroeck, Le manuscript hébreux Paris 755 et l’histoire des martyrs de Nedjran, in: P. Canvivet / J.-P. Rey-Coquais (Hg.), La Syrie de Byzance à Islam, VIIe – VIIIe siècles. Actes du colloque international [Lyon u. Paris, 1990], PIFD 137, Damaskus 1992, 25–30; ders., Der von einem Bischof um 514 geschriebene Brief gegen das Christentum und die Verfolgung von seiten Dnj NuwƗs, in: W. Diem / A. Falature (Hg.), Ausgewählte Vorträge. 24. Deutscher Orientalistentag [Köln 1988], ZDMG.S 8, Stuttgart 1990, 105–115 (mit Auszügen in deutscher Übersetzung). Die Datierung ins 6. Jh. stützt sich auf eine Zeitangabe in §§ 132 f von Ms. P (die in den arabischen Hss. abweichend überliefert ist). Davon abhängig nimmt Rembaum, Testament, 63 ff, ein Datum zwischen 500 und 800 an; Krauss / Horbury, Controversy, 237 f, datieren an den Beginn des 9. Jh. 9 Rosenkranz, Auseinandersetzung, 108. 10 Zur QiÈÈa s. Anm. 7; zur Erstausgabe des Nestor-Textes s. Anm. 35. Moritz Steinschneider erkannte schon 1880 in Nestor eine hebräische Version der QiÈÈa (Lasker, QiÈÈat, 112). 11 Eine Liste der QiÈÈa-Hss. bei Lasker / Stroumsa I, 39–48. Von ihnen liegen, außer Ms. P, nur einzelne Seiten (meist aus der Kairoer Geniza) vor. Lasker / Stroumsa listen 36 Texte auf, die sie zu 30 Hss. zusammenfassen; eine umfasst ein knappes Drittel des Textes, vier weitere jeweils rund ein Fünftel, die übrigen deutlich weniger. Dabei unterscheiden sie drei Versionen des Textes (I, 25–26, vgl. Rosenkranz, Auseinandersetzung, 251 f). Am Anfang stand ihres Erachtens eine Kurzfassung aus dem 10. Jh., die in 2 Hss. nur z. T. erhalten ist (ohne Übersetzung abgedruckt in II, 87–92); in ihr wird Jesus mit ĥĘĬĜ bzeichnet (vgl. I, 25; Lasker, QiÈÈat, 114). Am Ende der angenommenen Entwicklung steht eine Langfassung, wie sie Ms. P und die von ihr abhängigen Hss. bezeugen. Dazwischen sehen Lasker / Stroumsa „intermediate versions“, die teils der älteren, teils der Langfassung folgen (als „Parallelversion“ bezeichnet, da sie bei starken Abweichungen in ihrer Edition parallel zu Ms. P gedruckt ist). Eine dieser mittleren Rezensionen bildete die Grundlage der hebräischen Übersetzung, die jedoch selbst eine noch unerforschte Redaktionsgeschichte aufweist (dazu s. u. S. 378 f). Zur Kritik an der von Lasker / Stroumsa vorgeschlagenen Klassifizierung und ihrer Editionsweise s. die Rezension durch H.-J. Becker, ZDMG 148, 1998, 404–409. 12 Vgl. Lasker / Stroumsa I, 24; außerdem Lasker, QiÈÈat, 114; Stroumsa, Case Study, 155 ff.

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an ihren Anfängen, was die Herausgeber selbst festhalten, zumal das handschriftliche Material sich bei eingehender Suche noch erweitern wird.13 Inhaltlich repräsentiert QiÈÈa im Unterschied zu den nur wenig jüngeren Werken von al-MuqammiÈ14, al-QirqƯsanƯ15 und Saadja Gaon (882–942)16, deren Kritik am Christentum auf einer philosophischen Prinzipienlehre gründete, stärker eine auf ein breiteres Publikum zielende, volkstümliche Auseinandersetzung, wenngleich in einigen Passagen auch die philosophische Argumentationsweise durchschimmert.17 In der Hauptsache wird jedoch auf neutestamentliche Zitate rekurriert und deren Widersprüchlichkeit aufgezeigt, wobei nach Art des „common sense“ argumentiert wird.18 Ihrer Herkunft nach stammt QiÈÈa wahrscheinlich aus dem Gebiet des byzantinischen Reiches, das schon im 7. Jh. unter islamische Herrschaft kam. Für Juden und Christen in diesem Gebiet galt nun gleichermaßen, dass sie unter Bezahlung der Kopfsteuer in relativer Freiheit ihr Leben führen und ihren Glauben leben konnten. Die jüdische apokalyptische Geschichtsdeutung, die in dieser Zeit eine neue Blüte erlebte, sah anfangs in der islamischen Epoche den Beginn der Erlösung, da mit der Niederlage von Byzanz die Zeit des vierten danielischen Weltreiches ihrem Ende nahe gekommen zu sein schien.19 Für die religiöse Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen brachte die islamisch-arabische Eroberung beträchtliche Veränderungen mit sich; nun war der primäre Argumentationspartner der

13 Vgl. die Hinweise auf weitere Texte bei Lasker/Stroumsa I, 25 Anm. 63; Rosenkranz, Auseinandersetzung, 108 Anm. 214; 252 Anm. 8. 14 Vgl. S. Stroumsa, Dâwûd ibn Marwân al-Muqammis’ Twenty Chapters ‘Ishrnjn MaqƗla. Edited, Translated and Annotated, EJM 13, Leiden 1989. Zu seinen gegen die Christen geschriebenen Texten (die nicht bzw. nur fragmentarisch erhalten sind) vgl. Rosenkranz, Auseinandersetzung, 112 ff.118–122. Vgl. außerdem Lasker / Stroumsa I, 24 über mögliche Zusammenhänge von al-MuqammiÈ und QiÈÈa (auch in: Lasker, QiÈÈat, 115 f; Stroumsa, Case Study, 157 f). 15 Vgl. B. Chiesa / W. Lockwood, Ya‘qub al-Qirqisani on Jewish Sects and Christianity. A Translation of „Kitab al-anwar“ Book I, with two introductory essays, JudUm 10, Frankfurt a. M. 1984. Seine Argumentation im „Buch der Lichter“ gleicht in vielem der der QiÈÈa: Jesus wird als Gesetzesbrecher beschrieben, andererseits unter Verweis auf Mt 5,17 ff als Zeuge für die Unvergänglichkeit und Unveränderbarkeit der Tora benannt. Erst Paulus habe die Göttlichkeit Jesu und die Trinitätslehre eingeführt sowie die Gebote der Tora für die Christen im Gegensatz zum Willen Jesu aufgehoben, vgl. Kitab al-anwar I, 8 (a. a. O., 138). Vgl. weiter L. Nemoy, The Attitude of the Early Karaites Towards Christianity, in: FS S. Wittmayer Baron II, Jerusalem 1974, 697–715; Krauss / Horbury, Controversy, 238 f; Rosenkranz, Auseinandersetzung, 129–134. 16 In seinen exegetischen, halachischen und philosophischen Texten finden sich zahlreiche Auseinandersetzungen mit dem Christentum und dem Islam, vgl. Rosenkranz, Auseinandersetzung, 134 ff; Krauss / Horbury, Controversy, 240; Lasker / Stroumsa I, 14. 17 Ausführlich dargestellt bei Rosenkranz, Auseinandersetzung, 274–278. 18 Rosenkranz, Auseinandersetzung, 249, vgl. 108.430 f. 19 Rosenkranz, Auseinandersetzung, 175–248, vgl. G. S. Oegema, Zwischen Hoffnung und Gericht. Untersuchungen zur Rezeption der Apokalyptik im frühen Christentum und Judentum, WMANT 82, Neukirchen 1999, 297–303.

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Islam.20 Während manche Juden in dieser Eroberung den Anfang der messianischen Zeit erhofften, sahen viele Christen in den Muslimen die Vorläufer des Antichristen.21 Daher verstärkte sich in der jüdischen Literatur der antichristliche Ton, während für die Christen der Islam zum ersten Gegenüber in Polemik und Apologetik wurde. So verlor die christliche adversus Judaeos-Literatur im syrisch-arabischen Raum zunehmend an Bedeutung.22 Dies änderte sich noch einmal im 9./10. Jh., als auch jüdischerseits der Islam kritischer betrachtet wurde, weil die anfangs durch ihn erhoffte Erlösung ausgeblieben war. Gleichwohl wurde das Christentum weiterhin kritischer gesehen als der Islam, wie umgekehrt der Islam eine größere Nähe zum Judentum als zum Christentum empfand, da beide, Juden und Moslems, besonders an den Lehren von der Trinität, der Inkarnation und Gottessohnschaft Jesu, der Aufhebung des Gesetzes,23 der Bilderverehrung (Ikonen) und den Sakramenten Anstoß nahmen.24 Diese Gegensätze konnten jedoch in den ersten Jahrhunderten islamischer Herrschaft durchaus offen ausgetragen werden; die Texte bezeugen gute Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen, so dass neben die Polemik der gelehrte Austausch trat, der Freundschaften und wechselseitige Lehrer- und Schülerverhältnisse zuließ.25 Auch die Autorfiktion der QiÈÈa setzt ein solches Klima voraus, wenn der zum Judentum konvertierte ehemalige Priester im Anschluss daran ein gelehrtes, durchaus nicht feindseliges Gespräch mit seinen christlichen Lehrern und Kollegen beginnt.26 In dieser Zeit entstand eine religiöse 20 Vgl. als Überblick B. Lewis, The Jews of Islam, Princeton 1984, 3–66 („Islam and other Religions“), außerdem Rosenkranz, Auseinandersetzung, 100.433 f. 21 Rosenkranz, Auseinandersetzung, 188–191, vgl. H. Goddard, A History of ChristianMuslim Relations, Edinburgh 2000, 10 f.39 f.81–84. 22 Überblick bei Rosenkranz, Auseinandersetzung, 30–104, außerdem Lasker, Debates 400 ff. 23 In der Frage der Tora gab es auch zwischen Juden und Muslimen sowie innermuslimisch interessante Kontroversen, vgl. C. Adang, Ibn Hazm’s Criticism of Some „Judaizing“ Tendencies among the MƗlikites, in: R. L. Nettler (Hg.), Medieval and Modern Perspectives on MuslimJewish Relations, SMJR 2, Luxembourg 1995, 1–16; dies., Muslim Writers on Judaism and the Hebrew Bible. From Ibn Rabban to Ibn Hazm, IPTS 22, Leiden 1996, 192–222 u. ö.; H. LazarusYafeh, Intertwined Worlds. Medieval Islam and Bible Criticism, Princeton 1992, 19–49. 24 Vgl. Lewis, Jews, 67–106 („The Judaeo-Islamic Tradition“); Lazarus-Yafeh, Worlds, 4–10 u. ö.; Rosenkranz, Auseinandersetzung, 434 f. Die jüdische Adversus-Christianos-Literatur übernahm eine Reihe von Argumenten der islamischen Kritik am Christentum in ihr Repertoire. 25 Einen guten Einblick in die Lebensbedingungen und Kontakte zwischen Juden, Christen und Muslimen im Zeitraum 10.–13. Jh. mit einigen Hinweisen auf die Zeit davor bietet S. D. Goitein, A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza, 6 Bde., Berkeley 1967–93, vgl. bes. II, 273–311. Zu den wirtschaftlichen Kontakten (die familiäre und persönliche einschlossen) dieser offenen mediterranen Gesellschaft s. I, 42–59. Vgl. ferner Goddard, Relations, 19–78; Rosenkranz, Auseinandersetzung, 434–437 u. ö.; S. Stroumsa, Religious Contacts in Byzantine Palestine, Numen 36, 1989, 16–42. 26 Vgl. QiÈÈa §§ 1–2, in der ein durchaus freundlicher Ton vorherrscht, während Nestor § 1 deutlich polemischer gleich am Anfang ist. Zur veränderten Situation, die sich darin ausdrückt,

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Ökumene gerade im Bereich der Exegese, wo sich alle drei Religionen (bei gleichwohl großen Unterschieden) zunehmend einer philologisch orientierten und aristotelisch-philosophisch geschulten Tradition verpflichtet wussten. Das ist die Zeit, in der die ersten großen hebräischen Grammatiken und Wörterbücher entstanden und der rabbinischen Gesetzesauffassung und Schriftauslegung mit den Karäern auch innerjüdisch erstmals seit der Entstehung des Christentums wieder Konkurrenz begegnete. Von jüdischer Seite aus wurde v. a. in Bibelkommentaren gegen die christliche Auslegung derjenigen Stellen Kritik geübt, die als Hinweise auf Jesus bzw. die Trinität gedeutet wurden. Daneben entstanden Texte, die allgemeine Anfragen an das Christentum formulierten und auch das NT in ihre Kritik mit einschlossen. In diesen begegnen häufig die Argumente der paganen Kritik am Christentum wieder.27 Zu dieser Gattung gehört die QiÈÈa, die zwar nicht die älteste Schrift oder Sammlung dieser Art überhaupt war,28 aber doch die älteste erhaltene und zudem derzeit die am leichtesten zugängliche. Durch ihre Übersetzung ins Hebräische beeinflusste sie maßgeblich die gegen die Christen gerichtete jüdische Polemik des christlich-europäischen Mittelalters.29 Der Weg dieser Literatur aus den islamischen Ländern erreichte Europa über die muslimischen Teile Spaniens, wo ihr Einfluss auf jüdische Gelehrte seit dem 12. Jh. nachweisbar ist. Die Flucht spanischer Juden als Folge des almohadischen Drucks in die christlichen Gebiete Nordspaniens und Südfrankreichs konfrontierte diese erstmals mit einer christlichen Mehrheitsgesellschaft und erforderte eine entsprechende Reaktion. Das sind die Umstände, die zur Übersetzung der QiÈÈa geführt haben, die unter dem Verfassernamen Nestor ha-Komer30 erstmals im 1170 entstandenen Milchamot ha-Shem Jakob ben Reubens (geboren um 1136) zitiert wird.31 In welcher Form die QiÈÈa Jakob ben Reuben vorlag, ist nicht s. Lasker, QiÈÈat, 117; Lasker / Stroumsa I, 29 f. Zu Konversionen byzantinischer Christen zum Judentum vgl. auch Goitein, Mediterranean Society II, 303 f (s. a. VI, 25 s. v. „conversion“). 27 Rembaum, Testament, 17–61 u. ö. 28 Vgl. zu möglichen Vorgängern Rosenkranz, Auseinandersetzung, 54.101.108–112. 29 Vgl. Rembaum, Testament, 111 f, vgl. 138 f.140–146.216 u. ö.; ders., Influence, 166–183; de Lange, Nicholas R. M., A Fragment of Byzantine Anti-Christian Polemic, JJS 41.1, 1990, 92– 100; Lasker, QiÈÈat, 117 f. 30 In der QiÈÈa bleibt der Verfasser namenlos. Den im arabischen Text in § 76 zitierten Nestor identifizierten die Übersetzer offenbar mit dem Priester bzw. Bischof, der sich in §§ 1 f einführte und dann im Kolophon nach § 185 erwähnt ist, vgl. Lasker / Stroumsa I, 152; Lasker, QiÈÈat, 115. 31 Textausgabe: Jacob ben Reuben, Mil½amot ha-Shem, hg. v. J. Rosenthal, Jerusalem 1963 (hebr.). Zu seinem Werk s. H. Trautner-Kromann, Shield and Sword. Jewish Polemics against Christianity and the Christians in France and Spain 1100–1500, TSMJ 8, Tübingen 1993, 49–61; Krauss / Horbury, Controversy, 216 f; D. J. Lasker, Jewish Philosophical Polemics against Christianity in the Middle Ages, New York 1977, 13 f; Rembaum, Influence, 165 f.172 ff; R. Schmitz, Jacob ben Rubén y su obra „Mil½amot Ha-Shem“, in: C. del Valle Rodríguez (Hg.), Polémica judeo-cristiana. Estudios, España judía. Serie A: Estudios literarios, Madrid 1992, 45–58.

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mehr nachprüfbar, da die ältesten hebräischen Manuskripte von Nestor erst aus dem 15. Jh. stammen und Spuren einer eigenen komplizierten Redaktionsgeschichte aufweisen.32 Die vier erhaltenen hebräischen Manuskripte repräsentieren drei verschiedene Rezensionen:33 (a) Hs. Vatikan Heb. 80.4 (= Nestor mit lateinischen Glossen, im Folgenden Ms. B): Dieses Ms. stammt aus dem 15. Jh. und enthält biblische, v. a. neutestamentliche Zitate als lateinische Glossen in hebräischen Buchstaben mit romanischer Aussprache (Übersicht II, 174 ff, s. u. Anm. 54). Der Text ist bei Lasker / Stroumsa II, 95–111 wiedergegeben und liegt ihrer Übersetzung des Nestor-Textes (I, 99–131) zugrunde. Dieses Ms. kommt der QiÈÈa in Gestalt von Ms. P am nächsten, bis § 156 sind die meisten Abweichungen bezüglich Textumfang und Textumstellungen34 relativ gering. Nach § 155 bringt Ms. B jedoch erst den größeren Teil von § 119, die §§ 156–179 des arabischen Textes fehlen in der Nestor-Überlieferung; an § 119 schließt sich mit den §§ 180–185 gleich der Schlussabschnitt an (mit § 180a als kurzem Sondergut-Stück). Die Erstedition von Abraham Berliner ist ein weitgehend genauer Abdruck dieser Hs. Diese Edition blieb ohne Einleitung oder Kommentar,35 die angekündigte gesonderte Einleitung erschien nicht. Eine stark bearbeitete Version dieser Fassung erschien noch einmal im ĠĜĚĘĞĜĘ īĩĘē (OÈar Vikkuchim) von Judah David Eisenstein.36 (b) Die zweite Rezension, deren Kennzeichen ein von QiÈÈa und Ms. B abweichender Aufbau und die Verwendung von judaeo-griechischen Glossen ist, wird von zwei Hss. bezeugt: 1. Hs. des jüdischen Museums Athen 79.199–2/3, geschrieben 1578 (im Folgenden Ms. A); 2. Hs. Vatikan Ms. Heb. 171.50, fol. 521b–534b (= Ms. C), 1493 in Canea in Byzanz geschrieben. Lasker / Stroumsa bieten den Text von Ms. A und geben die Abweichungen von Ms. C im Apparat (II, 112–140). Da die Übersetzung jedoch Ms. B folgt (nur manche Abweichungen von Ms. A u. C sind in den Anmerkungen berücksichtigt), ist es wichtig, für die Unterschiede zwischen diesen beiden Hss. den hebräischen Text zu vergleichen. Neben stilistischen Änderungen sind dies v. a. die unterschiedlichen Einfügungen der transkribierten griechischen Bibeltexte.37 Bis § 75 Anfang folgen beide Hss. in Aufbau und Perikopenfolge weitgehend Ms. B, danach kommt ein großer Bruch: A und C lassen auf den ersten Teil von § 75 den Abschnitt §§ 114–157 folgen (der im Inhalt jedoch mit Ms. B übereinstimmt; auch die Auslassungen von B gegenüber QiÈÈa Ms. P, d. h. das Fehlen von §§ 131 f, 146, 148 f, 156, sind identisch), dann folgen § 119 und der in QiÈÈa und Ms. B am Ende 32

Lasker / Stroumsa I, 27–31. Vgl. ausführlich Lasker/Stroumsa I, 93 ff. 34 Die Zählung von Lasker/Stroumsa richtet sich nach Ms. P in der von ihnen rekonstruierten Reihenfolge, die versucht, die Blattvertauschungen anhand der Geniza-Fragmente zu korrigieren. 35 Sefer Nestor Ha-Komer, hg. v. A. Berliner, Altona 1875. 36 A Collection of Polemics and Disputations, New York 1928, 310–315. Zu dieser fehlerhaften und vom Hg. redigierten Fassung s. Lasker / Stroumsa I, 95. 37 Beide Hss. leiten mit der Formel „und so heißt es in eurer Sprache“ griechische Zitate ein, doch findet sie sich häufig (bes. in Ms. C) ohne folgende Transkription. Das zeigt, dass die Vorlage(n) noch mehr Griechisch enthielten, dies aber nicht kopiert wurde, vgl. Lasker / Stroumsa I, 94. 33

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stehende Abschnitt §§ 181–185. Erst danach folgen der Rest von § 75 und die §§ 76– 113, wobei die Abweichungen von Ms. B wieder geringer sind. Am Ende von Ms. A und C steht ein jeweils unterschiedlicher Kolophon (gezählt als § 185a38). (c) Als Fragmenten-Nestor bezeichnen Lasker / Stroumsa die Hs. des Jewish Theological Seminary of America (JTSA Ms. Mic. 2455, im Folgenden Ms. J). Sie besteht aus zwei Teilen: Drei unverbundene Blätter enthalten eine Nestor-Fassung (fol. 1b– 3b),39 der Rest der Hs. eine von anderer Hand geschriebene arabische Toledot JeshuFassung. Die Hs. stammt aus dem 17. Jh. und wurde in „Oriental rabbinic characters“ geschrieben. Es handelt sich offenbar um eine selbständige Übersetzung oder Bearbeitung, unabhängig von den anderen Rezensionen. Auffällig ist, dass FragmentenNestor Jesus als ĥĘĬĜ bezeichnet, während in Ms. A und C ĘĬĜ gebraucht wird.

Obwohl die arabische und die hebräische Fassung seit 1875 bzw. 1880 bekannt waren und auch zwischenzeitlich einzelne weitere Fragmente ediert worden sind,40 findet der Text doch erst seit der Edition von Lasker / Stroumsa die ihm gebührende Würdigung.

Hinweise auf die Bergpredigt und Jesu Stellung zum Gesetz in QiÈÈa / Nestor Im Folgenden beschränke ich mich auf vier größere Abschnitte (§§ 33–36; 63–71; 120–128; 136 f nach der Einteilung von Lasker / Stroumsa41), in denen Jesu Stellung zur Tora und damit verbunden die seiner Nachfolger in den Blick kommt.42 Auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Fassungen kann in diesem Rahmen nur begrenzt eingegangen werden. Die Übersetzungen sind der Ausgabe von Lasker / Stroumsa entnommen.43 38

Übersetzung Lasker / Stroumsa I, 121 Anm. 4. Zum Text s. II, 140. Folio 1b enthält §§ 1–3, fol. 2 beginnt mit einigen Zeilen, die sich keiner bekannten Stelle zuweisen lassen, dann folgt § 99, während fol. 3 auf der Vorderseite §§ 5 f und den Anfang von § 9 enthält, auf der Rückseite die Fortsetzung von § 9 bis § 16 mit Auslassung der §§ 13 und 15. 40 Vor Lasker / Stroumsa am ausführlichsten bei Krauss / Horbury, Controversy, 236 ff, vgl. außerdem die Angaben bei Lasker, QiÈÈat, 112 f; Rosenkranz, Auseinandersetzung, 251 Anm. 6. 41 Eine knappe Übersicht über den Aufbau von Ms. P bietet van Esbroeck, Brief, 107 f, s. außerdem die Hinweise bei Lasker / Stroumsa I, 23. Besonders bedeutsam scheint mir § 5 zu sein, der ein Summarium der Punkte bietet, die nach Ansicht des Verfassers gegen die Göttlichkeit Jesu sprechen. Viele dieser Punkte werden im Verlauf der Schrift entfaltet; es wäre einmal zu prüfen, ob dieser § 5 nicht eine Art Inhaltsverzeichnis ist, nach dem sich die Schrift sinnvoll gliedern lässt. 42 Vgl. dazu auch Rembaum, Testament, 105–110.201–207. 43 Wünschenswerter wäre es natürlich gewesen, die Texte ins Deutsche zu übersetzen, aber da ich dies nur für die hebräischen Teile, nicht aber für die judaeo-arabischen hätte bewerkstelligen können, habe ich davon abgesehen. Stattdessen gebe ich Hinweise zur Übersetzung und füge im Nestor-Text da hebräische Wendungen ein, wo es mir sinnvoll erscheint. 39

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1. Jesu Unterordnung unter die Tora widerlegt seine Göttlichkeit (§§ 33–36) Der erste Beleg findet sich im Rahmen der den Traktat dominierenden Polemik gegen die Göttlichkeit von Jesus (§ 33). Insbesondere die Niedrigkeitsaussagen und der Gehorsam Jesu gegenüber der Geschichte und Tradition Israels werden als Argument angeführt: Wenn er sich Mose und der Tora unterordnete, dann kann er nicht Gott sein. Ausgangspunkt der Argumentation ist ein philosophisches Gottesbild, von dem aus fest steht, was über Gott gesagt werden kann und was nicht. Dabei wird das alttestamentliche Reden von Gott in Übereinstimmung mit dieser philosophischen Gottesvorstellung gesehen, indem die Stellen hervorgehoben werden, die Gottes Transzendenz, seine Unnahbarkeit und Unsichtbarkeit betonen. Bei den neutestamentlichen Aussagen wird umgekehrt auf die Stellen verwiesen, die die Menschlichkeit, Diesseitigkeit und Sichtbarkeit Jesu hervorheben. Diese werden dann mit der Aussage konfrontiert, dass Jesus „Gott“ sei, und die Frage aufgeworfen, wie man an einen Gott glauben könne, der sich im unreinen Leib einer Frau aufhielt, mit Menstruationsblut zusammenkam, in die Windeln machte und urinieren musste, um nur einige der Punkte zu nennen, die mehrfach vorkommen.44 Der Abscheu, der sich in dieser Auflistung christlicher Absurditäten ausdrückt, ist nicht nur polemische Rhetorik, sondern offenbart etwas von dem Tabubruch, den jüdisches (und islamisches) Denken in der christlichen Vorstellung von Gottes Menschwerdung in der Person Jesu empfindet. Die Radikalität dieser polemischen Anfragen bis hin zu den genannten Details menschlicher Existenz erinnert die christliche Theologie daran, was sie den Menschen mit ihrer Botschaft von der Inkarnation zumutet, selbst wenn man einräumt, dass die Argumentation in der QiÈÈa überzogen ist und sie weder den neutestamentlichen noch den differenzierten dogmatischen Aussagen der patristischen Theologie gerecht wird. Grundlage der Auseinandersetzung ist jedoch nicht die Vereinbarkeit der neutestamentlichen Erfahrung von Gottes Handeln in Jesus mit dem biblischen (= alttestamentlichen) Offenbarungszeugnis. Stattdessen werden einzelne Passagen des Neuen Testaments, die im Rahmen einer allzu schlichten dogmatischen Christologie verwandt werden, am Maßstab eines philosophischen Gottesbildes gemessen und abgewiesen: QiÈÈa § 33 You claim that God is Christ and that Christ is God, and that Christ descended upon earth, and that he hid himself from the eyes of humans, in order to guide people and to save them from the error of

Nestor Ms. B § 33 You testified that the Lord was the Messiah, but he was hidden from the eyes of all living things, and he descended to the earth to return humanity to the true religion (ĭġē ĢĜĖğ) and save them from

44 Vgl. §§ 5.59.82.111. Vgl. dazu Rembaum, Testament, 80–83, der auch auf vergleichbare Aussagen bei Celsus (ebd., 32) und Porphyrius (ebd., 48) verweist.

Die Verwendung der Bergpredigt IblƯs. Tell me now: when he descended in order to guide them, did he guide them with his own law or with someone else’s law?

If you say, „Someone else’s law,“ then woe to you because of [your belief in a] God who requires the law of someone else: how can he be worshipped?! And if you say, „In his own law,“ then you deny your Gospel, for Christ says [in the Gospel]: „I have not come to abolish the Torah of Moses.“47

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the path of Satan (ĢěĬė ĜĞīĖġ45). Inform me now, when he descended from the heavens to save the creatures and to restore them to faith, did he act according to his own religious practices (ĕėģġ) or according to the practices of others? Did his religious practices constitute correct belief or sin? ( ėĜė ĘĕėģġĘ ?ėĜė ēěĚ Ęē ėģĘġē)46

Auf dieses philosophisch-dogmatische Argument, dass Jesus ob seiner loyalen Haltung zur Tora Moses diesem untergeordnet sei (und darum nicht „Gott“ sein könne, weil sich ein Gott niemandem unterordnet), folgt, ausgehend von derselben Mt-Stelle, ein zweites, das ethisch-soteriologisch argumentiert und entweder Jesus oder seine Nachfolger zu Betrügern erklärt: QiÈÈa § 3448 Tell me also this: a person who follows the tradition of Christ, is he to be considered as well-guided or as someone who has gone astray? If you say, „He is well-guided,“ then you yourself have gone astray, since you do not observe his law, nor do you follow his guidance, for you have reversed everything he ordered you to do. And if you say, „Whoever observes his [i. e. Christ’s] law has gone astray,“ then you disbelieve in Christ and in his brothers, the apostles.

45

Nestor Ms. B § 34 If you say that his religious practices did constitute correct belief, tell me: Was whoever followed his religious practices a sinner or a believer? (ĢĜġēė Ęē ēěĚ) If you say he was a believer, then you have sinned because you did not act according to his religious practices and you did not walk in his ways. But if you say that he who does act according to [Jesus’] religious practices has sinned, you have denied the Lord and the Messiah and he who commanded his disciples who believed in him.

So Ms. A u. C, Ms. B liest nur: „von (ihrem) Weg“ (ĝīĖġ). Übers. Lasker / Stroumsa I, 105; Text: II, 98. 47 Vgl. Mt 5,17a: ͝‫ͣ͒ͥ͏ͧ͠΃͡ ͣ׮ͥ͠ ֞ ͭ͞͠͝͞ ͞׬ͥ ͚͒ͤٓ͒ͥ͒͜΂ ͞͠ͱ֢͜ ׁ͚ͥ ͖ͥ͒ͤ͐͝͠͞ ר‬. Übers. Lasker / Stroumsa I, 58; Kommentar (zu §§ 33–36): I, 146; Text: II, 36. 48 Übers. Lasker / Stroumsa I, 58/105; Texte: II, 36/98+118: § 34. 46

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[Fortsetzung Nestor Ms. B § 34:] But if you say that [Jesus] acted according to the religious practices of others, how can you worship someone who does not have [his own] divine religious practice (ėĘğē ĕėģġ Ęğ ĢĜēĬ Ĝġğ ĖĘĔĥĭ ĝĜē)? If you should say that Moses and all the prophets who followed him acted in accordance with [Jesus’] religious practices and law, were they sinning or were they acting truthfully? If you say they acted truthfully and righteously, you have become infidels because you yourselves have not walked in their ways, and you have not believed in what they said, since you have not acted as Moses and the prophets did. And if you say that [Jesus; Ms. A: God]49 changed [the commandments], have you not denied God and the prophets?

Die Begründung für dieses Argument, das darauf basiert, dass Jesus selbst im Gegensatz zur gegenwärtigen Christenheit die Tora Moses hielt und seine Jünger anhielt, dasselbe zu tun, liefert der folgende Passus, der explizit Mt 5,17 ff, allerdings in einzelnen Teilen frei paraphrasierend, zitiert: QiÈÈa § 3550

Nestor Ms. B § 35 Tell me now: did the Messiah teach you the true religion in his words? Is it not true that Christ said in the Gos- Did he not say in your erroneous book pel, „I have not come to abolish the (ĠĞĭĘĥě īħĤĔ51): „I have not come to Torah of Moses, nor to deny the proph- abolish but to fulfill.“ ets; but I have come to fulfill it. Truly I say to you now: the heavens and Furthermore, he said to you concerning earth will change and Moses’ Torah will the Torah of Moses and the words of the not change, but rather, it will be fulfilled prophets: „Heaven and earth will pass in the true works. away, but His [sic] words will not pass away.“52 And whoever abolishes any of its commandments and performs other commandments will be called ‘deficient’ in the Kingdom of Heaven.“ 53

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So die Ergänzung von Lasker / Stroumsa I, 105. Hs. B liest jedoch nur das Verb in der 3. Person Sing. Maskulinum ĦĜğĚė. 50 Übers. Lasker / Stroumsa I, 59/105 f; Texte: II, 37/98 f+118. 51 So gelegentlich die Bezeichnung für das Evangelium bzw. die Evangelienbücher in Nestor (vgl. § 68.73, nie in QiÈÈa), üblich ist jedoch ĢĘĜğĜĕ ĢĘĥ. 52 Die Fassung von Mt 5,18 ist so verkürzt, wie sie für die Argumentation des Verfassers am nützlichsten ist. Dabei bleibt von der ursprünglichen Aussageintention nichts mehr übrig. 53 Mt 5,17 ff. Die Hs. ARB* (Cambridge, T-S Ar. 52.222) bietet für §§ 33–36 einige Abweichungen von dem Basistext, den Lasker / Stroumsa ihrer Edition zugrunde gelegt haben. Diese Unterschiede betreffen auch den Text von Mt 5,17 ff (die wichtigsten Unterschiede sind hervorgehoben): „… he spoke thus in the Gospel: ‚I have not come to abolish anything from the Torah of Moses, nor from the words of the prophets; but I have come to fulfill it in the speech of truth. And I say to you: the heavens and the earth will change, and not a word of Moses’ Torah will change, until it is fulfilled in its entirety.‘ Is this not a section of the Gospel?“

Die Verwendung der Bergpredigt

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Hs. B zitiert Mt 5,17 f in einer vokalisierten hebräischen Umschrift des Vulgatatextes,54 während Hss. A und C die Verse in hebräischer Übersetzung bieten. Ms. A bringt anschließend den griechischen Wortlaut in hebräischer Umschrift, eingeleitet mit dem Satz ĠģĘĬğĔ ēĘė ĢĞĘ („und so ist es in ihrer Sprache“). Dabei fällt auf, dass der Umfang der hebräischen Fassung nicht genau der griechischen entspricht und diese wiederum eine verkürzte Form des Logions darstellt, die von keiner neutestamentlichen Hs. bezeugt ist. griech. Retranskription

̾‫͒ͱ֢͜ ׁ͚ͥ ͖͖ͥ͗͐͝͠͞ ר‬ ΂͖͚͒ͥ͒ͮͤ͜ ͭ͞͝͠ ͎̾ͪͤͦͪͣ ֞ ͥ٠͞ ͡΃ͧͥ͘͠٠͞, ր͜͜‫͚͖ͤͯ͞΃͘͜͡ ͞׬ͥ פ‬.55

Nestor Ms. A § 35 Nestor Ms. C § 35 ēğĘ īĘĭĤğ ĜĭēĔ ēğ Ĝģē ēğĘ īĘĭĤğ ĜĭēĔ ēğ Ĝģē īĜĤĚėğ īĜĤĚėğ ĠĜēĜĔģĘ ėĬġ ĭīĘĭġ ēğ ĭīĘĭġ ēğĘ ėĬġ ĭīĘĭġ ĠĜēĜĔģė ĠĜğĬėğ ĜĭēĔ Ġē ĜĞ ĠĜğĬėğ ĜĭēĔ Ġē ĜĞ ĭġēė ĜīĔĖĔ ĭġēė ĜīĔĖĔ ĠģĘĬğĔ ēĘė ĢĞĘ ēĭğĜē ĜěĘē ĜěĜęĜġĘģĜġ ĘġĘģ ĢĜĬĜğēěēĪ ĤĘēĜĬĘġ ĢĘěĘħĘīħ ĢĘě Ĝē ĢĜĬĘīĜğħ ĢĘě ēğē ĘĬĜ īġē ĖĘĥĘ ĘĬĜ īġē ĖĘĥĘ ĨīēėĘ ĠĜġĬė ĘħĜğĚĜ ĢĞğ ĨīēėĘ ĠĜġĬė ĘħğĚĜ ĜīĔĖġ ĘħĜğĚĜ ēğĘ ĜīĔĖġ īĔĖ ĘħğĚĜ ēğĘ ėġĘēġ ėĬġ ėġĘēġ ėĬġ ĘġğĬĘĜ īĬē Ėĥ ĘġğĬĘĭ īĬē Ėĥ

Übers. Ms. C: „Ich bin nicht gekommen, um zu zerstören, und nicht, um wegzunehmen, weder von der Tora Moses noch von der Tora / Weisung der Propheten, sondern ich bin gekommen, um zu erfüllen durch Worte der Wahrheit. – Und weiter sagte Jesus: Es werden vergehen (qal) die Himmel und die Erde, aber nicht ein einziges Wort wird vergehen von den Worten Moses, bis sie vollendet werden.“ Übers. Ms. A: „Ich bin nicht gekommen, um zu zerstören, und nicht, um wegzunehmen, weder von der Tora Moses noch von den Propheten, sondern ich bin gekommen, um zu erfüllen durch Worte der Wahrheit. Und so ist es in eurer Sprache: Meint nicht, dass ich gekommen bin, um aufzulösen das Gesetz Moses oder die Propheten, sondern um zu erfüllen. – Und weiter sagte Jesus: Deshalb werden vergehen (hif.) die Himmel und die Erde, aber nicht ein einziges Wort wird vergehen von den Worten Moses, bis sie vollendet sein werden.“ 54 Zu den Transkriptionen s. J. Niehoff-Panagiotides, The Judaeo-Latin and Judaeo-Greek Glosses of Sefer Nestor Ha-Komer, in: Lasker / Stroumsa I, 171–185. Die von der Vulgata abweichenden lateinischen Glossen legen eine Entstehung in Norditalien oder Südfrankreich nahe. Die griechischen aber spiegeln eine recht gute Kenntnis des neutestamentlichen und klassischen Griechisch. „This may indicate that the Jews in the Byzantine Empire were less isolated from general culture than their brethren in the west and had more direct access to Christian culture“ (173). 55 Griechische Retranskription von Niehoff-Panagiotides, in: Lasker / Stroumsa I, 179.

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Die ungewöhnliche Wendung „erfüllen durch Worte der Wahrheit“ wird auch in einer der arabischen Hss. bezeugt (s. o. Anm. 53) und erklärt sich wohl von daher. Gefragt werden kann, ob damit die Bergpredigt gemeint ist.56 Einzig in Ms. A heißt es anschließend an den oben zitierten Text: Griechische Retranskription

Nestor Ms. A § 35

ĬĘĪīġ īħĤĔ ĔĭĞ ĢĬĘē ĢĜġĜē ĘĕĜğ īēĕ ĢĜġĜē ĢĜěğĜīēħ ėēĜġĜē ĢĜē ēěĜę ĬĜĜē ĜĪ ĬĘģēīĘē Ęē ėēĜīĜĪ .ĘěĘġĘģ Ęě Ĝħē ĢĜĭğĜīēħ Ĝġ Ęē ĜěģĜĜ ėĖģēħ ĢēĬ Ęē ĢĘğĘĖē ĢĘě ĢēĜġ ĜĬĜĜğ ĢēĜē ĬĜěĬĘē .ĢĘģēīĘē ĢĘě ĢĘěĘě ĘĬĜ īġē ĖĘĥĘ ĜĪ ĢĘģēīĘē ĢĘě ĢĜěĬē ĢĘīĜěĘħĘĪħē ėēĜīĜĪ ėēĜġ Ĝē ĢĜĭğĜīēħ ĬĜĜē ĬĜě .ĢĜĬĜĜħ ĢĘġĘģ Ęě 57

(Mt 5,18) ֈ͝‫͞ل͝׉ ͔͎ͪ͜ ΃פ͔ ͞ר‬, ‫ ͣו‬ւ͞ ͒͡΃͎͜ͱͦ͠͞ ֽ ͠‫ͣض͔ ֝ ת͒΂ ͣ׬͒͞΃׈‬, ͗‫͒͐͝ ֞ ֓͞ ͒ͥض‬ ΂͖΃͒͐͒ ͠‫ ]͞[طͱ͎͜΃͒͡ ר͝ ׈‬ր͡‫ͦͥ͠ ͦͭ͠͝͞ ٓͥ͠ ׬‬58, ‫ ͣו‬ւ͞ ͍ͥ͒͡͞ ͔͎͖͚ͥ͒͞. (5,19) ׁ͚ͤͥͣ ֐͍͞ ͮͤ͜‫ͥ ͒͐͞͝ ش‬٠͞ ֐ͥ͜͞͠٠͞ ͥͮͥͪ͠͞ ͥ٠͞ ͠‫͒͞΃׈‬٠͞ …59 (Lk 16,17) ֈ͡͠΂͖ͯͥ͠͡΃ͭ͞ ֐͚ͤͥ͞ ͥ‫͞׬‬ ͠‫͒͐͝ ֞ ͞ل͖ͱ͖͜΃͒͡ ͣض͔֝ ͣضͥ ת͒΂ ͞׬͒͞΃׈‬ ΂͖΃͒͐͒ ͥٓ͠ ͭͦ͞͝͠[͞] ͖͚͐ͤ͡͠͞.60

Übersetzung: Geschrieben ist im Buch des Markus: „Amen, ja, ich sage euch, bis vergehen der Himmel und die Erde, kein Zeta oder Buchstabenstrich 61 wird vergehen von seinem Gesetz, bis alles geschehen ist. Welcher nun auflöst eines dieser Gebote der Himmel … Und Jesus sagte auch: Leichter ist, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Buchstabenstrich des Gesetzes hinfällt.“

Der judaeo-griechische Text von Mt 5,17 f stimmt weitgehend mit der übrigen Textüberlieferung überein: Es fehlt ͠‫ ;͞͠ͱ֢͜ ΂׈‬Jota statt Zeta ist u. U. ein Transkriptionsfehler. V. 19 ist dagegen so verstümmelt, dass nicht erkennbar ist, ob wirklich „Gebote der Himmel“ (= Gottes) gemeint waren oder ͠‫͒͞΃׈‬٠͞ durch Auslassungen im folgenden Versteil hierher rückte. Um weiter zu kommen, müsste man die Hs. an dieser Stelle ansehen, die Beschreibung durch Niehoff-Panagiotides ist dafür zu knapp. 56

Vgl. Iust.dial. 10,2 f, wo Tryphon sagt: Ich weiß auch, dass eure Weisungen, die im sog. Evangelium stehen, so erstaunlich und groß sind (֐͞ ͥ١ ͖͔͎ٞ͜͠͝͞ ̷‫͖͔͔͐͒͜׈‬ٞ ͒͡΃͔͔͎͒͒ͥ͒͜͝ ͱ͒ͦ͒ͤͥ͝‫)͍͔͖͒͜͝ ת͒΂ ͣͪͥ׍͠ פ‬, dass, wie ich glaube, niemand sie halten kann (͕͎͒͘͝͞ ͕ͮ͒ͤ͞ͱ͚͒ ͍͚ͧͦ͒͜͟ ͒‫ ;)͍ͥ׈‬mit Interesse habe ich sie nämlich gelesen (֐͝͠‫͞ل͖ͨͦͥ͞֐ ͖͎ͤ͘͜͞͝֐ ΃פ͔ ת‬ ͒‫)ͣلͥ͠׈‬.“ Vom Kontext her ist hier bei „Weisungen“ am ehesten an die Bergpredigt zu denken. 57 Hs. C hat noch diesen Satz, mit ĘĪīġ statt ĬĘĪīġ, das angekündigte Zitat fehlt jedoch. 58 Entweder ein verkürztes ͒‫( ٓͥ͠׈‬vgl. die ähnliche Verkürzung von ֕ͪͣ in ‫ )ͣו‬oder Dittographie des Art., evt. auch verkürztes ͥͮͥͦ͠͠. Falls dies auf eine griechische Hs. als Vorlage zurückgeht, wäre diese Variante in der griechischen Textüberlieferung nicht bezeugt. Am nächsten liegend scheint mir die erste Möglichkeit zu sein; das Pronomen wäre dann auf Mose zu beziehen. 59 Einige Worte fehlen. 60 Griechische Retranskription wie Anm. 55. 61 Zu dieser Übersetzung vgl. R. Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2004, 312–335.

Die Verwendung der Bergpredigt

385

Interessanter ist die Kombination von Mt 5,17 ff mit Lk 16,17, wobei die Nestor-Version ΂͖΃͒͐͒ gegenüber Lukas vorangestellt hat. Denn schon lange wird diskutiert, ob Lk 16,17 zu Q und zum Traditionsbestand von Mt 5,18 gehörte, wobei immer wieder die Herkunft dieser Überlieferung aus judenchristlichen Kreisen erwogen wird.62 Damit stellt sich die Frage, ob der Redaktor von Ms. A (nur da findet sich die Lesart) einen Evangelientext oder eine Spruchsammlung verwendete, in der diese Verse beieinander standen. Auffällig ist weiter, dass er die Zitate aus Mt 5,18 f dem Markus-Evangelium zuweist, wo sich diese Verse nicht finden, andererseits aber Mk 13,30 f von denen, die eine Herleitung von Mt 5,18 / Lk 16,17 aus Q ablehnen, als Quelle angenommen wird. So ist nach Eduard Schweizer Mt 5,18 / Lk 16,17 in Analogie zu Mk 13,30 f von einer streng judenchristlichen Gemeinde gebildet worden, um die „Unverbrüchlichkeit des Gesetzes bis auf Jota und Häkchen“ gegen ein antinomistisches Missverständnis von Mt 5,17 zu sichern.63 Es finden sich allerdings in der QiÈÈa bzw. bei Nestor wiederholt fehlerhafte Zuschreibungen von neutestamentlichen Zitaten und auch häufig Zitatkombinationen und Mischzitate, so dass die Frage nach der Herkunft dieser Tradition vorläufig offen zu bleiben hat. Eine eingehende Analyse der neutestamentlichen Zitate in den einzelnen Überlieferungskomplexen auf mögliche Zusammenhänge mit vergleichbaren Texten und neutestamentlichen Anthologien (Lektionare) ist ein dringendes Desiderat. Der diesen Abschnitt beschließende Passus stellt die intendierten christlichen Leser noch einmal vor die Entscheidung, entweder die Überlieferung von Mt 5,17 ff zu bestreiten oder einzugestehen, dass sie durch ihre Aufgabe des Befolgens der Tora dem Gebot Jesu ungehorsam geworden sind und darum nur „ungenügend“ (im Sinne von Mt 5,19) in der Königsherrschaft Gottes sind. Die Nestor-Überlieferung nimmt eine christliche Entgegnung auf diesen Vorwurf bereits vorweg, wonach nicht Jesus, sondern die von ihm gesandten Boten neue Gebote gebracht hätten. Denn auch dann gilt, dass diese im Hinblick auf Mt 5,19 als „ungenügend“ zu gelten haben bzw. im Widerspruch zur ursprünglichen Weisung Jesu stehen: QiÈÈa § 36 Nestor § 36 This is what is found in the Gospel If you say that he acted according to concerning anyone who rejects the law that which was written in the Torah of of Moses son of Amram. Moses, you have annulled your former words.64 62

Vgl. zur Diskussion mit weiterer Literatur Deines, Gerechtigkeit, 340 f. Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 141976, 61 f (Zitat: 61). 64 Was „frühere Aussage“ meint, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich geht es um christliche Aussagen, Jesus habe die Tora aufgehoben oder seinen Nachfolgern eine andere Weisung gegeben. Wie beschränkt das neutestamentliche Wissen der Kreise war, die hinter der QiÈÈa stehen, zeigt die Tatsache, dass etwa Mk 7,1–23 par. Mt 15,1–20 keine Rolle spielen (doch s. u. Anm. 96). 63

386

Roland Deines

Now only one of two things is true in your case: Either what your Gospel and your Christ [ĠĞĚĜĤġĘ] had said, and you abrogate the commandments of Moses, peace be on him, such as the Sabbath and circumcision and the like.

Or you hold the words of Christ and the Gospel to be true, but you do the opposite, spitefully and intentionally; if this is the case, you will quickly bring upon yourself curses, both in this world and in the next, and become deficient in the Kingdom of Heaven.“65

But [if you say that Jesus] sent messengers and prophets to teach you and to write for you good statutes and commandments, that these messengers came and have turned you [from acting] in accordance either with the religion of the Messiah, or with that of his prophets; and that they returned you to their will; and you say that these messengers were prophets; then how could they act other than in the way in which the Messiah commanded you? If you do not say that this is the way in which he commanded us, then you render him deficient in the Kingdom of Heaven. Did he not command you according to the Torah of Moses?66

Die Drohung, „deficient“ zu sein im Hinblick auf das Reich Gottes, wird den Christen wiederholt vor Augen gestellt67, ebenso der Vorwurf, die Gebote nicht gehalten zu haben, die doch Jesus als gültig erwiesen habe.68 65

Übers. Lasker / Stroumsa I, 59; Text: II, 37: § 36. Zum hebräischen Text s. I, 106; II, 99 bzw. 118. Obwohl Mt 5,19 nicht zitiert worden ist, wird auch im Hebräischen mit dem Vorwurf, „deficient“ (īĤĚ) zu sein, argumentiert. 66 Die hebräischen Fassungen weichen voneinander ab und die jeweilige Argumentation ist nicht klar. Lasker / Stroumsa I, 112 f übersetzen einen Mischtext. 67 Vgl. §§ 66.71: Jesus selbst ist „deficient“, wenn die von ihm berichteten Worte im Evangelium über seine Einheit mit dem Vater als gültig anzusehen sind, denn sie widersprechen der von ihm anerkannten Tora Moses (mit Hinweis auf Mt 5,17). Ziel der Argumentation ist immer wieder, logische Widersprüche zwischen einzelnen Aussagen der Evangelien zu finden, vgl. § 72: „You should know that I have examined the Gospels of Matthew, Mark and John, and have found their testimonies about Christ contradictory.“ Vgl. ebenso §§ 122 f (dazu s. u.). 68 Vgl. § 58 im Anschluss an das Zitat Jes 49,6: „It is most astonishing, how is it that you are not distressed by what you have done concerning the Messiah: You have denied his words, you have abrogated his sayings, you have denied the Torah and the Psalms, and you have changed the laws of Moses, peace be on him, that were given on Mount Sinai“ (Lasker / Stroumsa I, 63; Text: II, 44; ausführlich zu § 58 Rosenkranz, Auseinandersetzung, 407–414). Zu §§ 63.120 f s. u. Andererseits wird auch Jesus vorgehalten, mit Aussagen wie Mt 10,37 f gegen Moses Tora (vgl. Ex 20,12; 21,15.17) verstoßen zu haben (§ 106). Mt 21,2 wird so gedeutet, dass Jesus Petrus beauftragt habe, ihm ein Eselfüllen zu stehlen (§ 109). An solchen Stellen ist der Einfluss der Toledot JeshuTradition deutlich, die Zitate sind erfunden bzw. polemische Umformungen bekannter Texte. Vgl. dazu Rembaum, Testament, 113–146; Lasker / Stroumsa I, 21; O. Limor, Judaism Examines Christianity: The Polemic of Nestor the Priest and Sefer Toledot Yeshu, Pe’amim (= SOrJ) 75, 1998, 109–128 (hebr.). Im Kolophon der Nestor-Hs. A wird Jesus als „Sohn des Pandera“ ( ĢĔ ĘĬĜ ēīĜĖģħ) und mamzer bezeichnet, was eindeutig der Toledot Jeshu-Tradition entnommen ist, vgl. Lasker / Stroumsa I, 121 Anm. 4 (Übers.); I, 170 (Kommentar z. Stelle) u. II, 140 (Text).

Die Verwendung der Bergpredigt

387

In der QiÈÈa folgt auf diese erste Auseinandersetzung zur Gültigkeit der Tora ein längerer Abschnitt, in dem weitere Argumente gegen die Göttlichkeit Jesu vorgebracht werden (§§ 37–62). Dabei geht es in erster Linie um neutestamentliche Aussagen, die sich mit seinem Gottsein nicht vereinbaren lassen (etwa Mk 13,32, vgl. § 39; Mk 10,17 f, vgl. § 51; Mt 27,46, vgl. § 54; Mk 6,4, vgl. § 55 [als Prophet kann er nicht gleichzeitig Gott sein]). 2. Das Verhalten der Christen als Widerspruch zu Jesu Unterordnung unter die Tora (§§ 63–71) Mit §§ 63–71 setzt ein Abschnitt ein, in dem erneut die Gültigkeit der Tora verteidigt und das diesbezügliche christliche Verhalten als Irrtum aufgewiesen wird. § 63 verweist einleitend auf Beschneidung, Sabbat, Pessach (fehlt in Ms. P) und das Fasten am Versöhnungstag (sowie summarisch auf alle anderen Gebote des Mose und der Propheten). Dann wird ausführlich die Sinai-Gesetzgebung beschrieben (§§ 63–66), die das Halten der Gebote und Gottes Einzigkeit einschärfte (unter Verweis auf Dtn 32,39). Es folgen weitere Belege für die Einzigkeit Gottes aus Psalmen und Propheten, die in den Vorwurf des Tritheismus gegen die Christen münden (§ 66). Diese sehen sich vor die Alternative gestellt, entweder den Irrtümern des NT abzusagen oder sich vom Monotheismus, wie ihn Mose lehrte, loszusagen (§ 69): Now choose one of the alternatives: either believe in the Lord, may He be blessed, that He is one and believe in the words of Moses, or deny them. If you believe that his word is true, then deny Luke, Mark, John, and Matthew, and deny your prayer which you pray every day to the three [persons].69

Erkennbar an dieser Alternativstellung ist die strittige Tatsache, dass sich die Christen nicht damit begnügten, das NT als Heilige Schrift zu haben, sondern darüber hinaus auch die jüdische Bibel als „Altes Testament“ für sich in Anspruch nahmen. Die doppelte Loyalität der Adressaten, die in diesem Text durchschimmert, verweist hier (wie an vielen anderen Stellen der QiÈÈa) auf eine judenchristlich geprägte Theologie, die noch viel stärker als Bedrohung oder Unmöglichkeit empfunden wurde als das „reine“ Heidenchristentum.70 Die Unhaltbarkeit der christlichen Position in Bezug auf die Tora wird im Folgenden noch einmal verschärft: Wenn sich die Angesprochenen zu einer Absage an Mose und die Propheten bekennen, dann verleugnen und widersprechen sie Jesus selbst, der sich – wieder unter Verweis auf Mt 5,17 ff – ausdrücklich zu ihrer andauernden Gültigkeit bekannt habe: 69 So die hebräische Fassung nach Ms. B (Lasker / Stroumsa I, 112; ausführlicher ist hier die arabische Überlieferung, s. I, 66). 70 Zur Frage judenchristlicher Einflüsse s. Lasker / Stroumsa I, 20 f; Rosenkranz, Auseinandersetzung, 407–414.426 f.

388

Roland Deines

QiÈÈa §§ 70 f And if you say that your Gospels tell the truth and that your prayer is valid, then you deny what Jesus said and you render him one of those who are called „deficient” in the Kingdom of Heaven. For you know what Christ’s belief was concerning God and his Torah, and what he repeatedly said: „I have not come to abolish the Torah of Moses nor the words of the prophets, but to fulfill them by the work of truth. Amen, Amen I tell you, heaven and earth will change and nothing will change from the Torah of Moses.“ [„And whoever abrogates one word of Moses’ commands will be called deficient in the Kingdom of Heaven.“] 71 [71] And if you say that Jesus was telling the truth, namely, that he did not come to abolish [anything] from the Torah of Moses, then who is it that commanded you to worship three [Gods]? If you say, „Jesus,“ then you include him among those who are called „deficient“ in the Kingdom of Heaven. In fact, we do not know: is his rank deficient or is it high? Nor [do we know] who is it that makes the one God into three, as we find it in your Gospel.

Nestor Ms. B §§ 70 f And if you deny the prophets, you annul Jesus and render him deficient in the Kingdom of Heaven, since he said:

„I have not come to annul the words of the prophet but to fulfill [them].“ And he said to them: „For heaven and earth will pass away, but nothing of the Torah of Moses will pass away, and anyone who annuls even one word of Moses’ words is called ‚deficient‘ in the Kingdom of Heaven.“ [71] And if you say that Jesus told the truth because he did not change anything in the words of Moses, where did God command [you] to worship three [persons]? If you say that Jesus commanded you, you make him deficient, because there is nothing in the whole world which is uglier than one who divides God into three and worship the three of them, as is found in your books.

Die Textfassung des Mt-Zitats der QiÈÈa variiert leicht die in § 35. Ungewöhnlich ist jedoch die einleitende Bemerkung, Jesus habe dies wiederholt gesagt. Dies ist durch die Evangelien nicht zu belegen (Mt 5,17 besitzt nicht einmal eine synoptische Parallele) und geht wohl auf die Quellen des Verfassers zurück. Hier fand er offenbar in verschiedenen Zusammenhängen und leicht abweichenden Formulierungen immer wieder diese Bemerkung und gewann so den Eindruck, dass es ein mehrfach von Jesus gebrauchtes Logion war. Es fällt immerhin auf, dass der Verfasser die Stelle Mt 5,17 nie als Zitat aus dem Matthäus-Evangelium einleitet, obwohl er häufig einzelne Evangelien als Quellen für die zitierten Aussagen angibt.72 71

So die Fortsetzung von Ms. ARG (vgl. Lasker / Stroumsa I, 66 Anm. 2). Vgl. als Beispiele § 39 (Mk); §§ 40.42.57 (Joh); §§ 51.57.78 (Mt); §§ 52.68 (Lk) u. ö. Gelegentlich sind auch alle vier Evangelien namentlich aufgezählt, um darzulegen, dass der Verfasser 72

Die Verwendung der Bergpredigt

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In der Nestor-Überlieferung ist es lediglich Hs. B, die hier einen hebräischen Text für Mt 5,17 ff bietet73: ĘħğĚĭĜ Ġėğ 'ġēĘ .ĠĜğĬėğ ēğē ĠĜēĜĔģė ĜīĔĖ ğěĔğ ĜĭēĔ ēğ īġē ēĘė ĜĞ ĜīĔĖġ ĖĚē īĔĖ ğěĔġė ğĞĘ ėĬġ ĭīĘĭġ ĖĚē īĔĖ ĦğĚĭĜ ēğĘ ĨīēĘ ĠĜġĬ .ĠĜġĬ ĭĘĞğġĔ īĤĚ ēīĪģ ėĬġ

Der Text von Mt 5,17 ff ist hier in einer stark verkürzten Form wiedergegeben, deren Herkunft vorläufig nicht zu bestimmen ist. Interessant ist daran, wie die beiden Verben ΂͖͚͒ͥ͒ͮ͜͞ und ͘͜͡΃ٓ͠͞ aus V. 17 übersetzt wurden. Verfolgt man die Spuren von Mt 5,17 ff durch die weitere polemische Literatur (und Nestor selbst), dann zeigt sich, dass dabei kein einheitlicher Sprachgebrauch vorliegt. Die vorliegende Übersetzung versteht „erfüllen“ (das im Zitat ausschließlich auf die Propheten bezogen ist) möglicherweise im Sinne von Jes 44,26, wo ebenfalls das Hifil von ĠğĬ zur Erfüllung einer prophetischen Verheißung (allerdings durch Gott) gebraucht wird (vgl. auch § 35). Die Wiedergabe von Mt 5,17 in einer an prophetisches Erfüllungsgeschehen anknüpfenden Terminologie ist eher selten und geht vielleicht auf eine christliche hebräische Übersetzung zurück; häufiger wird das Verbpaar Mt 5,17 in Anlehnung an Dtn 4,2; 13,1 mit ĥĘīĕğ bzw. ĦĜĤĘėğ in einem stärker nomologischen Sinn wiedergegeben.74 Auch ĠĜĜĪğ für ͘͜͡΃ٓ͠͞ ist nicht selten.75 Die verkürzte Version von Mt 5,18 f bei Nestor mit der zweimaligen Nennung der „Tora Moses“ (die so bei Mt gar nicht vorkommt) verstärkt dagegen das nomistische Element, so dass die prophetische Erfüllungsterminologie von V. 17 ohne Anschluss oder Fortsetzung bleibt. die ganze Überlieferung überprüft hat: § 72 (Mt, Mk, Joh; zwei Hss. nennen nach Mt noch Lk); § 78 (Mt, Lk); § 85 (Mt, Mk, Joh „and the other sinners“); § 180 (Mt, Mk, Lk, Joh). 73 Vgl. Lasker / Stroumsa I, 112 f; II, 102.124. In § 35 überlieferte Ms. B den lateinischen Text von Mt 5,17 f, ohne hebräische Übersetzung, während Ms. A sowohl die hebräische Übersetzung wie den transkribierten griechischen Wortlaut bot. In § 70 dagegen bringen A und C lediglich die argumentative Zusammenfassung, aber nicht das Zitat (Lasker / Stroumsa II, 124): „Und wenn du die Worte der Propheten leugnest, hebst du die Worte Jesu auf (ĘĬĜ ĜīĔĖ ĭē ğěĔĭ) und erklärst ihn als ‚mangelhaft‘ (īĤĚ) in der Herrschaft der Himmel und Erde (ĨīēĘ ĠĜġĬ ĭĘĞğġğ).“ 74 So u. a. bei Jakob ben Reuben, Mil½amot § 11 (Rosenthal S. 146; vgl. Rembaum, Testament, 205 f), der Mt 5,33–37 mit den Worten kommentierte: „Es zeigt sich an dieser Stelle, dass er hinzufügt und wegnimmt (ĥīĘĕĘ ĦĜĤĘġ). Wegnimmt, indem er sagte, ihr sollt überhaupt nicht schwören, und damit zerstörte (īĭĤ), was Mose sagte: ‚In seinem Namen sollst du schwören‘ (Dtn 6,13).“ Auch das berühmte „Zitat“ von Mt 5,17 in bShab 116b übersetzt in Anlehnung an Dtn 4,2; 13,1, vgl. Deines, Gerechtigkeit, 280 f. 75 Ebenfalls schon bei Jakob ben Reuben, Mil½amot § 11 (Rosenthal S. 146), in seiner Zurückweisung des Gebotes der Feindesliebe. Aus Mt 5,43 f folge, dass Jesus „alle Gebote, Satzungen und Weisungen auflöst“ (ĭĘīĘĭėĘ ĠĜěħĬġėĘ ĠĜĪĘĚė ğĞ ĪīĘħ ēĘėĬ) und darum die, die ihm anhängen, nicht gleichzeitig die Tora Moses, die eine Tora des Rechts ist ( ēĜėĬ ėĬġ ĭīĘĭ ěħĬġ ĭīĘĭ), und die Tora der Gnade (ĢĚė ĭīĘĭ) befolgen können (ĘġĜĜĪĭ ēğ). Vgl. außerdem G. Dalman, Jesus-Jeschua. Die drei Sprachen Jesu, Leipzig 1922, 52–62, der das Wortpaar ĠĜĜĪğ / ğěĔğ auch als Grundlage von Mt 5,17 mit Nachdruck zu begründen versuchte.

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Roland Deines

3. Mt 5,17 ff und das Nichtbefolgen der Beschneidung und des Sabbats (§§ 120–128) Der letzte Beleg für die Verwendung von Mt 5,17 ff findet sich in einer längeren Auseinandersetzung über die Beschneidung als pars pro toto lege (§§ 120–127). Der Beginn der Einheit ist in den einzelnen Rezensionen verschieden. Die Langversion von QiÈÈa setzt mit dem Verweis auf die Gesetzgebung am Sinai ein, während die Parallelversion76 wie die NestorÜberlieferung mit einem Vergleich zwischen Mose und Jesus anfängt, der mit einem Hinweis auf Mt 5,17 ff endet. Ausgangspunkt ist Ex 33,20, wonach selbst Mose nicht erlaubt wurde, Gottes Angesicht zu sehen (§ 118), während es von Jesus im Evangelium heißt, dass man ihm ins Angesicht spuckte, ihn schlug, marterte, kreuzigte und mit dem Speer in die Seite stieß (§ 119).77 Wiederum dient dies dem Argument, dass eine solche, Misshandlungen unterworfene Gestalt nicht „Gott“ sein könne. Darüber hinaus geht es dem Verfasser darum, den Widerspruch zwischen der Aussage Moses und den Behauptungen der Christen über Jesus aufzuzeigen. Ihre Brisanz erhält die Argumentation dadurch, dass die christliche Position, wonach Jesus „Gott“ ist, gleichsam akzeptiert wird. Denn nur unter dieser Voraussetzung bilden beide Aussagen einen Selbstwiderspruch: Jesus kann ja (als Gott) nicht zu Mose gesagt haben, dass niemand Gott (nämlich ihn, Jesus) sehen kann, ohne sterben zu müssen, und es dann sogar dulden, dass man ihn ins Gesicht schlug, ohne dass den Täter die angedrohten Folgen trafen. Auch der mögliche Einwand, dass Moses Aussage falsch ist, führt nicht weiter, da sich Jesus ja ausdrücklich zur Tora Moses bekannte, wofür als Beleg (allerdings nur in Ms. A und C) erneut Mt 5,17.19 in einer gegenüber den bisher zitierten Fassungen wiederum veränderten Form angeführt wird. Nestor Ms. B § 120 Wenn Jesus Gott war gemäß deinen Worten, (dann) log er Mose an, als er zu ihm sagte: „Kein Mensch soll mich

Nestor § 12078 If Jesus was God according to your words, then he gave the lie to Moses79, to whom the Lord, may He be blessed, said:

76 Die Parallelversion ist nicht übersetzt, der Text endet mit einem Hinweis auf Mt 5,17 ähnlich wie in § 70, vgl. Lasker / Stroumsa I, 75 Anm. 5; II, 49. 77 Die QiÈÈa-Langfassung und von ihr abhängige Traditionen nennen mit Archelaus sogar den Namen dessen, der Jesus ins Gesicht schlug, vgl. § 119 u. dazu Lasker / Stroumsa I, 159. Auch andere Namen aus der apokryphen Evangelienüberlieferung wie Salome, die Hebamme Marias, und Longinus, der Soldat, der mit seiner Lanze Jesus in die Seite stieß, finden sich in QiÈÈa / Nestor. Zur Tendenz der apokryphen Evangelienüberlieferung, anonyme Figuren des vorgegebenen Stoffes mit Namen zu kennzeichnen, vgl. W. Bauer, Das Leben Jesu im Zeitalter der neutestamentlichen Apokryphen, Darmstadt 1967 (Ndr. von Tübingen 1909), 516 ff. 78 Lasker / Stroumsa I, 122 bieten in der Übersetzung einen Mischtext aus allen drei NestorHss., weshalb hier Ms. B noch einmal gesondert übersetzt wird (zum Text s. II, 106 bzw. 126). 79 Die Übersetzung von ĔęĜĞ (so Ms. B) bzw. ĔęĞ (so Mss. A u. C) ist schwierig. M. E. wäre in beiden Fällen „belügen“ vorzuziehen.

Die Verwendung der Bergpredigt sehen und leben bleiben.“ Aber du weißt, dass es eine große Schande für Jesus wäre zu lügen, und umso mehr für dich, wenn du gegen deinen Gott lügen würdest. Und weiter, wenn Mose log, dann stellst du Jesus als „ungenügend“ dar in der Königsherrschaft der Himmel. Ms. A ĭīĘĭġ īĜĤĚėğ Ęē īĘĭĤğ ĜĭēĔ ēğ Ĝģē ĭēğġğ Ġē ĜĞ ėĬġ ğěĔġĬ Ĝģħġ īĤĚ ĘĭĘē ēīĘĪ 'ġĘğĞ 80 .ėĬġ ĭīĘĭ ĜīĔĖ

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„Man shall not see Me and live.“ You know it is a great disgrace even for a black slave to lie, let alone for you to lie about your God. Furthermore, if he gave the lie to Moses, then you have rendered Jesus deficient in the Kingdom of Heaven, since he said in the Gospel (ĢĘĜğĕ ĢĘĥĔ): „I have not come to contradict 81 the Torah of Moses or to find it deficient, but to fulfill,“ namely, he calls the person who annuls the words of the Torah deficient. If you say: „What is his deficiency?“ [the answer is]: is there a greater deficiency than making God both deficient and a child, may God’s memory be exalted above this testimony!

Auch an dieser hebräischen Übersetzung von Mt 5,17 ist die Wiedergabe der Verben interessant, indem für ͘͜͡΃ٓ͠͞ als Äquivalent das der prophetischen Erfüllung zugehörende ēğġ gewählt wurde.82 Der Fortgang der Argumentation in den beiden Fassungen ist inhaltlich eng verwandt, die Formulierungen sind jedoch sehr verschieden. Besonders QiÈÈa betont die Beschneidung als religiöse Verpflichtung, die wichtiger sei als das Opfer, da dies nur jemandes Eigentum, die Beschneidung dagegen den eigenen Körper betreffe (§ 121, vgl. Nestor § 123). Betont wird, dass „your God Jesus was circumcised when he was eight day old, according to the Law of Moses“. Am Ende steht darum die Frage: „Now tell me about your current law concerning circumcision – is it based on God’s command or on Jesus’?“83 Der Fragesteller setzt bei seinen Adressaten offensichtlich voraus, dass sie die Nichtbeachtung der Beschneidung auf ein Gebot Jesu 80 Dieser Teil ist nicht einfach zu verstehen. M. E. sollte übersetzt werden: „d. h., er (= Jesus) stellt sich selbst als ungenügend dar, weil er Worte der Tora aufgehoben hat“ (indem er die Aussage über Gottes Nichtsehbarkeit für eine Lüge erklärte und so die Tora an diesem Punkt aufhob). 81 Das Verb īĭĤ kann außer „widersprechen“ auch „zerstören“ heißen und steht in dieser Bedeutung ΂͖͚͒ͥ͒ͮ͜͞ näher. Auch īĜĤĚėğ sollte m. E. eher mit „vermindern“ i. S. v. etwas wegnehmen bzw. bezogen auf die Tora „für ungültig erklären“ verstanden werden. 82 Vgl. Deines, Gerechtigkeit, 130 f. Im vorliegenden Zusammenhang ist ēğġ jedoch im Sinne von Gesetzeserfüllung durch ein bestimmtes Verhalten zu verstehen. Die gelegentlich zu lesende Behauptung, dass ēğġ „in Verbindung mit Gesetz nicht semitisch sei“ (weshalb dann hinter Mt 5,17 auch kein „semitisches Original“ gestanden haben kann [so U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus I: Mt 1–7, EKK 1.1, Düsseldorf u. Neukirchen 52002, 306 Anm. 8.]), gilt also zumindest für das mittelalterliche Hebräisch nicht. 83 § 121, Lasker / Stroumsa I, 75. Die Parallelversion entspricht der Nestor-Überlieferung.

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Roland Deines

zurückführten84, woraus dann ein zweifaches Argument gewonnen werden kann: Jesus – als Gott – gebot Abraham und durch Mose für alle die Beschneidung und hob dann angeblich sein eigenes Gebot wieder auf, d. h. widersprach sich. Das aber darf man von einem Gott nicht behaupten. Zudem fiele dann erneut die Aussage von Mt 5,19 auf Jesus selbst zurück, indem er von der Tora Moses etwas wegnahm (QiÈÈa § 122). Dass Jesus beschnitten war, so die zweite Argumentslinie, zeige aber, dass er das Gebot eines anderen befolgte (d. h., hier wird Jesus als Mensch in den Blick genommen), weshalb er unmöglich Gott sein könne (vgl. oben zu § 33). § 123 setzt noch einmal neu ein mit dem Blick auf Abraham und alle Propheten nach ihm, die beschnitten waren. Wenn ihre Beschneidung gemäß Gottes Gebot war, dann können die Christen nicht behaupten, dass sie ein Irrtum war. Die Argumentation basiert auf der a priori-Voraussetzung, ein Gebot Gottes müsse für alle Zeiten unverändert gelten. Es ist demnach nicht möglich zu behaupten, dass die Beschneidung bis Jesus gültig war, aber von da an für die, die an ihn glauben, nicht mehr heilskonstitutiv sei. Aus der Sicht der QiÈÈa würde dies die Wahrheit der Beschneidung der „virtuous forefathers“ aufheben und sie ins Unrecht stellen (vgl. bes. § 124 Nestor). Die Adressaten werden damit vor die falsche Alternative gestellt: If they were following the truth, then your deeds are the opposite of the truth, and you are following falsehood. And if you say: „What they did was wrong,“ then you contradict Jesus, making him one of those called „deficient“ in the Kingdom of Heaven, since he contradicted Moses’ Torah, the same Torah whose precepts he was upholding, putting a curse on anyone who would abrogate any part of it.85

Offenbar verstand der Verfasser „deficient“ in Mt 5,19 (das auf ֐͍͚ͨͤͥͣ͜͠ ΂͘͜ͱ͏͖͚ͤͥ͒ zurückgeht) als einen Fluch im Sinne von Dtn 28,15 ff.86 Die hebräischen Fassungen von § 123 bieten einen je leicht veränderten Wortlaut, wobei v. a. Mss. A und C87 den Bezug zu Mt 5,18 f verstärken: 84 So ausdrücklich die Parallelversion und Nestor: „Furthermore tell me: did Jesus act according to his own religious practice (ĕėģġ) or according the religious practice of someone else? If you say his own religious practice, you have lied since he did nothing other than observe the Torah of Moses, since he was circumcised at the age of eight days as the Lord commanded. Tell me, who commanded you to give up circumcision?“ (Nestor § 122, Ms. B, Lasker / Stroumsa I, 122; nahezu identisch auch Ms. A u. C, vgl. die Texte II, 106.126). 85 QiÈÈa § 123 (Lasker / Stroumsa I, 76). 86 Vgl. auch § 146 (nur QiÈÈa): „Your Messiah, Jesus, used to praise the Torah and follow its rule, and he always used to curse whoever changed the law of Moses or a single word of it. But nowadays all of you contradict the law Moses and do not uphold it.“ 87 Sie sind weitgehend identisch, vgl. Lasker / Stroumsa II, 126 f. In Ms. B folgt das Zitat aus Mt 5,17 f erst in § 126 (s. u.). Der Satz endet hier mit der Aussage, dass Jesus ėĬġ ĭīĘĭġ īĤĚ wäre, d. h. wohl „ungenügend in Bezug auf …“ oder „geringer als die Tora Moses“. Eventuell ist aber auch Text ausgefallen. In der Nestor-Überlieferung steht der Verweis auf das īĤĚ-Sein Jesu noch einmal am Ende von § 124, und zwar in der Wendung ĠĜġĬ ĭĘĞğġĔ īĤĚ (II, 106.127).

Die Verwendung der Bergpredigt Übersetzung Sage mir über die Propheten, ob sie die Wahrheit taten oder ob nicht? Wenn du sagst, dass sie wahr handelten, siehe dann handelt ihr trügerisch und lügnerisch, denn geboten worden ist euch, sich beschneiden zu lassen; und die Beschneidung ist ein großes Gebot, und sie ist der Beginn des Opfers, das der Mensch Gott dargebracht hat. Aber wenn du sagst, dass sie falsch handelten, dann stellst du Jesus als „ungenügend“ dar, denn „ungenügend“ wird jeder genannt, der einen Buchstaben wegnimmt von der Tora Moses, unseres Lehrers, Friede sei mit ihm.

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Nestor Ms. A § 123 ĘĬĥ ĭġēĔ Ġē ĠĜēĜĔģė ğĥ Ĝğ ēģ ĖĕėĘ ?Ęēğ ĠēĘ īĪĬ ĠĭĜĬĥ ėģė ĘĬĥ ĭġē īġēĭ Ġē ēĜė ėğĜġėĘ ğĘġĜğ ĠĭĜĘěĩģ ĜĞ ĔęĞĘ ĔĜīĪėĬ ĢĔīĪ ĭğĚĭ ēĜėĘ ėğĘĖĕ ėĘĩġ .'ėğ ĠĖē

ĘĬĜ ĭē ĭġĬ ĘĬĥ ēĘĬ ĜĞ īġēĭ ĠēĘ ĭĘē īĜĤĚġė ğĞ ēīĪĜ īĤĚ ĜĞ īĤĚ .ė''ĥ ĘģĜĔī 88ėĬġ ĭīĘĭġ ĭĚē

In § 124 wird diese Argumentation fortgesetzt, wobei QiÈÈa erneut von einem unveränderlichen Gotteswillen her argumentiert. Als Ausgangspunkt wird der christliche Standpunkt vorausgesetzt, dass Jesus „Gott“ ist. Er (Jesus als Gott) gebot Mose die Beschneidung und ließ sich selbst als Kind beschneiden. Nachdem er erwachsen geworden war, verbot er dagegen die Beschneidung.89 Das aber würde bedeuten, dass Jesus seine Meinung geändert hat, was impliziert, dass er vorher unwissend handelte und darüber hinaus Mose und die anderen Väter mit einem falschen Gebot auf den Weg des Irrtums führte. Ein Gott, der sein eigenes Verhalten korrigiert und seine Anhänger in die Irre führt, ist aber schlechterdings eine Unmöglichkeit. In § 125 wird das Argument umgedreht: Die Christen werden gefragt, ob es falsch war, dass Jesus als Säugling beschnitten wurde. Sagen sie, es war rechtens, dann wich Jesus (wieder unter der Voraussetzung, dass er später die Beschneidung verbot) als Erwachsener vom rechten Weg ab und kann darum weder als Vorbild noch als Gott gelten. Das gilt auch, wenn er die Beschneidung nur an sich geschehen ließ, denn das hieße, sich als „Gott“ einem fremden Willen zu unterwerfen. Beurteilen die Christen die Beschneidung dagegen als etwas Falsches, dann entsteht erneut der Widerspruch zu Mt 5,17:

88 Vgl. Mt 5,18: ր͝‫ ͣͪ֕ ̫͞ل͝׉ ͔͎ͪ͜ ΃פ͔ ͞ר‬ւ͞ ͒͡΃͎͜ͱ‫ض͔ ֝ ת͒΂ ͣ׬͒͞΃׈͠ ֽ ش‬, ֬٠ͥ͒ ֓͞ ֞ ͐͒͝ ΂͖΃͒͐͒ ͠‫ شͱ͎͜΃͒͡ ר͝ ׈‬ր͡‫ͦͭ͠͝͞ ٓͥ͠ ׬‬, ֕ͪͣ ͍ͥ͒͡͞ ͔͎͚ͥ͒͘͞. Die Wendung „ein Buchstabe“ erinnert eindeutig an Mt, und doch ist die Aussage eine völlig andere. Während Nestor ein aktives Verkleinern der Tora im Blick hat (vgl. īĜĤĚġė), handelt es sich bei Mt um eine apokalyptische Aussage, wie das Verb ͒͡΃͎΃͖ͨͤͱ͚͒ belegt, vgl. Deines, Gerechtigkeit, 337 f. 89 Wieder wird diese Ansicht vorausgesetzt, obwohl sich ein Beschneidungsverbot Jesu im NT nicht findet. Hier gibt der Verfasser offenbar ein populäres Argument wieder, vgl. § 127.

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QiÈÈa § 126 And if you say: „He followed falsehood,“ this implies that the Torah of Moses is invalid, and so are the sayings of your Messiah and God, because he said: „I have not come to abolish the law of Moses but to fulfill it in justice and equity.“ 90

Nestor Ms. B § 126 Do you not know that Jesus said:

„I have not come to diminish one letter from the Torah of Moses“? ( ĜĭēĔ ēğ ĭĚē ĭĘē ėĬġ ĭīĘĭġ īĜĤĚėğ)91

Ms. B bringt also erst in § 126 das Mischzitat aus Mt 5,17 f, das in Ms. A und C schon am Ende von § 123 stand. Diese beiden Handschriften bieten stattdessen in § 126 eine hebräische Transkription des griechischen Textes, allerdings nur von Teilen von V. 17: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz Moses aufzulösen, sondern zu erfüllen.“92 Darauf folgt (§ 127) eine lange Liste von Gesetzesübertretungen der Christen und Jesu, mit der die Aussage Mt 5,17 als Lüge entlarvt wird. Jesus habe weder selbst die Tora gehalten noch seine Nachfolger dazu angehalten. Das wird ausführlich am Sabbatgebot dargestellt, dessen Übertretung mit der Todesstrafe geahndet wird, die nach QiÈÈa auch auf Jesus Anwendung finden sollte: QiÈÈa § 127 … This means that both Jesus and yourselves should be put to death, since Jesus did not order you to observe the Sabbath; indeed, neither he nor you observe it. He authorized you, as you claim, to abandon the Torah and its precepts, such as circumcision and the Sabbath. He caused all of you to be uncircumcised, forever impure, with no possibility of cleansing yourselves of impurity. Instead of Sabbath, he gave you Sunday. He freed you from the onerous commands and prohibitions, and in their stead he

Nestor Ms. B (… Zitat Dtn 5,12 …) I see that Jesus lied since he said: „I have not come to diminish.“ ( ĔęĜĞ ĘĬĜ īĜĤĚėğ ĜĭēĔ ēğ īġē ĜĞ)93

Nevertheless, I see that he abolished (ğěĜĔ) the Sabbath day and replaced it with Sunday, and he abolished (ğěĜĔĘ) circumcision; but he commanded you to be baptized in the stinking waters, to buy

90 Lasker / Stroumsa I, 76 (Übers.); II, 68 (Text). Die Parallelversion enthält ebenfalls das Zitat aus Mt 5,17, allerdings ohne den Zusatz „in justice and equity“. 91 Lasker / Stroumsa I, 123 (Übers.), II, 107 (Text). Die Unterschiede zwischen Ms. B und Mss. A und C sind mit Ausnahme des Zitats gering. 92 Zum Text vgl. Lasker / Stroumsa II, 127, zur Retranskription ins Griechische vgl. I, 182, wo allerdings nur die Textform von Ms. A wiedergegeben wird (die weitgehend mit der in § 35 übereinstimmt, s. o. S. 12 f), von der Ms. C (s. II, 127 Anm. 20) abweicht (wobei die Unterschiede die Aussprache und Wortabtrennungen betreffen, nicht den Umfang des Zitats). 93 Auch die Parallelversion zitiert an dieser Stelle Mt 5,17, vgl. Lasker / Stroumsa II, 69.

Die Verwendung der Bergpredigt ordered you to ring the bells94 and to worship the cross, which is made of gold and silver. He also ordered you to eat pork95 and to make sacrifice of bread and wine, which becomes smelly dung inside your bodies.

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a rotten tree and make from it an image from which there is no benefit, to eat the flesh of swine and every creeping thing, to sacrifice bread and wine, communio in Latin, bringing it into your body and making from it excrement and stench.96

Es ist schwer vorstellbar, dass dem Verfasser, wenn er wirklich, wie er behauptet, die Evangelien durchgelesen hat, nicht aufgefallen ist, dass sich diese angeblichen Vorschriften Jesu darin nicht finden. Die Quelle für solche Behauptungen scheinen mir eher Gespräche mit einfachen Christen gewesen zu sein, die auf Nachfrage, warum sie dies oder jenes tun oder nicht tun, wohl häufig zur Anwort gaben: „So hat es uns Jesus geboten.“ Eine weitere mögliche Quelle können die sogenannten ‚Apostelgeschichten‘ sein, die Teil der Toledot Jeshu-Tradition sind.97 Da finden sich Anweisungen von Jochanan (Johannes), Abba Sha’ul (Paulus), Nestorius98 und Shimon Kefa, die alle nur zum Schein Christen geworden, in Wahrheit aber dem Judentum treu geblieben waren und nun den Christen Gebote gaben, die sie vom Judentum trennen sollten. In diesem Zusammenhang findet sich wiederholt die Aufforderung, den Sonntag zu halten statt des Sabbats,99 unreine Speisen zu essen100 und die Beschneidung zu unterlassen.101 Unmittelbar anschließend, aber inhaltlich widersprüchlich, folgt in QiÈÈa §§ 128–135102 eine Auseinandersetzung mit der christlichen Sitte, die Ver94 Die Parallelversion ergänzt: „instead of (blowing) the horn“ (d. h. das Widderhorn, vgl. Lev 25,9 u. ö.). 95 Die Parallelversion ergänzt: „and eel“. 96 Lasker / Stroumsa I, 123 (Übers.), II, 107 (Text). Mss. A u. C bieten einen stark abweichenden Text (bei Lasker / Stroumsa nicht übersetzt, s. II, 127). Das Zitat Mt 5,17 fehlt, dafür finden sich zwei längere griechische Zitate (bei Lasker / Stroumsa nicht transkribiert). Das erste, das die Aufgabe des Sabbats zugunsten des Sonntags (kyriakin [ĢĜĪēĜĜīĜĪ] bzw. anastasin [ĢĜĬēěĬēģē] genannt) begründen soll, wird Paulus zugeschrieben, kann aber keinem neutestamentlichen Brief entstammen. Das zweite Zitat begründet das Essen von unreinen Tieren, eingeführt mit „und so sagt Markus“. Es enthält zumindest im ersten Teil ein Mischzitat mit Elementen aus Mk 7,1–5. 97 Als Überblick vgl. G. Schlichting, Ein jüdisches Leben Jesu. Die verschollene ToledotJeschu-Fassung Tam nj-mnj‘Ɨd. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, Motivsynopse, Bibliographie, WUNT 24, Tübingen 1982. Zu den ‚Apostelgeschichten‘ s. ebd., 31 f.163–187, außerdem T. Arndt, Eine jüdische Sicht auf die Trennung der Kirche von Israel, leqach 1, 2001, 56–72. 98 Er wird ausdrücklich als Nichtjude bezeichnet, der „nach vielen Jahren“ auftritt (ed. Schlichting § 332). Seine Botschaft ist der von „Nestor“ nahe verwandt, zudem finden sich in dem kurzen Abschnitt über Nestorius (ed. Schlichting §§ 332–338 [S. 176–179]) einige klare Bezüge zu Mt 5,17. Dem Zusammenhang zwischen diesem Nestorius, der in der Reihe von Johannes, Paulus und Petrus schon immer etwas deplatziert wirkte, und der Nestor-Überlieferung sollte nachgegangen werden, s. Schlichting, Leben, 224 f; Lasker / Stroumsa I, 21; Lasker, QiÈÈat, 114 f. 99 §§ 304.325.327 (ed. Schlichting). 100 § 321 (ed. Schlichting). 101 § 322, vgl. 334 (ed. Schlichting). 102 Zu §§ 133 f s. ausführlich Rosenkranz, Auseinandersetzung, 253–266.

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storbenen in der Kirche zu bestatten, und dem zölibatären Leben der Mönche und Nonnen. Beides gilt als Beispiel für christliche Übertretungen der Tora. Für den Verfasser geht aus dieser Haltung nichts als Hass gegen die Juden und ihr Gesetz hervor. Und darum hebt er dann noch einmal – nachdem er zuvor Jesus als Sabbatübertreter geschildert hat – die toratreue Haltung Jesu hervor. In der Nestor-Überlieferung wird das Verhalten Jesu dagegen auf zwei Epochen verteilt. Als „Kind“ befolgte er die Tora, und erst später gab er durch seine Boten den Befehl, sie aufzugeben. QiÈÈa § 128 … For Jesus always considered as admissible that which is admissible to the Children of Israel, and he held as sacred what they consider sacred, from the day he reached understanding until the day he died, as you yourself claim.104

Nestor Ms. B § 128103 … All of these [practices] are not present in the Torah of Moses, and God did not command them, but Jesus changed all these things (ėğē ğĞ ĭē ėģĜĬ ĘĬĜĘ). If you say that Jesus chose to do all these practices in his childhood, you have lied about Jesus who would not have prohibited that which the Holy One, Blessed be He, did not prohibit and would not have allowed that which the holy One, Blessed be He, did not allow.

Je nach Kontext wird Jesus als gesetzesobservant dargestellt, um die Christen als Gesetzesübertreter und untreue Nachfolger Jesu brandmarken zu können, oder gilt selbst als Gesetzesübertreter, der andere zu ihrem falschen Verhalten anstiftete. Der Umgang mit Verstorbenen (§§ 128–134 [§§ 131 f fehlen bei Nestor]), die Verehrung des Kreuzes (§ 134) und das Zölibat (§ 135) dienen dabei als Beispiele, wie stark sich die Religion der Christen von der Tora abgewandt hat. Am Ende der Reihe steht dann (nur Parallelversion und bei Nestor) wieder der Hinweis, dass Jesus als „ungenügend“ dargestellt würde, führte man diese Veränderungen auf ihn zurück (§ 135). 4. Die fünfte und sechste Antithese (Mt 5,38.43–47) als Beleg für Jesu Übertreten der Tora (§§ 136 f) Im Anschluss und (in QiÈÈa deutlicher als bei Nestor) verbunden mit dieser Auseinandersetzung um die Tora folgt als Abschluss ein Abschnitt, der in relativ freier Weise auf die fünfte und sechste Antithese (Mt 5,38.43–47) Bezug nimmt, die als Belege für Gesetzesübertretungen Jesu gelten. 103 Mss. A und C weisen hier keine signifikanten Abweichungen auf. Zur Übersetzung vgl. Lasker / Stroumsa I, 123; Texte: II, 107.127 f. 104 Die Parallelversion fügt hier wie Nestor den Hinweis auf die Boten ein, die für die Veränderungen verantwortlich seien (kursiv), der Text von § 128 in der Parallelversion ist aber insgesamt kürzer und weist große Unterschiede zur Langversion auf. Zur Übersetzung s. Lasker / Stroumsa I, 77 mit Anm. 6; Text: II, 70.

Die Verwendung der Bergpredigt

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Jesu Verbot der Vergeltung und seine Aufforderung, Böses mit Gutem zu vergelten, wird als Übertretung von Ex 21,24; Lev 24,20 verstanden105 und darüber hinaus als Anmaßung, indem er den so Handelnden die Verheißung gibt, Gottes Kinder zu sein (Mt 5,45a: ׁͪͣ͡ ͔͎ͤ͘͞ͱ͖ ֭ͦ͠‫ٓͥ͠ ת‬ ͒ͥ͡΃‫͝׉ ͣ׬‬٠͞ ͥٓ͠ ֐͞ ͠‫)ͣل͒͠͞΃׈‬.106 Zugleich benützt der Autor diese Verheißung als ein Argument gegen Jesus selbst: Was ist seine besondere Stellung, wenn alle aufgrund eines bestimmten Verhaltens Gottes Kinder werden können? Zudem gelte, dass die, die nach diesen Worten gehandelt hätten, mitnichten Gottes Kinder geworden sind, d. h., das Ausbleiben von irgendwelchen sichtbaren Zeichen der Kindschaft wird hier als Argument gebraucht. Mt 6,14 f wird in gleicher Weise als Beleg dafür angeführt, dass jeder Gottes Sohn werden kann (wegen der Wendung „euer Vater im Himmel“, die offenbar im Sinne der Verheißung Mt 5,45a verstanden wird), der anderen ihre Schuld vergibt (§ 137). QiÈÈa §§ 136 f Do you not know that it is written in the Torah: „Eye for eye, tooth for tooth,“ but in the Gospel it is written contrary to the Torah:108

105

Nestor §§ 136 f (Ms. B)107 You have made a change in that you changed that which the Lord commanded Moses: „Eye for eye, etc.“ He109 said: „If anyone strikes you on the right cheek, turn to him your left one.“ 110 (Latin*)

Auch ¼asdai Crescas im 14. Jh. zitiert Mt 5,39 als Beleg dafür, dass Jesus trotz seiner Beteuerung in Mt 5,17 die Tora verändert habe. Mt 5,43 f wird in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt: „It is clear that the divine Torah does not command hating anyone except the enemies of God, as David, of blessed memory, praised himself, ‚Do I not hate them that hate You O Lord [Ps 129:21].‘ [The Torah] prohibits hating anyone other than enemies of God, for he who loves them is wicked. And if [Jesus] commanded to love them, why did the Torah command to hate them, and if [the new Torah] did not command to hate the enemies of God, then this command contained a great mistake (ėğĘĖĕ ėĕĕĬ).“ Zu Text und Übersetzung s. D. J. Lasker, The Refutation of Christian Principles by Hasdai Crescas, SUNY Series in Jewish Philosophy, Albany 1992, 73; ders., R. ¼asdai Crescas, Sefer Bittul Iqqarei Ha-Nozrim. Translation of Joseph Ben Shem Tov, Ramat Gan u. Beer-Sheva 1990, 83. 106 Vgl. Lasker / Stroumsa I, 124 f u. II, 107 f (zur hebräischen Fassung, die leichte Abweichungen aufweist, aber dieselbe Argumentationsstruktur besitzt) sowie I, 162 f (Kommentar zur Stelle). 107 Zu Text und Übersetzung s. Lasker / Stroumsa I, 79.124 f; II, 73 f.107.128 f. Zu den lateinischen Glossen in Ms. B s. I, 175. Sie folgen jeweils nach der hebräischen Übersetzung, dort, wo (Latin*) in der Übersetzung steht. Mss. A und C bieten an dieser Stelle keine Glossen, doch findet sich in Ms. C in § 136 dreimal jeweils nach dem Bibelzitat die Einleitung: ĠģĘĬğĔ ēĘė ĢĞĘ „und so heißt es in ihrer Sprache“, d. h., entweder besaß die Vorlage die griechischen Zitate noch, oder sie sollten an dieser Stelle noch eingefügt werden, was aber aus irgendeinem Grund unterblieb. 108 Die Parallelversion bietet wie Nestor hier noch zusätzlich Mt 5,39b–41, vgl. Lk 6,29. 109 So Mss. A und C. In Ms. B ist als Subjekt jedoch „Paulus“ (ĤĘğĘēħ) genannt (II, 107). 110 So Ms. B. In Ms. A heißt es dagegen: „Und er sagte: Wenn ein Mensch dich schlägt mit der rechten Hand, erlaube ihm (auch), dich mit seiner Linken zu schlagen.“ D. h., im einen Fall geht es um das Schlagen auf die rechte und linke Wange, im anderen um das Schlagen mit der rechten und linken Hand (obwohl auch Ms. A in der Fortsetzung vom Schlagen auf die Wangen spricht). Ms.

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„Love your neighbor and hate your enemy: Bless those who curse you and do good to those who mistreat you; pray for those who speak ill of you, so that you may be sons of your father who is in heaven. If you salute your brothers, then you deserve a great reward.“ 111

And he who asks for your clothing give it to him. He who forces you to walk a mile, go with him two miles. Furthermore, it is written in the Gospel: „Love your enemy, and bless him who curses you, and do good to the one who does you evil.“ (Latin*) „And pray to the Lord to help him who persecutes you, and if you do this you will be sons of your Father Who is in heaven ... If you salute your brothers, you are doing a great act of kindness.“ I see now that those who are struck on the cheek and give their clothing to those who ask it of them, and those who are forced to walk, and he who blesses the one who curses him, are not sons of God.

Now if whoever performs these injunctions is the son of God, as Jesus said in the Gospel, then Jesus has no advantage over whoever performs them, as he said that they are the sons of God. This implies that they become like him in might and divinity, for according to your claim, Jesus is God’s son – God is exalted far May God be exalted and elevated above above such attributes, and too sublime to all these things which you say concernhave a child ascribed to Him! ing paying back evil with good, as Jesus said, that he who does this thing will be the son of God! [137] It is also written: „If you repay evil [137] It is written in the Gospel that if with evil, you will receive no reward you pay back the evil-doer according to from your father who is in heaven. If you his evil, you have no portion before your forgive people their wicked deeds, then Father in Heaven; and if you forgive your father who is in heaven will forgive people for your evil then your Father in you your wicked deeds. And if you do not Heaven will also forgive your sins. forgive their wicked deeds, then your And I now see that Jesus says that he father who is in heaven will not forgive who forgives his friend is the son of God. your wicked deeds.“ 112

Es folgt eine Nacherzählung und tendenziöse Interpretation von Mt 8,1–4 (§ 138), die in QiÈÈa erkennbar als Abschluss der Bergpredigt eingeleitet C ist eine Mischform zwischen beiden Varianten, die inhaltlich nicht aufgeht: „Und er sagt: Wenn ein Mensch dich schlägt mit der rechten Hand, erlaube ihm (auch) deine Linke zu schlagen.“ 111 Mt 5,43–45a.46. Die Abweichungen sind hier recht groß; man hat den Eindruck, dass der Verfasser den Text nicht wirklich verstanden hat. In der hebräischen Fassung lautet das Zitat aus 5,46 f über das Grüßen der Brüder: ğĘĖĕ ĖĤĚ ĘĬĥĭ ĠĞĜĚē ĠĘğĬĔ ĘğēĬĭ ĠēĘ. Da anschließend der Wunsch folgt, Gott möge über solchen Unsinn erhaben sein, ist u. U. īĤĚ für ĖĤĚ zu lesen: „Und wenn ihr (nur) eure Brüder grüßt, macht ihr einen großen Fehler.“ Das käme der mt Intention näher als der vorliegende Text und würde besser die Entrüstung des Verfassers erklären. 112 Mt 6,14 f. Eine Handschrift ergänzt (vgl. Nestor): „So Jesus claims that he who forgives his fellow men is the son of God“, s. Lasker / Stroumsa I, 79 Anm. 6.

Die Verwendung der Bergpredigt

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ist,113 ehe dann v. a. neutestamentliche Texte aus der Passionsgeschichte aufgegriffen werden, um zu demonstrieren, dass dieser klagende, verzagte, betrogene und verurteilte Mann unmöglich Gottes Sohn sein kann (§§ 139– 182). Das aus Mt 8,4 gewonnene Argument verknüpft beide Einheiten. Es zeigt zum einen, dass Jesus selbst kein eigenes „Gesetz“ hatte, sondern einem anderen, dem des Mose, folgte. Demnach kann er, wie schon in § 33 (s. o.) betont wurde, unmöglich Gott sein. Das wird im Folgenden aufgrund seiner Menschlichkeit und Niedrigkeit noch einmal im Detail begründet. Nur in der QiÈÈa-Hs. P und einem mit ihr weitgehend übereinstimmenden Geniza-Fragment findet sich in diesem Abschnitt noch einmal eine deplatziert wirkende summarische Darstellung der Haltung Jesu zur Tora, die sich wie eine Zusammenfassung von §§ 120 ff liest und ebenfalls auf Mt 5,17 ff anspielt. Sie steht hier im Kontext der Versuchungsgeschichte (vgl. §§ 145.148114), ohne darauf allerdings Bezug zu nehmen: In truth, do you not know that your Gospels testify to the veracity of the Torah and the truth of what it says, and that God, glory to His power, revealed it through Moses son of Amram on the day of the assembly before Mount Sinai? Your Messiah, Jesus, used to praise the Torah and follow its rule, and he always used to curse whoever changed the law of Moses or a single word of it. But nowadays all of you contradict the law of Moses and do not uphold it. You have become the laughing stock and an object of mockery in the mouths of all intelligent people, in view of your Gospels and the opinions you express, both those over which you contradict each other and those on which you agree.115

5. Jesus oder die Tora Am Ende dieses letzten Teils, der noch einmal sehr disparat und auch in den verschiedenen Fassungen verschieden ist, und nahezu am Ende des Buches legt der Verfasser ein sehr persönliches Bekenntnis zur Tora ab. Sie steht ihm für alle Güter, die Christen mit Jesus in Verbindung bringen (vgl. 113 Der einleitende Satz lautet: „Do you not know that Jesus came down from the mountain, and a man come to him …“ (Lasker / Stroumsa I, 79), vgl. Mt 8,1: ̼͓͍͒ͥ͒ͥͣ͞͠ ͕‫ ٓͥ͠׈͒ צ‬ր͡‫׬‬ ͥٓ͠ ‫… ͣͦ͠΃׀‬, vgl. dagegen Nestor Ms. A: „Wisst ihr nicht, dass, als Jesus von Galiläa kam ( ēĔ ğĜğĕė Ģġ ĘĬĜ), ein Mann zu ihm kam …“ (II, 129), so Mss. A u. C, während Ms. B Jesus nach Galiläa gehen lässt: ğĜğĕĔ ēĔ ĘĬĜ (II, 108). Dass der Mann aussätzig war, wird nicht erwähnt. In QiÈÈa ist es der Wunsch des Mannes „rein“ zu werden, der Jesu Ohnmacht bezeugt, dies aus eigener Vollmacht zu tun, in Nestor ist das „rein“ werden als Taufe verstanden. Zur Nestor-Stelle s. auch Rembaum, Testament, 204. 114 § 146 fehlt völlig in der Parallelversion und der Nestor-Überlieferung; § 148 fehlt bei Nestor. § 147 fehlt dafür in Ms. P, ist aber in der Parallelversion und Nestor bezeugt. Das zeigt, dass zwischen § 146 und § 150 (auch § 149 fehlt in der Nestor-Überlieferung) eine Nahtstelle vorliegt und die einzelnen Fassungen unterschiedlich versuchen, an das Voranstehende anzuknüpfen. Die innere Zusammengehörigkeit ist aber nirgends so sehr gestört wie bei Ms. P, so dass § 146 wohl kaum ursprünglich hierher gehört. 115 Lasker / Stroumsa I, 81, zum Text vgl. II, 78. Zum Fluchmotiv s. o. bei § 123.

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Mt 11,28 ff). Der Konflikt zwischen Judentum und Christentum wird somit zugespitzt auf die Frage: Jesus oder die Tora? Und da die Tora alles enthält und nicht lügt, während die Botschaft Jesu voller Widersprüche und Irrtümer ist, fällt dem Verfasser die Wahl nicht schwer: [§ 178] Indeed I praise God, exalted and glorious is His name. For He helped me to please Him, and I was encouraged to obey His precepts. (…) [§ 179] For my time and my days had gone waste, since I abandoned the example of the Law of Moses, peace be on him. It is bright as the sun, shining as the moonlight. All nations testify to its truth, and all peoples listen to it attentively. It is the preexistent Torah, which precedes all creatures. It brightens the eyes, enlightens the hearts, and rightly guides those who err. There is neither negligence nor compulsion in it; it contains neither abrogated material nor lies of any kind. Indeed, it is God’s true Torah, which restores the heart, gives rest to the body and joy to the soul.116

In den noch folgenden §§ 180–185 der QiÈÈa wird dann noch einmal eine Zusammenfassung geboten, dass Jesus unmöglich Gott sein kann und weit unter Mose steht. Den Abschluss bildet ein Zitat aus Joel 4,18, d. h., eine eschatologische Erwartung ohne Messias steht bei QiÈÈa am Ende. Demgegenüber bietet Nestor einen stark erweiterten Schlussparagraphen, der den rechten Messias bekennt und mit der Bitte um sein Kommen und damit um das Ende des Exils und die Heimkehr nach Jerusalem (unter Aufnahme von Sach 8,7 f) endet. Diese von QiÈÈa bzw. Nestor begründeten Positionen, insbesondere die Verwendung von Mt 5,17 ff, prägten die jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum durch das gesamte Mittelalter hindurch bis zum Beginn der Neuzeit. Es sind dies die wohl am häufigsten zitierten Verse aus dem Neuen Testament in der jüdisch-polemischen Literatur, und auch innerhalb der exegetischen Wissenschaft gehören sie bis in die Gegenwart zu den umstrittensten Texten. Sie erinnern daran, dass die Stellung zur Tora und ihre Bedeutung im Leben der Christen einer der entscheidenden Konfliktpunkte zwischen Juden und Christen über die Jahrhunderte war und – wenn auch in veränderter Form – bis heute ist. Für das gegenseitige Verständnis kann es darum nur hilfreich sein, die vorgebrachten Argumente zu kennen, zu verstehen und in aller Offenheit auch über die darin zum Ausdruck kommenden Missverständnisse zu reden. Am fruchtbarsten erweisen sich diese polemischen Texte jedoch darin, dass sie noch einmal zu einem vertieftem Studium der ‚eigenen‘ Texte anregen, indem sie – durch die Brille eines anderen gelesen – ihre Anstößigkeit und ihren provokativen Charakter zurückgewinnen.

116 Übers. Lasker / Stroumsa I, 87; Text: II, 85. Der ganze Abschnitt §§ 158–179 fehlt in der Parallelversion und den hebräischen Fassungen, die einen eigenen Schluss besitzen.

Stellenregister

Altes Testament / Hebräische Bibel

30,11–16

Gen–Dtn 44, 50–53, 101 f, 205, 362 Genesis 1,27(.28) 279 ff, 287 f 2–3 283 ff, 288 3 294 7,9 279 12,3 366 14,7 270 16,5 274 17,23; 18,2 358 f 22,13a 358 268 f 38,25 f

Deuteronomium 8,17; 9,4 304 12,17 110 13,7 284 110, 141 14,23.24 f 17,17 280 f, 287 53 ff 18,18 (f) 21,10–17 282 21,23 264, 271 22,13–29 282 28,54 284 302–305 30,12 ff Josua 9,23

Exodus 3,14LXX 5,2 12 19,6 15,26 23,4 f 24 29,43 Leviticus 1,4; 4; 5,1 ff 6,10 6,17–23 10,1 ff 12,8 16 17,11 18,5 19,18 22,1–16 22,32 27,30 (ff) Numeri 11,22 18,7 20,10.12

290 138 f 335, 341, 348 124 224 71 214 263 276 214 119 212 263 266 205–215 206, 212 260, 269, 300 ff, 308 71 109 f 256, 259–262, 269 f, 273, 277 103, 110 f

266 f 119 266 f

2. Samuel 15,32 21,1–14

284

Joel 2,30 ff 3,5

183 f 306–309

Amos 4,7 9(,1)

199 205, 208

Nah 2,12 ff

56

Hag 1,10

198 f

Sach 8,4

178

Mal 1,10

119 f, 124

Psalmen 2,1 106,26LXX

44 188 304

Spr 16,4

259

Hhld 7,8 f

261

Ruth 3,14

269

Daniel 3

6,5.24Theod

44, 164, 248 f 148, 155, 157, 162–167, 169, 260 f 156, 204 156 148, 157, 162– 165, 167, 169 156

Nehemia 9,26–37 10,40 13,13

176 f 110 112

2. Chronik 2,16 f 24,20 ff 31,4.6 f 36,15–23

177 f 271 177 110 176 f

271

269 271

2Kön 5,18 f 273 Jesaja 1,13 6,2 f 8,2 28,16 29,23 (f) 46,4 52,5 53 58,13 63,15; 64,12

44 198 f 247 178 299, 306, 308 f 246, 251 f, 270 198 f 278 151, 191, 344 234 198 f

Jeremia 3,14 26,18

44 127 178

Ezechiel 3,20 20,9.14.22 36,(20–)23 38,23 43(,14–20) 45(,18.19)

44 266 276 244 f, 276 f 245, 255 205, 208 f, 214 209, 214

3,(28–)40LXX 3,96Theod 6

402

Stellenregister

Außerkanonische Schriften und Pseudepigraphen zum AT Arist 194

198

AscJes

147, 176

AssMos

147, 176

Bar 3,29 ff

303

2Bar 14,18

239

1. Henoch 51 13,2 198 72–82 57 89,51–53(57) 176, 178 Jubiläen 1(,12) 2,17.23 34

51, 57, 249 176, 178 239 210

1. Makkabäer 231 2,39 ff 2,42; 7,12 117 4,44–47 54 12,25 198 f 14,41–45 54 2. Makkabäer 147, 151, 153, 166, 168 f, 172, 204 5,19 239 6 150 6,6 f.18.21 164 6,12–17 200 6,18–7,42 148, 154, 162 f 6,21–28 166 f 7–8 154 ff, 191 7 154–160, 166 f, 169 f 293 7,28 f 204 7,37 f 12,42–45 155 14,6 117 14,37–46 147 15,12–16 155 4. Makkabäer 147–151, 153 ff, 162 f, 168 ff, 204 f 4,2 149 f 4,26–5,3(4) 150, 164 5 162, 166 f

6,2 ff 6,12–23 6,28 (f) 8,1–9,9 8,6–10 9,24; 12,17 14,22 16,21 f 17,21 17,22

169 166 f 155 f, 166, 204, 207 162, 166 164 156, 166 156 156 f, 204 207 156, 158, 203

Psalmen Salomos 10,1 200 17,18 198 SapSal 5,17 293 Sirach 5,4–7 23,1–6 35,19 48,3

51, 59 198, 200 200 198 198 f

Qumrantexte Damaskusschrift (CD) 21, 51 f, 121–124, 131 f, 250 1,1–2,1 54 f 4–6 180 4,18 118 4,20(–5,1) 279 f, 287 f 5,1–6 280, 287 5,6–13 118 6,11–20 118, 120, 124 6,20 123 f 10,19 234 104, 230 11,16 f 12,6–11 319 15,3 276 Hodajot (1QHa) 51, 250 10,15.32 101 12 180 17,10.24 ff 191 Kriegsregel (1QM) 51 11,15 255 f 16,13–17,3 191 Pesher Habakuk (1QpHab) 2,7 180 5,9–12 121 f 7,1–8 54

Gemeinderegel (1QS) 51, 250 191 4,7 f 6,27–7,2 251 8,15 51 46, 55 9,9 ff 19, 51 f, 56 f, 118 4Q163 18 f 251 f 4Q169 56 f, 86, 98, 123 4Q174 1 i 180, 319 4Q175 46, 55 f 4Q177 11,15 252, 256 4Q216 239, 249 4Q249 52 4Q264a 234 4Q265 6,6 f 104, 230 4Q285 46 4Q416 11, 283 f, 287 f 4Q418a 284 4Q421 234 4Q427 252 f, 256 4Q448 57 4Q513 236 4Q521 180 11Q5 (27) 45, 251 4QMMT

Tempelrolle (11QTa, b) 51 f, 210 f, 250 54,27 284 57,22–26 281 ff, 287 f 63,17–67,5 281 f 64,13–20 56

Josephus

21, 58, 96, 117, 122, 126, 131–134, 143 f, 147, 288, 321, 324 Antiquitates Judaicae 3,240–243 210 4,216 ff.223 54 5 99 6,72 f; 7,281 198 f 10,51 100 13,171 (ff) 48 ff, 96 13,252 231 13,288–298 98 f, 123 f, 126 13,288 96 13,289 (ff) 99, 103, 106 13,297 100 13,379–384 56 13,399–418 98

Stellenregister 13,401–417 13,401 f 13,408 13,422.427 14,168–176 15,1–4 15,48 16,182 17,41(–44)

99 97 100, 124, 126 48 123 98 f 199 f 201, 203 96, 98 f, 101, 124 17,149–160 98 17,156–164 162 18,4 97 18,11 96 18,12–15 99 18,12 97, 100, 103 18,15 98, 103, 123 18,17 99, 144 19,305 24 20,199 144 De Bello Judaico 56 1,96 ff 96, 98 f, 101 f, 1,110 (ff) 124 1,173 198 f 1,571 99 1,648–655 98 f, 162 2,119–166 48 ff, 286 f 2,119 96 96, 99 f, 101, 2,162 (f) 124 2,166 97, 99 2,174 226 2,285–289 24 2,409 319 2,411 99, 104 2,628 97 6 99 Bellslav 2,9,3 226 Vita (10–)12 20–23 189 ff 191 f 191 197 280

19, 86, 96 104 99 20 96, 98, 100 ff 96 f 24

Philo

147, 288, 308,

363 f Abr.

364 f

cont. fug. 59 140 her. 309 LA 2,57 legat. 100 migr. 18 Mos. 2,95 2,211 opif. 71 post. 84 f somn. 1,76 2,67

285 f 263 314 263 263 198 f 314 202 f 234 f 290 303 f 292 f 263

Neues Testament Matthäus 12, 17, 89 ff, 97 f, 101 f, 105 f, 247 f, 313–333 90 f 3,7 ff 5,1–20 320 5,3–6 238 375, 382–394, 5,17 ff 399 f 5,17 91, 101 313, 320, 327 5,18 (f) 5,20 89 f, 102, 125 f, 313 5,21–48 66 f, 69, 81, 89 f, 102, 217 5,(31–)32 102, 328 5,38.43–47 396 ff 5,39 397 389, 397 5,43 f 5,47 317 6,1–18 91, 329 6,7 328 6,9–13 25, 242 f, 255 f 6,9 11, 242–256, 277 f, 328 397 6,14 f 7,12 72 7,24–30 320 8,1–4 398 f 8,5–13 316, 330 106, 238 8,11 f 8,15.16 227 9,10–17 89 f 89 f 9,32 ff 9,36 91 10,5.6 313, 316 ff, 322 10,17 98 10,18 330 11,5 238

403 11,16–19 90 f 11,17 314 106 11,18 f 12,1–14 89 f 12,3–6 102 12,8 241 229 12,11 f 12,22–37 89 f 12,28 101 12,38–42 89 ff 13,33 323 13,52 327 13,57 315 15,1–20 89 f, 105 15,24 313 f, 316, 322 f 16,1–12 89 f 238 18,12 f 19,3–12 288 19,3–9 89 f 19,9 329 20,1–16 68 f 21,12–17 118 189 21,12 f 21,28–46 89 f 21,33–22,14 316 21,43.46 330 21,43 313, 315, 317 22,7 180 22,15–22 89 f 22,34–40 89 f 100, 103 22,34 f 22,41(–46) 89 f, 103 23,2–33 89 f, 104 98 23,6 f 23,7–12 330 23,8 326, 329 23,13 124 23,23 23, 103, 327 105 23,25 f 23,32–36 180 98, 179 f 23,34 (f) 23,36–39 179 24,14 330 25,21.23 106 26–27 163–171 26,6–13 180 26,59–66 186 f 27,24 356 27,39–43 188 90 f 27,62 ff 27,62–66 330 28,11–15 330 28,19 313–318, 330

404 Markus 87 ff, 97, 100 f, 104 f, 320 1,1 89 f 24, 227 1,21 (ff) 1,22.27 101 1,31 227 1,40–45 23, 238 2,11 227 2,13–17 238 87 f, 106 2,15 ff 2,16 100 2,17 103 2,18–22 87 f 2,18.19 103 2,23–3,6 87 f, 104 f 2,23–28 229 2,24 231 241 2,25 f 2,27 72, 238, 240 2,28 236, 241 3,1–6 23, 227 f, 231 f 3,1 223 3,4 236 ff 3,5 224 3,6 97, 104, 236 3,22 224 5,21–43 238 6,2 24 7,1–13 87 f, 124, 126 7,(1)2–5 23, 105, 395 7,1 100 7,5.6–13 100 f 7,15 95, 105, 126 f 7,19 105 7,29 227 7,37 102 8,11–22 87 f 8,31 152 8,35 232, 237 9,25 227 9,31 152 10,2–12 288 10,(2)6–9 87 f, 102 10,17–21 103 10,33 152, 323 10,45 152 227 10,51 f 11,11–18 323 189 11,15 ff 11,18 164 12,13(–17) 87 f, 97, 104 385 13,30 f 14–15 161, 163–171

Stellenregister 14,3–9 14,24 14,25 14,55–64 15,29–32a

180 152 106 186 f 188

Lukas 10, 92 ff, 98 ff, 102 f, 106 f, 127, 173– 191, 227 f, 320 ff 1–2 190 2,21–24 22 4,14–29 178 25 f 4,16 ff 4,39 227 5,17–6,11 92 ff 5,30 100 6,5 241 238 6,20 f 7,3–5.6 321 7,22 238 7,30–35 92 ff 7,36–50 92 ff, 127, 180 106 7,37 f 11,(1)2–4 11, 25, 242 f, 255 f, 328 f 11,2 242–256, 277 f 11,37–54 92 ff, 104 105 11,38 f 11,42 103 11,43 98 179 f 11,49 ff 92 ff 12,1 ff 13,10–17 104, 227 13,11 223 13,12 105, 224 13,13 228 13,14.15 f 93 13,31 (ff) 92 ff, 97, 104 13,33 (ff) 178, 179 14,1–24 92 ff 14,1–6 104, 227 14,2 223 14,3 105 14,4 228 14,5 229 14,12 (ff) 103, 106 14,16–24 106 15,1–32 92 ff, 106 15,4 f.8 f 238 16,14–31 92 ff, 103 16,17 385 16,18 288 17,14 227

17,20 f 18,9–14 18,32 19,39 f 19,45 f.47 19,47 f 20,5–36 21,28 21,37 f 22–23 22,53 22,66–71 23,35–38 23,56 24 24,17–21 24,19 (ff) 24,25 ff 24,26 24,44 ff 24,53

92 ff, 102 92 ff, 103 323 92 ff 189 164 187 f 188 189 160, 163–171 189 186 f 188 190 181 173 f 176, 178 175 181 f 175 189

Johannes 330 2,6 2,13–17 2,19 ff 5,1–18 5,5 5,10 5,17 f 6,51–71 7,37 f 7,47 ff 8,37–47 9,1.6 9,13–17 11,47–53 13 18–19

19, 96 ff, 104, 22 f 189 215 227 223 231 241 163 215 100, 113 369 223, 224 241 163 ff 163 f 163–171

Apostelgeschichte 10, 18– 21, 86, 96, 173–191, 321 f 1,6–11 174, 181 1,11 185 1,12 23 2,1–36 175 2,14–47 181–184 2,22.36 178 189 2,46 f 4,(1)27–31 182 4,1 144

405

Stellenregister 4,25 ff 5,17 5,34(–40) 6–7 6,1–7 6,9 6,12 ff 7 7,37 7,51–56 8,14–17 9,15.23–31 10,2.22 10,44–48 15 15,1–5 15,5 15,39 f 21–23 21 21,20–26 21,20 (f) 22,3 22,17–21 23 23,6–9(10) 23,6 23,8 23,9 26,5

188 144 20, 104 216 182 24 186 185 f 178 182 182 183 321 182 182 f, 306 332 97 321 185 182 f, 184 f 189 183, 306, 310 20, 124 183 144 123 19, 97 101, 103 100 20, 124

Römerbrief 1 1,3 f 1,17 f 1,18–3,20 1,18–32 1,18 1,20 2,4 2,5.8 2,24 3,5 3,20 3,21–26 3,21 f 3,25 4 4,15 4,17 4,23 f 4,25 5

294 216 197 194, 293 293 ff 190 291 197 190 278 190, 194 f 310 10 f, 192–216 298 158, 172 359, 368 190 293 f 311 158, 172 294

5,1 71 5,9 158, 172, 190 158 5,18 f 8(,1–23) 294 ff 8,11 158 9–11 190, 330 9,22 190 9,30–10,13 12, 297–312 10,9 158 11 181, 183, 190 11,1 360 11,36 295 12,2 356 12,19; 13,4 f 190 1. Korintherbrief 291 1,20 f 1,23 173, 372 1,30 196 2,6–13 173 3,16 215 5,9–13 127 f 6,14 158 6,16; 7,10 f 288 8,6 295 10,28 150 11,3 288 239 11,8 f 366 11,25 f 333 12,12 f 14,34 288 15 296 157 f, 172 15,3 ff 15,15 158 2. Korintherbrief 4,14 158 5,17 296 5,18.19 ff 158 f 5,19 172, 291 5,21 172, 196 6,16 215 11,22 360 Galaterbrief 196, 352 f 1–2 183 1,1 158 1,4 158, 172 1,14 100 f 2,11–14 332 2,16 158, 310 301, 308 3,10 ff 3,21 196, 310

4,3 4,22–31 4,24 ff

291 369 183

Epheserbrief 2,14 74 5,31 288 Philipperbrief 158 2,8 f 19, 86, 99, 103 3,5 (f) 3,9 196 f 1. Thessalonicherbrief 158, 172 1,9 f 189 f 2,14 ff 4,4 284 4,14 158 f Hebräerbrief 9 9,5 9,18–22 12,5 ff

211 200, 203, 206 209, 214 f 200

1Tim 2,12; 3,2 288 1Petr 3,14 f

278

Johannes-Apokalypse 3,1 354 f 4,8 247 21,22 215

Außerkanonische Schriften zum NT, altkirchliche Literatur Acta Martyrum 150 f, 278 (Ps.-)Athanasius 225 f Augustinus 12, 359, 362, 368–371 Barnabasbrief 4,6 9,7 f 16

363 359 191

Clemens Alex.

364 f

Didache 8

329

406

Stellenregister

Euseb 12, 334, 337, 366, 368 d.e. 1–5; 9,11 315 h.e. 1,2,11 367 1,4(,5) 360, 367 f 1,6,5 367 3,5,2 315 320 5,8,3 f praep. 7,3 367 Exsultet

356 f

Ignatiusbriefe 331 f, 352, 363 Justin dial. 10,2 f 16 120,2

317 361 f, 363 f 384 190 366 f

Melito von Sardes, Peri Pascha 12, 334–357 §1–45 339 §1–10 337 f §1 334 ff §2,10 335, 337 §10,64 337, 340, 344 §11–45 338, 341 ff §11,65 335 §12,72–15,91 336 §31.33 336 §34–45 340, 353 §45,300 340, 343 f §46–105 339 §46–65 343 f §46 338 §65 339, 345 §65,450 340, 344 §66–105 339 §66–71 340, 345 §72–105 345 §72–99 339 f, 346 f, 351 ff 356 §79,559 f §92,676 356 §100–105 340 346 §100 f 346 f §101 ff §105,803 340 Origenes Comm.

12, 362 ff 17, 314 f, 365 f

Griechisch-römische Literatur Acta Isidori

161 f

Appian, Bas.

199

Cicero, orat. 2

348 f

Crates, ep. 24

239

Dion Chrysostomus or. 11,121 201 Dionysius v. Halikarnassus Ant.Rom. 2,35,4 199 f

Mekhilta de Rabbi Shim‘on bar Jochai 261 f, 325 Midrash Rabba BerR 41[42],2.7 38,13 WaR 11,7 34,16 BemR 8,4 15,21 EstR Pet. 11 RutR 7,1 RutR Pet. 6 ShirR 1,3; 2,7; 7,8

270 270 270 234 271 270 270 269 270 270

Midr Tehillim 92,2 241 Hesiod, theog.

291

Ovid, met.

291

Plato

289–292

Plinius d. Ä. nat. hist. 5,73 25,99

48, 287 222

Plutarch, mor.

239, 309

Quintilian Inst. orat.

337, 340, 342 f, 349

Seneca, ep. 41

290

Xenophon

199

Inschriften KosFrag 81.347 201 SEG 39 § 1243 199

Rabbinische Schriften Avot de-Rabbi Natan B 32,8 274 Mekhilta de Rabbi Jishma‘el Shabbta Ki tissa 72, 105, 231, 239 ff, 257 Yitro Ba-½odesh 234 f, 257, 325 258 Be-shalla½

Mishna (m) 10, 27, 30, 42 f, 59, 114 f, 136–145, 210, 327 AS 1,5–8 319 Av 26, 29 1,11 264 f 4,4 265 f, 268, 274 f 5,22 337 Chag 2,7 100, 105, 108 f, 129 f Chul 2,7 319 113 f Demai 2,2 f 2,2 106 2,3 109, 125, 129 Ed 3 140 ff Er 3,9 142 Git 9,10 329 Jad 23, 137, 144 3 141 4 137–140 105, 130 4,6 f(f) Joma 209 f 3,8 210 7,1 24 8,6 231 Ket 13,1.2 143 f Maas 1,1 103 Men 10,3 105, 236 Oh 18,7–10 322 Para 3,7 144 Pes 10,5 345 RHSh 1,7 143 2,8 142

407

Stellenregister San 6,4 10,1 Shab 1,4 7,2 14,3.4 22,6 Shevu 1,2–7 Sota 7,7 f Taan 2 ff 3,8 Toh 7,6

264, 271 f 224 105 232 233 233 f 209 f 24 102 272 115

Pes. Rabbati 23 234 f, 325 Pesiqta de RavKahana 11,14 270 22,1 269 Qaddish

11, 253– 256, 277 f

Sifra

A½are mot

260 f, 269, 277 Emor 261 f Mekh. de-Millu’im 263 Sifre Devarim 38 43,16 306 344

263 f 178 277 272

Talmud Bavli (b) 27 ff AS 27b 260 54a 260, 269 BB 75a 114 BM 59b 101 Ber 47b 110 52a 101 63b 114 Chag 18b 109 Chul 44a 101 Git 57 b 178, 180 Jev 79a 271 Joma 209 19b 144 61a 209 85b 239 86a 269 86b 266

MQ 17a Pes 53b San 74a 74b(–75a) 90b 96b 101a 107a Qid 40a Shab 12a 13b 113b 121b 150a Sota 10b 22b Taan 23a

269 270 260 269, 273 110 178, 180 221, 224 269 269 235 105 234 222 234 268 97 272

Talmud Jerushalmi (j) BQ 4,3 272 Ber 9,7 97 Joma 1,1 324 Qid 4,1 271 San 6,9 271 Shab 14,3 220 ff 15,3 234 16,8 98 Shevi 4,2 273 Taan 4,9 178, 180 Tanchuma (Buber) Lekh Lekha 20 231 Targumim

29 f, 82, 243, 268, 304

Toledot Jeshu

373, 379, 386, 395

Tosefta (t) Ah 18,7–11 BQ 10,15 Ber 6[7],14 Chag 3,35 Chul 2,24 Demai 2–3

108, 113 ff 322 267 f, 272 265 105 149 109, 113 ff, 118, 122 f, 129, 131 f 116, 124 115 f

2 2,2 f

109 f, 112, 115 2,3 114 2,6–9 119 2,9 127 f 105 2,11 f 2,15–18 115 3,4 115, 127 f 3,6–8 115, 127 3,9 111 f 105 Jad 2,19 f Joma 2,1 209 f 4[5],12 266 Men 13,22 324 144 Para 3,7 f San 12,10 224 Shab 1,15 100 6[7]–7[8] 223 f 7[8],23 219 f 9[10],22 231 12[13],8–14 233 f 15[16],11–17 230 ff 15[16],17 259 f 16[17],22 235 Sota 5,12 273 f 6,7 266 ff 103 15,11 f Suk 3,1 105 Ter 10,17 265 f Toh 8,5 115 2,2

QiÈÈat MujƗdalat al-Usquf (Q) // Sefer Nestor Ha-Komer QiÈÈa Nestor §33–36 §33 §35 §37–62 §63–71 §118 f §120–128 §120 ff §128–135 §136 f §138 §139–182 Q §145–148 Q §178 f Q §180–185

12, 372–379 12, 377 f 379–386 399 388 387 379, 387 ff 390 379, 390–396 399 395 f 379, 396 ff 398 f 399 399 400 400

Personen- und Sachregister

Abraham 12, 81, 90 f, 269 f, 273, 285, 293, 310, 358–371, 392 Achtzehn(bitten)gebet 262, 326, 329 allegorisch 202, 230, 312, 314 f, 365 Am ha-arez 100, 105, 109–117, 122, 125, 127 ff, 230 a minori ad maius 138 ff, 145, 281 Antijudaismus / antijüdische Polemik 9, 12, 68, 74 f, 84, 85, 190, 226, 294 f, 313–318, 330–333, 337 f, 341, 349–357, 364, 368– 371, 376 Antisemitismus 74 f, 353 Auferstehung der Toten (s. a. Jesus Christus) 93 f, 99, 103, 107, 153, 155, 157–160, 172, 181 f, 191, 241, 261, 293, 296 Beschneidung 22, 81, 97, 258, 306, 324 f, 359, 363, 365 ff, 386 f, 390–396 Bund 36 f, 120, 152, 154, 159, 194, 238, 360, 363, 365 f, 369 David /Davididen/Davidssohn 45 f, 51, 88, 90 f, 185, 269, 280 f, 324 Decius, Dekret des 150 Diaspora, jüdische 9, 11, 19 f, 24, 105, 145, 150, 182 f, 190, 289, 291, 294, 325 Dosa b. Harqinas 10, 140–145 Ehe/Heirat/Scheidung/Monogamie/Polygamie 11, 48, 87, 91, 101 f, 113, 121, 135, 138, 235, 279–288, 328 f Endzeit/Eschatologie 53, 55, 89, 91, 94, 102 f, 106, 155, 176, 190, 206, 215 f, 236 ff, 240 f, 244 f, 247, 252, 254 ff, 285, 296, 366, 400 Essener / essenisch 11, 19, 21 f, 45, 48 ff, 58, 101 f, 185, 219, 232, 249 f, 279–288, 318, 329 Exegese, historisch-kritische /Kritik, historische (s. a. Jesus) 18–22, 32 f, 39, 49 f, 77, 79–83, 85 f, 95 f, 107, 117, 121 ff, 136 f, 144 f, 192, 313, 321, 327–331, 371 Exodus 8, 82, 277, 334 ff, 304, 345, 357 Fasten 87–90, 92 f, 102 f, 120, 329, 387 Formgeschichte/Gattung/Genre/Textform 26 ff, 45, 67, 81, 134, 147 f, 160 ff, 171 f, 196, 338 ff, 345–349, 355, 368, 377 Frevel 56, 265, 275, 286 „Frevelpriester“ 45, 57, 118

Frömmigkeit/Fromme 48, 72, 76 f, 79 f, 91, 94, 96–99, 103, 107, 116, 125 f, 129–132, 222, 264, 299 Galiläa/galiläisch 24, 87, 89 f, 92, 96–99, 104, 107, 137 ff, 151 f, 174, 232, 333 Gamaliel I. 20, 41, 104, 325 Gamaliel II. 41, 272, 325 f, 329 ff Gebet/beten 25 f, 57, 90, 92, 102, 105, 121, 123, 142, 154 ff, 166, 182, 200, 234 f, 242–256, 270, 272, 277 f, 285 f, 326, 328– 332 Gerechter, leidender 148, 151 f, 160, 171 Gerechtigkeit /gerecht (s. a. Gott, Rechtfertigung) 68–72, 89 f, 93 f, 99, 102 f, 107, 125 f, 194, 197, 199, 263 f, 266, 268, 297– 302, 304, 308, 310, 313, 365, 367 Geschichte, Geschichtsdeutung (s. a. Exegese) 18–22, 32, 38 ff, 43, 52, 73 f, 95, 107, 117, 122 f, 131 f, 153, 173, 276, 286, 296, 315 f, 318, 321, 333, 344, 350–354, 356, 360, 371, 375, 380 Gesetz/Halacha/Tora/Gebote (allgemein – s. a. Ehe, Priester, Reinheit, Sabbat, Speise, Tempel, Zehnt), Auslegung/Observanz der 10 ff, 19–23, 25, 27, 30 f, 36 f, 40, 43, 50– 59, 68–72, 88–92, 98–107, 108–132, 134 f, 137–145, 153, 155–158, 175, 183, 186, 194, 204, 217, 220, 224, 226, 229, 235 f, 240 f, 257–261, 264 f, 270–273, 276, 280 f, 293, 297–312, 313 ff, 317 ff, 324–329, 333, 337, 341, 347, 365, 367, 374–400 Gott 11, 23, 46, 53, 59, 128, 194, 207, 239, 260, 264, 271, 274, 290–296, 365, 367, 380 f, 387 f, 390–393, 398 ff – Gottes Geduld 197 f, 203, 207 – Gottes Gegenwart/Nähe 11, 105, 107, 205 f, 208, 212–216, 240 f, 263, 295 – Gottes Gerechtigkeit 69, 192–216, 299, 308 – Gottes Gericht 70, 91, 99, 107, 166, 183, 195, 198 ff, 244 f, 247, 296, 342, 348, 357 – Gottes Gnade/Heilshandeln 11 f, 36, 69 f, 93 f, 103, 154–159, 172 ff, 176 f, 181 f, 188, 191, 194 f, 199 f, 202, 206 ff, 237, 244–247, 252, 256, 261, 270, 276 ff, 291, 295, 305, 357, 370 f, 380, 400 – Gottes Leiden 177, 180 f

Personen- und Sachregister – Gottes Macht 169, 245, 266 f, 293, 295 – Gottes Name 11, 74, 179, 240, 242–256, 257–278, 304, 389, 400 – Gottes Offenbarung 34, 44, 46, 51 f, 54 f, 194, 197, 214, 280, 293, 295, 308, 342, 345, 360, 368, 380, 399 – Gottes Plan 36, 166, 175, 177, 181 f – Gottes Reden / Wort 52, 120, 177, 179, 182, 261, 263, 302–305, 361, 367 – Gottes Reich/(Königs-)Herrschaft/Himmelreich 11, 70 f, 91, 93 f, 102, 106 f, 124, 126, 147, 151 f, 166, 169, 172, 237 f, 240 f, 243, 247, 253 ff, 291, 313, 315, 327 f, 330, 333, 382, 385 f, 388–392 – Gottes Strafe 186, 200, 265 f, 275, 315 – Gottes Volk 12, 36, 57, 91, 94, 102, 120, 124, 154, 159, 172, 185, 245, 247, 277, 313, 315, 317, 330, 357, 369 – Gottes Wille 70, 72, 89, 99, 101 f, 119, 166, 171, 195, 243, 247, 253, 292 f, 359, 393 – Gottes Zorn 153 f, 156, 158 f, 172, 177, 180, 189 f, 192, 195, 207, 211, 293 f – Gottes Zurückhaltung 197 ff, 207, 215 f Gottesdienst/-furcht/-verehrung 25, 30, 123, 246, 252, 285 f, 294, 348, 360, 372, 388 Gottesgemeinschaft 106 f, 295, 298, 357 Gotteslästerung 89, 93, 264, 271, 273, 278 Gottesmord 339, 347, 350, 353, 356 Gottheit/Götter 150, 201 f, 273, 289 ff, 296 Götterbilder/Götzen /Götzendienst 128, 150, 199, 231, 245, 258–261, 264, 269 f, 274, 276, 294, 318 f, 322 Gottlose/gottlos 116 f, 120, 153 f, 367, 397 f ¼aberim 10, 86, 105, 108–132, 134 f ¼asdai Crescas 397 Hasmonäer (s. a. Makkabäer) 47 f, 53–57, 98 f, 111, 118, 122 ff, 132, 325 Heidenchristen/-mission 12, 182–185, 189, 297, 306 f, 310, 313–318, 320, 322, 325 f, 329–333, 343, 346 f, 349, 351, 360, 365 ff, 370 f, 387 Heiligung des Alltags 101 f, 107, 124–127, 130 Heilsgeschichte 276, 294, 296, 316, 336, 343, 367 f Hellenismus/Hellenisierung 35, 117, 145, 161, 168, 249, 286, 321 „Hellenisten“ 184 ff, 196, 216 hellenistisches Judentum 8, 11, 49, 53, 55, 79, 101, 172, 203, 290–293, 363 Hermeneutik 12, 16, 71 ff, 75, 190 f, 311, 335, 340, 342, 345, 354, 362 Herodes d. Gr. 44, 47, 55, 98 f, 162, 169

409

Herodes Antipas 87, 93, 97, 164, 168, 182 Herodianer 87 f, 90, 97, 104, 228 Hillel/Hilleliten 41, 100, 145, 235, 319, 325, 329 Hohepriester 53–56, 88, 90 f, 98, 104, 118, 123, 143 ff, 164 f, 168, 174, 186 ff, 205, 248 f, 323, 325, 330 Jakob ben Reuben 17, 377, 389 Jerusalem 19 f, 24, 45, 48, 50, 54, 56, 70, 79, 87 ff, 92 f, 96 f, 99 f, 116, 130, 143, 147, 150, 162, 178 f, 182 f, 185, 189, 205, 216, 248 f, 306, 308, 323, 327, 400 Jesus: in der Darstellung der Evangelisten 87–94, 127, 161–171, 173–176, 178 ff, 184, 186–191, 223 ff, 226–229, 231 f, 236, 247 f, 318–323, 327 ff – Auferstehung 153, 157–160, 172, 175, 181 f, 191, 296, 304 f, 317, 331, 339, 347 f, 351 – Christus 12, 89 ff, 173, 175, 181, 184, 188 f, 194–197, 206, 208, 278, 295 f, 298 f, 302 ff, 306–311, 315, 336, 339 f, 343–347, 353, 358 ff, 362, 365–369, 380 ff, 386 – historischer 11, 19, 24, 26, 29 f, 37, 43, 45, 53, 68–72, 85, 96–107, 151 f, 171 f, 175, 217–241, 316, 318 ff, 323, 333, 372 – Inkarnation 345, 376, 380 – Tod (s. a. Kreuz) 10, 91, 146–149, 151 ff, 155, 157–160, 163–167, 170 ff, 181–184, 190 f, 201 f, 206 f, 216, 336, 339, 342, 344 f, 351, 372 – Vollmacht 88 ff, 93, 101, 126, 169 – als Weihegeschenk 201 ff, 205, 208 Jesusforschung, jüdische 17 Jesustradition 12, 105, 178 f, 228, 232, 236 f, 239 ff, 280, 318–323, 327 f, 332 f Jochanan ben Zakkai 98, 116, 143 f, 319, 326 Johannes der Täufer 22, 45, 87–90, 92 f Jom Kippur / Versöhnungstag 11, 102, 205 f, 208 ff, 212 f, 216, 248, 387 Judaistik 7 ff, 11 ff, 15 f, 18, 20, 26 ff, 31, 32 f, 35, 46, 58, 61, 64 f, 77, 83 f, 85, 96, 107, 313 Judäa /judäisch 24, 49, 55, 92, 96, 98, 104, 123, 144 f, 167, 174, 182, 189, 333 Judenchristen 12, 59, 314 ff, 318, 320, 323, 325, 327, 329, 331 ff, 385, 387 jüdische Geschichte 15 f, 18–22, 25 ff, 35 ff, 42 f, 47 ff, 50, 57, 77–83, 85, 91, 116, 122, 131 f, 144, 153 f, 248, 260, 276, 318, 324– 327, 333, 346, 380

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Personen- und Sachregister

Jüdischer Krieg, erster 24, 97 ff, 104, 225 f, 324 f, 327, 332 f Jünger Jesu / Jesusbewegung 79, 87 ff, 91– 94, 102, 104, 106, 127, 167, 173–176, 181–186, 189, 226, 229, 313, 315, 318, 321 f, 328, 333, 381 f Karfreitagsliturgie 357 Kirchenzucht 128, 132 Kosmos /Welt 69, 155, 169, 174, 180, 184, 211, 253, 261, 263, 278, 289–296, 344 f, 347, 356, 367, 372, 386, 388 Kreuz /Kreuzigung 46, 56, 151, 169 f, 188, 208, 212, 214, 341, 357, 358 f, 372, 390, 395 f Lebensgefahr, Rettung aus 11, 72, 105, 219, 222 f, 230 ff, 235 f, 238 f, 259 f „Lehrer der Gerechtigkeit“ 45 f, 53–56, 118, 121, 180 Lesezyklus (der Tora) 25 „Lügenmann“ 45, 57, 121–124, 130 ff Magie 90, 219–225 Mahl- /Tischgemeinschaft 87–90, 92 f, 106 f, 113, 115, 121, 125, 127 f, 184, 286 Makkabäer/-aufstand 53 ff, 57, 117, 126, 148, 150, 152 ff, 156, 158, 165–169, 176, 231 Martyrium, Märtyrer 10 f, 146–162, 164– 172, 175, 191, 200, 203 ff, 207, 257–262, 267–271, 276 ff Mose 50, 52 f, 70, 81, 100, 138, 175, 186, 217, 240, 263, 266 f, 300–304, 308, 310, 341, 367, 380–394, 396 f, 399 f Mysterium 178, 334 ff, 341–344, 353, 359, 371 Namensgebung 22, 81 Natur 139–143, 145, 285 f, 289 ff, 293, 296 neutestamentliche Wissenschaft 7–12, 15 f, 20, 26, 31, 32–38, 40 f, 43, 45 f, 57 f, 60, 61, 73 f, 85, 313 Nichtjuden/Heiden /Völker (s. a. Heidenchristen) 70, 74, 91, 99, 127, 148, 156, 162, 164, 173, 182, 198 f, 203, 210, 237 f, 244 f, 255, 261, 264, 267 ff, 272 f, 276 ff, 281, 293 f, 298, 304, 313, 315 f, 318–325, 327 f, 330, 332 f, 369, 395, 400 „normatives Judentum“ 10, 36 f, 45, 58 ff, 76, 78 f, 134, 235, 241 Opfer (s. a. Sühne) 22 f, 51, 109, 119, 121, 123, 125, 129, 135, 150, 169, 175, 205, 207–214, 274, 276, 319, 335, 391, 393, 395 – Selbstopferung 154, 156 ff, 204, 365, 393

Palästina / palästinisches Judentum 16, 18, 20 f, 24, 29 f, 37, 49, 59, 72, 77 f, 82, 97 f, 116 f, 185, 222, 230 f, 325 „Parallelen“ (s. a. Religionsgeschichte) 9, 20 ff, 25, 28 f, 35 f, 66 f, 72, 81 f Passa 12, 163, 165, 326, 334, 336 f, 339 ff, 343 ff, 344 f, 347 f, 353 f, 357, 387 Passionserzählung 10, 88, 104, 146, 160–172, 186, 228, 399 Paulus, Leben des 20 f, 37, 70, 86, 96, 99, 144, 182–186, 216, 321 f, 360 Pharisäer /pharisäisch 10, 12, 19 ff, 23, 25, 31, 37, 42 f, 56, 58 ff, 68 ff, 72, 76, 78 f, 84–107, 108 f, 113, 117, 121–132, 133– 141, 143 ff, 165, 178, 219, 228 f, 232, 235, 313, 317 ff, 327, 329 f, 333 Priester /priesterlich 23 f, 51, 53–56, 100, 103, 105, 107, 109–114, 116, 118–121, 124–127, 129 f, 140, 143 ff, 205, 212 f, 227, 248, 265, 276, (286,) 352, 373, 376 f Prophet/prophetisch 53 ff, 90, 101, 118, 175, 178–181, 191, 224, 240, 315, 323, 354, 359, 386 f, 391 f – Prophet, verfolgter 10, 91, 148, 152, 164, 170, 173–183, 186 f, 189 ff, 323 Prophetenbücher /-texte 25, 44 f, 51, 54, 175, 194, 276, 311, 323, 362, 369, 382 f, 387 ff Qumran 21, 25, 45, 47–51, 53–57, 101, 120– 127, 130 ff, 211, 249 – Forschung 8 f, 15, 28, 38, 44–47, 53, 56 ff, 118, 134 – Texte (allg.) 10 f, 19, 21 ff, 25, 30, 36, 42, 44–59, 81, 86, 104, 117, 120, 122 f, 130 ff, 147, 180, 191, 215, 232, 245, 248–253, 255 f, 279–288, 303, 318 Rabbi(nen) (20,) 23, 27, 39, 41 f, 79, 115 f, 133 ff, 144 f, 162, 229, 269, 319, 326, 333 rabbinische Texte /Tradition 9 ff, 16 ff, 20– 23, 26–31, 36–44, 59, 61–84, 85 f, 96 ff, 100, 108, 111, 113 f, 116, 122, 128, 131– 138, 143 ff, 147 ff, 178, 180, 190, 210, 219, 221, 223, 230, 232–235, 248, 253– 256, 257–278, 313, 317, 319, 321, 324– 329, 331 f, 363, 377 Realismus vs. Nominalismus 10, 140 f Rechtfertigung (s. a. Gerechtigkeit) 24, 69, 71, 94, 151, 154 f, 158, 160, 165, 172, 175, 194–197, 216, 293 ff, 297–312, 365 f, 371 Reinheit/Reinigung (s. a. Tempel) 22 f, 81, 87–90, 92–95, 97, 100, 105–116, 118–121, 123–132, 135, 137–141, 209–214, 217,

Personen- und Sachregister 226 f, 234, 238, 243 f, 286 f, 320 ff, 367, 380, 394 f, 399 Religionsgeschichte / religionsgeschichtliche Methode 8, 16, 33 ff, 38 ff; 76, 78, 80 Rhetorik 12, 137, 228, 308, 312, 334, 336– 343, 345–349, 351, 354–357, 380 Sabbat/-heiligung /-heilungen 11, 23, 72 f, 81, 87–93, 104 f, 107, 120, 135, 216, 217–241, 259, 285, 325, 386 f, 390, 394 ff Sadduzäer 10, 19, 21, 57 f, 86, 89 ff, 100 f, 105, 123, 133, 136–140, 143 ff, 232 Schammai/Schammaiten 41, 100, 235, 319, 322, 324 f, 329 Schöpfung 11, 88, 102, 238 ff, 274, 279, 281, 283 f, 287, 289–296, 381, 400 Schriftauslegung, antike 12, 18, 22, 45, 50– 53, 59, 69 ff, 82, 89 ff, 98, 101, 118 ff, 123 f, 175, 209 f, 215, 239, 260 ff, 264 f, 270 f, 276 f, 284, 294, 299, 302–305, 307, 312, 314 f, 336, 340, 342, 347, 354, 358 f, 362–365, 367 f, 371, 377 Schriftgelehrte/-gelehrsamkeit 25, 69 f, 76 f, 79, 81 f, 87–94, 98–102, 107, 108 f, 113 ff, 124, 126, 131, 164, 179, 186 ff, 313, 323, 328 ff, 361 Simeon ben Gamaliel 20, 220, 223, 234 „Spätjudentum“ 16, 76, 80 Speisepraxis 87–95, 105 ff, 109 f, 112 ff, 118 ff, 125, 129, 135, 137, 141, 150, 169, 233, 320, 363, 395 Steingefäße 22 f, 81, 97 Steuern /Steuereinnehmer /Zöllner 87 f, 90, 92 f, 99 f, 106, 112, 115, 127, 238, 375 Sühne/-mittel/-ort/-tod/Sühnopfer 11, 36, 153 f, 156 ff, 172, 191, 192, 200–215, 267 Sünde/Sünder/sündig 69, 87 f, 90–94, 99 f, 103, 106 f, 127, 153 f, 157 ff, 172, 175, 184, 189, 194 f, 198 ff, 204–208, 211 ff, 214, 216, 238, 244 f, 265 f, 269, 271, 275 f, 278, 291, 294, 343 f, 347, 354, 367, 370, 381, 389, 398 Synagoge 24 f, 30, (68–72, 80,) 81, (83,) 91, 93, 98, 105, 179, 183, 235, 294, 318, 321, 350, 352(, 364) Synedrium 79, 88 f, 91, 97, 99, 104, 123, 131, 164, 168 Tempel/Heiligtum (s. a. Zehnt) 22 ff, 30, 49, 54, 56, 59, 105, 110, 112, 117–121, 123, 126, 130, 132, 144, 150, 162, 177, 180, 184 ff, 188 ff, 205 f, 208, 215, 248 f, 285, 319, 323, 325, 357

411

– Kult/kultisch 79, 105 ff, 109, 111, 113 f, 116–122, 124, 126 f, 131, 145, 154, 192, 201, 203, 205, 209, 212 ff, 216, 243, 276 – Metaphorik 120, 206, 208, 211, 215 – Reinigung /Weihe 11, 54, 206, 208 f, 212– 215, 249 – Zerstörung 78, 98, 103, 116 f, 134 f, 145, 177 f, 180, 184, 186 ff, 190 f, 205, 254, 323, 326 Therapeuten 285–288 Tradition /Überlieferung (s. a. Jesustradition) – der Ältesten /Väter 88, 90, 100 f, 107, 126, 135 – christliche 8, 11, 34, 36, 43, 45, 55, 118, 130, 148–151, 153, 166, 174 f, 180, 186, 189, 191, 195 ff, 199, 202, 207 f, 211, 214 ff, 314, 316, 320 f, 323, 337, 354, 356 f, 359, 363 f, 373, 381, 385, 390 – griechische/römische 166, 172, 291, 337, 339 f, 345, 349, 377 – jüdische (s. a. rabbinische Texte) 8, 10, 18, 21 f, 25, 34, 36 f, 43 f, 46, 52 f, 55, 78, 81 f, 101, 122, 126, 131 f, 148 f, 151 f, 155, 159 f, 164 f, 170 ff, 198, 234, 240, 242, 246, 248, 252, 254, 256, 273, 289, 314, 323, 345, 362 f, 374, 380, 385 f, 389, 395 f – mündliche 9, 27 ff, 100 f, 319, 323, 326, 363 – neutestamentliche 36, 72, 95 f, 98, 104, 126, 131, 165, 173, 175 f, 178 ff, 186 f, 190, 228, 232, 236, 241, 243, 317, 320, 323, 329, 385, 389 – pharisäische 101, 107, 124, 130, 327, 329 – priesterliche 54 f – prophetische 54, 152, 160, 171, 176, 185, 189, 256, 323 Traditionsgeschichte 11, 26 f, 35 f, 41, 78, 81 f, 146, 153, 155, 158, 193, 200, 204, 208 f, 214, 328, 357 Typologie 206, 337, 340, 344–347, 358, 365 Universalismus/universal 70, 194, 241, 343 f Versöhnung (s. a. Jom Kippur) 154, 156, 158 f, 172, 201, 215, 291 Wunder 26, 87 f, 94, 226, 228, 262, 266 f, 277, 285, 320 – Exorzismen 89 f, 101, (107,) 220, 224, 227, 237, 320 – Heilungen (s. a. Sabbat) 23, 92, 103, 182, 224, 226 ff, 237 f, 260, 273, 320, 346 Zehnt/Abgabe/Hebe 23, 90, 92, 94, 102 f, 106, 108–113, 115, 118, 126, 129, 135, 141, 265 f, 328 Zölibat 11, 49, 286 ff, 396

Autorenregister

Abrahams, I. 63 Adam, A. 287 Adamietz, J. 334 Adang, C. 376 Aland, K. 178 f, 299 ff, 309 Albani, M. 57 Albertz, R. 33 Aletti, J.-N. 308 Alexander, E. S. 28 Alexander, L. 173 Alexander, P. S. 77, 82 Allison, D. C. 278, 314, 317 f, 323, 326, 328–332 Alon, G. 322, 326 Angerstorfer, I. 345 Aring, P. G. 316 Arndt, T. 395 Arterbury, A. E. 359 Aus, R. D. 44 Avemarie, F. 70, 73, 80, 146 f, 151, 154, 161 f, 165, 239, 243, 257 Aviam, M. 24 Bacchiocchi, S. 241 Bacher, W. 79, 261 Back, S.-O. 217, 232, 235, 237 f, 240 Badenas, R. 299 f Baeck, L. 133 Baigent, M. 46 Bailey, D. P. 154, 156, 158, 215 Barb, A. A. 221 Barth, G. 193, 204 Barthes, R. 355 Bauer, T. 370 Bauer, W. 64, 84, 299 f, 390 Bauernfeind, O. 287 Baumbach, G. 88, 359 Baumeister, T. 147 f Baumgarten, A. I. 100 f, 124, 130, 133 Baumgarten, J. M. 137, 230 Bechtler, S. R. 298 Beck, B. E. 170, 178, 182

Becker, H.-J. 16, 77, 374 Becker, J. 102, 215, 237, 241 Becker, M. 30, 80, 222 ff Beermann, M. 63 Ben Iehuda, E. 222 Ben Shalom, I. 324 Bénétreau, S. 193, 195 Berger, K. 85, 106, 126, 160 f, 166 f, 337, 360 Bergmeier, R. 50, 310 Berton, R. 364 Bertram, G. 169 Betz, O. 86 Bickerman, E. J. 149, 225 Bieringer, R. 157 ff Bietenhard, H. 267, 274 Billerbeck, P. 9, 18, 28 ff, 41 f, 61–84, 110 f Birenboim, H. 135 Bisbee, G. A. 161 Blank, J. 335, 347 Blank, S. H. 177 Blinkenberg, C. 201 Bloch, R. 80 Blumenkranz, B. 362 Boccaccini, G. 59 Bockmuehl, M. 151, 314 Bonner, C. 334 f, 337 Bonsirven, J. 64 Bonz, M. 352 Booth, R. P. 101, 105 Borg, M. J. 102, 237 Bormann, K. 285 f Bourgine, M. B. 358 Bousset, W. 39, 73, 76 f, 79 Bowersock, G. W. 148 Boyarin, D. 148 ff, 362 Brágue, R. 292 Brändle, R. 352 Brasser, H. W. 80 Braun, H. 46 Brawley, R. L. 178, 183 Brehm, H. A. 186 Bremmer, J. N. 159 Breytenbach, C. 153, 156–159, 193, 207 f

Brown, P. 312 Brown, R. 163, 166 ff, 242, 331 Bruce, F. F. 184 ff Brun, L. 247 Brunn, E. zum 367 Buchanan, G. W. 79 Bultmann, R. 104 Burchard, C. 89, 94, 218, 287, 298, 300, 303, 307 f, 310 Buschmann, G. 162 Buxtorf d. J., J. 62 Byrne, B. 193, 195 Cadbury, H. J. 173, 321 Calvert-Koyzis, N. 359 Campbell, D. A. 193 ff, 199 Cansdale, L. 48 Carmignac, J. 242 f, 245 f, 253 Carroll, J. T. 163 Cartwright, C. 62 Casey, M. 75, 229 Catchpole, D. R. 163 Cavadini, J. C. 358 Charles, R. H. 178 Charlesworth, J. 45 f, 58 f, 319 Chazon, E. G. 235 Chiesa, B. 375 Chilton, B. D. 20, 82, 105 Cignelli, L. 358 Clabeaux, J. J. 360 Clemen, C. 38 Clementz, H. 86 Cohen, S. J. D. 77, 134 Cohick, L. H. 351 Coles, R. A. 161 Collins, J. J. 149, 185 Cook, M. J. 87 Conybeare, F. C. 315 Conzelmann, H. 166, 175 f, 182, 184 ff, 190 f Cranfield, C. E. B. 298 Crossan, J. D. 224, 237 Crüsemann, F. 53 Cullmann, O. 242 Cummins, S. A. 153, 158, 160 Curtius, E. R. 339

Autorenregister Dahl, N. A. 95, 151 Dalman, G. 64, 243, 389 Danby, H. 137 Daniélou, J. 342 Danz, J. A. 62 Dassmann, E. 358, 369 Dautzenberg, G. 95, 218, 231 Davies, M. 218 Davies, P. R. 59 Davies, W. D. 134, 278, 314, 317 f, 323, 236, 328–332 Dawson, J. D. 306 Deines, R. 17, 19, 22, 26, 37 f, 56, 58, 60, 64, 85, 97, 133, 384 f, 389, 391, 393 Deißmann, A. 201, 203 De Jonge, H. J. 153, 155, 157 f, 160 De Jonge, M. 147, 151 ff, 171 De Lange, N. R. M. 377 Delitzsch, F. 62 Del Verme, M. 23 DeSilva, D. A. 149 Dibelius, M. 160, 172 Dietzfelbinger, C. 228, 237, 240 f Diez Macho, A. 77 Di Lella, A. A. 200 Dimant, D. 276 Doering, L. 23, 104 f, 217 f, 226–232, 235, 238–241 Dohmen, C. 32 f Dölger, F. J. 334 Donaldson, B. T. 185 Donfried, K. P. 190 Dormeyer, D. 161 ff, 171 f Downing, J. 151 Drijvers, H. J. W. 352 Drobner, H. 338 ff, 345, 347 Duling, D. C. 360 Dunn, J. 59, 151, 159, 172, 193, 210, 216, 309 f, 324 Eberhart, C. 193 f, 209–214 Ebner, M. 47, 229, 239 f Eckstein, H.-J. 301, 303 Edwards, J. R. 167 Efroymson, C. 219 Eisenman, R. 46 Elbogen, I. 253 f Elgvin, T. 284 f Elliger, K. 209 Elman, Y. 137, 140

Enste, S. 45 Epstein, J. N. 219, 222 f Eshel, E. 57 Evans, C. A. 77, 80, 189 Even-Shoshan, A. 257 Fabry, H.-J. 44 Feldman, L. H. 225 Feldmeier, R. 163, 166, 278, 290 Feliks, J. 222 Fenske, W. 74 Feuillet, A. 166 Fiebig, P. 26, 64, 67, 242, 253 Fischer, M. 47 Fishbane, M. 177 Fitzgerald, A. 358 Fitzmyer, J. A. 178, 188, 193, 195, 216, 228, 298, 300, 302 f, 306, 321, 329 Flusser, D. 105, 176, 178 ff, 189, 191, 218 f, 221 ff, 227, 235 f, 316–319, 328–331 Folliet, G. 362 Förster, W. 292 Fredriksen, P. 186 Frend, W. H. C. 147 f, 150 Fretheim, T. E. 177 Frey, J. 45, 192 f, 204 Freyne, S. 97 f, 232, 265 Friedlander, G. 63 Friedman, H. 258 f Friedman, T. 241 Fritzsche, R. A. 297 Fuchs, G. 357 Fuhrmann, M. 339 Gäbel, G. 209 García Martínez, F. 210 Gaukesbrink, M. 193 Geiger, A. 125 Geis, R. R. 357 Gerhardsson, B. 319 Giebel, M. 342 Ginzberg, L. 280 Gnilka, J. 151, 193, 244 Goddard, H. 376 Goitein, S. D. 376 f Goldberg, A. 325 Goldenberg, R. 238 Goldin, J. 276 Goldschmidt, E. D. 357 Goldschmidt, L. 273

413 Golling, R. 75 Goodblatt, D. 60, 104 Goodman, M. 143 f, 149 Görg, M. 370 Goshen-Gottstein, A. 370 Graetz, H. 272, 325 Grayston, K. 201 Green, J. 160, 163, 168, 188 Green, W. S. 24 Greßmann, H. 76, 80 Grohmann, M. 33 Grundmann, W. 75, 237 Grünwald, M. 63 Gubler, M.-L. 153, 160, 164 Güdemann, M. 63 Guelich, R. A. 232 Gunkel, H. 34 Haacker, K. 193 ff, 197, 199, 205, 207, 278, 311 Habicht, C. 147 Haenchen, E. 186 Hahn, F. 34 Hall, S. 334–340, 346, 356 Halton, T. 337, 347 Hansen, A. 340, 346, 351 Hare, D. R. 191 Harl, M. 367 Harrington, D. J. 283 ff Harrington, H. K. 135 Hartenstein, F. 194, 211, 213 f Hasan-Rokem, G. 148 ¼asdai Crescas, R. 397 Hawthorne, G. F. 337 Heard, W. J. 152 f, 158 Heil, J. P. 309 Heither, T. 359, 365, 367 Hemer, C. J. 173 Hempel, C. 250 Hengel, M. 18, 37, 60, 81, 98, 149, 153, 156, 165, 197, 214, 240, 321, 324 f, 361 Herr, M. D. 142, 260, 269 f Heschel, S. 75 Hirschfeld, Y. 47 f Hofius, O. 296 ff, 300, 310 Holl, K. 160 Holleman, J. 153, 160 Holleran, J. W. 166 Horbury, W. 261, 372–379 Horgan, M. 251 Horner, T. J. 364 Huber, W. 334 f, 342 f, 353

414

Autorenregister

Hübner, H. 299, 309, 312 Konradt, M. 359 Hüttenmeister, F. 220, 222, 234 Kosmala, H. 21 Kraabel, A. T. 338, 350 Instone-Brewer, D. 30, 41 ff, 79 Kratz, R. G. 370 Ito, A. 301 Kraus, W. 101, 195 f, 198– 201, 204 f, 207, 209, 216 Jacobs, L. 39 Krauss, S. 264, 372, 374 f, Jaffee, M. S. 28, 103 377, 379 James, M. R. 134 Krengel, J. 63 f, 67 f, 71 Janowski, B. 158, 193, 205 f, Krüger, M. J. 249 208 f, 212 ff Kuhn, H.-W. 21 Jastrow, M. 222, 231, 233 Kuhn, K. G. 16, 47, 243 Jeremias, G. 47, 53, 56 f, 118, Küng, H. 370 121, 123 Kuschel, K. J. 370 Jeremias, J. 61, 63, 65, 73 f, Küster, V. 370 83, 103, 106, 117, 147, 242 ff, 253 Laansma, J. 241 Jewett, R. 193 ff, 197, 200, Lachs, S. T. 84 206, 216 Laible, H. 64, 67 Johns, L. L. 319 Lagrange, M.-J. 315 f, 318, Junginger, H. 16 320, 323 Jürgens, B. 211 ff Lalleman, P. J. 228 Lampe, G. W. H. 184 Kahl, W. 218 f, 228, 231 f, 240 Landmesser, C. 288, 298 Kamesar, A. 361, 365 Lang, F. 300 Kampling, R. 362 Langdon, S. 229 Käsemann, E. 195, 217, 235 f, Lange, A. 250 298 ff, 303, 308 Langer, R. 25 Kasher, A. 56 Langkammer, H. 195 Katz, S. T. 363 Lasker, D. J. 372–379, 381 ff, Kaufmann, Y. 219 386–392, 394–400 Kazan, S. 352 f Lavy, J. 357 Kehl, O. 222 Lazarus, M. 58 Kelhoffer, J. A. 222 Lazarus-Yafeh, H. 376 Kellermann, U. 155, 171 Légasse, S. 320 Kertelge, K. 163 Lehnardt, A. 254 f, 278 Kiley, M. 247 Leigh, R. 46 Kirschner, R. 263 Le Moyne, J. 133 Kister, M. 232, 284, 363 Levine, A.-J. 92 Kittel, G. 64 Levy, J. 222, 234 Klappert, B. 370 Lewis, B. 376 Klauck, H.-J. 203 f Lichtenberger, H. 46 f, 191 Klawans, J. 322 Lichtenstein, H. 325 Kleinknecht, H. 290 Liddell, H. G. 392 Klinzing, G. 47 Lieberman, S. 138, 220 ff Klotsch, A. 152 Lietzmann, H. 298, 308 Klumbies, P.-G. 193 Lieu, J. M. 148, 352, 362 Knapp, H. M. 342 Lightfoot, J. B. 18, 62, 64 Knöppler, T. 206, 208 f Limor, O. 386 Koch, D.-A. 151, 303 f, 308, Lindemann, A. 218, 231, 301 311 f Linnemann, E. 163 Kollmann, B. 224, 227, 229, Lips, H. von 240 235, 240 f Lockwood, W. 375

Lohmeyer, E. 237, 242, 244 Lohse, B. 353 Lohse, E. 16, 118, 120, 125, 152 f, 158, 193 ff, 197, 199, 205, 207, 280, 300, 308 f Löw, I. 233 Lowy, S. 230 Lüdemann, G. 76 Lührmann, D. 87 Luz, U. 85, 106, 245 ff, 254 f, 278, 314 f, 317 f, 326, 328– 332, 391 Maaß, F. 26 f, 68 Maccoby, H. 218 f, 232 f, 312 MacDonald, D. R. 360 Mach, M. 361 Macholz, C. 244 Mack, B. L. 237 MacLennan, R. S. 338, 350 Madec, G. 367 Magness, J. 50 Maier, J. 33, 35, 37, 44 ff, 49– 55, 57, 60, 76, 79, 101, 118, 210, 249 Manis, A. M. 350 Manson, T. W. 237 Marquard, O. 311 Martin, J. 339, 348 Martyn, J. L. 310 Mason, S. N. 19, 86, 100, 108, 134, 173, 321 Massignon, L. 370 Matera, F. J. 163, 170 Mayer, C. 359, 368 Mayer, G. 265 Mayer-Haas, A. J. 218, 227 ff, 231, 236, 238 ff Mayordomo, M. 312 McLean, B. H. 193 McNamara, M. 82 Mees, M. 358 Meier, J. P. 224, 331 f Menn, E. M. 258, 260, 269 Merklein, H. 89, 193, 206, 216 Merz, A. 102 f, 235, 237, 242 Meuschen, J. G. 62 Meyer, B. F. 195 Meyer, R. 112, 114, 117 Michel, O. 287 Micksch, J. 370 Milgrom, J. 210, 276 Montefiore, C. G. 63, 66, 80

415

Autorenregister Moo, D. J. 193, 195 Moore, G. F. 37, 62, 64, 134 Mor, M. 15, 25 Müller, K. 32–35, 37, 39–42, 76–79, 102, 116 Müller, Kl. 273 Müller, P. 359 Musurillo, H. A. 162 Nagel, T. 370 Naveh, J. 224 Nemoy, L. 375 Neudecker, E. 329 Neusner, J. 20, 24, 26, 36 f, 40–43, 58 ff, 77, 79, 103 f, 121, 125, 133 ff, 137, 143, 220, 233, 319, 362 Neyrey, J. J. 163 Nickels, P. 82, 163 Nickelsburg, G. W. 160, 163 Niebuhr, K.-W. 84, 101 Niehoff-Panagiotides, J. 383 f Nielsen, J. T. 80 Nineham, D. E. 237 Noakes, K. W. 338, 350 f Noam, V. 325 Nodet, E. 226 Norden, E. 337 Nork (= Korn), F. (J. S.) 62 Norris, F. W. 338, 351 Notley, S. 188 Nowak, W. 233 Oegema, G. S. 310 f, 375 Oeming, M. 32 Okeke, G. O. 190 O’Neill, J. C. 175 Oppenheimer, A. 114, 125 Osten-Sacken, P. v.d. 307, 309 Ottenheijm, E. 225, 229, 235 Paneli, E. 358 Pannenberg, W. 35 Parsons, M. C. 77, 176 Pastor, J. 15, 25 Patrich, J. 138 Penna, R. 193, 195, 199 Pérez Fernández, M. 31, 80 Perrone, L. 368 Pervo, R. I. 176 Pesch, R. 232 Petersen, W. L. 340 Peterson, E. 341

Philonenko, M. 242 f, 246 f, 253 Pickup, M. 95 Pilhofer, P. 19, 360 Plietzsch, S. 16 Plümacher, E. 321 Pool, D. de Sola 254 Popkes, W. 158 Powers, D. G. 153, 160 Preuss, J. 221, 227 Procksch, O. 244 Puech, É. 249 Rahn, H. 337, 342, 349 Räisänen, H. 308 Rajak, T. 361 Raveaux, T. 368 Reeg, G. 149 Reemts, C. 359, 367 Refoulé, F. 310 Regev, E. 188 f Rehkopf, F. 201 f, 246, 297, 323, 332 Reichert, A. 301 Reinbold, W. 163, 298–301, 310 Reiterer, F. V. 276 Rembaum, J. E. 372 ff, 377, 379 f, 386, 389, 399 Rendtorff, R. 209, 211 Rendtorff, T. 33 Rengstorf, K. H. 112, 350 f Repschinski, B. 90 Rettberg, D. J. 63, 67 Rey, J.-S. 283, 288 Reynolds, J. 321 Rhenferd, J. 62 Rivkin, E. 86, 99 f, 125 Robinson, J. M. 178 f Robinson, T. 62 Rohrhirsch, F. 48 Röhser, G. 193, 204, 208 Rokéah, D. 361 Roloff, J. 95 Rosenkranz, S. 372–376, 379, 386 f, 395 Rosenthal, J. 377, 389 Rubenstein, J. L. 27, 140 Ruck-Schröder, A. 242, 244, 247 Rudolph, A. 364 Ruether, R. 351 Runia, D. T. 364 Ruppert, L. 160

Ruzer, S. 173, 191 Ryle, H. E. 134 Safrai, S. 257 ff, 319, 326 Saldarini, A. J. 87, 97, 218, 232, 275 Salzmann, J. C. 336 Sanders, E. P. 19 f, 36 ff, 59 f, 64, 77, 99, 101, 105 f, 134 f, 151, 218 f, 228, 234 ff, 238, 309, 324 Sandmel, S. 28, 35, 40, 64, 84 Saramago, J. 152 Satran, D. 170, 338, 351 Scaer, P. 63, 170 Schäfer, P. 86, 96, 98, 103 Schaller, B. 19, 67, 73, 82, 85, 102, 105, 149 f, 204, 216, 218, 222, 225, 231 f, 237, 240 f, 249, 279, 288, 297, 300, 311, 328 Scheffler, E. 182 Scheid, B. 62 Schenk, W. 163, 193 Schenke, L. 237 Schiffman, L. H. 51, 230, 251 Schlichting, G. 395 Schlosberg, L. 373 Schluep, C. 193 Schmitz, R. 377 Schneider, G. 163, 166 Schnelle, U. 193, 205, 208, 240 Schoeps, H. J. 185 Scholer, D. M. 176, 178 f, 191 Schöttgen, J. C. 62, 64 Schreckenberg, H. 347, 359 Schreiber, J. 163 Schreiber, S. 193 f, 201–204, 206, 208 Schreiner, T. R. 193, 195 Schröder, M. 76 Schröter, J. 159, 165, 193, 206, 208 Schuller, E. 252 f Schüpphaus, J. 134 Schürer, E. 38, 73, 101, 103, 108 f, 117, 134, 138, 324 Schürmann, H. 151 f, 171 f, 242 Schwab, E. 32 Schwartz, D. R. 106, 125, 130, 134, 154, 156, 174 Schwartz, E. 225 Schweizer, E. 385

416 Schwemer, A. M. 149, 170 Scott, R. 292 Seeley, D. 153 Segal, M. H. 323 Seidl, T. 206, 211 Senior, D. P. 163, 165 ff Shaked, S. 224 Shatzman, I. 55 Sherwin-White, A. N. 163 Siegert, F. 298 f, 303, 310 ff Siegfried, C. 62 Sievers, J. 133 Sigal, P. 85, 218 f, 232 Siker, J. S. 364 Simon, M. 185 f Skehan, P. W. 200, 250 Smith, M. 28, 79, 134, 224 Smit Sibinga, J. 337 f, 346 Speigl, J. 164 Speyart van Woerden, I. 358 Soards, M. L. 163, 166 f, 169 Söding, T. 206 Sölle, D. 192 Solomon, N. 370 Soloweyczik, E. 63 Spiro, A. 185 Spiro, S. J. 109, 111 f, 115 Stanton, G. N. 168 f, 228, 235, 313 f, 317 f, 330 f Starcky, J. 243 Starnitzke, D. 193, 301 Steck, O. H. 164 Stegemann, H. 21, 47 ff, 53, 56, 118, 240, 248 ff, 252 Steinsaltz, A. 272 Stemberger, G. 24, 29, 40, 56, 58 ff, 75, 77 ff, 83, 97, 108, 115 f, 123, 125, 129 f, 135, 249, 262, 275, 357, 361 Sterling, G. E. 173 Steudel, A. 252, 281 f, 284 Stewart[-]Sykes, A. 338 ff, 348, 350 Stöger, A. 170 Stökl Ben Ezra, D. 192 f, 204 f, 209 ff, 215 Strack, H. L. 18, 28, 41, 61, 74 f, 78, 112 Strecker, G. 243, 247, 316 ff, 323, 329 ff Stroumsa, S. 372–379, 381 f, 386–392, 394–400

Autorenregister Strugnell, J. 118, 283 ff Stuhlmacher, P. 192, 206 Stuhlmann, R. 200 Suggs, M. J. 179 Surkau, H.-W. 165

Vouga, F. 231

Waubke, H.-G. 85 f, 100 Weber, F. 38, 73 Weder, H. 94 Weikmann, H. M. 357 Weiss, H. 241 Tannenbaum, R. 321 Weiß, H.-F. 100, 104 Taylor, M. S. 338, 351 f Wellesz, E. J. 337 Taylor, N. H. 185 f Wellhausen, J. 100, 125 Testuz, M. 335, 356 Wels, V. 347, 355 Theobald, M. 193–197 Theißen, G. 96 f, 102 f, 192 f, Wengst, K. 153, 157 f, 160 Werner, E. 350, 356 f 203, 205 ff, 242 Weth, R. 193 Thiede, C. P. 45 Wettstein, J. J. 62 Thiering, B. 45 Wewers, G. A. 271 Tholuck, A. 245 Wiens, D. L. 184 Thoma, C. 60 Wiese, C. 75 f Tolbert, M. A. 167 Wifstrand, A. 337 Tomson, P. J. 104, 232, 235, Wilamowitz-Moellendorff, U. 238, 314, 321, 324 –332 von 290 Tov, E. 44, 250 Wilckens, U. 198, 295, 303, Towner, W. S. 39 305, 310 Trautner-Kromann, H. 377 Wild, R. A. 103, 106 Trebilco, P. R. 19, 350 Wildberger, H. 246 Wilk, F. 89, 91, 108, 278, Ueding, G. 356 298 ff, 311, 317, 320, 359 Ulmer, R. 220, 222 f Wilken, R. L. 351, 368 Ulrich, E. 44 Willi-Plein, I. 211 Ulrich, J. 367 Untergaßmair, F. 163, 166, 170 Williams, D. S. 134 Williams, S. K. 153 Urbach, E. E. 258 Wilson, S. G. 338, 350 f, 353 f, 356 Valkenberg, P. 370 Winslow, D. F. 349, 353 Van den Brink, E. 358 VanderKam, J. C. 55, 86, 249 Winter, D. 96 Winter, P. 163 Van der Lof, L. J. 364 Wischmeyer, O. 8, 296 Van der Minde, H.-J. 195 Wold, B. G. 283 f Van der Waal, C. 342 Wright, N. T. 218, 237 f Van de Sandt, H. 329, 331 Wünsche, A. 62 f Van Esbroeck, M. 374, 379 Van Henten, J. W. 146–149, 151, 153 ff, 157–170, 175, Yarbro Collins, A. 165, 168, 171 191, 193 f, 204 f Van Unnik, W. C. 341, 345 Zager, W. 192 Veltri, G. 221, 223 f Vermes, G. 75, 80 ff, 96, 101, Zahl, P. F. M. 64 Zangenberg, J. 47, 50 109, 117, 134, 149, 218 f, Zeitlin, S. 249 232, 234 f, 324 Zeller, D. 192–199, 207 Versnel, H. S. 146, 159, 165, Zetterholm, M. 314, 332 194, 204 Zimmermann, H. 195 Vollmer, J. 192 Zimmermann, J. 46 Vos, J. S. 75, 308, 312