Platonismus und Christentum: Ihre Beziehungen und deren Grenzen 3161618084, 9783161618086, 9783161618789

Der vorliegende Band geht der Frage nach dem Verhältnis von Platonismus und Christentum in der Spätantike im Blick auf d

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German Pages 149 [150] Year 2022

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Titel
Inhaltsverzeichnis
Eve-Marie Becker — Platonismus und Christentum. Ihre Beziehungen und deren Grenzen. Zur Einführung in diesen Band
Christoph Markschies — ᾖυ ποτε ȍτε ούκ ᾖυ oder: Schwierigkeiten bei der Beschreibung dessen, was vor aller Zeit war
Holger Strutwolf — Ewige Zeugung. Die Paradoxie des absoluten Ursprungs im Neuplatonismus und im christlichen Denken
Christian Pietsch — Providenz. Getaufter Platonismus am Beispiel von Augustins De Genesi ad litteram
Alfons Fürst — Freiheit in der römischen Kaiserzeit – platonisch und christlich
Barbara Aland — Platonismus und Christentum. Ihre Beziehungen und deren Grenzen Ein persönlicher Dank und eine Antwort
Indices
1. Personenregister
2. Sachregister
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Platonismus und Christentum: Ihre Beziehungen und deren Grenzen
 3161618084, 9783161618086, 9783161618789

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Platonismus und Christentum

Platonismus und Christentum Ihre Beziehungen und deren Grenzen

Herausgegeben von

Eve-Marie Becker und Holger Strutwolf

Mohr Siebeck

Eve-Marie Becker, geboren 1972; 2001 Dr. theol.; 2004 Habilitation; 2006–18 Professorin für neutestamentliche Exegese an der Universität Aarhus/Dänemark; 2016–17 Distinguished Visiting Professor of New Testament an der Emory University in Atlanta/USA; seit 2018 Professorin für Neues Testament an der Westfälischen Wilhelms-­ Universität Münster. Holger Strutwolf, geboren 1960; Promotion 1991 in Heidelberg; 1997 Habilitation in Münster; 1998–2001 Vikar der Evangelischen Kirche der Pfalz; 2002–2004 Pfarrer z. A.; seit 2004 Lehrstuhlinhaber für Patristik und Neutestamentliche Textforschung und Direktor des INTF und des Bibelmuseums.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hermann Kunst-Stiftung. ISBN  978-3-16-161808-6 / eISBN  978-3-16-161878-9 DOI 10.1628/978-3-16-161878-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen aus der Garamond gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Barbara Aland zum 85.  Geburtstag

Inhaltsverzeichnis Eve-Marie Becker Platonismus und Christentum. Ihre Beziehungen und deren Grenzen Zur Einführung in diesen Band . . . . . . . . . . 1 *** Christoph Markschies ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν oder: Schwierigkeiten bei der Beschreibung dessen, was vor aller Zeit war . 11 Holger Strutwolf Ewige Zeugung. Die Paradoxie des absoluten Ursprungs im Neuplatonismus und im christlichen Denken . . . . . . . . . . . . . . . 41 Christian Pietsch Providenz. Getaufter Platonismus am Beispiel von Augustins De Genesi ad litteram . . . . . . . 69 Alfons Fürst Freiheit in der römischen Kaiserzeit – platonisch und christlich . . . . . . . . . . . . . . 89 ***

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Inhaltsverzeichnis

Barbara Aland Platonismus und Christentum. Ihre Beziehungen und deren Grenzen Ein persönlicher Dank und eine Antwort . . . . 121 *** Indices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Platonismus und Christentum. Ihre Beziehungen und deren Grenzen Zur Einführung in diesen Band Eve-Marie Becker 1. Die frühe christliche Bewegung trägt von Anfang an philosophische Züge. Paulus schreibt Briefe, die konzep­ tionell betrachtet den Philosophenbriefen am nächsten kommen,1 und spricht – zumindest nach lukanischer Dar­ stellung – auf dem Areopag die Philosophen direkt an (Apg 17,22–31). Nicht umsonst stammt er vermutlich aus dem kilikischen Tarsus, das – wie wir vom Geographen Strabon wissen – für die Hochschätzung von Philosophie und Bildung bekannt ist: „Die dortigen Einwohner zeigen einen solchen Eifer sowohl für die Philosophie als für alle übrigen gemeinen Wissenschaften, daß sie selbst Athen und Alexandria und jeden anderen Ort, den man etwa sonst noch nennen kann, wo es Schulen und Unter­ richt der Philosophen gab, übertreffen“ (geogr. XIV 5,13).2

1   Vgl. z. B. Martin Hose, Kleine griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Ende der Antike, München 1999, 213. 2   Übersetzung nach: Strabo, Geographica, in der Übersetzung und mit Anmerkungen von Albert Forbiger neu gesetzte und überarbeitete Ausgabe von Philipp Weyer-Menkhoff/Lars Hoffmann, Wiesbaden 22007, 960.

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Doch auch wenn die frühchristliche Bewegung in ihren geographischen Räumen in Kleinasien, Griechenland oder Rom kaum unabhängig von philosophischen Schu­ len und popularphilosophischen Einflüssen vorzustellen ist – erst in der Mitte des 2.  Jahrhunderts wird die antike Schulphilosophie zu einem eigenen Thema der christ­ lichen Theologie. Der Theologe und spätere Märtyrer ­Justin, der den Ehrentitel „Philosoph und Märtyrer“ tra­ gen wird (Tertullian, adv. Val. 5,1), berichtet in Dialog­ form davon, wie er zunächst seiner Liebe zur Philosophie und speziell zur Philosophie platonischer Prägung nach­ ging und dann zur Abkehr davon bewegt wurde. Auf die Frage: „‚Welche Meinung hast du von Gott, und welches ist deine Philosophie? Sage es uns!‘“ (dial. 1,6), antwortet Justin wie folgt: „‚Ich will dir … meine Meinung mitteilen. Es ist nämlich in der Tat die Philosophie ein sehr großes Gut, das auch vor Gott sehr viel gilt, zu dem sie allein uns führt, und mit dem sie allein uns verbindet, und wirklich heilig sind diejenigen, welche sich der Philosophie hingeben. Was aber Philosophie ist, und warum sie zu den Menschen geschickt wurde, bleibt der Menge verborgen. Denn sonst gäbe es nicht, obwohl sie nur eine einzige Wissen­ schaft ist, Platoniker und Stoiker und Peripatetiker und Theore­ tiker und Pythagoreer …‘“ (dial. 2,1).3

Dass Justin alle genannten Schultraditionen selbst durch­ läuft, verwundert nicht. Wir lesen Vergleichbares beim jüdischen Historiker Flavius Josephus (vgl. vit. 10 f.), beim griechischen Enzyklopädisten Plutarch, der u. a. hierin durch seinen Lehrer Ammonius geprägt war (vgl. z. B. E 3   Übersetzung hier und im Folgenden nach: Justinus, Dialog mit dem Juden Tryphon, übersetzt von Philipp Haeuser, neu hg. von Katharina Greschat/Michael Tilly, Wiesbaden 2005.

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apud Delph. 1, 385 b; adul. et am. 31, 70 e),4 oder gut 200 Jahre nach Justin bei Augustinus, dem späteren Bischof von Hippo (vgl. bes. conf. passim). Bemerkenswert jedoch ist, wie Justin selbst rückblickend beschreibt, was genau ihn zu den Platonikern brachte: „Sehr interessierte mich“, so berichtet er, „die Geistigkeit des Unkörperlichen, das Schauen der Ideen gab meinem Denken Flügel, in kurzer Zeit wähnte ich, weise zu sein, und in meiner Beschränktheit hegte ich die Hoffnung, unmittelbar Gott zu schauen; denn dies ist das Ziel der Philosophie Platos“ (dial. 2,6).

Doch: Dabei bleibt es nicht. Auf der Suche nach Ruhe und Muße zur Philosophie wird Justin am Strand in ein wei­ teres Gespräch – nunmehr mit einem alten Mann von „ge­ winnendem Äußeren und von mildem, ernstem Charak­ ter“ (dial. 3,1) – verwickelt, in dem er schließlich zu der Einsicht gelangt, dass auch die platonische Suche nach Gott für ihn ein Holzweg ist, weil sie ihm die Gotteser­ kenntnis, die er selbst wünscht, nicht bringt. Stattdessen erfasst Justin – auf Anraten des alten Mannes – „die Liebe zu den Propheten und jenen Männern, welche die Freunde Christi sind. Ich dachte bei mir über die Lehren des Mannes nach und fand darin die allein verlässige und nut­ zenbringende Philosophie“ (dial. 8,1). Justin führt uns mit seinem Dialog und seinen beiden Apologien in die Zeit des Mittelplatonismus5 – in eben je­ nen kaiserzeitlichen, religiös geprägten Platonismus vor Plotin, in dem auch die koptisch-gnostischen Texte der 4  Zu Ammonius vgl. Platonici Minores. 1.  Jh. v.Chr. – 2.   Jh. n.Chr. Prosopographie. Fragmente und Testimonien, mit deutscher Übersetzung hg. von Marie-Luise Lakmann (Philosophia Antiqua 145), Leiden/Boston 2017, 43–49 (Prosopographie). 5   Vgl. dazu die Personen und Testimonien, in: Platonici Minores (wie Anm.  4).

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sog. Nag Hammadi Bibliothek florieren. Das Beispiel des Apologeten Justin, der zugleich in den „Interpretations­ horizont“ der sog. Zweiten Sophistik zu stellen ist, 6 gibt zu erkennen, wie die Philosophie (platonischer Prägung) ein – wie Christian Tornau es formuliert hat – „Experi­ mentierfeld“ ist,7 das erst im Neuplatonismus einheitliche Konturen gewinnen wird. Zugleich bildet Justin in seiner Auseinandersetzung mit dem Platonismus, wie sie in sei­ nem Dialog und in seinen Apologien zum Ausdruck kommt, bereits die wesentlichen Fragen zur Weltentste­ hung bzw. Schöpfung oder zur Freiheit ab,8 die auch die Beiträge des Kolloquiums und des vorliegenden Bandes – wenngleich aus der Perspektive einer späteren Zeit – wie­ deraufnehmen. 2. In eben jenem späteren Neuplatonismus, der dann zu­ gleich als „letzte Epoche der griechischen Philosophie“ gilt,9 wird das Terrain von Platonismus und Christentum ein letztes Mal – könnte man sagen – neu vermessen. Die Gretchen-Frage bleibt: Worauf stützt sich das Lehrpro­ gramm der Denkschule – auf Platon oder die Bibel? Welches ist hier schlussendlich der autoritative Text? Bei allem Spielraum, den der sog. Christliche Platonismus von 6  Vgl. Justin, Apologiae/Apologien, eingel., übers. und komm. von Jörg Ulrich (FC 91), Freiburg u. a. 2021, 15. 7  Christian Tornau, Der Mittelplatonismus, in: Christoph Horn/­Jörn Müller/Joachim Söder (Hg.), Platon Handbuch. Le­ ben – Werk – Wirkung, Berlin 22020 (Sonderausgabe), 414–421, hier 415. 8   Vgl. dazu die kurze Darstellung bei Claus Peter Vetten, Art. Justin der Märtyrer, in: LACL3, 2002, 411–414, bes. 413. 9  Matthias Perkams, Spätantike II: Späterer Neuplatonismus, in: Horn/Müller/Söder, Platon Handbuch (wie Anm.  7), 430– 434, hier 430.

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der Mitte des 2.  Jahrhunderts an dem theologischen Den­ ken gewährt und im Blick auf patristische Platon-Rezep­ tion eröffnet, führen – wie Tornau zeigt – das Nachden­ ken über das sog. Chrêsis-Prinzip und der Kampf um den Altersbeweis im Ergebnis doch zu einer Art christlicher Annexion der antiken Philosophie,10 die schon Justin sei­ nerzeit wie folgt auf den Punkt gebracht hatte: „Was immer also bei allen (= Stoikern, Platonikern, Dichtern und Schriftstellern) auf treffliche Weise gesagt worden ist, ge­ hört uns Christen“ (apol. II 13,4). Denn: „Als Christ erwiesen zu werden, darum bete ich und dafür kämpfe ich mit aller Kraft, und ich bekenne nicht, dass die Lehren des Platon denen des Christus fremd sind, sondern, dass sie ihnen nicht in allem gleich sind, wie es auch die der anderen nicht sind, der Stoiker und Dichter und Schriftsteller“ (apol. II 13,2).11

Doch: Gilt dies auch umgekehrt? Was denken die Platoni­ ker über Christen, und was tun sie mit dem Christentum? Lassen sie das entstehende Christentum in ihrem (theolo­ gischen) Denken unberücksichtigt, oder nehmen sie es wahr? Wie weit reichen die Beziehungen? Können wir gar von Wechselwirkungen sprechen?12 Jedenfalls scheint ­Julian, der sog. Apostat, seine christliche Prägung – so 10  Diese ‚Annexion‘ der platonischen Philosophie steht jedoch bereits in der Traditionslinie Philons von Alexandria und der Zu­ wendung der hellenistisch-jüdischen Theologie zur antiken Philo­ sophie. 11   Übersetzung nach Ulrich, Justin (wie Anm.  6) 231–233. 12  Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Holger Strutwolf, ­Interpretatio Graeca. Selbstverständnis und Polemik im Konflikt der Weltanschauungen des 4. und 5. Jahrhunderts, in: Angelika Dörfler-­Dierken/Wolfram Kinzig/Markus Vinzent (Hg.), Christen und Nichtchristen in Spätantike, Neuzeit und Gegenwart. Beginn und Ende des Konstantinischen Zeitalters, Mandelbachtal/ Cambridge 2001, 23–40.

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sehr er sich müht – nicht verleugnen zu können.13 Und schon ein früher neuplatonischer Philosoph wie Jamblich könnte sich bei seinem Nachdenken über den Menschen im Kosmos der christlichen Denkangebote bewusst ge­ wesen sein und zumindest versuchsweise gegen sie pole­ misieren – wie Barbara Aland in einem jüngst erschie­ nenen Aufsatz (2021) über die „Hochschätzung der Welt in dualistisch gestimmter Zeit“ überlegt.14 Denn manche Lösung der Christen für philosophische Probleme ist – wie Barbara Aland hier schreibt – letztlich „kühn“.15 3. Das Thema des Kolloquiums vom 6. Mai 2022, das zu Ehren von Frau Professorin Barbara Aland anlässlich ihres 85.  Geburtstages am 12. April im Schloss der West­ fälischen Wilhelms-Universität Münster stattfand und im vorliegenden Band festgehalten ist, führt uns in jene Jahr­ hunderte der Antike, in denen das Christentum Fuß fasste und auf das Experimentierfeld der platonischen Philoso­ phie geriet. Für mich als Neutestamentlerin sprengt die Zeit, die mit und nach der sog. Apologetik beginnt, die Grenzen des Fachs – wir begeben uns hier auf patristi­ sches und philosophisches Gelände. Mit den Kollegen Christoph Markschies aus Berlin sowie Christian Pietsch 13   Vgl. Adolf Martin Ritter, Julians Helios-Theologie in Aus­ einandersetzung mit dem Christentum, in: Franco Ferrari u. a., Sonne, Kosmos, Rom. Kaiser Julian, Hymnos auf den König Helios (SAPERE XL), Tübingen 2022, 233–253, hier 244. 14   Vgl. Barbara Aland, Die Hochschätzung der Welt in dualis­ tisch gestimmter Zeit. Zur Bedeutung des Kosmos in den herme­ tischen Schriften und deren Rezeption bei Jamblich von Chalkis, in: Niclas Förster/Uwe-Karsten Plisch (Hg.), Universum Herme­ ticum. Kosmogonie und Kosmologie in hermetischen Schriften (STAC 131), Tübingen 2021, 167–195. 15   Ebd. 193.

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und Alfons Fürst aus Münster konnten Holger Strutwolf und ich eben jene „Fachmänner“ für dieses Kolloquium gewinnen, die die Kontaktpunkte und den Prozess mög­ licher Beziehungen oder gar Wechselwirkungen von Pla­ tonismus und Christentum in ihren Vorträgen aspekthaft ausleuchten. Wir danken ihnen sehr für ihr Kommen und Mitwirken an diesem erfreulichen Ereignis in Münster und für all ihre freundliche Kooperation bei der anschlie­ ßenden Vorbereitung der Publikation. Mit ihnen zusammen erkunden wir den christlichen Platonismus – und damit das Thema, das unsere Jubilarin, die Philologin, Historikerin und Theologin zugleich ist, in diesen Jahren beschäftigt und fasziniert und zu dem sie selbst – Gründungsmitglied der Academia Platonica Septima Monasteriensis – wichtige Forschungsbeiträge geleistet hat und weiterhin leistet. 4. Barbara Aland hat für die neutestamentliche Wissen­ schaft in Münster und über Münster hinaus eine signifi­ kante Bedeutung. Von 2005–2006 war sie Präsidentin der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS). Als lang­ jährige, über mehr als zwei Jahrzehnte (1983–2004) tätige Direktorin des Instituts für neutestamentliche Textforschung (INTF) ist ihr Name und der ihres 1994 ver­ storbenen Ehemannes Kurt Aland untrennbar mit der kritischen Edition des Neuen Testaments – des „NestleAland“ – verbunden.16 Und so danken wir der Hermann Kunst-Stiftung zur Förderung der neutestamentlichen 16   Zur (Selbst-)Darstellung ihrer Aufgabe als Textforscherin vgl. Barbara Aland, Textkritik des Neuen Testaments. Edieren und In­ terpretieren, in: Eve-Marie Becker (Hg.), Neutestamentliche Wis­ senschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theolo­ gie (UTB 2474), Tübingen/Basel 2003, 236–242.

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Textforschung sehr für die großzügige Förderung dieses Kolloquiums und der daraus hervorgehenden Publika­ tion. Der Name „Aland“ steht für das Institut für neutestamentliche Textforschung und vielleicht wichtiger noch: für die kritische Exegese des Neuen Testaments, die jeweils mit der Rekonstruktion des „Ausgangstextes“ be­ ginnt. Wenn das INTF und das Neutestamentliche Seminar – vertreten durch Holger Strutwolf und mich – in Zusam­ menarbeit mit dem Dekanat der Evangelisch-Theo­ logischen Fakultät dieses Kolloquium zum Thema „Platonismus und Christentum“ gestaltet haben, dann war damit bewusst jenes Thema gewählt, dem Barbara Alands Forschungsinteresse der vergangenen Jahre galt und weiterhin gilt: dem Neuplatonismus – eben jenem Feld, in dem die frühe Christentumsgeschichte in den Horizont platonischer Welterklärung tritt. Wir ehren mit dem Kolloquium und dieser Publikation eine Forscherin, die mit vielfachen Ehrungen ausgezeich­ net wurde, wie der Paulus-Plakette des Bistums Münster (1998), dem Bundesverdienstkreuz am Bande (2011) und der Burkitt Medal for Biblical Studies (2016). Barbara Aland ist in aller Welt bekannt und blieb doch immer Münster verbunden. Wir ehren eine entschlossene, aber stets bescheidene Forscherin – eine Wissenschaftlerin und Frau, die die Lebens- und Karrierewege vieler von uns, die beim Kolloquium zugegen waren und/oder den vorlie­ genden Band in Händen halten werden, in großer Herz­ lichkeit begleitet und gefördert hat und der wir individuell wie auch als Evangelisch-Theologische Fakultät in Mün­ ster sehr viel – und zwar bleibend – zu verdanken haben. Mit Barbara Aland zusammen haben wir an jenem Nachmittag des 6. Mai 2022 gemeinsam über „Platonis­

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mus und Christentum“ nachgedacht. Wir freuen uns be­ sonders, dass dieser Band, der die Vorträge des Nachmit­ tags versammelt, mit einem Beitrag der Jubilarin selbst schließt: „Ein persönlicher Dank und eine Antwort“. Darin formuliert Barbara Aland ihre Überlegungen, ­ ­Fragen und Anregungen, die über den Tag des Kolloqui­ ums h ­ inausweisen und dem Thema „Platonismus und Christentum. Ihre Beziehungen und deren Grenzen“ viel­ fältige, weiterführende, anspruchsvolle Aufgaben zuwei­ sen.

ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν oder: Schwierigkeiten bei der Beschreibung dessen, was vor aller Zeit war Christoph Markschies für Barbara Aland zum 12. April1

Mein Beitrag beginnt ganz schlicht – mit der Frage, wie man einen griechischen Text angemessen übersetzen soll. Er beginnt so schlicht, weil es eben kein Zeichen naiver Hermeneutik ist, wenn man in historischen Fächern erst einmal bei Texten ansetzt und diese Texte nach ihrer Sprachgestalt angemessen zu erfassen versucht. Bei der Diskussion eines Übersetzungsproblems werden wir ein mit dem Thema „Zeit“ verbundenes Problem identifizie­ ren, das als Sprach- und Denkproblem in der Geschichte der christlichen Theologie seit den Anfängen eine wich­ 1   Mit diesen Zeilen grüße ich Barbara Aland auf das Herzlichste und danke für viele gute Gespräche seit den denkwürdigen ersten, die sie (zunächst auf Empfehlung von Martin Hengel 1989 brieflich) mit dem jungen Doktoranden über dessen erste Thesen zu den Frag­ menten des Valentin führte. Sie hat damit, obwohl das damals noch gar nicht selbstverständlich war, einen (seinerzeit) jungen Wissen­ schaftler wie einen Kollegen behandelt und seine Ideen wie Fragen ernst genommen. Das ist mir seitdem auch ein Vorbild für meinen eigenen Umgang mit jungen Kolleginnen und Kollegen geworden und geblieben.

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tige Rolle gespielt hat. Wir gehen chronologisch rück­ wärts und verfolgen das Problem, das wir zunächst an­ hand einer bekannten Formel aus dem vierten Jahrhundert behandeln, dann ins zweite nachchristliche Jahrhundert zurück. These des Vortrags ist, dass unser Problem die theologischen Diskussionen unter Christen in den ersten Jahrhunderten stärker prägt, als bisher wahrgenommen wurde, und sich eine interessante neue Perspektive ergibt, wenn man unter dieser Fragestellung antike Texte ge­ meinsam betrachtet, die normalerweise nicht als zusam­ mengehörig empfunden werden. Ein solcher Zugriff auf ein Problem impliziert natürlich, dass hier nur ein Exposé vorgelegt wird und nicht eine erschöpfende Analyse die­ ses Problems.2

1. Ein Übersetzungsproblem: Was bedeutet ποτέ? Im Jahre 325 n.Chr. versammelte der Kaiser Konstantin in seiner an einem idyllischen See gelegenen Sommerresi­ denz Nicaea die christlichen Bischöfe seines Reiches, um ein Festbankett anlässlich seines zwanzigjährigen Regie­ rungsjubiläums zu geben. Natürlich ging es dem Mo­ narchen nicht nur um ein Festbankett. Er lud alle christ­ 2   Entsprechend vorläufig sind die Nachweise in den Fußnoten, auf Sekundärliteratur wird bislang nur sehr ausgewählt verwiesen.  – Kerngedanken dieses Beitrags wurden erstmals auf einer Tea-Time des Berliner EinsteinCenters „Chronoi – Time and Awareness of Time in Ancient Societies“ (https://www.ec-chronoi.de/; letzter Zugriff am 6. Juni 2022) im Februar 2022 vorgestellt; für allerlei freundliche Anregungen und Hinweise danke ich denen, die damals Corona-bedingt digital mitdiskutiert haben, vor allem aber den Freunden wie Kollegen Glenn Most und Johannes Zachhuber und der Wiener Kollegin und Freundin Uta Heil.

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lichen Bischöfe seines Reiches ein und gestattete ihnen, für die Reise die kaiserliche Post zu benutzen, um Streit­ fragen innerhalb der christlichen Kirche, die er allesamt für Quisquilien hielt, zu schlichten.3 Die neue Reichsreli­ gion sollte in allen wesentlichen Fragen des Kalenders und der kirchlichen Lehre einheitlich verfasst sein, um nach­ haltig zur Einheit und dem Frieden im krisengeschüt­ telten Reich beitragen zu können. Auf der Agenda der Festversammlung der Bischöfe beim Kaiser stand neben der Klärung eines einheitlichen Termins für das Osterfest auch die Klärung einer Auseinandersetzung um die ­Theologie eines Presbyters in Alexandria namens Arius.4 Dieser Gemeindepfarrer hatte – soweit wir wissen – in­ nerhalb der Trinität eine radikale Unterordnung (wir sa­ gen: Subordination) des Sohnes unter den Vater vertreten, vermutlich, weil man den großen alexandrinischen Theo­

3   Ich erlaube mir für diese eher essayistische Einführung auf ei­ nen eigenen Titel zu verweisen: Christoph Markschies, Theolo­ gische Diskussionen zur Zeit Konstantins. Arius, der „arianische Streit“ und das Konzil von Nicaea, die nachnizänischen Auseinan­ dersetzungen bis 337, in: ders., Alta Trinità Beata. Gesammelte Stu­ dien zur altkirchlichen Trinitätstheologie, Tübingen 2000, 99–195. Dort finden sich die wichtigsten Nachweise auf die Quellen und die seinerzeit wichtige Sekundärliteratur. Aus den folgenden zwei Jahr­ zehnten möchte ich vor allem hervorheben: Lewis Ayres, Nicaea and its Legacy. An Approach to Fourth-Century Trinitarian Theo­ logy, Oxford 2004, und das Special Issue der Zeitschrift „Harvard Theological Review“ zum Thema „The God of Nicaea: Disputed Questions in Patristic Trinitarism“, hg. und eingeleitet von Sarah Coakley, in dem insbesondere orthodoxe Kollegen mit Ayres über dessen Thesen diskutieren: HTR 100 (2007) 125–178. 4   Die Bedeutung der Osterterminfrage hebt insbesondere her­ vor: Hanns Christof Brennecke, Art. Nicäa I. Ökumenische Sy­ node von 325, in: TRE 24 (1994) 429–441.

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logen Origenes so auslegen konnte5 und auch in den mit­ tel- und neuplatonischen Systemen die zweiten Prinzipien dem ersten Einen streng subordiniert waren. 6 Dieser Theo­logie hatten sich allerlei kluge und prominente Bi­ schöfe angeschlossen, sie war aber auch ebenso heftig ab­ gelehnt worden, wie sie begrüßt worden war. Da auch der Ortsbischof des Arius zu den Gegnern seines Pfarrers ge­ hörte, eskalierte der Streit schnell und gefährdete zuneh­ mend den kirchlichen wie öffentlichen Frieden. Die erste reichsweite und erste vom Kaiser einberufene Kirchenversammlung, die wir Konzil nennen, hielt ihre Entscheidung in einem Glaubensbekenntnis fest, das im Kern das noch heute als sogenanntes großes Glaubens­ 5   An dieser Stelle ist es natürlich nicht möglich, die hier vertre­ tene Deutung ausführlicher ins Gespräch zu bringen mit den maß­ geblichen Beiträgen zum Thema. Dazu gehören in jedem Falle neben den in Anm.    3 genannten Veröffentlichungen: Rudolf Lorenz, ­A rius Judaizans? Untersuchungen zur dogmengeschichtlichen Ein­ ordnung des Arius (FKDG 31), Göttingen 1979; Rowan Williams, Arius. Heresy and Tradition (Revised Edition), Grand Rapids MI 1987; Adolf Martin Ritter, Arius redivivus? Ein Jahrzwölft Aria­ nismusforschung, in: TRu N.F. 55 (1990) 153–187; Thomas Böhm, Die Christologie des Arius. Dogmengeschichtliche Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung der Hellenisierungsfrage (STG 7), St. Ottilien 1991; ders., Einige Aspekte zur jüngeren Arius-For­ schung, in: MTZ 44 (1993) 109–118; Winrich A. Löhr, Arius Re­ considered (Part  1), in: ZAC 9 (2006) 524–560; (Part  2), in: ebd. 10 (2007) 121–157; Hanns Christof Brennecke, Die letzten Jahre des Arius, in: ders./Annette von Stockhausen (Hg.), Von Arius zum Athanasianum. Studien zur Edition der „Athanasius Werke“ (TU 164), Berlin/Boston 2010, 63–83. 6  Heinrich Dörrie†/Matthias Baltes†/Christian Pietsch un­ ter Mitarbeit von Marie-Luise Lakmann, Die philosophische Lehre des Platonismus. Theologia Platonica. Bausteine 182–205: Text, Übersetzung, Kommentar (Der Platonismus in der Antike 7.1), Stuttgart-Bad Cannstatt 2008.

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bekenntnis an Festtagen gesprochene Nicaeno-Constan­ tinopolitanum prägt (CPG IV, 8512).7 Entfallen sind ­allerdings in dieser revidierten konziliaren Form die ur­ sprünglichen Verwerfungsformeln (Anathematismen), 8 und um deren Übersetzung geht es mir. Sie befinden sich am Ende des nizänischen Glaubensbekenntnisses und be­ ginnen so: Τοὺς δὲ λέγοντας· ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν, καὶ πρὶν γεννηθῆναι οὐκ ἦν, καὶ ὅτι ἐξ οὐκ ὄντων ἐγένετο, ἢ ἐξ ἑτέρας ὑποστάσεως, ἢ οὐσίας φάσκοντας εἶναι, [ἢ κτιστόν, ἢ]9 τρεπτὸν ἢ ἀλλοιωτὸν τὸν υἱὸν τοῦ Θεοῦ, τούτους ἀναθεματίζει ἡ καθολικὴ καὶ ἀποστολικὴ ἐκκλησία.10 7   Der kritische Text von Dossetti (siehe folgende Anm.) in knap­ per Form auch bei Giuseppe Alberigo, Dekrete der ökumenischen Konzilien, übers. und hg. von Josef Wohlmuth, Bd.  1, Paderborn u. a. 21998, 5 f. Wichtige Hinweise zum Text auch bei Clavis Patrum Graecorum, Bd.   IV: Concilia, Catenae, cura et studio Maurice ­Geerard, deuxième édition, revue et mise à jour par Jacques ­Noret, Turnhout 2018, 9 Nr.  8512. 8   Zum Thema gibt es merkwürdig wenig Literatur: Karl Hofmann, Art. Anathema, in: RAC 1 (1950) 427–429; Ch. Michel, Art. Anathème, in: DACL I/2 (1924) 1926–1940, sowie Lorenzo Perrone, L’anatema dei concili, in: PSV 21 (1990) 255–271. Im Sep­ tember 2024 wird in Berlin im Zusammenhang des internationalen Jubiläums des Konzils von Nicaea von Uta Heil und Christoph Markschies eine Konferenz zum Thema vorbereitet. 9   Dazu Maurice F. Wiles, A Textual Variant in the Creed of the Council of Nicaea, in: StPatr 26 (1993) 428–433. 10   Giuseppe Luigi Dossetti, Il Simbolo di Nicea e di Costanti­ nopoli. Edizione critica, Rom u. a. 1967, 66. – Oskar Skarsaune, A Neglected Detail in the Creed of Nicaea (325), in: VC 41 (1987) 34–54, hier 46, hat darauf hingewiesen, dass die Gliederung der Anathematismen der von Urk. 14 = Dok. 17 folgt. Mit den Abkür­ zungen „Urk.“ und „Dok.“ beziehe ich mich auf: Athanasius Werke, Bd.   III/1, Lfg. 1–2: Urkunden zur Geschichte des arianischen Streites, Berlin/Leipzig 1934–1935. Die dritte Lieferung kam über Aushangbögen nie hinaus und wurde erst 2007 durch eine vollkom­ men neue Bearbeitung abgelöst, für die Hanns Christof Brennecke,

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Die gewöhnliche deutsche Übersetzung lautet: „Diejenigen aber, die da sagen ‚es gab eine Zeit, da er nicht war‘ und ‚er war nicht, bevor er gezeugt wurde‘, und er sei aus dem Nichtseienden geworden, oder die sagen, der Sohn Gottes stamme aus einer an­ deren Hypostase oder Wesenheit, [oder er sei geschaffen oder] ‚wandelbar‘ oder ‚veränderbar‘, die belegt die katholische und apostolische Kirche mit dem Anathema.“11 Englisch übersetzt man: „But those who say: ‚There was a time when he was not‘; and ‚He was not before he was made‘; and ‚He was made out of nothing‘, or ‚He is of another substance‘, or ‚essence‘, or ‚The Son of God [is created‚‘, or] ‚changeable‘, or ‚alterable‘ – they are condemned by the holy catholic and apos­ tolic Church.“

Nun zum Übersetzungsproblem im Detail: Mich hat seit vielen Jahren gewundert, dass ἦν ποτε gewöhnlich um­ standslos übersetzt wird mit „es gab eine Zeit“ oder „there was a time“. In Wahrheit steht da allerdings nicht ἦν ποτε χρόνος, wie beispielsweise in einer skeptischen Argumen­ tation bei Sextus Empiricus gegen die Vorstellung, dass Zeit einen Anfang und ein Ende haben könne: εἰ γὰρ πεπέρασται ὁ χρόνος, ἦν ποτὲ χρόνος, ὅτε [ὁ] χρόνος οὐκ ἦν, καὶ ἔσται ποτὲ χρόνος, ὅτε οὐκ ἔσται χρόνος. „For if time is Uta Heil und Annette von Stockhausen (zeitweilig auch Angelika Wintjes) verantwortlich zeichnen. Von dieser Neubearbeitung un­ ter dem Titel „Dokumente zur Geschichte des arianischen Streits“ erschienen bisher drei Lieferungen: 3, 2007; 4, 2014 und 5, 2020. Zur Geschichte und Neukonzeption vgl. das Vorwort von Lfg. 3 aus der Feder der Herausgebenden, v–viii. 11  Anders Brennecke u. a., ebd. Lfg. 3, 2007 (Urk. 24 = Dok. 26), 109: „Die aber, die sagen ‚es war einmal, dass er nicht war‘ oder ‚er war nicht, bevor er gezeugt wurde‘ oder ‚ aus dem Nichts wurde er‘ oder die behaupten, er sei aus einer anderen Hypostase oder einem anderen Wesen, oder aber sagen, der Sohn Gottes sei geschaffen, wandelbar oder veränderlich, diese verdammt die katholische und apostolische Kirche.“

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limited, there was once a time when time did not exist, and there will one day be a time when time will not exist“ (wir werden uns mit dieser Passage noch etwas ausführlicher beschäftigen).12 Entsprechend lautet die eingeführte alte lateinische Übersetzung des großen Glaubensbekennt­ nisses viel präziser: Erat quando non erat. Man müsste also vom Lateinischen her das Griechische im Deutschen präziser übertragen: „Es gab ein Irgendwann einmal“ (so auch im Zuge seiner kritischen Edition Dossetti in einer lateinischen Übersetzung: erat aliquando quando non erat vere).13 Was bedeutet die Zeitpartikel ποτέ ohne χρόνος, wie es in der bekannten Formel ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν verwendet wird? Im griechischen Lexikon von Liddell-Scott-Jones heißt es zu ποτέ in unserer Verwendung: „of some unknown point of time, … once“ bzw. „esp. in telling a story, once upon a time“; 14 bei Franco Montanari „at some time, at any time, … sometimes, at certain times, ever“15 und im neutestamentlichen Wörterbuch von Bauer und Aland (in dem häufiger die ursprünglichen Wortbedeu­ tungen von Bauer übernommen worden sind) „irgendein­ mal, einstmals, ehedem“.16 Für welche Bedeutung aus den 12   Sextus Empiricus, adv. math. II 189 (II p.  515,11–15 Mutschmann); s. u. S. 24. 13   Dossetti, Il Simbolo di Nicea e di Costantinopoli (wie Anm.  10) 67. 14   LSJ s.v. 1454a. 15   The Brill Dictionary of Ancient Greek by Franco ­Montanari, Co-Authors Ivan Garofalo/Daniela Manetti (English edition: Madeleine Goh/Chad Schroeder), Leiden/Boston 2015, 1730. 16   Bauer/Aland, WB 1393. – Ich füge noch hinzu ohne An­ spruch auf Vollständigkeit: Takamitsu Muraoka, A Greek-English Lexicon of the Septuagint, Louvain u. a. 2009, 579: „at some unknown point of time“. Die Ausbeute der einschlägigen Gramma­

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handelsüblichen Lexika auch immer man sich entscheidet, die vertraute deutsche Übersetzung „es gab eine Zeit“ ver­ tuscht die vollkommene Unbestimmtheit, die der enkli­ tischen Partikel ποτέ jedenfalls auch innewohnt. ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν kann, für sich genommen, heißen: „Es gab eine bestimmte Zeit, als er noch nicht war“, es kann aber, für sich genommen, auch heißen: „Es gab ein Irgendwann einmal, als er noch nicht war“. Wäre „Zeit“ im ποτέ immer mitgesetzt, müsste χρόνος nicht ergänzt werden. Was meint die Phrase ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν nun aber bei Arius, die vielleicht auch gerade deswegen im Glaubensbekenntnis zitiert wird, weil sie so unbestimmt wie unpräzise ist, und im Unterschied zu mehrheitskirchlicher Klarheit eine Unbestimmtheit Häretiker wie die hier Verurteilten kennzeichnet? Weiter kommen wir an dieser Stelle nur, wenn wir die Formel nicht nur in ihrer Verwendung im antihäretischen Bekenntnis der Synode studieren, sondern nach Belegen und Kontexten bei Arius selbst suchen.17 Und dafür helfen tiken ist schmal, ebenso der Spezialwörterbücher, vgl. aber Lexicon Athanasianum, digessit et illustravit Guido Müller, Berlin 1952, 1237 f., und Hoogeveen’s Greek Particles abridged and translated into English by John Seager, London 1829, 170 f., sowie Camille Denizot, Les différentes manières de dire „jamais“ en grec ancien. L’emploi de ποτέ ou de πώποτε, in: Bulletin de la Société de linguis­ tique de Paris 106 (2011) 183–220. 17   Aus der Fülle hier zu nennender einschlägiger Literatur: Hal Koch, Pronoia und Paideusis. Studien über Origenes und sein Ver­ hältnis zum Platonismus (AKG 22), Berlin/Leipzig 1932, 274–276; Carl Andresen, Logos und Nomos. Die Polemik des Kelsos wider das Christentum (AKG 30), Berlin 1955, 313; Eginhard P. Meijering, HN IIOTE OTE OYK HN O YIOΣ. A Discussion on Time and Eternity, in: VC 28 (1974) 161–168; Lorenz, Arius Judaizans? (wie Anm.  5) 54–61; Williams, Arius (wie Anm.  5) 103–116; Löhr, Arius Reconsidered (Part  2) (wie Anm.  5) 149–157.

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sehr frühe Texte des Arius aus den Anfängen sowie ersten Jahren des Streites um seine Theologie, die in unserem Zu­ sammenhang nicht präzise datiert werden müssen (sicher nach 318, eher vor 321 n.Chr.): In der vielleicht ersten Nachricht über die Theologie des Arius, die aus einem Rundbrief seines Ortsbischofs Alexander an alle Bischöfe stammt, heißt es (Urk. 4b,7 = Dok. 1,7) als Zitat: Οὐκ ἀεὶ ὁ Θεὸς πατὴρ ἦν, ἀλλ’ ἦν ὅτε ὁ Θεὸς πατὴρ οὐκ ἦν· οὐκ ἀεὶ ἦν ὁ τοῦ Θεοῦ λόγος, ἀλλ’ ἐξ οὐκ ὄντων γέγονεν. „Nicht immer war Gott Vater, sondern es war einmal, als Gott nicht Vater war. Nicht immer war das Wort Gottes, sondern es wurde aus Nichts.“18 Und dann heißt es zusammenfassend: διὸ καὶ ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν·κτίσμα γάρ ἐστι καὶ ποίημα ὁ υἱός. „Deshalb war es ­irgendwann einmal, dass er nicht war. Denn der Sohn ist Ge­ schöpf und Werk.“19

Wenn der Sohn aus dem Nichtseienden geschaffen wurde, war er (irgend) einmal nicht. Als noch Nichtsein war und 18   Ich zitiere, wie weiter oben ausgeführt, den Text der Urkunden und Dokumente zur Geschichte des arianischen Streits, wie sie von Hans-Georg Opitz und dem Team um Hanns Christof Brennecke, Uta Heil und Annette von Stockhausen im Rahmen der Ausgabe der Werke des Athanasius der Preußischen bzw. Berlin-Brandenbur­ gischen Akademie der Wissenschaften ediert, kommentiert und übersetzt worden sind. Die Frage der chronologischen Abfolge ­dieser Urkunden bzw. Dokumente, die zu einer Neuzählung bei Brennecke u. a. geführt hat, ist für unsere Zusammenhänge ebenso nicht wichtig wie ein ausführlicher textlicher Vergleich mit den Aus­ gaben, die in dem Sammelwerk für die Texte herangezogen wurden. In unserem Fall wären das Socrates, hist. eccl. I 6,9 (GCS N.F. 1, 7,19–21 sowie 8,1) und Anonymus (olim: Gelasius Cyzicenus), hist. eccl. II 3,7 (GCS N.F. 9, 26,2–5). Auf solche Nachweise wird im Folgenden verzichtet, wenn es keine gravierenden Textabweichun­ gen gibt. 19  Urkunden zur Geschichte des arianischen Streits, Lfg. 1, 7,9 f.11.

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noch nicht Sohn. Wann aber wurde der Sohn aus Nichts geschaffen? In einem deutlich späteren Schreiben an Euse­ bius von Nikomedia erklärt Arius, dass der Sohn seiner Ansicht nach θελήματι καὶ βουλῇ ὑπέστη πρὸ χρόνων καὶ πρὸ αἰώνων, „aufgrund von Willen und Wollen vor Zeiten und Ewigkeiten entstanden ist“ (Urk. 1,4 = Dok. 15,4).20 Arius lehrt also, dass der Sohn „vor Zeiten und Ewig­ keiten“ entstanden ist – und das kann doch nur heißen: Bevor es überhaupt eine zählbare Zeit gab (so eine ein­ flussreiche Definition von Zeit in der Antike), 21 vor aller Zeit, entstand der Sohn. Und zur Bekräftigung heißt es, dass er sogar auch vor aller Ewigkeit entstand. Insofern ist die Übersetzung der berühmten Formel mit „es gab eine Zeit“ falsch, denn es war vor aller Zeit, ein Irgendwann vor aller Zeit und Ewigkeit. Eusebius von Caesarea, uns als Autor der berühmten Kirchengeschichte bekannt, zi­ tiert in einem Brief an den Ortsbischof Alexander von Alexandrien auch sehr pointiert einen entsprechenden Text des Arius und seiner Anhänger:

20   Ebd. 3,1 f. (mit Hinweis auf eine fast „wörtlich … gegenteilige Meinung bei Origenes“ im app.: Origenes, princ. IV 4,1 [GCS Orig. 5, 349,1–5 = TzF 24, 782 f.]). Hat der Plural πρὸ χρόνων καὶ πρὸ αἰώνων eine besondere Bedeutung oder handelt es sich um schlichte Repetition biblischer Sprache, vgl. beispielsweise 2 Tim 1,9: … καὶ χάριν, τὴν δοθεῖσαν ἡμῖν ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ πρὸ χρόνων αἰωνίων …? Vgl. aber Origenes, in Ioh. comm. ΙΙ 1,8 (GCS Orig. 4, 53,15–18): Ἀλλὰ πρὸς μὲν τοὺς ἀνθρώπους πρότερον οὐ χωροῦντας τὴν τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ, λόγου τυγχάνοντος, ἐπιδημίαν ὁ λόγος γίνεται· „πρὸς δὲ τὸν θεὸν“ οὐ γίνεται, ὡς πρότερον οὐκ ὢν πρὸς αὐτόν, παρὰ δὲ τὸ ἀεὶ συνεῖναι τῷ πατρὶ λέγεται· „Καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν“· οὐ γὰρ „Ἐγένετο πρὸς τὸν θεόν“. 21  Wolfgang Detel, Subjektive und objektive Zeit. Aristoteles und die moderne Zeit-Theorie (Chronoi 2), Berlin/Boston 2021.

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τὸν νόμου καὶ προφητῶν καὶ καινῆς διαθήκης θεὸν γεννήσαντα υἱὸν μονογενῆ πρὸ χρόνων αἰωνίων, δι’ οὗ καὶ τοὺς αἰῶνας καὶ τὰ πάντα πεποίηκε, … „Der Gott des Gesetzes und der Propheten und des neuen Bundes zeugte den einziggeborenen Sohn vor ewigen Zeiten, durch den er auch die ewigen (Zeiten) und das All ge­ macht hat“ (Urk. 7,2 = Dok. 9,2).22

Das unbestimmte „Irgendwann“ der berühmten Formel ist also in Wahrheit in gewissem Sinne aus Texten des Ari­ us näher bestimmbar: ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν heißt einmal „vor allen Zeiten und Ewigkeiten“, ein andermal „vor ewigen Zeiten, bevor die Zeit geschaffen war“. Unbestimmt blei­ ben die Formulierungen trotzdem, weil das, was vom Sohn geschaffen wird, einmal „ewige Zeiten“, dann „Ewigkeiten und Zeiten“ heißt – in beiden Fällen geht es aber offenkundig um ein zeitloses Irgendetwas vor aller Zeit, in dem der Sohn gezeugt wird. Oder, noch einmal anders formuliert: Es geht um eine Differenzierung in der Ewigkeit. „Irgendwann“ in diesem zeitlosen Etwas wurde der Sohn vom Vater als ein vollkommenes Geschöpf und als ein Gott geschaffen, aber als dem vollkommenen Gott und Vater ungeordneter Gott. Etwas pointiert kann man also sagen: Arius lehrt wie Platon im Timaios, dass der Schöpfer (δημιουργός) Zeit und Welt zusammen geschaffen hat, 23 und insofern wurde der Schöpfer vom Vater vor aller Zeit geschaffen (bei Pla­ 22   Urkunden zur Geschichte des arianischen Streits, Lfg. 1, 14,7– 9. – Aus der Fülle einschlägiger Literatur sei hier nur verwiesen auf Holger Strutwolf, Die Trinitätstheologie und Christologie des Euseb von Caesarea. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung sei­ ner Platonismusrezeption und ihrer Wirkungsgeschichte (FKDG 72), Göttingen 1999, 25–29. 23   Platon, Tim. 37 c – 38 b. – Vgl. z. B. Richard Sorabji, Time, Creation and the Continuum. Theories in Antiquity and the Early Middle Ages, Ithaca NY 1983, 268–276.

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ton ist es natürlich nur die physische, sichtbare Welt). Zieht man zum Vergleich allerdings die elaborierten De­ batten im kaiserzeitlichen Platonismus heran, ob die Welt wirklich in der Zeit erschaffen wurde (Heinrich Dörrie und Matthias Baltes haben sie in den „Platonica maiora“ dokumentiert und Matthias Baltes hat ausführlich darü­ ber gehandelt), 24 wirkt das, was Arius und seine Anhänger formulieren, allerdings terminologisch eher amateurhaft und ist sicher kein Zeugnis fachphilosophischer Kennt­ nisse und Präzision. Mit seiner Entstehung zugleich vor aller Zeit (im Unterschied zum ungewordenen Gott und Vater) entspricht Christus am ehesten bestimmten For­ men von Seele im mittelplatonischen Diskurs.25 Wenn im kaiserzeitlichen Platonismus über die Frage diskutiert wurde, ob die Welt entstanden (γενητόν) sei oder nicht, ging es tatsächlich – im Unterschied zu der un­ bestimmten Bedeutung des ποτέ in der Formulierung des Arius – mindestens implizit schon um die Frage, ob es eine Zeit vor der Zeit gibt und wie das „vor der Zeit“ genau aussah. Für die kaiserzeitliche platonische Philosophie waren die Antworten allerdings (noch) klar, im Unter­ schied zu spätantiken Debatten, wie wir gleich sehen wer­ den. Im schulphilosophischen Kompendium des Albinus/ Alcinous heißt es: Ὅταν δὲ εἴπῃ γενητὸν εἶναι τὸν κόσμον, οὐχ οὕτως ἀκουστέον αὐτοῦ, ὡς ὄντος ποτὲ χρόνου, ἐν ᾧ οὐκ ἦν κόσμος.·„Wenn er (Pla­ ton) aber sagt, die Welt sei entstanden, so darf man ihn nicht so 24  Matthias Baltes, Die Weltentstehung des Platonischen ­ imaios nach den antiken Interpreten, 2 Bde. (PhAnt 30. 35), Leiden T 1976. 1978. 25   Vgl. dazu jetzt Johannes Zachhuber, Time and Soul. From Aristotle to St. Augustine (Chronoi 6), Berlin/Boston 2022.

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verstehen, als habe es einmal eine Zeit gegeben, in der es keine Welt gab.“26

Auch im kaiserzeitlichen Kompendium steht (wie in der skeptischen Frage des Sextus Empiricus, die wir eingangs zitiert haben) ποτέ explizit mit χρόνος verbunden: ὡς ὄντος ποτὲ χρόνου mit explizitem χρόνου. Eine „Zeit vor der Zeit“ in dem Sinne, dass es gleichsam zwei unterschied­ liche Typen von Zeit geben könne, ist in diesen mittel­ platonischen Texten noch nicht im Blick. Eine Zeit vor der Erschaffung der Zeit kann es auch in einem jüdisch-christlichen Denken eigentlich nicht ge­ ben, sondern höchstens ein durch ein unbestimmtes ποτέ charakterisiertes diffuses „Irgendwann“ wie bei Arius.27 Arius hätte sich, wenn er das ποτέ tatsächlich zeitlich ver­ standen hätte (im Sinne einer „Zeit vor aller Zeit“), in ei­ nen nicht geringen logischen Widerspruch verwickelt. Solange es noch keine Zeit gibt, gibt es auch keinen Zeit­ 26  Albinus/Alcinous, didask. 14,3 (p.   32,32–34 Whittaker/ Louis; vgl. auch den ausführlichen Kommentar bei Alcinous, The Handbook of Platonism, translated with Introduction and Com­ mentary by John Dillon, Oxford 1993, 123–126). Zur Diskussion ausführlicher Meijering, HN IIOTE OTE OYK HN O YIOΣ (wie Anm.  17) 164 f. 27   Allerdings stellt sich einer christlichen Theologie natürlich ein ähnliches Problem wie Platon im Timaios: Es wird in der Genesis (Gen 1) eine Geschichte mit einem „vorher“ und einem „nachher“ erzählt, die die Existenz der Zeit in gewisser Weise voraussetzt (oder jedenfalls eine gewisse Form von „Zeit“). Die späteren neuplato­ nischen Ideen von einer ‚ersten Zeit‘ (beispielsweise bei Proklos und Theodor von Asine: Werner Deuse, Theodoros von Asine. Samm­ lung der Testimonien und Kommentar [Palingenesia 6], Wiesbaden 1973, 133 f.), die es im prototemporalen Sein gab, werden, wenn ich recht sehe, von christlichen Autoren nicht rezipiert – aber das wäre noch einmal zu prüfen, beispielsweise bei Pseudo-Dionysius. Etwas ausführlicher dazu unten im dritten Abschnitt.

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strahl und kein Vorher wie Nachher. Wie kann also im zeitlosen Irgendwann überhaupt ein „Vor“ und ein „Nach“ von Vater und Sohn gedacht werden? In seiner reductio ad absurdum, die wir eingangs zitiert hatten, for­ muliert Sextus Empiricus: ἄτοπον δέ γε ἢ τὸ γεγονέναι ποτὲ χρόνον ὅτε ὁ χρόνος οὐκ ἦν, ἢ τὸ ἔσεσθαί ποτε χρόνον ὅτε χρόνος οὐκ ἔσται· καὶ γὰρ τὸ ποτὲ γεγονέναι καὶ τὸ ἔσεσθαι, καθὼς προεῖπον, διαφερόντων χρόνων ἐστὶν ἐμφατικά. „But it is absurd to say either that there was once a time when time did not exist, or that there will one day be a time when time will not exist, for the statements that ‚there once was‘ and that ‚there will be‘ are (as I said before) indicative of different times.“28

Die Formulierungen bei Arius machen nur Sinn, wenn man sie nicht zeitlich versteht und also als metaphorische Formulierungen: Gemeint ist doch, dass der Sohn nicht in einem zeitlichen Sinne nach dem Vater entstanden ist (weil er die Zeit ja erst geschaffen hat), sondern in einem lo­ gischen Sinne, in einem zeitlosen, kausalen Abhängig­ keitsverhältnis vom Vater steht, das nicht umgekehrt wer­ den kann.29 Der Vater ist der, der den Sohn geschaffen hat 28   Sextus Empiricus, adv. math. II 189 (II p.  515,15–19 Mutschmann; englische Übersetzung nach Sextus Empiricus, Against the Physicists. Against the Ethicists, with an English Translation by Robert Gregg Bury [LCL 311], Cambridge MA/London 1936, 305). 29   In diesem Zusammenhang lohnt der vergleichende Blick auf Plotin, enn. V 1,6,32 (p.  222 Harder): Ἐκποδὼν δὲ ἡμῖν ἔστω γένεσις ἡ ἐν χρόνῳ τὸν λόγον περὶ τῶν ἀεὶ ὄντων ποιουμένοις· τῷ δὲ λόγῳ τὴν γένεσιν προσάπτοντας αὐτοῖς αἰτίας καὶ τάξεως αὐτοῖς ἀποδώσειν. „Ganz ausschließen müssen wir dabei die Entstehung in der Zeit, da wir es zu tun haben mit dem ewig Seienden; sondern wir legen ihnen nur dem Ausdruck nach die Entstehung bei, um damit dem Verhält­ nis von Ursache und Wirkung und ihrer Rangordnung gerecht zu werden.“

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oder hat entstehen lassen, nicht der Sohn den Vater. Für den Ausdruck dieser zeitlosen logischen Nachordnung des Sohnes verwendet Arius Worte, die eigentlich Zeit­ lichkeit anzeigen, er verwendet sie also metaphorisch. In einem Brief an Bischof Alexander betont Arius ge­ meinsam mit einer größeren Gruppe ihn unterstützender Bischöfe, Presbyter und Diakone ganz explizit die Zeit­ losigkeit, das ἀχρόνως (Urk. 6,4 = Dok. 1,4): ὁ δὲ υἱὸς ἀχρόνως γεννηθεὶς ὑπὸ τοῦ πατρὸς καὶ πρὸ αἰώνων κτισθεὶς καὶ θεμελιωθεὶς οὐκ ἦν πρὸ τοῦ γεννηθῆναι, ἀλλ´ ἀχρόνως πρὸ πάντων γεννηθεὶς μόνος ὑπὸ τοῦ πατρὸς ὑπέστη. „Der Sohn aber, der zeitlos von dem Vater gezeugt und vor allen Zeiten ge­ schaffen und gegründet wurde, war nicht, bevor er gezeugt wur­ de, sondern, da er zeitlos vor allen Dingen gezeugt wurde, wur­ de er allein vom Vater ins Dasein gerufen.“30

Zeitliche Partikel wie ποτέ, πρό oder πρίν sind nicht zeit­ lich zu interpretieren. Das gilt auch für die schöne Formu­ lierung des Gedichtes „Thalia“, das Arius bekanntlich in einem sehr besonderen Metrum verfasst hat: 31 σύνες ὅτι ἡ μονὰς ἦν, ἡ δυὰς δὲ οὐκ ἦν, πρὶν ὑπάρξῃ. „Wisse, dass die Einheit war, die Zweiheit aber nicht war, ehe sie ent­ stand.“32 Zeitliche Partikel wie ποτέ, πρό oder πρίν sind nicht zeitlich zu interpretieren, aber wie sie stattdessen präzise zu interpretieren sind, wird nicht klar gemacht. Anstelle präziser philosophischer Argumentation steht ein gänzlich unbestimmtes ποτέ, das bis heute gern falsch übersetzt wird. Soweit Arius und die Seinen.   Urkunden zur Geschichte des arianischen Streits, Lfg. 1, 13,8–

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31   Martin L. West, The Metre of Arius’ Thalia, in: JTS 33 (1982) 98–105. 32   Frg. 13 West bei Athanasius, syn. 15,3 (AW II, 243,1); Löhr, Arius Reconsidered (wie Anm.  5) 140.

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Der Ortsbischof von Alexandria, Alexander, lehrte, wenn wir Arius vertrauen dürfen, die Gleichewigkeit von Vater und Sohn, in der schlichten Formel ausgedrückt: ἀεὶ θεός – ἀεὶ υἱός, ἅμα πατήρ – ἅμα υἱός (Urk. 1,2 = Dok. 15,2).33 Damit ist natürlich das Problem einer „Zeit vor der Zeit“ vermieden, es gibt nur noch den schlichten und zugleich so anspruchsvollen Dual von Zeit und Ewig­ keit.34 Aber auch hier erfolgt keine anspruchsvolle Prob­ lemlösung in konsistenter Terminologie. Und Arius (ne­ benbei bemerkt) eröffnete mit dem unbestimmten ποτέ seinen Gegnern die Möglichkeit, den Satz ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν ganz böse misszuverstehen, nämlich so, als ob der Sohn nach Arius ein bloßes Geschöpf wie alle anderen Ge­ schöpfe in der geschaffenen Zeit sei. Auch diesem häresio­ logisch motivierten Missverständnis begegnet man heute immer noch und immer wieder.

2. Ein Vorstellungsproblem: Emanation in der Zeit? Ich möchte nun in einem zweiten Teil dieses Beitrags zei­ gen, dass das Problem eines „Irgendwann einmal vor der Zeit“ und die sich daran anschließende Frage, ob zeitliche   Urkunden zur Geschichte des arianischen Streits, Lfg. 1, 2,1.  Johannes Zachhuber schreibt mir (14. Februar 2022): „Aus meiner Sicht zeigt der Vergleich mit dem Platonismus, dass ein wich­ tiges, aber oft nicht beachtetes Problem der christlichen Seite darin bestand, wie man die Hervorbringung des Sohns von der eigent­ lichen Schöpfung unterscheiden kann. Vielleicht könnte man Fol­ gendes sagen: Für den Sohn stellen sich die christlichen Autoren auf den Standpunkt derjenigen, die den Timaeus symbolisch auslegen (es geht also nicht um ein Vorher und Nachher); was aber die Welt­ schöpfung anlangt, folgen sie Plutarch et al. und behaupten einfach, es sei schon in Ordnung, dass Gott in der Zeit schafft.“ 33

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Ausdrücke wie ποτέ und πρίν vielleicht doch nur eine lo­ gische Reihenfolge und ein kausales Abhängigkeitsver­ hältnis ausdrücken, schon in Texten zu beobachten ist, die wir der sogenannten Gnosis zurechnen.35 Insofern ist es auch durchaus nicht zufällig, wenn immer wieder in aria­ nischen wie anti-arianischen Texten des vierten Jahrhun­ derts Verweise auf die Gnosis des zweiten Jahrhunderts auftreten. Davon ganz unabhängig kann man sich natür­ lich noch einmal fragen, ob bestimmte gnostische Texte wie der Tractatus Tripartitus aus Nag Hammadi aus einem Milieu stammen, gegen das sich ein Arius richtete, und auf der anderen Seite seine negative Theologie gewisse Berüh­ rungen mit diesem Milieu hatte.36 Der gallische Bischof Irenaeus von Lyon zitiert in sei­ ner antihäretischen Schrift „Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Erkenntnis“ aus den achtziger Jahren des zweiten Jahrhunderts gleich zu Beginn einen längeren gnostischen Text, den wir gern mit dem franzö­ sischen Gelehrten François Sagnard „Große Notiz“ nen­ nen.37 Er stammt vermutlich von den Schülern des promi­ 35   Es tritt natürlich auch in neuplatonischen Texten auf, wie Ka­ ren Gloy, Philosophiegeschichte der Zeit, München 2008, 77, doku­ mentiert: „Hier zeigt sich die Paradoxie, im Medium der Sprache und deren Zeitlichkeit über Atemporales, Ewiges sprechen zu müs­ sen, d. h. Unzeitliches nur zeitlich artikulieren zu können. Dies gilt insbesondere für die Begriffe: ‚Ist‘ (‚Sein‘) (τὸ ἔστιν, τὸ εἶναι), ‚Ge­ genwart‘ (‚Gegenwärtiges‘), ‚Jetzt‘ (‚Nun‘) (τὸ νῦν), ‚Immer‘ (τὸ ἀεί), ‚Unausgedehntheit‘ (‚Unteilbarkeit‘) (τὸ ἀδιάστατον, τὸ ἀμερές), ‚Unendlichkeit‘ (τὸ ἄπειρον), mittels deren die Ewigkeit in den Kapi­ teln 2–6 der Enneade III,7 beschrieben wird.“ 36   Dafür votiert beispielsweise Löhr, Arius Reconsidered (Part  2) (wie Anm.  5) 121–157. 37  Dazu habe ich mich ausführlicher geäußert in: Christoph Markschies, „Grande Notice“. Einige einleitende Bemerkungen zur Überlieferung des sogenannten Systems der Schüler des Ptole­

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nenten christlichen Lehrers Ptolemaeus, der in Rom wirkte und dessen Schüler sich gleichzeitig als Enkelschü­ ler des Valentin sahen.38 Ich zitiere den Beginn dieses in einer textlich zweifach korrumpierten griechischen Fas­ sung und einer lateinischen Übersetzung des vierten Jahr­ hunderts erhaltenen Textes in seiner griechischen Fas­ sung: Λέγουσι γάρ τινα εἶναι ἐν ἀοράτοις καὶ ἀκατονομάστοις ὑψώμασι τέλειον αἰῶνα προόντα· τοῦτον δὲ καὶ προαρχὴν καὶ προπάτορα καὶ βυθὸν καλοῦσιν. ὑπάρχοντα δ’ αὐτὸν ἀχώρητον καὶ ἀόρατον, ἀΐδιόν τε καὶ ἀγέννητον, ἐν ἡσυχίᾳ καὶ ἠρεμίᾳ πολλῇ γεγονέναι ἐν ἀπείροις αἰῶσι χρόνοις.39 συνυπάρχειν δ’ αὐτῷ καὶ ἔννοιαν, ἣν δὴ καὶ χάριν, καὶ σιγὴν ὀνομάζουσι· καὶ ἐννοηθῆναί ποτε ἀφ’ ἑαυτοῦ προβαλέσθαι τὸν βυθὸν τοῦτον, ἀρχὴν τῶν πάντων καὶ καθάπερ σπέρμα, τὴν προβολὴν ταύτην, ἣν προβαλέσθαι ἐνενοήθη, [καὶ] καθέσθαι ὡς ἐν μήτρᾳ τῇ συνυπαρχούσῃ ἑαυτῷ σιγῇ. „Sie sagen: Es gibt in unsichtbaren und unnennbaren Höhen eine vollkommene Ewigkeit, die vor allem war. Diese nennen sie auch Uranfang (oder: Voranfang), Urvater (oder: Vorvater) und Tiefe. Sie ist aber unfassbar und unsichtbar, ewig und ungezeugt, existierte in Ruhe und viel Einsamkeit in grenzenlosen ewigen Zeiten. Es existierte mit ihm (sc. der ersten Ewigkeit) zusammen der Gedanke, die sie auch Gnade und Schweigen nennen. Nun hat er (sc. die erste Ewigkeit) sich irgendwann einmal von sich selbst aus überlegt, diese Tiefe zu emanieren, den Anfang aller maeus Gnosticus, in: ders./Einar Thomassen (Hg.), Valentinian­ ism. New Studies (NHMS 96), Leiden u. a. 2019, 29–87. Der Beitrag erscheint in bearbeiteter Fassung mit anderen alten und neuen Bei­ trägen demnächst in einem Sammelband: ders., Ptolemaeus Gnosti­ cus? (WUNT), Tübingen 2023. 38  Dazu ders., Nochmals: Valentinus und die Gnostikoi. Beo­ bachtungen zu Irenaeus, haer. I 30,15 und Tertullian, Val. 4,2, in: VC 51 (1997) 179–187, und ders., New Research on Ptolemaeus Gnosti­ cus, in: ZAC 4 (2000) 225–254. 39   Jülicher konjiziert χρόνων (GCS Epiph. I/1, 401 app.).

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Dinge, und wie einen Samen diese Emanation, die er im Sinne gehabt hatte, auszusenden, gleichsam in den Mutterschoß des mit ihm zusammen existierenden Schweigens einzusenken.“40

Zunächst einmal: Das allererste Prinzip, das mit Prädi­ katen im Stil einer negativen Theologie beschrieben wird, heißt αἰών, trägt also den Begriff, mit dem in einem Teil der platonischen Tradition die zeitfreie Ewigkeit beschrie­ ben wird.41 Wenn Platon diese zeitfreie Ewigkeit im Timaios als „Freisein von aller Erstreckung und Zerteilung ins Viele, … als Negation von Zeitlichkeit schlechthin“ beschreibt und sagt, dass die zeitfreie Ewigkeit „im Einen verharrt“,42 dann ist die Bezeichnung αἰών in der „Großen Notiz“ eine Bezeichnung dieses Einen (und zugleich eine der dünnen Verbindungslinien zwischen der sogenannten valentinianischen Gnosis und ihrem Heros eponymos Va­ lentin). In der „Großen Notiz“ wird die Terminologie pla­ tonischer Philosophie gern vermieden und durch in der Bibel belegte Termini ersetzt. Dieses Eine, die zeitfreie 40   Irenaeus, adv. haer. I 1,1, hier zitiert nach Epiphanius, haer. 31,105 f. (GCS Epiph. I/1, 401,1–9). Der Text in der zweisprachigen Handausgabe von Adelin Rousseau und Louis Doutreleau weicht partiell ab (SC 264, 28,74–29,85): Λέγουσιν γάρ τινα εἶναι ἐν ἀοράτοις καὶ ἀκατονομάστοις ὑψώμασι τέλειον αἰῶνα προόντα· τοῦτον δὲ καὶ προαρχὴν καὶ προπάτορα καὶ βυθὸν καλοῦσιν. ὑπάρχοντα δ’ αὐτὸν ἀχώρητον καὶ ἀόρατον, ἀΐδιόν τε καὶ ἀγέννητον, ἐν ἡσυχίᾳ καὶ ἠρεμίᾳ πολλῇ γεγονέναι ἐν ἀπείροις αἰῶσι [χρόνων]. συνυπάρχειν δ’ αὐτῷ καὶ ἔννοιαν, ἣν δὴ καὶ χάριν, καὶ σιγὴν ὀνομάζουσι· καὶ ποτὲ ἐννοηθῆναι ἀφ’ ἑαυτοῦ προβαλέσθαι τὸν βυθὸν τοῦτον, ἀρχὴν τῶν πάντων καὶ καθάπερ σπέρμα τὴν προβολὴν ταύτην, ἣν προβαλέσθαι ἐνενοήθη, [καὶ] καθέσθαι ὡς ἐν μήτρᾳ τῆς συνυπαρχούσης ἑαυτῷ σιγῆς. 41  Christoph Markschies, Valentinus Gnosticus? Untersu­ chungen zur valentinianischen Gnosis mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins (WUNT 65), Tübingen 1992, 157–164. 42   Platon, Tim. 37 d 6 f.; Jens Halfwassen, Plotin und der Neu­ platonismus, München 2004, 102.

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Ewigkeit, ist eigentlich unnennbar und unaussprechlich; wird es doch benannt und darüber gesprochen, muss im Modus der Zeitlichkeit über Zeitfreiheit gesprochen wer­ den. Insofern ist der Mythos auch die angemessene Form der Darstellung, weil er diesen unvermeidlichen Hiat zwi­ schen Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit gleichsam über­ springt.43 Wieder haben wir es in der „Großen Notiz“ wie in den Texten des Arius und seiner Anhänger mit eigentlich zeit­ lichen Ausdrücken zu tun: προ-αρχή, προ-εἰμί, προ-πατήρ und einer zeitlichen Qualifikation, die wir fast genauso auch bei Arius finden: ἐν ἀπείροις αἰῶσι χρόνοις (latei­ nisch: in immensis aeonibus).44 Aber auch ohne dass es explizit gemacht wird, ist klar, dass alle diese Entwick­ lungen natürlich auch hier in einem zeitlosen geistigen Raum vor aller Zeit geschehen. Die Welt, die Materie, die 43   Ich vermerke hier dankbar, dass Barbara Aland lange vor dem Erscheinen in der Festschrift für Ulrich Wickert, meinem 2009 ge­ storbenen Berliner Amtsvorgänger auf dem traditionsreichen Lehr­ stuhl der Theologischen Fakultät, mir eine Vorfassung ihres Bei­ trags „Die frühe Gnosis zwischen platonischem und christlichem Glauben“ überreicht hat. Dieser Beitrag hat mein eigenes Bild der sogenannten valentinianischen Gnosis stark geprägt und prägt es weiter, auch dort, wo ich in Details von der Autorin differiere: Vgl. Barbara Aland, Die frühe Gnosis zwischen platonischem und christlichem Glauben. Kosmosfrömmigkeit versus Erlösungstheo­ logie, in: Dietmar Wyrwa (Hg.), Die Weltlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche. Festschrift für Ulrich Wickert (BZNW 85), Ber­ lin/New York 1997, 1–24 (ebd. 17 findet sich eine Passage aus der brieflichen Reaktion von Wickert auf den ihm gewidmeten Beitrag vom 27. April 1998 mitgeteilt) = dies., Was ist Gnosis? Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philoso­ phie (WUNT 239), Tübingen 2009, 103–124. 44  Irenaeus, adv. haer. I 1,1 nach der lateinischen spätantiken Übersetzung (SC 264, 28,7).

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Menschen werden erst noch geschaffen. Wir befinden uns in der göttlichen Welt der rein geistigen Formen. Wann genau die Zeit geschaffen wird, ist in der „Großen Notiz“ nicht vermerkt, da aber von einem Schöpfer (δημιουργός) die Rede ist, der Himmel und Erde schafft, ist anzuneh­ men, dass hier auch gut platonisch die Zeit entsteht.45 Denn es ist wahrscheinlicher, dass die Emanationsvor­ gänge der göttlichen Welt wie im früheren Neuplatonis­ mus zeitlos sind, insofern sie ewige Hervorbringungs­ vorgänge sind, eine („psychologische“) Innenzeit wie bei Plotin oder Augustinus kommt natürlich für göttliche Sphären in unermesslicher und unnennbarer Höhe nicht in Frage. Aber auch hier, bei der von Irenaeus zitierten „Großen Notiz“ der Schüler des Ptolemaeus, handelt es sich (wie bei den Reflektionen des Arius) um einen Text, der er­ kennbar nicht auf der Höhe zeitgenössischer fachphilo­ sophischer Reflexion steht. Das muss man auch dann ­festhalten, wenn man die Auseinandersetzung mit dem Platonismus zu einer Schlüsselkategorie der Deutung der „Großen Notiz“ macht. Popularphilosophisches und fachphilosophisches Niveau lassen sich bis heute unter­ scheiden und sollten auch unterschieden werden.46 So 45   Vgl. aber Barbara Aland, Der Demiurg und sein Wirken. Die Deutung des Valentinianismus im Vergleich zu der des Platonismus, in: Markschies/Thomassen, Valentinianism (wie Anm.  37) 272– 303. Frau Aland diskutiert allerdings die Frage, ob die „Ewigkeiten“ in Analogie zu den geistigen Formen Platons gedacht wurden (so beispielsweise Hans Joachim Krämer, Der Ursprung der Geist­ metaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwi­ schen Platon und Plotin, Amsterdam 1964, 242 f.), kritisch: ebd. 277 Anm.  17. 46  Ich folge hier einer von Johannes Hahn ausführlich entfal­ teten Unterscheidung, vgl. ders., Der Philosoph und die Gesellschaft.

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wird beispielsweise die für platonische Philosophie durch­ aus nervöse Frage, ob am Beginn ein absolutes Eines steht oder doch eine Zweiheit,47 in der „Großen Notiz“ merk­ würdig unentschlossen thematisiert. Wie exakt das Ver­ hältnis von „Ewigkeit“ und „Tiefe“ ist, die offenkundig eine hypostatisch hervortretende Dimension der aller­ ersten Ewigkeit ist, wie die absolute negative Theologie genau übergeht in die Entfaltung des Göttlichen und die Gestaltung der Materie – alles das wurde vielleicht einmal in einer mündlichen Vorlesung erläutert, in diesem my­ thologischen Text ist es nicht festgehalten.48 Es ist jeden­ falls in diesem Kunstmythos kein Problembewusstsein dafür erkennbar, ob es sich um einen sozusagen einma­ ligen Vorgang der Emanation im Sinne einer einmaligen Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit (Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien 7), Stuttgart 1989. Ich habe diese Unterschei­ dungen versucht für eine Geschichte der sogenannten valentinia­ nischen Gnosis fruchtbar zu machen, vgl. Christoph Markschies, Valentinian Gnosticism. Toward the Anatomy of a School, in: John D. Turner/Anne McGuire (Hg.), The Nag Hammadi Library after Fifty Years (NHS 44), Leiden 1997, 401–438. Seither hat sich mit dem Thema (neben der Jubilarin selbstverständlich) besonders auch beschäftigt: Einar Thomassen, The Spiritual Seed. The Church of the ‚Valentinians‘ (NHMS 60), Leiden/Boston 2006; vgl. dazu auch die Rezension von Ismo Dunderberg in: ThLZ 132 (2007) 546–549, der eine ausführliche Argumentation für die These von Thomassen, die sogenannten Valentinianer hätten sich als Kir­ che, nicht in Analogie zu einer philosophischen Schule verstanden, vermisst. 47  Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin (BzA 9), Stuttgart 1992, 112 f. 48  Christoph Markschies, Esoteric Knowledge in Platonism and in Christian Gnosis, in: H. Gregory Snyder (Hg.), Christian Teachers in Second Century Rome. Schools and Students in the An­ cient City (SVigChr 159), Leiden/Boston 2020, 45–59.

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Hervorbringung handeln soll oder um eine ewige Emana­ tion im Sinne einer Metapher für Konstitutionsverhält­ nisse; ersteres wäre schwierig, letzteres im Konsens mit zeitgenössischer philosophischer Reflexion, aber in er­ heblicher Spannung zur mythologischen Einkleidung der erzählten Geschichte. Leider haben wir für die sogenannte valentinianische Gnosis nur Texte, die die Lehren dieser christlichen Gruppe in mythologischer Form präsentieren. Diese Form ist den berühmten platonischen Mythen im „Staat“ vergleichbar oder aber den Mythen, die Plutarch und Apuleius erzählen. Uns fehlt ein Kompendium der Leh­ ren dieser gnostischen Gruppe, das dem Handbuch der platonischen Lehren des Albinus/Alcinous vergleichbar ist, und auch der sogenannte Tractatus Tripartitus aus Nag Hammadi ist kein philosophischer Lehrtext. Entspre­ chend sind alle Schlüsse aus dem Befund vorsichtig zu zie­ hen.49 Mit solcher Vorsicht aber kann gesagt werden, dass die sogenannte valentinianische Gnosis noch nicht mit der zeitgenössischen Diskussion über die Zeit auf fachphilo­ sophischem Niveau vertraut war.50 Deswegen war diesen 49   Vgl. dazu auch ders., Welche Funktion hat der Mythos in gnos­ tischen Systemen? Oder: ein gescheiterter Denkversuch zum Thema „Heil und Geschichte“, in: Jörg Frey/Stefan Krauter/Hermann Lichtenberger (Hg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezo­ genheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der bibli­ schen Tradition und in der theologischen Deutung (WUNT 248), Tübingen 2009, 513–534. 50   Dafür spricht, dass weder bei François-M.-M. Sagnard, La gnose Valentinienne et le témoignage de Saint Irénée (EPhM 36), Paris 1947, noch bei Thomassen, The Spiritual Seed (wie Anm.  46), im Register die Äquivalente des deutschen Stichwortes „Zeit“ oder das griechische χρόνος auftauchen.

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Menschen offenkundig noch nicht wirklich bewusst, wel­ che Probleme entstehen, wenn man Entwicklungen in der Ewigkeit denken will, die über die reine Beschreibung von ewigen Konstitutionsverhältnissen hinausgehen. Wäh­ rend Arius sich bemüht, mit dem (leider ziemlich unpräzi­ sen) ποτέ sprachlich deutlich zu machen, dass alles, was er beschreibt, vor aller Zeit geschieht, verwenden die Schüler des Ptolemaeus das (leider noch unpräzisere) πρό, um et­ was vor aller Zeit Seiendes zu versprachlichen. Für beide Versuche, etwas vor aller Zeit Liegendes auszudrücken, gilt aber: In dem Augenblick, in dem man sich durch die zeitliche Dimension allen Redens über Prozesse dazu ver­ führen lässt, ein „Irgendwann einmal vor aller Zeit“ anzu­ nehmen und narrativ auszugestalten, entstehen erhebliche logische Probleme, die man in den Texten des Arius und seiner Anhänger ebenso erkennen kann wie bei den Schü­ lern des Ptolemaeus: Was ist denn, hätte vermutlich ein kluger paganer Fachphilosoph angesichts solcher Texte gefragt, der präzise Unterschied zwischen einem Punkt in der Zeit und einem Irgendwann einmal jenseits aller Zeit? Die Konsequenz, die die Gegner des Arius ziehen, den Sohn für ebenso ewig wie den Vater zu erklären (eine Konsequenz, die mutmaßlich schon Origenes rund sieb­ zig Jahre vorher formuliert hat),51 ist nicht nur eine im 51   Mir ist durchaus bewusst, dass an dieser Stelle die beiden Ab­ schnitte meines Beitrags nun noch verknüpft werden müssten durch eine Auseinandersetzung mit der These von Brooks Otis, Gregory of Nyssa and the Cappadocian Concept of Time, in: StPatr 14 = TU 81 (1976) 327–357 (vgl. Basil Lourié, Temporality and a Metric for Created Natures in Gregory of Nyssa. Toward two recent mono­ graphs on his concept of time, in: Scrinium 12 [2016] 340–351), der behauptet hat, es sei die Ablehnung der origeneischen These der ewigen Schöpfung gewesen, durch die die sogenannte arianische Krise ausgelöst wurde. Panagiotis Tzamalikos hat in seinen verschie­

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Rahmen der Häresiologie zu erklärende schlichte Ge­ genthese, sondern eine im Rahmen des Systems gestufter Göttlichkeit unvermeidbare Konsequenz aus der Diskus­ sion. Sie löst aber natürlich auch das Problem nicht, weil nun nicht erklärt werden kann, was genau der Unterschied zwischen einer vor aller Ewigkeit und Zeit liegenden Her­ vorbringung des Sohnes durch den Vater und der Schöp­ fungsaktivität in der Zeit präzise ist.

3. Ein Rezeptionsproblem: ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν / οὐκ ἦν ὅτε οὐκ ἦν? Wir kommen nun zu einem dritten, eher knapp gehal­ tenen Schlussabschnitt, in dem wir nochmals den Befund, den wir an christlichen Texten der Kaiserzeit und der Spätantike erhoben haben, mit einem fachphilosophi­ schen Autor kontrastieren. Wir sahen, dass die Formulierungen, die christliche Autoren benutzten, um über das vor aller Zeit Liegende denen Arbeiten zum Problem der Zeit bei Origenes Otis vehement widersprochen, nimmt aber ebenfalls eine fundamentale Differenz zwischen Origenes und Arius an: Vgl. Panagiotis Tzamalikos, The Concept of Time in Origen, Bern 1991; ders., Origen. Philosophy of History and Eschatology (SVigChr 85), Leiden/Boston 2007; ders., Anaxagoras, Origen, and Neoplatonism. The Legacy of Anaxagoras to Classical and Late Antiquity (AKG 128/1–2), Berlin/New York 2016, 843. 890. 910. 991–995. 1016, und (bisher jedenfalls) zuletzt: ders., Origen. New Fragments from the Commentary on Matthew. Codices Sabaiticus 232 & Holy Cross 104, Jerusalem, Paderborn 2020, xciii (Origenes und Athanasius). xcv. xcviii. cxxiii. clxxviiif.  – Vgl. auch Mark DelCogliano, Basil of Caesarea versus Eunomius of Cyzicus on the Nature of Time. A Patristic Reception of the Cri­ tique of Plato, in: VC 68 (2014) 498–532, und den Beitrag von Holger Strutwolf in diesem Band.

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zu reden (ποτέ und πρό), entweder zu unpräzise sind, um die Differenz zwischen „Zeit“ und „vor der Zeit“ zu mar­ kieren, oder sogar den Gedanken unwillentlich in Rich­ tung einer logisch schwierigen Vorstellung einer „Zeit vor aller Zeit“ lenken (bzw. ablenken). Zeitgenössische Fach­ philosophen versuchten im Unterschied zu Arius und den sogenannten Gnostikern, solche Unklarheiten zu vermei­ den. Panagiotis Tzamalikos hat in seinen vielen verschie­ denen Veröffentlichungen immer wieder darauf hinge­ wiesen, dass der neuplatonische Philosoph Alexander von Aphrodisias in seinem großen (und jüngst von Pantelis Golitsis partiell erneut kritisch edierten) Kommentar zur „Metaphysik“ des Aristoteles mehrfach den Ausdruck οὐκ ἦν ὅτε οὐκ ἦν bzw. als sein Gegenteil ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν verwendet.52 Entscheidend ist aber, was Tzamalikos nicht sagt: Alexander, ein Zeitgenosse des Origenes, hat offen­ kundig – wie es einem Philosophen auch wohl ansteht – sehr präzise zwischen einer zeitlosen Ewigkeit und der Zeit unterschieden. „Zeit“ ist dadurch definiert, dass es Realitäten in ihr gibt, die zu einer bestimmten Zeit noch nicht waren (und zu bestimmter Zeit auch nicht mehr sein werden). Für die Ewigkeit gilt: οὐκ ἦν ὅτε οὐκ ἦν, für die Zeit gilt ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν (und zwar in der präzisen Be­ 52   Alexander von Aphrodisias, in Arist. Met. E 2 ad 1026 b 12 (CAG I p.  4 49,2): … δεικνύουσιν ὅτι τοῦτο οὔτε ἀίδιόν ἐστιν (οὐ γὰρ ἀεὶ ἦν ὁ γραμματικὸς μουσικός, ἀλλ’ ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν), ἀλλ’ οὐδὲ γενόμενον· οὐ γὰρ γίνεται ὁ μουσικὸς γραμματικός; ebd. (I p.  450,15– 18): ἐρωτῶσι γάρ, φησίν, εἰ πᾶν ὃ ἂν ᾖ, μὴ ἀεὶ δέ, γέγονε, τουτέστιν εἰ πᾶν ὅπερ ἤδη ἐστίν, ἦν δέ ποτε ὅτε οὐκ ἦν, ἄρα γέγονεν· εἰ γὰρ πρότερον μὴ ὂν νῦν ἐστι, φανερὸν ὅτι γέγονεν; ebd. N 3 ad 1091 a 12 (I p.  818,32): ἀίδιον γάρ ἐστιν ὃ ἀδύνατον εἰπεῖν ὡς ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν καὶ ἔσται ὁμοίως ὅτε οὐκ ἔσται, τὸ δὲ γεγονὸς ἦν ὅτε οὐκ ἦν. Weitere Stellen bei Tzamalikos, New Fragments from the Commentary on Matthew (wie Anm.  51) clxxviiif. Anm.  816.

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deutung: Es gab eine Zeit, in der etwas nicht war und erst wurde). Die Tatsache, dass es eine Zeit gab, in der die Re­ alitäten noch nicht waren, unterscheidet sie von ewigen Realitäten. Aus den Kontexten wird klar, dass Alexander von Aphrodisias das ἦν ποτε präzise im Sinne von ἦν ποτε χρόνος verstand, „es gab eine Zeit“ oder „there was a time“. Anders als der philosophische Laie Arius. Tzamalikos versucht nun zu zeigen, dass der große Ori­ genes vom Logos das οὐκ ἦν ὅτε οὐκ ἦν aussagte, während Arius das οὐκ bewusst oder unbewusst strich und so zu seinem ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν gekommen sei. Und er behauptet weiter, dass für Origenes die Unterscheidung eines πρῶτος νοῦς und eines ὁ ἐνεργείᾳ νοῦς einschlägig wäre, wie sie sich bei Alexander von Aphrodisias findet.53 Ob tatsäch­ lich alle Figuren, die der griechische Altphilologe hier in Beziehung bringt – Alexander von Aphrodisias, Origenes und Arius – einander und ihre Texte so gut kannten, wie Tzamalikos annimmt, können wir an dieser Stelle getrost offenlassen. Denn für die These dieses Beitrags ist auch ohne eine definitive Entscheidung über die Traditions­ linien, die von der paganen Philosophie in die christliche Theologie führen (um so anachronistisch zu reden), ge­ nügend argumentiert worden: Arius hat das ποτέ nicht so präzise gebraucht, wie es Alexander von Aphrodisias tat. Arius verstand ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν offenkundig im Unter­ schied zum kaiserzeitlichen Fachphilosophen nicht im Sinne geschaffener Zeitlichkeit (wenn man annehmen will, dass seine verschiedenen Äußerungen an diesem 53   Tzamalikos, Anaxagoras, Origen, and Neoplatonism (wie Anm.  51) 991 mit Anm.  754: Alexander von Aphrodisias, in Arist. Met. Λ 7 ad 1072 b 23 (I p.  698,34–699,25; diese Passagen sind bisher noch nicht von Pantelis Golitsis in der Reihe „Commentaria in Ari­ stotelem Graeca et Byzantina“ erneut kritisch ediert worden).

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Punkt konsistent sind). Aber seine Idee von einem „Ir­ gendwann einmal“ vor aller Zeit war nicht präzise genug von der zeitlosen Ewigkeit und auch nicht von einer „Zeit vor aller Zeit“ abgegrenzt. Was er sich unter seinem „Ir­ gendwann einmal“ genau vorstellte, bleibt unklar, war vermutlich auch ihm selbst unklar. So unklar, wie die Vor­ stellung der sogenannten Valentinianer (die in Wahrheit Schüler des Ptolemaeus waren) von dem, was bestimmten geistigen Formen der Gottheit „voraus“ ging. Diese sprachlichen Unklarheiten bei so unterschied­ lichen christlichen Theologen machen aber darauf auf­ merksam, dass hinter der mangelnden sprachlichen Präzi­ sion ein theologisches Problem steckt: Die unterschiedliche Art, in der Alexander von Aphrodisias und Arius ποτέ verwenden, könnte man zwar lexikalisch erklären. Es sind nun eben zwei mögliche Bedeutungen der Zeitparti­ kel ποτέ, die beide zugrunde legen, wie wir oben sahen. Man kann diese sprachlichen Phänomene als Unterschied aber auch als Hinweis auf ein inhaltliches Problem der pa­ ganen wie christlichen Prinzipientheorie und Kosmologie mit dem, was vor der Zeit liegt, nehmen. Wie kann sich vor aller Zeit etwas entwickeln, wie kann vor aller Zeit etwas geschehen, wie kann vor aller Zeit etwas entstehen? Wenn man sich nicht mit der schlichten Antwort begnü­ gen will, dass das, was (beispielsweise in der biblischen Schöpfungsgeschichte) vor der Zeit geschieht, lediglich eine logische Abfolge darstellt, der keine zeitliche Aus­ dehnung zukommt (und die zeitlichen Ausdrücke also für bloße Sprachfiguren unzeitlicher Zusammenhänge nimmt), dann bleibt tatsächlich nur, über eine „Zeit vor aller Zeit“ in einem nichtmetaphorischen Sinne nachzu­ denken. Ein „Irgendwann einmal“ (ποτέ), das merkwür­ dig zwischen Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit oszilliert,

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kann als Antwort ebenso wenig befriedigen wie eine Vor-Ordnung (πρό), deren Status notorisch unklar bleibt. Denn es kann die Zeit vor aller Zeit ja nicht die Zeit aller Zeit sein. Über eine solche besondere, bewegungslose und nicht partizipierbare „erste Zeit“ als „Zeit vor der Zeit“ haben einzelne neuplatonische Autoren wie beispielsweise Pro­ klos nachgedacht.54 Auch die beeindruckenden Reflexi­ onen des Augustinus über die Zeit und seine Differenzie­ rung von zwei Zeit-Typen wird man wohl als Versuch interpretieren können, mit diesem Problem fertig zu wer­ den.55 Die christlichen Theologen an der Wende vom drit­ ten zum vierten Jahrhundert haben das offenkundig noch nicht versucht, und Arius hat es schon gar nicht getan. Es ist allerdings äußerst amüsant, dass ihm eine sprachlich wenig sorgfältige Übersetzung eines zentralen Satzes („es gab eine Zeit, …“) implizit solche neuplatonischen Refle­ xionen zuschreibt. Man kann aber aufgrund der präzisen Differenzierungen bei Alexander von Aphrodisias ziem­ 54   Proclus, inst. theol. 53 (p.  52,5–7 Dodds): ὁ δὲ ἀδιαίρετος αἰὼν καὶ ὁ εἷς χρόνος πρὸ τούτων, καὶ ὁ μὲν αἰὼν αἰώνων, ὁ δὲ χρόνων χρόνος, τῶν μετεχομένων ὄντες ὑποστάται. „Aber vor diesen – Ewigkeit und Zeit – sind die ungeteilte Ewigkeit und die eine einzige (sc. erste) Zeit; diese sind die Ewigkeit der Ewigkeiten und die Zeit der Zeiten, denn diese geben dem Bestand, woran etwas Anteil hat.“ Dodds deutet das als reine Hypostasierungen (ebd. 228); Werner Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik (PhA 24), Frank­ furt a. M. 1965, 141–198. – Man könnte diese Theoriebildung nun wiederum in Bezug zur Timaios-Interpretation setzen, so Baltes, Die Weltentstehung des platonischen Timaios (wie Anm.  24), Bd.  2, 105. 55   Auch hier aus der Fülle einschlägiger Titel nur ein einziger: Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Über­ setzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 32016.

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lich sicher sein, dass Arius nicht so tiefschürfend über das Problem nachdachte, wie eine etwas vorschnelle, aber höchst vertraute Übersetzung suggeriert. Und ebenso un­ wahrscheinlich ist, dass die sogenannte valentinianische Gnosis schon über die „Zeit vor aller Zeit“ so nachdachte, wie es die späteren Neuplatoniker versuchten. Philoso­ phie ist zum Verständnis antiker christlicher Reflexion unverzichtbar, aber man darf das philosophische Niveau vieler christlicher Autoren auch nicht überschätzen.

Ewige Zeugung Die Paradoxie des absoluten Ursprungs im Neuplatonismus und im christlichen Denken Holger Strutwolf Die christliche Theologie ist nicht nur sehr früh in ihrer Geschichte der platonischen Philosophie begegnet, son­ dern in ihrer eigenen Genese und Entwicklung tief von dieser Begegnung geprägt und verändert worden. Zwar wird man nicht so weit gehen und mit Friedrich Nietzsche das Christentum als „Platonismus für’s Volk“ bezeich­ nen,1 dafür ist nicht nur der Platonismus, sondern auch das Christentum viel zu sehr eine Wirklichkeit sui generis, aber auch die Vorstellung eines von platonisierenden christlichen Denkern eher recht als schlecht kaschierten Wesensantagonismus zwischen beiden, die nie wirklich miteinander verbunden worden seien, so dass die Vorstel­ lung eines christlichen Platonismus eine contradictio in adiecto sei, 2 trifft den Kern der Sache nicht. Schon die 1  Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Leipzig 1886, Vorrede. 2   Vgl. nur Heinrich Dörrie, Die andere Theologie. Wie stellten die frühchristlichen Theologen des 2.–4.  Jahrhunderts ihren Lesern die „Griechische Weisheit“ (= den Platonismus) dar?, in: ThPh 56 (1981) 1–46, hier 5, hielt bekanntlich das Christentum und recht ver­ standenen Platonismus für „gänzlich fremd, ja inkommensurabel“; der vermeintliche Platonismus vieler Kirchenväter sei nur „ein apo­ logetischer Kniff“ derselben, die ihren Lesern den als „Fiktion“ be­

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frühchristlichen Theologen wie Valentinus3 und seine vermeintlichen oder wirklichen Schüler, die Valentinia­ ner,4 und ganz besonders die Apologeten seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts haben auf unterschiedlichste Weise damit experimentiert, die christlich-biblische Botschaft mit philosophischen Vorstellungen hauptsächlich plato­ nischer Herkunft zu verbinden und so rational zu durch­ dringen. Wenn auch der Paulus der Apostelgeschichte noch im Athen des ersten Jahrhunderts nur auf den Wi­ derstand von stoischen und epikureischen Philosophen trifft, ohne dass Platoniker erwähnt werden (Apg 17,18), so will sich schon Justin nach eigener Darstellung zu­ zeichneten Eindruck vermitteln wollten, „daß es nur eines kleinen Schrittes bedürfe, um von der ‚hellenistischen Weisheit‘ zur christ­ lichen Lehre und zur christlichen Offenbarung zu gelangen“ (ebd. 22). 3  Christoph Markschies, Valentinus Gnosticus? Untersuchun­ gen zur valentinianischen Gnosis mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins (WUNT 65), Tübingen 1992, 400 f., sieht Valentin bekanntlich nicht als Häresiarch der valentinianischen ­ Gnosis, sondern als einen platonisierenden Bibelexegeten, dessen nicht immer konsequente philosophische Deutung christlicher Theo­logumena zur Krise seiner Theologie und damit zur Entste­ hung des sogenannten valentinianischen Systems in der Generation seiner Schüler und Enkelschüler führte. 4   Vgl. nur Barbara Aland, Der gnostische Mythos, seine Vorla­ gen und seine Wirkungen. Autorenkonzepte in Beziehung, in: Eve-­ Marie Becker/Jörg Rüpke (Hg.), Autoren in religiösen literari­ schen Texten der späthellenistischen und der frühkaiserzeitlichen Welt. Zwölf Fallstudien, Tübingen 2018, 259–290, hier 265–276, die den valentinianischen Mythos eindrücklich als „modifizierende Umformung des mittelplatonischen Modells“ verständlich gemacht hat und überhaupt die Gnosis „auf ihrem Höhepunkt als den Ver­ such, zentrale Gedanken paulinischer und johanneischer Theologie platonisierend auszusagen“, versteht: dies., Die Gnosis, Stuttgart 2014, 241.

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nächst als Platoniker verstanden haben, bevor er zum Christentum kam, das er dann mit Hilfe seiner philoso­ phischen Ausbildung als christliche Philosophie entfalten wollte. Hierbei empfand man eine große Nähe zur platonischen Konzeption eines geistigen Kosmos, der das Urbild der materiellen Welt bildete, die vom Demiurgen, dem Schöp­ fergott, nach diesem Paradigma gestaltet worden war. Auch die Unterscheidung dieses Schöpfers vom höchsten Wesen, die einige Platoniker der Zeit vertraten,5 half die­ sen christlichen Theologen, die Existenz des göttlichen Logos als Mittlergestalt zwischen dem ewigen und tran­ szendenten Gott und der zeitlichen und materiellen Wirk­ lichkeit plausibel erscheinen zu lassen. Selbst die Vorstel­ lung von einer realen Schöpfung der Welt als einem zeitlichen Anfang der kosmischen Wirklichkeit konnten sie bei einigen Platonikern wie Plutarch und Atticus6 wie­ der finden. Diese schon an und für sich nicht immer unproblema­ tische Anknüpfung an platonisches Denken wurde mit der Entstehung des Neuplatonismus um einiges schwie­ 5   Z. B. der Mittelplatoniker Atticus, vgl. hierzu Matthias Baltes, Zur Philosophie des Platonikers Attikos, in: Horst-Dieter Blume/ Friedhelm Mann (Hg.), Platonismus und Christentum, Münster 1983, 38–57, hier 44 f. 47; aber auch besonders pointiert der als Py­ thagoreer geltende Mittelplatoniker Numenius von Apamea. Euseb zitiert ihn ausführlich in dieser Hinsicht: vgl. die Zitate von Nume­ nius in praep. ev. XI 18,1–24 (GCS Eus. 8/2, 40–44); Holger Strutwolf, Eusebius von Caesarea, in: Christoph Riedweg/Christoph Horn/Dietmar Wyrwa (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philo­ sophie. Antike 5,2: Die Philosophie der Kaiserzeit und der Spätanti­ ke, Basel 2018, 1465–1477. 1758–1761, hier 1472. 6  Vgl. Baltes, ebd. 47–51; Irmgard Männlein-Robert, Atti­ kos, in: Riedweg/Horn/Wyrwa, ebd. 594–601, hier 597 f.

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riger. Der Übergang zum Neuplatonismus stellte die christlichen Theologen, wollten sie philosophisch auf der Höhe ihrer Zeit argumentieren, vor neue Herausforde­ rungen, die das mittelplatonische Denken so noch nicht gestellt hatte. Eine der wesentlichen Neuerungen, die der Neuplatonismus im bewussten Rückgriff auf Platons Timaios im Verbund mit einer ontologischen Interpretation der so genannten „ersten Hypothese“ des platonischen Parmenides eingeführt hat, war die von Plotin entwickelte Henologie im Sinne einer „negativen Theologie des Ei­ nen“.7 Wie wir noch näher erörtern werden, spricht sich die absolute Transzendenz des Einen bei Plotin in der sehr ernst genommenen Aussage aus, dass das Eine noch „jen­ seits von Wesen und Geist“ (ἐπέκεινα οὐσίας καὶ νοῦ) ange­ siedelt sei. Dieser Gedanke war den Mittelplatonikern nicht geläu­ fig, wenn auch Platon im Staat die Ansicht vertreten hatte, dass das Gute, „das den Ideen die Erkennbarkeit und der Seele Erkenntnis gewährt …, noch jenseits des Seins“ (ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας, polit.  509 b 9) zu denken sei. Weder bei Plutarch noch bei Atticus lässt sich die Vorstellung nachweisen, dass der höchste Gott, das Eine, jenseits von Sein und Denken ist. Für Plutarch ist Gott, oder das Gött­ liche selbst, notwendig das Eine, d. h. ewig und sich nicht verändernd, d. h. wahres Sein (E apud Delph. 393 a 7–b 8). Dabei wird die Einheit als ewiges und unveränderliches Sein aufgefasst, weil jedes Werden Andersheit (ἑτερότης) in das Göttliche hineintragen würde. Das höchste Wesen, das Gute, gilt denn den meisten Platonikern vor Plotin, 7  Christoph Horn, Der Neuplatonismus vom 3. bis zum zweiten Drittel des 4.  Jahrhundert. Überblick, in: Riedweg/Horn/­Wyrwa, ebd. 1249–1251, hier 1249 f.

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selbst bei dem die Transzendenz des höchsten Prinzips so stark betonenden Numenius von Apamea, ganz selbstver­ ständlich als „Geist“ (νοῦς). 8 Nur der Platoniker Kelsos, gegen den Origenes ein bis zwei Generationen nach dessen Tod seine große apologe­ tische Gegenschrift verfasste, war Ende des zweiten Jahr­ hunderts der neuplatonischen Vorstellung von der Über­ seiendheit des höchsten Gottes, des Vaters, näher gekommen, indem er diesen als einen bezeichnet, „der weder Verstand noch Denkkraft noch Wissenschaft“ ist, „sondern Ursache für den Verstand ist, dass er denkt, und für die Denkkraft, dass sie seinetwegen besteht, und für die Wissenschaft, dass sie seinetwegen erkennt“. Aller­ dings schreibt Kelsos dem ersten Prinzip dennoch eine, wenn auch nicht näher bestimmte geistige Erkennbarkeit zu, denn er sei ἀρρήτῳ τινὶ δυνάμει νοητός, „durch unaus­ sprechliche Kraft erkennbar“.9 Was mit dieser unaus­ sprechlichen Erkenntniskraft gemeint ist, bleibt in den erhaltenen Fragmenten des Kelsos ungeklärt. Aber auch hier wird dem Vater aller eine gewisse noetische Erkenn­ barkeit zugeschrieben. Das ändert sich, wie gesagt, bei Plotin grundsätzlich und stellte eine christliche Platonis­ musrezeption vor neue Herausforderungen.

8   Vgl. Numenius, frg. 16 (p.  25 Leemanns) = Eusebius, praep. ev. XI 22,3–5 (GCS Eus. 8/2, 49,13–50,8). 9   Origenes, Cels. VII 45. Vgl. Irmgard Männlein-Robert, Kel­ sos (von Alexandrien?), in: Riedweg/Horn/Wyrwa, Geschichte der Philosophie (wie Anm.  5) 665–672, hier 669.

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1. Plotins Henologie Wenn das System Plotins ontologisch auch als Abstiegs­ schema konzipiert ist, das mit dem absoluten Einen begin­ nt, aus dem ewig der Geist sich ergießt, der dann in sich selbst ruhend, nur durch sein eigenes Sein, die Seele als dritte Hypostase hervorbringt, die dann als bewegte und zugleich bewegende Kraft über ihre Hypostasen bis in die Tiefen der Materie hinein wirkt, so ist doch gnoseologisch der Aufstieg der Seele von der materiellen Welt zu deren geistigen und immateriellen Ursachen bis hinauf zur er­ sten und höchsten Ursache, die nicht mehr überschreitbar, weil sie absolut und unverursacht ist, der eigentliche Be­ gründungszusammenhang der plotinischen Metaphysik. Wenn man auch versucht hat, die Hypostasen-Lehre des Neuplatonismus aus einer mystischen Urerfahrung Plo­ tins abzuleiten, seine Philosophie also aus der Erfahrung der unio mystica und dem danach unvermeidlichen Ende dieser Einswerdung mit dem Göttlichen und dem darauf­ folgenden Abstieg in die weltliche Sphäre heraus zu re­ konstruieren,10 so ist doch mit Jens Halfwassen deutlich darauf hinzuweisen, dass „Plotins ekstatische Mystik … keineswegs die Bedingung seiner Metaphysik des absolu­ ten Einen“ ist. Sie sei „vielmehr das Ziel, das den Weg – eben den Aufstieg zum Einen selbst mit den Mitteln des dialektischen Denkens – notwendig schon voraussetzt, nicht umgekehrt“. Dieser Weg sei daher „philosophisch explizierbar“ und auch ohne die Voraussetzung einer re­ alen mystischen Schau begründbar.11 Begründet wird die­ 10  Oskar Söhngen, Das mystische Erlebnis in Plotins Weltan­ schauung, Leipzig 1923, 75–77. 11  Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin (BzA 9), Stuttgart 1992 (22006), 15.

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se Philosophie des Einen durch die platonische Denkfigur des Aufstiegs von der Erfahrung der sinnlichen Wirklich­ keit zu den diese konstituierenden und auch ihre Erkennt­ nis erst ermöglichenden immateriellen geistigen Voraus­ setzungen. So wie die Einzeldinge als das, was sie sind, nur durch den Rückgriff der Seele auf die Ideen erkannt werden kön­ nen, weil sie von der Weltseele nach den Ideen gestaltet sind, so kann aber die Seele und ihr diskursives, zeitliches Denken noch nicht das höchste Prinzip des Seins und Werdens sein, weil sie in sich selbst vielfältig, weil durch verschiedene Seelenvermögen gekennzeichnet ist. Die Seele muss also auf das Noetische, das geistige Sein, auf die Ideen hin, die das eigentlich Seiende sind, überstiegen werden. Sie bilden wiederum eine Einheit, denn sie wer­ den bei Plotin „als die Inhalte der zeitlosen Selbstanschau­ ung des absoluten, d. h. des übermenschlichen und voll­ kommenen Geistes (νοῦς) gedacht“.12 Dieser mit der platonischen Ideenwelt identifizierte Nous entspricht im Wesentlichen dem, was Aristoteles als das höchste Wesen, den unbewegten Beweger, das sich selbst denkende Den­ ken (νόησις νόησεως),13 oder als Idee der Ideen angesehen hat. Und auch die Mittelplatoniker einschließlich Nu­ menius sind ihm hierbei gefolgt. Aber für Plotin kann nun bekanntlich der Geist und die Gesamtheit der Ideen nicht das höchste Prinzip sein, da dieser dann immer noch durch Vielheit und Differenz ge­ kennzeichnet sein würde. Einmal ist jede einzelne Idee für sich durch Differenz und damit Vielheit bestimmt, zum anderen auch die Gesamtheit der Ideenwelt als Inbe­   Ebd. 44.   Aristoteles, Met. XII 9, 1074 b 34 f. Vgl. Halfwassen, ebd. 46.

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griff des geistigen und damit eigentlichen Seins gerade als solche Einheit von Vielheit keineswegs schlechthin ein­ fach. Aber auch der Geist selbst, in seinem reinen GeistSein, als Selbstvollzug und Sich-Selbst-Gegenwärtig-Sein aller noetischen Inhalte, ist immer noch als Denken des Gedachten durch eine Zweiheit bestimmt. Als solches in sich Unterschiedenes bedarf es aber nach Plotin noch eines Prinzips, das diese Einheit gewährt oder gewähr­ leistet. Es ist somit notwendig ein „Zweites“ (δεύτερον). So sagt Plotin: „Und in der Tat muss man den Geist so ansetzen, dass er einer­ seits bei dem Guten, dem absolut Ersten, ist und auf es hinblickt, andererseits aber bei sich selbst ist und sich selbst denkt, und zwar denkt er sich als Inbegriff alles Seienden. Er ist also weit davon entfernt, das Eine selbst zu sein, da er so vielfältig ist.“14

Da nun aber das Eine als Bedingung der Möglichkeit jeg­ licher Einheit und jedes Einsseins selbst nicht mehr an der Einheit teilhaben kann, muss es absolut eins sein und darf daher von keiner Differenz mehr affiziert sein. Daher muss alles von ihm ausgeschlossen werden, was auch nur den Anschein von Differenz erwecken könnte. So ist es in unüberbietbarem Sinne „jenseits von Sein und Geist“,15 in sich völlig unbestimmt und daher auch uner­ kennbar. Und dies nicht nur für Wesen, die außer ihm sind oder nach ihm kommen, sondern an und für sich. Schon dieses An-und-Für-sich ist streng genommen nicht ange­ messen, da auch diese Formulierung eine reflexive Struk­ tur voraussetzt, die dem streng gedachten Einen nicht zu­

  Plotin, enn. VI 9,40–44. Übersetzung nach Halfwassen, ebd.

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  Plotin, ebd. I 7,19–20.

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kommen kann. So sagt Plotin mit großer Emphase über das noch über dem Geist stehende Eine: „Wenn du es losgelöst und für sich allein betrachten willst, wirst du es nicht denken …Wenn aber ein Einfachstes von allen existiert, wird es kein Sich-selber-Denken an sich haben; denn hätte es dies, so würde es dies durch ein Vieles-Sein haben. Also denkt es weder sich selber, noch gibt es überhaupt eine Möglich­ keit, es zu denken.“16 Und an anderer Stelle: „Aber was jenseits des Wesens steht, ist auch jenseits der Vernunft. So ist auch das keineswegs unsinnig, dass es [das Eine] von sich selbst nichts weiß. Denn es hat nichts bei sich, was er kennenlernen könnte, da es Eines ist. “17

Dieses Sich-selbst-nicht-Schauen oder geistig Wahrneh­ men ist also für Plotin kein Mangel, sondern vielmehr ein Vorzug, da auch die Wesen, die das Eine schauen und mit ihm sich vereinigen, seiner auf nicht noetische Weise, son­ dern auch unmittelbarere Weise „inne werden.“18 Da nun aber das Eine weder sich selbst noch viel weni­ ger die Ideen der Dinge geistig wahrnimmt, sondern in ewiger Selbstidentität unbewegt ruht, kann es natürlich auch die Dinge, die nach ihm sind, nicht als solche kennen. Plotin ist sich bewusst, dass er mit dieser Erkenntnis nicht alleinsteht. In seiner Auseinandersetzung mit Denkern, 16   Ebd. V 3,13,34–36: Ἢ ἔρημον καὶ μόνον ἐὰν ἐθελήσῃς λαβεῖν, οὐ νοήσεις … εἴ τί ἐστιν ἁπλούστατον ἁπάντων, οὐχ ἕξει νόησιν αὐτοῦ· εἰ γὰρ ἕξει, τῷ πολὺ εἶναι ἕξει. Οὔτ’ οὖν αὐτὸ νοεῖν οὔτ’ ἔστι νόησις αὐτοῦ. 17  Ebd. V 6,6,30–32: Ἀλλ’ ἐπέκεινα οὐσίας ὄν τι καὶ τοῦ νοεῖν ἐπέκεινα εἶναι· οὐ τοίνυν οὐδ’ ἐκεῖνο ἄτοπον, εἰ μὴ οἶδεν ἑαυτόν· οὐ γὰρ ἔχει παρ’ ἑαυτῷ, ὃ μάθῃ, εἷς ὤν. 18   Ebd. V 6,6,32–35: Ἀλλ’ οὐδὲ τὰ ἄλλα δεῖ αὐτὸν εἰδέναι· κρεῖττον γάρ τι καὶ μεῖζον δίδωσιν αὐτοῖς τοῦ εἰδέναι αὐτά – ἦν τὸ ἀγαθὸν τῶν ἄλλων – ἀλλὰ μᾶλλον ἐν τῷ αὐτῷ, καθόσον δύναται, ἐφάπτεσθαι ἐκείνου.

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die dem höchsten Prinzip ein Denken seiner selbst zu­ schreiben, hält er den meisten davon doch zu Gute, dass sie ihm immerhin nicht die Erkenntnis der niederen und dem Einen nachgeordneten Dinge zuschreiben würden. Wobei er aber zugleich einräumt, dass es auch Philo­ sophen gibt, die es für „unsinnig“ halten, dem Einen keine Erkenntnis der von ihm unterschiedenen Dinge zuzu­ schreiben.19 Für Plotin selbst nun macht es überhaupt keinen Sinn, dem höchsten Prinzip die Kenntnis und das Wissen der von ihm erzeugten Wesen zuzuordnen. Dies schon aus dem Grund, weil für ihn jede Erzeugung notwendiger­ weise eine Seinsminderung bedeutet. So stellt er an einer Stelle in Bezug auf die Erzeugung allgemein das Postulat auf, das ich hier wörtlich zitieren möchte: „Alles, was den Zustand der Reife erreicht hat, zeugt; das nun, was ewig reif und vollendet ist, zeugt ewig und ein Ewiges, zeugt aber ebenfalls etwas, das geringer ist als es selbst.“20

Dieser Grundsatz wird kurz darauf auf die Erzeugung der Seele durch den Geist angewendet, wenn es heißt: „Da er (sc. der Geist) nämlich in voller Reife steht, musste er zeugen, da er eine so große Kraft war, konnte er nicht unfrucht­ bar sein. Aber auch hier konnte das Erzeugte nicht besser sein, sondern es musste geringer sein, musste eine Nachbildung von ihm sein.“21

  Ebd. VI 7,37,1–3.   Ebd. V 1,6,37–39: Καὶ πάντα δὲ ὅσα ἤδη τέλεια γεννᾷ· τὸ δὲ ἀεὶ τέλειον ἀεὶ καὶ ἀίδιον γεννᾷ· καὶ ἔλαττον δὲ ἑαυτοῦ γεννᾷ. 21  Ebd. V 1,7,37–40: Καὶ γὰρ τέλειον ὄντα γεννᾶν ἔδει, καὶ μὴ δύναμιν οὖσαν τοσαύτην ἄγονον εἶναι. Κρεῖττον δὲ οὐχ οἷόν τε ἦν εἶναι οὐδ’ ἐνταῦθα τὸ γεννώμενον, ἀλλ’ ἔλαττον ὂν εἴδωλον εἶναι αὐτοῦ. 19

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Schließlich wird dieser Grundsatz auch auf das Eine und den Geist angewendet: „Das nun, was aus jenem (sc. dem Einen) kommt, soll ja nicht dasselbe sein, wie jenes; wenn es nun nicht dasselbe ist, so ist es gewiss nicht besser (als das Eine), denn, was könnte besser sein als das Eine, sondern es musste geringer sein, musste ein Nach­ bildung von ihm sein.“22

Wenn also für Plotin, wie er selbst sagt, „die Erzeugung von Wesen nicht ein Hinauf-, sondern nur ein Hinab­ schreiten bedeuten kann und ein Übergang in die Viel­ heit“, der als solcher eine Depravation bedeutet, so wäre es für das Eine keineswegs erstrebenswert, sich mit dem zu beschäftigen, was unter ihm steht. So ergibt sich für das moderne Denken die anscheinend paradoxe Vorstellung, dass das höchste Wesen die aus ihm stammenden Hypostasen nicht als das, was sie an sich sel­ ber sind, erkennen kann. Das Eine „weiß“ nicht, wie es ist, der sich selbst denkende und das Eine schauende Geist zu sein, kann es nicht wissen, weil es dann aufhören müsste, das eine und jenseits von Sein und Geist liegende Prinzip desselben zu sein. Da jede Wahrnehmung der niederen Hypostasen einen Abstieg, oder eine Erniedrigung der höheren Hypostase bedeuten würde, ein Heraustreten des Einen aus seiner absoluten Transzendenz und Einheit, ist sie für das Denken Plotins m. E. eine selbstwidersprüch­ liche Vorstellung. Dadurch ergibt sich aber für das plotinische Denken eine grundlegende Aporie: Wie man nämlich überhaupt den Hervorgang des Zweiten aus dem Ersten denken oder verstehen kann. Plotin ist sich dieser Aporie durchaus be­ wusst und hat mit ihrer Lösung gerungen. Er stellt sich   Ebd. V 3,15.

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die „schon von den Weisen der Vorzeit“ gestellte Frage, „wie aus dem Einen, als einem so beschaffenen, wie wir es ihm zuschreiben“, nämlich in absoluter Einheit, jenseits von Denken und Sein und fern von jeder Bestimmtheit, so etwas wie „Vielheit oder Zweiheit oder Zahl“ hervorge­ hend konnte, „wieso es nicht bei sich selbst verharrte, son­ dern diese ausgebreitete Vielheit aus ihm geflossen ist, die wir in der Wirklichkeit antreffen, von der wir aber for­ dern, dass sie auf das Eine zurückgeführt werden muss“.23 Dabei muss also diese Hervorbringung des Zweiten aus dem Einen in einer Weise erfolgen, dass es „in die Existenz getreten ist, während jenes unbewegt war, sich nicht zu ihm neigte oder einen Entschluss fasste oder überhaupt sich irgendwie bewegte.“24 Es muss also ein Weg gefunden werden, wie das Eine, ohne jede eigene Aktivität und ohne von dem Hervorgang des Zweiten aus ihm irgendwie affi­ ziert zu werden, zum Ursprung dieses Anderen werden kann. Als Modell hierfür entwickelt Plotin das Bild einer „ewigen Zeugung“. Begrifflich kann Plotin diese absolute Hervorbringung nicht mehr fassen und denken, sondern muss zu Bildern und Metaphern greifen, um sie plausibel zu machen. So das Bild der Sonne und den sie umgebenden Strahlenkranz. So sagt er über das Zweite: „Aber wie kommt das zustande und als was muss man es sich vorstellen? Als eines, das zwar um jenes herum ist, als ein jenes umstrahlender Glanz, während jenes aber verharrt, wie das Leuchten der Sonne, das sie gleichsam umspielt, aus ihr ewig ge­ boren wird, während sie selbst aber beharrt.“25   Ebd. V 1,6,4–31.   Ebd. V 1,6,25–27. 25   Ebd. V 1,6,27–31. 23 24

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Plotin muss also zu einem „Analogieschluss“ greifen,26 um die Paradoxie des absoluten Ursprungs zu beschreiben und in gewisser Weise abzumildern. Er muss dem Einen wesensmäßige Eigenschaften zuschreiben, die notwendig nach außen wirken, ohne es in seinem inneren Wesen zu affizieren, denn es darf ja keine Differenz, keine Bewe­ gung und keine Veränderung in das Eine eingetragen wer­ den. Plotin benutzt dazu die Vorstellung von der schlecht­ hinnigen Vollkommenheit des Einen, das er darüber hinaus mit dem Bild der Überfülle anreichert, die ihrer eigenen Natur nach immer als solche existiert und wirkt und daher als ewiger Überfluss auch ewig überfließen muss.27 Was Plotin hiermit sagen will, ist, dass das Eine durch sein eigenes bloßes Vorhandensein, durch seine bloße Na­ tur und ewige Gegenwart, das unter ihm stehende Sein und Denken, den ewigen Geist erzeugt, ohne dafür selbst tätig zu werden. Diese Erzeugung des Zweiten durch das Erste geschieht völlig zweckfrei und ohne irgendeine Ab­ sicht des Einen, da diesem solcherlei nicht zukommen kann. Zugleich aber geschieht sie auch nicht zufällig, 28 denn Zufälligkeit hat „unter den geistigen Dingen“ keinen Platz.29 Sie entspringt also dem Wesen des Einen, ist somit auch keine über es verhängte Notwendigkeit, sondern Ausdruck seiner eigenen Natur und als ungehinderter Selbstvollzug des Einen sozusagen Ausdruck seines freien Willens.30 Aber dies können in Bezug auf das Eine nur un­ 26   Vgl. Venanz Schubert, Plotin. Eine Einführung in sein Den­ ken, Freiburg i. Br. 1973, 55. 27   Plotin, enn. V 2,1,7–9. 28   Ebd. V 3,12,40. 29   Ebd. VI 8,14,14. 30   Plotin, VI,8,13.

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eigentliche Aussagen sein, da ihm selbst ja eigentlich kein Sein und Wesen und somit auch keine Natur zukommen, die sein Wirken bestimmen. Das heißt m. E. aber, dass Plotin die Abkunft des Ande­ ren aus dem Einen und damit die Wirklichkeit als Ganze nicht spekulativ ableiten kann. Seine Philosophie ist somit in gewissem Sinne „empirisch“: Sie geht von der Erfah­ rung der Wirklichkeit aus und steigt von ihr zu ihrem Einheitsgrund auf. Der Übergang vom Einen zum Vielen bleibt letztlich ein unerklärbares Rätsel; oder wie Jens Halfwassen es positiv und treffend ausgedrückt hat: „Das Verhältnis von Grund und Begründetem, Ursprung und Entsprungenem kann darum bei Plotin … auch nicht aus der eigenen Dynamik des Ursprungs selber begriffen wer­ den, sondern immer nur aus dem Einheitsbedürfnis des Begründeten.“31

2. Die Lehre vom höchsten Prinzip in der frühen christlichen Theologie Christliche Theologie hat sich sehr früh auf das plato­ nische Gottesbild berufen, nach dem der höchste Gott nicht nur einer ist, sondern auch jenseits des Seins in abso­ luter Transzendenz verharre. Wenn Justin seine eigene vorchristliche platonische Gottesvorstellung beschreibt, so bezeichnet er den Vater als „jenseits jeder Wesenheit seiend“ (ὂν ἐπέκεινα πάσης οὐσίας).32 Interessanterweise findet sich dieser Terminus dann weder im Dialog mit 31  Jens Halfwassen, Auf den Spuren des Einen. Studien zur Me­ taphysik und ihrer Geschichte (Collegium Metaphysicum 14), Tü­ bingen 2015, 34. 32   Justin, dial. 4,1,8 f.

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Tryphon, wo Justin als christlicher Philosoph spricht, noch in seiner Apologie wieder. Mit der Vorstellung, dass Gott jenseits des Wesens ist, scheint die christliche Theo­ logie, auch wenn sie von platonischen Gedanken beein­ flusst ist, zu Anfang eher zu fremdeln. Origenes, ein älterer Zeitgenosse Plotins und aller Wahrscheinlichkeit nach wie dieser ein Schüler des Am­ monius Saccas, ist der erste christliche Theologe, der m.W. die Vorstellung von der über dem Wesen und über dem Denken stehenden Gottheit des ersten Prinzips explizit aufgreift und diskutiert. Er selbst aber bleibt in der Frage unentschieden, ob „Gott in Würde und Macht über die Wesenheit erhaben ist“ und den anderen Wesen nach ihm „die Wesenheit durch sein Wort mitteilt, oder ob er selber eine Wesenheit ist“. Und er erwägt dann auch, ob man, ähnlich wie Plotin, davon ausgehen könne, dass der „Ein­ geborene“, also die zweite Hypostase nach dem Vater, „Wesenheit der Wesenheit, Urbild der Urbilder und Ur­ sprung zu nennen sei, während Gott, sein Vater, jenseits aller dieser Vorstellungen steht“.33 Origenes scheint in die­ ser Frage, die offenbar unter den Schülern des Ammonius Saccas heftig diskutiert worden zu sein scheint, nicht ein­ deutig Stellung bezogen zu haben, denn kurz nach der von uns zitierten Passage aus Contra Celsum fasst er die eigene christliche Vorstellung damit zusammen, „dass der all­ mächtige Gott als Geist oder jenseits von Geist und We­ senheit einfach und unkörperlich ist.“ Zugleich schreibt er ihm aber zu, durch den menschlichen Geist, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, durch Vermittlung des Sohnes erkannt werden zu können.34   Origenes, Cels. VI 64,14–28.   Ebd. VII 38,1–3: Νοῦν τοίνυν ἢ ἐπέκεινα νοῦ καὶ οὐσίας λέγοντες

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Zwar betont Origenes immer wieder die Transzendenz des Vaters, die der Vermittlung durch den Sohn bedarf, um für die Vernunftwesen erkennbar zu werden, aber er bestreitet dabei nirgends, dass der Vater erkannt wird: Der Vater ist für uns an sich zwar nicht direkt erkennbar, aber durch sein Bild, den Sohn: „Er offenbart ihn aber da­ durch, dass er selbst begriffen wird; denn von wem er be­ griffen wird, von dem wird auch der Vater begriffen (Joh 14,9).“35 Dieser ist aber ewig gezeugt, „weil Gott immer konnte und wollte“ und daher auch „nie ein Grund oder eine Möglichkeit vorhanden sein konnte, dass er das Gute, das er wollte, nicht hatte.“36 Origenes teilt also mit Plotin die Vorstellung von der ewigen Zeugung des zweiten Wesens, nicht aber den Grund für diese, da er die Seins- und Geistes-Transzen­ denz des Vaters nicht mit derselben Grundsätzlichkeit wie dieser vertritt. Er versteht letztlich Vater und Sohn als zwei voneinander unterscheidbare Hypostasen, den Vater als den Vater der Wahrheit, den Sohn als die Wahrheit selbst, beide sind aber eins durch Eintracht, die Überein­ stimmung und die Selbigkeit des Willens, „so dass, wer den Sohn gesehen hat, der der Abglanz der Herrlichkeit und der Ausdruck der Hypostase Gottes ist, in dem sei­ enden Bild Gottes, Gott selbst gesehen hat“.37 εἶναι ἁπλοῦν καὶ ἀόρατον καὶ ἀσώματον τὸν τῶν ὅλων θεόν, οὐκ ἂν ἄλλῳ τινὶ ἢ τῷ κατὰ τὴν ἐκείνου τοῦ νοῦ εἰκόνα γενομένῳ φήσομεν καταλαμβάνεσθαι τὸν θεόν. 35  Princ. I 2,6: Imago … per quam cognovimus patrem, quem „nemo alius novit nisi filius et cui voluerit filius relevare“. Relevat autem per hoc, quod ipse intellegitur. A quo enim ipse fuerit intellectus, consequenter intellegitur eeet pater, secundum hoc quod ipse dixit: „Qui me vidit, vidit et patrem.“ 36   Ebd. I 2,9. 37   Cels VIII 12: Θρησκεύομεν οὖν τὸν πατέρα τῆς ἀληθείας καὶ τὸν

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3. Die Rezeption des neuplatonischen Denkens bei Eusebius von Caesarea Wissen wir nun nicht, ob und inwieweit Origenes Kennt­ nisse von Plotins Philosophie hatte, so ist Eusebius von Caesarea der erste christliche Denker, von dem wir sicher sein können, dass er die Lehren und sogar die Schriften Plotins gekannt hat, weil er sie in seiner Praeparatio evangelica ausführlich wörtlich zitiert. Im Rahmen der Dar­ stellung seiner eigenen Logos-Lehre zitiert Eusebius aus­ führlich und gezielt und umsichtig auswählend aus Plotins Schrift „Über die drei ursprünglichen Hypostasen“ (enn. V 1). Da Eusebius mit diesen Zitaten zeigen will, dass die platonische Philosophie in wesentlichen Teilen mit der he­ bräischen und christlichen Lehre übereinstimmt, legt er großen Wert darauf, dass seine Zitate diesen Zweck auch erfüllen, und schneidet seine Anführungen geschickt und treffsicher so zu, dass sie dies auch tun. Für Eusebius stimmen nun Plotin und christliche Theo­ logie in folgenden Punkten überein: Der zweite Gott, der „unvermischter Geist“ (ἀκήρατος νοῦς) ist und das Urbild des Kosmos darstellt (ἀρχέτυπον αὐτοῦ),38 ist aus dem er­ sten Einfachen gezeugt, das vor der Vielheit liegt und die Ursache für Sein und Vielheit des Geistes ist.39 Die Art und Weise des Hervorgangs des Geistes aus dem Einen, υἱὸν τὴν ἀλήθειαν, ὄντα δύο τῇ ὑποστάσει πράγματα, ἓν δὲ τῇ ὁμονοίᾳ καὶ τῇ συμφωνίᾳ καὶ τῇ ταυτότητι τοῦ βουλήματος·ὡς τὸν ἑωρακότα τὸν υἱὸν ὄντα «ἀπαύγασμα τῆς δόξης» καὶ χαρακτῆρα «τῆς ὑποστάσεως» τοῦ θεοῦ ἑωρακέναι ἐν αὐτῷ ὄντι εἰκόνι τοῦ θεοῦ τὸν θεόν. 38   Plotin, enn. V 1,4,1–9 = Eusebius, praep. ev. XI 17,1 (GCS Eus. 8/2, 38,9–14). 39   Plotin, ebd. V 1,5,3–7 = Eusebius, ebd. XI 17,2 (GCS Eus. 8/2, 38,16–19).

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der ohne Veränderung des Einen geschehen soll, wird dann mit dem Bild der ewigen Zeugung beschrieben: Wie die Sonne immer ihren Glanz ausstrahlt und jedes Sei­ ende, sobald es vollkommen ist, die von ihr abhängige Hypostase hervorbringen muss, so zeugt auch das Eine, das ewig vollkommen ist, ständig und ewig den Geist. Diese ewige Zeugung bringt nicht irgendetwas hervor, sondern das, was das Größte nach ihm sein muss, den ewi­ gen Geist.40 Da jedes Erzeugte notwendigerweise nach seinem Erzeuger strebt und ihn liebt, ist auch der Geist ganz auf das Eine ausgerichtet und wird so zum vollkom­ menen Abbild von diesem.41 Eusebius zitiert abschließend noch jene Passage Plotins, in der sich dieser für seine Leh­ re von den drei Hypostasen des Einen, des Geistes und der Seele auf Platons Zweiten Brief beruft, um zu unterstrei­ chen, dass Plotins Lehre nicht eine Erfindung von diesem ist, sondern getreue Überlieferung der platonischen Phi­ losophie – ein Nachweis, der für Eusebius im Rahmen sei­ nes Altersbeweises notwendig ist. Betont Eusebius damit deutlich die Übereinstimmung zwischen Plotin, Platon und der christlichen Lehre, so ist es überaus instruktiv, festzustellen, an welchen Punkten er Plotin gerade nicht folgen kann und stillschweigend Differenzen markiert. Er tut dies, wenn er in seiner Demonstratio evangelica, diesmal ohne expliziten Verweis auf platonische Lehren, das Verhältnis von Vater und Sohn mithilfe der Abbildtheologie beschreibt. Hier greift er das von Plotin gebrauchte Bild von der Ausstrahlung des Lichts wieder auf, nimmt aber explizite Präzisie­ 40   Plotin, ebd. V 1,6,27–44 = Eusebius, ebd. XI 17,3–7 (GCS Eus. 8/2, 39,2–15). 41   Plotin, ebd. V 1,6,50–7,2 = Eusebius, ebd. XI 17,8 (GCS Eus. 8/2, 39,17–20).

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rungen vor, bei denen er Plotin nicht erwähnt, aber den­ noch im Auge zu haben scheint. Allen Modifikationen am Bildgebrauch ist dabei gemeinsam, dass sie die anschei­ nende Naturhaftigkeit der Vorstellung von der ewigen Zeugung in Richtung auf eine personale oder interperso­ nale Struktur der Relation von Vater und Sohn verschie­ ben wollen. Während die Ausstrahlung des Lichts von diesem un­ trennbar ist und eine bloße Wirkung (ἐνέργεια) des sie hervorbringenden Seienden ist, kommt dem Sohn als ewi­ gem Abbild des Vaters ein ontologischer Selbststand, also eine eigene Hypostase zu.42 Darüber hinaus ist die Aus­ strahlung eine wesentliche Eigenschaft des Lichts, sie ist also essentieller Bestandteil seines Seins und damit συμπληρωτική für es, d. h. dass das Licht a priori nicht ohne Ausstrahlung sein könne, während der Vater als Ur­ sache für den Sohn zu gelten habe, also als solche von ihm ontologisch unterschieden sei. Während diese beiden Prä­ zisierungen des Bildgebrauchs noch keinerlei Kritik an Plotin erkennen lassen, liest sich die dritte durchaus als implizite Abgrenzung von dessen Position: Diese setzt die Zeugung des Sohnes von der naturhaften Zeugung der Ausstrahlung durch Licht dadurch ab, dass diese nicht vorsätzlich (κατὰ προαίρεσιν τοῦ φωτός) geschieht, wäh­ rend die des Sohnes dem Beschluss und dem Vorsatz (κατὰ γνώμην καὶ προαίρεσιν) des Vaters entspringt: „Weil er wollte, ist Gott Vater des Sohnes geworden und hat ein zweites Licht, das ihm in allem gleich ist, hervorge­ bracht.“43

  Eusebius, dem. ev. IV 3,4 (GCS Eus. 6, 153,1–4).   Ebd. IV 3,7 (GCS Eus. 6, 153,12–16).

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Es ist nun interessant, dass Eusebius in seiner Zitierung jener Passagen über die ewige Zeugung des Geistes aus dem Einen exakt jene Passage übergangen hat, in der Plo­ tin ausdrücklich darlegt, dass das Eine sich bei der Entste­ hung des Geistes aus ihm so verhalten haben müsse, dass es unbewegt verharrte und sich dem Geist weder zuneigte noch einen Willensentschluss fasste (οὐ προνεύσαντος οὐδὲ βουληθέντος).44 Die Grenze für die Rezeption der Plotinischen Hypostasen-Lehre ist für Eusebius also dort erreicht, wo das personale Gottesbild oder das Bild einer interpersonalen Beziehung zwischen Vater und Sohn tan­ giert ist. Für ihn bleibt, bei aller Rezeption platonischer Gedanken, das Verhältnis der drei Hypostasen der Gott­ heit im Gefolge des Johannesevangeliums ein person­ haftes und kann nicht in eine rein naturhafte Seinsrelation umgestaltet werden. Daher ist für seinen christlichen Platonismus auch die Vorstellung unerschwinglich, dass der Vater in dem Sinne über Sein und Denken erhaben vorgestellt werden müsse, dass er weder sich selbst noch die Wesen nach ihm geistig wahrnehme. Eusebius kann nämlich nicht nur davon sprechen, dass der Sohn ewig den Vater schaut und dabei die urbildlichen Ideen, die in dessen Denken verborgen liegen, aufnimmt und nach ihnen schließlich die Welt schafft, sondern er kann diese platonische Vorstellung mit Joh 5,19 f. („Amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn. Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm al­ les, was er tut“) in Verbindung bringen und dadurch das platonische Verhältnis personalisieren und als Ausdruck   Plotin, enn. V 1,6,25–27.

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der gegenseitigen Liebe zwischen beiden interpretieren. So wie der Sohn den Vater als sein Urbild schaut und durch den Anblick mit Freude erfüllt wird, weil er in ihm die Urbilder aller zu schaffenden Kreaturen sieht,45 so soll sich nach Eusebius auch der Vater wiederum nach Spr 8,30 („Ich war es, an der er sich täglich freute“) über den An­ blick des Sohnes freuen, in dem er sich als in seinem Ab­ bild wie in einem Spiegel selbst anschaut.46 Somit hat die Existenz des Sohnes nicht allein die Funk­ tion, den an sich unerkennbaren Vater nach unten zu ­offenbaren, sondern kann auch das Hervorbringen des Sohnes als einen Akt der Selbstreflexion des ersten Prin­ zips in seinem Abbild verständlich machen. Damit schreibt Eusebius, anders als Plotin es tut, der Existenz des Sohnes eine positive und wesentliche Funktion für die Selbstbetrachtung des ersten Prinzips zu und eröffnet sich damit die Möglichkeit, die Notwendigkeit einer zweiten Hypostase auch im Hinblick auf die erste Hypostase plausibel zu machen.47 Dass aber die Schau des Sohnes durch den Vater (eine für Plotin nicht mögliche Vorstellung, da das Eine, wenn überhaupt auf etwas, so nur auf sich selber gerichtet sein kann) ihm so etwas wie eine Schau seiner selbst ermög­ licht, setzt notwendigerweise die Vorstellung einer prin­ zipiellen ontologisch-noologischen Gleichheit voraus und   Eusebius, eccl. theol. III 3 (GCS Eus. 4, 156,2–8).   Ebd. (GCS Eus. 4, 155,33–156,1): … ἔχαιρέν τε ὁ πατὴρ πρὶν ἢ καὶ τὸν κόσμον γενέσθαι, εἰς αὐτὸν ἀφορῶν τὸν ἑαυτοῦ μονογενῆ υἱὸν καὶ ὥσπερ ἐν εἰκόνι ἑαυτὸν ἐνοπτριζόμενος ἐν αὐτῷ· διό φησιν ἡ σοφία „ἐγὼ ἤμην ᾗ προσέχαιρεν καθ’ ἡμέραν“. 47   Vgl. Holger Strutwolf, Die Trinitätstheologie und Christo­ logie des Euseb von Caesarea. Eine dogmengeschichtliche Unter­ suchung seiner Platonismusrezeption und Wirkungsgeschichte (FKDG 72), Göttingen 1999, 190–192. 45

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unterläuft prinzipiell das hierarchische Ableitungsschema Plotins, nach dem jede Hypostase nur eine seinsmäßig niedrigere Hypostase erzeugen kann. Eusebius drückt dies bei aller Betonung der Unterschiedenheit der drei göttlichen Hypostasen dadurch aus, dass die vollkom­ mene Abbildlichkeit des Sohnes für die Selbigkeit der Gottheit von Vater und Sohn spricht,48 eine Vorstellung, der viele nizänische wie nicht-nizänische Theologen ge­ folgt sind, indem sie von der unveränderten Abbildlich­ keit des Sohnes sprachen.49 Gregor von Nyssa kann dann neu-nizänisch mit dem gegenseitigen Erkennen von Vater und Sohn für die Naturgleichheit beider Hypostasen und damit für das Homoousios argumentieren.50 Die eine göttliche Natur ist „unverändert und ungetrennt“ in allen drei Hypostasen wirksam und wirklich.51 Auch Eusebius’ Abgrenzung von Plotins Ableitung des Zweiten aus dem Einen hat Schule gemacht: Gregor von Nazianz polemisiert im Gefolge von Eusebius von 48  Eusebius, dem. ev. V 4,14 (GCS Eus. 6, 226,13–16); in Is. comm. II 24 (GCS Eus. 9, 279,15–18); eccl. theol. II 6,1 (GCS Eus. 4, 164,2.4); vgl. Strutwolf, ebd. 400 f. 49   Der Sohn gilt als ἀπαράλλακτος εἰκὼν τοῦ πατρος u. a. bei Aca­ cius von Caesarea, zitiert bei Epiphanius, pan. haer. 72,10,3 (GCS Epiph. 32, 264,31 f.); Gregor von Nazianz, orat. 38 (PG 36, 325,22 f.); 45 (PG 36, 633,40); Athanasius, c. gent. 41,3; 46,60; Basilius von Caesarea, De fide (PG 31, 465,45). 50   Gregor von Nyssa, ref. Eun. 28 (GNO II, 323,4): καὶ ὅτι Οὐδεὶς οἶδε τὸν υἱὸν εἰ μὴ ὁ πατήρ, Καὶ τὸν πατέρα οὐδεὶς ἐπιγινώσκει εἰ μὴ ὁ υἱός· δι’ ὧν ἁπάντων οὔτε δόξης οὔτε οὐσίας οὔτε ἄλλου τινὸς παραλλαγὴ ὑπονοεῖται ἐπὶ πατρὸς καὶ υἱοῦ τοῖς ταύτας τὰς φωνὰς ὡς ἀληθινὰς δεξαμένοις. ὄντως ὄντα, φησί, φύσει τε καὶ δόξῃ θεὸν ἕνα. 51   Tres dii (GNO III/1, 57,10–13): ἡ δὲ θεία φύσις ἀπαράλλακτός τε καὶ ἀδιαίρετος διὰ πάσης ἐννοίας καταλαμβάνεται, διὰ τοῦτο κυρίως μία θεότης καὶ εἷς θεὸς καὶ τὰ ἄλλα πάντα τῶν θεοπρεπῶν ὀνομάτων μοναδικῶς ἐξαγγέλλεται.

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­ aesarea gegen die zu unpersönlich gedachte Vorstellung C Plotins von der ewigen Zeugung, wenn er schreibt: „… wir werden uns nicht getrauen vom ‚Überfließen der Gut­ heit‘ zu reden, wie es einer der Philosophen der Griechen zu sa­ gen wagte, als ob sie wie ein Krug überliefe, wie er ganz deutlich in seinem Werk sagt, in dem er über die erste und die zweite Ursache philosophiert. Wir wollen niemals eine unwillentliche Zeugung einführen, wie irgendein natürliches und unzügelbares Überfließen, was überhaupt dem Gottesbegriff nicht angemes­ sen ist.“52

Dagegen denkt auch Gregor von Nazianz die Trinität als einen ewigen dynamischen Prozess der geistigen Selbst­ entfaltung und Selbstbewegung des Einen zur Dreiheit, nach der die Einheit von Anfang an zur Zweiheit bewegt habe und schließlich in der Dreiheit zur Ruhe oder zum Selbststand kam, eine Selbstbewegung, die er mit den bib­ lischen Bezeichnungen Vater, Sohn und Heiliger Geist gleichsetzt.53 Es wird also die eine und unendliche und dadurch für alle endlichen Wesen unerkennbare göttliche Natur54 als 52   Gregor von Nazianz, De Filio 29,2,16–22: οὐ γὰρ δὴ ὑπέρχυσιν ἀγαθότητος εἰπεῖν θαρρήσομεν, ὃ τῶν παρ’ Ἕλλησι φιλοσοφησάν τῶν εἰπεῖν τις ἐτόλμησεν, οἷον κρατήρ τις ὑπερερρύῃ, σαφῶς οὑτωσὶ λέγων, ἐν οἷς περὶ πρώτου αἰτίου καὶ δευτέρου φιλοσοφεῖ· μή ποτε ἀκούσιον τὴν γέννησιν εἰσαγάγωμεν, καὶ οἷον περίττωμά τι φυσικὸν καὶ δυσκάθεκτον, ἥκιστα ταῖς περὶ θεότητος ὑπονοίαις πρέπον. 53   Ebd. 29,2,6–13: μοναρχία δέ, οὐχ ἣν ἓν περιγράφει πρόσωπον· ἔστι γὰρ καὶ τὸ ἓν στασιάζον πρὸς ἑαυτὸ πολλὰ καθίστασθαι· ἀλλ’ ἣν φύσεως ὁμοτιμία συνίστησι, καὶ γνώμης σύμπνοια, καὶ ταὐτότης κινήσεως, καὶ πρὸς τὸ ἓν τῶν ἐξ αὐτοῦσύννευσις, ὅπερ ἀμήχανον ἐπὶ τῆς γεννητῆς φύσεως, ὥστε κἂν ἀριθμῷ διαφέρῃ, τῇ γε οὐσίᾳ μὴ τέμνεσθαι. διὰ τοῦτο μονὰς ἀπ’ ἀρχῆς εἰς δυάδα κινηθεῖσα, μέχρι τριάδος ἔστη. καὶ τοῦτό ἐστιν ἡμῖν ὁ πατήρ, καὶ ὁ υἱός, καὶ τὸ ἅγιον πνεῦμα. 54   Gregor von Nyssa, Eun. I 1 (GNO I, 191,1–6): Die„unendliche

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sich in einem überzeitlichen Prozess der Selbstreflexion konstituierend vorgestellt, eine Vorstellung, die die abso­ lute Transzendenz des einen Gottes wahrt, ohne aller­ dings die personale und kommunikative Struktur des christlichen Gottesbildes zu verleugnen. Die drei Hy­ postasen werden also aus dem geistigen Selbstbezug des höchsten Wesens abgeleitet, ein Gedanke, der seine Voll­ endung im Denken des Marius Victorinus gefunden hat.55 Bekanntlich hat dieser eine überaus dynamistische Lehre vom göttlichen Sein der heiligen Trinität entwor­ fen.56 Bei ihm wird das plotinische „absolute Eine … mit göttliche Natur“ ist für alle endlichen Wesen unbegreiflich. Vgl. auch Gregor von Nazianz, De pace 3 (PG 38, 1164,15–19): οὐ γὰρ ἐφικνεῖταί τι τῶν κτιστῶν, καὶ δούλων, καὶ μετεχόντων, καὶ περιγραπτῶν τῆς ἀκτίστου, καὶ δεσποτικῆς, καὶ μεταληπτικῆς, καὶ ἀπείρου φύσεως. Die Vorstellung von der „Unendlichkeit Gottes“ ist also nicht eine Lehre, die allein Gregor von Nyssa vertreten hat, wie Ekkehart Mühlenberg, Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik (FKDG 16), Göttingen 1969, passim meinte. Vgl. dazu Wolf-Dieter Hauschild, Gregor von Nyssa, in: Riedweg/Horn/Wyrwa, Ge­ schichte der Philosophie (wie Anm.  5) 1544–1562, hier 1551, mit Verweis auf Antony Meredith, Gregory of Nyssa, in: Lloyd P. Gerson (Hg.), Cambridge History of Philosophy in Late Antiqui­ ty, Bd.  I, Cambridge 2010, 471–481, hier 474. 476 f. 55   Zum philosophischen Hintergrund der Trinitätslehre des Ma­ rius Victorinus, die ich in diesem Zusammenhang nur anreißen, nicht einmal angemessen skizzieren kann, vgl. Paul Henry, The Adversus Arium of Marius Victorinus, the First Systematic Exposition of the Doctrine of the Trinity, in: JThS 1 (1950) 42–55, und natürlich die meisterhafte Darstellung von Matthias Baltes, Marius Victori­ nus. Zur Philosophie in seinen Schriften, Leipzig 2002. 56   Henry, ebd. 50, hat als erster darauf hingewiesen, dass für Marius Victorinus Gott nicht so sehr durch Seinskategorien, son­ dern dynamische Begriffe beschrieben wird. So zitiert er: Qui enim genuit vitam, vivens est; vivit enim vita a vivente patre; non enim ante vita est et sic Deus vivens sed Deus vivens prior, sic vita (adv. Ar.

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dem Sein gleichgesetzt, das sich potenziert und reflektiert, also lebt und denkt. Darin erblickt Victorinus die drei Hypostasen des christlichen Gottes Vater, Sohn und Geist.“57 So kann Victorinus die Transzendenz des Vaters gegenüber Sein und Denken einerseits mit den Mitteln von Plotins negativer Henologie herausstellen,58 zugleich aber betonen, dass dies eben nicht bedeutet, dass das Eine sich nicht selber kennt und denkt, da er nur für alle ande­ ren Wesen unermesslich sei, nicht aber für sich selbst.59 Aber er erkennt nicht nur sich selber, sondern auch den Sohn, weil beide dieselbe Substanz teilen. 60 Daher sind für den Viktoriner Vater und Sohn „ein einziges Ganzes, ein im Innen wirkender und tätiger Gott, der mit sich selbst Umgang hat, sich selbst genießt und in sich Quelle und Fülle von allem ist. Doch da das Denken sich, wie wir gelehrt haben, durch die Kraft seiner eigenen Potenz sich selbst zuwandte und folglich sich selbst gedacht hat und so in gewisser Weise zweifach geworden ist, da es gleichsam innen und außen zugleich ist, ist es der durch die Existenz des Vaters gezeugte Sohn.“61 I 6), um daran anzuschließen: „A clear departure from Platonism: it is not the form that is first, but the Force, not the thought, but the thing, here the very Being of God, fully alive“. 57  Franz Xaver Risch, Porphyrios als Wegbereiter christlicher Lehre, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 2008 (Online-Ressource PDF), 9, allerdings mit sehr kritischem Ton. Henry, ebd. 44, spricht von einen gegenüber Platon und Plotin „per­ sonal touch“ im trinitarischen Gottesbild des Marius Victorinus. 58   Marius Victorinus, Ad Candidum 13 (18,16): Magisque supra esse et supra vivere et supra intellegere deus est. Adv. Arium IV 26,24–26: Er ist auch supra omnem cognoscentiam. Vgl. Baltes, Ma­ rius Victorinus (wie Anm.  55) 29 f. 59   Marius Victorinus, ebd. IV 19,27–29. 60   Ebd. I 15,35–46. 61   Ebd. IV 30,43–31,5.

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Darüber hinaus kann Marius Victorinus nicht nur fest­ halten, dass der Vater als der Eine die Existenz des Sohnes wollte, sondern in ihm und durch ihn zugleich die Vielheit der Geschöpfe. Dieser Kerngedanke des christlichen Platonismus eines Marius Victorinus ist nun anscheinend mit dem neuplato­ nischen Denken eines Plotin unvereinbar. Aber es gibt im Denken Plotins selbst eine, wenn auch schwache Brücke zu solchen scheinbar unplotinischen Spekulationen. ­Plotin, der sonst immer betont, dass das Eine keinerlei Re­ flexivität kenne, hat nämlich an einer Stelle seines Ge­ samtwerks so gesprochen, dass man den Eindruck gewin­ nen könnte, dass das Eine sich auf sich selbst zurückbezieht, um so das Andere seiner selbst hervorzubringen. 62 In einer nach Halfwassen „überkühne(n) Metapher“ kann Plotin schreiben, dass das Eine nicht auf die anderen Wesen nach ihm schaut, „sondern gleichsam in sein eige­ nes Inneres dringt“ und sich dabei „gewissermaßen selbst liebt“ und durch dieses „Auf-sich-selbst-Hinschauen“ sein eigenes Sein hervorbringt. Diese Selbstwahrnehmung wird als „immerwährendes Erwachen“ und als „Denken über dem Denken“ bezeichnet, wobei zugleich betont wird, dass diese Wirksamkeit des Einen „über Geist, Ver­ nunft und Leben hinausliegt“. Diesen Selbstvollzug des Einen, der ja allein durch es selbst bedingt ist, kann Plotin auch als Ausdruck des „freien Willens“ des Einen be­ zeichnen. 63 Diese Aussagen stehen zwar, wie Halfwassen zurecht betont hat, „unter dem von Plotin wiederholt ein­ geschärften Vorbehalt der Uneigentlichkeit“ und „haben 62   Auch nach Plotin, enn. V 1,6,17–19 und V 1,7,5 f. scheint es so zu sein. Diese Deutung wird aber von Halfwassen, Aufstieg (wie Anm.  11) 132 f. Anm.  73, zurückgewiesen. 63   Plotin, enn. VI 8,15,1–16,21.

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rein metaphorischen Charakter“. 64 Aber es fragt sich den­ noch, warum sich Plotin zu solch metaphorischen Aussa­ gen über das Eine genötigt sah, wenn er den Hervorgang des Zweiten aus dem Einen plausibel machen wollte. Es ist dies zumindest ein deutlicher Indikator für eine Aporie in seinem Denken. Wenn nun aber selbst ein so konsequenter Verfechter der Henologie wie Plotin sich letztlich doch genötigt sieht, dem Einen – wenn auch uneigentlich – so etwas wie einen reflexiven Selbstbezug zuzuschreiben, um das Abbildver­ hältnis zwischen dem Einen und dem Geist denken zu können, so mag platonisch der christliche Gedanke von einem reziproken persönlichen Verhältnis zwischen Vater und Sohn gar nicht mehr so unphilosophisch erscheinen. Wenn dem Vater eine unmittelbare Selbstwahrnehmung zugeschrieben wird, er selbst aber wesenhaft und notwen­ dig der Erzeuger des Geistes ist, wie kann dann aus dieser undifferenzierten Sich-selbst-Gegebenheit des Einen die­ ser sein Charakter als Erzeuger ausgeschlossen werden? Muss der Vater sich selbst denn nicht als der wahrnehmen, zu dessen Sein es gehört, nicht nur einen Sohn, sondern durch ihn auch alle anderen Seienden hervorzubringen? Aber anders als der Vater Jesu Christi ist das Eine des Plo­ tin in strikter Weise, wenn überhaupt, dann nur auf sich selbst bezogen: Es liebt höchstens sich selbst. Die Vorstel­ lung, dass das Eine das Zweite liebt und erstrebt, ist im Rahmen des plotinischen Denkens nicht vorgesehen, ja letztlich a priori unmöglich. Die christliche Vorstellung von der göttlichen Trinität setzt ein freies Aus-sich-Herausgehen des Ersten voraus, eine ewige Bezogenheit des Ersten auf das von ihm Ge­   Halfwassen, Aufstieg (wie Anm.  11) 160 f. Anm.  26.

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zeugte und Hervorgebrachte, die sein eigenes Wesen affi­ ziert, eine Rückwirkung des Anderen auf das Eine, des Sohnes auf den Vater, durch die sich der Vater erst als er selbst konstituiert – ein für Plotin und die orthodoxen Neuplatoniker sicher unerschwinglicher Gedanke! Stren­ ge Platoniker konnten diesen Gedanken vielleicht nicht denken, christliche Theologen mussten es! Es gibt m. E. die Möglichkeit eines christlichen Platonismus, aber er ist dann eben ein christlicher Platonismus. Und aus dieser Synthese geht weder das Christentum noch der Platonis­ mus unverwandelt hervor.

Providenz Getaufter Platonismus am Beispiel von Augustins De Genesi ad litteram Christian Pietsch Das Rahmenthema dieses Kolloquiums und Bandes lautet „Platonismus und Christentum. Ihre Beziehungen und deren Grenzen“. In meinem Vortrag möchte ich aus dem großen Komplex solcher Wechselwirkungen einen Teilas­ pekt herausgreifen, nämlich die Frage, was einen Christen veranlasste, Platoniker zu werden, ja, was das Christen­ tum insgesamt dazu veranlasste, über das christliche Schriftencorpus hinaus nicht nur überhaupt auf paganes Gedankengut, sondern speziell auf platonisches zu rekur­ rieren. Der Beitrag wird zu zeigen versuchen, dass der Grund für diese ‚Taufe‘ platonischer Philosophie nicht einfach nur eine Öffnung gegenüber dem Zeitgeist war. Vielmehr macht das biblische Schriftencorpus selbst Aus­ sagen, die sich mit Hilfe platonischer Philosopheme bes­ ser erklären ließen, als es die Nutzung anderer Schulen, etwa der Stoa, ermöglicht hätte. Ein Christ konnte, so meine These, zumindest bis zu einem bestimmten Punkt, den Platonismus als kongenial ansehen und ihn als pas­ senden hermeneutischen Schlüssel für die Klärung bib­ lischer Aussagen nutzen. Sehen wir uns dies am Beispiel der Lehre von der Providenz Gottes für die Welt etwas genauer an.

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Dazu soll im Folgenden zunächst das pagan-plato­ nische Verständnis von Providenz vorgestellt werden (1). Dem wird anschließend mit Augustins Literalkommentar zum biblischen Schöpfungsbericht De Genesi ad litteram eine zeitgenössische christliche Providenzkonzeption ge­ genübergestellt (2). Schließlich wird der Mehrwert einer platonisierenden Bibelexegese bei gleichzeitiger Wahrung christlicher Specifica aufzuzeigen sein (3).

1. Die platonische Konzeption von providentia und fatum Werfen wir zunächst also einen Blick auf die pagan-plato­ nische Providenzkonzeption.1 Zu einem zentralen Thema der philosophischen Diskussion wurde die Providenz Gottes (und das mit ihr eng verbundene Schicksal) im pla­ tonischen Denken erst seit dem Beginn der römischen Kaiserzeit. Das hängt zusammen mit der in der hellenis­ tischen Stoa aufgekommenen deterministischen Lehre von einem weltimmanenten göttlichen Logos. Dennoch findet sich im Grundsatz alles, was der kaiserzeitliche Pla­ tonismus der stoischen Konzeption entgegensetzte, be­ reits bei Platon. Fasst man die Aussagen v. a. des Timaios, aber auch anderer Dialoge zusammen, entfaltet sich aus einem transzendenten, noch jenseits aller Providenz ste­ henden Prinzip, dem Guten oder Einen, ein Bereich intel­ ligibler Fülle, der die kausale Grundlage für die Gestal­ tung des sichtbaren Kosmos bildet und dessen durch einen 1  Christian Pietsch, Die Rolle der Vorsehung im Platonismus, in: Christian Pietsch (Hg.), Der Platonismus in der Antike, Bd.  V II/2, Stuttgart-Bad Cannstatt (voraussichtlich) 2023.

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Demiurgen vermittelte Wirkung Platon als πρόνοια, als Fürsorge Gottes, beschreibt.2 Innerhalb dieser pronoe­ tisch gestalteten, vollkommenen und ewigen Welt schließ­ lich weist die sublunare Sphäre, die durch die Vergäng­ lichkeit der in ihr lebenden Individuen gekennzeichnet ist, aufgrund der besonderen Bedingungen dieses Bereichs ein spezielles Regulatorium auf, gewissermaßen eine ge­ brochene Form von Providenz, das Schicksal (εἱμαρμένη). Es ergibt sich so eine dreifache Stufung von Providenz bzw. providenzieller Instanzen: 1. das vorprovidenzielle, seinstranszendente Prinzip aller Wirklichkeit, 2. die im Intelligiblen gründende Providenz für den sichtbaren Kosmos insgesamt, 3. die in der Weltseele gründende Ver­ waltung der sublunaren Welt durch das Schicksal. Diese dreistufige Unterscheidung Platons blieb auch im nachfolgenden Platonismus erhalten. Da es sich hierbei um Texte handelt, die das pagane Umfeld des antiken Christentums seit dem 2.  Jahrhundert n.Chr. bildeten,3 sei dies nun etwas genauer betrachtet, und zwar am Beispiel des wahrscheinlich um 400 n.Chr. entstandenen Kommen­ tars des Chalcidius zu Platons Timaios (176 f. Waszink).4 Dort heißt es etwa: 2  Platon, Tim. 30 b 8 f.: τὸν κόσμον διὰ τὴν τοῦ θεοῦ γενέσθαι πρόνοιαν. 3  Alkinoos, didask. 12. 16. 26 Whittaker/Louis; Apuleius, Plat. I 12 Moreschini; Ps.-Plutarch, fat. Pohlenz/Sieveking; Chalcidius, comm. 142–154. 176 f. 188 Waszink; Plotin, enn. III 1(3); III 2 f.(47 f.) Henry/Schwyzer; Proklos, prov. 3,5–14 Isaac; Boethius, cons. philos. IV 6 pr. Bieler. 4   Vgl. auch Chalcidius, ebd. 142–154. 188 f. Chalcidius wird hier nicht nur wegen der Klarheit seiner Darlegung ausgewählt, sondern weil er die dreistuftige Abfolge von Providenz und Schicksal bietet, wie sie sich seit Plotin durchsetzte. Die komplizierteren, aber letzt­ lich nur leicht abweichenden älteren Modelle einer parallelen Drei­

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Zunächst werde, sagt Platon, alles, was ist, und selbst die Welt bewahrt und gelenkt, zumindest im Sinne eines Prinzips, vom höchsten Gott, denn das höchste Gut ist jenseits jeder Substanz und Natur, höher als Einschätzung und Einsicht. Nach ihm strebt alles, während er selbst die Fülle der Vollkommenheit besitzt und keiner Gemein­ schaft bedarf.5 Die Spitze der Wirklichkeit bildet also der höchste Gott. Er ist der Grund und zugleich der Bezugspunkt al­ les Wirklichen, das nach ihm als dem höchsten möglichen Gut strebt. Er leistet aber nicht die konkrete Gestaltung der ihm nachgeordneten Wirklichkeit. Ausdrücke, die ihm in irgendeiner Form die Planung der Welt zuweisen könnten (aestimatio et intellectus), werden ihm daher aus­ drücklich abgesprochen. Er ruht ganz in sich selbst jen­ seits aller spezifischen Seinsweisen (ultra omnem substantiam et naturam). Die Providenz als Ursache geordneter Vielheit hat hier noch keinen Platz. Sie ist Sache einer nie­ deren Ebene von Göttlichkeit, wie der nächste Textab­ schnitt zeigt: Sodann (wird Platon zufolge die Welt gelenkt) von der Providenz, die nach jenem höchsten Gott von zweitran­ giger Erhabenheit ist. Die Griechen bezeichnen sie als νοῦς (mens, Intellekt). Sie ist eine intelligible Wesenheit von nachahmender Gutheit wegen ihrer unermüdlichen stufung jeweils von Providenz und fatum (Apuleius, ebd. 12,205 f.; Ps.-Plutarch, ebd. 9 f.) wurden in der Antike dagegen nicht weiterge­ führt und bleiben auch hier unberücksichtigt. 5  Chalcidius, ebd. 176: Principio cuncta quae sunt et ipsum mundum contineri regique principaliter quidem a summo deo, qui est summum bonum ultra omnem substantiam omnemque naturam, aestimatione intellectuque melior, quem cuncta expetunt, cum ipse sit plenae perfectionis et nullius societatis indiguus.

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Wendung auf den höchsten Gott, und sie schöpft aus ihm Gutheit, wodurch sie selbst ebenso geordnet wird wie das Übrige, das (seinerseits wiederum) durch ihre Urheber­ schaft in einen Zustand der Würde versetzt wird. Diesen Willen Gottes also, gleichsam als weise Bewahrung aller Dinge, nennen die Menschen Providenz …, denn Eigen­ tümlichkeit göttlichen Denkens ist geistige Einsicht, wo­ rin der eigentümliche Akt des (göttlichen) Denkens be­ steht. 6 Die Providenz wird hier einer zweiten Wirklichkeits­ ebene, der des Intellekts, zugeordnet, ja, sie ist mit ihm als seine Aktivitätsweise identisch. Während die höchste Gottheit ausdrücklich jenseits des Intellekts als dessen Prinzip angesiedelt war, bildet der Intellekt nun die ei­ gentliche, primäre Ebene des Denkens. Dabei ist der νοῦς noch kein bewegtes, diskursives Denken – dies kommt erst der seelischen Ebene zu –, sondern ein alles zugleich in einem zeitlosen Akt intuitiv erfassendes Denken der Seinsprinzipien als einer ersten Form von Vielheit. Seine Vollendung besitzt er, anders als der höchste Gott, nicht aus sich selbst, sondern durch seine Wendung auf den höchsten Gott. Indem er sich an dessen Gutheit orientiert, wird er erst zu dem, was er seinem Wesen nach ist, näm­ lich die geordnete Fülle alles Intelligiblen. Auf diese Weise entsteht ein geistiger Kosmos, der seinerseits – und hierin 6  Ebd.: Deinde a providentia, quae est post illum summum secundae eminentiae, quem noyn Graeci vocant; est autem intellegibilis essentia aemulae bonitatis propter indefessam ad summum deum conversionem, estque ei ex illo bonitatis haustus, quo tam ipsa ornatur quam cetera quae ipso auctore honestantur. Hanc igitur dei voluntatem, tamquam sapientem tutelam rerum omnium, providentiam homines vocant …, quia proprium divinae mentis intellegere, qui est proprius mentis actus.

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liegt seine Providenz – Prinzip der Ordnung in der sicht­ baren Welt ist. Auf dieser dritten Wirklichkeitsebene wie­ derum, der des sichtbaren Kosmos, hat schließlich das Schicksal seinen Platz, wie der letzte Textabschnitt zeigt: Auf diese Providenz (des Intellekts) folgt (in der kör­ perlichen Welt) das Schicksal (fatum), ein göttliches Ge­ setz (divina lex), das erlassen wurde durch weise Lenkung der (göttlichen) Erkenntnis zur Lenkung aller Dinge. Ihm leistet das Folge, was man als zweites (göttliches) Denken (secunda mens) bezeichnet, d. h. die dreiteilige Weltseele … Gemäß diesem Gesetz, d. h. gemäß dem Schicksal, wird alles gelenkt, ein jegliches nach seiner Natur.7 Diese Ebene göttlicher Lenkung ist die der körper­ lichen Welt. Der göttliche Intellekt, die prima mens, die dem Demiurgen in Platons Timaios entspricht, legt in die nunmehr erschaffene Welt eine ‚Schicksal‘ genannte Ge­ setzmäßigkeit hinein, die zuständig ist für alle raumzeit­ lichen Abläufe. Die Instanz, die dieses göttliche Gesetz ausführt, ist die Weltseele als das Bewegungsprinzip der sichtbaren Welt. Jede innerweltliche Aktivität unterliegt also dem Schicksal – biologische Abläufe ebenso wie menschliches Handeln. Der Begriff des Gesetzes (lex) ist hier nicht im stoischen Sinne einer strikt determinie­ renden Naturgesetzlichkeit gemeint, sondern schließt Kontingenz mit ein, d. h. im Falle des Menschen die Mög­ lichkeit zu freiem, wenngleich nicht folgenlosem Han­ deln. 7   Ebd. 177: Sequitur hanc providentiam fatum, lex divina promulgata intellegentiae sapienti modulamine ad rerum omnium ­gubernationem. Huic obsequitur ea quae secunda mens dicitur, id est anima mundi tripertita … Iuxta hanc legem, id est fatum, omnia reguntur, secundum propriam quaeque naturam.

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Dies also ist in den Grundzügen die platonische Lehre von der Providenz. Sie gründet in einem obersten Gott, der aber nur als Prinzip von Providenz bezeichnet werden kann. Die Ebene des Intellekts ist dann die eigentliche und primäre Providenz als der Inbegriff der Fülle intelligibler Prinzipien der körperlichen Welt. Auf dritter Ebene steht schließlich die sichtbare Welt, deren Regelung zwar der Providenz entspringt, sich aber unter den spezifischen Be­ dingungen körperlichen Seins vollzieht. Deshalb wird das fatum von Chalcidius an anderer Stelle auch als eine sich in der Zeit entfaltende Abfolge kausal miteinander ver­ knüpfter Ereignisse beschrieben (series quaedam consequentiarum atque ordinum; 178), eine Definition, die sich so oder ähnlich auch bei anderen Platonikern findet. 8 Innerhalb dieser dem kaiserzeitlichen Platonismus ge­ meinsamen, aber letztlich bereits bei Platon vorliegenden Lehre gab es allenfalls Akzentverschiebungen: Wenn etwa die Providenz ihren eigentlichen primären Sitz nicht erst, wie bei Chalcidius zu sehen war,9 im Intellekt, also auf der zweiten Wirklichkeitsebene hat, sondern bereits im überseienden Prinzip, wie bei Proklos,10 so dass die Aktivität des Intellektes dann nur noch als Sekundärform von Providenz gilt. Akzentverschiebungen gab es aber 8   Proklos, prov. 3,12,5–7: movens omnia secundum tempus et con­ nectens omnium motus et temporibus et locis distantium; ­Boethius, cons. philos. IV 6 pr.: providentia namque cuncta pariter quamvis diversa, quamvis infinita complectitur, fatum vero singula digerit in motum locis, formis ac temporibus distributa, ut haec temporalis ordinis explicatio in divinae mentis adunata prospectum providentia sit, eadem vero adunatio digesta atque explicata temporibus fatum vocetur. 9  Gleiches gilt auch für Plotin, enn. VI 8(39),17,1–24. Siehe Pietsch, Platonismus in der Antike (wie Anm.  1). 10   Proklos, prov. 3,13,1–14. Siehe Pietsch, ebd.

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auch bei der genauen Abgrenzung des Wirkbereichs des Schicksals, d. h. ob ihr überhaupt alle sinnvollen Bewe­ gungsabläufe im sichtbaren Kosmos unterstehen, also auch die Gestirnbewegungen wie bei Chalcidius, oder nur die irdischen Abläufe wie bei Platon. Doch trotz solcher Akzentverschiebungen blieb die Grundstruktur der Pro­ videnzlehre im antiken Platonismus konstant.

2. Providenz bei Augustinus Wenden wir uns nun nach der paganen der christlichen Seite zu und sehen wir uns am Beispiel von Augustins Exegese des biblischen Schöpfungsberichtes an, welche Rolle die platonische Providenzlehre dabei spielte. Das Thema ‚Erschaffung der Welt‘ hat Augustinus bekannt­ lich sein ganzes Leben hindurch beschäftigt.11 Da es um die Entstehung der physischen Welt geht, eignet sich der zwischen 410 und 415 n.Chr. entstandene Literalkom­ mentar De Genesi ad litteram besonders gut, da Augusti­ nus dort eine am naturgeschichtlichen Wortsinn orien­ tierte Exegese betreibt.12 Dass es eine göttliche Providenz gibt und dass darunter eine sich bis in die letzten Details erstreckende Fürsorge zu verstehen ist, setzt Augustinus dort als evident voraus.13 11   Einführend zu Augustins Genesis-Kommentierung und Schöp­ fungslehre Dorothea Weber, Die Genesisauslegungen, in: Volker Henning Drecoll (Hg.), Augustin-Handbuch, Tübingen 2007, 275–279; Larissa Carina Seelbach, Schöpfungslehre, in: ebd. 470– 479. 12   Augustinus, retr. II 24,1: secundum rerum gestarum proprietatem. Siehe Cornelius Mayer, Art. Creatio, creator, creatura, in: AL 2 (2002) 56–116, hier 57 f. 13   Gen. ad litt. V 22,43 Zycha: quid ergo absurdius, quid insulsius

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Das fünfte Buch behandelt lediglich Gen 2,4–6. Dass Augustinus so viel Aufwand für so wenig Text betreibt, liegt daran, dass gerade an dieser Stelle die beiden bibli­ schen Schöpfungsberichte, die sog. Priesterschrift und der jahwistische Schöpfungsbericht, aneinanderstoßen und es überaus wichtig, ja, entscheidend für das Verständnis des gesamten Schöpfungswerkes ist, das Verhältnis beider Be­ richte zueinander zu klären. Während der erste Bericht (Gen 1,1–2,3) bekanntlich die in sieben Tage gegliederte Schöpfung breit und möglichst umfassend in der Fülle ­ihrer Einzelheiten darstellt, angefangen von der Erschaf­ fung der kosmischen Strukturen über die pflanzlichen und tierischen Lebensformen klimaktisch bis hin zur Erschaffung des Menschen, steht im zweiten Bericht ­ (Gen  2,6–25) die Erschaffung des Menschen im Vorder­ grund. Nach heute allgemein akzeptierter Ansicht stam­ men beide Berichte von unterschiedlichen Verfassern und wurden erst später in der heute vorliegenden Weise zu­ sammengefasst. Augustinus war diese Erklärung unbe­ kannt. Man könnte allerdings – etwas überspitzend, aber in der Sache zutreffend – sagen: Er brauchte sie auch nicht. Denn ­Augustinus zufolge sind beide Berichte unbedingt erforderlich, da erst beide zusammen und in der vorlie­ genden Reihenfolge das Ganze der Schöpfung berichten. Schauen wir uns das am Text genauer an. Wie sich Au­ gustinus den Ablauf der Schöpfung insgesamt vorstellt, sentiri potest quam eam totam esse uacuam nutu et regimine providentiae, cuius extrema et exigua videas tanta dispositione formari; ebd. V 21,42: non solum totam istam mundi partem rebus mortalibus et corruptibilibus deputatam, uerum etiam uilissimas eius abiectissimasque particulas diuina prouidentia regi. Zur Providenzlehre Au­ gustins im Allgemeinen siehe Jan den Boeft, Art. Prouidentia, in: AL 4 (2019) 961–969, v. a. 963–968.

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erklärt er folgendermaßen: Die unveränderlichen ratio­ nalen Formen (rationes incommutabiles) im Wort Gottes sind anders beschaffen als jene seiner Werke, von denen er am siebten Tage ruhte, und anders auch als das, was er auf der Grundlage jener Werke bis jetzt wirkt.14 Augustinus unterscheidet also drei Stufen, von denen sogleich deut­ lich wird, dass zwischen ihnen keine zeitliche Abfolge be­ steht, da die rationes incommutabiles, von denen er zuerst spricht – an anderen Stellen auch rationes aeternae ge­ nannt – offensichtlich intelligible Sachverhalte bzw. Ideen im Geiste Gottes sind, die jenseits von Zeit und Raum ­stehen.15 Die Stufung bezeichnet vielmehr ontologisch-­ kausale bzw. kognitive Relationen. Augustinus geht im Folgenden diese drei Stufen nacheinander durch. Auf der ersten, obersten Wirklichkeitsebene ist noch nicht im eigentlichen Sinne von Schöpfung die Rede, son­ dern nur insofern, als sie noch nicht als sie selbst in der ihr eigenen Seinsweise freigesetzt, sondern in Gestalt unwan­ delbarer, ewiger Formen in Gottes Wort als ihrer Ursache präformiert ist. Denn es heißt ja an jedem Schöpfungstag: et deus dixit.16 Gott spricht ursächlich in seinem Wort die Fülle der Wirklichkeit aus und gliedert sie dadurch in ihre einzelnen Aspekte. Dieses göttliche Wort ist also eine erste Explikationsweise dessen, worin Gottes Sein be­ 14   Gen. ad litt. V 12,28: Cum ergo aliter se habeant omnium creaturarum rationes incommutabiles in verbo dei, aliter eius illa opera, a quibus in die septimo requievit, aliter ista, quae ex illis usque nunc operatur. Für die folgende Deutung grundlegend Friedemann Drews, Hermeneutik und kritische Bibelexegese in Augustins De Genesi ad litteram (Palingenesia 131), Stuttgart 2022, 154–159. 15   Zu Augustins Verständnis von ratio als metaphysischer Kausa­ lität siehe Giovanni Catapano, Art. Ratio, in: AL 4 (2019) 1069– 1084, hier 1078–1082. 16   Dies wird in Gen. ad litt. I 2,6–6,12 behandelt.

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steht, allerdings noch so, dass die Fülle der intelligiblen Formen in der Einheit seines Wesens verbleibt. In seinem Wort erkennt Gott alles Wirkliche zeit- und verände­ rungslos zugleich (simul omnia) und hat er die Geschöpfe in einem primären Sinn (primitus) so in sich, wie er selbst ist (Gen. ad litt. V 16,34). Das Wort ist somit Prinzip aller Kreatur (ebd. V 15,33 f.).17 Von der zweiten Stufe sagt Augustinus, es seien „jene seiner Werke, von denen er am siebten Tage ruhte“. Die Differenzierung der Schöpfung in Schöpfungstage stellt keine eigene ontologische Ebene der Schöpfung dar, son­ dern gibt die Sicht der Engel wieder, die Gott als erste Ge­ schöpfe und rein intuitive Geistwesen – im Schöpfungs­ bericht ist von „Licht“ die Rede (Gen 1,3) – erschuf.18 Die Erkenntnis der in Gottes Wort enthaltenen rationes aeternae durch die Engel vollzieht sich dabei in einem Drei­ schritt: Sie betrachten die einzelnen Schöpfungstage zu­ nächst, wie sie in Gott sind,19 betrachten sie dann, wie sie in sich selbst sind und beziehen sie schließlich zum Lobe Gottes auf ihren Schöpfer zurück. Diese zeitlose kogni­ tive Kreisbewegung ist dem neuplatonischen Ternar μονή, πρόοδος, ἐπιστροφή nachgebildet. In ihrem Vollzug wird das im Wort Gottes Enthaltene gleichsam gegliedert, zu­ gleich aber in dieser Vereinzelung wieder an seine Ursache rückgebunden. Diese Schau der Engel braucht hier im Einzelnen nicht weiterverfolgt zu werden, doch wenigstens ein signifi­ 17   Vgl. Paul Agaësse/Aimé Solignac (Hg.), La Genèse au sense littéral, 2 Bde. (BAug 48. 49), Paris 1972, 672 f. 18   Zur Erschaffung der Engel siehe Gen. ad litt. I 10,18. 19   Die im Folgenden beschriebene Schau der Schöpfung im Wort Gottes durch die Engel behandelt Augustinus ausführlich in Gen. ad litt. IV 21,38–35,56.

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kantes Detail sei festgehalten: Wenngleich diese Schau of­ fenkundig massiv auf Neuplatonisches zurückgreift, da die Engel ihrem systematischen Ort nach der platonischen Weltseele entsprechen, wird dennoch die spezifisch christliche Auffassung von der unmittelbaren Erschaf­ fung der sichtbaren Welt durch Gott nicht durch Einfü­ gung einer seelischen Zwischeninstanz geschmälert, denn die Engel besitzen lediglich ein kognitives, aber kein schöpferisches Vermögen. Ihre Erkenntnis dient ‚nur‘ der für menschliches Verständnis zugänglichen Aufschlüsse­ lung der intelligiblen Schöpfung, wie sie sich im Schöp­ fungsbericht widerspiegelt. Erst bei der Betrachtung der dritten Ebene stößt man schließlich auf den Begriff der Providenz. Diese dritte Ebene umfasst nach Augustins Formulierung all „das, was er (Gott) auf der Grundlage jener (von den Engeln geschauten) Werke bis jetzt wirkt“. Denn während die si­ multan und zeitlos erschaffene geistige Schöpfung mit dem sechsten Tag sozusagen generisch vollständig ist (Gen. ad litt. V 22,41; VI 11,18 f.), besteht deren Umset­ zung in eine körperliche, zeitliche Schöpfung in einem ständigen Werden und Vergehen der irdischen Lebens­ formen. Hier wirkt Gott bis jetzt (usque nunc operatur; ebd. V 20,40), und zwar so, dass „nicht nur insgesamt die­ ser Bereich der Welt hier, der den sterblichen und vergäng­ lichen Dingen zugeordnet ist, sondern (in ihm) sogar die bedeutungslosesten und verächtlichsten Teilchen durch göttliche Vorsehung geleitet werden“ (ebd. V 21,42).20

20   Zu Augustins Providenzkonzeption insgesamt siehe Goulven Madec, Thématique augustinienne de la Providence, in: REAug 41 (1995) 291–308.

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Augustinus tritt damit nicht nur in ausdrücklichen Ge­ gensatz zu unplatonischen paganen Positionen, die nur für den unsterblichen Teil der Schöpfung das Walten einer göttlichen Providenz annahmen, den sterblichen Teil da­ gegen als vom Zufall bestimmt ansahen (casibus potius et fortuitis motibus; ebd. V 21,42).21 Augustinus stellt sich darüber hinaus auch gegen Platons Timaios, wo der Be­ reich sterblicher Lebewesen durch die εἱμαρμένη zwar durchaus einer Ordnung untersteht, der göttliche De­ miurg jedoch die Erschaffung der sterblichen Lebewesen nicht mehr selbst vornimmt (ebd. V 20,40), sondern den von ihm erschaffenen Jungen Göttern – letztlich also der Weltseele – überlässt.22 Ohne Zweifel liegt hier insofern ein Unterschied zwi­ schen der platonischen und Augustins Sicht vor, als der Kirchenvater die Kräfte, die den raumzeitlichen Bereich gestalten, nicht noch einmal in einer eigenen Zwischenin­ stanz, der Weltseele, bündelt. Er beharrt darauf, Gott selbst sei es, der die Verhältnisse auch der körperlichen Welt lenkt, unter Berufung auf das Christuswort (Joh 5,17): „Mein Vater wirkt bis jetzt“ (Gen. ad litt. V 20,40). Dennoch bedeutet dies keineswegs, dass Gott unmittel­ 21  Eine derartige Position wurde etwa von dem Aristoteliker ­ lexander von Aphrodisias (um 200 n.Chr.) vertreten: quaest. I 25 A (p.  41,4–15 Busse); II 21 (p.  69,1–3; 70,1 f. Busse); vgl. zu den mög­ lichen paganen Quellen Augustins Agaësse/Solignac, La Genèse au sense littéral (wie Anm.  17) 678 f. 22   Platon, Tim. 42 e 5–47 e 2. Die ‚Jungen Götter‘ sind diejenigen göttlichen Teile der körperlichen Natur von den Gestirnen bis ­h inunter zur Erde, die auf den Lauf des irdischen Lebens Einfluss ausüben (ebd. 42 d 6). Siehe Filip Karfík, Die Beseelung des Kos­ mos. Untersuchungen zur Kosmologie, Seelenlehre und Theologie in Platons Phaidon und Timaios (BzA 199), München/Leipzig 2004, 114–117.

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bar als er selbst in die irdischen Geschicke eingreift. Auch Augustinus ist der Gedanke einer Mittelbarkeit göttlichen Wirkens nicht völlig fremd, so dass sich der Unterschied zum paganen Platonismus letztlich als nicht so groß er­ weist, wie er zunächst erscheint. Dazu folgender Passus etwas genauer (ebd. V 23,45): Man muß von der (intelligiblen) Welt (im Wort Gottes) denken, sie habe, als Gott alles zugleich erschuf, alles zu­ gleich besessen, was in ihr und mit ihr geschaffen wurde, … nicht nur den (irdischen) Himmel mit Sonne, Mond und Sternen, deren Gestalt in kreisförmiger Bewegung verharrt, (nicht nur) die Erde und die (Meeres-)Tiefen, die gleichsam diskontinuierliche Bewegungen erfahren und, wenn sie weiter unten hinzugefügt werden, der Welt ihren zweiten Teil hinzubringen, sondern auch das, was Wasser und Erde hervorbrachte, habe (die intelligible Welt) der Potenz und der Kausalität nach (potentialiter atque causaliter) (in sich gehabt), bevor sie im Laufe der Zeiten so zu­ tage traten, wie sie uns jetzt bekannt sind in den Werken, die Gott bis jetzt wirkt.23 Im Wort Gottes, in dem Gott alles zugleich erschuf, liegt also das Prinzip der sichtbaren Welt, d. h. die intelli­ gible Welt. Und dieser intelligiblen Welt wohnt im Sinne einer kreativen Potenz und in ursächlicher Weise all das bereits inne, was ontologisch später als körperliche Schöp­ 23   Augustinus, Gen. ad litt. V 23,45: ipse mundus cogitandus est, cum deus simul omnia creavit, habuisse simul omnia, quae in illo cum illo facta sunt, … non solum caelum cum sole et luna et sideribus, quorum species manet motu rotabili, et terram et abyssos, quae velut inconstantes motus patiuntur atque inferius adiuncta partem alteram mundo conferunt, sed etiam illa, quae aqua et terra produxit potentialiter atque causaliter, priusquam per temporum moras ita exorerentur, quomodo nobis iam nota sunt in eis operibus, quae deus usque nunc operatur.

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fung in Raum und Zeit zutage tritt (priusquam exorerentur). Die in Gottes Wort enthaltenen geistigen Prinzipien der körperlichen Schöpfung enthalten gleichsam einen Plan, nach dem sich die körperliche Entfaltung vollzieht. Diese geistigen Prinzipien werden der körperlichen Mate­ rie wie Samen eingepflanzt und wirken dort als imma­ nente, selbstbewegte und individuelle Prinzipien alles körperlichen Lebens. Augustinus spricht daher von ra­ tiones causales, insitae oder primordiales.24 Durch sie als Mittlerinstanzen wirkt Gott in der sichtbaren Welt.25 Dieses Verhältnis der sich im Wort Gottes vollzie­ henden intelligiblen Präformation der intelligiblen Schöp­ fung, die von den Engeln als Sechstagewerk wahrgenom­ men wird, zur raumzeitlichen Schöpfung der sichtbaren Welt, in der Gott durch die rationes causales wirkt, ist für die Frage nach dem besonderen Wert platonischer Philo­ sopheme für die Exegese des Schöpfungsberichtes ent­ scheidend. Denn es entspricht ziemlich genau dem Ver­ hältnis von πρόνοια und εἱμαρμένη, wie wir es in den platonischen Texten beobachten konnten. Wie dort ist auch bei Augustinus die intelligible Schöpfung Ursprung von Gottes unmittelbarer Providenz für den Kosmos ins­ gesamt. In den Abläufen der sichtbaren Welt dagegen wirkt Gott durch die in der intelligiblen Schöpfung kausal angelegten, der Materie immanenten rationes causales, wie auch im Platonismus die εἱμαρμένη eine der körperlichen 24   Rationes causales: ebd. VI 13,23–18,29; rationes insitae: ebd. IV 33,51; rationes primordiales: ebd. VI 11,19. Zur ratio causalis Catapano, Art. Ratio (wie Anm.  15) 1080 mit Anm.  94. 25   Agaësse/Solignac, La Genèse au sense littéral (wie Anm.  17) 677: „En elles mêmes, les raisons causales ne sont que des dyna­ mismes rationnels dont le sens plénier se découvre dans les êtres qu’elles produisent.“

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Welt immanente, abgestufte und insofern indirekte Form der πρόνοια ist. Daher gleicht auch die Beschreibung der Lebensvollzüge der körperlichen Welt bei Augustinus weitgehend denen, die die Platoniker für die εἱμαρμένη verwenden. Im Platonismus wurde die εἱμαρμένη bzw. das fatum mit Formulierungen wie series quaedam consequentiarum atque ordinum (Chalcidius, comm. 178) oder als causa connexionis cuiusdam et consequentie hiis que generantur (Proklos, prov. 3,7) oder als mobilis nexus ­atque ordo temporalis (Boethius, cons. philos. IV 6 pr.) beschrieben. Mit ganz ähnlichen Formulierungen be­ schreibt aber auch Augustinus die Lenkung der Abläufe im sichtbaren Kosmos als rerum antea conditarum administratio iam per ordines temporum (Gen. ad litt. V 4,10). Dass die platonische Stufung von Providenz und Schick­ sal bei der Verwaltung der Welt den Hintergrund für ­Augustins Exegese der doppelten Schöpfungsgeschichte bildete und dass Augustinus diesen Hintergrund gezielt für seine exegetischen Bedürfnisse nutzte, kann kaum einem Zweifel unterliegen. Wenn Augustinus dort, wo der Platonismus terminolo­ gisch von εἱμαρμένη bzw. fatum spricht, stattdessen pro­ videntia verwendet, also gerade den Begriff benutzt (z. B. ebd. V 21,42), der platonisch eigentlich dem Bereich des unmittelbaren Wirkens Gottes vorbehalten war, sollte das nicht verwirren. Der Grund ist, dass Augustinus, wie schon erwähnt, keine Weltseele annimmt, auf die die gött­ liche Providenz abzielen könnte, sondern die Gestaltung der Materie durch die rationes causales unmittelbar auf die im Wort Gottes liegenden Seinsprinzipien, die rationes aeternae, zurückführt. Aus Augustins Sicht ist Gott durch die in seinem Wort entstammenden rationes causales direkt – oder zumindest direkter als im Platonismus –

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in der Welt wirksam und bezieht sich der Gebrauch von providentia daher auch nur auf die Verwaltung der sicht­ baren Welt.26

3. Die sachliche Affinität der platonischen Konzeption zum biblischen Text als Kriterium christlicher Nutzung Zum Schluss kann nun eine Antwort auf die Ausgangsfra­ ge versucht werden, warum Augustinus gerade diese pla­ tonische Sicht als hermeneutischen Schlüssel für die Deu­ tung der beiden biblischen Schöpfungsberichte benutzte, sofern es um die Bestimmung des Verhältnisses beider zueinander geht. Warum wählte er nicht irgendein an­ deres Deutungsmuster, z. B. das stoische, das ja ebenfalls eine göttliche Weltverwaltung annahm? Sicherlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, Augustinus sei ein­ fach dem Zeitgeist gefolgt und habe mit dem Platonismus dasjenige exegetische Hilfsmittel gewählt, das unter den Intellektuellen seiner Zeit das gängige war. Mir scheint das jedoch zu kurz zu greifen, denn schon die bekannte Äußerung aus De civitate dei VIII 5, niemand sei näher an „uns“, d. h. die Christen, herangekommen als die Platoni­ ker, zeigt, dass Augustinus offenkundig inhaltliche Krite­ rien hatte, die unter mehreren ihm grundsätzlich zur Ver­ fügung stehenden Möglichkeiten seine Wahl auf den 26   Zudem vermeidet Augustinus den (der griechischen εἱμαρμένη entsprechenden) Begriff des fatum, weil dieser im lateinischspra­ chigen Kontext offenbar zu sehr mit dem mechanistischen, welt­ immanenten Verständnis der Stoa verknüpft war, das den Lauf der irdischen Dinge von Gottes Willen bzw. Macht unabhängig zu ma­ chen drohte (vgl. civ. V 1 Dombart/Kalb).

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Platonismus als Deutungsschema fallen ließen. Er zeigt dies an der genannten Stelle der civitas dei (VIII 6) inte­ ressanterweise sogar selbst, indem er dort die platonische Naturerkenntnis bewertet und dabei zur Illustration im Miniaturformat eine Weltentstehungslehre aus pagan-­ platonischer Perspektive formuliert, die seiner eigenen Deutung der biblischen Schöpfung in den Grundstruk­ turen äußerst ähnlich ist. Wenn der zweite Schöpfungsbericht nicht einfach als eine, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten versehene, Wiederholung des ersten verstanden werden soll, sondern man die Sinnhaftigkeit dieser Abfolge als hermeneutische Voraussetzung annimmt, dann dürfen beide Berichte nicht völlig dasselbe erzählen, sondern müssen einander ergänzen. Dies aber ist nur möglich, wenn die inhaltliche Überschneidung beider Berichte ei­ nerseits nicht aufgegeben wird – es geht in beiden ja um die eine Schöpfung Gottes –, aber andererseits doch so differenziert wird, dass gleichsam unterschiedliche Seins­ modi der einen Schöpfung damit beschrieben werden und der zweite Bericht den ersten im Sinne einer ontologischen Entfaltung fortsetzt. Dies legt nach Augustins Überzeu­ gung auch der biblische Text selbst nahe. Denn in Gen 2,4 f., wo vor dem Beginn des zweiten Berichtes der erste Bericht gleichsam wie ein Gelenk noch einmal kurz zu­ sammengefasst wird, heißt es, der erste Bericht habe da­ von gehandelt, wie Gott „das Gesträuch des Feldes“ ge­ schaffen habe, „bevor es sich noch auf der Erde erhob“, sowie „die Pflanzen der Gegend, noch bevor sie gespros­ sen“ seien, denn Gott habe es über der Erde noch nicht regnen lassen. Auch den Menschen habe es als Bearbeiter der Erde noch nicht gegeben. Die gesamte im ersten Be­ richt beschriebene Schöpfung, für die hier Pflanzen und

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Mensch als partes pro toto genannt werden, existierte am Ende des ersten Berichtes also noch gar nicht in Form konkreter körperlicher Wesen. Der biblische Text selbst suggeriert hier also die Annahme einer der körperlichen Schöpfung vorausliegenden, vor- bzw. unkörperlichen Schöpfung, wie sie von den Engeln als im Wort Gottes umschlossen wahrgenommen wird. Erst der zweite Schöpfungsbericht behandelt, symbolisiert durch die vier lebensspendenden Paradiesflüsse, die Entstehung der raumzeitlich-körperlichen Welt. Eine Zuhilfenahme etwa der stoischen Providenzkonzeption hätte hier nicht wei­ tergeführt, denn die Weltimmanenz des göttlichen Logos der Stoa könnte die Gestaltung der Welt sich immer nur im Rahmen einer körperlichen Welt vollziehen lassen. Von einer Schöpfung zu sprechen, „noch bevor sie sich auf der Erde erhob“, wäre hier sinnlos. Für einen Stoiker dürfte es nur einen Schöpfungsbericht geben. Die platonische Ontologie, ob mittel- oder neuplato­ nisch, bietet dagegen genau diejenige gestufte Realität in­ nerhalb der einen Schöpfung, die es gestattet, die beiden Schöpfungsberichte in ein widerspruchsfreies Verhältnis zueinander zu bringen. Die Lehre vom Intellekt, der durch Reflexion auf sich selbst die Fülle der Wirklichkeit in Form geistiger Prinzipien in sich hervorbringt, noch bevor – ‚bevor‘ hier ontologisch, nicht zeitlich verstan­ den  – die körperliche Welt entsteht, bietet eine intelligible Ebene der Schöpfung. Von hier aus werden die immate­ riellen Formen dann durch Vermittlung der Weltseele zu materieimmanenten Gestaltern der raumzeitlichen Welt, auch dies offenkundig eine ontologisch abgestufte dop­ pelte Schöpfung. Dem Christen Augustinus wie auch der übrigen christ­ lichen Elite mag überall dort, wo es um das Verständnis

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der Welt als einer natürlichen Ordnung und nicht um die spezifisch christlichen Heilswahrheiten geht,27 der Plato­ nismus als eine kongeniale Sicht erschienen sein. Die Hl. Schrift ließ sich so vor dem Hintergrund einer sachlich vielfach als affin angesehenen und methodisch ausgereif­ ten philosophischen Systematik deuten. Auch bei der Exe­ gese der biblischen Schöpfungsberichte war Augustinus überzeugt, dass platonisches Denken „uns Christen am nächsten steht“.28 Im Sinne des Pauluswortes aus Röm 1,19 f., dass den Heiden durchaus eine natürliche Gottesund Wirklichkeitserkenntnis gelungen sei, und zwar durch Rückschluss vom Irdischen, Geschaffenen auf das Intelligible, gestand er den Platonikern zu, darin sogar be­ sonders weit gekommen und insofern den Christen beim Verständnis ihrer Lehre eine wichtige Hilfe zu sein. Am Beispiel der providentia hat sich deutlich gezeigt, dass es nicht die bloße zeitgleiche Präsenz des Platonismus, son­ dern seine hohe exegetische Leistungsfähigkeit bei der Anwendung auf die Hl. Schrift war, die einen intellektu­ ellen Christen zum Platoniker werden ließ. Man kann da­ her bei Augustinus und dem Christentum seiner Zeit von einer nicht nur erstaunlich vorurteilslosen, sondern auch sachlich begründeten ‚Taufe‘ dieser paganen Philosophie sprechen.

27  Hier lag für Augustinus die Grenze der Leistungsfähigkeit platonischer Philosophie, wie er z. B. conf. VII 9,13 f. Skutella das Fehlen jeglicher christologischen Aussagen bei den Platonikern konstatiert: quia verbum caro factum est et habitavit in nobis, non ibi (sc. in Platonicorum libris) legi. 28   Zum platonischen Hintergrund der augustinischen Genesis­ exegese Mayer, Art. Creatio, creator, creatura (wie Anm.  12) 61.

Freiheit in der römischen Kaiserzeit – platonisch und christlich Alfons Fürst Wie konnten Platoniker Christen werden? Unabhängig davon, ob im Hintergrund dieser Frage eher eine Skepsis gegen diese Möglichkeit steht oder ob diese Möglichkeit angenommen wird und es nur um die Frage nach dem Wie, nicht nach dem Ob geht – unabhängig davon ist zu konstatieren, dass viele gebildete Christen in der römi­ schen Kaiserzeit und in der Spätantike, von Justin bis Au­ gustinus, platonisch dachten oder durch den Platonismus zum Christentum kamen. Es muss also Wege in diese Richtung gegeben haben, die diesen Menschen gangbar erschienen. Auf einen dieser Denkwege möchte ich in diesem Bei­ trag hinweisen. Es ist einer, nach dem ich nicht explizit gesucht habe, sondern auf den ich bei anderweitigen Re­ cherchen gestoßen bin. Ich habe danach gefragt, wie das Entscheiden und Handeln des Menschen in der antiken, paganen wie christlichen Philosophie beschrieben und welcher Anteil dabei dem Menschen zugeschrieben wird.1 Auf diesem Gebiet der praktischen Philosophie, das nor­ malerweise unter den Stichwörtern der Entscheidungs1   Die Ergebnisse dieser Recherchen sind nachzulesen in: Alfons Fürst, Wege zur Freiheit. Menschliche Selbstbestimmung von ­Homer bis Origenes (Tria Corda 15), Tübingen 2022.

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und Willensfreiheit erörtert wird, bin ich auf die Spur ge­ stoßen, die ich hier beschreiben will.

1. Der stoische Kompatibilismus Die hellenistische und kaiserzeitliche Debatte über die Freiheit des Menschen im Sinne von Entscheidungs- und Handlungsfreiheit wurde von den Konzepten und der Terminologie geprägt, die die Stoiker in ihrer Handlungs­ theorie entworfen hatten.2 Die Gründer der Stoa, neben Zenon und Kleanthes besonders Chrysipp, schrieben der Vernunft des Menschen die Fähigkeit zu, einer ihr sich aufdrängenden „Vorstellung“ (φαντασία) und dem damit verbundenen „Handlungsimpuls“ (ὁρμή) zuzustimmen und entsprechend zu handeln oder die „Zustimmung“ (συγκατάθεσις) zu verweigern und die entsprechende Handlung nicht auszuführen.3 Aufgrund dieser Fähig­ keit, die Zustimmung zu geben oder zu verweigern, sahen die Stoiker die Ursache für manche Ereignisse in der Welt im Menschen, weshalb sie ihm für diese die Verantwor­ 2   Siehe dazu die eingehenden Erörterungen bei Brad Inwood, Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985, 42–101, und Susanne Bobzien, Determinism and Freedom in Stoic Philoso­ phy, Oxford 1998 (22005), 234–329, ferner die Überblicksdarstel­ lungen bei Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Be­ wegung, Bd.   1, Göttingen 1948 (71992); Bd.   2: Erläuterungen, Göttingen 1948 (61991), Bd.  1, 101–106, und Maximilian Forschner, Die Philosophie der Stoa. Logik, Physik und Ethik, Darmstadt 2018, 122–136. 3   Zeugnisse hierzu für Zenon in SVF I 61 (Cicero); für Chrysipp in SVF II 52 (Diogenes Laërtios). 115. 974 (Cicero). 981 (Alexander von Aphrodisias). 992 (Clemens von Alexandria). 994 (Plutarch); III 169 (hier der Text bei Seneca).

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tung zuschrieben. Letztere war der wichtigste Grund für dieses Konzept: Den Stoikern lag daran, im Rahmen eines von determinierten Ursache-Wirkungs-Zusammenhän­ gen bestimmten Weltbilds die ethische Verantwortung des Menschen für seine Taten und Untaten aufrechtzuer­ halten. Im Gesamtgefüge der Ursachen gab es somit eine Ursa­ che, die dem Menschen zugeschrieben werden konnte, ohne gegen das Grundprinzip der stoischen Physik zu verstoßen, dass nämlich alle Ursachen und Wirkungen, die ihrerseits wieder zu Ursachen von neuen Wirkungen werden, in einer ununterbrochenen Kette miteinander verknüpft sind: der „Heimarmene“ (εἱμαρμένη).4 Weil die Stoiker diese Verknüpfung der Ursachen als planvoll und vernünftig ansahen, war für sie die Abfolge der Ereignisse in der Welt nach logisch einsehbaren Prinzipien der Ver­ nunft, des „Logos“ (λόγος), geordnet und daher notwen­ dig. Die physikalische „Heimarmene“, die Verkettung von Ursachen und Wirkungen, ist das „Schicksal“ – die „Schicksalsfügung“, wie man den Begriff treffend wieder­ geben könnte –, dem nichts und niemand entrinnen kann. Die stoische Handlungstheorie, gemäß der ein Mensch mittels seiner Zustimmung zur Ursache für ein Gesche­ hen werden kann, aus dem sich wiederum weitere Ursa­ chen und Wirkungen ergeben, ist mit dem Konzept der Ursachenverknüpfung bzw. Schicksalsfügung vereinbar. Das ist Chrysipps Kompatibilismus: In einem determi­ nistischen physikalischen Gesamtrahmen gibt es Ereig­ nisse, die dem Menschen als ursächlich zugeschrieben 4   Für die „Verknüpfung der Ursachen“ siehe die in SVF II 917– 921 gesammelten Zeugnisse bei Aëtius, Nemesius von Emesa, Ser­ vius, Alexander von Aphrodisias und Cicero.

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werden können, weshalb er dafür ethisch verantwortlich gemacht werden kann. Die Stoiker haben intensiv darüber nachgedacht, wel­ che Faktoren die Entscheidungsfindung eines Menschen ausmachen. Eine zentrale Frage war zum Beispiel, welche Rolle der Charakter eines Menschen bei der Entscheidung darüber spielt, welchen Vorstellungen und Impulsen er seine Zustimmung erteilt und welchen nicht. Wodurch ist der eine Mensch verführbar, etwa zu Habgier oder zu An­ geberei, ein anderer hingegen nicht? Oder als weitere Fra­ gen: Welche Rolle spielen dabei familiäre Herkunft und soziales Umfeld, Erziehung und Bildung? Solche Fragen wurden auch in anderen philosophischen Schulen erör­ tert, vor allem im Peripatos, seit Aristoteles in seinen ethi­ schen Pragmatien eingehend über solche Zusammenhänge nachgedacht hatte. Aber niemand tat dies so gründlich und mit so erhellenden Einsichten wie die Stoiker. Es scheint mir daher nicht verwunderlich, dass die stoische Handlungstheorie und die zugehörige Termino­ logie in der römischen Kaiserzeit überaus weit verbreitet war und von allen anderen Schulen rezipiert wurde. Ori­ genes legt dafür ein beredtes Zeugnis ab: Die griechischen Philosophen, meinte er gegenüber Kelsos, hätten einge­ hend über das menschliche Handeln – „die Natur der gu­ ten, der bösen und der indifferenten Handlungen“, wie er sich stoisch ausdrückte – nachgedacht, und es seien die Stoiker, welche „die beste Lösung gefunden“ hätten.5 Er dürfte mit dieser Einschätzung nicht allein gewesen sein. Gleichwohl gab es einen Punkt im stoischen Konzept, an dem die ethische Verantwortung mit dem physika­ lischen Determinismus kollidierte: Wenn alle Ursachen   Origenes, Cels. IV 45 (FC 50, 756–759).

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und Wirkungen in einer ununterbrochenen Kette zusam­ menhängen und jede Ursache durch eine (oder mehrere) vorausgehende Ursache(n) determiniert ist, dann ist auch die Zustimmung oder Nicht-Zustimmung eines Men­ schen zu einem bestimmten Handlungsimpuls von vo­ rausgehenden Ursachen determiniert, weshalb der Mensch dafür im Grunde doch nicht verantwortlich ge­ macht werden kann. 6 Dieser Einwand ist von erheblichem Gewicht, würde er doch, wenn er zutrifft, der gesamten stoischen Ethik und Lebenskunst den Boden entziehen. Chrysipp hat daher mit hohem Aufwand versucht, ihn zu entkräften. Zu diesem Zweck führte er eine Unter­ scheidung zwischen den Ursachen ein: Es gebe vorausge­ hende Ursachen, die lediglich vorbereitende, begleitende oder unterstützende Wirkung hätten, und es gebe Ursa­ chen, die effektiv die Wirkung hervorbrächten.7 Zu letzte­ ren rechnete er die Zustimmung. Vorstellungen und Im­ pulse wirkten nur als vorausgehende Ursachen im Sinne von Anstößen zu bestimmten Handlungen. Doch ob ein Mensch einem bestimmten Impuls, zum Beispiel wütend zu werden – der „Zorn“ war ein Lieblingsthema der stoischen Protreptik, wie beispielsweise Senecas drei Bü­ cher De ira bezeugen –, zustimme oder nicht, liege allein am Menschen, und seine Reaktion, dem Impuls nachzu­ geben oder nicht, sei die effektive Hauptursache, die eine bestimmte Wirkung tatsächlich herbeiführe. Mit dieser Unterscheidung von vorbereitenden Neben- und wirk­ samen Hauptursachen versuchte Chrysipp, dem Men­ 6   Siehe die Belege für diese schon antike Kritik unten in Anm.  12– 15 und 19–21. 7   Zu den verschiedenen Arten von Ursachen siehe die Zeugnisse in SVF II 351 (Clemens von Alexandria) und II 354 (Galen), ferner II 974 (Cicero) und II 994. 997 (Plutarch).

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schen die Verantwortung für sein Handeln zuzuschrei­ ben, da die Zustimmung (oder deren Verweigerung) nicht durch vorausgehende Nebenursachen determiniert sei. Ob Chrysipp mit dieser Strategie erfolgreich war, kann man bezweifeln und wurde schon in der Antike bestrit­ ten. 8 Nach stoischer Theorie werde ein Mensch, der voll­ kommen der Vernunft folge – der stoische „Weise“ –, in Situationen, in denen die Rahmenbedingungen völlig identisch sind, immer dieselbe Entscheidung treffen, weil bei zutreffender vernünftiger Einsicht in die für die jewei­ lige Situation relevanten Zusammenhänge nur diese eine Entscheidung richtig sein könne. In jeder der in der stoischen Physik imaginierten Abfolge von Welten9 werde es einen Sokrates geben, der von dem Sokrates in der vori­ gen Welt nicht zu unterscheiden sei und genau dasselbe Leben führen und dasselbe Schicksal erleiden werde10 und sich, so darf man wohl extrapolieren, jedes Mal dafür ent­ scheiden werde, den Schierlingsbecher zu trinken statt die von seinen Freunden vorbereitete Flucht aus dem Ge­ fängnis zu ergreifen. Damit aber, so der kritische Einwand gegen die stoische Handlungstheorie, werde die Be­ hauptung, die Zustimmung eines Menschen zu einem Handlungsimpuls (oder deren Verweigerung) sei nicht determiniert, unterlaufen, denn unter denselben voraus­ gehenden Nebenursachen könne – sofern man die Vorga­ be akzeptiert, dass es in Situationen, in denen es um Gut und Böse geht, nur eine richtige Entscheidung geben kön­ 8   Siehe die Referate dieser Kritik bei Cicero, fat. 40 (= ein Teil von SVF II 974), und Aulus Gellius, noct. Att. VII (VI) 2,4 f. (= ein Teil von SVF II 1000). 9   Siehe dafür die in SVF II 596–632 aus zahlreichen Autoren ge­ sammelten Zeugnisse. 10   So Origenes, Cels. IV 68 (FC 50, 802–805) (= SVF II 626).

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ne – eben immer nur dieselbe, die richtige Entscheidung, nämlich die für das Gute und gegen das Böse, getroffen werden. Damit aber unterlägen die Entscheidungen der Menschen doch der „Heimarmene“: Ihre Zustimmungen oder Nicht-Zustimmungen folgten der ewigen Verket­ tung von Ursachen und Wirkungen, in die auch Chry­ sipps effektiv wirksame Hauptursachen gehören. Anders gesagt: Chrysipps Kompatibilismus funktioniere nicht. Im Rahmen des stoischen physikalischen Kausaldetermi­ nismus sei eine ethische Verantwortung des Menschen für sein Tun nicht denkbar.

2. Die platonische Kritik am stoischen Determinismus An diesem Punkt setzte die Kritik der anderen philoso­ phischen Schulen an Chrysipps Kompatibilismus an, wenngleich sie die Begriffe und Konzepte der stoischen Handlungstheorie ansonsten weitgehend übernahmen. So sehr diese Erhellendes zum Verständnis menschlichen Entscheidens und Handelns beitrug, blieb sie nämlich doch an das damit einhergehende deterministische Welt­ bild gebunden. Die „Freiheit“, die die Stoiker verteidigen wollten, war daher vielen gleichsam zu wenig.11 Schon Epikur hatte sich – offenbar im Disput mit dem Schulgründer Zenon – entschieden gegen die stoische „Heimarmene“ gewandt, weil sie seiner Ansicht nach ge­ nau auf das hinauslief, was das dritte Schulhaupt der Stoa, 11  David Amand, Fatalisme et liberté dans l’antiquité grecque (RThPh 3. Reihe 19), Leuven 1945, hat zahlreiche pagane und christ­ liche Texte für diese Debatte vorgestellt. Siehe auch Pohlenz, Die Stoa (wie Anm.  2), Bd.  1, 354–357.

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Chrysipp, mit seiner Theoriebildung zu vermeiden suchte, nämlich die Grundlage für jedwede Ethik zu untergra­ ben.12 Diese Kritik wiederholte der Epikureer Diogenes von Oinoanda im 2.  Jahrhundert n.Chr. auf seiner monu­ mentalen Inschrift,13 und ebenfalls in diesem Jahrhundert setzte sich der Epikureer Diogenianos mit dem astrolo­ gischen und stoischen Schicksalsglauben auseinander.14 Dasselbe tat in dieser Zeit der Kyniker Oinomaos von Gadara.15 Der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias schrieb um 200 einen Traktat Über das Schicksal, in dem er sich gegen die stoische „Heimarmene“ für eine echte Wahlmöglichkeit dergestalt stark machte, dass sich ein Mensch in derselben Situation auch anders entscheiden könne.16 Und schließlich finden sich bei dem philoso­ phisch interessierten Arzt Galen, der Chrysipp Inkonsi­

12   Epikur, epist. 3, 133; frg. 378 Usener; ferner in einem Papyrus­ fragment seiner Schrift Über die Natur, ediert von Theodor ­Gomperz, Die Ueberreste eines Buches von Epikur Περὶ φύσεως, in: WSt 1 (1879) 27–31, hier 30 Z. 99 und 105. Vgl. auch die Rede des Epikureers Velleius bei Cicero, nat. deor. I 55. 13   Diogenes von Oinoanda, frg. 33 William (= frg. 54 Smith), col. III. 14   Diogenianos, frg. 1–3 Gercke (JCPh.S 14, 748–753) aus Euse­ bius von Caesarea, praep. ev. VI 8,1–39 (GCS Eus. 8/1, 321–328); frg. 4 Gercke (JCPh.S 14, 753–755) aus Eusebius, ebd. IV 3,1–13 (GCS Eus. 8/1, 169–172). 15   Oinomaos, frg. 1–13 Mullach (FPhG II, 361–379) aus Euse­ bius, ebd. V 19,1–36,5 (GCS Eus. 8/1, 256–290); frg. 14 Mullach (FPhG II, 379–385) aus Eusebius, ebd. VI 7,1–44 (GCS Eus. 8/1, 312–320). 16   Alexander von Aphrodisias, De fato (Bruns, Supplementum Aristotelicum II/2, 164–212). Auch daraus zitierte Eusebius, ebd. VI 9 (GCS Eus. 8/1, 328–334), einige Passagen.

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stenz vorwarf,17 und bei dem Skeptiker Sextus Empiri­ cus18 Spuren dieser Debatte. Die umfangreichste und nachhaltigste Kritik aber kam von den Platonikern. Schon im 2.  Jahrhundert v.Chr. ver­ teidigte der Akademiker Karneades die Entscheidungsfä­ higkeit des Menschen im Gefolge Chrysipps, warf diesem aber vor, die Zustimmung ihrerseits wieder als festes Glied in eine Ursachenkette einzureihen und sie damit zu determinieren.19 Der Akademiker Cicero übernahm im 1.  Jahrhundert v.Chr. diese Position, indem er Chrysipp zwar bescheinigte, dass er die Vorstellungen und Impulse „vom Zwang der Notwendigkeit befreit wissen wollte“, aufgrund seiner Denkkategorien aber doch „die Zwangs­ läufigkeit der Schicksalsfügung (necessitas fati) bestätigte, ohne es zu wollen“.20 Auf dieser Linie bewegten sich dann alle kaiserzeit­ lichen Platoniker. Sie rezipierten die Begriffe und Kon­ zepte der stoischen Handlungstheorie und konnten ihnen sogar, wie oben an der Aussage des Origenes demons­ triert, eine hohe Erklärungskraft zuschreiben. Gleichzei­ tig kritisierten sie aber ausnahmslos den mit der stoischen Konzeption einhergehenden Kausaldeterminismus, weil dieser die Entscheidungsfähigkeit des Menschen letztlich zerstöre. Seien es Plutarch und der unbekannte platoni­ sche Autor des pseudo-plutarchischen Traktats Über das 17   Galen, plac. Hipp. et Plat. IV 4 (p.  351 f. Müller) (= SVF III 464). 18   Sextus Empiricus, hypot. III 70,2–5. 19   Karneades bei Cicero, fat. 23–25. Siehe dazu den Kommentar von Magnus Schallenberg, Freiheit und Determinismus. Ein phi­ losophischer Kommentar zu Ciceros Schrift De fato (QuStPh 75), Berlin/New York 2008, 188–192. 20   Cicero, ebd. 39. Siehe dazu Schallenberg, ebd. 221–225.

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Schicksal, seien es die Verfasser platonischer Handbücher wie Alkinoos und Apuleius: Alle insistierten sie darauf, dass nicht alles von der „Schicksalsfügung“ bestimmt sein darf, um die Entscheidungsfähigkeit des Menschen nicht auszuhöhlen.21 Es ging ihnen offensichtlich darum, der Entscheidung wirklich einen Freiraum gegenüber einem lückenlosen Determinismus zu sichern. Chrysipps Un­ terscheidung von Ursachenarten schien ihnen dafür nicht auszureichen. Selbst jedoch entwarfen sie kein eigenes Konzept. Sie begnügten sich damit, entschieden zu beto­ nen, dass die Entscheidung nicht determiniert sein dürfe, um die Verantwortung des Menschen für sein Tun und Lassen und damit die Grundlage für Ethik und Moral zu sichern.

3. Die frühchristlichen Platoniker: Freiheit der Entscheidung Die frühchristlichen Platoniker bewegten sich philoso­ phisch auf den dadurch vorgezeichneten Spuren. Wie ihre paganen Kollegen übernahmen sie die ethischen Grund­ sätze und die Handlungstheorie der Stoiker, denen sie für ihre anspruchsvollen Moralvorstellungen nicht selten ho­ 21   Plutarch, Stoic. repugn. 47, 1056 a–d; Pseudo-Plutarch, fat. 5, 570 b. d–e; 8, 572 f; 11, 574 d; Alkinoos, didask. 26,1; Apuleius, Plat. I 12. Für die diesbezügliche peripatetische Kritik vgl. Alexander von Aphrodisias, fat. 16 (p.  187 Bruns). 18 (p.  188 f. Bruns). 19 (p.  189 f. Bruns). 20 (p.  190 f. Bruns). Siehe dazu auch Christian Pietsch, αἰτία ἑλομένου – Menschliches Entscheiden und Handeln zwischen Freiheit und Determination im Platonismus der Kaiserzeit, in: ders. (Hg.), Ethik des antiken Platonismus. Der platonische Weg zum Glück in Systematik, Entstehung und historischem Kontext (Philo­ sophie der Antike 32), Stuttgart 2013, 191–218, hier 202–209.

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hes Lob zollten, 22 lehnten aber gut platonisch den stoischen Determinismus kategorisch ab.23 In einem Punkt gingen sie nun aber deutlich über die bisherigen philosophischen Erörterungen zu diesem Thema hinaus: Sie betonten mit höchstem Nachdruck und unablässig die „Freiheit der Entscheidung“ (ἐλευθερία τῆς προαιρέσεως). Diese Junktur kommt erstmals in der gesamten antiken Literatur bei dem Syrer Tatian, einem Schüler Justins, vor.24 Auch von einer „freien Entscheidung“ (προαίρεσις ἐλεύθερα) redeten sie ausdrücklich 25 und setzten fast im­ mer, wenn sie auf die Entscheidungsfähigkeit des Men­ schen zu sprechen kamen, das Adjektiv „frei“ hinzu. Mit diesem Sprachgebrauch ging einher, dass sie diese „Frei­ heit“ in einen Rang erhoben und ihr eine Bedeutung zu­ schrieben, wie das nie zuvor der Fall gewesen war. a) Terminologie und Übersetzungsprobleme Dieses Phänomen nimmt man in den Quellen allerdings nur wahr, wenn man sie in ihrer Originalsprache genau 22   Erstmals Justin, apol. II 6(7),8 (SC 507, 338); II 7(8),1 (SC 507, 338–340). Zu dieser christlichen Rezeption der Stoa siehe Pohlenz, Die Stoa (wie Anm.  2), Bd.  1, 400–461; für das 2.  Jahrhundert: Mi­ chel Spanneut, Le stoïcisme des Pères de l’Église. De Clément de Rome à Clément d’Alexandrie, Paris 1957; ferner den Überblick von Therese Fuhrer, Stoa und Christentum, in: Alfons Fürst u. a., Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus (SAPERE 11), Tübingen 2006 (22012), 108–125. 23   Justin, apol. I 43,1–3 (SC 507, 240); I 44,11 (SC 507, 246); II 6(7),4–6 (SC 507, 336–338); Tatian, Graec. 9,3 (SAPERE 28, 52); Irenäus, adv. haer. IV 37,1 f. (FC 8/4, 318–322); Tertullian, adv. Marc. II 5,7 (FC 63, 222); II 6,7 (FC 63, 228); Bardesanes, lib. leg. reg. 8 (PS 1/2, 545). 24   Tatian, Graec. 7,2 (SAPERE 28, 48). 25   Erstmals Justin, apol. I 43,3 (SC 507, 240).

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liest. In der bisherigen Forschung ist das nämlich, wenn ich recht sehe, erstaunlicherweise noch niemandem aufge­ fallen. Das dürfte wohl auch daran liegen, dass die Wort­ wahl in der einschlägigen Literatur meist ausgesprochen ungenau ist. Unabhängig davon, welche Begriffe in den Quellen für die Entscheidungsfähigkeit des Menschen ge­ braucht werden, ist meist großzügig von „Entscheidungs­ freiheit“ oder gar von „Willensfreiheit“ die Rede. Gerade die Begriffe „Freiheit“ oder „frei“ stehen in den paganen Texten bis zum 2.  Jahrhundert n.Chr. aber beim Begriff der „Entscheidung“ oder der „Wahl“ nicht dabei (auf die ganz wenigen Ausnahmen komme ich gleich zu sprechen). Noch weniger ist von einem „Willen“ oder einem „freien Willen“ die Rede: In den griechischen Texten gar nicht, in den lateinischen gelegentlich seit Lukrez und Cicero, die beide erstmals von libera voluntas sprachen 26 – doch diese voluntas war noch weit von dem entfernt, was später (seit Augustinus) unter „Wille“ als einem eigenständigen Ver­ mögen des Menschen neben seiner „Vernunft“ verstanden wurde.27 Der unsaubere Sprachgebrauch in der Forschung lässt sich auch in nahezu allen (und nicht nur den deutschen, sondern auch anderssprachigen) Übersetzungen der ein­   Lukrez, rer. nat. II 256 f.; Cicero, fat. 20.   In dieser Frage teile ich die Meinung derjenigen Philosophiehi­ storiker, die einen „Willen“ als eigenständiges Vermögen im Men­ schen erst mit Augustins Willenskonzept gegeben sehen, z. B. Alb­ recht Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985; Charles H. Kahn, Discovering the Will. From Aristotle to Augustine, in: John M. Dillon/Anthony A. Long (Hg.), The Question of „Eclecticism“. Studies in Later Greek Philosophy, ­ ­Berkeley/Los Angeles/London 1988, 234–259; Christoph Horn, Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbe­ griffs, in: ZPhF 50 (1996) 113–132. 26 27

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schlägigen Quellen beobachten. Nur selten wird die darin verwendete Begrifflichkeit präzise im Sinne der eigent­ lichen Bedeutung der Wörter wiedergegeben; meist ist ebenso nonchalant von Willens- oder Entscheidungsfrei­ heit die Rede wie in der zugehörigen Forschungsliteratur. Mit einer solchermaßen anachronistischen Terminologie kann aber weder in den Blick kommen, worüber in den Quellen jeweils genau diskutiert wird (und worüber nicht), noch können diesbezügliche Entwicklungen er­ kannt werden. Beachtet man hingegen streng die Begrifflichkeit der Quellen, wird rasch sichtbar, dass bis in das 2.  Jahrhun­ dert n.Chr. hinein nicht von „Freiheit“ die Rede ist, wenn es um die „Ursache“ (αἰτία oder αἴτιον) für ein Geschehen geht, die „an uns liegt“ (ἐφ᾽ ἡμῖν), wie die Stoiker mit einer untechnischen Formel sagten. Weder Platon noch Aristo­ teles dachten über „Freiheit“ nach, wenn sie nach der Ur­ sache für das Leid in der Welt fragten 28 oder die Faktoren analysierten, die bei der „Entscheidung“ (προαίρεσις) eine Rolle spielen.29 Die antiken Philosophen waren alle daran interessiert, dem Menschen die Fähigkeit eigenen Ent­ 28  So Platon im Er-Mythos, polit.  X 614 b–621 b. Siehe dazu Wolfgang M. Zeitler, Entscheidungsfreiheit bei Platon (Zet. 78), München 1983, 114–136. 29   So Aristoteles, eth. Eud. II 6–11, 1222 b–1228 a; eth. Nic. III 1–8, 1109 b–1115 a; ferner an. III 10, 433 a. Siehe dazu Christof Rapp, Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1–7), in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles: Die Nikomachische Ethik (Klas­ siker Auslegen 2), Berlin 1995, 85–103, vor allem aber die Kommen­ tierung dieser Passagen von Franz Dirlmeier, Aristoteles: Niko­ machische Ethik (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung 6), Berlin 1956 (Darmstadt 91991), 322–337; ders., Aristoteles: Eude­ mische Ethik (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung 7), Ber­ lin 1963 (41984), 266–307.

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scheidens gegenüber einem ominösen Schicksal oder einer physikalischen Kausalität zu sichern. Das mag nicht weit davon entfernt sein, dem Menschen eine „Freiheit“ gegen­ über dem Schicksal oder gegenüber der Natur zuzuspre­ chen oder diese Entscheidungsfähigkeit als „frei“ zu ver­ stehen, aber so gesagt haben das die antiken Philosophen bis in die hohe römische Kaiserzeit hinein nicht. Das taten erst die frühchristlichen Philosophen, und diese dann mit höchstem Nachdruck und nahezu immer, wenn sie auf das Thema zu sprechen kamen. b) Anregungen aus Philon und Epiktet Für diesen christlichen Sprachgebrauch gab es auf nicht-christlicher Seite nur vereinzelt Vorläufer. Die Junktur „Freiheit der Entscheidung“ ist, wie gesagt, vor Tatian nicht belegt. Sucht man danach, ob die „Entschei­ dung“ irgendwo als „frei“ qualifiziert wird, stößt man auf zwei Autoren: Den jüdischen Platoniker Philon und den römischen Stoiker Epiktet. Bei beiden zeigt sich aber an ihrem Sprachgebrauch, dass sie das frühchristliche Frei­ heitsverständnis damit nur ansatzweise vorgeprägt haben. Zum ersten Mal begegnet die Wendung προαίρεσις ἐλεύθερα an einer Stelle in den Schriften Philons, an der er die „Wahl der Lebensführung“ (προαίρεσις τοῦ βίου) durch den Menschen als „frei“ (ἐλεύθερα) bezeichnet.30 Aus den dazu parallelen Adjektiven „fessellos“ (ἄδεσμος) und „ungebunden“ (λελυμένη) ergibt sich, welchen Sinn das Wort „frei“ hier hat, nämlich „frei“ von äußerem Zwang zu sein. Das entspricht der ursprünglich politisch-­ sozialen Bedeutung des Wortes ἐλεύθερος in der griechi­   Philon, deus immut. 114 (II p.  80 Cohn/Wendland).

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schen Antike.31 Allerdings ging Philon darauf nicht weiter ein. Die Bezeichnung der „Entscheidung“ als „frei“ ist im Kontext der Stelle ohne Gewicht und eher rhetorisch. Der Satz hätte denselben Sinn, wenn nach den Adjektiven „ungebunden“ und „fessellos“ das Wort „frei“ nicht da­ beistünde. Aber immerhin: Damit war der Begriff der „freien Entscheidung“ in der Welt, den die frühchrist­ lichen Philosophen in das Zentrum ihrer Überlegungen rückten. Dazu kommt, dass Philon eine Reihe weiterer Vorstel­ lungen prägte, die von den Christen gerne rezipiert und weiterentwickelt wurden: Philon bezeichnete Gott als „Vater der Freiheit“ (πατὴρ ἐλευθερίας), der den Menschen als „ungebunden“ (ἄφετον) und „frei“ (ἐλεύθερος) sowie als ein Wesen erschaffen habe, das über „die Gabe eines ‚arbeitswilligen‘ (ἐθελουργός) und sich selbst bestim­ menden (αὐτοκέλευστος) Urteils (γνώμη)“ verfüge, „von sich aus“ (ἑκούσιος) agiere und „seine Kräfte nach seiner Entscheidung“ gebrauche; eben darin gründe die Ähn­ lichkeit des Menschen mit Gott.32 Aus diesen Elementen, besonders der Fundierung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in der Freiheit, schmiedeten die frühchrist­ lichen Denker ihren Freiheitsbegriff.

31   Siehe zu dieser Freiheit den Überblick bei Dieter Nestle, Art. Freiheit, in: RAC 8 (1972) 269–306, ferner z. B. Max Pohlenz, Griechische Freiheit. Wesen und Werden eines Lebensideals, Hei­ delberg 1955, 7–50. 113–122; Olof Gigon, Der Begriff der Freiheit in der Antike, in: Gym. 80 (1973) 8–56, hier 9–31; Hans Krämer, Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike, in: Josef ­Simon (Hg.), Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, Freiburg/München 1977, 239–270, hier 239–245. 32   Philon, deus immut. 47–49 (II p.  66 f. Cohn/Wendland).

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Ebenfalls wichtige Anstöße für die Entwicklung des Freiheitsbegriffs im Christentum kamen von Epiktet.33 Bei ihm war erstmals davon die Rede, dass „das, was an uns liegt“ (τὸ ἐφ᾽ ἡμῖν), nämlich die „Zustimmung“, „von Natur aus frei (φύσει ἐλεύθερον), unbehindert, unge­ hemmt“ sei.34 Auch die „Entscheidung“ (προαίρεσις) konnte er als „von Natur aus frei und unerzwungen“ (ἐλεύθερον φύσει καὶ ἀνανάγκαστον) bezeichnen.35 Wie bei Philon ist die politisch-soziale Konnotation dieses Frei­ heitsbegriffs noch deutlich zu erkennen, auch wenn er mit der Qualifizierung der Entscheidung als „von Natur aus frei“ die Freiheit zumindest tendenziell aus politischen und sozialen Bedingtheiten herauslöste. So sehr allerdings bei Epiktet die Freiheit im Zentrum seines Philosophierens stand, so deutlich unterschied sich sein Freiheitsbegriff doch vom späteren christlichen. Das wird an einer weiteren Stelle deutlich, an der er die „Ent­ scheidung“ neben Adjektiven wie „unbehindert“ und 33  Siehe für Epiktets Freiheitsbegriff z. B. Pohlenz, Die Stoa (wie Anm.  2), Bd.  1, 329–335, und Bobzien, Determinism and Free­ dom (wie Anm.  2) 330–357, ferner Roberto H. Pich, Προαίρεσις und Freiheit bei Epiktet. Ein Beitrag zur philosophischen Geschichte des Willensbegriffs, in: Jörn Müller/Roberto H. Pich (Hg.), Wil­ le und Handlung in der Philosophie der Kaiserzeit und Spätantike (BzA 287), Berlin/New York 2010, 95–127, sowie die vorzügliche Darstellung von Maximilian Forschner, Epiktets Theorie der Freiheit im Verhältnis zur klassischen stoischen Lehre (Diss. IV 1), in: Samuel Vollenweider u. a., Epiktet, Was ist wahre Freiheit? Diatribe IV 1 (SAPERE 22), Tübingen 2013, 97–118. 34   Epiktet, ench. 1. Vgl. diss. III 22,42 f. 35   Ebd. II 15,1. Ebd. I 17,21.23 formulierte er denselben Gedan­ ken, doch ohne das Adjektiv „frei“ zu verwenden. Siehe dazu Theo Kobusch, Selbstwerdung und Personalität. Spätantike Philosophie und ihr Einfluß auf die Moderne (Tria Corda 9), Tübingen 2018, 206–208.

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„ungehemmt“ als „frei“ bezeichnete.36 Im Rahmen dieser Aussage gebrauchte Epiktet den Begriff προαίρεσις näm­ lich in dem speziellen Sinn, den er ihm, Aristoteles weiter­ denkend, beigelegt hatte: Er meinte nicht eine „Entschei­ dung“ (unter vielen) oder die „Entscheidungsfähigkeit“, die „frei“ sei, sondern er bezeichnete damit die „Persona­ lität“ eines Menschen, seine fundamentale Grundeinstel­ lung, aus der heraus er sein Leben gestaltet, gewisserma­ ßen die „Vor-Entscheidung“, aus der heraus alle anderen „Entscheidungen“ getroffen werden. Eben von dieser Grundhaltung sagte Epiktet an der fraglichen Stelle, dass der Mensch sie pflegen und vervollkommnen solle, so dass sie schließlich „erhaben“, nämlich über die Fährnisse des Lebens, „frei“, „unbehindert“, „ungehemmt“, „vertrau­ enswürdig“ und „ehrbar“ werde. Die Freiheit, die Epiktet der eigenen Grundeinstellung zuschrieb, meinte also nicht, dass seine Entscheidungsfähigkeit frei sei, sondern beschrieb das Ziel, das ein Mensch erreiche, wenn er seine Grundeinstellung perfektioniere. Gegenläufig zu der Aus­ sage, dass die „Zustimmung“ bzw. die „Entschei­ dung“ „von Natur aus“ frei sei, war die Freiheit, die Epik­ tet meinte, nicht eine, die jedem Menschen „von Natur aus“ zukommt. Er dachte vielmehr an eine Freiheit, die diejenigen Menschen erlangen, die ihre Entscheidungs­ fähigkeit konsequent richtig gebrauchen. Die frühchristlichen Philosophen ließen sich außer von Philon gewiss von Epiktet, der nach dem Zeugnis des Ori­ genes ein in der Kaiserzeit viel gelesener Autor war,37 für ihr eigenes Freiheitspathos anregen, gingen aber weit über das hinaus, was der Stoiker angedacht hatte. Im Verbund   Epiktet, ebd. I 4,18.   Origenes, Cels. VI 2 (FC 50, 1006 f.).

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mit den philonischen Anregungen formten sie einen eige­ nen, neuartigen Freiheitsbegriff. Dazu ein Detail am Wegrand, das noch niemandem aufgefallen zu sein scheint: In seiner Apologie gegen Hierokles zitierte Eusebius von Caesarea den Anfang von Epiktets Enchiridion weitge­ hend wörtlich, hob dabei aber die Freiheit der Entschei­ dung ungleich stärker hervor als dieser.38 Darin spiegelt sich die Entwicklung, die der Freiheitsbegriff auf dem Weg von Philon und Epiktet zu den frühchristlichen Den­ kern genommen hatte. c) Frühchristliches Freiheitspathos Diesen neuen Freiheitsbegriff treffen wir seit der Mitte des 2.  Jahrhunderts in allen christlichen Traditionen an. Geographisch verteilen sich die Quellen, die das be­ zeugen, über das gesamte Römische Reich: Vom Syrer Ta­ tian und Theophilus von Antiochia im Osten über Justin, den Lehrer Tatians, in Rom bis Irenäus von Lyon im We­ sten (wohin er aus Kleinasien gekommen war); in Ägyp­ ten ist dazu Clemens von Alexandria zu nennen. Zu die­ sen griechischsprachigen Autoren kommen der Lateiner Tertullian in Karthago in Nordafrika und im syrischen Sprachraum außerhalb des Römischen Reiches Bardesa­ nes, dessen Schüler Philippus das Buch der Gesetze der Länder unter dem Namen seines Lehrers herausgab.39 Es   Eusebius von Caesarea, Hierocl. 47 (SC 333, 208).  Was im Liber legum regionum wirklich Gedankengut des ­Bardesanes ist, ist eine offene Frage, die hier auf sich beruhen mag. Aufgrund des ganz ungnostischen Charakters dieser Schrift hat ­dieses Problem Folgen für die Frage, ob man Bardesanes für einen Gnostiker hält oder nicht. Siehe dazu Barbara Aland, Bardesanes von Edessa – ein syrischer Gnostiker. Bemerkungen aus Anlaß des 38 39

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sind also alle Sprachräume des frühen Christentums ver­ treten und damit einhergehend die großen kulturellen Räume Griechenlands, Roms und Syriens. Das früh­ christliche Freiheitspathos entstammte nicht einer be­ stimmten kulturellen und intellektuellen Tradition, son­ dern war von Anfang an in allen Regionen vorhanden, in denen in dieser frühen Zeit das Christentum nachweisbar ist. Die frühchristlichen Denker betonten unisono die Entscheidungsfreiheit als Grundmerkmal des Mensch­ seins. Die Grundzüge der christlichen Argumentation für die Freiheit der Entscheidung sind erstmals bei Justin dem Märtyrer anzutreffen.40 Im Gefolge der platonischen Kri­ tik an Chrysipps Kompatibilismus lehnte er die „Zwangs­ läufigkeit“ (ἀνάγκη), die er der stoischen „Heimarmene“ zuschrieb,41 ab, weil diese die Verantwortung aufhebe und damit zur Zerstörung der ethischen Begriffe und über­ haupt jedweder Moral führe.42 Vielmehr „verfügt das Menschengeschlecht aufgrund freier Entscheidung über Buches von H. J. W. Drijvers, Bardaiṣan of Edessa, in: ZKG 81 (1970) 334–351, abgedruckt in: dies., Was ist Gnosis? Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philosophie (WUNT 239), Tübingen 2009, 355–374, hier 360 f. 40   Justin, apol. I 43 f. (SC 507, 240–246); II 6(7) (SC 507, 334–338). Siehe dazu grundlegend Carl Andresen, Justin und der mittlere Platonismus, in: ZNW 44 (1952/53) 157–195, erneut in: Clemens Zintzen (Hg.), Der Mittelplatonismus (WdF 70), Darmstadt 1981, 319–368, hier 340–345. Jörg Ulrich, Justin: Apologien (KfA 4/5), Freiburg/Basel/Wien 2019, 363–378. 579–591, ist in Übersetzung und Kommentar ein Beispiel für den oben monierten unsauberen Sprachgebrauch. 41   Justin, ebd. I 43,1 (SC 507, 240); I 44,11 (SC 507, 246); II 6(7),4 (SC 507, 336). 42   Ebd. I 28,4 (SC 507, 204–206); I 43,2 f.6.8 (SC 507, 240–242); I 44,11 (SC 507, 246); II 6(7),8 f. (SC 507, 338).

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die Fähigkeit, das Hässliche zu meiden und das Schöne zu wählen“, denn wäre dem nicht so, „dann wäre es nicht der Urheber der wie auch immer gearteten Taten“.43 Hier be­ gegnet die Junktur προαίρεσις ἐλεύθερα erstmals in einem christlichen Text. Justin war diese Freiheit offenbar so wichtig, dass er sie im nächsten Satz gleich noch einmal wiederholte: „Aufgrund freier Entscheidung handelt der Mensch richtig oder irrt sich.“44 Damit proklamierte ­Justin explizit und emphatisch die „Freiheit der Entschei­ dung“, wie sein Schüler Tatian erstmals formulierte.45 Theophilus von Antiochia, ferner Irenäus und Tertul­ lian, die beide prononciert von der „Freiheit des Men­ schen“ (libertas hominis) sprachen, und desgleichen Bar­ desanes waren sich darüber einig, dass diese Freiheit dem Menschen von Gott bei der Schöpfung geschenkt worden sei.46 Am eindringlichsten ist ein Abschnitt in Tertullians zweitem Buch der Apologie gegen Markion ausgefallen, in dem er in wenigen Kapiteln die „Freiheit der Entschei­ dung“ (libertas arbitrii), die „freie Verfügungsmacht des Menschen über seine Entscheidung“ (libera hominis po  Ebd. I 43,3 (SC 507, 240).   Ebd. I 43,4 (SC 507, 240). Vgl. erneut in dial. 88,5 (PTS 47, 223). 45   Tatian, Graec. 7,2 (SAPERE 28, 48). 46   Theophilus von Antiochia, Autol. II 27,4 (PTS 44, 77); Irenäus von Lyon, adv. haer. IV 37,1–4 (FC 8/4, 318–324); Tertullian, adv. Marc. II 5,1.5 (FC 63, 218. 220); II 6,8 (FC 63, 228); II 7,2 (FC 63, 230); Bardesanes, lib. leg. reg. 8 (PS 1/2, 542–545). 47 (PS 1/2, 608– 611). Zur recht eigenartigen Synthese des ehemaligen Astrologen Bardesanes aus astrologischem Fatalismus und menschlicher Ent­ scheidungsfreiheit siehe Amand, Fatalisme et liberté (wie Anm.  11) 228–257, ferner Han J. W. Drijvers, Bardaisan’s Doctrine of Free Will, the Pseudo-Clementines, and Marcionism in Syria, in: Guy ­Bedouelle/Olivier Fatio (Hg.), Liberté chrétienne et libre arbitre, Freiburg i. Ü. 1994, 13–30; Tim Hegedus, Necessity and Free Will in the Thought of Bardaisan of Edessa, in: LTP 59 (2003) 333–344. 43

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testas arbitrii sui) und ähnliche Wendungen mit einer e­ normen Häufigkeit einschärfte.47 Einmal betonte er sie so stark, dass er von der „vollständigen Freiheit der Ent­ scheidung“ (tota libertas arbitrii) sprach sowie von der „eigenen Entscheidung“ (arbitrium suum), die „natürlich frei“ sei (liber scilicet).48 Nie zuvor ist in der Antike mit einer solchen Intensität die „Freiheit der Entscheidung“ propagiert worden. Die frühchristlichen Denker haben nicht nur ständig die „freie Entscheidung“ oder die „Freiheit der Entschei­ dung“ im Munde geführt, sondern auch neue Gedanken über diese Freiheit entwickelt.49 Erstmals Irenäus und Tertullian schrieben diese Freiheit auch Gott zu: „Gott“ sei wie der Mensch „ein Wesen der freien Entscheidung“ (libera sententia), und darin gründe die Gottesebenbild­ lichkeit des Menschen.50 Der Gedanke war bei Philon vor­ geprägt, doch war bei ihm Gott der „Vater der Freiheit“ der Menschen; 51 Gott selbst hat Philon diese Freiheit noch nicht direkt zugeschrieben, sondern lediglich indirekt ­dadurch, dass er sie mit der Gottesebenbildlichkeit in Zu­ sammenhang brachte. Direkt und explizit taten dies erst 47   Tertullian, adv. Marc. II 5–10 (FC 63, 218–248), enthält mehr als zwei Dutzend solcher Junkturen (die in der Übersetzung von Volker Lukas, FC 63/2, Freiburg/Basel/Wien 2016, 219–249, durchweg falsch mit „Willensfreiheit“ wiedergegeben werden). Vgl. auch an. 21,6 (CCSL 2, 814). 48   Adv. Marc. II 6,6 (FC 63, 226. 228). 49   Siehe dazu Theo Kobusch, Selbstbestimmte Freiheit. Das frü­ he Christentum im Kontext der antiken Philosophie, in: ZNT 34 (2014) 47–55. 50   Irenäus von Lyon, adv. haer. IV 37,4 (FC 8/4, 326) (hier das Zitat); Tertullian, adv. Marc. II 6,3 (FC 63, 224); II 9,4 (FC 63, 238); II 10,5 (FC 63, 246). 51   Philon, deus immut. 47 (II p.  66 Cohn/Wendland).

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die frühchristlichen Philosophen. Bei Origenes mündete dieser Gedanke in die tiefgründige Bezeichnung Gottes als „ungezeugte Freiheit“ (libertas ingenita) 52 und in ein von Clemens und Origenes ausgearbeitetes Konzept vom Menschen als mit freier Entscheidungsfähigkeit ausgestat­ tetem „Bild Gottes“, das sich die „Ähnlichkeit“ mit Gott, von der in Gen 1,26 f. neben dem „Bild“ die Rede ist, mit­ tels eben dieser Freiheit erwerben soll.53 Clemens von Alexandria fügte dem frühchristlichen Freiheitsgedanken einen weiteren zukunftsträchtigen As­ pekt hinzu.54 Wie die anderen frühchristlichen Denker rezipierte er die stoische Handlungstheorie und kritisierte aus platonischer Perspektive ihre deterministischen Im­ plikationen, weil sie die Verantwortung des Menschen für sein Handeln untergraben.55 In der Auseinandersetzung mit der gnostischen Vorstellung von festgelegten „Na­ turen“ der Menschen formulierte er sodann als erster ei­ nen kategorialen Gegensatz zwischen „Natur“ und „Frei­ heit“: Die Freiheit liege außerhalb oder jenseits des von Natur aus Gegebenen.56 Indem Clemens diese „Freiheit“   Origenes, in Lev. hom. 16,6 (OWD 3, 452).   Clemens von Alexandria, strom. II 131,6 (GCS Clem. Al. 24, 185); V 94,4 f. (GCS Clem. Al. 24, 388); Origenes, princ. III 6,1 (GCS Orig. 5, 280); in Gen. hom. 1,13 (OWD 1/2, 50–56); in Ios. hom. 10,3 (OWD 5, 228); 14,1 (OWD 5, 258); Cels. IV 30 (FC 50, 718). Siehe dazu Theo Kobusch, Bild und Gleichnis Gottes. Elemente mensch­ licher Freiheit, in: Iñigo Atucha u. a. (Hg.), Mots médiévaux offerts à Ruedi Imbach (TEMÂ 57), Porto 2011, 143–151. 54  Siehe Kobusch, Selbstbestimmte Freiheit (wie Anm.  49) 51. 55   Clemens von Alexandria, strom. I 83,5–84,4 (GCS Clem. Al. 24, 54); IV 153,1 f. (GCS Clem. Al. 24, 316); div. salv. 14,4 (GCS Clem. Al. 32, 168 f.). 56   Strom. II 115,1 f. (GCS Clem. Al. 24, 175); V 3,2 (GCS Clem. Al. 24, 327). 52 53

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ihrerseits ontologisierte, stellte er die Freiheitsdebatte in einen neuen Rahmen: Wenn sich der vollkommene Mensch – der christliche „Gnostiker“ im Sprachgebrauch des Clemens – das Gute bzw. die Tugend durch beständige Einübung so angeeignet habe, dass sie unverlierbar sei, „wird seine innere Haltung“, die darauf beruhe, „seine Natur“ (φυσιοῦται ἡ ἕξις).57 Durch das, was er tue, werde seine „Natur“ geformt; er „schafft und bildet sich selbst“.58 Auf der Grundlage der Gegenüberstellung von natür­ licher Konstitution und selbstbestimmter Freiheit bei der Formung des eigenen Wesens wird Origenes im 3.  Jahr­ hundert systematisch einen Begriff von Freiheit als Prin­ zip der Anthropologie und der Metaphysik entwickeln. Demnach „ist die Natur (natura) jedes einzelnen Men­ schen durch die Freiheit seiner Entscheidung (arbitrii libertas) bestimmt worden“,59 weil ein Mensch „nicht in seinem Wesen (ὑπόστασις) aufgrund der Konstitution (κατασκευή), in der er geschaffen wurde“, so ist, wie er ist, „sondern weil er dadurch, dass er sich ändert (μεταβολή) und selbst entscheidet (ἰδία προαίρεσις), so geworden ist und auf diese Weise das, was er ist, seine Natur geworden ist (πεφυσιωμένον)“. 60 Der zuletzt zitierte Gedanke des Clemens taucht beim größten Nachfolger des Origenes im 4.  Jahrhundert, bei Gregor von Nyssa, in der Aussage auf: „Und wir sind gewissermaßen die Väter unserer selbst, indem wir uns selbst als die hervorbringen, die wir sein   Ebd. VII 46,9 (GCS Clem. Al. 32, 35).   Ebd. VII 13,3 (GCS Clem. Al. 32, 10). 59   Origenes, in Rom. comm. VIII 10,11 (SC 543, 560). 60   In Ioh. comm. XX 21,174 (GCS Orig. 4, 353). Vgl. ferner in Ioh. frg. 42 (GCS Orig. 4, 517 f.); princ. I 6,3 (GCS Orig. 5, 84); II 6,5 (GCS Orig. 5, 145); in Matth. comm. XVII 21 (GCS Orig. 10, 642); XVII 27 (GCS Orig. 10, 659); Cels. III 69 (FC 50, 636–638). 57

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wollen, und uns durch unsere Entscheidung (προαίρεσις) nach dem Modell bilden, welches wir wollen.“61

4. Der frühchristliche Freiheitsbegriff Die frühchristlichen Philosophen haben mit diesen Ge­ danken ein neues Nachdenken über die Freiheit eingeleitet, das weit über das von ihnen aufgegriffene stoische und pla­ tonische Erbe hinausführte. Die spannende Frage ist jetzt natürlich, wie es dazu gekommen ist. Warum war ihnen die Entscheidungsfreiheit so wichtig? Wie kamen sie dazu, den Freiheitsgedanken durch Aspekte anzureichern, die in eine gegenüber dem philosophischen Substanzdenken neuartige Metaphysik der Freiheit mündeten? Folgende Faktoren scheinen mir dabei eine Rolle gespielt zu haben. Zunächst einmal profitierten die frühchristlichen Den­ ker von einem schon viele Jahrhunderte andauernden in­ tensiven Nachdenken über das Entscheiden und Handeln des Menschen. Platon, Aristoteles, Epikur, Chrysipp und die Vertreter der von ihnen begründeten philosophischen Schulen hatten ausgefeilte Begriffe und Konzepte geschaf­ fen, mit denen sich menschliche Entscheidungs­prozesse und Handlungsmechanismen mit hoher Er­k lärungskraft verständlich machen ließen. Die Gedankenarbeit war zu einem guten Teil geleistet; auch die platonische Kritik am stoischen Determinismus war schon breit entfaltet. Man musste all das sozusagen nur noch zusammenführen, um zu der zentralen Einsicht zu gelangen, dass die Entschei­ dung wirklich frei sein muss, wenn der Mensch dafür ver­ 61   Gregor von Nyssa, vit. Mos. II (GNO VII/1, 34). Vgl. ebd. (GNO VII/1, 56); in Eccl. hom. 6 (GNO V, 380).

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antwortlich gemacht werden soll. Darum ging es ja in die­ ser Debatte von Anfang an, von daher kam immer wieder der Einspruch gegen den stoischen Kompatibilismus. Die frühen Christen zogen gleichsam entschlossen die Konse­ quenzen aus allen diesen Vorgaben. Dass sie dabei die Bedeutung der stoischen Begrifflich­ keit signifikant veränderten, ist eine wichtige Erkenntnis, die nicht stark genug betont werden kann. Die „Freiheit“ (ἐλευθερία), die die Christen propagierten, ist nicht mehr wie bei den Stoikern, nicht zuletzt bei Epiktet, ein idealis­ tisches Lebensziel für die wenigen Menschen, die ihre Vernunft und „das, was an ihnen liegt“, beständig in rech­ ter Weise zu gebrauchen wissen. Die neue christliche Frei­ heit war vielmehr eine Ausstattung mit der „Fähigkeit der freien Entscheidung“ (liberi facultas arbitrii), die jedem Menschen von Geburt an mitgegeben ist und die regel­ recht die „Eigenart seines Wesens“ (qualitas naturae) aus­ macht, wie Origenes einmal formulierte. 62 Von Justin an, der die „freie Entscheidung“ sogleich, als er sie einführte, auf das ganze „Menschengeschlecht“ (τὸ ἀνθρώπειον γένος) bezog, 63 propagierten die Christen einen auf jeden Menschen zutreffenden Freiheitsbegriff. Vom 2.  Jahrhun­ dert an wurden nach wie vor die entscheidungs- und handlungstheoretischen Begriffe der Stoa verwendet, ob­ wohl diese von da an als ‚Schule‘ zu existieren aufhörte; doch auf christlicher (und dann auch auf paganer) Seite hatten sie nunmehr einen anderen Sinn als in den stoischen Denkzusammenhängen. 64   Origenes, princ. II 1,2 (GCS Orig. 5, 108).   Justin, apol. I 43,3 (SC 507, 240). 64   Bobzien, Determinism and Freedom (wie Anm.  2) 345, hat darauf mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hingewiesen: „In all these passages ἐλεύθερος no longer has anything to do with the early 62

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Dazu kam eine neue Kontroverse, in der die frühchrist­ lichen Philosophen die traditionellen Denkmuster ein­ setzten: Die Freiheit der Entscheidung diente ihnen vor allem als Argument in ihrer Kritik am gnostischen Deter­ minismus. 65 In dieser Frontstellung dürfte der hauptsäch­ liche Antrieb dafür zu sehen sein, dass die frühchrist­ lichen Denker die freie Entscheidungsfähigkeit und damit die Wandelbarkeit des Menschen derart eindringlich her­ vorhoben. Gegen die Festlegung des Menschen auf einen bestimmten Charakter, ein bestimmtes Schicksal, eine bestimmte moralische oder religiöse Qualität, nämlich zu den Guten oder zu den Bösen, zu den Erlösten oder zu den Verdammten zu gehören, verteidigten sie die freie Be­ stimmung des Menschen über sich selbst, um so die Mög­ lichkeit seiner Veränderung zu sichern und die Verant­ wortung für seine Taten und Untaten zu wahren. In diesem Bemühen gingen sie dann weit über die apologe­ tische Stoßrichtung hinaus, insofern es ihnen und vor allem Origenes grundsätzlich darauf ankam, „die Mög­ lichkeit freien ethischen Handelns in dieser Welt“ aufzu­ zeigen. 66 Stoic or the Epictetan technical philosophical sense of the word. It is a freedom in which all human beings share, not only the wise. This means that despite this later close link between the expressions ἐλεύθερος and ἐφ᾽ ἡμῖν there is even in later ancient philosophy no evidence that the Stoic concept of ἐλευθερία played a role in the de­ bate about the compatibility of fate and the kind of freedom that is required for moral responsibility.“ 65   Siehe z. B. Irenäus von Lyon, adv. haer. I 6,2 (FC 8/1, 164); IV 4,3 (FC 8/4, 36); IV 37,6 (FC 8/4, 328), gegen die valentinianische Naturenlehre, oder Tertullians Kritik an Markion: adv. Marc. II 5–10 (FC 63, 218–248), ferner Clemens von Alexandria, strom. V 3,2 (GCS Clem. Al. 24, 327), in Auseinandersetzung mit Basilides. 66   So zu Recht Eberhard Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit.

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Ein weiterer Faktor dürfte eine reale Lebenserfahrung dieser Zeit gewesen sein, nämlich die Bekehrung von zu­ nehmend mehr Menschen zum Christentum. Die frühen Christen erlebten an sich selbst, dass Menschen sich än­ dern können und imstande sind, andere Entscheidungen als früher zu treffen und neue Überzeugungen zu vertre­ ten. Justin argumentierte nicht von ungefähr für die freie Entscheidung mit der Beobachtung, dass Menschen nach­ einander gegensätzliche Dinge tun können. 67 Von dieser Lebenserfahrung aus auf den Gedanken zu kommen, dass der Mensch über die Freiheit der Entscheidung verfüge und in der Bestimmung über sich und sein Leben frei sei, war kein so großer Schritt. Und nicht zuletzt dürften biblische Impulse hinzuge­ kommen sein. 68 „Freiheit“ als Begriff kommt in der Bibel, ausgenommen in den Paulusbriefen, kaum vor. 69 Aller­ Theologie des christlichen Handelns bei Origenes (TTS 33), Mainz 1990, 111 Anm.  68, gegen entsprechende Engführungen in der For­ schung, wie sie erneut bei Michael Frede, A Free Will. Origins of the Notion in Ancient Thought, ed. by Anthony A. Long, Berke­ ley/Los Angeles/London 2011, 102–124, begegnen, der trotz einiger richtiger Beobachtungen zu Einzelheiten die originelle Leistung des Origenes verkennt, weil er dessen Grundgedanken nur streift, ohne seine fundamentale Bedeutung zu erkennen (ebd. 111), und die Frei­ heitstheorie des Origenes auf deren antignostischen Aspekte eng­ führt (ebd. 115–120). George Karamanolis, The Philosophy of Early Christianity, London/New York 2013 (22021), 151–157, folgt weitgehend Fredes Darstellung. 67   Justin, apol. I 43,5 (SC 507, 240). 68   Ich verweise hierzu lediglich auf Dihle, Die Vorstellung vom Willen (wie Anm.  27) 79–99, der allerdings einen starken Gegensatz zwischen antikem und christlichem Denken konstruiert, sowie auf Nestle, Art. Freiheit (wie Anm.  31) 280–286. 69  In den ntl. Evangelien begegnet das Adjektiv „frei“ nur in Mt 17,26 und Joh 8,30–36.

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dings ist die Bibel, im Alten wie im Neuen Testament, voll von Befreiungsgeschichten vielfältiger Art, die sich durch­ weg als narratives Plädoyer für die Befreiung des Men­ schen aus jeglicher Form von Fremdbestimmung lesen lassen.70 Die Freiheitstheologie des Paulus kann man als erste christliche Reflexion darüber auffassen, worin diese Freiheit besteht und wie sie erreicht wird, und zwar in den Bahnen des Alten Testaments dadurch, dass diese Freiheit ein Geschenk Gottes (bzw. Christi) ist und darin konkret wird, dass man den Geboten Gottes Folge leistet.71 In die­ sem Sinn haben die frühchristlichen Philosophen die Briefe des Paulus als Einführung in die Freiheit gelesen. Auf dieser Linie schrieb Origenes seinen großen Römer­ briefkommentar, in dem Paulus gegen den gnostischen Determinismus als Lehrer der Freiheit präsentiert wird.72 Aus welchen Motiven heraus auch immer die frühen Christen dazu kamen, die Freiheit der Entscheidung so eingehend zu betonen: Die Bedeutung ihres Freiheitspa­ thos ist kaum zu überschätzen. Aus den sich daraus entwi­ ckelnden Gedanken wurde das Nachdenken über die Freiheit auf eine neue Stufe gehoben. Von Origenes an wurde über Freiheit als ontologisches Prinzip von Gott, Mensch und Welt nachgedacht.73 Auf paganer Seite wurde 70   Siehe dazu Wilhelm Pratscher, Art. Freiheit, in: Johannes B. Bauer (Hg.), Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz/Wien/Köln 4 1994, 179–183. 71   Paulus, Röm 8,21; Gal 2,4; 5,1: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“; Gal 5,13; 1 Kor 7,21 f.; 9,1.19; 2 Kor 3,17: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ 72  Eine Interpretation dieses auf verschiedene Weisen einfluss­ reichen origeneischen Kommentars vor dem Hintergrund des früh­ christlichen Freiheitsdenkens ist ein dringendes Desiderat der For­ schung. 73   Diese Innovation des Origenes ist dargestellt bei Harald Holz,

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dieser Schritt eine Generation später von seinem Platoni­ ker-Kollegen Plotin getan, der in einer seiner Enneaden (VI 8: Περὶ τοῦ ἑκουσίου καὶ θελήματος τοῦ ἑνός) weitrei­ chende Erörterungen über die Freiheit des höchsten Prin­ zips, des Einen, anstellte, die den christlichen Reflexionen über die Freiheit Gottes entsprachen.74 Diese beiden Pla­ toniker, der Christ und der Heide, legten die Grundlagen für eine Metaphysik der Freiheit, in deren Rahmen das Thema fortan traktiert wurde.

Über den Begriff des Willens und der Freiheit bei Origenes, in: NZSTh 12 (1970) 63–84, und Theo Kobusch, Die philosophische Bedeutung des Kirchenvaters Origenes. Zur christlichen Kritik an der Einseitigkeit der griechischen Wesensphilosophie, in: ThQ 165 (1985) 94–105. Eine umfassende und grundlegende Studie dazu stammt von Christian Hengstermann, Origenes und der Ur­ sprung der Freiheitsmetaphysik (Adamantiana 8), Münster 2016. Siehe auch Alfons Fürst, Origenes. Grieche und Christ in rö­ mischer Zeit (Standorte in Antike und Christentum 9), Stuttgart 2017, 110–142. 74   Wie auch zu Origenes kann ich an dieser Stelle lediglich auf ein paar Titel verweisen: Laura Westra, Plotinus and Freedom. A Me­ ditation on Enneads 6.8, Lewiston NY 1990; Dominic J. O’Meara, The Freedom of the One, in: Phronesis 37 (1991) 343–349; Asger Ousager, Plotinus on Selfhood, Freedom and Politics (AJut 79/1, Humanities Seris 76), Aarhus 2004, 121–188; Walter Mesch, Plotin. Metaphysik gestufter Freiheit, in: Uwe An der Heiden/Helmut Schneider (Hg.), Hat der Mensch einen freien Willen? Die Ant­ worten der großen Philosophen, Stuttgart 2007, 74–86; Bernard Collette-Ducic, Plotinus on Founding Freedom in Ennead VI.8 (39), in: Paulina Remes/Svetlana Slavera-Griffin (Hg.), The Routledge Handbook of Neoplatonism, London 2014, 421–436; Philipp Nölker, Freiheit Gottes und Freiheit des Menschen bei Plotin (Enneade VI 8) (Orbis Antiquus 50), Münster 2016.

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5. Vom Platoniker zum Christen auf dem Weg der Freiheit Damit bin ich nunmehr an den Punkt gekommen, an dem ich die Eingangsfrage dieses Beitrags wieder aufgreifen und sie einer möglichen Antwort zuführen kann. Der Weg vom Platoniker zum Christen führte auf dem be­ schriebenen geistigen Terrain über die Freiheit. Und die­ ser Weg war ziemlich leicht. Es waren die kaiserzeitlichen Platoniker, die am energischsten gegen den stoischen De­ terminismus opponierten, obwohl sie die Theoreme und die Terminologie der stoischen Handlungstheorie bereit­ willig übernahmen. Warum nicht den nächsten Schritt tun und konsequent die Freiheit der Entscheidung einfor­ dern? Also warum nicht als Platoniker Christ werden – denn im Christentum wurde dieser Schritt entschlossen getan? Wie konnten Platoniker Christen werden? Ganz einfach: Indem sie die Freiheit des Menschen vom Schick­ sal oder vom Naturdeterminismus konsequent einfor­ derten. Dass dieser Schritt einfach war, lässt sich an einem um­ gekehrten Phänomen erkennen, das zugleich für die Wechselwirkungen steht, die es zwischen Platonismus und Christentum gegeben hat. Vom Ende des 2.  Jahrhun­ derts an wurde es im Gefolge des christlichen Sprach­ gebrauchs auch in paganen Texten üblich, die „Entschei­ dung“ explizit als „frei“ zu bezeichnen.75 Alexander von Aphrodisias ist um 200 n.Chr. der erste greifbare pagane Autor, der die „Verfügungsgewalt“ (αὐτεξούσιον, τὸ ἐφ᾽ ἡμῖν) des Menschen über sich selbst als „frei“ (ἐλεύθερον) 75   Bemerkt von Bobzien, Determinism and Freedom (wie Anm.  2) 344 f.

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bezeichnete,76 doch tat er dies gleichsam en passant, ohne großen Nachdruck auf dieses Wort zu legen und ohne da­ rauf näher einzugehen. So wichtig wie seinen christlichen Zeitgenossen war ihm das offenbar nicht, aber immerhin: Er fing an, sich ebenso auszudrücken. Von da an ging es auf christlicher wie auf paganer Seite um Freiheit, wenn über Selbstbestimmung nachgedacht wurde. Plotin fragte im Zusammenhang mit der „Verfügungsgewalt“ (τὸ ἐφ᾽ ἡμῖν) nach der „Freiheit“ (τὸ ἐλεύθερον),77 und Nemesius, der christliche Bischof von Emesa, der in seiner anthro­ pologischen Schrift Über die Natur des Menschen pa­-­ gane philosophische Traditionen fortschrieb, stellte die „Freiheit“ (ἐλεύθερον) neben die „Selbstbestimmung“ (αὐτεξούσιον) und postulierte, dass „das, was an uns liegt, frei sein muss“ (ἐλεύθερον γὰρ εἶναι δεῖ τὸ ἐφ᾽ ἡμῖν).78 Die zugegebenermaßen etwas steile These lautet daher: Wenn man schon als Platoniker die Freiheit verteidigte, warum dann nicht gleich Christ werden, wo doch diese das – noch dazu in den Bahnen der platonischen Kritik am stoischen Determinismus – noch ungleich stärker taten? Zudem ging es dabei um Fragen der praktischen Philoso­ phie, die von erheblicher Lebensrelevanz waren, nicht um Feinheiten der theoretischen Philosophie, wo sich leichter Differenzen zwischen Christentum und Platonismus auf­ taten. Es ging um eine Grundfrage des menschlichen Da­ seins. Da zogen Platoniker und Christen gegen die Stoiker an einem Strang und bewegten sich mit ihrem Freiheits­ 76   Alexander von Aphrodisias, fat. 18 (p.  188 Bruns). 19 (p.  189 Bruns). 77   Plotin, enn. VI 8,4–6 (39,25–54), die zitierten Begriffe ebd. VI 8,4.6 (39,26). 78   Nemesius von Emesa, nat. hom. 2 (p.  36 f. Morani). 35 (p.  105 Morani).

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begriff grundsätzlich auf dem gleichen Terrain. Könnte das erklären, weshalb fast alle spätantiken christlichen Denker platonisch dachten – und nicht stoisch, trotz vie­ ler Einflüsse der Stoa auf das Christentum? Weshalb man ungeachtet anderweitiger Differenzen, die gar nicht in Abrede gestellt werden sollen, Platoniker und Christ zu­ gleich sein konnte? Es gab gewiss noch viele andere Grün­ de dafür, als Christ platonisch zu denken. Die grund­ legende Bedeutung der Freiheit des Menschen dürfte einer davon gewesen sein.

Platonismus und Christentum. Ihre Beziehungen und deren Grenzen Ein persönlicher Dank und eine Antwort * 1

Barbara Aland Liebe Eve-Marie Becker und liebe Vortragende: Herr Mark­schies, Holger Strutwolf, Herr Pietsch und Herr Fürst! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Sie haben mit die­ sem Kolloquium ein Thema aufgenommen, das mich seit langem beschäftigt, und Du, liebe Eve-Marie Becker, hast das gemerkt und mit Holger Strutwolf zusammen diesen Nachmittag sorgfältig geplant und mühevoll organisiert. Ich bin Euch sehr dankbar dafür und freue mich herzlich darüber. Ich danke auch der Herrmann-Kunst-Stiftung zur Förderung der neutestamentlichen Textforschung, die einen finanziellen Beitrag geleistet hat, und grüße diese mir so vertraute Stiftung in bleibender Verbundenheit. Sie, liebe Vortragende, haben das vorgeschlagene Thema, das mich vor allem aus soteriologischen Gründen interes­ sierte, in großer Breite aufgenommen und vielfältige Ver­ *   Der vorliegende Beitrag, der angesichts fortgeschrittener Zeit nicht mehr am Tag des Kolloquiums selbst vorgetragen werden konnte, wird erstmals hier vorgestellt und behält bewusst die Form des mündlichen Beitrags bei.

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bindungsmöglichkeiten aufgezeigt wie auch Warnungen vor Fehlschlüssen ausgesprochen, die neue Perspektiven aufzeigen. Platonismus und insbesondere Neuplatonismus, das ist eine auf menschlicher Vernunft – antiker, nicht moderner Vernunft – gegründete Philosophie, die den Menschen nicht absolut setzt, sondern ihn einbindet in seinen Ur­ sprung, Gott, das schlechthin Eine und Gute, und ihm zeigt, dass er nicht nur herstammt von diesem Einen und Guten, sondern dass er in seiner so genannten Seele die Spur dieses Einen besitzt, die ihn trägt und auf die er im­ mer zurückgreifen und anknüpfen kann und soll, wohin er auch immer in dieser seiner körperlichen Existenz ge­ fallen sein mag. Das markiert eine Nähe zum christlichen Glauben, die kaum zu übersehen ist. Gleichzeitig besteht eine entscheidende Differenz zur christlichen Offenba­ rungsreligion – denn dass Gott sich zum Menschen herab­ neigen, dass Gott als Erlöser für den Menschen sterben und auferweckt werden könnte, war für die platonische Vernunft nicht nur schlechterdings undenkbar, sondern auch gänzlich unnötig, so dass platonische Philosophen auch die erbittertsten Feinde der Christen werden konn­ ten. Keiner hat so heftige Streitschriften gegen die Chris­ ten geschrieben wie gerade die Platoniker. Wie also ist beides in Beziehung zu setzen und: Ist es überhaupt in Beziehung zu setzen? 1. Da ist zunächst gleich eingangs das Problem der sprach­ lichen Ausdrucksweise, auf das Sie, Herr Markschies, auf­ merksam machen, oder, umfassender gesagt, die Frage, inwiefern man sich gegenseitig überhaupt verstanden hat oder auch nur auf gleichem fachwissenschaftlichem Ni­ veau argumentierte, worüber Sie an einem eindrücklichen

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Beispiel handeln. Eine überaus berechtigte Frage, die ins Zentrum des Themas führt. Denn Sie zeigen eindeutig und unwiderleglich, dass das ποτέ des Arius in der be­ rühmten, in Nicäa mit dem Anathem belegten Formulie­ rung, wie auch ähnliche zeitrelevante Partikeln des Arius nur Sinn ergeben, wenn sie in einem logischen Sinne ver­ standen werden, wenn also Zeitlichkeit anzeigende Worte metaphorisch verwandt werden und damit ein zeitloses, kausales Abhängigkeitsverhältnis des Sohnes vom Vater bezeichnen, ohne dass klargemacht würde, wie das ποτέ, πρίν oder πρό präzise zu interpretieren sind. Daran ist si­ cher nicht zu rütteln. Klar ist aber auch, dass mit dieser unpräzisen Formulierung das Beweisziel des Arius er­ reicht ist, nämlich die Betonung der Einzigartigkeit Gottes, der allein anfangslos und ungezeugt ist, und da­ mit von dem Sohn, der gezeugt ist, zwar vom Vater allein gezeugt, aber doch gezeugt ist und damit einen Anfang hat, grundsätzlich unterschieden ist. Klar ist auch, dass man sich in Nicäa gegen diese These des Arius wandte, die auch biblisch zu belegen ist. Man denke nur an die be­ rühmte Formulierung von Spr 8,22 f.: „Der Herr erschuf mich als Anfang seiner Wege auf seine Werke hin. Vor der Zeitdauer“ (‚πρὸ τοῦ αἰῶνος‘; αἰών im Sinne von langen Zeitabständen oder eben Ewigkeit) „hat er mich gebildet am Anfang.“ Die unpräzise, lediglich metaphorische Nut­ zung der zeitlichen Partikel reichte also aus für das Be­ weisziel des Arius und das Verdammungsurteil des Kon­ zils. Was heißt das aber für das Verhältnis von Platonismus und Christentum? Sie sprechen, Herr Markschies, am Schluss Ihrer Ausführungen davon, dass man über eine „Zeit vor aller Zeit“ in einem nichtmetaphorischen Sinne nachdenken müsse, wenn man sich nicht mit der „schlich­

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ten Antwort“ begnügen wolle, dass das, was (beispielswei­ se in der biblischen Schöpfungsgeschichte) vor der Zeit geschieht, lediglich eine logische Abfolge darstelle, der keine zeitliche Ausdehnung zukommt. Späte neuplato­ nische Autoren haben das getan. Zu fragen wäre daher mit Ihnen, Sie deuten es selbst an: Wollte Arius überhaupt zum Platonismus Stellung nehmen? Wollte er sich in plato­ nischen Kategorien sachgemäß äußern? Wenn das nicht der Fall wäre, könnte man ihm wegen seiner Ausdrucks­ weise wohl auch keine fachphilosophische Inkompetenz zuschreiben. Eine Frage wäre weiterhin: Ist die zitierte Antwort des Arius im Sinne der christlichen Autoren wirklich „schlicht“? Im Sinne des Arius und seiner Gegner sicher nicht, denn sie weist ja auf einen grundlegenden Un­ terschied beider christlicher Parteiungen hin. Die Frage, die Sie daher zu Recht aufwerfen, scheint mir deshalb nicht so sehr das nicht zu überschätzende philosophische Ni­ veau vieler christlicher Autoren zu sein (auch das ist g­ ewiss wichtig, wie der unvergessene und schmerzlich vermisste Matthias Baltes in seiner Weise an Marius V ­ ictorinus ge­ zeigt hat), sondern was wir überhaupt vergleichen können, wenn wir Platonismus und Christentum in Wechselwir­ kung sehen. Dazu nimmt in ganz anderer Weise, aber höchst aufschlussreich Holger Strutwolf Stellung. 2. Du, Holger, stellst mit Eusebius von Cäsarea einen christlichen Autor in den Mittelpunkt Deiner Erörte­ rungen, der nun ganz gewiss vom Platonismus und ins­ besondere vom Neuplatonismus etwas verstand und die Schriften Plotins gekannt hat. Es geht Dir dabei um die schwierige Frage, ob und wie jeweils bei dem Begründer des Neuplatonismus und bei dem christlichen Denker der Hervorgang eines Zweiten aus der zu erschließenden

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höchsten Dimension des Göttlichen gedacht oder zumin­ dest beschrieben werden kann – beide benutzen dafür u. a. das Bild der „ewigen Zeugung“. Dankenswerterweise machst Du in gelehrter Ausführung sehr klar, welche Notwendigkeiten, aber auch welche Schwierigkeiten sich bei der bekannten neuplatonischen Übergipfelung des Geistes durch das Eine und Höchste ergeben, das Eine, das nur noch Ursache, nur Bedingung der Möglichkeit ­jeder Einheit ist, selbst aber nicht mehr an der Einheit teil­ haben kann, weil das Differenz implizieren würde, das Eine also, von dem nichts ausgesagt werden kann, das pure x, wie Heinrich Dörrie es nannte. (Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit gern an die regelmäßigen Samstag-­ Vormittage, an denen er vor langer Zeit mit seinen As­ sistenten und andern Interessierten wie mir in seiner Wohnung Plotin las.) Wie aus dem so gearteten Einen, der schlechthinnigen Ursache zwar, über die aber nichts aus­ gesagt werden kann, etwas, Vielheit, die Wirklichkeit als Ganze, hervorgegangen sein soll, ist allenfalls mit Bil­ dern  – so dem Leuchten der Sonne, die in sich verharrt, während sie von dem sie umstrahlenden Glanz umgeben wird – zu umschreiben, nicht spekulativ, denkend, abzu­ leiten. Du sprichst, Holger, bei der berühmten Frage, wie­ so das Eine nicht bei sich selbst verharrte, sondern die Vielheit aus ihm geflossen ist, von einer Aporie, einem Rätsel. Aber ist das wirklich so? Dazu gleich. Zugleich hebst Du die christliche Antwort des Eusebius auf die gleiche Frage positiv davon ab. Der Christ Eusebi­ us nämlich, der von der weitgehenden Übereinstimmung platonischer und christlicher Lehre überzeugt ist und das bei der Darlegung seiner Logoslehre mit Zitaten aus Plo­ tin geschickt untermauert, übergeht an der kritischen Stelle des Hervorgangs der Vielheit aus dem Einen Plotins

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Angaben zur Sache, seine „Aporie“, wenn es denn eine ist, stillschweigend – Du hast das methodisch sehr bewusst angemerkt. Denn für den Christen besteht hier keinerlei Schwierigkeit. Selbstverständlich ist der Sohn nach dem Beschluss und dem Vorsatz (κατὰ γνώμην καὶ προαίρεσιν) des Vaters aus ihm hervorgegangen. Weil er es wollte, ist Gott Vater des Sohnes geworden – alles Aussagen, die für Plotin von dem Einen, das keine Selbstreflexion hat, nicht möglich sind. Er muss vielmehr sagen, dass das Eine sich dem aus ihm hervorgehenden Geist weder zuneigte, noch einen Willensentschluss fasste (οὐ προνεύσαντος οὐδὲ βουληθέντος). Bei der Aufzählung der Übereinstim­ mungen christlicher mit platonischer Lehre kann sich der Christ hier nur – inkorrekt – mit dem stillschweigenden Übergehen der neuplatonischen Argumente helfen. Dazu nun aber meine Frage: Du, Holger, erklärst die Nötigung des Christen Eusebius zum inkorrekten Über­ gehen der plotinischen Argumente mit der „personale[n] und kommunikative[n] Struktur des christlichen Gottes­ bildes“ (S. 64), die für Plotin, der eine „rein naturhafte Seinsrelation“ (S. 60) zwischen erster und zweiter Di­ mension des Göttlichen vertrete, nicht erschwinglich ist. Aber: Ist die Rede von einem personalen oder apersonalen Gottesbild hier wirklich klärend, den Unterschied zwi­ schen christlichem und platonischem Denken wirklich bezeichnend? Ich gehe sogar so weit zu fragen: Kann dem plotinischen Verhältnis von Gott und Mensch Kommuni­ kation und sogar in gewissem Sinn Personalität ganz ab­ gesprochen werden? Auch von Plotin kann das Eine ja „Vater“ genannt werden. Aber davon abgesehen: Eindeu­ tig ist zweifellos, wie oben schon deutlich geworden ist, dass der Hervorgang der Vielheit aus dem Einen denkend nicht abgeleitet und begründet werden kann. Wie sollte es

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auch, da doch die Einung, wenn sie denn geschieht, be­ dingt, dass alles Denken fahren gelassen wird. Aber: Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir von unten, vom Menschen her, denken. Wir haben in unserer Seele ja die Spur des Einen in uns, einen Rettungsanker, der uns immer hält, wohin wir auch gefallen sein mögen, des Einen, das „ungeheure Sehnsuchtskräfte“ (δεινοὺς πόθους) in uns weckt und „intensive Liebe“ (ἔρωτα σύντονον) zu sich erzeugt, wenn wir diesen Rettungs­ anker denn angemessen, nämlich alle materiehafte Viel­ heit fortlassend, ergreifen (enn. VI 7,34,1–4), des Einen, das „die Seele kraftvoll zu sich hinzieht (ἕλκον πρὸς αὑτο) und fortruft aus aller Irrfahrt, damit sie bei ihm zur Ruhe komme“ (ἀνακαλούμενον ἐκ πάσης πλάνης, ἵνα πρὸς αὐτὸ ἀναπαύσαιτο, ebd. VI 7,23,1–4), wie es vielfältig – hier in der 38. Schrift, aber auch darüber hinaus – bei Plotin heißt. Ist damit nicht auch ein „kommunikatives“ Verhält­ nis zwischen Mensch und Gott bezeichnet? Zumindest aber eine grundlegende, uns erhaltende Hilfe Gottes, auf­ grund derer allein wir unser Leben sinnvoll führen kön­ nen? Will man hier abgrenzen, wird man die Diskussion weiterführen können und müssen. Hier läge ein Deside­ rat. Der Unterschied zum christlichen Gottesbild ist selbst­ verständlich nicht zu übersehen. Er wird z. B. deutlich aus Plotins Äußerung aus der so genannten Großschrift un­ mittelbar vor der direkten Auseinandersetzung mit den christlichen Gnostikern. Es heißt da, der Gott, der Gott Plotins also, werde, wenn er geschaut wird, sichtbar, „nicht als einer, der kommt, sondern vor allem schon ge­ genwärtig war“ (ὡς οὐκ ἐλθών, ἀλλὰ πρὸ ἁπάντων παρών, ebd. V 5,8,15), und es sei ein Wunder, wie er „nicht kommt und doch da ist“ (ebd. V 5,8,23). Für Plotin ist es nichts

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mit dem kommenden Christus, nichts mit dem „kommen­ den Glauben“ aus Gal 3,23. Das ist gewiss wahr, und das macht das unüberbietbare Mehr des christlichen Glaubens aus. Aber kommunikative und vielleicht auch personale Struktur ist nicht nur dem christlichen Gottes­ verhältnis zuzuschreiben. Und ebenso nicht Wahrheitser­ kenntnis. Denn zwar können wir – platonisch gedacht – die Gründe für den Hervorgang des Vielen aus dem Einen nicht denkend erfassen, aber sie bleiben kein Rätsel, keine reine Aporie. Der Mensch kann sie aufgrund seiner Er­ fahrung mit dem Einen, der Spur des Einen in ihm, an­ satzweise erfassen: ἀγαθὸς ἦν (Platon, Tim. 29 d 7). Sie liegen im Gut-Sein Gottes, das neidlos nicht bei sich selbst bleibt, ein Gut-Sein, das dem unbeschreibbaren Einen zwar ständig zugeschrieben wird, was ja aber auch nur möglich ist, weil es aus der Erfahrung des Menschen mit der Spur des Einen in sich wahrhaftig zu erschließen ist. 3. Sie, Herr Pietsch, wählen mit Augustinus den christ­ lichen Autor zur Darlegung Ihrer These aus, der wohl am stärksten von allen die Nähe und die Distanz zwischen platonischem und christlichem Denken betont und, grob zusammengefasst, auf die erstaunliche Formel gebracht hat, die Bücher der Platoniker hätten ihn das Vaterland schon aufblitzen sehen (man höre!), nicht aber den Weg dahin zeigen können. Eine ausgezeichnete Wahl. Sie de­ monstrieren nun – wenn auch mit einer letzten Reserve – eine andere Perspektive der Nähe von Platonismus und Christentum. Sie zeigen die „hohe exegetische Leistungs­ fähigkeit“ des Platonismus „bei der Anwendung auf die Hl. Schrift“ (S. 88), und ich stimme Ihnen vollständig zu: Ja, es ist gewiss mehr als nur eine Öffnung gegenüber dem Zeitgeist, die Augustinus den Platonismus als „passenden

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hermeneutischen Schlüssel für die Klärung biblischer Aussagen nutzen ließ“ (S. 69). Sie erläutern das an Gen 2,4–6, einer Bruchstelle des alttestamentlichen Textes also, wo die beiden ursprüng­ lich nicht zusammengehörigen Schöpfungsberichte der Genesis zusammenstoßen. Sie zeigen am Beispiel von Au­ gustins Auslegung in De Genesi ad litteram völlig über­ zeugend auf, wie er die damit gegebene Schwierigkeit – zwei sich überschneidende, verschiedene Akzente setzende Schöpfungsberichte? – unter Zuhilfenahme pla­ tonischen Providenzdenkens überzeugend beheben und den biblischen Text als so, wie er vorliegt, notwendig und widerspruchsfrei verstehen lehren kann. Sie entwickeln dafür zunächst in vorbildlicher Klarheit die platonische Lehre von der Providenz. Sie ist sich schon von Platon an im Wesentlichen gleich geblieben und be­ steht, grob im Ergebnis zusammengefasst, in einem cha­ rakteristischen Dreischritt von einem obersten Gott, der aber nur als das Prinzip von Providenz bestimmt werden kann, dann auf der Ebene des Geistes von der Providenz im eigentlichen Sinne, die die Fülle der ideellen, noch nicht körperlichen Prinzipien bezeichnet, und schließlich erst auf dritter Ebene von der Wirkung dieser Providenz in der sichtbaren, körperlichen Welt, die erst aufgrund der kreativen Potenz der Ideen entsteht (vgl. S. 74 und 82 f.). In vorbehaltloser Übernahme dieser Unterscheidungen kann Augustinus, so zeigen Sie, die beiden Schöpfungs­ berichte der Genesis als widerspruchsfrei und notwendig in ihrer nur scheinbaren Doppelheit klären. Denn der erste Bericht, das so genannte Sechs-Tage-Werk Gottes, beschreibt lediglich die durch Gottes Wort hervorge­ brachten, unwandelbaren, ewigen Formen, die Ideen der Wirklichkeit, die noch nicht körperhaft wirklich sind,

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also die zweite Stufe des oben vorgestellten Dreischritts, und zwar in Augustins Sicht in der Perspektive der Engel, die die geistige Fülle der Ideen zwar sehen, aber nicht her­ vorgebracht ­haben. Die erste Stufe des Dreischritts ist al­ lein im Wort Gottes beschlossen. Erst der zweite Schöp­ fungsbericht der Genesis beschreibt dann die Entstehung der sichtbaren Welt, entsprechend dem dritten Schritt der platonischen Providenzlehre. Beide Schöpfungsberichte der Genesis sind also keine unglaubwürdige Doppelung, sondern beschreiben in Augustins Sicht wie im Wort Gottes die Prinzipien der sichtbaren Welt zwar umschlos­ sen liegen, aber erst in einem zweiten Schritt in ihrer Fülle durch die Schau der Engel differenziert und dann in einem dritten Schritt real und sichtbar werden (vgl. S. 78–83). Das haben Sie aus meiner Sicht völlig überzeugend dar­ gelegt. Daran schließt sich für mich die Frage an: Was be­ deutet das für Augustins Stellung zum Platonismus? Sie sagen, es sei die „hohe exegetische Leistungsfähigkeit bei der Anwendung auf die Hl. Schrift“ gewesen, die einen Christen zum Platoniker werden ließ (S. 88). Damit ist ­sicherlich nicht gemeint, dass im Platonismus lediglich ein nützliches exegetisches Werkzeug vorlag, dessen sich Au­ gustinus gern bediente. Sie differenzieren sachlich noch genauer, dass dem Christen Augustinus „überall dort, wo es um das Verständnis der Welt als einer natürlichen Ord­ nung und nicht um die spezifisch christlichen Heilswahr­ heiten geht“, der Platonismus als eine kongeniale Sicht er­ schienen sei (S. 87 f.). Von Ihrem Beispiel aus kann man gewiss so formulieren. Aber – so möchte ich auch an dieser Stelle weiterfragen: Kann man grundsätzlich so trennen? Hier die Anschauung der Welt als einer natürlichen Ord­ nung, dort die christlichen Heilswahrheiten? Muss man nicht genauer sein? Inwieweit liegt Wahrheitserkenntnis

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für Augustinus auch bei den Platonikern vor? Das scheint mir genauer zu beantworten zu sein. Ich zumindest würde einerseits zögern, mit Ihnen von einer „auch sachlich be­ gründeten ‚Taufe‘ dieser paganen Philosophie“ (S. 88) zu sprechen, und zwar angesichts des ­ natürlich auch von ­Ihnen hervorgehobenen gänzlichen Fehlens von Joh 1,14 (verbum caro factum est) dort. Andrerseits frage ich: Wo liegen Übereinstimmung und Grenzen hier genau? Welche Rolle spielt die Soteriologie auch im Platonismus, und in­ wiefern liegen soteriologische A ­ spekte auch der neuplato­ nischen Gotteslehre zugrunde? Um mit Augustinus zu reden, wünschte ich, man könnte in modernen Worten sagen und vermitteln, was er zu seiner Zeit formelartig im­ mer wieder in ähnlicher Weise ausdrückte, nämlich, der Platonismus habe ihn schon das Vaterland sehen lassen (nota bene!), nicht aber den Weg dahin. Das würde ein klareres Bild vermitteln, als wir es jetzt besitzen. Ich wünschte mir, wenn ich das hier bescheiden anhän­ gen darf, und wohl wissend, wie schwierig das ist, dass Platonismusforscher wie christliche Theologen noch mehr, als das bisher schon geschieht, auf die wesentlichen Hauptanliegen der jeweils anderen Seite eingehen oder auch nur darüber unterrichtet sind, um sie, wenn auch möglicherweise nur in Spuren, in ihrem ureigenen Ar­ beitsfeld wieder zu entdecken oder doch Reaktionen da­ rauf zu bemerken. Übereinstimmungen wie auch mög­ liche Defizite der jeweils eigenen, auch der platonischen Position, im Vergleich zur anderen, auch der christlichen, zu entdecken, wäre vielleicht möglich. Mit Vorsicht erwähne ich hier nur Porphyrios, der ei­ nerseits gewiss ein Platoniker war und blieb und über­ zeugt war, dass eine jeweils höhere Seinsstufe sich nicht zu einer niedrigeren, sondern stets nur nach oben hinwenden

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könnte (vgl. sent. 30,1–3 Lamberz), daher ein erbitterter Gegner der Christen war, wie Augustinus ihn in De civitate dei zu Recht nennt, und den er doch ebenda auf lange Strecken hin zu seinem bevorzugten Gesprächspartner erwählt. Bestehen hier Zusammenhänge, die sich nicht nur in reinster Polemik erschöpfen? Porphyrios, der and­ rerseits auch in seiner Streitschrift gegen die Christen Äu­ ßerungen tat, die auf ein zwar ablehnendes, aber, wie mir scheint, sehr wohl verstehendes, möglicherweise sogar verzweifeltes Ablehnen der christlichen Position schlie­ ßen lässt. Dem müsste natürlich genauer nachgegangen werden. Ich wünschte mir also, dass bei der Erforschung der beiden Blöcke Platonismus und Christentum mehr noch auf deren doch auch vorhandene, gegenseitige Nähe und Verbindung geachtet würde, nicht nur auf die gewiss bestehende „Bedrohung“, die sie jeweils für den anderen bedeuteten. Auch Plotins Attacke gegen die christlichen Gnostiker in Enneade II 9 wäre hier sicherlich ein Thema. Plotin ließ sich zwar nicht dazu herab, die gegnerische ­Position der christlichen Gnostiker ausführlicher zu be­ schreiben. Das in enn. II 9,15,32–34 und 18,17–20 von ihm jeweils nur Angedeutete, die bittflehende Hinwendung der Christen auf Gott und die in Christus begründete Bruderschaft aller Glaubenden, die auch für die christ­ lichen Gnostiker gilt, lässt aber sehr wohl erkennen, dass er die Hauptargumente seiner Gegner sehr wohl verstan­ den hat und sie ihn nicht unberührt gelassen haben. Auch Holger Strutwolfs vorbildlicher Hinweis auf eine mögliche reservatio mentalis Plotins (S. 66 f.) ist hier an­ zuführen. Ein gewisses Verständnis für die Denkbarkeit der christlichen Position scheint sich hier anzudeuten. Wären sogar Anregungen von christlicher Seite auf die platonische vorstellbar?

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4. Sie, Herr Fürst, nun erfrischen den nach all der Kon­ zentration auf die gewichtigen Vorträge schon leicht zu ermüden drohenden Zuhörer mit einem Vortrag, wie Sie später im Gespräch sagen, „aus der praktischen Philoso­ phie nach all der Ontologie“. Sie handeln von der Freiheit, für die Ihr Herz schlägt, wie man aus Ihren vielfältigen Arbeiten, nicht nur zu Origenes, aber dort besonders, ent­ nehmen kann. Sie machen auf die bemerkenswerte Tatsa­ che aufmerksam, dass es Christen waren, die zum ersten Mal von der „Freiheit der Entscheidung“ – in der Verbin­ dung beider Begriffe – sprachen, und selbstverständlich mussten sie das tun. Denn wenn sie von irgendeiner De­ terminierung der menschlichen Entscheidung ausgegan­ gen wären, wie hätten sie dann etwa verstehend glauben können, dass Menschen auf Jesu Anruf hin, auf seinen Ruf in die Nachfolge hin, ihm alles zurücklassend folgten, wie im Neuen Testament vielfach berichtet wird (vgl. etwa Mt 9,9). Mit dieser Einsicht aber, dass es entschieden not­ wendig sei zu betonen, dass die Entscheidung nicht deter­ miniert sein dürfe, stimmten die Christen mit anderen, die das Gleiche aus ganz anderen Gründen dachten, über­ ein, nämlich mit der großen Gruppe der vornehmlich auch platonischen Gegner eines stoischen Kausaldeter­ minismus. Ihnen ging es darum die Verantwortung des Menschen für sein Tun und damit die Grundlage für Ethik und Moral zu sichern. Aber was auch immer die Gründe waren, eine Nähe zwischen christlichen und an­ deren Gegnern eines Determinismus der Entscheidung war hier zweifellos gegeben, und das zu betonen ist wich­ tig, weil Sie damit einen ganz neuen möglichen Anknüp­ fungspunkt aufzeigen, über den Christen und Nichtchris­ ten ins Gespräch kommen konnten. Denn wenn sie merkten, dass der jeweils andere in einem ihnen ganz

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wichtigen Punkt, der Möglichkeit des Menschen zu freier Entscheidung, ihre eigene Ansicht teilte, was lag dann nä­ her als sich darüber und über die Gründe dafür ausführ­ lich auszutauschen. Ein Gespräch zwischen Christen und Nichtchristen war eröffnet, und was konnte wichtiger sein als ein Gespräch! Sie haben damit eine echte Form von zwischenmenschlicher Nähe zwischen Platonikern und Christen entdeckt, die möglich wird in der gemein­ samen Ablehnung von stoischem Determiniert-Sein. Das ist wichtig, insbesondere im täglichen Miteinander und kann zu Weiterem führen, was wir praktisch bedenken sollten. Andrerseits aber: Wenn Freiheit auch bedeutet: tun können, aber auch tun wollen, was man wollen kön­ nen soll, dann sehe ich noch nicht, wie es ein leichter Weg vom Platoniker zum Christen gewesen sein könnte, es sei denn, man wollte auch Plotins Enneade VI 8,4–7 und na­ türlich Augustinus mitbedenken. Sie weisen darauf hin, aber das betrifft dann schon eine spätere Zeit, die nicht mehr ausdrücklich in Ihrem Blickfeld liegt. Ich komme zum Ende, indem ich an den Anfang anknüpfe. Da war von dem Sprachproblem die Rede, der Frage, was es zu bedeuten habe, dass Christen zuweilen, gemessen an platonischer Begrifflichkeit, nicht präzise, sogar wider­ sprüchlich zu formulieren scheinen. Wollten sie gar nicht auf platonische Zusammenhänge Bezug nehmen oder ver­ standen sie sie nicht recht? Um eine widersprüchliche Aus­ sageweise geht es auch in dem, was ich abschließend von Marius Victorinus zitieren möchte – hier allerdings nur zu klar als absichtlich zu durchschauen und zu verstehen. Marius Victorinus wurde schon erwähnt: der hochbe­ rühmte, neuplatonisch gebildete Rhetor, der in Rom, dem zu Anfang der zweiten Hälfte des 4.  Jahrhunderts in den

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Kreisen, die auf sich hielten, noch weitgehend heidnischen Rom, in aller Öffentlichkeit zum Christentum übertrat – gaudente ecclesia, mirante Roma (die Kirche jubelte, Rom war baff), wie Augustinus berichtet. Marius Victorinus hat neben schwierigen Traktaten schlichtere Hymnen geschrie­ ben, in denen er in hervorragender Klarheit ausdrückt, was er zu sagen hat. Ich zitiere kurz aus dem 2. Hymnus, der in Strophen zu unterteilen ist, die jeweils durch Miserere domine, Miserere Christe eingeleitet sind. Also: Miserere domine, miserere Christe („Erbarme dich, Herr! Erbarme dich, Christus!“)

Hier spricht eindeutig der Christ. Dann aber: „Eine Seele, Gott, hast du mir geschenkt“ (Animam, Deus, dedisti mihi).

Hier redet der Autor in neuplatonischer Begrifflichkeit. Denn er spricht hier mit der Seele den schon von Plotin als solchen benannten Rettungsanker an, die Spur des Einen in uns, die dem Menschen gegeben ist, und an die er im­ mer anknüpfen kann. Das bestätigt und erklärt er in der nächsten Zeile, indem er hinzufügt: „Die Seele aber ist Abbild des Lebens, denn die Seele lebt“ (animam autem imago vitae est, quia vivit anima)

– scheinbar völlig überzeugte neuplatonische Heilsge­ wissheit also: Die Seele hält und trägt uns. Und dann die letzte Zeile: der – neuplatonisch gesehen – völlige Wider­ spruch, die nach neuplatonischen Kriterien gemessene Sinnwidrigkeit: die Bitte des Autors an Gott: „In Ewigkeit lebe auch meine Seele“ (In aeternum vivat et anima mea).

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Ja, so könnte ein neuplatonischer Freund den Marius Vic­ torinus fragen: Hast du es denn nicht begriffen: Du hast doch in der Seele den Anknüpfungspunkt, an dem du im­ mer wieder anfangen und festhalten kannst. Pack es also an, ergreife diesen dir doch gegebenen Rettungsanker! Aber, ach, wir verstehen nur zu gut, was gemeint ist. Der Angesprochene vermag es nicht, diesen Rettungsanker zu ergreifen. Er vermag es nicht, von allem loszulassen und sich auf das ihm mit der Seele gegebene Potential, sein ei­ genes Selbst, zu konzentrieren, auch wenn „Sehnsuchts­ kräfte“ ihn nach oben ziehen. Der Christ Gewordene ver­ mag nur eins: in von ihrem Ursprung her widersprüchlicher Sprache die Barmherzigkeit Gottes auf sich herabzu­ flehen, die Barmherzigkeit, nicht das Gut-Sein Gottes. Beides ist nicht identisch. In scheinbar sinnloser Sprache drückt Marius Victorinus hier – für jedermann verständ­ lich – aus, was für ihn der unbedingte Mehrwert des ­Christentums gegenüber dem Platonismus ist, der Mehr­ wert, obwohl – und das ist für mich das Faszinierende am Platonismus – auch dieser schon gesehen hat, dass der Mensch nicht aus sich, aus so genanntem Eigenen, sein ­Lebensziel erreichen kann, sondern göttlicher Hilfe und Zugkraft bedarf. Ich danke Ihnen allen von ganzem Herzen dafür, dass wir das miteinander bedenken konnten und fasse meinen Dank in die Worte des Marius Victorinus, der das auch getan hat: Miserere, domine, miserere, Christe!

Indices*

1

1. Personenregister Alexander (Bischof)  19 f., 25 f. Alexander von Aphrodisias  36–39, 81, 96, 118 Alkinoos 98 Ammonius Saccas  55 Apuleius  33, 98 Aristoteles  36, 47, 92, 101, 105, 112 Arius  13 f., 18–27, 30 f., 34–40, 123 f. Atticus  43 f. Augustinus  3, 31, 39, 76–79, 81–85, 87–89, 100, 128–132, 134 f.

Diogenes von Oinoanda  96 Diogenianos 96

Bardesanes 106–108

Justin, der Märtyrer  2–5, 42, 54 f., 89, 99, 106–108, 113, 115

Chalcidius  71 f., 75 f., 84 Cicero  97, 100 Clemens von Ale­ xandria  106, 110 f. Chrysipp  90, 93 f., 96 f., 112

Epiktet  102, 104–106, 113 Epikur  95, 112 Euseb von Caesarea  20, 43, 57–62, 106, 124–126 Galen 96 Gregor von Nazianz  62–64 Gregor von Nyssa  62–64, 111 Irenaeus/Irenäus von Lyon  27, 31, 106, 108 f.

Karneades 97 Kelsos  18, 45, 92 Kleanthes 90 Konstantin 12

*   Die Indices wurden erstellt von Miriam Görtz und Alexander Michelis (beide Münster).

138

Indices

Lukrez 100 Marius Victorinus  64–66, 124, 134–136 Nemesius 119 Nietzsche, Friedrich  41 Numenius von Apamea  43, 45, 47 Oinomaos von Gadara  96  Origenes  13 f., 20, 34–37, 45, 55–57, 92, 97, 105, 110 f., 113–117, 133 Paulus  1, 42, 116 Philon  102–106, 109 Platon  4 f., 21–23, 29, 44, 58, 65, 70–72, 75 f., 81, 101, 112, 129

Plotin  3, 24, 31, 44 f., 47–61, 65–68, 71, 75, 117, 119, 125–128, 132, 135 Plutarch  2, 26, 33, 43 f., 97 Proklos  23, 39, 75, 84 Ptolemaeus  28, 31, 34, 38 Seneca 93 Sextus Empiricus  16, 23 f. Sokrates 94 Tatian  99, 102, 106, 108 Tertullian  2, 106, 108 f. Theophilus von Antiochia  106, 108 Valentinus  11, 28 f., 42 Zenon  90, 95

2. Sachregister Abbild/Abbildlichkeit  58 f., 61 f., 67, 135 Andersheit (ἑτερότης)  44 Ausstrahlung  58 f. Bekehrung 115 Bibel  4, 29, 42, 70, 78, 115 f. Christus/Christologie  21 f., 24 f., 60 f., 66–68, 82 f. Demiurg  43, 71, 74, 81 Denken, sich selbst denken­ des  5, 23, 43 f., 47–53, 55, 60, 64–68, 70, 73 f., 88, 126–128 Determinismus  92, 95, 98 f., 112, 114, 116, 118 f., 133 Differenz  35 f., 47 f., 53, 122, 125 divina lex 74 Eine, das  44, 48 f., 51–53, 58, 60 f., 65–68, 125 f. Emanation  26, 29, 31–33 Engel  79 f., 83, 87, 130 Entscheidungsfrei­ heit  100 f., 107 f., 112 ἐπιστροφή 79 Ewigkeit  20 f., 26–32, 34–36, 38 f., 123, 136

Freiheit  4, 89 f., 95, 98–120, 133 f. Geist  3, 44–51, 53, 55–58, 60, 63, 65–67, 78 f., 125 f., 129 Glaubensbekenntnis  14 f., 17 f. Gnosis  27, 29 f., 32 f., 40, 42 Gott  2 f., 16, 19, 21 f., 26, 43–45, 54–57, 59 f., 64 f., 69–73, 75, 78–87, 103, 108–110, 116 f., 122 f., 126–130, 132, 135 f. Gottesebenbildlichkeit 103, 109 Handlungsfreiheit 90 Häretiker 18 Henologie  44, 46, 65, 67 Hypostase(n)  16, 46, 51, 55–62, 64 f. Ideen  3, 11, 23, 38, 44, 47, 49, 60, 78, 129 f. Intellekt  72–75, 87 Jahwist 77 Kompatibilismus  90 f., 95, 107, 113

140

Indices

Kontingenz 74 Konzil  14 f., 123 Kosmologie 38 Materie  30, 32, 43, 46 f., 83 f., 87, 127 Metaphysik  36, 46, 111 f., 117 Mittlergestalt 43 μονή 79 Mythos  30, 42, 101 Nag Hammadi  4, 27, 33 Natur  53 f., 62, 64, 72, 74, 81, 92, 102, 104 f., 110 f., 119 Neuplatonismus  4, 8, 31, 41, 43 f., 46, 122, 124 νοῦς (mens, Intellekt)  37, 45, 47, 57, 72 f. Paradoxie  27, 41, 51, 53 Platonismus  1, 3 f., 7–9, 22, 26, 31, 41, 45, 60, 66, 68–71, 75 f., 82–86, 88 f., 118 f., 121–124, 128–132, 136 Platonismus / Christentum – Übereinstimmungen  57–60, 87 f., 118 f., 134 – Differenzen  39, 60–62, 63–66, 126 f. – Exegese, Hermeneutik  85–87 – Sprachprobleme  22 f., 24 f., 38 f., 135 f. Priesterschrift 77 Prinzip  5, 14, 29, 38, 45, 47 f., 50 f., 54 f., 61, 70–75, 79, 82–84, 87, 91, 111, 116 f., 129 f.

Prinzip von Providenz  75, 129 providentia  70, 73–75, 77, 84 f., 88 Providenz  69–76, 80 f., 83 f., 87, 129 f. πρόνοια  71, 83 f. πρόοδος 79 rationes aeternae  78 f., 84 rationes causales  83 f. rationes incommutabiles 78 rationes insitae 83 rationes primordiales 83 Schicksal (εἱμαρμένη, ­fatum)  70–72, 74–76, 84 f., 91, 94, 96–98, 102, 114, 118 Schöpfung  4, 26, 34–37, 43, 70, 76–81, 83–88, 108, 124, 129 f. Schöpfungsbericht  70, 76 f., 79 f., 83, 85–88, 129 f. Sechstagewerk 83 Sein  23, 27, 44, 46–49, 51–54, 56 f., 59 f., 64–67, 72 f., 75, 78, 84, 86, 126 Seinsminderung 50 Selbstbetrachtung 61 Selbstreflexion  61, 64, 126 Stoa  69 f., 85, 87, 90, 95, 99, 113, 120 stoisch  42, 70, 74, 85, 87, 90–97, 99, 104, 107, 110, 112 f., 118–120, 133 f. Substanz  65, 72, 112 Trinität  13, 62, 63 f., 67

2. Sachregister

141

Überseiendheit 45 Überfülle 53 Übersetzung  11 f., 15–18, 20, 28, 39 f., 99–101 Urbild  43, 55, 57, 60 f. Unio mystica  46

Weltseele  47, 71, 74, 80 f., 84, 87 Werden  44, 47, 80 Wille, Willensentschluss  20, 53, 56, 60, 66, 73, 85, 90, 100 f., 109, 117, 126

Valentinianer  32, 38, 42 Verantwortung  91 f., 94 f., 98, 107, 110, 114, 133 Vernunft  49, 66, 90 f., 94, 100, 113, 122 Vielheit  47 f., 51 f., 57, 66, 72, 73, 125–127

Zeit  3 f., 6, 11, 16, 18, 20–26, 28–31, 33–40, 43 f., 47, 73, 75, 78–80, 82 f., 85, 87 f., 96, 107, 115, 121, 123–125, 131, 134 Zeugung, ewige  41, 50–53, 56, 58–60, 63, 125 Zufall  53, 81