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German Pages [575]
Collegium Metaphysicum Herausgeber / Editors
Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat / Advisory Board
Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Douglas Hedley (Cambridge) · Johannes Hübner (Halle) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)
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Friedemann Drews
Teilhabe-Ontologie und interreligiöser Dialog im Platonismus und Christentum „Gott ist Richter mitten unter den Göttern“ (Ps 82,1b). Monotheismus, Polytheismus und Teilhabe-Ontologie im Platonismus und Christentum, die Henaden bei Proklos und der interreligiöse Dialog bei Nikolaus von Kues
Mohr Siebeck
Friedemann Drews, geboren 1977; Studium der Latinistik, Gräzistik, Indogermanistik, Anglistik und Theologie; 2007 Promotion; 2010 Habilitation; seit 2014 Heisenberg-Stipendiat am Institut für Klassische Philologie der WWU Münster.
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. ISBN 978-3-16-156051-4 / eISBN 978-3-16-156052-1 ISSN 2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer aus der Minion Pro gesetzt und Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorbemerkung Die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs darf heute als weitgehend unbestritten gelten – gerade in einer Zeit, in welcher verschiedene Kulturen und Religionen sich immer stärker mischen und aufeinander treffen. Das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Traditionen erscheint heute jedoch auch in Europa gefährdet: In die Zeit der Abfassung des vorliegenden Buchs fallen die Terroranschläge von Paris im Januar und November 2015, diejenigen in Brüssel im März, weitere in Frankreich und Bayern im Sommer sowie in Berlin kurz vor Weihnachten 2016 – inzwischen kaum noch ‚zählbar‘. Die gegenwärtigen Ereignisse und Herausforderungen sollen und können nicht ausgeblendet werden, wenn mit der hier vorgelegten Studie anhand wichtiger Stationen aus einer 2000 Jahre, Antike und Mittelalter umspannenden Geistesgeschichte ein bestimmtes Potential für einen philosophisch begründeten und ebenso geführten interreligiösen Dialog freigelegt werden soll: Hier kommen Denker wie z. B. Platon, Apuleius, Origenes, Plotin, Augustinus, Proklos, Dionysius Areopagita, Boethius und Nikolaus von Kues zu Wort und werden auf ihre Argumente dafür befragt, inwiefern in rational begründeter Weise von einem Gott bzw. vielen Göttern gesprochen werden darf, ob mono‑ und polytheistische Theologien einander fruchtbar begegnen können, ob die Vielfalt von Religionen und Kulten nur als trennende Diskrepanz oder auch positiv als Spiegel unterschiedlicher Perspektiven von unterschiedlichen Menschen zu begreifen ist. Als grundlegend für diese Diskussionen erweist sich dabei die platonische Seinslehre mit ihrer Unterscheidung zwischen (a) geistig-intelligibler Wirklichkeit und (b) sinnlich-materieller Existenz und der daraus resultierenden Ontologie der Teilhabe Letzterer an Ersterer. Das Buch unternimmt den Versuch, in vielen neuen Übersetzungen und Interpretationen die vermeintlich ‚alten Texte‘ von ihren eigenen, geistigen Voraussetzungen her zu verstehen und die verschiedenen Perspektiven miteinander in einen Diskurs treten zu lassen. Das so entstehende (keinesfalls als ‚vollständig‘ zu missdeutende) ‚Panorama‘ möchte dazu einladen, auch heute, im 21. Jhd., in diesen philosophisch geführten Diskurs einzutreten, vermeintlich ‚Überholtes‘ wiederzugewinnen und für die heutige Zeit fruchtbar zu machen. Im Hinblick auf die Herausforderungen, welchen die Welt des 21. Jhds. entgegenblickt, verstehen sich die hier verhandelten Denk-Perspektiven auch als ein grundsätzliches Plädoyer für das Miteinander von Vernunft und interreligiösem
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Vorbemerkung
Dialog. Dabei erscheint es zweckdienlich, zumindest zwei Extrempositionen zu vermeiden: Erstens darf Religion nicht einfach auf Vernunft verzichten, sonst fehlt ihr nicht nur ein unhintergehbares Korrektiv, sondern auch die entscheidende Möglichkeit, Religion zu verstehen, argumentativ zu durchdringen, zu kontextualisieren und zu bewerten im Hinblick auf ihren Wahrheitsanspruch, auf ihre ethische Dimension und auf solche Gefährdungen, die Religion selbst erzeugen oder denen sie selbst ausgesetzt sein kann. Zweitens darf eine konsequent säkularisierte Vernunft, welche die Aufklärung weitestgehend als Erbe für das (post‑)moderne Europa hinterlassen zu haben scheint, nicht unhinterfragt bleiben, sondern muss auch selbst der Kritik des sapere aude unterworfen werden: Dabei kann deutlich werden, dass die säkularisierte Gesellschaft aufgrund ihrer religiösen Neutralität einerseits eine breite, in jedem Falle schützenswerte Basis für das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlichen Glaubens bietet; dass sie andererseits aber – gerade angesichts der Herausforderungen des 21. Jhds. mit dem derzeit vor allem islamistisch motivierten Terror – zugleich eine gefährliche Leerstelle hinterlässt: Wenn sich Religion, Glaube und Theologie apodiktisch jeglichem rationalen Zugriff radikal zu entziehen haben, wenn religiös-theologische Fragen tabuisiert werden und auch in der offenen Gesellschaft nicht mehr vorkommen sollten, dann entsteht ein Vakuum, durch dessen Sogwirkung solche Extremismen angezogen werden, denen die argumentative Auseinandersetzung mit Religionen nichts gilt. Genau dieses aber wurde in einer breiten Tradition in Antike und Mittelalter angestrebt: das Miteinander, der gleichberechtigte Diskurs von Religion und Vernunft, von Theologie und Philosophie.
Danksagungen Das vorliegende Buch wäre nicht entstanden ohne die großzügige Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, welche mir im Rahmen eines Heisenberg-Stipendiums an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in den Jahren 2014–17 bisher zuteil geworden ist. Die Bedingungen am Institut für Klassische Philologie waren für meine Arbeit ideal ebenso wie der Austausch mit und die Unterstützung durch Professores Christine Schmitz, Christian Pietsch, Niko Strobach und Walter Mesch. In besonderer Weise danken möchte ich Herrn Professor Jens Halfwassen für seine Begleitung und Hilfe bei der Suche nach einer geeigneten Publikationsmöglichkeit. Dafür, dass dieses Buch nun im Collegium Metaphysicum sein Zuhause gefunden hat, bin ich den Herausgebern der Reihe, speziell Professores Thomas Buchheim und Friedrich Hermanni, zu großem Dank verpflichtet ebenso wie dem anonymen Gutachter für sein Votum im Begutachtungsprozess für das Collegium Metaphysicum. Für die gute Betreuung seitens des Verlags Mohr Siebeck danke ich Herrn Dr. Rolf Geiger. Der wohl größte Dank gilt meiner Familie, insbesondere meiner Frau Ulrike und meiner Tochter Lisa Sophie, die mich in den Jahren der intensiven Arbeit an diesem Projekt unterstützt, mir auch immer wieder den nötigen Freiraum gewährt und geschaffen haben. Meinen Eltern danke ich sehr herzlich für ihre Mühe beim Korrekturlesen und viele Berichtigungen. Meinem Freund Niels Grewe, M. A., bin ich für seinen philosophischen Rat und seine subtilen Analysen bei schwierigen Problemen in großer Dankbarkeit verbunden. Von geradezu unschätzbarem Wert war für mich die Hilfsbereitschaft von Frau Jenny Görne, M. A.: Als Kollegin und Freundin aus Rostocker Zeiten hat sie keine Mühe gescheut, das gesamte Skript mit kritischem Blick inhaltlich und sprachlich durchzusehen sowie beim Kürzen von Redundanzen zu helfen; so hat sie mich vor vielen Fehlern und Ungenauigkeiten bewahrt. Ohne ihre tatkräftige Hilfe hätte ich das Buch nicht zum Abschluss bringen können. Münster, im Dezember 2017
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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Verzeichnis häufig gebrauchter Abkürzungen der Primärtexte . . . . . . . . . . XV I. Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. „Gott ist Richter mitten unter den Göttern“: Perspektiven auf einen Psalmvers als ‚unwissenschaftlicher‘ Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Wissenschaftliche Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 a) Grundsätzliches: Skopos, Methode und Aufbau des Buchs . 3 b) Positionierung des Buchs innerhalb der (allgemeinen) Forschungsdiskurse zu Themen wie Mono‑ und Polytheismus, interreligiöser Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 II. Philosophische Grundlagen: Wegmarken der systematischen und historischen Entwicklung der platonischen Teilhabe-Philosophie, Ontologie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Die ontologisch-epistemologische Grundlegung bei Parmenides aus Elea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Platons Explikation des Methexis-Gedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Aristoteles und der platonische Teilhabe-Gedanke . . . . . . . . . . . . . . 29 4. Die Teilhabe-Philosophie im Kontext mittelplatonischer O ntologie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4.1. Alkinoos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4.2. Apuleius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) Apuleius’ Ontologie und Ideenlehre in De Platone I, 6 . . . . . 50 Exkurs: exemplar – ein stoischer Begriff platonisch gedeutet? Apuleius und Seneca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 b) Apuleius’ philosophische Theologie: der höchste Gott, die vielen Götter und die Teilhabe-Problematik . . . . . . . . . . . 61 5. Plotin: Teilhabe-Philosophie und Theologie beim Archegeten des Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 a) Einleitung und Rückbezug zu den skizzierten vor-plotinischen Argumentationslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
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b) Plotins Unterscheidung von immateriellem und materieverbundenem Eidos als Grundlage der Teilhabe-Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Plotins Theologie: Ideenlehre, Mythos und die Integration von Mono‑ und Polytheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Exkurs: Ähnlichkeiten zwischen Plotin (enn. V, 8 [31], 12) und dem Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 d) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse zu Plotin . 94 III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos als Basis für seine Mono‑ und Polytheismus umgreifende Theologie und der Status der überseienden Henaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Vorbemerkung und Skopos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Zur Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Der Weg von der komplexiven Einheit zur partikulären Vielheit. Proklos’ Teilhabe-Theorem als Vollendung der mittelplatonischen und plotinischen Methexis-Lehre . . . . . . 109 d) Das Eine als Ursache alles Vielen; Grenze und Nicht-Grenze als Prinzipien des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 e) Die überseienden Henaden: Die aus dem Einen Gott als Einheit entfaltete Göttervielheit und die Partizipierbarkeit des Göttlichen als Begründung des Seins . . . . . . . . . . 133 f) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisseund das Prinzip der Kausalitätsüberlagerung in der Entfaltung der verschiedenen Seinsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 g) Mono‑ oder Polytheismus?Sowohl als auch sowie weder noch!Ein Fazit zur Theologie, Personalität der Götter und Theodizee bei Proklos als Basis eines interreligiösen Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 IV. Christliche Theologie und Platonismus: Schöpfungstheologie und Ontologie, Monotheismus, Trinität und polytheistische Denkfiguren sowie die Herausforderung des neuplatonischen Methexis-Theorems 185 1. Überleitung: Perspektivenwechsel – von Proklos zum Christentum 185 2. Die Bibel: ausgewählte Passagen zur Schöpfungstheologie, Ontologie, zur Mono‑ bzw. Polytheismusfrage und zum Teilhabe-Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2.1. Methodische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2.2. Passagen zur theologischen Implikation / Nicht-Implikation des Teilhabe-Gedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Ein himmlischer Schatz in irdenen Gefäßen: Teilhabe, Leiblichkeit, Person, Gott, Schöpfungstheologie und
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Ontologie bei Paulus (im Dialog mit platonisch-aristotelischen Auffassungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Exkurs: Die Begriffe ‚Seele‘, ‚seelisch‘ – Bibel versus Platon oder versus Descartes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 b) Die Stellung und das Verhältnis Jesu zwischen Gott Vater und den Menschen jenseits partizipatorischer Kategorien . . 212 2.3. Passagen zur Mono‑ und Polytheismus-Frage in der Bibel . . . . 214 a) Hebräische Bibel / Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3. Origenes: Teilhabe-Philosophie, Schöpfungs-Ontologie, Trinitätstheologie und das Verhältnis von Mono‑ und Polytheismus . . . . . . 222 a) Grundlagen: De principiis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Der Kommentar zum Johannes-Evangelium: Die Integration des Poly‑ in den Monotheismus und die verschiedenen Partizipationsweisen an Gott-Logos / Sohn als Fundamente eines interreligiösen Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 c) Ein Resümee zu partizipationstheoretischen Aspekten in Origenes’ christlicher Theologie – im Vergleich mit Aristoteles und dem Teilhabe-Theorem im Mittel‑ und Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 4. Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a) „Die wahre Religion gab es immer“ – Augustinus im Vergleich mit Origenes’ universalistischer Christologie, das Homoousios und die Kritik an den ‚falschen Göttern‘ . . 253 b) Trinität, Homoousios und Partizipationsontologie bei Augustinus im Vergleich mit Auffassungen des nichtchristlichen Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 c) Augustins platonische Erkenntnistheorie und sein Ideenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 5. Dionysius Areopagita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 a) Dionysius’ christliche Adaption von Proklos’ Partizipationstheorem und Gottes überseiende Wesensgleichheit . . . . . . . . 278 b) Polytheismus im Dienst des Monotheismus? Der exklusive Gott und die Vielheit der an ihm Anteil Gewinnenden sowie die Basis eines interreligiösen Dialogs bei Dionysius . 286 6. Boethius: Teilhabe an dem Einen Gott – Polytheismus als mögliche Entfaltung des Monotheismus, christliche Trinitätstheologie und Gottes überseiende Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7. Eriugena: Verkürzung des neuplatonischen Methexis-Systems, der prinzipientheoretische Primat des Guten und Gottes Überwesentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
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8. Thomas von Aquin: Die den Menschen gemeinsame Anteilhabe an Rationalität als Basis interreligiöser Dialogfähigkeit, platonische und aristotelische Erkenntnistheorie, die Ideen in Gottes Intellekt und ihre Partizipierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 V. Nikolaus von Kues: Die universale Anteilhabe an Gottes Logos als Quell der Rationalität und als verbindende Mitte im Dialog der Menschen und ihrer Religionen – Gott als Richter mitten unter den Göttern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 a) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 b) Das neuplatonische Methexis-Theorem bei Cusanus . . . . . . 335 c) De pace fidei: Der interreligiöse Dialog im Angesicht Gottes 347 1. Anlage, Fiktionalität, Anlass und die Schau des Intellekts als ‚Ort‘ des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2. Der Beginn der Unterredung, die Rede des Erzengels und die den verschiedenen Religionsgemeinschaften zugeteilten Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3. Die Antwort Gottes, der innere Mensch und die Initiative des Logos: eine Absolutsetzung der christlichen Perspektive im interreligiösen Dialog? . . . . . . . . . . . . . . . . 365 4. Der Beginn des interreligiösen Dialogs im Angesicht von Gottes Logos – der Grieche: Gottes eine Weisheit, Proklos’ Metaphysik und Partizipationstheorem sowie die Elastizität des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs . . . 375 5. Der Italer: Der Dialog der Weisen mit der von ihnen vorausgesetzten göttlichen Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 6. Der Araber: Gottes Weisheit und Gottesbegriff; der Polytheismus und sein Einheitsgrund . . . . . . . . . . . . . . 388 7. Der Inder: Götterbilder und Trinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 8. Der Chaldäer: Intellectus trinitatis – die Koinzidenz der Dreiheit und Einheit in Gottes einem Allvermögen. Ein Vergleich mit Proklos’ Henadenlehre, die Kritik des Korans an den ‚Teilhabern Gottes‘ und das Homoousios . 404 9. Der Jude: Die monotheistische Trinitätstheologie und die berechtigte Kritik der Juden und Muslime – differente religiöse Wahrheitsansprüche, die eine Wahrheit Gottes und die (nicht-notwendige) ‚Übersetzbarkeit‘ der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 10. Der Skythe und der Franzose: Die Brücke zwischen polytheistischen Religionen und der christlichen Trinitätstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
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11. Der Perser und Petrus: Die Inkarnation des Logos, die chalkedonensische Zweinaturenlehre und die maximale Einung von Gott und Mensch in Jesus Christus . . . . . . . . . 430 12. Der Syrer und Petrus: Auferstehungstheologie auf der Basis c halkedonensischer Christologie: Christus als Erlöser der natura humana, als Erfüllung des Glückseligkeitsstrebens und der Religionen . . . . . . . . . . . . 444 13. Der Spanier und Petrus: Das Warum der Jungfrauengeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 14. Der Türke und Petrus: Das Mysterium des Kreuzestodes und die Glückseligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 15. Der Deutsche und Petrus: Worauf zielt die Glückseligkeit? Die Verheißung irdischer und himmlischer Güter in den m onotheistischen Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 16. Der Tatar und Paulus: Die Rechtfertigung aus dem Glauben als Überwindung kultischer Differenzen, Christus als Quell des Heils und der Glückseligkeit, die Toleranz gegenüber verschiedenen Riten und die Beschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 17. Der Armenier und Paulus: Die Taufe – „Bekenntnis des Glaubens im sakramentalen Zeichen“ . . . . . . . . . . . . . . 469 18. Der Böhme und Paulus: Die Eucharistie – geistige Speise ewigen Lebens in sinnlicher Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 19. Der Engländer und Paulus: Die berechtigte Vielfalt der Riten und die Einheit intellekthaften Glaubens – Basis des Friedens und der Barmherzigkeit. Zusammenfassung 477 20. Epilog: Das Studium der Religionsgeschichte und der in allen Religionen vorausgesetzte eine Gott – Rückkehr derArgumentation zu ihrem Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
VI. Antik-mittelalterliche Positionen und modernes Denken: Was bleibt? Mono‑ und Polytheismus, Rationalität, Religion, Wahrheitsfähigkeit und Theodizee im Kontext des interreligiösen Dialogs . . . . . . . . . . . . . 483 1. Rationalität, Gottesbezug, Wahrheitsfähigkeit und Wahrheitsansprücheals Kriterien eines interreligiösen Dialogs cusanischplatonischer Prägung – undenkbar im 21. Jhd.? G. E. Lessing, J. Assmann und S. Keshavjee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 2. Pan-, Kosmo-, Poly‑ und Monotheismus(Assmann) – und eine unlösbare Theodizeefrage?Ein (antik‑)platonisch-christlicher Lösungsvorschlag in exemplarischer Abgrenzung zu V. Hösle und G. W. Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
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VII. Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 1. Eine Rückschau: Dialogfähigkeit und Teilhabephilosophie, Einwände und Antwortversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 2. Versuch eines ‚unwissenschaftlichen‘ Ausblicks . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Autoren der Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Autoren der Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556
Verzeichnis häufig gebrauchter Abkürzungen der Primärtexte* APo ber. c. Cels. c. Eut. CH civ. conf. coni. cons. cribr. DDS de an. did. DN doct. ign. DP De mal. Dec. Dub. div. qu. EH EN enn. epist. epist. ETh imm. an. in De Div. Nom. in Jh. in Parm. in Parm., Moerb. in Rem publ. in Tim.
Aristoteles, Analytica Posteriora Nikolaus von Kues, De beryllo Origenes, Contra Celsum Boethius, Contra Eutychen Dionysius Areopagita, De coelesti hierarchia Augustinus, De civitate Dei Augustinus, Confessiones Nikolaus von Kues, De coniecturis Boethius, Consolatio philosophiae Nikolaus von Kues, Cribratio Alkorani Apuleius, De Deo Socratis Aristoteles, De anima Alkinoos, Didaskalikos Dionysius Areopagita, De divinis nominibus Nikolaus von Kues, De docta ignorantia Apuleius, De Platone et eius dogmate Proklos, De subsistentia malorum Proklos, De decem dubitationibus circa providentiam Augustinus, De diversis quaestionibus Dionysius Areopagita, De ecclesiastica hierarchia Aristoteles, Ethica Nicomachea Plotin, Enneades Dionysius Areopagita, Epistulae Seneca, Epistulae morales Proklos, Elementatio Theologica Augustinus, De immortalitate animae Thomas von Aquin, Kommentar zu Dionysius’ De divinis nominibus Origenes, Johanneskommentar Proklos, Parmenideskommentar Proklos, die lateinische Übersetzung des Parmenideskommentars von Wilhelm von Moerbeke (betrifft besonders das nur auf Latein überlieferte Ende des siebten Buchs des Kommentars) Proklos, Poleiteiakommentar Proklos, Timaioskommentar
* Weitere Abkürzungen antiker Werke richten sich nach dem ThLL bzw. LAW. Biblische Bücher werden mit den in jeder Konkordanz auffindbaren deutschen Kürzeln bezeichnet (etwa Jes = Jesaja, Off = Offenbarung des Johannes).
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Verzeichnis häufig gebrauchter Abkürzungen der Primärtexte
leg. Platon, Nomoi lib. arb. Augustinus, De libero arbitrio met. Apuleius, Metamorphoses metaph. Aristoteles, Metaphysica MT Dionysius Areopagita, De mystica theologia mus. Augustinus, De musica pac. Nikolaus von Kues, De pace fidei Parm. Platon, Parmenides periph. Eriugena, Periphyseon Phd. Platon, Phaidon Phdr. Platon, Phaidros Phlb. Platon, Philebos PL John Milton, Paradise Lost poet. Aristoteles, De Poetica praed. sanct. Augustinus, De praedestinatione sanctorum princ. Origenes, De principiis resp. Platon, Politeia retr. Augustinus, Retractationes ScG Thomas von Aquin, Summa contra gentiles soph. Platon, Sophistes spir. et litt. Augustinus, De spiritu et littera STh Thomas von Aquin, Summa theologiae symp. Platon, Symposion ThP Proklos, Theologia Platonica Tht. Platon, Theaitetos Tim. Platon, Timaios top. Aristoteles, Topica trin. Augustinus, De Trinitate trin. Boethius, De Trinitate Utrum Pater Boethius, Utrum Pater et Filius et Spiritus sanctus de Divinitate substantialiter praedicentur ven. sap. Nikolaus von Kues, De venatione sapientiae vera rel. Augustinus, De vera religione
I. Prolog 1. „Gott ist Richter mitten unter den Göttern“: Perspektiven auf einen Psalmvers als ‚unwissenschaftlicher‘ Einstieg Gott ist Richter mitten unter den Göttern (Ps 82,1 b).1 Dieser Titel wurde aus mehreren Gründen als Chiffre für das hier vorliegende Buch gewählt. Das PsalmZitat mag zunächst darauf hinweisen, dass Theologie – wenn sie wirklich „Rede von Gott / Göttern“ ist – sich letztlich nicht in menschlicher Gedankenakrobatik erschöpfen kann. Dieser Hinweis scheint angebracht, weil große Teile der folgenden Untersuchung nach denjenigen Grundlagen fragen, welche gemäß platonischem Verständnis die Basis rational verantwortbarer Theologie bilden, und insofern hier ein vor allem philosophisch-argumentativer Ansatz verfolgt wird. Der Psalmvers ist dieser Untersuchung bewusst vorangestellt, um eine möglicherweise sonst allzu leicht aus den Augen geratende Perspektive als wichtiges Korrektiv in Erinnerung zu rufen. Diese Perspektive sollte – auch wenn es vorrangig um philosophische Autoren und ihre theologisch relevanten Argumente geht – als Hintergrundfolie immer präsent gehalten werden, denn ohne sie wäre nicht zuletzt der (fiktive) interreligiöse Dialog, auf welchen das Buch als seinem Ziel zusteuert, so nicht denkbar. Sodann mag das Zitat zum einen daran erinnern, dass die Frage nach Gott und Göttern bereits in der jüdisch-monotheistischen Tradition formuliert und auch aus der Perspektive dieser Tradition heraus beantwortet wurde. Zum anderen soll mit dem Aspekt des ‚Richtens‘ sowohl auf das Thema der interreligiösen Auseinandersetzung als solches wie auch auf eine biblisch begründete ‚Konzeption‘ eines derartigen Dialogs verwiesen werden: Wer ist es eigentlich, der unter den Religionen, unter den Göttern zu richten vermag? Ist dies menschenmöglich? Die Perspektive des Psalmisten erscheint eindeutig. Jedoch ist diese ‚Eindeutigkeit‘ für einen Leser im (post‑)modernen Europa eher schwer vermittelbar geworden. Unabhängig davon, ob man dies positiv oder negativ bewerten mag, diese Situation ist zunächst wohl schlicht so zu akzeptieren. 1 Zu diesem Psalmzitat s. u. Kap. IV.2.3 a. Zur (ersten Hälfte der) Stelle Ps 82, 1 vgl. West (1999: 23, 26), mit weiteren Hinweisen auf vergleichbare AT-Stellen: Ps 89, 6–8; 1 Kö 22, 19–22; Hiob 1, 6–12; 2, 1–7; 15, 8; Jer 23, 18, 22. S. ferner Frede (1999: 58–59) zu Ps 50, 1; 82, 6; 96, 4. S. außerdem die biblischen Stellen Ex 18, 11; Num 33, 4; Dt 10, 17.
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Gott ist Richter mitten unter den Göttern. Der Psalmist scheint mit dieser Formulierung sowohl das Richten dem einen Gott, an den er glaubt, zu überlassen wie auch als Mensch diese Feststellung treffen zu dürfen. Damit wäre die richtende Kompetenz dem Menschen zwar entzogen, aber der Richter immerhin bekannt. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!, heißt es nicht zuletzt auch im christlichen Neuen Testament (Mt 7, 1) – aus dem Munde dessen, den das Christentum als Logos tou Theou, als Gottes Wort (Jh 1, 1 f.) bekennt, als Gottes Sohn (Mt 14, 33 b) mit göttlicher Gerichtsvollmacht (Mk 2, 5–12; Jh 5, 22–30). Auch nach dem Neuen Testament soll also nicht der Mensch Richter sein, denn der Richter ist ein anderer, der sogar vor der Tür steht (Jak 5, 9). Das Psalmzitat thematisiert zudem – und das mag zunächst vielleicht überraschend sein – das im heutigen Wissenschaftsdiskurs vieldiskutierte Thema von Mono‑ und Polytheismus und erklärt dabei zugleich, dass der einzige Gott des Judentums (neben dem es doch keine anderen Götter geben soll, Dt 32, 39 a; 6, 4) Richter der vielen Götter ist: Damit werden polytheistische Traditionen explizit angesprochen und zugleich einem Monotheismus untergeordnet. Sollte damit unterschwellig erwogen oder zumindest angedeutet sein, dass Mono‑ und Polytheismus letztlich aus einer bestimmten Perspektive sogar miteinander verbunden werden könnten? Selbst wenn, so gilt auch hier für den Psalmisten: Gott ist Richter mitten unter den Göttern. Dem Menschen steht die Entscheidung dieser Frage offenbar nicht zu, aber als Glaubender darf er sie zugleich delegieren an den, den er im Glauben anspricht. Der Mensch soll sich nicht anmaßen, Gott selbst zu spielen (Gen 3, 5.22). Aber darf er – gerade im 21. Jhd. – die friedliche interreligiöse Auseinandersetzung scheuen? In dem interreligiösen Dialog, welcher in Kapitel V dieses Buchs interpretiert werden soll, scheint dem Psalmzitat auf erstaunliche Weise entsprochen zu sein, wenn der literarischen Darstellung nach die entscheidenden Fragen unterschiedlicher Religionsvertreter nicht aus einer menschlichen, sondern aus einer göttlichen Perspektive heraus beantwortet werden. Aber was heißt dies schon?, mag der Leser dieser Zeilen sofort und berechtigterweise erwidern und vielleicht sogar erzürnt einwenden: Alles umso schlimmer, wenn die göttliche Autorität in menschliche Hände genommen wird – Keim aller Fanatismen. Denn auch dieser Dialog hat unbestreitbar einen menschlichen Autor, Nikolaus von Kues. Jedoch: Dieser Dialog hat nie stattgefunden, er ist rein fiktiv und entbehrt demnach jeglicher historischen Faktizität. Ist er dann überhaupt beachtenswert, plausibel oder gar glaubwürdig? Der Verfasser dieser Zeilen wagt zu schreiben: Genau deshalb, weil er nicht historisches Faktum ist, sondern Fiktion, sollte ihm, zumindest seinem Grundansatz, (mehr) Beachtung geschenkt werden. Bei diesem Dialog sind die Fragen vergeblich, ob irgendeiner seiner Teilnehmer tatsächlich dies so gesagt, ob tatsächlich eine göttliche Autorität die Bühne betreten habe. Sie führen – vielleicht
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zum Glück – ins Leere. Genau – und nur – deshalb aber mag verständlich werden, warum der scharfsinnige Kardinal Nikolaus von Kues sich erdreisten konnte, den göttlichen Logos selbst auftreten zu lassen: Weil es sich nur um eine Fiktion handelt, vermag ein menschlicher Autor das Verbum Dei sprechen zu lassen, denn der fiktionale Rahmen enthebt ihn gleichsam der theologischen Hybris einer für sich in Anspruch genommenen Letztgültigkeit und bietet – vielleicht im Horizont von Aristoteles’ Dichtungskonzeption (poet. 1451a36–b11) – das, was in einer ganz bestimmten Konstellation von Ursachen und Wirkungen „möglich sein könnte“, aber nicht möglich sein und schon gar nicht faktisch gewesen sein muss. Glaubwürdigkeit also im Sinne der Möglichkeit einer sachlichen Auseinandersetzung und des Dialogs der Argumente, in welchem letztinstanzlich nur Gott Richter mitten unter den Göttern sein kann, vernommen von einem ekstatisch entrückten Gottesverehrer und nur niedergeschrieben von einem historisch verortbaren Menschen, dem deshalb ‚mildernde Umstände‘ konzediert werden sollten …? Ja, vielleicht dann, wenn nur – aber immerhin – das philosophische Sachargument im Dialog zählt und wenn dem Gedanken, dass die Vielheit der Religionen vielleicht zu einer diese Vielheit komplexiv in sich umgreifenden Einheit kommen, also auch Poly‑ und Monotheismus in ihren verschiedenen Ausprägungen aus einer bestimmten, philosophisch erahnbaren Perspektive doch als vereinbar erscheinen könnten. Wenn! Nur die Fiktion mag dieses Wenn tatsächlich aussprechen dürfen und allen Ernstes das Psalm-Wort literarische Wirklichkeit werden lassen: Gott ist Richter mitten unter den Göttern.
2. Wissenschaftliche Einleitung a) Grundsätzliches: Skopos, Methode und Aufbau des Buchs Das vorliegende Buch befragt 14 Autoren aus den vor allem platonischen und christlichen Geistestraditionen sowie biblische Texte zu den philosophischen und theologischen Grundlagen eines (potentiellen) interreligiösen Dialogs, deren wichtigste die vor allem im Platonismus grundgelegte ‚Ontologie der Teilhabe‘ (griech. methexis, lat. participatio) darstellt. In Diskurs miteinander treten also eine ganze Reihe von Autoren und Texten: Hinter diesem pluralistischen Aspekt kann in einer im wahrsten Sinne des Wortes hintergründigen Weise vielleicht eine bestimmte übergeordnete, innere Einheit erschlossen werden, zu der sich die hier verhandelten vielen Perspektiven mehr oder weniger zusammenschauen lassen. Dabei bewegt sich die Untersuchung in allen ihren Teilen im Schnittfeld von Philologie, Philosophie und Theologie und wendet sich entsprechend in erster Linie an Vertreter dieser genannten Disziplinen, im Grunde aber allgemein an
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alle diejenigen, welche – unabhängig von einer spezifischen Fachzugehörigkeit – mit einem Interesse an der Sache und der inhaltlichen Auseinandersetzung sich vermeintlich ‚alten‘ Denkern und Texten zu widmen geneigt sind und an dieser geistigen Tätigkeit Lust empfinden. Der philologische Ansatz, welcher auf die Texte selbst in ihrem Original blickt und diese in neuen, eigenen Übersetzungen und Interpretationen zum Sprechen bringen will, ist im Folgenden stets der Ausgangspunkt. Besonders die Kapitel II und III widmen sich Autoren der platonischen Tradition, die gewöhnlich sowohl von philologischer wie auch philosophischer Seite, aber nicht unbedingt aus theologischer Perspektive interpretiert werden (obwohl sie dies verdient hätten); mit den Kapiteln IV und V stehen christliche Denker im Mittelpunkt, die wie z. B. Augustinus zum Teil Forschungsgegenstand aller drei genannten Disziplinen sind. Dagegen mag es eher als Ausnahme erscheinen, dass in einem Buch z. B. Autoren wie Aristoteles und Paulus, Apuleius und Origenes, Alkinoos und Thomas von Aquin in einen Zusammenhang gestellt werden. Dieser ergibt sich jedoch aus dem Ansatz heraus, dass Proklos’ Henadenlehre vor dem Hintergrund ihrer Vorläufer und im Hinblick auf ihre rezeptionsgeschichtliche Relevanz für Cusanus’ interreligiösen Dialog interpretiert wird. Es muss sicher nicht eigens betont werden, dass eine solche Beschäftigung immer auch eine historische, in diesem Falle geistesgeschichtliche Dimension beinhaltet. Jedoch verfolgt der Verfasser dabei kein spezifisch ‚antiquarisch-museales‘ Interesse, sondern will zu einer sachlichen Auseinandersetzung einladen: Es geht darum, sich einerseits in diese Denker und ihre ‚Gebäude‘ möglichst tief hineinzudenken, diese also nicht nur von außen zu betrachten, sondern in sie hineinzugehen und ihre einzelnen ‚Räume‘ auf ihre Bewohnbarkeit hin zu untersuchen, um so andererseits möglicherweise einen Gewinn ‚abzuschöpfen‘, welcher nicht nur in der Deskription von historischen Phänomenen besteht, sondern auch für die Erörterung von Sachfragen und Problemen im 21. Jhd. n. Chr. relevant sein kann.2 2 Vgl. ebenso bereits Weier (1970: 15), der den „seit Descartes’ ausdrücklicher Absage von jeglicher Tradition“ bestehenden Mangel der sachlichen Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte zu Recht kritisiert. Weier hat nicht nur das Thema Partizipation ins Zentrum seines opus magnum „Sinn und Teilhabe“ gestellt, sondern verweist außerdem auf das Problem des Historismus und die auf dessen Basis in der Konsequenz bestrittene „Möglichkeit echter Erkenntnis und Wahrheitsfindung“ hin: So „wurde die geschichtliche Forschung vollends von ihrer eigentlichen Wurzel, der systematischen Fragestellung, abgeschnitten und zu einer rein empirischen Wissenschaft gemacht“ (ibd., 15). Der „historistische[n] Identifizierung von Geschichte und Verstehen“ setzt Weier den „Auftrag zu vertiefter Verifizierung des noch Hypothetischen“ entgegen (ibd., 17). (Zur Problematik des Historismus vgl. auch Schmitt [2011: IX–X] sowie Ratzinger – Benedikt XVI. [2005: 55–56]). – Im Vergleich zur vorliegenden Untersuchung setzt Weier andere Schwerpunkte, behandelt ausführlich die moderne Philosophie (z. B. Idealismus, Existenzialismus, Nihilismus), einige antike Autoren wie Alkinoos und Apuleius dagegen gar nicht, Origenes und Proklos nur beiläufig. Aber auch im Hinblick auf die sachliche Thematik ‚Teilhabe‘ verfolgt er ein anderes Erkenntnisinteresse als z. B. das des interreligiösen Dialogs oder
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Wenn also im Folgenden (mit Ausnahme des Kapitels VI) ausschließlich vormoderne, vermeintlich ‚voraufgeklärte‘ Positionen diskutiert werden, so ist dieser Zugang bewusst so gewählt und liegt nicht nur am Forschungsgegenstand des Klassischen Philologen: Denn diese Arbeit versucht, Denkansätze aus Antike und Mittelalter ergebnisoffen und insofern nicht durch eine vorgeordnete historische Brille zu lesen, in welcher ‚die Antike‘ immer schon als ein historisch-museales der Henaden bei Proklos, nämlich die „Kernfrage: Gibt es eine die heterogenen Bereiche von Denken und Sein übergreifende und in verschiedener Weise sich darin ausdrückende objektive Sinnidentität“ (ibd., 15). Dabei setzt sich Weier kritisch mit der z. B. von Nietzsche, Sartre u. a. vertretenen These auseinander, dass der „Ursprung allen Sinnes in der Sinngebung des Subjekts an eine sinnfremde Wirklichkeit“ liegen soll (ibd., 30), während doch jede Bezugnahme auf einen nur vorgetäuschten Sinn bereits einen objektiven und transsubjektiven Zugriff voraussetze (ibd., 31). Der besagte objektive Sinn sei jedoch (angeblich) in Abgrenzung zu Autoren wie z. B. Proklos (ibd., 556, 561) von sich selbst her teillos; Proklos findet zwar im ganzen Werk nur viermal Erwähnung, ihm wird aber zusammen mit anderen Denkern der „ungereimte Gedanke“ unterstellt, „daß Sinn Teile habe“ (ibd., 561), sowie, den „Blick für die Sinntranszendenz“ verloren zu haben (ibd., 556). Dass beides speziell auf Proklos nicht zutreffen kann, soll in Kap. III dieser Arbeit detailliert gezeigt werden: Proklos unterscheidet absolute, Sein und auch Sinn stiftende Prinzipien in ihrer Transzendenz (z. B. aufsteigend: intelligible Ideen – das seiende Eine – Henaden – das Eine) von ihren partikularen, immanenten Spiegelungen im materiellen Wirklichkeitsbereich; d. h. transzendente Teillosigkeit und immanente Teilartigkeit von Sein und Sinn sind im Rahmen seiner prinzipienontologischen Methexis-Lehre gerade besonders gut differenzierbar und vor allem überhaupt begründbar, zumal er innerhalb seiner Partizipationsphilosophie zwischen den Aspekten der Teilhabe am Ganzen und am Teil eines Eidos differenziert. Da Weier (ibd., 49, 82, 115–8) den Begriff des Spiegelns (durchaus im Einklang mit dem antiken Neuplatonismus) selbst zur Illustration des Teilhabe-Zusammenhangs verwendet, zeigt er der Sache nach im Grunde schon selbst, warum seine Kritik an Proklos nicht haltbar ist. Platonisch ist auch seine Widerlegung des angeblich absoluten Zweifels (à la Descartes), zumal „auch die Verweigerung des Sinnvertrauens wieder Vertrauen gegenüber dem Zweifel an der Gültigkeit des Sinndenkens voraussetzen und so doch den ‚Sinn‘ für unbedingt gültig halten müßte, daß kein Sinn gültig sei. Wir könnten somit gar nicht den letzten Sinnglauben verweigern, da die Verweigerung diesen wieder für sich gebrauchen müßte“ (ibd., 50). – Weniger überzeugend erscheint dagegen Weiers Interpretation, „daß Platon mit seinem Teilhabegedanken eher Sinnteilhabe als Seinsteilhabe gemeint“ habe (ibd., 78, ähnlich 87, 96, 99–100). Die Stoßrichtung dieser seiner Abgrenzung ist jedoch im Grunde kein platonisches, sondern ein stoisches, d. h. materialistisches „Seinsteilhabedenken“ (ibd., 107–8), welches die platonische Unterscheidung zwischen geistig-intelligiblem Sein und materieller Existenz wieder opfert (Weier bezeichnet dies als „Identitätsdenken“, ibd., 109) und so – nur konsequent – in die Skepsis führt: „So hat das stoische Identitätsdenken zur Preisgabe des Sinndenkens überhaupt geführt. […] So haben die Skeptiker den Stoizismus konsequent weitergedacht. Ist der Sinn mit der Welt der physischen Erscheinungen eins, so ist er kein Sinn, sondern Physis in der unbestimmbaren, unüberschaubaren und deshalb letztlich unerkennbaren Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen“ (ibd., 109; ähnlich 132–3). Ein so verstandenes „Identitätsdenken“ (von Welt / Sein und Sinn / Gott) macht Weier (ibd., 298–9) auch für Schelling und Leibniz aus. Das platonisch verstandene intelligible Sein ist von Weiers Begriff der „Seinsteilhabe“ also der Sache nach gar nicht tangiert (auch wenn er das platonisch Intelligible weniger angemessen mit dem Begriff des „Sinndenkens“ identifiziert und insofern auch reduziert: Denn die Ideen sind nach platonischer Auffassung nicht nur sinnstiftend, sondern begründen ja Sein und Leben und sind ihrerseits keine bloßen Abstrakta: Entsprechend unterscheidet Weier [ibd., 118] z. B. auch das „Sein des hen“ vom „weltliche[n] Sein“).
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Relikt erscheinen mag. Denn gerade bei philosophischen Fragestellungen wird die moderne, von der Aufklärung herkommende Tradition oft stillschweigend als terminus ante quem non, als unhintergehbare Messlatte angesehen. Diese Messlatte kann und soll indes keineswegs einfach abgestritten oder achtlos zur Seite gelegt werden. Im 21. Jhd. mit seinen aktuellen Herausforderungen eines clash of religions, einer speziell während der Abfassung dieses Buchs (2014–2016) neuen dramatischen Explosion religiös legitimierter Gewalt, die sich z. B. in Gestalt islamistischer Extremismen teils als innermuslimischer Konflikt (etwa im Irak), teils auf die westlich-säkulare Welt zielend entlädt, in dieser Zeit also erscheint es vielleicht doch geboten, gerade solche geistesgeschichtlichen Traditionen neu ins Bewusstsein zurückzuholen, die Religion nicht bloß als unbegründbare, in reiner Subjektivität entscheidbare Privatsache, sondern in einem rational verantworteten Diskurs als Teil genuiner Philosophie angesehen haben. Ohne in Vermessenheit die Grenzen eines Buchs verkennen zu wollen, könnte angesichts des seltsamen Befundes, dass zu Beginn des 21. Jhd. höchst aggressiver Religionsfanatismus und (post‑)moderner Säkularismus respektive Agnostizismus aufeinander prallen, die Frage lohnend sein, ob es nicht vernünftig wäre, nach einem tertium zu suchen, welches außerhalb dieser sonderbaren ‚Alternative‘ steht. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Untersuchung durchaus insofern der kritischen Tradition der Aufklärung und damit auch dem aus ihr hervorgegangenen westlichen Säkularismus verpflichtet, als diese jeglicher Art von religiös motivierter Gewalt eine entschiedene Absage erteilt und in grundsätzlicher Weise Toleranz einfordert. Zugleich möchte dieses Buch aber in Frage stellen, ob etwa die Kritik der Aufklärung (z. B. Immanuel Kants) an Metaphysik und philosophisch begründeter Theologie tatsächlich unhintergehbar ist.3 Mit anderen Worten: Die Messlatte der folgenden Untersuchung soll ausdrücklich nicht ein implizites, historisch gewachsenes Vor-Urteil sein, sondern die Stärke des philosophisch begründeten Arguments einer ‚voraufklärerischen Tradition‘, nämlich der platonisch-christlichen, genauer: der antik-platonischen Traditionslinie einerseits und der christlich-platonischen andererseits. Methodisch wird also ein Ansatz verfolgt, welchen Carl Friedrich von Weizsäcker einmal so auf den Punkt gebracht hat: 3 Vgl. Schick (2013: 285): „Das Potential und wenn man so will die Modernität von Cusanus liegt darin, dass die Anerkennung der anderen Religionen gerade in dem begründet wird, was in der Aufklärung eher unausgeschöpft bleibt, nämlich in dem Anspruch, die Offenbarung in ihrer Vernünftigkeit zur Geltung zu bringen. […] Die bloße Ausklammerung des Positiven der Religion aus der Rationalität schlechthin scheint mir hingegen weit größere Probleme zu implizieren: denn wenn die aus der Religion sich speisenden Ansprüche nicht rational gerechtfertigt werden müssen, weil man ohnehin bereits voraussetzt, dass sie nicht gerechtfertigt werden können, dann gibt man von vornherein das einzige Kriterium aus der Hand, mittels dessen man auch nur die Aussicht hat, diese in allgemeingültiger Weise zu beurteilen.“
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Die klassischen Philosophen [sc. der Antike kann] man nur verstehen, wenn man mit ihnen wie mit lebenden Kollegen über die Wahrheit ihrer Gedanken diskutiert (von Weizsäcker 2002: 3).
Das ‚zentripetale‘, gleichwohl eher am Ende stehende Kapitel dieses Buchs ist der Abschnitt V, in dem ein – fiktiver – interreligiöser Dialog auf der Basis platonisch-christlicher Philosophie und Theologie interpretiert wird: Gerade dessen Fiktionalität stellt in ihrer Ungebundenheit an historische Ereignisse die Frage, ob sich auf diesen Gedankenbahnen auch in der Postmoderne in gewisser Weise sinnvoll weiterdenken lässt (s. Kap. VI). Zuvor sollen in den Abschnitten II bis IV die komplexen systematischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen, auf denen dieser an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit von Nikolaus von Kues verfasste, fiktive interreligiöse Dialog aufruht, erschlossen werden, wobei vor allem dem III. Kapitel mit der philosophischen Theologie, dem Teilhabetheorem und der Henadenlehre des spätantiken Neuplatonikers Proklos eine ähnlich zentrale Stellung zukommt wie dem Kapitel V. Zu diesen beiden Zentren des vorliegenden Buchs führen jeweils zwei weitere größere Teilkomplexe hin: Abschnitt II mit der Behandlung von sechs Autoren (Parmenides, Platon, Aristoteles, Alkinoos, Apuleius, Plotin), an denen die historische und systematische Entwicklung der platonischen Ontologie, Teilhabe-Philosophie und Theologie dargestellt wird als Basis für das Proklos-Kapitel (III). Abschnitt IV zum Thema „Christliche Theologie und Platonismus: Schöpfungstheologie und Ontologie“ wird ausgehend von ausgewählten biblischen Texten und sodann anhand der Autoren Origenes, Augustinus, (Ps.‑)Dionysius Areopagita, Boethius, Eriugena, Thomas von Aquin die christlich-philosophischen Grundlagen erörtern, die für das Verständnis des fiktiven interreligiösen Dialogs des Cusanus ebenso entscheidend sind. Kompakt formuliert, beinhaltet die philosophische Grundthese der vorliegenden Untersuchung, (1) dass der Neuplatoniker Proklos zum einen die platonische Ontologie und die dieser inhärierende Teilhabe-Problematik konsequent durchdacht und in der Elementatio Theologica zu einem vollständig entwickelten Theorem entfaltet hat und (2) dass zum anderen genau dieses Theorem – bei entsprechender theoretischer Applikation – den Schlüssel darstellt für eine Lösung der Henaden-Problematik, d. h. für die Fragen, warum die sog. ‚überseienden Henaden‘ (zwischen dem absoluten Einen und dem von diesem sich ableitenden absoluten, intelligiblen Sein) sowohl unverzichtbar sind in Proklos’ metaphysischem System als auch wie sich ihre vieldiskutierte Stellung in diesem System widerspruchsfrei beschreiben lässt, und (3) dass schließlich Proklos’ Kombination von Methexis‑ und Henadenlehre die bereits zuvor im Mittelplatonismus und bei Plotin nachweisbare Synthese von mono‑ und polytheistischen Aspekten innerhalb eines theologischen Systems zur Vollendung führt und (4) in der christlichen Rezeption bei Nikolaus von Kues den entscheidenden Schlüssel für den interreligiösen Dialog darstellt.
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Beim Nachzeichnen dieser Traditionslinien geht es methodisch einerseits darum, neuralgische Punkte im Detail vor Augen zu stellen und mitunter aus einer (hoffentlich) ungewohnten Perspektive zu beleuchten. Andererseits soll bei der Bezugnahme auf eine Vielzahl unterschiedlicher Autoren gerade auch das Verbindende offen gelegt und gesucht werden, so dass die herausgestellten Details nicht den Blick auf Kontinuitäten verstellen mögen: Denn nur zu leicht geraten diese aus dem Fokus, als Resultate blieben dann nur einzelne ‚Brüche‘ zurück. Aus diesem Grunde sind die einzelnen Kapitel dieser Arbeit durch eine Fülle von Querverweisen miteinander verbunden, um so den Leser, der vielleicht bei einem der hinteren Kapitel zu einem bestimmten Autor in die Lektüre einsteigt, auf die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Texten, Autoren und Abschnitten des Buchs aufmerksam zu machen. Entsprechend werden bisweilen, wenn nötig, einige Argumentationen, die vielleicht schon hundert Seiten zuvor im Zusammenhang mit einem anderen Autor entwickelt wurden, unter Verweis darauf bewusst kurz wiederholt bzw. resümiert. Bei einer Wegstrecke mit vielen verschiedenen Einzelstationen erleichtert dieses Prozedere hoffentlich die Lektüre. b) Positionierung des Buchs innerhalb der (allgemeinen) Forschungsdiskurse zu Themen wie Mono‑ und Polytheismus, interreligiöser Dialog In jüngerer Zeit hat sich die Forschung in verstärktem Maße Themenfeldern wie Mono‑ und Polytheismus, interreligiöser Dialog und Toleranz oder GötterbilderGottesbilder-Weltbilder zugewendet, wie es durch eine Fülle von Publikationen der letzten Jahre in beeindruckender Weise bezeugt wird.4 Dieser fächerübergreifende, Disziplinen wie Religionswissenschaft, Theologie, Geschichte, Philologien etc. vereinende Ansatz verdankt sich mitunter verschiedenen Motivationen: zum einen der Erforschung historischer Phänomene, zum anderen der (post‑)modernen Situation, in welcher verschiedenste Kulturen oft auf selbem Raum miteinander in Kontakt (oder leider auch im Konflikt) stehen und das reflektierte Wissen um die jeweils eigene wie auch um die fremden Kulturen und Religionen der wichtigste Schlüssel für ein gegenseitiges Verständnis und friedvolle Koexistenz darstellt.5 Bisweilen sind vor dem Hintergund des Aufeinandertreffens verschiedenster Kulturen und Religionen polytheistische Denkfiguren gegenüber monotheistischen deshalb als vorteilhafter angesehen worden, weil sich in einen ‚mannigfaltigen Götterhimmel‘ scheinbar die vielen Religionen besser ‚versammeln‘, 4 Exemplarisch seien die folgenden Sammelbände genannt: Levy / George-Tvrtkovič / Duclow (2014), Fürst et al. (2013), Delgado / Leppin / Neuhold (2012), Mitchell / van Nuffelen (2010 a), Mitchell / van Nuffelen (2010 c), Kratz / Spieckermann (22009 a), Kratz / Spieckermann (22009 b), Geerlings / Ilgner (2009), Palaver / Siebenrock / Regensburger (2008), Palmer (2007), Oeming / Schmid (2003), Krebernik / van Oorschot (2002), Athanassiadi / Frede (1999 a), Lohr (1997). 5 S. Kratz / Spieckermann (2009 a: XII–XIII).
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übersetzen oder zumindest tolerieren ließen, als es ein streng monotheistisches Gottesbild (mit angeblich intrinsischer Neigung zu Intoleranz und Gewalt) erlaube.6 Diese Sichtweise scheint in jüngerer Zeit eine Modifizierung zu erfahren.7 Worin kann angesichts dieser Forschungslage der grundsätzliche Nutzen einer neuen Untersuchung zu den Themen Teilhabe-Philosophie, Henaden, Trinität, Mono-, Polytheismus und interreligiöser Dialog bestehen? Zum einen soll hier, wie schon angedeutet, ein etwas anderer Ansatz gewählt werden. Während in den meisten gegenwärtigen Diskursen zum Thema Mono‑ und Polytheismus die religionsphänomenologischen, historischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven8 dominieren, wird die hier vorliegende Untersuchung allein vom philologischen Fundament, d. h. von den überlieferten Texten, sowie den darin enthaltenen philosophischen Inhalten aus entwickelt: Die gleichsam ‚unhintergehbare Basis‘ dieses philologisch-philosophischen Ansatzes sind die textlich materialisiert-kodierten Gedanken selbst und die sich aus ihnen ergebenden Folgerungen, nicht eine außerhalb dieser liegende, empirisch-phänomenal auszuwertende Realität. 6 Vgl. Kratz / Spieckermann (2009 a: XIX) und Athanassiadi / Frede (1999 b: 8). Hier sei noch einmal erinnert an die Diskussion, die sich im Anschluss an das Erscheinen von Jan Assmanns Buch Moses der Ägypter (1998) entzündet hat. In Die Mosaische Unterscheidung (2003) hat sich Assmann selbst bekanntlich gegen viele Kritikpunkte verwahrt und diese entkräftet und sich für eine „Sublimierung“ der Mosaischen Unterscheidung „im Sinne Freuds“ ausgesprochen (ibd., 164–5). Zur Übersetzbarkeit von Religionen in polytheistischen Systemen s. Assmann (1998: 74; 2003: 32, 38–39); zum Monotheismus als „Fortschritt in der Geistigkeit“ (im Anschluss an S. Freud) Assmann (2003: 177), zum „monotheistische[n] Haß auf die anderen Götter“ sowie zum „antimonotheistische[n] Haß“ (ibd., 93–94), zum „Kosmotheismus“ als alternatives Denkmodell zum „Polytheismus“ (ibd., 96). Zur Auseinandersetzung mit Assmann s. auch unten Kap. VI. Zum Lob des Polytheismus vgl. bereits Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft III, 143 (Größter Nutzen des Polytheismus). 7 Vgl.: „[…] ohne daß es geschichtlich in irgendeiner Weise evident wäre, daß mit dem Polytheismus ein höheres Toleranzpotential verbunden sei als mit dem Monotheismus“ (Kratz / Spieckermann, 2009 a: XVII, XII). S. ferner Markschies (2007 b: 293): „Sind bei näherer Betrachtung nicht sowohl Polytheisten wie Monotheisten mal gewaltsam, mal friedlich?“ Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 177): „Götter waren keineswegs immer friedlich austauschbar.“ S. außerdem Fürst (2007: 281) zur „Gewaltgeschichte monotheistischer Religionen“ als dem „Einfallstor des gegenwärtigen Generalverdachts gegen den Monotheismus“. – Explizit der Auseinandersetzung mit Assmann gewidmet ist der Band Mitchell / van Nuffelen (2010 c: 4). 8 Vgl. Mitchell / van Nuffelen (2010 b: 8): „The aim is not to offer a comparative assessment of the metaphysical conceptions of the divine found in this period.“ Ebenso Mitchell / van Nuffelen (2010 d: 6): „Less emphasis is placed on philosophy […], and more on the analysis of monotheism as a religious phenomenon in its social context.“ S. ferner Kratz / Spieckermann (2009 a: XI, XIII) sowie allgemein die in Anm. 4 genannten Werke, wobei speziell Levy / George-Tvrtkovič / Duclow (2014), Palaver / Siebenrock / Regensburger (2008) aber auch Fürst et al. (2013) neben historisch-kulturwissenschaftlichen Beiträgen auch etliche zu philosophischen Aspekten und Fragestellungen enthalten, s. z. B. Tanaseanu-Döbler (2013), Fuhrer (2013) und Bruns (2013). Ähnliches gilt z. B. für die Beiträge von West (1999) und Frede (1999) in Athanassiadi / Frede (1999 a) sowie für Mitchell / van Nuffelen (2010 a): vgl. dort z. B. den Beitrag von Siniossoglou (2010), wobei jedoch auch hier die philosophischen Fragestellungen vor allem hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Konsequenzen bedacht werden.
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Zum anderen – dies ist die logische Folge des gewählten Ansatzes – geht es um die philosophisch-argumentative Auseinandersetzung mit Platonikern, Kirchenvätern und ihrer Rezeption: Während für Historiker und Kulturwissenschaftler die Frage im Vordergrund stehen mag, ob z. B. eine bestimmte existierende Kul‑ tur eher mono‑ oder polytheistisch geprägt ist,9 auf welche historischen Ursachen dies zurückzuführen ist und welche gesellschafts‑ und machtpolitischen Umstände dabei eine Rolle gespielt haben könnten, mit welchen rhetorischen Strategien für oder gegen Mono‑ bzw. Polytheismus argumentiert oder auch polemisiert wird10 etc., steht im Zentrum dieser Untersuchung die Leitfrage, warum bestimmte, platonische und christliche Philosophen das Problem von Mono‑ und Polytheismus genau so und nicht anders durchdacht haben, d. h. warum sie es überhaupt für vernünftig erachtet haben, an einen Gott oder mehrere Götter oder an einen Gott und mehrere Götter zu glauben und wie sie ihre Position philosophisch-argumentativ begründen.11 Diese Fragen lassen sich, wie gezeigt werden soll, nur auf der Basis von Ontologie und Epistemologie beantworten, als alles entscheidend aber wird sich dabei die platonische Teilhabe-Philosophie erweisen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit dieser Abgrenzung von Methode und Zielsetzung der Arbeit ist indes keine ‚polemische Distanzierung‘ gegenüber kulturwissenschaftlich-historischen Forschungen und Fragestellungen intendiert. Vielmehr möchte der hier gewählte Ansatz eine (hoffentlich) sinnvolle Ergänzung aus einer eben anders gelagerten Perspektive heraus bieten und insofern auch unterscheidbar sein. Trotzdem gibt es selbstverständlich Berührungen und Überschneidungen zwischen verschiedenen Perspektiven: Wenn z. B. die genannten kulturwissenschaftlich-historischen Arbeiten aus jüngerer Zeit immer wieder feststellen, dass der vordergründige begriffliche Antagonismus Mono‑ versus Polytheismus nur unzureichend als Beschreibung für real existierende Phänomene von Religion verwendet werden kann,12 dann soll genau dieser Aspekt auch in der vorliegenden Untersuchung aufgegriffen und philosophisch reflektiert werden – dies jedoch nicht aus einem eigenen ‚philosophischen 9 Vgl. den Skopos bei Mitchell / van Nuffelen (2010 b: 9–10): „Thus, the problems at the heart of the debates charted in this volume are not abstract and theological. The questions raised are always embedded in a religious context […]. Debates about monotheism in Late Antiquity are, thus, not just about conceptions of the divine, but directly touch on questions about the religious and cultural identity of individuals and groups in Late Antiquity.“ 10 Vgl. Siniossoglou (2010), Fürst (2013 b), Hömke (2013), Mitchell / van Nuffelen (2010 b: 8, 13). 11 Von den in Anm. 4 aufgeführten Werken ist der hier verfolgte Ansatz am ehesten vergleichbar mit Athanassiadi / Frede (1999 a), wenngleich der Skopos dennoch anders gelagert ist (s. dazu das Folgende im Haupttext). 12 Vgl. Gers-Uphaus / Klug (2013: 3), Fürst (2013 b: 10), Kratz / Spieckermann (2009 a: XIV– XV, XVII–XVIII), Ahn (2003: 9–10). Philosophisch markant formuliert Frede (1999: 49): „It would be quite misleading to say that somebody who believes in one divine first principle and five further divine beings believes in six gods.“
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Wurf ‘ des Verfassers heraus, sondern anhand von ausgewählten Stationen aus der platonischen und christlichen Geistesgeschichte. Beim Durchdringen verschiedener philosophisch-theologischer Positionen aus Antike und Mittelalter wird versucht, nicht dem vielleicht von einem bestimmten Zeitgeist suggerierten ‚gefühlsmäßigen Einerlei aller Religionen‘ das Wort zu reden: Entsprechend sind auch keine Relativierungen von Religion(en) beabsichtigt.13 Es ist z. B. keine unterschwellige Behauptung intendiert, die 13 Dies ist vor allem dann zu betonen, wenn wirklich gilt, was Jan Assmann (2003: 172) (vielleicht cum grano salis?) gemeint hat: „Kulturwissenschaftler sind nun einmal methodische Relativisten.“ – Im Hinblick auf die Indifferenz eines ‚religiösen Einerleis‘ sei exemplarisch auf die Position der Figur des Pistorius in Hermann Hesses Demian verwiesen; obgleich das Werk 1917 entstand, lässt sich die folgende Aussage mutatis mutandis auch auf einen bestimmten heutigen Zeitgeist im 21. Jhd. beziehen: „ ‚ Ach, jede Religion ist schön. Religion ist Seele, einer‑ lei, ob man ein christliches Abendmahl nimmt oder ob man nach Mekka wallfahrt.‘ […] ‚[…] Der Priester will nicht bekehren, er will nur unter Gläubigen, unter seinesgleichen leben und will Träger und Ausdruck sein für das Gefühl, aus dem wir unsere Götter machen‘ “ (Demian, 1974: 130; Kursive FD). Im Sinne des „einerlei“ erscheint in Demian auch die Verehrung des indifferenten Gottes Abraxas, der „Gott und Satan“ zugleich sein soll: „ ‚er hat die lichte und die dunkle Welt in sich‘ “ (ibd., 129); in diesem Sinne plädiert die Figur Demian dafür, „ ‚sich einen Gott [sc. zu] schaffen, der auch den Teufel in sich einschließt‘ “ (ibd., 73). Demians und Pistorius’ Ansichten finden sich gerade am Ende des Werks in der Perspektive des Erzählers, Emil Sinclair, wieder: „Uns [sc. mit dem Kainsmal als Symbol des neuen (Über?‑)Menschen Gezeichneten] schien jedes Bekenntnis, jede Heilslehre schon im voraus tot und nutzlos. Und wir empfanden einzig das als Pflicht und Schicksal: daß jeder von uns so ganz er selbst werde, so ganz dem in ihm wirksamen Keim der Natur gerecht werde […]. Denn dies war, gesagt und ungesagt, uns allen im Gefühl deutlich, daß eine Neugeburt und ein Zusammenbruch des Jetzigen nahe und schon spürbar sei“ (ibd., 171; Kursive FD). Hesses Demian beklagt einerseits den Wahn der Technik, die auf das bloße Töten von Menschen aus sei, sowie die Tatsache, dass die Menschen zu beten verlernt hätten (ibd., 159, 171), andererseits wird eine dezidiert evolutionsbiologistisch-„entwicklungsgeschichtliche“ Perspektive eingenommen (ibd., 172), weshalb eine „neue Religion“ (ibd., 149) ohne konkretes Bekenntnis, ohne Ideale propagiert wird, die nur noch aus einer ‚Akzeptanz‘ des (abstrakt-leeren) ‚Schicksals‘ bestehen soll („ ‚Wer nur noch das Schicksal will, der hat weder Vorbilder noch Ideale mehr, nichts Liebes, nichts Tröstliches hat er‘ “, ibd., 152). Die Bezüge zu Nietzsches Ideal vom Übermenschen erscheinen zwar unverkennbar: „The great majority of commentators on Demian identify Max Demian’s Cain figure with the Overman – the Übermenschen – of the late nineteenth-century German philosopher Friedrich Nietzsche as he described him in Thus Spoke Zarathustra (publ. 1883–92), a treatise that strongly impressed young Hesse. The Overman ignores the conventional morality of the Herdenmensch, the man of the ‘herd’ mentality, considering himself beyond good and evil. […] It was Nietzsche who gave Hesse the idea, expressed in Sinclair’s preface to the novel, that humankind was still undergoing a process of natural evolution, wherein some were still partanimal, part-human, toward the ‘perfect’ man – who will be the Overman“ (Hunt 2016: 100–1). Trotzdem zeigt die geforderte ‚Anerkenntnis des Schicksals‘ (Demian, 148, 154, 172) und die daraus resultierende „Pflicht“ im Sinne einer ‚biologisch-naturgemäßen‘ Selbstverwirklichung antik-stoische Züge (vgl. Schmitt 2003 a: 452–3, 461–3): Im Sinne einer solchen Anerkenntnis des Schicksals geht es auch im Demian um entsprechende „ ‚ Anpassungen‘ “ (Demian, 172, 187): „sich dem Schicksalswillen prachtvoll nähern“ (ibd., 190); „ ‚mitzugehen und da zu stehen, wohin das Schicksal ruft‘ “ (ibd., 172). Letzteres bedeute (in einem ‚übermenschlichen Kontext‘?) „volles Hingegebensein an das Ungeheure“ (ibd., 190): „ ‚Sieh, alle Menschen sind bereit, das Ungeheuerliche zu tun, wenn ihre Ideale bedroht werden. Aber keiner ist da, wenn ein neues
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christliche Religion sei – auf leichtem oder mühsamem Wege – mit polytheistischen Religionen kompatibilisierbar. Denn die philosophisch-platonischen Ausdeutungen des Christentums, um die es vor allem gehen wird, zielen, gleichsam von Natur aus, eher auf allgemeine Fragen der Metaphysik (z. B. Gottesbeweis, Ontologie, philosophische Theodizee) als auf die geschichtliche Dimension christlichen Glaubens wie die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und die damit verbundene Soteriologie (Kreuzestod Christi, Sündenvergebung, Auferstehung). Letztere Aspekte sind jedoch ein Spezifikum christlicher Theologie, das sie von anderen Religionen unterscheidet: Daher sollte eine philosophischchristliche Theologie, wenn sie allgemein-metaphysische, mehreren Religionen gemeinsame Fragen stellt, aus deren Beantwortung allein noch keine ‚Übersetzbarkeit‘ verschiedener Religionen ableiten. Dies mag vielleicht sogar als selbstverständlich erscheinen; es muss aber betont werden, insofern gerade in einer Untersuchung wie der vorliegenden z. B. die Platonismus-Rezeption bei Origenes und Nikolaus von Kues thematisiert wird und insofern zwischen christlichplatonischen und dezidiert pagan-platonischen Denkern wie etwa Proklos das gemeinsame Gedankengut zwischen beiden Denktraditionen gegenüber den Unterschieden im Vordergrund steht. Obwohl es also gerade um das gemeinsam Verbindende geht, darf dies wiederum nicht den Blick auf die Unterschiede verstellen: Dies ist z. B. dann zu beachten, wenn ein philosophisch begründeter monotheistischer Aspekt etwa bei den Neuplatonikern auszumachen ist und dieser Aspekt mit demjenigen der monotheistischen Weltreligionen in Verbindung gebracht wird: Alle genannten Strömungen verehren einen höchsten Gott, sei er nun Allah, das Eine (hen) oder der Gott, welchen die Christen als Schöpfer der Welt und als Vater Jesu Christi bekennen. Trotz philosophisch-theologischer Gemeinsamkeiten bleibt hier dennoch zu fragen, ob der Diskurs der letzten Jahre und Jahrzehnte in puncto Übersetzbarkeit zwischen verschiedenen Religionen auf der Basis ihnen gemeinsamer Strukturelemente (wie z. B. dem monotheistischen Aspekt) nicht doch bisweilen Ideal, eine neue, vielleicht gefährliche und unheimliche Regung des Wachstums anklopft. Die wenigen, welche dann da sind und mitgehen, werden wir sein. Dazu sind wir gezeichnet – wie Kain dazu gezeichnet war, Furcht und Haß zu erregen und die damalige Menschheit aus einem engem Idyll in gefährliche Weiten zu treiben‘ “ (Demians Worte, ibd., 172). Die ‚kainshafte Umwertung überholter Ideale‘ ist ohne ein bestimmtes erkennbares Ziel – der „Wurf der Natur“ kann eben ein „Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts“ sein (ibd., 150) –; zugleich schließt Demian erkennbarerweise das ‚übermenschliche Paradoxon‘ ein, dass gerade das „Ungeheure“, genauer der große Krieg, unter seiner „Oberfläche“, „in der Tiefe“ zu einer „neue[n] Menschlichkeit“ führen soll (ibd., 190). Die damit verbundene Indifferenz auch in ethischer Hinsicht gründet dann wieder im Schicksalsgedanken: „Wahrer Beruf für jeden war nur das eine: zu sich selbst zu kommen. Er mochte als Dichter oder als Wahnsinniger, als Prophet oder als Verbrecher enden – dies war nicht seine Sache, ja dies war letzten Endes belanglos. Seine Sache war, das eigene Schicksal zu finden, nicht ein beliebiges, und es in sich auszuleben, ganz und ungebrochen“ (ibd., 150; Kursive FD).
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zu schnell über die Frage hinweggegangen ist, inwiefern sich das jeweils Übersetzte tatsächlich ohne inhaltliche Einbußen einfach übersetzen lässt:14 So könnte man beispielsweise in einem ersten, vorläufigen Zugriff versuchen, die Balance zwischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden verschiedener theologisch-religiöser Traditionen dahingehend zu wahren, dass zwar die Verehrung eines allerhöchsten Gottes viele Religionen und Religionsphilosophien eint, dass aber die Gestaltung bzw. die Beschaffenheit der Beziehung zwischen Gott und Mensch im Einzelnen trotzdem sehr unterschiedlich sein kann in den einzelnen Traditionen: So wird im Christentum diese Beziehung entscheidend durch das Wirken der Person Jesu Christi hergestellt, vermittelt und gestaltet (Soteriologie) – ein christliches Spezifikum, welches von der allgemeinen philosophischen Wirklichkeitsbeschreibung und der grundlegenden Frage, ob Theologie überhaupt möglich und sinnvoll ist, jedoch noch nicht tangiert oder eingeholt wird. Wird der Fragehorizont etwa mit Blick auf den Buddhismus erweitert, dann könnte ein verbindender Aspekt mit (mono‑)theistischen Religionen gerade nicht in einem (wie auch immer genau gearteten) personalen Verständnis eines höchsten Gottes bestehen, sondern eher in Fragen der Erlösungstheologie, wenngleich die Antworten hierauf wieder grundlegend verschieden sein werden. In dem gerade illustrierten Sinne will die vorliegende Studie zumindest versuchen, einen solchen Fragehorizont bewusst offen zu halten und nicht vorschnell historisch und inhaltlich-substantiell unterschiedlich gewachsene Religionen und Philosophien mit einer philosophisch-theologischen ‚GeneralÜbersetzung‘ in eins zu setzen. Es geht, kurz gesagt, darum, zwischen tatsächlich Verbindendem und nur scheinbar Ähnlichem zu unterscheiden und trotzdem beides in einer sachangemessenen Balance zu sehen. Identität und Differenz als die beiden Grenzpole, zwischen denen eine solche Dialogarbeit stattfinden kann und könnte, lassen sich nicht zuletzt durch den platonischen Partizipationsgedanken sowohl bestimmen wie auch bis zu einem gewissen Grad miteinander vermitteln. Für das Thema Teilhabe / Partizipation ist zu konstatieren, dass es im philosophisch-ontologischen Kontext eher selten im Fokus einschlägiger Untersuchun14 Zur „pluralistischen Religionstheologie“ (etwa bei John Hick) vgl. von Stosch (2006: 313 f.) sowie Knepper (2009). – Im Hinblick auf die (spät)antike Debatte zwischen Christen und Nicht-Christen resümiert Frede (1999: 67) das Sachproblem folgendermaßen: „If the pagans are unwilling to countenance even the possibility that Jesus is God, why should the Christians take the claim seriously that idols and the traditional gods, properly understood, are true reflections of God? The Christians could then go on to argue that, even with a reinterpretation of the traditional gods, the pagans were still believing in and worshipping many false gods, instead of the one true God.“ – Von christlicher Seite aus erscheint die Übersetzbarkeit gleichsam von Anfang an nicht unproblematisch (vgl. Apg 14, 15), auch wenn z. B. Origenes (s. u. Kap. IV.3 b) eine solche Möglichkeit philosophisch-theologisch zu begründen versucht. Zu verschiedenen Positionen hinsichtlich der „translatability“ göttlicher Namen im paganen Platonismus vgl. Chlup (2012: 277, 289), mit Blick auf das Christentum Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 184–6) sowie unten Kap. V.c9.
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gen steht,15 obgleich es oft zumindest indirekt tangiert ist. Aus theologischer Perspektive explizit dem Thema Partizipation gewidmet ist z. B. der Band von Thate / Vanhoozer / Campbell (2014). Eine Untersuchung, die nach den philosophischen Grundlagen von Theologie sowie eines potentiellen interreligiösen Dialogs fragt, berührt auch das grundsätzliche Verhältnis von Glaube und Vernunft, Religion / Theologie und Rationalität. Die Annahme, dass Religion und Rationalität miteinander in einem fruchtbaren Verhältnis stehen könnten, muss (spätestens) seit Immanuel Kant als fragwürdig gelten.16 In jüngerer Zeit war es vor allem der Theologe Joseph Ratzinger, welcher vor einem Auseinanderklaffen von Glaube und Vernunft nachdrücklich gewarnt hat (im sachlichen Rückgriff auf Positionen aus Antike und Mittelalter),17 wobei Vernunft hier nicht im modernen Sinn als die ausschließlich empirische Daten ‚auswertende‘ Vernunft, sondern platonisch als die sich auch auf ihre eigenen Kriterien und somit auf ihre eigenen (intelligiblen) Inhalte zurückwendende Ratio verstanden werden darf. Dass gerade die christliche Offenbarungsreligion kaum auf die Vereinbarkeit mit der Vernunft wird verzichten können, zeigt Vittorio Hösle (God as reason, 2013) mit einem bemerkenswerten Versuch, der Herausforderung von Glaube und Vernunft von verschiedenen Seiten her zu begegnen, auch wenn seine Lösungsvorschläge von den im Folgenden zu behandelnden Positionen mitunter stark abweichen.18 Ebenso Vgl. z. B. Weier (1970), te Velde (1995), d’Hoine / Michalewski (2012: 182–6). den berühmten Passus aus I. Kants Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft (B XXX): „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ Als Basis und Maßstab theologischen Denkens wird dieser Ansatz Kants z. B. angeführt von Huber (2008: 33, 196 f.). Dazu, dass dieser Ansatz grundsätzlich in sich nicht unproblematisch ist, vgl. Drews (2011: 60–65). Huber (2008: 197–8) ist bemüht, den (christlichen) Glauben (auch nach Kant) vor dem Vorwurf der Irrationalität in Schutz zu nehmen im Sinne einer „allem Wissen“ vorausliegenden „Daseinsgewissheit“. Es bleibt jedoch zu fragen, warum diese „Daseinsgewissheit“ in sich rational sein soll, d. h. warum sie einer subjektiv beliebigen Entscheidung, entweder (woran auch immer) zu glauben oder nicht zu glauben, enthoben sein soll. 17 Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2005: 128): „Die antike [sc. heidnische] Religion ist denn auch an der Kluft zwischen Gott des Glaubens und Gott der Philosophen, an der totalen Diastase zwischen Vernunft und Frömmigkeit zerbrochen. Dass es nicht gelungen ist, beides in eins zu bringen, sondern dass in zunehmendem Maße Vernunft und Frömmigkeit auseinander getreten sind, das bedeutete den inneren Zusammenbruch der antiken Religion. Die christliche hätte kein anderes Schicksal zu erwarten, wenn sie sich auf eine gleichartige Abschneidung von der Vernunft und auf einen entsprechenden Rückzug ins rein Religiöse einließe […].“ S. ferner ders. (2005 b: 115): „Der Zerfall der antiken Religionen wie die Krise des Christentums in der Neuzeit zeigen dies: Wenn Religion mit elementaren Gewißheiten einer Weltansicht nicht mehr in Einklang zu bringen ist, löst sie sich auf.“ – Zum Miteinander von Glaube und Vernunft vgl. schon Augustinus, civ. XIX, 1; 346, 14–16; lib. arb. II, 18 (vgl. Drews 2009: 31–36) und Cusanus: „Der Glaube also enthält eingefaltet jedes Intelligible. Der Intellekt aber ist die Entfaltung des Glaubens. Geleitet wird also der Intellekt durch den Glauben, und der Glaube wird durch den Intellekt erweitert. Wo also kein gesunder Glaube ist, ist auch kein wahrer Intellekt“ (doct. ign. III, 11, 244). 18 Zur differenzierteren Auseinandersetzung mit den Ansätzen und Positionen von Hösle s. u. Kap. VI.2. 15
16 Vgl.
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thematisiert Volker Gerhardt (Der Sinn des Sinns, 2014) die Interdependenz von Glaube und Wissen. Auf eine gegenwärtige „Renaissance der Metaphysik“ machen Halfwassen / Gabriel / Zimmermann (2011) aufmerksam und werfen mit ihrem Sammelband Philosophie und Religion perspektivenreiche Schlaglichter auf dieses Thema;19 Gleiches gilt für den Band Metaphysik und Religion von Kobusch / Erler (2002). Diese große theologisch-philosophische Problematik des Verhältnisses von Religion / Theologie und Rationalität lässt sich freilich nicht in wenigen Worten abhandeln. Grundsätzlich nimmt die vorliegende Untersuchung den philosophischen Ansatz Platons auf, mit rationalem Anspruch die Frage nach Ontologie und Epistemologie zu stellen, welche für Platon letztlich auch in die Theologie münden. Dabei ist zweierlei zu bedenken: Erstens beginnt Platons Theologie nicht bei einer theologischen Voraussetzung – auch nicht bei einer wie auch immer gearteten ‚Daseinsgewissheit‘, deren Berechtigung ja immer erst erwiesen und begründet werden müsste –, sondern von dem her, was er für allgemein als allem rationalen Denken vorausliegende Erkenntnisbedingung aufdeckt, d. h. der Voraussetzung, dass Sein bestimmtes Sein meint und insofern von dem Prinzip der Einheit selbst (bzw. der in einer Vielheit auffindbaren Einheit) abhängig ist. Zweitens eröffnet eine ontologisch und epistemologisch begründete Theologie den Vorteil, dass sie argumentativ hinterfragbar bleibt: D. h., ihr eigenes ‚rationales Gewand‘, um es metaphorisch zu sagen, bleibt dem rationalen Zugriff zugänglich, sowohl dem seiner Befürworter wie dem seiner Gegner. Ein tatsächlicher Vorteil ist dies freilich nur dann, wenn die rationale Diskussion nicht ‚fundamentalistisch erhitzt‘, sondern auf wissenschaftlich-sachliche Weise geführt werden kann. Diesen Ansatz auch für 19 Teilweise erscheint eine kritische Auseinandersetzung angebracht, vor allem mit dem Beitrag von Hermanni (2011) zum Freiheitsthema: Die These, dass ein Mensch „seinen handlungsbestimmenden Charakter weder selbstbestimmt hervorbringen noch in selbstbestimmter Weise bestätigen oder beliebig umwandeln“ könne (ibd., 323), sollte zumindest nicht unhinterfragt bleiben, insofern nur konzediert wird, dass ein Mensch sich – im Rahmen seiner Lebenssituation und der in ihr bestehenden Möglichkeiten – sowohl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen entscheiden als auch zumindest versuchen kann, z. B. eigene charakterliche Mängel durch langfristiges intentionales Gegensteuern auszugleichen, wenn nicht zu beheben. Im Hinblick auf Boethius erscheint die Prämisse fragwürdig, „daß jeder beliebige Weltzustand jeden vergangenen und künftigen eindeutig festlegt. Denn nur in diesem Fall sind einem vollkommenen Wissen mit dem Zustand der Welt zu einer Zeit zugleich die Weltzustände zu allen anderen Zeiten gegenwärtig“ (ibd., 309). Genau diese Voraussetzung teilen Boethius und die Neuplatoniker vor ihm (z. B. Augustinus und Proklos) gerade nicht und bemühen sie für ihr Begründungsziel auch gar nicht. ‚Benötigt‘ wird diese Prämisse jedoch im Rahmen einer stoisierenden Argumentation, wenn Gott immanentistisch-pantheistisch, an die Limitationen von Raum und Zeit gebunden gedacht wird und trotzdem über ein ‚Vorherwissen‘ verfügen soll – so z. B. bei Cicero. Zum Sachproblem s. Drews (2009: 143–238, 341–357, 405–6) sowie Pietsch (2013 b). Zur Vereinbarkeit von göttlichem Allwissen und menschlicher Freiheit gemäß Boethius möchte ich in Auseinandersetzung mit vorherrschenden Forschungsmeinungen (Hermanni 2011; Marenbon 2003; Sharples 2009) demnächst einen separaten Aufsatz vorlegen.
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den interreligiösen Dialog als fruchtbar aufzuzeigen und dabei exemplarisch das fiktive Gespräch der Religionsvertreter in Nikolaus von Kues’ De pace fidei – Über den Frieden im Glauben aufzugreifen, ist ein Ziel der vorliegenden Untersuchung. Wenn es darum geht, vermeintlich ‚vergangene Positionen‘ auch für den heutigen Diskurs fruchtbar zu machen, könnte z. B. die platonisch-christliche Denktradition in grundsätzlicher Weise Zweifel an der das moderne Denken weitestgehend dominierenden Position wecken, dass die Materie sich komplett selbst strukturiere und dass auch Erfahrungen von Schönheit, Erkenntnis, Freude und nicht zuletzt (unverkitschter) Liebe tatsächlich allein auf Epiphänomene der Materie bzw. auf autarke biochemisch-physikalische Prozesse des Gehirns reduzibel seien. Denn wenn solche Erfahrungen in ihrem inhaltlichen Sosein eine bestimmte Realität für sich selbst beanspruchen dürfen, d. h. in irgendeiner Form nicht bloß metaphorisch, sondern tatsächlich als geistige Erfahrungen gelten dürfen, dann käme der von Platon angeregten Philosophie nach wie vor das Verdienst zu, (etwa im Phaidon) die Realität des Geistes in rationaler, d. h. wissenschaftlich zugänglicher Weise aufgedeckt zu haben. Thomas Nagel (2012: 16) bringt diesen grundsätzlichen Gedanken auf seine Art prägnant (und mit einem pun) auf den Punkt: „My guiding conviction is that mind is not just an afterthought […].“20 Genau dieses grundsätzliche Verdienst scheint die platonische Philosophie von je her auch für das rationale Durchdringen verschiedenster Religionen attraktiv gemacht zu haben. Für die heutige Zeit des 21. Jhds. könnte also der grundsätzliche ‚Nutzen‘ bzw. die ‚Verwertbarkeit‘ der folgenden Interpretationen und Überlegungen auch darin bestehen zu zeigen, (1) dass die sachliche religionsphilosophische Auseinandersetzung keineswegs gemieden werden muss, um möglicherweise zu einem friedlichen Miteinander der Religionen zu gelangen, im Gegenteil: weniger Wissen um das Wesen von Religionen führt nicht zu größerer Einheit, sondern zu Fundamentalismen, die Einzelnes verabsolutieren und dabei komplexe Zusammenhänge verdecken und den rationalen Dialog verhindern; (2) dass die 20 Nagels Studie hinterfragt aus philosophischer Perspektive das „materialistisch-neo-darwinistische“ Weltbild grundsätzlich: „The great advances in the physical and biological sciences were made possible by excluding the mind from the physical world. This has permitted a quantitative understanding of that world, expressed in timeless, mathematically formulated physical laws. But at some point it will be necessary to make a new start on a more comprehensive understanding that includes the mind“ (Nagel 2012: 8); “So if mind is a product of biological evolution […] then biology cannot be a purely physical science (ibd., 15); „The existence of conscious minds and their access to the evident truths of ethics and mathematics are among the data that a theory of the world and our place in it has yet to explain“ (ibd., 31); „[…] why has physical evolution produced organisms of a kind capable of being occupied by and interacting with minds?“ (ibd., 49, Anm. 12); „Evolutionary naturalism implies that we shouldn’t take any of our convictions seriously, including the scientific world picture on which evolutionary naturalism itself depends“ (ibd., 28); „Merely to identify a cause is not to provide a significant explanation, without some understanding of why the cause produces the effect“ (ibd., 45). – Vgl. ferner Hösle (2013: 4): „Mental states cannot be identified with physical ones […].“
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philosophische Dimension des Partizipations‑ bzw. Teilhabe-Gedankens die Vermittlung zwischen sehr unterschiedlichen religionsphilosophischen Systemen mono‑ und polytheistischer Prägung ermöglicht; (3) dass der interreligiöse Dialog bereits vor 2000 Jahren (spätestens seit Origenes) bis hin zur Schwelle zwischen Mittelalter und früher Neuzeit (bei Cusanus) in einer Weise, die dem rationalen Anspruch von Theologie verpflichtet war, geführt oder zumindest vorbereitet wurde.21 Denn wie Levy / George-Tvrtkovič / Duclow (2014 b: 3) zu Recht unterstreichen, sieht eine interreligiöse Auseinandersetzung für Cusanus (und seine Vorläufer) freilich ganz anders aus, als man aus (post‑)moderner Perspektive erwarten würde: „In this respect, dialogue becomes less a matter of face-to-face conversation than a hermeneutical affair […]“ (ibd., 5). Die hier besprochenen Texte und Autoren bemühen sich tatsächlich vorerst um „argument and discussion, taking care not to let doctrinal differences disappear in a cloud of fuzzy benevolence“ (Alfsvåg 2014: 63). Insbesondere Cusanus’ De pace fidei „möchte die sachliche Debatte zu einer sehr weitreichenden Einigung ausbauen und unterscheidet sich darin merklich von heute beliebten Versuchen, eine tiefe mystische Einheit aller Religionen gegen deren ‚bloß‘ rational gegensätzliche Dogmatiken auszuspielen“ (Riedenauer 2007: 368). Schick (2013: 267) macht treffend auf einige Grundunterschiede zwischen dem interreligiösen Dialog bei Cusanus und in der (Post‑)Moderne aufmerksam: Diese genuin praktische Motivation [sc. des postmodernen interreligiösen Dialogs] bringt es mit sich, dass auch die Bedingungen des religiösen Dialogs unter vornehmlich pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die Frage nach der Vernünftigkeit oder Wahrheitsfähigkeit religiöser Überzeugungen wird weitgehend ausgeblendet.
Kurz gesagt: Der Nutzen könnte darin bestehen, die „Elastizität“ und das Dialogpotential platonischen Denkens neu würdigen zu lernen,22 weil hier ein rationaler Bezugsrahmen eröffnet wird, in dem Lebenssinn und religiöser Glaube (verschiedener Ausprägung) noch ihren sowohl vernunftgemäßen wie emotionalen Raum finden können. Dabei sind Dialog und Toleranz, platonisch verstanden, keine bloßen moralischen Maximen bzw. Imperative, sondern haben ihr sachliches Fundament in den reflexiv erschließbaren Voraussetzungen des begrifflichen Denkens und des sachlich-begreifbaren Seins, d. h. in der (gerade nicht weltbezugslosen) platonischen Metaphysik, welche ihren Ausgangspunkt einzig der Frage verdankt, was jeweils gedacht werden muss, um eine bestimmte Sache als sie selbst begrifflich zu erschließen. 21 Vgl. in dieser Hinsicht auch den von Geerlings (†) / Ilgner (2009) herausgegebenen 100. Band der Fontes Christiani: Monotheismus – Skepsis – Toleranz: Eine moderne Problematik im Spiegel von Texten des 4. und 5. Jahrhunderts. 22 Zum Begriff der „Elastizität“ platonischen Denkens vgl. Schmitt (2011: XI, 169). Dazu, dass „der Begriff Dialog“ gerade „in der platonischen und in der christlichen Tradition einen bedeutenden Stellenwert hatte“, vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 97).
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Im Folgenden soll es also darum gehen, diese Diskussionen in ihrer Systematik und Geschichte an ausgewählten einschlägigen Stationen nachzuzeichnen, wobei ein Buch, das zwar eine Reihe von Autoren miteinander in Beziehung zu setzen versucht, selbstverständlich seine Limitationen hat: Die Auswahl der Autoren kann in keiner Weise irgendeine Vollständigkeit für sich in Anspruch nehmen – so fehlen, um nur einige Namen zu nennen, z. B. eigens den Neuplatonikern Jamblich und Syrian gewidmete Kapitel; christliche Denker wie Gregor von Nyssa, Marius Victorinus, Bonaventura, Meister Eckhart, Ramón Llull konnten nicht miteinbezogen werden. Auch die Forschungsliteratur konnte nicht bei allen Autoren und Themen gebührend eingearbeitet und repräsentiert werden – die detaillierte Auseinandersetzung habe ich vor allem dort gesucht, wo die hier vertretenenen Thesen und Interpretationen gegenüber vorherrschenden Forschungsmeinungen differieren und nur unter Bezugnahme auf den Forschungsdiskurs sinnvoll entwickelt werden können. Vor allem im Hinblick auf die Teilhabe-Philosophie und neuplatonische Theologie ruhen meine Untersuchungen auf Vorarbeiten auf, die bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden.23 Alle Übersetzungen (aus dem Griechischen, Lateinischen, Hebräischen, Arabischen) stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. Da es sich fast ausschließlich um philosophisch-theologisch argumentierende Texte handelt, wurde zumeist eine möglichst direkte Spiegelung des Originals im Deutschen angestrebt, weniger eine glatt lesbare Übertragung, welche möglicherweise gerade diejenigen inhaltlichen Nuancen, die von unserem heutigen common sense sowie Sprachgebrauch abweichen, verdecken würde, auf deren Aufdeckung es aber besonders ankommt. Bisweilen lässt sich bei dieser Methode eine gewisse Sperrigkeit im Deutschen nicht vermeiden, die aber in den auf die Übersetzung folgenden Interpretationen erhellt werden soll. Auf die Angabe der griechischen, lateinischen und hebräischen Originalzitate musste aus Platzgründen leider verzichtet werden; dafür werden zentrale Begriffe in Umschrift angegeben. Wie schon erwähnt, ist die Arbeit zur Leserlenkung durch eine Fülle von Querverweisen (auf Kapitel oder auch Fußnoten) ‚verlinkt‘. Die Anmerkungen selbst beinhalten neben Belegen oft auch weiterführende Argumente und sachliche Details, die für das erste Lesen den Duktus des Haupttexts stören bzw. verunklaren könnten; sie bieten somit wichtiges Ergänzungsmaterial, das je nach Lesemodus entweder gleich in die Lektüre einbezogen oder aber (zunächst) auch ausgeblendet werden kann. Alle verwendeten Editionen sind in der Bibliografie unter „Primärtexte“ aufgelistet. Die hier verwendeten Abkürzungen für die Zitation der Primärtexte sind in der obigen, auf das Inhaltsverzeichnis folgenden Übersicht zusammengestellt. Die Beiträge der Forschungsliteratur werden mit der Angabe von „Autor S. meine im Literaturverzeichnis aufgelisteten Arbeiten (vor allem Drews 2011 und 2009).
23
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(Erscheinungsjahr: Seitenzahl)“ zitiert; die Volltitel sind entsprechend in der Bibliografie unter „Sekundärliteratur“ anhand des Autornamens und des Publikationsjahres leicht auffindbar.
II. Philosophische Grundlagen: Wegmarken der systematischen und historischen Entwicklung der platonischen Teilhabe-Philosophie, Ontologie und Theologie 1. Die ontologisch-epistemologische Grundlegung bei Parmenides aus Elea Das Proöm der Lehrgedicht-Fragmente des Vorsokratikers Parmenides (ca. 515–445 v. Chr.) beginnt bekanntlich mit der spektakulären Fahrt eines durch den Galopp „sehr weiser Stuten“24 dahinjagenden Wagens,25 in welchem ein junger Mann (kouros26) unter dem Geleit der Helios-Töchter27 zum (bzw. hinter das) Tor der Bahnen von Tag und Nacht28 gebracht wird und schließlich zu einer nicht genauer benannten Göttin gelangt.29 Von ihr empfängt er eine Offenbarung über „das unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit“30 bzw. über das absolute Sein (to eon), wobei sich diese ‚Empfängnis‘ von vornherein als frg. 1, 4. Vgl. die bildliche Beschreibung mit den „pfeifenden Radnaben“ in frg. 1, 6 f. 26 frg. 1, 24. 27 frg. 1, 9. 28 frg. 1, 11. Die Frage, in welche Richtung der kouros im Geleit der Heliaden die „Pforten von Tag und Nacht“ durchquert, wird in der Forschung kontrovers diskutiert: in Richtung des Lichts (Rapp 2007: 93) oder in Richtung des Hauses der Nacht (Primavesi 2005: 79). Gegen eine Lokalisierung der Reise jedweder Art wendet sich Tarán (1965: 24), ähnlich Mourelatos (2008: 15, 40). Zum Proöm als „Darstellung der Ausfahrt ins Denken“ s. Volkmann-Schluck (1992: 63). Vgl. ferner Burkert (1969: 14–16): „Die Fahrt des Parmenides ist weder ein Übergang von der Nacht zum Licht […], noch weniger ein rein literarischer Einfall ohne tiefere Bedeutung. […] Das Jenseits ist in der wohl urtümlichsten Vorstellung weder oben noch unten, sondern einfach sehr, sehr weit entfernt. […] Parmenides ist hinter das Tor gelangt, aus dem die Bahnen von Nacht und Tag im Wechsel hervorgehen. Sie scheinen in ihrer gegenseitigen Ausschließlichkeit diese unsere Welt zu bestimmen. Doch wer vorzustoßen vermag in den Ursprung, wird die Einheit und Fülle des Seienden begreifen“ (Kursive FD). Mir scheint, dass der Offenbarungscharakter des Lehrgedichts nur im Kontext der Licht-Metaphorik einen überzeugenden Sinn gibt; hinzu kommt, dass die Helios-Töcher bezeichnenderweise ihre Schleier vom Haupt gezogen haben – auch dies möglicherweise ein Indiz dafür, dass es um Entschleierung bzw. ‚Lichtung‘ im weitesten Sinne geht. 29 frg. 1, 22. 30 frg. 1, 29. 24 25
1. Die ontologisch-epistemologische Grundlegung bei Parmenides aus Elea
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Erkenntnisaufgabe an den Jüngling gestaltet.31 Der Erkenntnisweg, der dabei eingeschlagen wird, liegt explizit „fernab der Menschen“.32 Damit ist von vornherein deutlich, dass Parmenides’ Perspektive auf das Sein, to eon, über das Offensichtlich-Alltägliche der äußerlichen, sinnlich-wahrnehmbaren Existenz hinausgeht.33 Denn das Sein selbst soll allein dem Erkenntnisakt des noein, des vom sinnlichen Wahrnehmen epistemologisch zu unterscheidenden rational-intellekthaften Begreifens,34 zugänglich sein; das noein und das Sein (einai) seien auf bestimmte Weise sogar identisch und ohne das Sein könne auch das noein nicht gefunden werden;35 der noos trenne das Sein nicht vom Sein; für ihn sei sogar „Abwesendes anwesend“.36 Aufbauend auf der in bestimmter Weise dem aristotelischen Widerspruchsaxiom ähnelnden bzw. es sogar vorwegnehmenden Unterscheidung Ist (éstin) oder Ist nicht (ouk éstin)37 führt die Göttin aus, dass den Pfad der Wahrheit einzuschlagen nur auf dem Weg des Ist, also auf der Fährte des (in sich selbst) bestimmten Seins, möglich ist.38 Unumstößliche Wahrheit kann nur auf immer gültiger Erkenntnis beruhen; unumstößliche Wahrheitserkenntnis kann somit nur sie selbst sein, wenn sie Erkenntnis von wahrhaft Seiendem ist, sonst ist sie weder wahr noch Erkenntnis. Auf diesem Wahrheitspfad schließt die unterweisende Göttin das innere Wesen des von sich selbst her voll bestimmten Seins auf,39 welches im Begriff des allein durch seine innere Bestimmtheit charakterisierten Ist (éstin) impliziert war: Dem absoluten Sein, welches nur Ist (und in keiner Weise oder Hinsicht nicht-Ist), eignet Wahrheit, Unumstößlichkeit, Unvergänglichkeit, Unentstandenheit, Ewigkeit, Einheit etc.40 Dieser Bereich des vollgültigen Seins ist gemäß der Unterweisung der Göttin radikal geschieden von der Realität der sinnlich zugänglichen Alltagswelt: Denn diese sei die Welt der doxa, d. h. des täuschungsanfälligen Scheins und der Meinung – im markanten Unterschied zum Bereich der Wahrheit und des begreifenden Erkennens (noein).41 Interpretiert man diese Scheidung mit aller Konsequenz, dann teilt sich Parmenides’ Lehrgedicht nicht nur formal in den 31 Zur vorausgesetzten Erkenntnisaktivität des kouros vgl. die Aufforderung krinai (frg. 7, 5), ferner den Appell an das noêsai (frg. 2, 2; frg. 8, 8). 32 frg. 1, 27. 33 Zu diesem Problem bei Parmenides selbst sowie in seiner antiken (Aristoteles) und spätantiken Interpretation (Simplikios) vgl. Drews (2012 a). 34 frg. 7. 35 frg. 3; frg. 8, 34–36 a. Vgl.: „[…] nur das kann gedacht oder erkannt werden, was im eigentlichen Sinne des Wortes ist. Daher vollzieht sich in der Parmenideischen Tradition die Erkenntniskritik immer auch als eine Kritik des Erkenntnisgegenstandes“ (Rapp 2007: 16–17). 36 frg. 4, 1–4. 37 Vgl. Schmitt (2008 a: 118). 38 frg. 2, 1–8. 39 Zur „Seinsfülle“ von to eon vgl. frg. 8, 24 b. 40 frg. 8. 41 frg. 1, 29–30; s. ebenso frg. 8, 50 ff.
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II. Philosophische Grundlagen
Wahrheits‑ (aletheiê) und den kosmologisch-kosmogonischen Meinungs-Teil (doxa)42: Vielmehr differenziert dann bereits der eleatische Vorsokratiker dezidiert zwischen einer rein geistig-begreifbaren Wirklichkeit des prägnanten, ewigen, geistigen Seins (to eon, aletheiê, noein) einerseits und der der Veränderung bzw. der unterschiedlichen Mischung unterliegenden physikalischen Realität (doxa) zusammen mit den sich auf diese (direkt oder indirekt) beziehenden Sinneswahrnehmungen43 andererseits. Dadurch wird in ontologischer Hinsicht gegen eine gängige Parmenides-Interpretation44 klar, dass der Bereich des noetischen Seins nicht mit dem der äußerlich existierenden Dinge (z. B. Sonne, Mond, Gestirne45) zusammenfallen kann,46 die „entstanden sind“,47 wohingegen to eon explizit als „ungeworden“48 beschrieben wird und kein „Entstehen“ oder „Wachstum“ habe.49 In epistemischer Hinsicht gibt es im Bereich der doxa keine unumstößliche, noetische Erkenntnis, wohl aber (im Idealfall) richtige Meinungen:50 Parmenides macht also auf die epistemische Limitation der Sinneswahrnehmungen aufmerksam, ohne dabei die sinnliche Welt von vornherein als pure Täuschung abzuwerten.51 Alle diese genannten Differenzierungen nimmt Platon in seiner Ontologie und Epistemologe auf und widmet Parmenides nicht ohne Grund einen seiner wichtigsten Dialoge. Dabei rekurriert Platon nicht nur auf die besagte ontologischepistemologische Axiomatik des Eleaten, sondern entwickelt sie weiter, indem er das Problem zu lösen versucht, welches der historische Parmenides, soweit die Überlieferung reicht, noch nicht aufhellen konnte: „wie die notwendige, und […] ganz und gar unverzichtbare Erkenntnisvoraussetzung des Widerspruchsaxioms mit der Tatsache der Veränderung vereinbar ist.“52 frg. 9–19. frg. 7. 44 Nicht unwesentliche Teile der Forschung tendieren dazu, Parmenides’ Seinsbegriff im Sinne von ‚Existenz‘ zu verstehen, so dass Parmenides’ Argumentation gemäß Kirk / Raven / Schofield (2001: 272, 274) „auf die Feststellung hinaus[laufe], daß jeder beliebige Gegenstand des Denkens ein wirklicher Gegenstand sein muß“ bzw. „daß jeder Gegenstand, den wir untersuchen, existieren muß.“ Ähnlich Barnes (2000 [1982]: 163): „Thus Road (A) says that whatever we inquire into exists.“ Ebenso Owen (1993: 272): „[…] he [sc. Parmenides] wants to reason about whatever it is that can be a subject, whatever it is that can be talked and thought about.“ Zu dieser Parmenides-Interpretation in ihrer Abhängigkeit von Bertrand Russel vgl. die Kritik von Palmer (2009: 19–25, 74–82). 45 Vgl. frg. 10. 46 Vgl. in diesem Sinne Schmitt (2008 a: 137) sowie Drews (2012 a). 47 frg. 10, 6. 48 frg. 8, 3. 49 frg. 8, 6–11. 50 Schmitt (2008 a: 119). 51 So aber Tarán (1965: 31). Zur Kritik an einer solchen Interpretation vgl.: „There is consequently no good reason to saddle him [sc. Parmenides] with the view that the everyday world of distinct and changing objects is a non-existent illusion and that we are deluded in believing in its existence“ (Palmer 2009: 49, ferner 106, 161–3, 323). Vgl. ebenso Angehrn (2011: 28). 52 Schmitt (2011: 121, Anm. 293). 42 43
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Die Lösung dieses Problems fußt bei Platon maßgeblich auf dem Schlüsselbegriff der methexis, der Anteilhabe: Die äußerlichen Sinnesdinge haben ausschnitthaften Anteil an dem (bzw. den) seinskonstituierenden Prinzip(ien). Freilich erhält dieses ontologisch-metaphysische Theorem erst dann einen Sinn, wenn eine vorausliegende Differenzierung zwischen wahrem, geistigem Sein und vergänglicher, äußerlich-dinglicher Existenz gegeben ist, wie sie Parmenides vorgenommen hat. Die Tatsache, dass Parmenides to eon explizit als „Eines“ (hen) und „jetzt zugleich Ganzes“53 beschreibt, gibt bereits im Ansatz die Richtung vor, in der alle auf Platon aufbauende Philosophie das Verhältnis zwischen Einem und Vielem ausdifferenzieren und die platonische Religionsphilosophie (christlicher wie nicht-christlicher Prägung) mono‑ und polytheistische Elemente vermittelnd in ein System zu bringen versuchen sollte. Vor diesem Hintergrund gilt es während der gesamten folgenden Untersuchung, immer auch die Frage präsent zu halten, ob mit der „Parmenideischen Unterscheidung“ zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen wahr und falsch tatsächlich ausschließlich ein logischer „Denkzwang“ eingeführt wurde, von welchem Jan Assmann ([2009: 213], [2003: 23–24, 133]) im Anschluss an Werner Jäger (1954: 237) in Bezug auf Parmenides spricht: Diesem – genauso wie dem jüdischen Religionsbegriff – schreibt Assmann „eine neuartige Kraft zur Unterscheidung, Negation und Ausgrenzung“ (ibd., 24) zu. Alfons Fürst (2007: 254) hat mit Blick auf den religiösen Kontext zu Recht hinterfragt, ob „mit dem Anspruch auf universale Wahrheit notwendigerweise Intoleranz und mindestens Gewaltbereitschaft, wenn nicht gleich Gewalt einhergehen […].“ Analog lässt sich in wissenschaftstheoretischer Hinsicht fragen: Muss Wissenschaft mit parmenideischem Anspruch in einem bestimmten Sinn zwangsläufig „ ‚intolerant‘ “ (Assmann 2003: 25) sein? Oder könnte auch das Umgekehrte zutreffen, dass Parmenides mit seiner Seinsphilosophie und der nicht auf Ausgrenzung abzielenden, sondern zwischen zwei Wirklichkeitsbereichen lediglich sachlich differenzieren‑ den Unterscheidung eine Basis gelegt hat für ein – auf philosophischer Reflexion fußendes – tolerantes Miteinander verschiedener Weltbilder und Religionen?
2. Platons Explikation des Methexis-Gedankens Mag aber wohl [sc. etwas] partizipieren an dem Einen, dann ist klar, dass es sich um ein anderes Seiendes handelt als Eines – sonst hätte es nämlich nicht Anteil, sondern wäre selbst Eines. Nun aber ist Eines zu sein doch wohl unmöglich außer für das Eine selbst. – Unmöglich. – Zu partizipieren aber an dem Einen ist notwendig sowohl für das Ganze als auch für den Teil. Denn dieses wird ein Ganzes sein, dessen Teile die Teile sind; jenes aber wiederum jedes ein Teil des Ganzen, welches auch immer Teil eines Ganzen ist. – Genauso. – Werden also nicht die an ihm Partizipierenden als von dem Einen ver frg. 8, 5 b–6 a.
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schieden Seiende partizipieren? – Wie sonst? – Die aber von dem Einen Verschiedenen werden doch wohl viele sein: Wenn nämlich die anderen als das Eine weder Eines noch mehr als Eines sein sollten, dann dürften sie wohl nichts sein. – Folglich nicht (Platon, Parm. 158a3–b4).
Während der historische Parmenides aus Elea die Frage nach dem (absoluten) Sein stellte, welches er als Eines beschreibt,54 zeigt Platon (428/7–348/7 v. Chr.) in seinem nach dem Eleaten benannten Dialog das Eine als im Begriff des Seins bereits impliziert auf: Sein (im Sinne des sachlich bestimmten Seins) kann nur, was der Bedingung der Einheit unterliegt bzw. ein bestimmtes Eines ist. Dies gilt jedoch nicht zwingend umgekehrt: Was nur und ausschließlich Eines [ist], dem können nicht zwei Aspekte eignen wie ‚Eines‘ plus ‚Sein‘. Dies ist die Konsequenz, die Platon seinen Parmenides in der ersten Hypothesis des gleichnamigen Dialogs entwickeln lässt.55 Die theologische Tragweite dieses Zusammenhangs wird später zu diskutieren sein.56 Zunächst ist deutlich, in welcher Form Platon Parmenides weiterdenkt: Der Fluchtpunkt des einen absoluten Seins, von dem der Vorsokratiker spricht, ist gemäß Platon einerseits die Bestimmung des Einen selbst, andererseits die Bedingtheit alles Seienden durch das Eine, da jedes Seiende in seiner Einheitlichkeit sowohl als Ganzes wie auch als Teil57 die Anteilhabe an dem Prinzip der Einheit, also dem Einen selbst, voraussetzt, wie das obige Zitat zeigt. Dieser letztere Zusammenhang soll zunächst an einer Passage aus dem fünften Buch der Politeia näher verdeutlicht werden. Hier geht es freilich nicht um das Eine selbst im Sinne des höchsten, überwesentlichen Prinzips sowohl allen Seins überhaupt wie auch aller spezifisch seinsstiftenden, platonischen Ideen (eidê), sondern um die Explikation des Gedankens, dass jeder dingliche Gegenstand in seiner wesentlichen Bestimmung als genau dieser Gegenstand dieses sein bestimmtes Sein der Anteilhabe an der ihm dieses Sein anteilmäßig vermittelnden Idee verdankt. Einfacher formuliert: Es geht in dem von Platon gewählten Beispiel darum, warum schöne Dinge in und trotz aller ihrer Verschiedenheit schön ‚sind‘ bzw. als ‚schön‘ erkannt / empfunden werden können. In der besagten Passage fragt Sokrates seinen Gesprächspartner Glaukon, ob jemand, der zwar viele schöne Dinge anerkennt, nicht aber Schönheit selbst für wahr hält und auch nicht demjenigen folgen möchte, der ihn zur Erkenntnis des Schönen selbst führen könnte, ob dieser also eher ein Träumender oder S. Anm. 53. Platon, Parm. 141e9–142a1. Vgl. zur Problematik Drews (2009: 264). – Zum TeilhabeBegriff bei Platon (mit dem Fokus auf die Dialoge Phd., Parm., soph., Tim.) vgl. Sweeney (1992: 47–68). 56 S. dazu unten die Kapitel zu Apuleius (II.4.2), Plotin (II.5) und Proklos (III.d). Zu Platons Theologie s. Bordt (2006), speziell zum Thema Monotheismus und Polytheismus ibd., 79–95. 57 Zur Problematik der Anteilhabe am Ganzen und am Teil s. u. Kap. III.c sowie Drews (2011: 165 f.). 54 55
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Wachender sei. Denn ‚träumen‘ bestehe darin, dass jemand etwas Ähnliches nicht als ähnlich, sondern für dasjenige selbst halte, dem es eben nur ähnlich ist. Glaukon meint, ein solcher sei ein Träumender.58 Mit diesen Ausführungen zielt Platon darauf ab, dass die äußeren, einzelnen schönen Dinge / Gegenstände dem Wesen des Schönen selbst nur ähnlich, aber eben nicht das Schöne selbst sind: Wer meine, das Wesen des Schönen selbst ‚stecke‘ in den einzelnen schönen Dingen immanent ‚drin‘, der verwechsele das, was dem Schönen ähnelt, mit dem, was das Schöne selbst ist. Diese Verwechslung sei so, als wenn man einen Traum für die wahre Realität halte. Wie kommt es aber, dass Platons Sokrates immerzu davon sprechen kann, einzelnes Schönes sei dem wahrhaft Schönen ähnlich? Daher fragt Sokrates weiter: Was denn nun? Wer im Gegenteil sowohl das Schöne selbst für etwas Bestimmtes (ti) hält und es selbst sowie die an jenem Partizipierenden (ta metechonta) zu schauen vermag und weder die Partizipierenden für es selbst [= das Schöne selbst] noch es selbst für die Partizipierenden hält, scheint dir wiederum auch dieser wachend oder träumend zu leben? – Selbstverständlich wachend! – Würden wir also nicht zu Recht sagen, dass dessen rationales Denken (dianoia), weil es zu einem gehört, der erkennt, Erkenntnis sei, dass [sc. das Denken] von jenem aber Meinung sei, weil es zu einem gehört, der meint? – Ganz genau (resp. 476c9–d7).
Platons Begründung dafür, warum das einzelne Schöne dem Wesen des wahrhaft Schönen ähnlich sei, führt direkt zum platonischen Konzept der methexis: Das einzelne Schöne habe auf irgendeine Weise Anteil an dem wahren Schönen. Der wachende Mensch ist für Platon der, welcher zwischen dem Schönen selbst und den an ihm Anteil Habenden differenziert und nicht beides einfach unkritisch für dasselbe hält. Platon sagt nicht, dass der Wachende, d. h. der Philosoph, sich einfach mit dem Schönen selbst begnügen soll, sondern beides genau zu unterscheiden habe: einerseits das einzelne Schöne, was an der Natur des Schönen selbst lediglich Anteil hat, und andererseits das Schöne selbst. Wer dazwischen genau differenziere, dessen rationales Denken gelange zu einer Einsicht, weil er etwas Bestimmtes rational genau unterschieden und erkannt habe, während jener, der diese Differenzierung nicht zu vollziehen vermag und das einzelne Schöne immer gleich für das Schöne an sich, also das absolute Schöne halte, im Bereich der Meinung verbleibe. Dieser epistemologische Aspekt verweist bekanntlich wiederum zurück auf den Vorsokratiker Parmenides und seine Unterscheidung zwischen bloßer Meinung und tatsächlicher Erkenntnis. Beides, Erkenntnis und Meinung, haben sowohl für den Eleaten wie für Platon ihre spezifische Berechtigung: Das Meinen, dieses Musikstück sei schön und jene Malerei auch, aber jene Praline sei wiederum schöner als das Musikstück – dieses Meinen ist nach Platon durchaus 58 resp. 476 c. Zum Schön-Sein von etwas durch Anteilhabe an dem einen Eidos des Schönen vgl. Phd. 100 c.
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legitim, nur gerät dabei noch nicht in den Blick, was denn nun diese Musik oder jenes Kunstwerk oder jene Delikatesse jeweils zu etwas Schönem macht und worin die Schönheit all dessen genau besteht. Meinungen über schöne Dinge gehen selbstverständlicherweise auseinander: Sogar ein einzelner Mensch ändert seine Meinung und empfindet nicht an jedem Tag dasselbe Musikstück in gleicher Weise als schön. D. h., die Meinungen über das Schöne sind in sich schwankend, und auch das einzelne Schöne ist in sich nicht unbedingt dauerhaft schön: Der Verzehr einer Delikatesse oder der Vollzug eines Musikstücks gehen vorüber; beides kann einen bleibenden Eindruck hinterlassen, bleibt aber in seinem jeweiligen Schönsein – auch zeitlich – begrenzt. Diese Vergänglichkeit des einzelnen Schönen und die offensichtlich differierenden, einander sogar oft widersprechenden Meinungen der Menschen darüber, ob und was schön ist, sind nach Platon kennzeichnend für den Bereich der doxa, der Meinung. Gemäß Platon führt dieser unterschiedliche Meinungsbefund aber nun gerade nicht zu der Schlussfolgerung, dass a) das einzelne Schöne gar nicht wirklich schön sei oder b) die divergierenden Meinungen darüber, was schön sei, nur belegen würden, dass es eben letztlich gar nichts wirklich Schönes gebe und sich gleichsam nur jeder einzelne Mensch ganz subjektiv sein eigenes Schönes zurechtlege. Im Gegenteil, Platon gesteht durchaus zu, dass Einzelnes, was als schön empfunden wird, Anteil hat an Schönheit. Anteilhaben bedeutet jedoch, dass es sich bei Derartigem um eine an-teilhafte, also partikuläre Verwirklichung von Schönheit handele. Und genau wegen dieser Partikularität ist es auch ganz natürlich, dass nicht alle Menschen derselben Meinung darüber sein müssen, was sie jeweils als schön empfinden: Anteilhabe bedeutet ja gerade nicht, dass das Schöne an sich im Einzelnen ‚drinsteckt‘. Damit widerspricht Platon der Sache nach allen totalitären Versuchen, einfach festlegen zu wollen, welche einzelnen Kunstwerke als schön zu gelten haben und welche nicht: Denn ein solcher Totalitarismus verkennt gemäß Platon den Unterschied zwischen einer an Schönheit mehr oder weniger Anteil habenden, dinglichen Instanz der Schönheit und dem intelligiblen Eidos bzw. Prinzip der Schönheit selbst. Umgekehrt ist es gemäß Platon jedoch auch nicht so, dass das Schöne nur vom jeweils individuellen Geschmack ganz subjektiv festgeschrieben wird und sich somit jeglichem rationalen Zugang völlig verschließt. Denn es muss sich nach Platon schon begründen lassen, warum jemand genau diese Speise als delikat oder diese Musik als umwerfend schön erachtet, warum z. B. genau diese Mischung aus kaltem Speiseeis und heißen Kirschen einen Wohlgenuss bereitet oder warum dieses Zusammenspiel von Orgel und Gitarre oder warum diese sich über einen gestreckten Zeitraum immerzu steigernde Stimmung eines Liedes ein Schönheitserlebnis bietet. Bereits diese skizzenhaften Andeutungen lassen vielleicht erahnen, dass Schönheit platonisch letztlich immer das harmonische Mit‑ und Zueinander der verschiedenen Teile eines Ganzen, d. h. die sowohl in
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einem Ganzen als auch in dessen einzelnen Teilen jeweils realisierte und zusammenstimmende Einheit meint: In diesem Sinne bedeutet Schönheit „die ontologische Vollkommenheit des Seins“ (Halfwassen 2008 b: 204), insofern Seiendes qua geeinter Vielheit jeweils eine sowohl die vielen Aspekte eines Ganzen im Einzelnen wie auch diese Ganzheit selbst komplexiv durchwaltende Einheit ist und somit eine im (besten Sinne) gesteigerte, reiche Einheit und daher anziehende Schönheit aufweist. Die einzelnen schönen Dinge sind also nach Platon etwas einzelnes Bestimmtes; aber partikuläres Schönes ist platonisch nur deshalb schön, weil dieses einzelne Schöne eine ganz bestimmte Verwirklichung der universell begreifbaren Idee des Schönen selbst ist und an ihr Anteil hat. Eben diese Idee des Schönen selbst ist für Platon ebenfalls und sogar gerade in herausgehobener Weise etwas Be‑ stimmtes, aber als solche etwas rein Geistiges und nur auf der Erkenntnisebene des intellektiven Denkens bzw. Schauens ergründbar.59 Dieses zu ergründen, ist Aufgabe des Philosophen, den der platonische Sokrates als „Schaulustigen der Wahrheit“ bezeichnet.60 Dabei ist der schon von Parmenides zugrunde gelegte Wahrheitsbegriff präsent: Wahrheit ist nur dann wirklich wahr, wenn sie unvergänglich ist.61 Der Aspekt der Anteilhabe ist also unmittelbar mit der Ideenlehre Platons verknüpft. Dabei greift Platon die Differenzierung des Parmenides zwischen intelligibel-noetischer Erkenntnis und sinnesverhafteter Meinung unmittelbar auf, erweitert aber die duale Unterscheidung zwischen sinnlicher Realität und intelligibel-noetischem Sein um ein verbindendes Moment: Der Bereich der Sinne und der doxa steht nicht mehr bezugslos dem wahren, noetischen Sein der unumstößlichen Wahrheit gegenüber, sondern zeigt bestimmte (d. h. keine völlig beliebigen) Strukturen, die darauf hindeuten, dass die materielle, im Werden und Vergehen begriffene Welt in ihrer äußerlichen Existenz abhängig ist von dem intelligiblen Sein der Wahrheit, d. h. platonisch: dem Sein der Ideen, da jegliche materielle Strukturiertheit letztlich auf ein diese Struktur bestimmendes Denken zurückgeht. Alles Werdende, so Platon im Timaios, müsse eine bestimmte Ursache haben, denn ohne Ursache werde nichts. Der Schöpfergott des sinnlich-wahrnehmbaren, vergänglichen Kosmos, der sog. Demiurg, aber blicke auf das immer und wahrhaft Seiende und nutze dieses als Orientierungspunkt, als ein paradeigma,
59 Vgl. die Diotima-Rede in Platons Symposion, speziell zur intellektiven Schau vgl. den Begriff des theorôn (symp. 210d4), des theômenos (211d2) und des idein (211e1). Zum metaphysisch begründeten Begriff des Schönen im Platonismus vgl. die exzellente Darstellung von Halfwassen (2008 b). 60 resp. 475e4. 61 Vgl. resp. 476e6–477b11.
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an welchem sich orientierend er den sinnlich-wahrnehmbaren, vergänglichen Kosmos als Abbild erschaffe.62 Wenn also dieser [sc. sinnlich-wahrnehmbare] Kosmos schön ist und der Schöpfergott (Demiurg) gut, dann ist klar, dass [sc. Letzterer] auf das Ewige [sc. das paradeigmatische Sein der Ideen] schaute. […] Der eine [sc. nämlich der sinnlich-wahrnehmbare Kosmos] ist der schönste von allem Gewordenen, der andere [sc. sein Schöpfer] aber der beste der Urheber (Tim. 29a2–6).
Das Denken der intelligiblen Ideen bzw. des sich an ihnen orientierenden Schöpfergottes (Demiurg) bringt also gemäß Platon eine sinnliche Abbildung des Intelligiblen an der Materie hervor und strukturiert die Materie dadurch, dass sie anteil-ausschnitthafte Verwirklichung des ewigen Intelligiblen wird. Damit vermittelt der Demiurg intelligibles Sein in anteilhafter, und das bedeutet zugleich: werdend-vergehender Weise an die Materie. Analoges gilt für Platons Anthropologie: Der Mensch spaltet sich nicht dualistisch in Geist und Körper auf, sondern die Seele fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen beiden, vermittelt dem Körper anteilhaft seine bestimmte Struktur und ist als Seele selbst ein ‚Produkt‘ des Intelligiblen, etwas vom Geist ‚Hervorgebrachtes‘: Der Intellekt (nous) wiederum [d. h. das Vermögen, welches die wahren Ideen zu begreifen vermag] könne ohne Seele keinem beiwohnen. Aufgrund dieser Überlegung setzte dieser [sc. der Demiurg] Intellekt in Seele (psychê), Seele aber in Körper (sôma) und fügte so das Ganze zusammen, auf dass er gemäß der Natur das schönstmögliche und beste Werk hervorgebracht hätte. So also muss man nach der wahrscheinlichen rationalen Rede (kata logon ton eikota) sagen, dass dieser Kosmos ein beseeltes (empsychon) und intellektbegabtes (ennoun) Lebewesen in Wahrheit wegen der Vorsehung (pronoia) des Gottes geworden ist (Tim. 30b3–c1).
Wie sich hier bereits andeutungsweise zeigt, ist Theologie für Platon ein Implikat der Ontologie: Nur weil materiell Existierendes eine bestimmte Gestalt aufweist, ergibt sich die Frage nach der Ursache dieses Bestimmten.63 Diese Ursachen umfassen, wie am Timaios ersichtlich, neben der geformten Materie selbst Form‑ Tim 28a4–7. Zu diesem Argument vgl. Hösle (2013: 6): „The Timaeus (29 e ff.) offers a picture of the world as a place in which the Idea of the Good realizes itself – the basic structures of the world are as they are because they realize value; ontology is rooted in axiology.“ Allerdings wäre es platonisch eine Über‑ bzw. Fehlinterpretation, die ‚Welt‘ in ihrem faktischen Bestehen total auf eine direkte Selbstentfaltung Gottes zurückführen zu wollen (dies ähnelte eher der stoisch-deterministischen Position, wonach der göttliche Logos direkt und total in der Materie präsent ist und entsprechend alles unterschiedslos in der Welt auf diesen Logos zurückgeführt werden muss). Gemäß Platons Timaios ist die Welt zwar als ein gutes Abbild geschaffen; trotzdem gibt es in ihr Kontingenz, Freiraum für die selbst zu verantwortende Entfaltung der Seelen zum Guten wie zum Mangelhaft-Schlechten innerhalb dieser Welt, so dass ihr Zustand, insbesondere die Übel, nicht mittels eines philosophischen Kurzschlusses auf Gott selbst zurückgeführt werden können, welcher nach Platon im Hinblick auf die Menschenwelt nur „für Weniges“ ursächlich sei (resp. 379c3–4). 62 63
3. Aristoteles und der platonische Teilhabe-Gedanke
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und Wirkursachen: Die Formursachen (Ideen, eidê) beinhalten das bestimmte Sein einer sachlichen Einheit (z. B. ‚Schönheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Punkt‘, ‚Dreieck‘64), die Wirkursachen (Demiurg / Seele) sorgen für das abbildhafte Bewirken / Herstellen derartiger Sacheinheit an der Materie. Da sich gemäß Platon das Sein intelligibler Ideen rational begründen lässt und er als höchsten Urgrund der Ideen das Gute bzw. die Idee des Guten ansetzt (resp. 504 a ff.), ergibt sich folgerichtig die Annahme, dass (der höchste) Gott selbst dieses Gute wesensmäßig ist (resp. 378 e ff.) und als solches Prinzip und Ursache allen Seins. Denn das Gute ist nach Platon immer schon in allem Seienden impliziert. Dies gilt bereits auf äußerlich-dinglicher Ebene: Ein Messer ist nur dann Messer, wenn es gut schneiden kann: Sein spezifisches Messer-Sein besteht darin, (mehr oder weniger) gut schneiden zu können, d. h. sein spezifisches Sein ist an das Kriterium des Guten und die Anteilhabe an einer bestimmten, seinskonstituierenden Gutheit gekoppelt. Vor allem aber ist das Gute impliziert in den einzelnen Ideen: Die Gerechtigkeit ist nur deshalb gut und erstrebenswert, weil etwas ontologisch Größeres und sachlich Früheres als die Idee der Gerechtigkeit Bestand haben muss: die Idee des Guten (resp. 504 d ff.). Gleiches gilt für die Schönheit: Das Schöne wird erstrebt, um des Guten willen, das glückselig macht (symp. 204 e).65
3. Aristoteles und der platonische Teilhabe-Gedanke Ist es in einer Untersuchung, die zunächst den Teilhabe-Gedanken bei Platonikern thematisiert, legitim, Aristoteles (384–322 v. Chr.) miteinzubeziehen? Allgemein dürfte dies schon hinreichend Diskussionsstoff implizieren, umso mehr, wenn dabei die inhaltliche Interpretation der sog. ‚Substanz-Bücher‘ der Metaphysik tangiert ist.66 Im Sinne des Dialogs ganz unterschiedlicher geistesgeschichtlicher Traditionen, auf den das vorliegende Buch mit Cusanus’ De pace fidei zusteuert, soll Aristoteles bei der überblicksartigen Markierung einiger wichtiger Stationen in der systematischen und geschichtlichen Entwicklung des platonischen Teilhabe-Theorems nicht einfach ausgeklammert, sondern ergebnisoffen die Frage gestellt werden, ob die Philosophie des Stagiriten etwas dem 64 Zu den ontologisch-philosophischen Aspekten, die am Dreiecks-Beispiel entwickelt werden können, s. u. Anm. 157, Kap. II.5 b, Kap. III.c sowie Drews (2009: 247–258). 65 Die ontologischen Implikationen können hier nur angedeutet werden: Zur Konvergenz von Einheit und Gutheit und der Stufenontologie Sinnlich-Wahrnehmbares Sein, Intelligibles Sein, das Überseiende Eine vgl. im Zusammenhang mit Proklos z. B. Drews (2009: 239–304). Zum Zusammenhang von Einheit und Schönheit vgl. Halfwassen (2008 b: 206–9) sowie Schmitt (2006: 93) mit Verweis auf Phdr. 264c2–5. 66 Zur kontroversen Diskussion dieser Bücher vgl. u. a. Pietsch (1992) und Rapp (1996 a). Eine Extremposition, mit der die folgenden Ausführungen keine Berührungspunkte haben, stellt Sonderegger (2012) dar, der sein Buch zu metaph. Z explizit als „Beitrag zur Destruktion dieses Teils der Geschichte der Metaphysik“ verstanden wissen will.
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platonischen Teilhabe-Gedanken Ähnliches implizieren oder zumindest eine diesem Theorem vergleichbare Fragestellung aufwerfen könnte. Dabei kann in einem relativ kurzen Kapitel die umfangreiche Forschungsdiskussion nur teilweise abgebildet und diskutiert werden.67 Als Einstieg sei zunächst eine Passage aus dem Buch Z der Metaphysik gewählt: Ferner [sc. ist das], welchem Gut-Sein nicht in seinem Bestandhaben zukommt (hy‑ parchei), nicht gut. Notwendigerweise also ist eins das Gute und Gut-Sein, schön und Schön-Sein, und alles, was nicht gemäß einem anderen bezeichnet wird, sondern gemäß sich selbst und als Primäres. Denn sogar dann steht dieses wohl hinreichend fest, selbst wenn keine Eidê sind, erst recht aber doch wohl, auch wenn Eidê sind. (Zugleich aber ist auch offensichtlich, dass, wenn doch die Ideen sind in der Weise, wie einige es behaupten, das Zugrundeliegende [hypokeimenon] nicht Wesen [ousia] sein wird. Denn es sei zwar notwendig, dass diese [sc. Ideen] Wesen sind, nicht aber vom Zugrundeliegenden her; denn sie würden es gemäß Partizipation [methexis] sein.) – Und aus diesen Ausführungen [sc. folgt] also, dass eins und identisch – und zwar nicht in akzidenteller Hinsicht – sind [a] ein jedes Einzelne selbst und [b] das, was dieses bestimmte Sein ausmacht (to ti ên einai), und dass doch das Wissen um jedes Einzelne dieses ist: das Wissen um das, was dieses bestimmte Sein ausmacht, so dass auch gemäß der Herausstellung (kata tên ek‑ thesin68) notwendig ein bestimmtes Eines beide sind (Aristoteles, metaph. 1031b11–22).
Aristoteles geht von dem Axiom aus, dass, wie oben schon bei Parmenides aus Elea und Platon gesehen, Sein immer sachlich bestimmtes Sein bedeutet:69 ‚Gut‘ und Gut-Sein, ‚Schön‘ und Schön-Sein sind jeweils identisch und eine Sache – dies gleichwohl nur, wie er sofort präzisierend hinzufügt, wenn das ‚Gute‘ respektive ‚Schöne‘ „gemäß sich selbst und als Primäres“ begriffen wird. Vor dem Hintergrund von Aristoteles’ Ideen-Kritik erscheint es auf den ersten Blick vielleicht weniger naheliegend, dass der von ihm hier in Anschlag gebrachte Begriff „gemäß sich selbst und als Primäres“ identisch mit Platons Ideenverständnis sein sollte; andererseits ist angesichts von Aristoteles’ Formulierung und dem
67 Vgl. dazu in kurzer und prägnanter Weise Thiel (2004: 59–66). Zur Präsenz des platonischen Teilhabe-Denkens bei Aristoteles und zur Einordnung seiner vordergründigen Kritik, der Partizipationsgedanke sei „leeres Geschwätz“ und „dichterische Metaphorik“ (metaph. 991a20–22), vgl. Weier (1970: 93–104), wobei er Aristoteles’ Kritik an Platon als dessen eigenes Missverständnis seines Lehrers versteht (ibd., 96–97), nicht als (potentielle) Replik und Kritik an unzutreffenden Platon-Deutungen (vgl. in dieser Hinsicht aber unten Anm. 97). 68 Der Sinn von kata tên ekthesin scheint nicht leicht eindeutig fixierbar zu sein. In der Parallelstelle: metaph. 1090a17 scheint „das Herausnehmen eines Einzelnen im Unterschied zu dem Vielen“ gemeint zu sein. Daher könnte der Sinn der obigen Stelle vielleicht derjenige sein, dass auch das das Einzelding / Syntheton jeweils wesentlich bestimmende Eidos aus dem Einzelding herauspräparierbar ist und als solches – für sich, als Eidos selbst betrachtet – dasselbe Wesen hat, welches es auch als Teil des Synthetons für dieses als Wesensbestimmung beinhaltet (vgl. das Folgende). 69 Vgl. Pietsch (1992: 16, Anm. 3, 33). Christian Pietsch, Arbogast Schmitt und Niels Grewe bin ich für die intensive Diskussion über die zitierte Metaphysik-Passage sowie für viele wichtige sachliche Hinweise zu großem Dank verpflichtet.
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philosophischen Kontext eine inhaltliche Nähe zu Platon kaum zu bestreiten.70 Genau dieses schwer zu entwirrende Verhältnis zwischen Platons Ideenlehre und Aristoteles’ Kritik daran sowie seinem eigenen Verständnis von Eidê71 stellt die grundsätzliche crux der folgenden Überlegungen dar, die Aristoteles weder ‚platonisieren‘ noch seine Relevanz gerade für den späteren Neuplatonismus – etwa Plotin (Kap. II.5) – ausblenden wollen. Wenn also gemäß Aristoteles ‚Gut‘ und Gut-Sein, ‚Schön‘ und Schön-Sein jeweils identisch sind, insofern sie „gemäß sich selbst und als Primäres“ zu begreifen sind, dann scheint dies im Umkehrschluss zu bedeuten: Einzelne gute bzw. schöne Dinge können und dürfen nicht als identisch mit dem Guten selbst bzw. dem Schönen selbst aufgefasst werden, da sie nicht in primärer Weise ‚schön‘ bzw. ‚gut‘ sind. Dies stünde mit Platons Ausführungen im Einklang (s. o. Kap. II.2), der ja davor warnt, etwa einzelne schöne Dinge zum Gradmesser der Schönheit selbst zu erheben: Z. B. vermag eine schöne (= gutschmeckende) Praline in ihrer Partikularität und Vergänglichkeit weder als sachliches Kriterium für das Schöne selbst zu gelten noch in ihrem schönen Wohlgeschmack einen Rechtsgrund dafür zu liefern, warum z. B. schöne (= wohlklingende) Musikstücke oder schöne (= das Auge erfreuende) Malereien oder schöne (= zu begreifende) Literatur jeweils ‚schön‘ sind bzw. sein können. Die Tatsache, dass in vielerlei Hinsicht von der einen Sache ‚schön‘ nicht nur gesprochen, sondern diese als solche auch erfahren und erkannt werden kann, ist aus den vielen Instanzen in ihrer Verschiedenheit gerade nicht erklärbar. Das ‚Schöne‘ kann gemäß Platon kein verabsolutiertes sinnliches Ding sein, sondern bestenfalls ein in seiner Begreifbarkeit selbst bestehendes Geistiges, Intelligibles: Denn nur als dieses kann es „gemäß sich selbst und als Primäres“ ‚schön‘ sein. Speise, ein Musikstück, ein gemaltes Bild oder Literatur sind dagegen gemäß sich selbst und primär etwas Essbares bzw. Hör-, Seh‑ bzw. Begreifbares, ohne dadurch schon von sich selbst her und notwendigerweise auch ‚schön‘ zu sein. Bekanntermaßen zeigt sich Aristoteles an vielen Stellen seines Werks kritisch, zumindest aber reserviert gegenüber ‚der‘ Ideenlehre oder – vorsichtiger formuliert – gegenüber einer bestimmten ‚Spielart‘ und Interpretationsweise davon.72 Vgl. Bostocks (1994: 110) Kommentar zur Stelle. Vgl. Bostock (1994: 111) zu „Aristotle’s own forms“. 72 Diese Abgrenzung gegenüber Platon wird (bei allen Unterschieden im Einzelnen) vom Großteil der Aristoteles-Forschung immer wieder unterstrichen, vgl. z. B. Düring (2005: 250), Buchheim (1996: 131–3), Rapp (1996 b: 23), Mesch (1996: 156). Dass sich bei entsprechender Differenzierung gleichwohl Gemeinsamkeiten zwischen Platon und Aristoteles auch in der Prinzipienlehre und Ontologie ausfindig machen lassen, zeigt Pietsch (1992: 233, 235, 239, 246, 251, 323–5), ohne die Unterschiede zu vernachlässigen: „Die ‚Grundlagenforschung‘, wie Platon sie v. a. im Parmenides betrieben hat, lag offensichtlich nicht im Zentrum von Aristoteles’ Interesse, das sich hier, wie überhaupt in der metaph., dem Problemkreis des atomon eidos, dem Übergang vom Allgemeinen zum Einzelnen, vom Eidos zur Hyle, den Grundlagen der Physik u. ä.m. zuwendet“ (ibd., 245). Zum ‚primären Allgemeinen‘ bei Aristoteles vgl. Schmitt (2003 a: 409–415), Thiel (2004: 220, 240) sowie Pietsch (1992: 33) zum verbreiteten „Mißverständnis 70 71
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Dies klingt in der oben übersetzten Passage zunächst dadurch an, dass er erklärt, die Identität von ‚schön‘ und ‚Schön-Sein‘ und dem Guten und ‚Gut-Sein‘ müsste selbst dann anerkannt werden, „wenn keine Eidê sind“, d. h. wenn Eidê als Einzeldingen Substanz verleihende Prinzipien bestritten würden: Denn schon allein bei der Beschreibung äußerlich existenter Dinge wäre es seiner Meinung nach offenbar unsinnig, eine begriffliche Differenz zwischen ‚schön‘ und ‚SchönSein‘ einzuführen. Man kann ein Musikstück nur dann als ‚schön‘ erfahren, wenn es auch plausiblerweise Schönheit entfaltet, also schön ist (in erkennbarer Weise zumindest für diejenigen, die es als ‚schön‘ erfahren). Auch ohne Annahme von Eidê, so Aristoteles, lässt sich die Sache ‚schön‘ nicht von der Bestimmtheit des Schön-Seins trennen. Erst recht treffe dies aber unter der Voraussetzung der Eidê zu, denn (nur dann?) kann es überhaupt sinnvoll erscheinen, ein Schönes „gemäß sich selbst und als Primäres“ zu unterscheiden. Wie oben beispielhaft skizziert, bietet die wohlschmeckende Praline als sie selbst keinerlei Kriterium dafür, was Schönes gemäß sich selbst und in primärer Hinsicht ist: Würde man sie zum Gradmesser für Schönheit erheben, wäre kein einziges Musikstück und auch kein einziges Bild mehr ‚schön‘. Daher ist die Präzisierung „erst recht, wenn Eidê sind“, philosophisch einleuchtend. Nicht also das Einzelding in seiner Partikularität, sondern jede einshafte intelligible Sache (wie das Gute selbst, das Schöne selbst) wäre demzufolge mit dem, was dieses bestimmte Sein ausmacht (das Gut-Sein, das Schön-Sein) identisch. Sein und Sachbestimmtheit sind hier „bei den Ersten und gemäß sich selbst Begriffenen dasselbe und Eines“,73 während bei den aus Materie und Form zusammengesetzten Einzeldingen (syntheta) die eidoshafte Bestimmtheit etwa des Schönen nur anteilmäßig und an der jeweiligen Materie nur auf unterschiedliche Weise realisiert sein kann: Letztere sind nur sekundäre Instanzen einer begreifbaren Sache und insofern nicht mit ihr identisch und nicht als ein Allgemeinbegriff generalisierbar.74 […], Aristoteles spreche […] jeder Art von über das individuelle Syntheton hinausgehender Form von Allgemeinheit die ontologische Valenz ab.“ S. in ähnlicher Weise Rapp (1996 c: 173, 187). 73 metaph., 1032 a–6. 74 Im Blick auf Aristoteles vgl. in dieser Hinsicht Schmitt (2003 a: 415): „Dies erklärt auch, daß das diese verschiedenen Instanzen jeweils einzeln bestimmende Allgemeine, also das sog. immanente Allgemeine, weder mit dem primären Allgemeinen identisch ist, denn es realisiert immer nur eine der Möglichkeiten des primären Allgemeinen, es ist aber auch seinerseits kein prädikatives Allgemeines, denn die Hinsicht des primären allgemeinen Dreiecks, die z. B. im gleichseitigen Dreieck realisiert ist, ist nicht aussagbar von der Möglichkeit, Dreieck zu sein, die etwa für das ungleichseitige Dreieck bestimmend ist.“ – Zum abstrakten Allgemeinen in Abgrenzung gegenüber dem sachlich bestimmt-bestimmenden Eidos s. ferner Rapp (1996 c: 176): „Die Artform, das eidos, ist eine selbständige, definite Bestimmung und ist in diesem Sinne unteilbar (atomon); jede Instanz einer Artform, also jedes Vorkommen dieser Form in Materie, markiert ohne weiteres ein qualifiziertes Subjekt. Dagegen ist die Gattung hinsicht-
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Entscheidend ist also die Differenzierung zwischen (a) der Sache ‚Schönheit‘ selbst, wie sie nach Aristoteles’ Worten „gemäß sich selbst und als Primäres“ aufzufassen ist, und (b) dem Eidos, insofern es als wesentliche Bestimmung an einem materiell Zugrundeliegenden, als enhylon eidos, auftritt75 und daher eine instanzhafte Partikularverwirklichung dieser Sache ist. Erkannt werden kann letztlich immer nur das, was auch begreifbar ist: entweder das Eidos, insofern es qua Einzelformprinzip einen partikulären Gegenstand als solchen inhaltlichsubstantiell bestimmt, oder die immaterielle, primär und in reiner Begreifbarkeit unterscheidbare Sache selbst.76 Die Differenzierung zwischen beidem stellt in systematischer Hinsicht unweigerlich die Frage nach der ontologischen Bezogenheit zwischen dem jeweiligen Eidos als Einzelformprinzip eines Synthetons und der „gemäß sich selbst und primär“ begreifbaren intelligiblen Sache selbst: Lässt sich hier ein wie auch immer geartetes Partizipationsverhältnis eigentlich vermeiden?77 Im Licht von Aristoteles’ Ablehnung des Teilhabe-Gedankens könnte diese Frage schlichtweg falsch gestellt erscheinen. Nicht zuletzt in der oben zitierten Passage wendet sich Aristoteles mit einem kurzen Einschub vermutlich gegen eine mit Platon assoziierte Lehre von Ideen und ihrer Partizipation: Zugleich aber ist auch offensichtlich, dass, wenn doch die Ideen sind in der Weise, wie einige es behaupten, das Zugrundeliegende (hypokeimenon) nicht Wesen (ousia) sein wird. Denn es sei zwar notwendig, dass diese [sc. Ideen] Wesen sind, nicht aber vom Zulich der verschiedenen, in ihr angelegten Differenzen, unentschieden und enthält in sich kein Prinzip, das erlaubt, eine der in ihr angelegten Arten zu unterscheiden. Insofern sie erst durch Unterteilung zu einer Bestimmung hingeführt werden muß, besteht sie nicht neben oder über ihren Arten. Im Gegensatz zur Artform stellt die Gattung daher keine Basis-Bestimmung dar, welche als Seins‑ und Einheitsgrund für anderes Seiende dienen könnte, weil sie erst durch ihre Arten bzw. Differenzen zu etwas Bestimmtem wird.“ – Dass im Unterschied dazu ein sachlich prägnantes Allgemeines durchaus als Ursache für Differenzen, die aus und gemäß dieser Sache im Einzelnen hervortreten, ergründet werden kann, erörtert Thiel (2004: 51, Anm. 28; 55, 57). 75 „Denn das, was es ist, – irgendeine Art von Substanz – ist das Compositum aus ontologischer Sicht stets von seinem eidos, seiner substantiellen Form her“ (Thiel 2004: 66). 76 Die Frage, ob Aristoteles ein solches immaterielles Eidos annimmt, wird in der Forschung kontrovers diskutiert: Verneint wird sie z. B. von Buchheim (1996: 131–3), Mesch (1996: 156), Rapp (1996 b: 23; 1996 c: 187). Bejaht wird sie von Pietsch (1992: 19, 32, 43) und Thiel (2004: 218). Zumindest scheint die Tatsache, dass Aristoteles schon in seiner Wahrnehmungstheorie davon ausgeht, dass die aisthêsis wahrnehmbare eidê „ohne Materie“ aufnehme (aneu tês hylês, de an. 424a17–19; vgl. dazu Bernard 1988: 87, 241), doch ein Indiz dafür zu geben, dass Aristoteles nicht undifferenziert immaterielle Ideen ablehnt. Schmitt ([2003 a: 414], [2016: 244]) weist darauf hin, dass Aristoteles’ Formulierung, das primäre Allgemeine existiere nicht als ein hen ti para ta polla (vgl. metaph. 1053b18–19, 1038b33), bedeute, es existiere kein „Einzelding neben anderen Einzeldingen“: D. h., es kann nicht unter die Einzeldinge eingereiht werden – dies bedeutet aber noch nicht, dass es im Unterschied zu den Einzeldingen kein primäres Allgemeines im Sinne eines immateriellen Eidos gibt. Vgl. ebenso bereits Weier (1970: 94) mit Hinweis auf metaph. 999b1–4 (s. u. zur Stelle). 77 Zu einer der systematisch-philosophischen Sache nach implizierten Partizipationstheorie bei Aristoteles vgl. Pietsch (1992: 32, 36 [Anm. 59], 235, 239, 242) sowie Thiel (2004: 220).
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grundeliegenden her; denn sie würden es gemäß Partizipation (methexis) sein (metaph. 1031b15–18).
Wenngleich diese zunächst vielleicht kryptisch wirkende Parenthese sowohl sprachlich wie auch philosophisch schwer zu fixieren ist, scheint Aristoteles grundsätzlich gegenüber den Einzeldingen (im ontologischen Sinne) völlig bezugslose Ideen zu kritisieren. Das Zugrundeliegende (verstanden entweder als die der eidetischen Formung zugrunde liegende Materie oder aber als das bereits aus Materie und sie bestimmender Idee bestehende Syntheton) könne – gemäß der Theorie „einiger“ namentlich nicht Genannter – nicht von sich selbst her „Wesen“ sein, sondern Wesen seien die Ideen, insofern sie nicht vom Zugrundeliegenden her ausgesagt bzw. verstanden würden; wäre es anders, würden sie (auch als Ideen) nur Wesen durch Partizipation sein. Da für Aristoteles das einzelne Syntheton im Fokus steht, scheint sich aus seiner Perspektive gemäß der von ihm kritisierten Lehre das Problem zu ergeben, dass dem Syntheton somit seine Wesenhaftigkeit abhanden käme, weil ihm – als Zugrundeliegendem – kein Wesen inhärieren könne, wenn allein die Idee Wesen wäre; verhielte es sich aber umgekehrt so, dass vom Zugrundeliegenden – dem Syntheton – her das Wesen einer Idee verstanden würde, dann erschiene es so, als ob die Idee ihre Wesenhaftigkeit erst durch ihr Partizipiertwerden, also vom Syntheton her erhielte.78 Wenn Aristoteles’ Parenthese hiermit angemessen gedeutet wäre, dann schiene es im Hinblick auf die von ihn kritisierte Position für ihn nur zwei einander jeweils ausschließende Möglichkeiten geben zu können: Entweder die Ideen hätten ein abgetrenntes Sein und Wesen, dann käme den Einzeldingen / Syntheta keine tatsächliche Wesenhaftigkeit mehr zu, da diese ja nur den transzendenten Ideen eignete; besäßen aber die Einzeldinge Wesenhaftigkeit und würden diese auch erst begründen, dann erhielten die ‚transzendenten Ideen‘ ihrerseits Wesenhaftigkeit erst durch ihr (sekundäres) Partizipiertwerden durch Einzeldinge – die vorausgesetzte, nicht explizit gemachte Prämisse wäre in beiden Fällen, dass Wesenhaftigkeit nur entweder vom Einzelding / Syntheton oder von einer abgetrennten Idee her begründet werden könne. Beide Male würden sich Schlussfolgerungen ergeben, bei welchen der Methexis-Gedanke ad absurdum geführt wäre. Die Möglichkeit, dass eine Idee auf primäre Weise wesenhaft ist (und entsprechend Wesen besitzt) und dass gerade deshalb die an ihr partizipierenden Einzeldinge von ihr her wesenhaft bestimmt werden, erschiene dann ausgeblendet. 78 Vgl. im Sinne einer solchen Deutung Bostocks (1994: 111) vorsichtig vorgehenden Kommentar zur Stelle: „The more relevant point, apparently, is that the form depends for its existence upon the things that underlie it, as equally they depend for their existence upon the form. So there is a mutual dependence […]. But if there were no such dependence […] – then apparently neither could count as a substance, or at any rate the ‘underlying things’ could not. But perhaps this pushes rather too far the implictations of what is only an aside.“
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Ist diese Interpretation der Parenthese aber gleichsam ‚alternativlos‘? Dass Aristoteles die Teilhabe an ‚abgetrennten Ideen‘ des Öfteren kritisiert, ist philologisch wohl unbestreitbar. Was versteht er aber unter ‚abgetrennt-sein‘? Dazu gibt er kurz vor der eingangs referierten Passage folgenden Hinweis: Ich meine aber mit ‚abgetrennt-sein‘ (apolelysthai), wenn weder dem Guten selbst das GutSein in seinem Bestandhaben zukommt (hyparchei) noch diesem, dass es gut ist (metaph. 1031b4–6).
Von hier aus ergibt sich philosophisch ein völlig anderes Szenario: Geht es Aristoteles also in der zur Diskussion stehenden Parenthese gar nicht primär um die Frage, ob Ideen ‚abgetrennt‘ im Sinne ‚transzendenter Wesen‘ Bestand haben und partizipiert werden (können), sondern um etwas anderes? Denn wenn dem „Guten selbst“ – also im Sinne eines primären Guten, auch im Sinne einer platonischen Idee – weder das primäre Gut-Sein zukäme noch auch nur, dass sie überhaupt gut ist, dann rekurriert Aristoteles hier zum einen wieder auf das eingangs schon angesprochene Axiom, dass Sein (wie bei Platon) immer bestimmtes Sein meint, und zum andern geht es der Sache nach um das Problem des ‚dritten Menschen‘: Kommt dem einzelnen Menschen das Eidos ‚Mensch(‑Sein)‘ von einem anderen Menschen her zu, der als zweiter nur in der selben Weise ‚Mensch‘ wie der erste ist, dann stellt sich die Frage, wieso der zweite Mensch, welcher ebenfalls nur ein Repräsentant (bzw. eine – freilich lebendige – ‚Instanz‘) des Mensch-Seins unter vielen anderen ist, Ursache des Mensch-Seins schlechthin sein sollte, so dass also ein ‚dritter Mensch‘ als Primärursache für das Mensch-Sein gesucht werden müsste (nach dem dritten aber ein vierter und ad infinitum) – ein Problem, das bereits von Platon her bekannt ist.79 In dem unter dem Namen des spätantiken Peripatetikers Alexander von Aphrodisias (um 200 n. Chr.) überlieferten Metaphysikkommentar, dessen Bücher 7–14 wohl auf den byzantinischen Gelehrten Michael von Ephesus (12. Jhd. n. Chr.) zurückgehen, wird das besagte Aristoteles-Kapitel folgendermaßen kommentiert (in metaph. 479,31–484,25): Abgelöstsein bedeute, wenn dem Guten selbst das Gut-Sein nicht zukomme, sondern von ihm abgetrennt wäre und zu einer anderen Natur (physis) gehörte. Dies hätte zur Folge, dass es dann auch kein Wissen (epistêmê) von den Ideen – d. h. von dem bestimmten Sein einer Sache (to ti ên einai) – geben könne, weil Wissen nur von einem solchen bestimmten eidetischen Sein her möglich ist. Dieses aber wäre – angesichts des ‚dritten Menschen‘ – unmöglich, weil man aufgrund des infiniten Regresses nie an einen Endpunkt gelangte, mit dem das primäre Eidos einmal erreicht wäre (bzw. das primäre to ti ên einai, welches Aristoteles bezeichnenderweise als „Wesen ohne Materie“ bezeichnet: ousia aneu hylês, metaph. 1032b14). Ohne das Eidos be79 Vgl. dazu Platon, Parm. 132 a ff., Aristoteles, metaph. 1039a2–3, 1059b8 sowie Thiel (2004: 57, 63 f., 233) und Tornau (1998: 423).
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stünde somit kein Wissen von der begreifbaren Sachhaltigkeit von etwas, weil das Eidos nie selbst in den Blick käme. Wenn also Aristoteles in der Parenthese metaph. 1031b15–18 „die Ideen, wie einige sie behaupten“, kritisiert und dieses vor dem Hintergrund des ‚dritten Menschen‘ tut, dann ist als erstes auffällig, dass bereits Platon dieses Problem thematisiert und diesem vorgebeugt hatte. Zweitens könnte die Kritik an der Teilhabe an vermeintlich ‚abgetrennt-transzendent‘ bestehenden Ideen dann plötzlich ganz anders motiviert sein: Wenn (nach Auffassung „einiger“ Unbenamter) die Ideen abgetrennt-transzendente Wesen (ousiai) wären, dann sei klar, dass das Zugrundeliegende nicht Wesen ist. Es wäre zwar notwendig, dass diese Ideen Wesen sind, nicht aber vom Zugrundeliegenden her. Wenn solche Ideen nun aber zugleich abgetrennt in dem vorher von Aristoteles genannten Sinn wären, bedeutete dies im Kontext des ‚dritten Menschen‘, dass z. B. der Idee des Guten nicht das GutSein zukäme und ein infiniter Regress (metaph. 1032a3) drohte: D. h., „die Ideen, wie einige sie behaupten“, wären gar keine primären Substanzursachen mehr, sondern ihrerseits selbst nur Instanzen und auf ihnen übergeordnete Ursachen für ihr Sein angewiesen, an denen sie selbst wiederum partizipierten (usw. ad infinitum). Qua Partizipierenden hätten sie ihrerseits dann nur die Stellung von Syntheta und würden somit auch von einem Zugrundeliegenden her und nur qua Teilhabe (methexis) bestehen. Der springende Punkt wäre also der, dass diese Pseudo-Ideen selbst nur den Status verallgemeinerter, zu Ideen hypostasierter Einzeldinge besäßen: Eine solche ‚Idee‘ wäre daher, worauf Arbogast Schmitt wiederholt hingewiesen hat, nur etwas, was von vielem undifferenziert ausgesagt werden kann, ohne spezifisch und primär Substanzursache von etwas zu sein.80 Vor diesem Hintergrund steht Aristoteles’ Abtrennungsvorwurf in einem ganz anderem inhaltlichen Kontext: Seine Kritik zielte dann zunächst auf ein – auch im platonischen Sinne – falsches Eidos-Verständnis ab, insofern einem Eidos gar nicht als rein intelligibles Wesen das Sein z. B. des auf primäre Weise Guten selbst respektive des primär Schönen etc. zukäme. Dies wäre genau dann der Fall, wenn einfach Einzeldinge – also Syntheta – zum Gradmesser des primär Guten bzw. Schönen etc. erhoben würden: D. h., Aristoteles scheint tatsächlich mit seiner knapp formulierten Parenthese zu kritisieren, dass „die Ideen, wie einige sie behaupten“ – weil sie als ‚abgetrennte Ideen‘ doch nichts anderes als verallgemeinerte Einzeldinge wären – gar keine Ideen wären im Sinne tatsächlicher Primärursachen, die als solche mit ihrem sachlichen Gehalt Eines und identisch sind, 80 Vgl. Schmitt (2003 a: 62, 320–2) dazu, dass ein praedicabile de pluribus im Sinne einer Verallgemeinerung markanter Einzelqualitäten gemäß Aristoteles kein Erkenntniskriterium sein kann. S. ebenso Thiel (2004: 32), welcher ferner herausarbeitet, dass generische Allgemeinbegriffe (im Sinne eines universale post multa, ibd., 33) gerade aufgrund ihres Mangels und ihrer Unbestimmtheit auf vieles zutreffen und daher einen geringeren Bestimmtheitsgrad aufweisen als das Einzelding, von dem sie abstrahiert sind (ibd., 34). Dagegen besitze das ‚primäre Allgemeine‘ (katholou prôton) gerade mehr Sachbestimmtheit, als es ein partikuläres Einzelding je zu verwirklichen vermag (ibd., 40, 51, 221 ff.).
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dass sie ferner ihrerseits auf immer höhere, vermeintlich ‚abgetrenntere‘ Ideen angewiesen wären und somit selbst (als Pseudo-Ideen) ja nur Partizipierende wären; qua Partizipierenden wäre es fraglich, inwiefern sie überhaupt ohne Zugrundeliegendes sein könnten. Kurz: Die von Aristoteles kritisierte Teilhabe wäre gar nicht die genuin platonische methexis von Instanzen an Primärursachen, sondern eine Teilhabe als Folge eines infiniten Regresses. Eine solche methexis aber wäre sinnlos und im Grunde gar nichts, weil überhaupt kein spezifisches Etwas, geschweige denn Primärursachen im starken, auch von Aristoteles gemeinten Sinne ermittelt werden könnten oder auch nur in Reichweite kämen. Solche Pseudo-Ideen wären, wie konkludierend auch Ps.-Alexander ausführt, nicht zuletzt deshalb bedeutungslos, weil sie eben keine Seinsursachen für konkrete Einzeldinge wären (etwa Ursache des Schönen und Guten für Einzeldinge, die ihrerseits Zugrundeliegendes für ‚Schön-Sein‘ bzw. ‚Gut-Sein‘ sein und daran zu partizipieren vermögen), da Seinsursachen aufgrund des implizierten infiniten Regresses gar nicht auftauchen könnten – derartige Ideen wären entsprechend „nutzlos“, ohne chreia. All dies wäre das Resultat einer radikalen Abtrennung zwischen dem ‚Guten selbst‘ und guten Einzeldingen, dem (intelligiblen) ‚Selbstmenschen‘ und den Einzelmenschen: Dann nämlich – im Sinne einer radikalen Scheidung – könnten Einzelwesen wie ein einzelnes Schönes oder ein einzelner Mensch auch nicht mehr Zugrundeliegendes für tatsächliche Eidê im Sinne intelligibler Primärursachen (‚Mensch‘, ‚schön‘) sein. Ps.-Alexander will aber gerade darauf hinaus, dass die Differenzierung zwischen einem intelligiblen Eidos ‚Selbstmensch‘ im Unterschied zu Einzelmenschen als dessen instanzhaften Repräsentanten sinnvoll ist, denn Aristoteles habe zuvor auch mit dem „Guten selbst“ das „Selbstgute“ gemeint, also die Sinnhaftigkeit eines solchen Begriffs und Sachgehalts unterstrichen: Das Mensch-Sein – im Sinne des bestimmten Seins – müsse dann bei ‚Selbstmensch‘ und einem Einzelmenschen nach Aristoteles aber dieselbe eidetische Wesenheit im Sinne der primären und individuellen ‚Mensch-heit‘ sein. Das Eidos wäre dann Substanzursache für das Wesen der einzelnen Instanzen, diese aber wären hinsichtlich ihres Wesens mit dem primären Eidos selbst identisch: ‚Gut‘ kann ein Einzelding nur sein, wenn es seinem Wesen nach identisch mit dem ist, was Gut-Sein substantiell ausmacht (to ti ên einai). Trotzdem – wie eingangs dargelegt – könnte etwas einzelnes Gutes (oder Schönes usw.) in seiner Partikularität nie Gradmesser für das Gut-Sein selbst sein, welches nur als eidetische Primärursache und gemäß sich selbst Bestand hätte. Eine solche Differenzierung wäre dann der Sache nach nicht mehr wirklich weit von dem entfernt, was ein Proklos später mit der Differenzierung einer für sich selbst unpartizipiert bestehenden Idee und ihrer für Einzeldinge partizipierbaren / partizipierten Mittlerinstanz meint (s. u. Kap. III.c): Das partizipierte Eidos verleiht Einzeldingen wesensbestimmendes Sein und insofern Identität mit der eidetisch-primären Sache; insofern die Einzeldinge qua aus Materie und Form bestehenden Syn-
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theta aber partikuläre Wesen sind, reichen sie gleichwohl nicht an das als Eidos materiefrei subsistierende Sachprinzip heran und sind somit auch kein absoluter Gradmesser für das ihnen qua Einzelding zukommende Wesen, sondern – ‚nur‘, aber ‚durchaus‘ – dessen Instanzen. Proklos wird diese Zusammenhänge mit der Differenzierung zwischen der Teilhabe am Ganzen und am Teil eines Eidos noch weitaus präziser fassen. Im Blick auf Aristoteles und seine systematische wie historische Relevanz für die Entwickung des Teilhabe-Gedankens bleibt auf der Basis dieser Interpretation zunächst zu konstatieren, dass seine Kritik an ‚der Teilhabe‘ vermutlich gar nicht ‚die platonische Methexis‘ im Allgemeinen trifft, sondern eine Pseudo-Methexis an ‚Ideen‘, die selbst keine Primärursachen wären (‚dritter Mensch‘), denn so bestünde – das vielleicht der Kern seiner Kritik – auch nicht mehr die Möglichkeit, spezifische Seinsursachen (eidê) zu ermitteln. Die Vertreter des von Aristoteles kritisierten Ideenverständnisses aber könnten genau dieses vermutlich nicht wirklich konsequent aufrecht erhalten: Wenn bei dem implizierten infiniten Regress der erste Mensch am zweiten, der zweite am dritten usw. partizipierte, gäbe es ja kein transzendentes Eidos ‚Selbstmensch‘ (im Sinne einer intelligiblen Eidosursache des Mensch-Seins) mehr, weil jeweils dem vorhergehenden Glied der Reihe nur das nachfolgende inhärierte. D. h., ein transzendentes Eidos ließe sich somit gar nicht ermitteln, weil nie überhaupt auch nur irgendein Mensch an einem ‚Selbstmensch‘-Eidos partizipieren könnte, da dieses ja gar nicht in Reichweite gelangte. Wäre dies aber nicht der Fall, müsste zuletzt wohl auch der Teilhabe-Gedanke selbst aufgegeben werden, weil ja keine Teilhabe an einer wirklich Wesen begründenden Ursache wie ‚Selbstmensch‘ oder ‚Selbstgutes‘ möglich wäre. In eine ähnliche Richtung weist auch der Metaphysik-Kommentator Thomas von Aquin (1225–1274 n. Chr.) mit Bezug auf die zur Diskussion stehende Parenthese (metaph. 1031b15–18): Nach der Auffassung „gewisser Leute“ (quidam, die Thomas freilich allgemein als „Platoniker“ zu identifizieren meint) wären Ideen nur gemäß sich selbst und für sich selbst bestehend, also als von den Einzeldingen abgetrennte Ideen denkbar; dies hätte zur Folge, dass sinnlichwahrnehmbare Einzeldinge (bzw. material Zugrundeliegende) keine Substanzen mehr wären, weil die Ideen angeblich nicht von einem Zugrundeliegenden her Bestand haben dürften – eine Position, die aristotelisch so unhaltbar ist.81 Denn wären die Einzeldinge Substanzen, dann müssten sie also an den vermeintlich strikt transzendenten Ideen partizipieren, und so wären jene Ideen Ideen vom Zugrundeliegenden her, was aber die quidam ausschließen wollten.82 Gegen ein solches, absurde Konsequenzen zeitigendes Partizipationsverständnis wendet sich Aristoteles. Der Schluss der Parenthese „denn sie würden es gemäß Partizipation sein“ erhält auch von Thomas her so einen ganz anderen Vgl. Thomas von Aquin, in metaph. 1368. Thomas von Aquin, in metaph. 1370.
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Sinn als zunächst vermutet: nicht, dass Aristoteles einfach, ohne dass irgendeine Begründung erkennbar wäre, den Teilhabe-Gedanken an sich ablehnen würde; sondern, dass die Methexis von den eigenen Voraussetzungen der tines / quidam („einiger“) her unhaltbar erscheint und ad absurdum geführt wird. Der Grund für diese Konsequenz besteht darin, dass strikt abgetrennte Substanzen, weil sie hinsichtlich der Substanz nicht mit dem Wesen der Einzeldinge in eins fallen sollen, von den Einzeldingen radikal geschieden wären; dies impliziert bereits den infiniten Regress, weil eine radikale Trennung eben keine Verbindung einer tatsächlichen eidetischen Substanzursache mit einem Syntheton / Einzelding zulässt: Die radikale Scheidung führt so dazu, dass unendliche viele Zwischeninstanzen zwischen Einzeldingen und Ideen einträten, ohne dass ein Endpunkt in der Suche nach dem wahrhaft Substanzhaften erreicht werden könnte. Wenn aber das Einzel-Schöne sein Sein von einem Zweit-Schönen, dieses von einem Dritt-Schönen erhielte usw., bestünde auch hier das Problem des ‚dritten Menschen‘, obgleich Thomas dieses nicht direkt anspricht. Die radikale Abtrennung substanzhafter Eidosursachen von Einzeldingen führt also in der Konsequenz bei Thomas ebenfalls dazu, dass auch der Methexis-Gedanke nicht mehr durchzuhalten ist, weil dieser einer radikal-unüberbrückten Kluft zwischen synthetischen Einzeldingen und Eidê zum Opfer fällt. Aristoteles selbst kritisiert an späterer Stelle der Metaphysik, dass diejenigen das substanzhafte Wesen (ousia) wegnehmen würden, die nur die Materie (hylê) von etwas betrachten: Ein Einzelding, als Syntheton aus Eidos und Materie bestehend, kann sein Wesen nicht von der Materie her haben, die nur potentiell das ist, was sie durch die Formung des jeweiligen Eidos erst aktual wird.83 Das Eidos sei entweder ewig oder vergänglich, werde aber als es selbst von „keinem [sc. Menschen]“ erst produziert, sondern hervorgebracht werde nur das Einzelding (tode), das aus Materie und Eidos ent‑ und bestehe. Auf die Frage, ob die Substanzen der vergänglichen Einzeldinge „abgetrennt“ (chôristai) Bestand hätten, antwortet Aristoteles, dass dies zumindest bei all denen Wesen unmöglich sei, die als sie selbst nicht neben den Einzeldingen Bestand haben können, etwa bei Haus oder Werkzeug. Diese seien aber vielleicht nicht in dem Sinne ‚Wesen‘ – wie auch all das, was nicht „von Natur aus“ (physei) bestehe. D. h., Aristoteles verneint hier nicht generell die Möglichkeit, dass es abgetrennte Substanzen geben könnte (für ein rein intelligibles Eidos wie ‚Dreieck‘ wäre dies vielleicht denkbar), sondern er macht (wiederum) darauf aufmerksam, dass man nicht die Formprinzipien aller x-beliebigen Einzeldinge zu abgetrennt subsistierenden Eidê erheben dürfe. Denn ein technikos logos wie Haus oder Werkzeug hat ja ohne den (menschlichen) Hersteller, der solche logoi erfindet und produziert, kein Sein für 83 So erscheine das Eidos ‚Mensch‘ immer „in Fleisch und Knochen“, diese seien aber nicht Teil des Eidos und der maßhaften Bestimmtheit (logos), sondern der Materie: Als Menschen seien wir nur nicht in der Lage, das Eidos davon abzutrennen, weil es nicht an anderer Materie realisiert werde (metaph. 1036b3–7).
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sich – eine Säge oder ein Haus sind nicht einfach von selbst da, sie ‚wachsen‘ auch nicht irgendwo „von Natur aus“ noch haben sie ein abgetrenntes Sein als rein intelligible Eidê – ein geistiges Eidos sägt ja nicht wie eine Säge ein Stück Holz durch. Die „Natur“ (physis) sei hingegen wohl die einzige Ursache, die wirklich Substanz unter den vergänglichen Dingen begründen könne.84 Angesichts der intensiven Diskussion über das Verhältnis von Aristoteles zu seinem Lehrer Platon lohnt es sich vielleicht, auch noch einmal von ausgewählten Aspekten aus der Forschungsliteratur her die Frage zu stellen, inwiefern Aristoteles’ Eidos-Verständnis tatsächlich in Abgrenzung zu Platon zu sehen ist oder nicht. Exemplarisch möchte ich auf Interpretationsergebnisse rekurrieren, die Christof Rapp (1996 c) in seiner Interpretation von Metaphysik Z vorgelegt hat. Rapp spricht sich zwar einerseits am Ende seiner Ausführungen dagegen aus, Aristoteles habe ein (immaterielles) Eidos neben dessen Instanzen angenommen,85 andererseits arbeitet er viele Aspekte heraus, die mit einer platonischen Interpretation, genauer mit der platonischen Methexis-Ontologie kompatibilisierbar sein könnten. Dies sei mit drei Schritten in dem folgenden Gedankenexperiment wenigstens angedeutet: (1) Rapp (1996 c: 174) kann zeigen, dass Aristoteles’ Kritik an generischen, Diverses subsumierenden Allgemeinbegriffen nicht die spezifische Allgemeinheit eines Eidos trifft, denn: „Die Artform ist allgemein genau in dem Sinn, daß sie geeigneter Gegenstand von Definitionen und als solcher nicht-partikulär ist.“ Dem Eidos eigne also gemäß Aristoteles dieselbe spezifische (nicht-beliebige) Allgemeinheit eines bestimmten Sachunterschieds. (2) Ferner arbeitet Rapp (ibd., 176–7) heraus, dass das von Aristoteles kritisierte Allgemeine dadurch gekennzeichnet [sc. ist], daß es von mehreren zugrundeliegenden Subjekten ausgesagt wird, während die Substanz überhaupt nicht von anderem ausgesagt werden kann. […] [W]ie kann dann Aristoteles darauf kommen, die Artform bzw. das eidos nicht zum Allgemeinen zu zählen? […] In dem für die Kennzeichnung des Allgemeinen relevanten Sinn des Ausgesagtwerdens wird die Artform, die erste Substanz sein soll, überhaupt nicht von einem anderen und schon gleich gar nicht von mehreren Subjekten ausgesagt (obgleich weiterhin gelten soll, daß mehrere Individuen über ein und dieselbe Artform verfügen können). 84 metaph.
1043b10–23. Wobei Rapp (1996 c: 187) dies selbst vorsichtiger formuliert: „Auch als die gemeinsame Form mehrerer Gegenstände braucht sie [sc. die Artform] deshalb nicht als Allgemeines neben ihren individuellen Instantiierungen vorzukommen“ (Kursive FD). Das ‚Vorkommen neben‘ im Sinne von ‚auf derselben ontologischen Ebene sein‘ wäre sicher zu verneinen; dies bedeutet aber nicht zwingend, dass es kein transzendentes Eidos im Unterschied zu den Instanzen gibt (s. o. Anm. 76). Es hängt also entscheidend davon ab, was unter einem immateriellen, transzendenten Eidos verstanden wird: Sofern abstrakte post multa-Begriffe als ‚Ideen‘ aufgefasst werden, sind diese von Aristoteles’ Kritik getroffen. Dazu, dass aber z. B. die spätere, neuplatonisch begründete Transzendenz (s. u. Kap. II.5 b zu Plotin und Kap. III.e zu Proklos) nicht von „Aristoteles’ Chorismos-Vorwurf gegenüber Platons Ideenlehre“ getroffen ist, s. Schmitz (2002: 455, Anm. 1). 85
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In dem eingangs zitierten Abschnitt hatte Aristoteles selbst ausgeführt: „Notwendigerweise also ist eins das Gute und Gut-Sein, schön und Schön-Sein, und alles, was nicht gemäß einem anderen bezeichnet wird, sondern gemäß sich selbst und als Primäres“ (metaph. 1031b11–22). Das einen spezifischen Sachunterschied umfassende Eidos ist also mit diesem in ontischer Hinsicht identisch, weil es in primärer Weise und von sich selbst her genau und nur dieser Sachunterschied ist: Wenn dieser ausgesagt wird, wird dieses Eidos nicht über etwas anderes, sondern das Eidos wird höchstens als es selbst ausgesagt.86 Daher kann Rapp konstatieren, dass gemäß Aristoteles „die Artform, die erste Substanz sein soll, überhaupt nicht von einem anderen und schon gleich gar nicht von mehreren Subjekten ausgesagt“ wird.87 Von einer generischen Allgemeinheit, „die über mehrere zugrundeliegende Subjekte ausgesagt wird“ (z. B.: ‚Menschen und Pferde sind Lebewesen‘), von einem hen epi pollôn,88 ist das substantielle Eidos also ausgenommen. Das Eidos ‚Mensch‘ umfasst genau das, was es ausmacht, Mensch zu sein, nicht aber den generisch-unbestimmten Begriff ‚Lebewesen‘ und auch kein anderes Eidos wie ‚Pferd‘. Was aber, wenn, wie Rapp darlegt, „weiterhin gelten soll, daß mehrere Individuen über ein und dieselbe Artform verfügen können“? Dies könnte dadurch möglich sein, dass zwei verschiedene Menschen qua Mensch dennoch genau in einer selbigen Hinsicht ‚Mensch‘ sind, also das Eidos ‚Mensch‘ gemäß Rapps Aristoteles-Deutung der Sache nach nicht über zwei Menschen, sondern qua seiner Nicht-Partikularität lediglich gemäß sich selbst ausgesagt wird, insofern es in zwei Menschen gleichermaßen verwirklicht ist. Die beiden Einzel-Menschen mögen also zwei unterschiedliche Individuen, Charaktere und Personen sein, allein qua Mensch haben sie in einer identischen Hinsicht Anteil am MenschSein bzw. an derselben Eidos-Ursache ‚Mensch‘: Sie sind insofern Instanzen des Eidos ‚Mensch‘,89 auch wenn „der Mensch in Sokrates der Mensch in Sokrates und nicht mit dem Menschen in Kallias identisch“ ist, da es sich ja um zwei verschiedene und nicht einen einzigen Menschen handelt.90 86 Vgl. Baltes (1998: 238): „Sagt man sie [sc. die Ideen] aus, so sagt man nichts über sie, sondern sagt die Ideen aus. Die Aussagen ‚über‘ die Eigenschaften der Ideen sind also eigentlich nur Explikation dessen, was die Ideen in vollkommener Einfachheit implikativ sind“ (Kursive D / B). 87 S. in komplementärer Weise Thiel (2004: 56): „das Generelle, das konfus Allgemeine, [sc. ist] im eigentlichen Sinne dasjenige […], das von vielen ausgesagt werden kann. […]. Das primäre Allgemeine ist demgegenüber nicht schlechthin kata pantos, kann also nicht schlechthin von allen Dingen, deren Ursache es ist, ausgesagt werden“ (s. ebenso ibd., 220–2, 225–7, 240). Vgl. ferner Pietsch (1992: 32): „Definiert wird nicht das Eidos im Individuum, denn so müßten sich die jeweiligen Einzeleide einer Species voneinander in gewisser Weise unterscheiden. Definiert wird nur die Bestimmtheit ‚Mensch‘ und genau in dieser Bestimmtheit liegt ihre sachliche Realität, nicht in der Inkorporation.“ 88 Vgl. Pietsch (1992: 39–40) zu metaph. 1040b26–34 sowie Thiel (2004: 58). 89 Vgl. Thiel (2004: 124, 210) und Schmitt (2003 a: 419). S. auch unten Anm. 229. 90 So Thiel (2004: 223), der weiter ausführt im Hinblick auf das primäre Allgemeine (welches nicht generisch-abstrakt, nach Rapps Terminologie nicht-partikulär ist): „Als primäre All-
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Wenn dies aber so ist, dann liegt der platonische Gedanke der Teilhabe zum Greifen nahe: Alle Menschen partizipieren qua ‚Mensch‘ an ein und derselben Eidos-Ursache für ihr Mensch-Sein (was nicht hindert, dass sie in anderen Hinsichten an anderen Bestimmungen in verschiedener Weise partizipieren wie ‚gerecht‘, ‚mathematisch gebildet‘ etc.). Für einen Platoniker namens Proklos könnte, wie unten genauer darzulegen sein wird (Kap. III.c), dies bedeuten, dass die Eidos-Ursache die Fülle der Möglichkeiten, Mensch zu sein, einshaft umfasst: Die einzelnen Menschen können aber diese Fülle nur teilhaft und auf unterschiedliche Weise verwirklichen und insofern einerseits in unterschiedlicher, teil‑ hafter Weise an dem Eidos ‚Mensch‘ partizipieren, andererseits aber, insofern sie wirklich und in voller Hinsicht Menschen sind, an diesem einen Eidos ‚Mensch‘ als ein und demselben, in ganzer Weise partizipieren. Dies stimmte zumindest insofern mit Rapps (1996 c: 178) Aristoteles-Interpretation überein, als das Eidos die Auszeichnung ‚erste Substanz‘ […] gerade deswegen [sc. erhielt], weil es als Grund für das Sein und das Einheitlich-Sein der konkreten Einzelsubstanzen […] dafür verantwortlich ist, daß diese Einzelsubstanzen das sind, was sie sind. […] Daß das eidos nicht als das gemeinsame Prädikat mehrerer, unabhängig davon individuierbarer Gegenstände konstruiert werden darf, wenn seine Rolle als Seins‑ und Erkenntnisgrund des auf andere Weise Seienden angemessen herausgestellt werden soll, kann als eine für die reife Substanztheorie der Metaphysik zentrale Einsicht gelten […].91
Die Artform werde auch nicht von etwas anderem als Zugrundeliegendem ausgesagt, denn [sc. eine] Materie-Ansammlung [sc. wie z. B. das Fleisch und die Knochen eines bestimmten Menschen] ist ja nur das der Möglichkeit nach,92 was die Artform der Wirklichkeit nach ist (H 6, 1045b18 f.), nämlich das konkrete Ganze (ibd., 180–1).
All dies führt die Platoniker direkt zum Theorem der Teilhabe. (3) Da das Eidos (Rapp ibd., 181) „erste Substanz sein soll“, scheint es „unsachgemäß, von dem eidos, das erste Substanz sein soll, zu sagen, es werde von mehreren Subjekten ausgesagt.“ Wenn es aber als ein und dieselbe Substanz ausgesagt wird, die trotzdem in vielen materialen Subjekten / Zugrundeliegenden gemeine werden sie nämlich am richtigsten als Prinzip, als sachlicher Grund, als die Sacheinheit, die eigentlich die Sache selbst ist und in ihren Instanzen nur vermischt mit etwas anderem in einem anderen Bestand gewinnt, angesehen“ (ibd., 225). 91 Inwieweit man diese „Reife“ als entwicklungsgeschichtlich innerhalb des Aristotelischen Denkens begreift oder als Anforderung an denjenigen, der in seinem Erkenntnisfortschritt bereits weit vorangekommen sein muss und daher ‚herangereift‘ ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Dass die entwicklungsgeschichtliche Deutung auf philosophischen Vorannahmen der jeweiligen Aristoteles-Interpretation beruht, zeigt Thiel (2004: 58–66), der sich – bei entsprechender Beachtung des Skopos der jeweiligen Schrift – dafür ausspricht, dass in der Meta‑ physik kein „gegenüber der Kategorienschrift in der Sache veränderter Substanzbegriff vorliegt“ (ibd., 66; ebenso 209, 231 Anm. 8). 92 S. ebenso Thiel (2004: 65).
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verwirklicht ist (gleichwohl ja nicht in allen möglichen Zugrundeliegenden, sondern nur in bestimmten), dann scheint dies das Teilhabe-Theorem in noch spezifischerer Weise – nämlich in zwei Hinsichten – zu evozieren: (a) Denn wenn ein Eidos an bestimmten, aber nicht an allen denkbaren Zugrundeliegenden verwirklicht ist, dann muss es eine Ursache dafür geben, dass bestimmte Materie das Eidos ‚Mensch‘ verwirklicht, andere dagegen nicht. Dies ließe sich dadurch erklären, dass ausschließlich bestimmte, geeignete Materie (etwa die im Werden begriffene befruchtete Eizelle in der Gebärmutter oder ein beseelter menschlicher Körper) an dem einen Eidos ‚Mensch‘ zu partizipieren und es (in einem Entwicklungsprozess) zu verwirklichen vermag, andere Materie dagegen nicht.93 Ob etwas ‚Mensch‘ ist, unterscheidet sich in dieser Hinsicht auch an der Partizipationsfähigkeit des materiell Zugrundeliegenden. Diese ‚partizipationslogische‘ Voraussetzung würde in ontologischer Hinsicht erklären, warum nicht alle und jede beliebige Materie ‚Mensch‘ sein kann. (b) Wenn das eine Eidos formbestimmend für viele materielle Träger ist, erzwingt dies eine Relation von Vielem zu einem Einen. Wenn das Eidos gemäß Aristoteles als es selbst unterscheidbar sein und ein Sein „gemäß sich selbst und als Primäres“ besitzen soll, müsste es immaterieller Natur sein,94 sonst wäre sein Status als „erste Substanz“, als gemäß sich selbst primär Seiendes, zumindest fragwürdig. Das Eidos kann also als es selbst qua gemäß sich selbst primär Seiendem nicht in derselben Weise an Materie gebunden sein wie seine Einzelinstanzen.95 Wenn aber ein Eidos gemäß Rapps plausibler Aristoteles-Deutung als ein bestimmtes Eidos formbestimmend für voneinander unterscheidbare Zugrundeliegende ist, dann entstünde eine Kluft zwischen dem für sich primär-seienden, immateriellen Eidos einerseits und seinen von ihm einheitlich bestimmten Instanzen andererseits. Diese Kluft ließe sich über das Teilhabe-Theorem, wie es Proklos (s. Kap. III.c) entwerfen wird, überbrücken. Auch von diesem Befund her gedacht erscheint Aristoteles’ Position keineswegs grundsätzlich inkompatibel mit genuin platonischen Teilhabe-Gedanken, wie das vorangegangene Gedankenexperiment zeigen sollte. Ohne die Annahme gemäß sich selbst und für sich selbst bestehender Ideen wäre zudem kaum verständlich, weshalb Aristoteles sowohl in erkenntnistheoretischer wie auch ontologischer Hinsicht die Leugnung intelligiblen Seins kritisiert: Wenn also nichts ist (esti) neben den Einzeldingen, dann gäbe es wohl nichts Intelligibles, sondern alles [sc. Seiende wäre] Sinnlich-Wahrnehmbares und Wissen (epistêmê) [sc. gäbe 93 Auch Rapps (1996 c: 184–5) Ausführungen über die Instantiierung wären in diese Richtung der Teilhabe-Philosophie deutbar: „[…] die Vollständigkeit einer Bestimmung F [sc. äußert sich] darin, daß es keiner weiteren Bestimmung bedarf, um die Instanzen von F zu individuieren, daß das Sein einer jeden Instanz von F darin besteht, ein F zu sein […].“ 94 Zur Frage des immateriellen Eidos bei Aristoteles s. o. Anm. 76. 95 Dazu, dass „Vertreter nicht mit der Art identisch sind“, s. im anderen Zusammenhang auch Thiel (2004: 102).
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es] von nichts, wenn nicht jemand behauptet, dass die sinnliche Wahrnehmung (aisthêsis) Wissen sei (metaph. 999b1–4).
Dieselbe Konfusion sinnlich wahrnehmbaren und intelligiblen Seins attackiert er z. B. auch in De caelo, da er die Gefahr einer Vermischung dieser zwei Seinsbereiche bei den Eleaten Parmenides und Melissos – genauer: bei ihren Anhängern – nicht gebannt sieht:96 Denn die einen von ihnen haben Werden und Vergehen ganz aufgehoben: Nichts nämlich, sagen sie, werde oder vergehe von dem Seienden, sondern es scheine uns nur so, [sc. dies sagen] z. B. die Anhänger von Melissos und Parmenides, von welchen, wenn sie auch im Übrigen angemessen reden, man aber nicht glauben darf, dass sie in naturwissenschaftlicher Hinsicht (physikôs) reden: Dass nämlich bestimmte der Seienden ungeworden und gänzlich unbewegt sind, gehört eher zu einer anderen und ersteren als der naturwissenschaftlichen Betrachtung. Jene aber – weil sie annehmen, es sei nichts anderes neben dem Wesen (ousia) der wahrnehmbaren Dinge, aber bestimmte solche [sc. ungewordenen und unbewegten] Naturen (physeis) als erste erkennen, wenn denn eine bestimmte Art von Erkenntnis (gnôsis) oder Einsicht (phronêsis) möglich sein soll (estai) – haben so auf das Hiesige [sc. das sinnlich Wahrnehmbare] die rationalen Bestimmtheiten (logoi) von dort [sc. aus dem Intelligiblen] übertragen (metênenkan) (cael. 298 b, 14–24).
Es spricht somit von verschiedenen Perspektiven her betrachtet einiges dafür, dass Aristoteles vordringlich eine fehlgedeutete Teilhabe und ein auch in seinem Sinne falsches bzw. oberflächliches Ideenverständnis, die von „einigen“ vertreten worden sein mögen, attackieren will.97 Eine undifferenzierte Hypostasierung von leeren Allgemeinbegriffen98 zu ‚Ideen‘ (‚alles ist irgendwie eines und sei96 Zur Stelle und zu Aristoteles’ Parmenides-Kritik in ihrer differenzierten Einordnung bei Simplikios vgl. Drews (2012 a). 97 Vgl. Pietsch (1992: 39) und Thiel (2004: 63–64): Aristoteles richte sich „gegen solche Positionen, die hypostasierte abstrakte Allgemeinbegriffe für platonische Ideen und mithin einzelne intelligibel Seiende ausgeben wollen.“ Im Hinblick auf Platon selbst vgl. auch die auffällig distanzierte Haltung des Fremden in seinem Dialog Sophistês gegenüber den „Ideenfreunden“ (soph. 248a4), die offenbar eine verkürzte, zu statisch-abstrakte Ideenlehre zu vertreten scheinen. Aristoteles wendet sich öfters gegen oberflächliche Fehldeutungen, vgl. z. B. metaph. 987a22, zur Stelle Pietsch (1992: 239) und dazu, dass Aristoteles’ Kritik sich vermutlich „gegen depravierte Formen dieser [sc. platonischen] Lehre“ wendet (ibd., 251). S. ebenso Thiel (2004: 57–58). Auch schon in der antiken Aristoteles-Deutung wurde die Möglichkeit erwogen, dass seine Invektiven nur auf ein oberflächliches paralogizesthai abzielen könnten; vgl. im Zusammenhang mit Aristoteles’ oben zitierter Parmenides-Kritik Simplikios, in Cael. III, 557, 12–24 und zur Stelle Drews (2012 a: 400 f.). 98 Rapp (1996 c: 165) arbeitet klar heraus, dass Aristoteles sich gegen eine abstrakte Auffassung abgrenzt, gemäß welcher „die Allgemeinheit als solche für ein Merkmal der Substantialität“ gilt, da ‚Allgemeinheit an sich‘ keine Substantialität begründet. Das Allgemeine (wie z. B. ‚Lebewesen‘) treffe auf Mehreres zu (‚Mensch‘, ‚Pferd‘, etc.), während das, was ein bestimmtes Sein ausmacht (to ti ên einai), dies nicht tue: Das Lebewesen-Sein komme einem Menschen nur als Mensch-Sein zu, dem Pferd nur als Pferd-Sein; das Mensch-Sein oder Pferd-Sein markiert dagegen die substantiellen Unterschiede von ‚Mensch‘ und ‚Pferd‘, ist deshalb spezifisch und trifft nicht auf mehrere Substanzen zugleich zu (s. Rapp ibd., 168, 185). – Freilich bedeutet dies nicht, dass grundsätzlich jede Art, einen Begriff ‚Lebewesen‘ zu ergründen, von allgemeiner
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end‘) – ohne eine spezifisch unterscheidbare Sacheinheit anzugeben, die den Rückschluss auf ein intelligibles Eidos rechtfertigt – steht in jedem Fall im Widerspruch zur Philosophie eines Aristoteles (ebenso aber auch zu der eines Platon, wie z. B. dessen aporetische Dialoge zeigen99). Von Aristoteles’ Kritik scheint eine genuin platonisch begriffene Methexis indes kaum tangiert, wenn man die philosophischen Kontexte konkret durchdenkt.100 Nur deshalb kann Aristoteles auch sagen, dass die Vertreter der Ideenlehre Eidê in einer Hinsicht richtigerweise (orthôs) „abgetrennt“ hätten, insofern diese wirklich ousiai, Wesen / Substanzen, seien; würden jedoch von den instanzhaften Einzeldingen (als angeblichen Gradmessern für wesentliches Sein) Allgemeinbegriffe abstrahiert, verabsolutiert und zu ‚Ideen‘ hypostasiert in dem Sinne, dass einfach ein unspezifischer „Einheitsbegriff, der auf Vieles“ passt, ausgesagt werde (s. o. zum ‚dritten Menschen‘), dann sei dies unsachlich und unrichtig.101 Somit ist auch nachvollziehbar, warum Aristoteles’ Philosophie bereits in der Antike als mit platonischen Annahmen grundsätzlich kompatibel erachtet wurde. Im Hinblick auf die von ihm unterschiedenen Begriffe des „gleichgeordneten“ respektive „herausgehobenen“ Allgemeinen scheint sich etwas dem späteren Methexis-Theorem eines Proklos Ähnliches abzuzeichnen, insofern dieser von partizipierten (= gleichgeordneten) respektive unpartizipierbaren (= herausgehobenen) Prinzipien spricht (s. Kap III.c). So macht der neuplatonische Kommentator Simplikios geltend, dass Aristoteles ontologisch vor dem „gleichgeordneten Allgemeinen“, welches formbestimmender Teil eines aus Form und Materie bestehenden Synthetons ist, ein „herausgehobenes Allgemeines“ vorausgesetzt habe: Damit nimmt Simplikios, wie Rainer Thiel gezeigt hat, „nichts anderes als Abstraktheit sein muss, da es auf den jeweiligen sachlichen Differenzierungsgehalt eines solchen Begriffs ankommt. S. Thiel (2004: 47, 241) sowie oben Anm. 76. 99 Zur behutsamen Argumentation, wann z. B. überhaupt etwas als Wissen (epistêmê) angesehen werden dürfte, vgl. Platon, Theaitet. 100 Zum Verhältnis von Platon und Aristoteles s. Fine (1995: 28–29): „[…] the false assumption that Aristotle aims to record and criticize arguments to which Plato is straightforwardly committed. But at least in the Peri ideôn, this is not Aristotle’s strategy. Sometimes he takes an impressionistic and vague Platonic claim, and provides one literal and natural reading of it, which he then proceeds to attack. […] Aristotle thus aims to record, not Plato’s clear intentions and commitments, but a reconstructed version of his arguments, one that aims to provide philosophical illumination. – Aristotle’s criticisms often succeed against these reconstructed arguments. But Plato can reply that he is not committed to them – that he intends his impressionistic language in some other way, or relies on distinctions he does not explicitly formulate, or rejects the assumptions Aristotle saddles him with. In offering Plato this reply, however, we need not say that Aristotle misunderstands Plato. Rather, he challenges us to answer the following questions: What does Plato mean if not the literal reading Aristotle proposes? What justification is there for taking Plato to rely on distinctions he does not explicitly formulate? […] We may in the end decide that the answers to these questions show that Aristotle’s metaphysics is to be preferred. But any such decision should result from deep reflection, rather than from the misguided thought that Aristotle simply shows that the theory of forms is internally inconsistent. Both Plato and Aristotle deserve better than that.“ 101 metaph. 1040b27–30.
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eine gedrängte Skizzierung des von Aristoteles in den Zweiten Analytiken (1, 4) beschriebenen primären Allgemeinen“ vor.102 Nicht zuletzt wird im Mittelalter ein Aristoteliker wie Thomas von Aquin auf bestimmte Weise, aber keinesfalls undifferenziert die platonische Partizipationsontologie in seine Philosophie zu integrieren suchen.103 In jedem Fall ergeben sich von Aristoteles’ Substanz-Philosophie wichtige Weichenstellungen sowie Diskussionspunkte, mit denen sich die spätere neuplatonische Methexis-Lehre auseinanderzusetzen hatte und an denen sie sich messen lassen musste.
4. Die Teilhabe-Philosophie im Kontext mittelplatonischer Ontologie und Theologie 4.1. Alkinoos Der unter dem Namen eines Alkinoos überlieferte, doxografische Traktat Dida‑ skalikos (wohl 2. Jhd. n. Chr.) gilt neben Apuleius’ De Platone 104 und Plutarchs platonischen Schriften als „einzig vollständig erhaltene Platonische Schrift vor der Zeit Plotins und des Neuplatonismus.“105 Lange Zeit wurde er dem Mittelplatoniker Albinus zugeschrieben, da der Autor Alkinoos in der antiken Überlieferung sonst nicht bezeugt ist. In jüngerer Zeit mehren sich jedoch die Stimmen, welche die frühere Identifizierung der beiden Autoren und die damit einhergehende „Tilgung“ des Alkinoos als eines eigenständigen Autors für unberechtigt erachten.106 Daher soll im Folgenden Alkinoos auch hier als Urheber des Werks angenommen werden. Im Hinblick auf das Thema ‚Teilhabe‘ sei eine Passage des Didaskalikos zitiert, welche als eine weitere Station innerhalb der geschichtlichen Entwicklung des platonischen Methexis-Gedankens betrachtet werden darf. Gegenüber dem Niveau der aristotelischen Kritik an abstrakten Allgemeinbegriffen, die nicht vorschnell mit den substantiellen Ideen im Sinne Platons identifiziert werden sollten,107 legt der kurze Text ein eher bescheideneres Reflexionsniveau an den Tag. Trotzdem verdient er es in gleicher Weise, ernst genommen zu werden, 102 Thiel (2004: 53); dort auch der Verweis auf die Simplikios-Stelle: in Cat. 69, 23. S. ferner Thiel (ibd., 165–6). Zum reichhaltigen, „mehr seienden“ Allgemeinen vgl. Aristoteles, APo, Kap. 24, 85b15–18; 85b24; 86a3–6+29–30. Vgl. Schmitt ([2003 a: 417], [2016: 245–8]). 103 Zu Thomas s. u. Kap. IV.8. „In Thomas’s solution the Aristotelian aspect of the immanent form on the one hand and the Platonic aspect of the transcendent form on the other hand are brought together in a synthesis“ (te Velde 1995: 26). S. ferner ibd., 64–65. 104 S. u. Kap. II.4.2. 105 Summerell / Zimmer (2007: IX). 106 Die dafür sprechenden Argumente werden kurz und prägnant von Summerell / Zimmer (2007: IX–XI) zusammengefasst. Vgl. außerdem Alt (1996: 5–6). 107 S. das vorhergehende Kapitel.
4. Die Teilhabe-Philosophie im Kontext mittelplatonischer Ontologie und Theologie
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zumal in Rechnung zu stellen ist, dass der Didaskalikos eine Einführungsschrift in die Lehren Platons sein will, während Aristoteles Platons Philosophie anscheinend als bekannt voraussetzen und darauf aufbauend sich der Spezialdiskussion diffiziler Detailprobleme widmen konnte. Alkinoos führt über Platons Güterlehre und Teilhabe-Philosophie Folgendes aus: Denn alles, was in irgendeiner Weise von den Menschen für gut gehalten wird, erlange, wie [sc. Platon] annahm, diese Bezeichnung dadurch, dass es in irgendeiner Weise an jenem ersten und ehrwürdigsten [sc. Guten] partizipiere (metechein) in der Weise, wie auch das Süße und das Warme gemäß dem gemeinschaftlichen Mitsein (metousia) des ersten [sc. Süßen respektive Warmen] die Benennung erhalte: Von dem in uns [sc. Liegenden] aber erreichten einzig Intellekt (nous) und Vernunft (logos) die Ähnlichkeit mit jenem [sc. ehrwürdigsten Guten], weshalb auch unser Gutes schön sei und als ehrwürdig, göttlich, liebenswert, maßvoll und nach Art des Daimonischen (daimoniôs) benannt werde. Unter den von den Vielen als Güter bezeichneten Dingen, wie z. B. Gesundheit, Schönheit, Stärke, Reichtum usw., sei aber nichts in absoluter Weise (kathapax) gut, wenn sie nicht tugendhaft gebraucht würden; denn getrennt von dieser [sc. der Tugend] nehmen sie nur den Rang der Materie ein und werden zum Schlechten für die, welche sie auf üble Weise gebrauchen. Bisweilen aber hat er sie auch sterbliche Güter genannt (Alkinoos, did. 27, 2).
Alkinoos erklärt ganz platonisch, dass die vielen Dinge, welche die Menschen als gut betrachten, nur deshalb berechtigterweise auch als ‚gut‘ angesehen und entsprechend bezeichnet werden können, insofern sie Anteil haben am Guten selbst, d. h. an dem, was nach Platon die Idee des Guten108 und nach Aristoteles das von sich selbst her und gemäß sich selbst Gute ist.109 In diesem Sinne hatte Alkinoos unmittelbar zuvor ausgeführt, dass das erste Gute nach Platon „Gott“ bzw. „erster Intellekt“ genannt werden sollte.110 Damit zeigt Alkinoos in theologischer Hinsicht, dass er Platons Theologie, Gott sei wesensmäßig gut,111 mit dessen Ausführungen über die Idee des Guten, an der alles irgendwie Gute teilhaben müsse, identifiziert: Weil das erste Gute Gott selbst ist, ist es auch sinnvoll, von ihm als „ehrwürdigst“ zu sprechen. Als leichter verständliches Beispiel führt Alkinoos sodann das Süße und Warme an, das „gemäß dem gemeinschaftlichen Mitsein (metousia) des ersten [sc. Süßen respektive Warmen] seine Benennung erhalte.“ Dieses Beispiel muss angesichts des ersten Guten, das gerade zuvor mit dem (höchsten) Gott identifiziert wurde, zunächst wie ein argumentativer Bruch wirken: Es ist nicht nur dem Alltag entlehnt, sondern es stellt sich auch sofort die Frage, inwiefern das ‚erste Süße bzw. Warme‘ eine eigene Substanz im Sinne der intelligiblen Ideen Platons sein könnte. Während sich für das Gute, das Schöne oder auch für geometrische resp. 504 a ff. Kap. II.3 zu Aristoteles, metaph. 1031b11–22. 110 did. 27, 1. 111 Platon, resp. 379b1–c7. 108 Platon, 109 S. o.
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Entitäten wie ‚Kreis‘ und ‚Dreieck‘112 nach platonischer Auffassung ein begrifflich einsehbares Wesen ergründen lässt, scheinen ‚süß‘ und ‚warm‘ elementare Qualitäten zu sein, die nicht begrifflich, sondern nur den sinnlichen Wahrnehmungen zugänglich sind.113 Dieses Beispiel, welches Alkinoos wählt, ließe sich mit Aristoteles’ Kritik an einfach hypostasierten abstrakten Allgemeinbegriffen leicht attackieren.114 Trotzdem hat es vermutlich doch seine Berechtigung, wenn man den Einführungscharakter des Didaskalikos in Rechnung stellt und den ohne Weiteres erkennbaren Umstand, dass Alkinoos sich eines leicht einsehbaren Beispiels bedient, um dem philosophischen Schüler verständlich zu machen oder dem unterweisenden Lehrer eine geeignete didaktische Erklärung dafür an die Hand zu geben,115 was es mit der Teilhabe-Philosophie Platons auf sich haben könnte: Die Didaktik hat hier vermutlich vor der philosophisch-sachlichen Richtigkeit des Arguments zunächst Vorrang, und bereits Platon selbst scheint sich ähnlicher Beispiele mit selbiger Methode bedient zu haben, wenn er im zehnten Buch der Politeia von drei Ideen von ‚Bett‘ spricht; denn für den philosophisch Fortgeschrittenen dürfte leicht ersichtlich sein, dass ‚Bett‘ keine intelligible Idee wie etwa die des Guten oder des Gerechten sein kann, sondern im Sinne eines technikos logos bestenfalls etwas, was als enhylon eidos, als materieverhaftete Form, zu bezeichnen wäre.116 Im Folgenden zeigt Alkinoos indes, dass er gegen eine solche potentielle Kritik in der Sache gleichsam gewappnet ist, wenn er sagt, dass „von dem in uns [sc. Liegenden] einzig Intellekt (nous) und Vernunft (logos) die Ähnlichkeit mit jenem [sc. ehrwürdigsten Guten] erreichten.“ Damit beugt er – zumindest implizit – dem Missverständnis vor, man könne einfach x-beliebige, materielle Gegenstände zu platonischen Ideen erheben, welche sie jedoch nicht sind, da alles Sinnlich-Wahrnehmbare immer zugleich mehr wie auch weniger als das bestimmte, einen einheitlichen Sachunterschied umfassende Sein einer Idee ist.117 Vielmehr sagt Alkinoos hier ausdrücklich, dass nur der menschliche nous bzw. logos eine bestimmte Ähnlichkeit mit dem höchsten Guten besitze: Dadurch wird deutlich abgegrenzt, dass das Gute selbst nur intelligibler Natur sein und folglich nur Zum Dreiecks-Beispiel s. u. Anm. 157 sowie Kap. II.5. und Kap. III.c. insofern mit ‚süß‘ und ‚warm‘ nichts gemeint ist, was man mit dem modernen Sprachgebrauch als ‚übertragene Bedeutung‘ begreifen würde (‚süß‘ kann auch die angenehme Zuwendung eines Menschen sein, welche nicht geschmacklicher Natur ist; ebenso kann das behagliche menschliche Miteinander als ‚Wärme‘ empfunden werden, ohne dass damit von einer äußerlichen Heizquelle die Rede wäre, die sinnlich-wahrnehmbare Wärme verströmt). 114 Vgl. Aristoteles, metaph. 1078b19–1079a1. 115 Vgl. Alt (1996: 5). 116 Vgl. Platon, resp. 596 a ff. – Zur Unterscheidung zwischen materieimmanenter (enhyletischer) Form und transzendent-immaterieller (ahyletischer) Form bei Alkinoos vgl. Helmig (2006: 260). 117 S. o. Anm. 87. 112
113 Jedenfalls
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vom Intellekt erkannt werden kann. Allein diese Ähnlichkeit des menschlichen Intellekts mit dem höchsten Gott, welcher für Alkinoos ja der erste Intellekt ist,118 kann einen sachlichen Rechtsgrund dafür darstellen, dass auch „unser“, d. h. das menschliche „Gute schön sei und als ehrwürdig, göttlich, liebenswert, maßvoll und nach Art des Daimonischen (daimoniôs) benannt werde.“ Die letzte Formulierung (daimoniôs) ist in der Forschung als problematisch betrachtet worden.119 Vielleicht lässt sich diese philologische Schwierigkeit jedoch auch ohne cruces auflösen, wenn man den theologischen Inhalt konsequent bedenkt: Es geht Alkinoos ja gerade darum, zu zeigen, dass der Mensch offensichtlich nicht Gott ist, sondern nur das Beste im Menschen, der nous, eine gewisse Ähnlichkeit mit Gott aufweisen und ausschließlich insofern (in uneigentlicher Weise) „göttlich“ genannt werden kann. Vor dem Hintergrund, dass gemäß Platon die daimones120 als Mittelwesen zwischen Gott und Mensch fungieren121 und dass außerdem, wie z. B. der Traktat De Deo Socratis des Apuleius belegt,122 diese Lehre im Mittelplatonismus durchaus geläufig war,123 ließe sich die Alkinoos-Stelle so interpretieren, dass der Mensch dann, wenn er seine höchste Möglichkeit, die er gemäß Alkinoos hat, – d. h. seinen nous – verwirklicht, sich dem Sein eines Daimons, d. h. eines göttlichen Zwischenwesens zwischen Gott und Mensch, tendenziell angleicht: Insofern könnte dann das menschliche Gute auch „nach Art des Daimonischen benannt werden“. Bei dieser Lesart ließe sich die überlieferte Textfassung zumindest philologisch wie inhaltlich rechtfertigen: Denn Alkinoos greift an anderer Stelle „aus dem Timaios die Vorstellung auf, daß das Geistige in der Seele der Daimon sei und schreibt: ‚Daher könnte man mit Recht sagen, der unglückliche Zustand sei das Schlechtwerden des Daimons, die Glückseligkeit aber die glückliche Verfassung des Daimons.‘ “124 Die Passage endet mit dem Hinweis, dass die anteilmäßigen Güter wie Gesundheit, Schönheit, Stärke, Reichtum etc. nicht in absoluter Weise (kathapax) gut sind: Dies erklärt sich systematisch unmittelbar aus dem Umstand, dass sie eben nur Teilverwirklichungen einer Sache sind und nicht die Sache selbst oder gar das Absolute. Als solche Partikular-Güter ist ihr Nutzen vom guten Gebrauch abhängig: Ist dieser nicht gegeben, können sie sogar zum Schlechten umschlagen, weil sie ohne die Rückbindung an das Gute selbst – d. h. dann, wenn 118 S. o.
Anm. 110. Vgl. die cruces bei Summerell / Zimmer (2007: 56–57 sowie 88, Anm. 113). 120 Daimones sind nach platonischem Verständnis keine ‚Dämonen‘, d. h. durchweg böse Geister, sondern können sowohl gut wie auch schlecht sein. Der Begriff ist also zunächst neutral aufzufassen (vgl. auch Alt 2005: 38). 121 Platon, symp. 202e2–203a8. 122 S. dazu Drews (2009: 544–551) sowie im Folgenden Kap. II.4.2. 123 Alkinoos selbst erwähnt die daimones nur kurz (did. 15, 1): Wenn Alt (1996: 33) interpretiert, „überhaupt kommen die daimones als eigene Klasse höherer Wesen […] im Didaskalikos nicht vor“, erscheint dies überspitzt formuliert. 124 Alt (1996: 40) mit Bezug auf die Stelle did. 28, 3. 119
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sie nicht mehr als Anteilhabende des göttlichen Guten erkannt und eingesetzt werden – nur den „Rang der Materie“ haben. Diese aber ist von sich selbst her unbestimmt,125 also auch nicht gefeit vor Missbrauch. 4.2. Apuleius a) Apuleius’ Ontologie und Ideenlehre in De Platone I, 6 Dem Mittelplatoniker Apuleius aus Madaura (geb. um 125 n. Chr.) ist in der Forschung bisweilen eine nur unzureichende Durchdringung seiner eigenen philosophischen Argumentationen unterstellt worden.126 Es kann daher nicht als selbstverständlich gelten, in Apuleius einen philosophisch ernst zu nehmenden Autor erblicken zu wollen,127 auch wenn er sich selbst bekanntlich in seiner Apologie (10, 6) als philosophus Platonicus bezeichnet hat. Bevor im zweiten Teil dieses Kapitels auf Apuleius’ philosophische Theologie eingegangen wird, soll im ersten Schritt zunächst eine für Apuleius’ Verständnis der platonischen Ontologie besonders relevante Passage aus seinem Werk De Platone et eius dogmate (DP) besprochen werden, und zwar mit einer doppelten Zielstellung: Zum einen erweist dieser Textausschnitt Apuleius als einen genuinen Mittelplatoniker. Zum anderen zeigt sich, wenn die hier vorgeschlagene Interpretation Plausibilität für sich beanspruchen darf, dass Apuleius in seiner Ontologie eine bestimmte (dreistufige) Differenzierung kennt, welche für die spätere neuplatonische Methexis-Philosophie grundlegend sein wird und insofern eine Wegmarke innerhalb dieser Entwicklung darstellt – obwohl Apuleius das Teilhabe-Problem hier nicht direkt anspricht: Dies mindert aber, wie gleich deutlich werden soll, in keiner Weise die inhaltliche Relevanz der Passage für den Zusammenhang der Methexis-Thematik. Im ersten der beiden Bücher von De Platone beginnt Apuleius (nach biografischen Kapiteln zum Leben Platons) in Kapitel 5 seine Doxografie der platonischen Lehre. Drei Anfänge (initia, Prinzipien) gebe es laut Platon: Gott, die gestaltlose Materie und die Ideen.128 Apuleius sagt wörtlich: Initia rerum tria S. did. 8, 2. Vgl. Dillon (1977: 325–6): „He [sc. Apuleius] gives the impression […] of conveying in a rather amateurish way a doctrine the complexities of which he does not quite follow.“ Grundsätzlich ähnlich Tatum (1979: 105), Sandy (1997: 105) und jetzt Moreschini (2014: 128–9). Zur kontroversen Forschungsdiskussion über die Authentizität von Apuleius’ Platonismus vgl. Drews (2012 b: 110–8) und (2015 a; 2017 a). 127 Zu dieser (selteneren) Interpretationsrichtung vgl. jedoch Heller (1983), Hijmans (1987), O’Brien (2002) und Drews (2009). 128 Warum Moreschini (1978: 69) die Gegenüberstellung von Gott und Materie als unplatonisch aufgefasst hat, ist mir nicht ersichtlich: „La contrapposizione tra dio e la materia è propria dello stoicismo […] ed estraneo a Platone, il quale era solito, invece, contrapporre all materia le idee.“ Gott kann platonisch zum Ideenbereich gehörig bzw. als höchste (Über‑)Idee betrachtet werden, während Gott von den Stoikern materie-immanent, d. h. pantheistisch gedacht wird. 125 126
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esse arbitratur Plato: deum et materiam inabsolutam, informem, nulla specie nec qualitatis significatione distinctam, rerumque formas, quas ‚ideas‘ idem vocat (DP I, 5 [190]).129 Apuleius gebraucht den Begriff deus hier ohne jeglichen Zusatz,130 der ihn spezifisch als Demiurg-Gott erweisen würde, d. h. als ein aus Platons Perspektive relativ niedrig stehendes göttliches Wesen, das aus dem geistig-intelligibel Seienden heraus das sinnlich wahrnehmbare und vergänglich Existierende schafft.131 Anschließend führt Apuleius Genaueres über diese drei initia aus: Gott sei unkörperlich; „dieser Eine“ (is unus) sei „unermesslich, der Erzeuger (genitor) aller Dinge, glückselig und glückselig machend, der Gute schlechthin (optimus), nichts bedürfend, himmlisch, unsagbar“ etc.132 Kurz, die wichtigsten Grundlagen platonischer Theologie werden aufgeführt: Das höchste Wesen ist der / das Eine, d. h. er ist vollkommen einshaft sowie gut, aller Veränderung und allem Mangel transzendent und Quell der Glückseligkeit. Die Materie dagegen sei von sich selbst her vollkommen gestaltlos und (als solche) unzerstörbar, sie sei keines der vier Elemente, sondern nur das Aufnahmefähige, das für alle Gestaltung Zugrundeliegende, weder körperlich noch unkörperlich, sondern allein potentiell körperlich. Sie sei zuerst als „universale“, 129 Zur textkritischen Diskussion vgl. Baltes (1998: 236–7) mit weiteren Hinweisen sowie den kritischen Apparat in der Ausgabe Moreschinis. 130 Wie etwa das besagte opifex mundi (s. Anm. 131 und das Folgende im Haupttext). 131 Im Allgemeinen versteht die Forschung den höchsten Gott des Apuleius als den Demiurgen. Vgl. Hijmans (1987: 439): „Apuleius apparently has no problems in describing the supreme god at the same time as the opifex mundi and as truly transcendent.“ Apuleius verwendet den Ausdruck opifex mundi in der Apologia (64, 5–8). Diese Quelle erscheint angesichts ihres Beweiszieles, die gegen Apuleius erhobenen Anklagen zu entkräften, weniger ausschlaggebend dafür, dass Apuleius grundsätzlich keine weiteren theologischen Differenzierungen geteilt habe. Einem zudem brillanten Rhetoriker mag es angesichts eines vor Gericht zu überzeugenden Auditoriums eher unangemessen erschienen sein, allzu komplexe philosophische Dihairesen in einer Verteidigungsrede präzise darzustellen – dafür handelt es sich nicht um die entsprechende literarische Gattung. Dieser Gattungsunterschied wird in seiner inhaltlichen Dimension jedoch bisweilen nicht beachtet – vgl. Sandy (1997: 22 ff.), der seine Ausführungen zu Apuleius in dem Kapitel „Philosophus Platonicus“ nur auf die Apologia stützt. – Im Unterschied zur vorherrschenden Forschungsmeinung spricht sich Bernard (1994: 363) dafür aus, dass „schon der Mittelplatoniker Apuleius über den intelligiblen […] Göttern einen höchsten, über dem Sein stehenden Gott denkt.“ Vorsichtiger vermutet Dillon (1977: 313) bei Apuleius eine vage „distinction […] which implies the placing of the prôtos theos above at least some form of nous.“ Vgl. ferner Chlup (2012: 14). In Bezug auf ‚Albinus‘ (= Alkinoos) weist bereits Theiler (1930: 56) in eine ähnliche Richtung: „Der oberste Gott (prôtos theos Alb. 164,19; 176,8) wird zwar noch mit nous bezeichnet, hebt sich aber ab vom nous tou sympantos ouranou, Alb. 164,24, und erhält Bestimmungen des plotinischen hen.“ Vgl. ferner Alt (1996) und Dillon (1993 b: 147). Generell für den Mittelplatonismus macht Alt (1996: 13) darauf aufmerksam, dass „hinsichtlich der Gottesvorstellung für die Phase des mittleren Platonismus von zwei nebeneinander verlaufenden Traditions-Strömen“ auszugehen ist, „die jeweils entweder den einen Gott oder aber die Existenz eines ‚ersten Gottes‘ über dem Demiurgen als die wahre Lehre Platons verstanden.“ 132 DP I, 5 [190–1].
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allem Körperlichen zugrundeliegende Materie hervorgebracht worden von „Gott dem Schöpfer“ (hier verwendet Apuleius das Epitheton: deus artifex).133 Bei genauer Lektüre ergibt sich bereits innerhalb dieses einen Kapitels von De Platone eine Merkwürdigkeit, sofern man den höchsten Gott tatsächlich mit dem Demiurgen identifiziert: Warum wird der demiurgische Aspekt nicht gleich zu Beginn mitgenannt bei der philosophischen Beschreibung Gottes als des höchsten Einen (is unus), sondern der Begriff artifex („Baumeister, Schöpfer, Demiurg“) aufgespart für den Abschnitt, in dem Apuleius sich der Materie zuwendet und des sie gestaltenden Gottes?134 Welche theologische Stellung man diesem Gott nun für Apuleius auch zusprechen mag – ob die des eher ‚niedrig stehenden‘ Platonischen Schöpfergottes135 oder dem davon gemäß Platon noch zu unterscheidenden Allerhöchsten, der mit der vergänglichen Schöpfung selbst gar nicht in Kontakt steht, oder ob man, wie in der Forschung üblich, für Apuleius beide als ein Wesen identifiziert –, zumindest kann es als auffällig gelten, dass Apuleius erstens nicht einfach von ‚Gott‘ oder dem is unus spricht, der es mit der unbestimmten und ontologisch am tiefsten stehenden Materie ‚zu tun bekommt‘. Zweitens ist ebenso auffällig, dass Apuleius auch an späterer Stelle bei der Erörterung darüber, wie die aus der Materie geformten Elemente geordnet werden, nicht suggeriert, dass diese Ordnung einfach von ‚Gott‘ vorgenommen wird, sondern ab illo aedificatore mundi deo, also „von Gott, jenem Erbauer der Welt“ (DP I, 7 [194]).136 Auf dieses Problem wird später noch zurückzukommen sein,137 nachdem der für den hier anliegenden Zusammenhang wichtigste Passus erörtert worden ist, in welchem es um das dritte initium – die Ideen – geht: Dabei möchte ich das DP I, 5 [191]; DP I, 5 [192]. Vgl. ebenso Alkinoos, did. 8, 2–3. Interessanterweise bezeichnet Alkinoos den von ihm erwähnten zweiten Gott zunächst ebenfalls nicht als „Demiurgen“, sondern nur als „nous des gesamten Himmels“, welcher sich vom ersten Gott ableite (did. 10, 2). Das schöpferspezifische Epitheton „Demiurg“ wird erst im Kapitel 12 erwähnt, welches von der Erschaffung der Welt handelt. Vgl. dazu Loenen (1956: 303) sowie Alt (1996: 15) mit dem Hinweis, dass bei Alkinoos auch der prôtos theos „wiederum nous heißen“ kann (s. o. Anm. 110). Das bedeutet freilich nicht, dass es deshalb bei Apuleius genauso sein müsste, es zeigt aber, dass man bei beiden mittelplatonischen Autoren mit einem gewissen Changieren der Formulierungen rechnen sollte (vgl. die Unstimmigkeiten bei Alkinoos, die Alt [1996: 34] aufzeigt), wobei Apuleius sich außerdem in unterschiedlichen Werken (DP und DDS) zu unterschiedlichen Teilbereichen der philosophischen Theologie äußert (s. u. Abschnitt b) dieses Kapitels). – Zum „Zweiten Gott“ bei Plotin im Sinne des nous / Kronos, bei Numenios und Alkinoos vgl. Beierwaltes (2011: 107 f., 112). 135 Vgl. Platon, Tim. 29a2–6 (s. o. Kap. II.2). 136 Zwar wurde auch „der Eine“ bereits als genitor rerumque omnium extructor bezeichnet, damit könnte aber auch eine generalisierende Aussage über die universellste Ursache schlechthin (ohne die eben auch kein deus artifex ist) getroffen sein, denn die höchsten Gottesprädikate der Autarkie (nihil indigens), optimus etc. werden nur in Bezug auf „den Einen“ (is unus) genannt. – Zum primären Verursachen – „jenseits allen speziellen Tuns“ – als Wirken des ersten Gottes bei Alkinoos vgl. Alt (1996: 23). 137 S. u. Abschnitt b) dieses Kapitels. 133 134
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Augenmerk auf die Frage richten, welche Stellung Apuleius den Ideen in der Seinshierarchie zuspricht und welche verschiedenen Ebenen eidetischen Seins er unterscheidet. Die besagte Passage birgt für die Übersetzung und Interpretation etliche Schwierigkeiten in sich, wobei jede Übertragung zugleich bestimmte philosophische Vorannahmen in den übersetzten Text ‚importiert‘. Um daher sowohl die philologischen wie auch die philosophischen Hürden prägnanter vor Augen führen zu können, sei zunächst die Übersetzung von Karl Albert (1981) zitiert, vor deren Hintergrund ich in einem zweiten Schritt eine eigene Übersetzung vorschlagen möchte.138 Die Ideen aber, d. h. die Urbilder alles Seienden, sind nach Platon einfach und ewig und dennoch unkörperlich. Sie seien aber von dem, was Gott geschaffen hat, die Vorbilder der Dinge, die Sein haben und Sein haben werden, und es gebe unter diesen Vorbildern nur (jeweils) einzelne Bilder für alle entstehenden Arten (der Dinge), und zwar in der Weise, in der mit Wachs Gestalten und Formen nach dem Abdruck der (als) Vorbilder (dienenden Siegel) gemacht werden (DP I, 6 [192–3]; Übersetzung von Karl Albert, 1981: 26).
Alberts Übertragung erscheint vor allem in zwei Hinsichten hinterfragbar, die letztlich beide miteinander zusammenhängen: Einerseits wird quae deus sump‑ serit (wörtlich: „welche [sc. Dinge] Gott genommen hat“139) mit „was Gott geschaffen hat“ übersetzt. Andererseits erfolgt eine sachliche Gleichsetzung der Begriffe ‚Urbilder‘ bzw. ‚Vorbilder‘ mit ‚Bilder‘. Denn Albert identifiziert in seiner Übersetzung nicht nur die Urbilder (ideas, formas) mit den Vorbildern (exem‑ pla): „Sie [sc. die Urbilder] seien aber […] die Vorbilder der Dinge […].“ Dieser Gedankengang könnte von der verwendeten deutschen Terminologie her noch einem platonischen Inhalt entsprechen. Jedoch zeichnet sich, wie gleich noch genauer gezeigt werden soll, hier etwas ab, was von Apuleius kaum gemeint sein dürfte: „Es gebe unter diesen Vorbildern [in exemplaribus] nur (jeweils) einzelne Bilder [singulas imagines] für alle entstehenden Arten (der Dinge) [singularum specierum … gignentiumque omnium140] […].“ Der Vergleich mit dem lateinischen Original zeigt, dass die Bilder (imagines) in der Übersetzung auf dieselbe ontologische Stufe mit den ideai bzw. formae, die Albert mit „Urbilder“ übersetzt hatte, geraten, weil diese wiederum zuvor mit den Vorbildern (exempla / exem‑ plaria) identifiziert wurden. Nun darf der moderne Begriff ‚Bild‘ als Übersetzung für imago nicht darüber hinwegtäuschen, dass imago im platonischen Sinn „Ab-Bild“ bedeutet, also ein 138 Die Auseinandersetzung mit Alberts Übersetzung muss um der Explikation des Sachzusammenhangs willen recht detailliert erfolgen, hat aber keineswegs ein polemisches Ziel. 139 Der Konjunktiv (Perfekt) bleibt hier unberücksichtigt, da er nur der indirekten Rede geschuldet ist. 140 Albert fasst singularum specierum … gignentiumque omnium offenbar als Hyperbaton auf. Erklärungsbedürftig bleibt hier m. E. das ‑que („und“), welches er nicht übersetzt.
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Bild von etwas anderem, Nicht-Bildlichem ist.141 Die Passage aus De Platone zeigt m. E., dass Apuleius dieses platonische Verständnis von imago veranschlagt:142 Imago ist wie griechisch eikon der klassische Begriff für das wahrnehmbare oder vorstellbare Abbild einer intelligiblen, substanzhaften (Ur‑)Form (griechisch paradeigma), die selbst nichts sinnlich Wahrnehmbares oder auch nur Vorstellbares ist, sondern ein rein begrifflich unterscheidbarer, rational bzw. intellektiv einsehbarer Sachverhalt.143 Deshalb trügt der moderne Begriff ‚Ur-bild‘, weil er suggeriert, eine solche ewige, paradeigmatische Urform wäre auch selbst etwas gleichsam ‚Gemaltes‘ oder Vorstellbares. Der philologische Grund dafür, dass in Alberts Übersetzung die ewigen Ideen, die Exempla und die Imagines auf ein und derselben Stufe zu stehen scheinen, liegt vermutlich in dem merkwürdig doppeldeutigen Begriff exemplar bzw. exem‑ plum, das sowohl ‚Abbild‘ wie auch ‚Vorbild, Beispiel‘ bedeuten kann.144 Im Kontext der inhaltlich-philosophischen Aporie, dass idea bzw. forma mit imago in Alberts Übersetzung auf einer Seinsstufe zu stehen kommen und somit dasselbe bezeichnen müssten, zeigt sich nun, inwiefern die Übersetzung des quae deus sumpserit mit „was Gott geschaffen hat“ problematisch ist, wobei auch die partitive Angabe esse autem ex his noch besondere Beachtung verdient – Albert übersetzt Letzteres: „Sie [sc. die Ideen] seien aber von dem, was Gott geschaffen hat, die Vorbilder [sc. exempla].“145 Es lässt sich jedoch ein ganz anderer Sinn ableiten, wenn man ex his nicht verallgemeinernd als all das, was Gott „geschaffen“ (bzw. genauer: „genommen“) 141 S. dazu Bernard (1990: 115, Anm. 260). Vgl. ferner Alkinoos, did. 9, 1. Dazu, dass diese Unterscheidung nur vor dem Hintergrund der platonischen, z. B. aber nicht vor dem der stoischen Philosophie greift, s. am Ende dieses Kapitels den „Exkurs: exemplar – ein stoischer Begriff platonisch gedeutet? Apuleius und Seneca“. 142 Der Begriff imago fällt ebenfalls im ersten Satz von Apuleius’ Roman, den Metamorphosen: Auch hier scheint er ein Schlüsselbegriff für die Interpretation sowohl des Prologs wie auch des Romans als ganzen zu sein (vgl. Drews 2006: 413–5). 143 S. o. Kap. II.2 zur einschlägigen Stelle bei Platon, Tim. 29a2–6. 144 Vgl. exemplum bzw. exemplar im Thesaurus Linguae Latinae, Vol. V, 2 (Lemma exemplar IIB3, Spalte 1323), Oxford Latin Dictionary (S. 639, Lemma exemplum) sowie Mittellateinisches Wörterbuch, Bd. 3, S. 1553, Lemma exemplar und S. 1557/8, Lemma exemplum: Beide Worte können im sprachlichen Gebrauch sowohl ‚Abbild‘ als auch ‚Vor-, Urbild, Beispiel‘ bedeuten, wodurch eine gewisse Schwierigkeit hinsichtlich der begrifflichen Differenzierung entsteht. 145 Auch Baltes (1998: 19) fasst in seiner Übersetzung – der Sache nach ähnlich wie Albert, wenn auch mit anderer Formulierung – ex his anscheinend so auf, dass die „Vorbilder“ (exem‑ pla) auf selber Seinsebene wie die Ideen, „die Formen aller Dinge“, stehen: „Die Ideen aber, d. h. die Formen aller Dinge, seien einfach und ewig, jedoch nicht körperlich. Zu ihnen gehörten die, die der Gott als Vorbilder für die Dinge, die sind oder sein werden, genommen hat“ (Kursive FD). In der Interpretation weist Baltes (1998: 240) dann aber doch (im sachlichen Einklang auch mit der hier vertretenen Interpretation) auf einen sachlichen Unterschied zwischen den „Ideen“ und den „Vorbildern“ (exempla) hin: „Dies ist eine der ganz wenigen Stellen, an welchen ein Platoniker sagt, das Vorbild des ‚Timaios‘, das alle weiteren Vorbilder für diese Welt in sich birgt, sei nicht identisch mit dem gesamten Kosmos der Ideen, vielmehr sei dieser umfassender als das Vorbild, das nur eine Auswahl darstelle.“
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hat, versteht (wiewohl dieses Verständnis der eingangs erwähnten communis opinio der Forschung, der höchste Gott sei bei Apuleius zugleich immer auch der Demiurg, entsprechen würde146). Dieser andere Sinn ergibt sich dann, wenn man ex his („aus ihnen“) so auffasst, dass aus den ideai / formae, die der Schöpfergott als ihm bereits sachlich Vorausliegendes „genommen hat“ (sumpserit147), die exempla „sind“ bzw. ihr abgeleites Sein gewinnen,148 durch deren Eindrücken dann wiederum den werdenden Dingen ihre Gestalt mitgeteilt wird. Dann aber können, wie nun erkennbar wird, die ideai bzw. formae (die Albert mit ‚Urbilder‘ übersetzt) nicht mit den exempla respektive exemplaria (‚Vorbilder‘ bei Albert) auf einer Stufe stehen, wie Alberts Übersetzung jedoch suggeriert. Ferner entspricht Apuleius’ Darstellung dann auch dem, was Platon in der entsprechenden Stelle aus dem Timaios sagt, auf die er sich hier bezieht: dass nämlich der Demiurg-Gott, wenn er auf das vorausliegende, immer mit sich selbst identische, geistig-intelligible Sein einer Idee, eines paradeigma, blicke, etwas sehr Schönes (Sinnlich-Wahrnehmbares) vollende.149 Die sachlich gemeinte Differenzierung zwischen vorausliegenden paradeigmata und davon abhängigen imagines ist freilich nur dann einsichtig, wenn sie nicht bereits in der Übersetzung eingeebnet wird: Apuleius führt eindeutig aus, dass „in den exempla(ria) jeweils nur einzelne Abbilder (imagines) der Ideen-Formen (species150) gefunden werden können“ und die exempla(ria) „aus diesen / von diesen her“ (ex his), d. h. von den Ideen her, sind bzw. ihr Sein haben. Es scheint also in dieser Passage auf die ontologische Dreier-Stufung hinauszulaufen: (1) Ideen-Formen (ideai / formae) – (2) exempla(ria) / Abbilder (specierum ima‑ gines) – (3) Gestalten (figurationes), die ihr Werden an der Materie haben und sinnlich-wahrnehmbar sind. Bevor die inhaltliche Interpretation der Passage zu Ende ausgeführt wird, sei an dieser Stelle schon einmal folgende Übersetzung alternativ vorschlagen: Die Ideen aber, d. h. die [sc. paradeigmatischen] Formen (formae) von allem, sind [sc. so sagt Platon] einfach und ewig und gleichwohl nicht körperlich.151 Aus diesen [sc. Ideen] S. o. Anm. 131. Das Perfekt unterstreicht, dass die ewigen Ideen, von denen Apuleius hier spricht, als das, was genommen wird, einen vorausliegenden ontologischen Status gegenüber dem Akt des Nehmens des Schöpfergottes sowie gegenüber den exempla(ria) haben. 148 Einen Beleg für die Unterscheidung zwischen Schöpfergott und dem ihm vorausliegenden Intelligiblen bereits im Platonismus vor Plotin bietet Nikomachos, arith. I, 4. 149 Platon, Tim. 28a6–b1. 150 Apuleius benutzt neben dem griechischen Terminus ideai und dem lateinischen formae auch noch species, was dem Interpreten zusätzliche Schwierigkeit bereitet. Jedoch scheint mir Apuleius dabei den philosophischen Sinn nicht durch rhetorische Raffinesse zu entstellen, denn die genannten Begriffe können im platonischen Sinne zunächst einmal synonym gebraucht werden, wie es mir hier der Fall zu sein scheint; weitere Differenzierungen kommen sachlich erst an späterer Stelle wie etwa diejenige zwischen immateriell-ahyletischer Idee und enhyletischem eidos (vgl. Dillon, 1977: 137). 151 Baltes (1998: 240) erklärt die betonte Unkörperlichkeit der Ideen als Abgrenzung gegen 146 147
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aber, die Gott genommen hat, sind die instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen (exem‑ pla) der Sachen, die sind respektive sein werden; und nicht können mehr als einzelne Abbilder (imagines) einzelner Formen (species) in den instanzhaft-partikulären ExemplarFormen (exemplaria) gefunden werden, und für alles Entstehende152 werden, wie beim Wachs, die Formen (formae) und Gestalten (figurationes) aus jenem Eindruck der instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen (exempla) ausgebildet (signari) (DP I, 6 [192–3]).
Hinter meiner Übersetzung von exempla(ria) als „instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen“ verbirgt sich folgende Interpretation: Im Unterschied zu den zuerst genannten ideai / formae scheint Apuleius zunächst eine Differenzierung vornehmen zu wollen, die ihren genuin platonischen Sinn darin hat, dass der Demiurg Abbilder der rein intelligiblen Ideen schafft.153 Mehr als diese zweifache Unterscheidung möchte man vielleicht bei dem angeblich ‚sophistischen Mittelplatoniker‘ Apuleius auch nicht vermuten. Jedoch erscheint auch noch ein weiterer Gesichtspunkt wenigstens erwägenswert: Denn auffällig ist, dass Apuleius diese exempla(ria) nun nicht einfach in die äußerlich wahrnehmbare, immanente Welt verlegt, sondern vielmehr die hier, im sinnlich-wahrnehmbaren Kosmos auffindbaren Form-Gestalten – die also nicht mit den transzendenten, paradeigmatischen Ideen (formae) aus dem ersten Teilsatz verwechselt werden dürfen – erst aus dem einem Siegelabdruck gleichenden Wirken eben dieser exempla(ria) entstehen lässt: … und für alles Entstehende werden, wie beim Wachs, die Formen und Gestalten aus jenem Eindruck der instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen ausgebildet.
D. h.: Apuleius spricht hier nicht nur von einer Zweierteilung zwischen paradeigmatischer Idee und abbildhafter Imago,154 sondern, wie oben schon vorweggenommen, doch wohl eher von einer Dreierteilung. Demnach kommt den exempla(ria) nach Apuleius eine Mittelstellung zwischen den sinnlich-wahrnehmbaren, immanenten Form-Gestalten (formae et figurationes) und den rein die Atomlehre Demokrits bzw. Epikurs: Ideen sind für Apuleius eben keine „einfachen, ewigen, aber körperlichen Dinge“. 152 Anders als Albert fasse ich den Abschnitt ab gignentiumque omnium als neuen, eigenständigen Satz auf. Ebenso schon Baltes (1998: 19): „Und es könne nicht mehr als je ein Bild für je eine Art unter den Vorbildern gefunden werden, und die Formen und Gestalten aller entstehenden Dinge würden – wie beim Wachs – durch ein Eindrücken der Vorbilder ausgeprägt“ (Kursive FD). 153 S. o. Kap. II.2. 154 Im Sinne einer Zweierteilung ist dagegen wohl der mittelplatonische Didaskalikos des Alkinoos (vgl. oben Kap. II.4.1) zu verstehen, welcher mit dem Siegelvergleich direkt die ontologische Abhängigkeit des Sinnlich-Wahrnehmbaren von den intelligiblen Paradeigmata beschreibt, ohne zwischen beiden Bereichen eine Vermittlungsinstanz als Drittes anzudeuten, wie es Apuleius dadurch tut, dass er den exempla(ria) einerseits eindeutig einen imago-Status gegenüber den intelligiblen Ideenformen zuweist, sie andererseits aber als Form vermittelnde Ein- / Abdrucksinstanz den werdenden, d. h. materiellen Dingen vorausgehen lässt. Vgl. Alkinoos, did. 12, 1.
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intelligiblen, transzendenten Ideen (formae, species) zu. Diese philosophisch relevante Mittelstellung der exempla(ria) lässt sich nicht zuletzt auch mit dem o.g. philologischen Befund, dass exempla(ria) im Sprachgebrauch sowohl ‚Vorbild‘ wie auch ‚Abbild‘ bedeuten kann, einigermaßen in Einklang bringen. Inhaltlich zeigt sich also – zumindest gemäß der hier vorgeschlagenen Interpretation – eine Dreier-Differenzierung im Unterschied zu der alles auf einer ontologischen Stufe lokalisierenden Übertragung Alberts: Aus den primären, transzendenten Ideen (ex his, quae deus sumpserit) haben in abgeleiteter Weise sekundär die instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen (exempla) ihr Sein, welche in wiederum abgeleiteter Weise drittens den Dingen, die sind bzw. sein werden (rerum quae sunt eruntve), ihre substanzhafte (Einzel‑)Form verleihen. Es handelt sich somit um eine zunehmende Partikularisierung des bestimmten Seins der platonischen Ideen:155 Die universalen Ideen, die jeweils eine bestimmte intelligible Sache (z. B. Schönheit156) auf einshafte Weise sind und somit alle sachlich späteren, partikulär geschiedenen Instanzen dieser Sache in sich noch ungeschieden als geeinte Potenz enthalten,157 sind in dem, was Apuleius exem‑ pla(ria) nennt, bereits vereinzelt-partikularisiert: „und nicht können mehr als einzelne Abbilder einzelner Formen in den instanzhaft-partikulären ExemplarFormen gefunden werden“ (nec posse amplius quam singularum specierum singu‑ las imagines in exemplaribus inveniri). Jene exempla(ria) sind aber noch nicht die sinnlich-wahrnehmbar, dinglich instantiierten Abbilder zweiter Ordnung; diese werden erst wie vermittels eines durch diese Instanzen erster Ordnung erzeugten Abdrucks (exemplorum impressione) ins Werden gerufen. Somit käme schon nach Apuleius den (2) exempla(ria) eine Mittelstellung zu zwischen (1) den transzendenten intelligiblen Ideen einerseits und (3) ihren (durch die vermittelnden exempla[ria] entstehenden) sinnlich-wahrnehmbaren 155 Diesen
Aspekt scheint auch Baltes (1998: 240) zu betonen (zitiert in Anm. 145). Vgl. oben. Kap. II.2 und II.3. 157 Ein Standardbeispiel ist hier das Dreieck: Während alle vorstellbaren und sinnlich-wahrnehmbaren Einzel-Dreiecke jeweils eine partikuläre Art des Dreieck-Seins darstellen (ein gleichseitiges Dreieck kann nicht zugleich auch noch rechtwinkliges Dreieck oder stumpfwinkliges Dreieck sein) und somit nicht primär und nur ‚Dreieck‘, sondern jeweils ‚Dreieck‘ plus ‚gleichseitig‘, ‚rechtwinklig‘ etc. sind, umfasst der sachliche Unterschied ‚Dreieck‘ gemäß platonisch-aristotelischer Auffassung diese Einzelausformungen des Dreieck-Seins in komplexivgeeinter Weise. Dieser sachliche Unterschied ist kein bloßes Abstraktum, sondern konkret ermittelbar: Die Möglichkeit, eine geradlinige, ebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu sein, ist genau der sachliche Seinsunterschied, welcher allen partikulären Einzeldreiecksverwirklichungen vorausliegt, d. h. von all diesen Partikular-Dreiecken immer schon vorausgesetzt und ‚mitgebracht‘ wird. Dieser sachliche Unterschied liegt somit auch den Ebenen des Vorstellens und sinnlichen Wahrnehmens voraus und muss rein begrifflich erfasst werden: In dieser begrifflich-intelligiblen Idee ‚Dreieck‘ sind somit alle (ontologisch späteren, davon abgeleiteten) Ausprägungen des Seins einzelner Dreiecke geeint umfasst, weshalb die Idee mehr und prägnanter ‚Dreieck‘ ist, als es alle Partikularverwirklichungen je sein können. S. auch unten Kap. II.5 b und III.c. 156
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II. Philosophische Grundlagen
Abbildern. Eine vergleichbare ontologische Dreierdifferenzierung von (1) transzendent-verharrenden eidetischen Prinzipien, (3) immanenten Abbildern, zwischen denen (2) Vermittlungsinstanzen bestehen, wird im späteren Neuplatonismus die Grundlage sowohl für das voll entfaltete Methexis-Theorem bei Proklos als auch für die christlich-platonische Theologie eines Origenes bilden.158 Unabhängig von dieser späteren, sehr viel differenzierteren Ausformung der platonischen Ontologie sind auch schon Apuleius’ – gleichwohl kurz-doxografische – Ausführungen über Platons Ideenlehre weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Sie sollten deshalb nicht vorschnell als „ziemlich dürftig“159 abgetan werden. Aus historischer Perspektive ist zumindest zu konstatieren, dass Apuleius zu anderen Zeiten durchaus ernsthaft als philosophus Pla‑ tonicus betrachtet wurde: Neben dem Kirchenvater Augustinus (354–430), der Apuleius ohne Weiteres in eine Reihe mit Plotin, Jamblich und Porphyrius stellt (civ. VIII, 12), bezieht sich kein Geringerer als Nikolaus von Kues (1401–1464) auf Apuleius’ philosophische Lehre zu den Ideen und fasst die oben diskutierte Passage prägnant in einer Marginalie zusammen: Wie das Wachs in sich die Gestalt des Siegels aufnimmt, so werden für alles Werdende die Formen von den Ideen exemplifiziert (exemplantur160) (Nikolaus von Kues, Marginalien zu Apuleius’ De Platone, 165, Ann. 13*).
Auch wenn eine Marginalie zu wenig Textsubstanz bietet, um Nikolaus’ eigene Apuleius-Interpretation eindeutig zu fixieren, so lässt sich seine Notiz mit der oben vorgestellten Deutung doch in Einklang sehen. Die Form-Gestalten alles Werdenden sind nicht einfach die transzendenten Ideen selbst, sondern leiten sich über die Vermittlungsstufe der instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen von den Ideen ab: Die ‚Exemplifizierung‘ (exemplantur) steht also zwischen den Ideen selbst und den sinnlich-wahrnehmbaren Form-Gestalten alles Werden158 Zu
Proklos s. u. Kap. IIIc., zu Origenes s. u. Kap. IV.3 b. So aber Beaujeu (1973: 259): „L’exposé d’Apulée sur les Idées platoniciennes est plutôt maigre […].“ 160 Das Verbum exemplare ist selten, vgl. Thesaurus Linguae Latinae, Vol. V, 2, S. 1326. Der Gebrauch des Verbs, welcher bei der obigen Cusanus-Stelle vorliegen dürfte, wird von den im Thesaurus angegebenen Grundbedeutungen kaum abgedeckt: 1. demonstrare, ostendere, 2. exem‑ plum dare, 3. exemplum describere. Vgl. außerdem Mittellateinisches Wörterbuch, Bd. 3, S. 1556, die Bedeutungen: 1. ein Beispiel / Vorbild geben, 2. ab- / nachbilden, darstellen, 2.ba. abschreiben, kopieren, 2bb. verdeutlichen. Die Bedeutungen ab- / nachbilden und exemplum describere könnten am ehesten im weiteren Sinne herangezogen werden, wenn damit die ‚Nachbildung‘ bzw. ‚Beschreibung‘ des exemplums als ontologische Verursachung gemeint wäre. Am besten mag der Sinn aus dem griechischen Äquivalent paradeigmatizô (make an example of, LSJ, S. 1308,1) deutlich werden, insofern darunter das Herstellen eines paradeigma verstanden wird. In jedem Falle scheint bei Cusanus philosophisch der ontologische Übergang von den umfassenden Ideen zu ihren nur partikulären Instanzen gemeint zu sein, d. h. die Partikularisierung der intelligiblen Ideen, insofern die substantiellen Formen für die werdenden, sinnlich-wahrnehmbaren Dinge sich durch die Partikularexemplifizierung der jeweils einen Sachgehalt universal-umfassenden Ideen ableiten. 159
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den. Wenn Nikolaus an anderer Stelle im Hinblick auf die eine Idee einer Sache scheinbar synonym von exemplar sive idea spricht, aber im Hinblick auf die vielen Instanzen einer Sache viele exemplaria erwägt – hier fällt bezeichnenderweise nicht der Begriff der idea –,dann entspricht dies insofern der für Cusanus in Anspruch genommenen Apuleius-Interpretation, als den exemplaria eine Mittelstellung zukommt zwischen der einen, ewigen Idee einer Sache und den vielen an dieser partizipierenden sinnlich-wahrnehmbaren Form-Gestalten, wobei diese Partizipation überhaupt erst durch die vielen, als Zwischeninstanz fungierenden Exemplar-Formen einer Sache vermittelt, ermöglicht und hergestellt wird.161 In diesem Sinne sind auch Apuleius’ eigene, auf die hier genauer diskutierte Passage direkt folgende Ausführungen über die zwei Arten von Substanzen (ou‑ siai) und ihre ontologische Bezogenheit zu verstehen, in welchen Apuleius wieder die instanzhaft-partikuläre Exemplar-Form (exemplum) als Vermittlungsinstanz begreift, die das intelligible Sein in die sinnliche Wahrnehmbarkeit entfaltet:162 Substanzen, die wir Wesen nennen, sagt [sc. Platon], sind zwei, durch die alles entsteht sowie der Kosmos selbst. Von diesen wird die eine allein durch Denken erfasst, die andere kann durch die Sinne wahrgenommen werden. […] Und zu der ersten Substanz bzw. [sc. dem ersten] Wesen gehört [sc. nach Platon] als erstes Gott und der Geist (mens) und die (Ideen‑)Formen der Dinge und die Seele; zu der zweiten Substanz alles, was [sc. durch die Ideen] gestaltet wird (informantur) und was entsteht und was von der instanzhaft-par‑ tikulären Exemplar-Form (exemplum) der höheren Substanz seinen Ursprung bezieht […]. Zudem ist jene von mir erwähnte die Substanz des intellekthaften Erkennens, da sie auf feststehender Stärke beruht, und sogar die [sc. diskursiven] Erörterungen über sie sind voll von unerschütterlichem rationalen Denken (ratio) und Vertrauen(swürdigkeit). Aber in Bezug auf diese [sc. Substanz], die gleichsam ein Schatten und ein Abbild (imago) der höheren ist, sind die Arten der Ratio (rationes) und auch die Worte, die über sie handeln, von einer unbeständigen Wissenschaftlichkeit (DP I, 6 [193–4]).
Exkurs: exemplar – ein stoischer Begriff platonisch gedeutet? Apuleius und Seneca Apuleius’ Terminologie in der oben genauer analysierten Passage (DP I, 6 [192– 3]) – insbesondere der exemplar-Begriff – erinnert auf den ersten Blick an Seneca (1 v. / n. Chr.–65 n. Chr.), wobei zugleich philosophisch-inhaltliche Differenzen zwischen beiden Autoren erkennbar werden. Seneca kritisiert bekanntlich aus stoischer Sicht die platonisch-aristotelische Ursachenlehre als unnötige turba causarum (epist. 65, 11).163 In epist. 58 führt Seneca Folgendes über die Ideen161 […] sicut ipse divinus Plato […] in Phaedone dixit unum esse omnium rerum exemplar sive ideam, uti in se est, in respectu vero rerum, quae plures sunt, plura videntur exemplaria (Cusanus, doct. ign. I, 27, 48). 162 Zur Integration der in der folgenden Passage dargelegten ontologischen Zweierteilung in Apuleius’ komplexes Providenz-Verständnis s. Drews (2009: 589–597). 163 Vgl. dazu Schmitt (2011: 134–8).
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lehre, wie er sie versteht, aus, und zwar anhand des Beispiels, dass ein Maler ein Bild von Vergil herstellen möchte:164 Die Idee (idea) war Vergils äußere Erscheinung, das exemplar des künftigen Werks: Was der Künstler aus dieser [sc. Idee] abzieht (trahit) und in sein Werk hineingelegt hat (impo‑ suit), ist die Eidos-Form (idos). Du fragst, welches der Unterschied zwischen beiden sei? Das eine ist das exemplar, das andere die Form, die vom exemplar genommen und in das Werk hineingelegt ist; das eine imitiert der Künstler, das andere schafft er. Es hat eine bestimmte äußere Erscheinung die Statue: dies ist die Eidos-Form (idos). Es hat eine bestimmte äußere Erscheinung das exemplar selbst, welches anschauend der Bildhauer eine Statue gestaltet hat: dies ist die Idee (Seneca, epist. 58, 20–21).
Seneca identifiziert nicht nur Idee und exemplar, sondern versteht die „Idee“ auch nur als äußeren Umriss, als körperliche Gestalt (Vergils Äußeres), nicht aber als eine unkörperliche (!) Substanz-Form im Sinne Platons, wie es Apuleius jedoch in der oben diskutierten Passage tut. Während Apuleius den exempla(ria) den Status eines Abbilds der substanzhaften Form (erster Ordnung) zuweist, besteht für Seneca bezeichenderweise kein ontologischer Unterschied zwischen idea und exemplar, ja kann gar kein Unterschied zwischen beiden bestehen, weil Seneca Ideen nicht als intelligible, substanzhafte Sachgehalte, sondern nur als äußerlich wahrnehmbare Gestalten, Umrisse auffasst.165 Daher zieht der Maler einfach die äußere Gestalt (idea, exemplar) von Vergils körperlicher Erscheinung ab (trahit) und „imponiert“ diese direkt als „Eidos-Form“ (idos) in sein entstehendes Bild. Es handelt sich also (nur) um eine Zweierdifferenzierung, wobei deren ganze Anlage unplatonisch ist: Es geht bei Senecas idea nicht um eine intelligible, paradeigmatische Form, sondern um eine äußerliche Gestalt; entsprechend ist das einzelne exemplar davon nicht zu unterscheiden, sondern mit der idea identisch. Das Abbild (idos) ist lediglich die abgezogene, äußerliche Gestalt des Originals, nicht aber eine sinnlich-wahrnehmbare imago eines davon ontologisch verschiedenen intelligiblen, d. h. rein begreifbaren Sachgehalts.166 Apuleius hat also höchstens Senecas Terminologie aufgegriffen, verpasst ihr aber eine platonische Deutung: Bestenfalls der Aspekt, dass gemäß Seneca von dem exemplar eine Form-Gestalt genommen und dem entstehenden Werk eingedrückt wird (forma ab exemplari sumpta et operi inposita), kann mit dem Schluss der Apuleius-Passage in Beziehung gesetzt werden: „und für alles Entstehende werden, wie beim Wachs, die Formen und Gestalten aus jenem Eindruck der instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen ausgebildet“ (DP I, 6). Da aus ihrem „Eindruck“ die werdenden, d. h. körperlichen Dinge „ausgebildet“ werden sollen, müssen jedoch auch von diesem Aspekt her die exempla(ria) als von den 164 epist.
58, 20. Vgl. Schmitt (2011: 135). 166 Zum Standardbeispiel ‚Dreieck‘, s. o. Anm. 157 sowie Kap. II.5. 165
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gänzlich „nicht körperlichen“ (!) Ideen-Formen gemäß Apuleius ontologisch unterschieden gedacht werden – eine gravierende Differenz zur Identifikation von exemplar und idea bei Seneca.167 Gegenüber den intelligiblen Ideen wird den exempla(ria) von Apuleius ferner explizit nur ein Abbildcharakter (imagines) zugebilligt: „nicht können mehr als einzelne Abbilder (imagines) einzelner Formen in den instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen (exemplaribus) gefunden werden.“168 Dagegen sind die exem‑ pla Senecas die ‚ideetischen Vorbilder‘ selbst, und zwar im Sinne eines tatsächlichen Vor-Bilds, da die Idee, wie an dem von Seneca gewählten Beispiel ersichtlich, tatsächlich nur die bildliche äußere Gestalt eines dinglichen Gegenstands umfasst, aber kein intelligibles, nicht-bildliches und nicht-vorstellungshaftes Paradeigma ist.169 Die Ebene des platonischen Intelligiblen gerät also bei Seneca, wie es dem stoischen Materialismus entspricht, gar nicht in den Blick.170 b) Apuleius’ philosophische Theologie: der höchste Gott, die vielen Götter und die Teilhabe-Problematik Oben wurde bereits konstatiert, dass zwar die Mehrheit der Forschung Apuleius’ höchsten Gott mit dem Demiurgen identifiziert,171 dass aber Apuleius selbst in seinem Eingangskapitel zur platonischen Philosophie (De Platone I, 5) dem „einen Gott“ (is unus) nicht das Prädikat artifex oder aedificator beilegt, obgleich er beide Epitheta später im Zusammenhang mit der Erzeugung der Materie wie auch ihrer Ausgestaltung gebraucht. In seinen erläuternden Ausführungen zu Gott zitiert Apuleius Platons Timaios auf Griechisch: Dies sind Platons Worte: ‚Gott sowohl zu finden, bedeutet Mühe, als auch ist es, wenn man ihn gefunden hat, unmöglich, ihn unter viele [sc. Leute] zu bringen‘ (Apuleius, DP I, 5 [191]).
In Platons Original heißt es jedoch: Den Schöpfer also und Vater dieses Ganzen sowohl zu finden, bedeutet Mühe, als auch ist es, wenn man ihn gefunden hat, unmöglich, ihn allen in der Rede bekannt zu machen (Platon, Tim. 28c3–5).
167 Zur Parallelität von exemplar und idea bei Seneca vgl. auch: epist. 65, 7. Zur Stelle vgl. schon Theiler (1930: 18). 168 Zur relativen Mittelstellung der exempla(ria) bei Apuleius zwischen transzendenten Ideen, deren Abbilder sie sind, und den sinnlich-wahrnehmbaren Gestalten aller werdenden Dinge, für die sie als ‚vorbildhafte‘ Einprägeformen fungieren, s. o. 169 Zur Unterscheidung des platonischen Paradeigma-Begriffs von dem eines Vor-Bilds, s. o. 170 S. dagegen zum Intelligiblen bei Apuleius oben die Passage DP I, 6 (193–4) und im Folgenden DDS 1 (116) sowie Anm. 176. 171 S. o. Anm. 131.
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Der Vergleich zeigt, dass Platon eindeutig von dem Demiurgen spricht (wie es zum physikalischen Kontext des Timaios passt), während Apuleius dieses Zitat allgemein auf „Gott“ umprägt.172 Nun könnte man daraus im Einklang mit der Forschung den Schluss ziehen, dass Apuleius also den höchsten Gott mit dem Demiurgen identifiziert. Möglicherweise ist dieser Schluss jedoch vorschnell: Die Umdeutung bedeutet keinerlei inhaltliche Schwierigkeiten, da dem Allerhöchsten auf die Spur zu kommen gemäß Platon nur eine noch um etliches schwierigere Aufgabe bedeuten dürfte als die, den Demiurgen zu finden und ihn den Vielen zu offenbaren.173 Wenn aber Apuleius dieses griechische Platonzitat, das in der uns überlieferten Fassung des Timaios eindeutig den Demiurgen meint, hier schon auf den erst kurz darauf beschriebenen deus artifex, der die Materie gestaltet, beziehen wollte, so wäre es doch sehr wahrscheinlich, dass er bereits hier, in seinem griechischen Zitat den Schöpfergott präzise benennen würde. So aber folgt genau nach diesem Zitat die inhaltliche Zäsur: Nach dem transzendenten, unfassbar-unermesslichen (aperimetros) Gott wird die Materie besprochen; damit ist der Kontext für den Schöpfergott gegeben und dieser wird auch sogleich bei seinem präzisen Namen deus artifex genannt. Bleibt diese Interpretation Spekulation oder lässt sie sich erhärten? In der Einleitung eines weiteren philosophischen Werkes, De Deo Socratis (DDS), unterscheidet Apuleius immerhin zwischen mehreren göttlichen Wesen, zwischen den sinnlich-wahrnehmbaren Gestirngöttern und den nur mit dem Intellekt erkennbaren, intelligiblen Göttern: Denn so, wie es ihre Erhabenheit forderte, hat [sc. Platon] den unsterblichen Göttern den Himmel zugeeignet, von denen wir [sc. bestimmte] himmlische Götter teils mit der Gesichtswahrnehmung erfassen, andere mit dem Intellekt aufspüren (DDS 1 [116]).
Darüber hinaus gebe es einen Vater dieser Götter, und er sei völlig unsagbar:174 Deren [sc. der Götter] Vater, der Herr und Urheber aller Sachen ist, frei von allen Zusammenhängen des Erleidens oder Wirkens, durch keine Veränderung an die Verrichtung irgendeines Amtes gebunden – warum soll ich nun von ihm zu reden beginnen, wo doch Platon, obwohl mit himmlischer Redekunst begabt und den unsterblichen Göttern Vergleichbares erörternd, am allerhäufigsten erklärt, dass dieser allein in seinem geradezu unglaublichen und unaussprechlichen Übermaß an Erhabenheit nicht von der Ärmlichkeit des menschlichen Diskurses in irgendeiner Rede auch nur ansatzweise erfasst werden könne; dass kaum den weisen Männern, da sie sich in der Geisteskraft, soweit möglich, vom Körper entfernten, die Intellekterkenntnis dieses Gottes – auch dies bisweilen [nur] – 172 Die Interpretation, Apuleius würde in seiner Fassung des Timaios-Zitats dieses auf „Gott als den Schöpfer von allem“ beziehen (Alt 1996: 36), lässt sich am Text so nicht erhärten. 173 Das Gleiche gilt für Alkinoos: Auch im Didaskalikos wird dieses Timaios-Zitat ohne Verweis auf die Schöpfertätigkeit (poiêtês, poiein) verwendet (vgl. Alt 1996: 15): „Der Name patêr kommt bei Alkinoos allein dem höchsten Gotte zu“ (ibd., 26). 174 Vgl. ebenso Alkinoos, did. 10, 1.
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wie ein hellleuchtendes Licht bei dichtester Finsternis in einem augenblicklichsten Aufblitzen hervorzucke? (DDS 3 [124])
Wie in De Platone ist auch hier das höchste Wesen unsagbar und vollkommen transzendent – man kann mit gutem Recht konstatieren, dass Apuleius hier ein Stück der späteren neuplatonischen negativen Theologie vorwegnimmt.175 Jedoch wird dieser Gott von Apuleius hier sogar als Vater der intelligiblen Götter176 gepriesen, d. h. als durchaus in einer ontologisch höheren Sphäre lokalisiert als der, wo der Demiurg als Schöpfer der materiellen Welt gemäß Platons Theologie zu verorten wäre. Trotzdem ist die These, dass Apuleius einen über dem Intellekt oder sogar über dem Sein stehenden Gott gedacht haben könnte, bisher nur ganz vereinzelt vertreten worden.177 Kennzeichnend für Apuleius’ Theologie ist ferner seine Konzeption des Verhältnisses der beiden Gottheiten Isis und Osiris in seinem Roman, den Meta‑ morphosen:178 Der immer noch in einen Esel verwandelte Lucius betet zu Beginn des elften Buchs zur Himmelskönigin und ruft sie unter allen ihm bekannten Namen (Ceres, Venus, Proserpina) an.179 Kurz darauf erscheint eine Göttin und offenbart sich ihm unter ihrem wahren Namen Isis, weist darauf hin, dass sie von verschiedenen Völkern unter verschiedenen Namen angebetet wird. Damit besteht eine innere Korrespondenz zwischen den vielen Namen, mit denen Lucius sie anruft, und ihrer Selbstvorstellung als Göttin: Denn Isis sagt von sich, dass sie in ihrer deorum dearumque facies uniformis, ihrem „einartigen Angesicht“ die vielen Götter als eine Gottheit (numen unicum) vereint. Isis ist also eine inklusive, andere Götter in sich auf geeinte Weise umfassende Göttin, sie ist die „höchste der Götter“ (summa numinum).180 Bis hierhin könnte der Leser durchaus denken, dass Isis bei Apuleius somit die höchste Gottheit überhaupt ist. Doch diese Vermutung ist vorschnell: Bereits in einer Isis-Prozession, die in den folgenden Kapiteln beschrieben wird, wird nicht nur eine heilige Kuh als Symbol der Isis getragen,181 sondern danach folgen zwei weitere Symbole: 175 Vgl. Addey (2010: 157): „The idea that one cannot speak of the supreme deity because human language would limit one’s conception of this deity, since it transcends both being and understanding, represents a common Neoplatonic conception of the ‘One’.“ 176 In dem vorausgehenden Textabschnitt werden diese Götter von Apuleius als naturas incorporalis […], corporis contagione suapte natura remotas (DDS 3 [123]) beschrieben, später werden die Gestirngötter von den intelligiblen unterschieden: pars eorum tantummodo obtutu hebeti visuntur, ut sidera, de quorum adhuc et magnitudine et coloribus homines ambigunt, ceteri autem solo intellectu neque prompto noscuntur (DDS 4 [128]). Zur intelligiblen Substanz gemäß Apuleius s. o. DP I, 6 (193–4). 177 M. W. nur von Bernard (1994: 363) und Dillon (1977: 313), zitiert o., Anm. 131. 178 Genauer führe ich die im Folgenden skizzierte Apuleius-Interpretation aus in Drews (2015) und (2009: 538–573). 179 met. XI, 2. Zur Stelle s. außerdem unten Kap. V.c2. 180 met. XI, 5, 1. 181 met. XI, 11, 2. Vgl. Plutarch, De Iside 366e3.
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zum einen ein geheimnisvoller Mysterienschrein,182 der im Kontext des OsirisMythos an die Kiste erinnert, die Typhon als Falle für Osiris zimmert und in der Osiris fortgeschwemmt und schließlich von Isis gefunden wird,183 zum anderen das „ehrwürdige Abbild des höchsten Gottes“184 als „ein unaussprechliches Symbol (argumentum) eines wie auch immer höheren und mit großem Schweigen zu verhüllenden Kultes“.185 Das Prädikat summum numen ist insofern auffällig, als es natürlich an die Selbstvorstellung der Isis als summa numinum – als „höchste der Gottheiten“ – erinnert und sich doch zugleich von dieser abhebt: „die höchste Gottheit“ steht nicht mehr in einer Relation zu anderen Göttern, sondern über diesen. Während dieses summum numen zunächst noch namenlos bleibt, wird ihm am Ende des Romans von Apuleius im Nachhinein doch noch ein Name verliehen: Wie der Kontext des Isis-Mythos nahe legt, ist es natürlich Osiris, der dem inzwischen wieder Mensch gewordenen Lucius ganz zum Schluss des elften Buchs erscheint als „der höchste [sc. Gott] und Herrscher über die größten Götter“.186 Apuleius’ theologische Konzeption im Roman darf man also so auffassen, dass Isis eine die anderen Gottheiten in sich inkludierende Göttin ist: Sie ist diese Götter auf einshafte Weise, umfasst sie in ihrem „einartigen Angesicht“ und steht so über einer Ebene, in welcher diese Götter ihre vereinzelt-partikuläre Seinsweise haben und entfalten. Denn wie z. B. aus der Geschichte Cupido und Psyche in der Mitte des Romans deutlich wird, gibt es auch bei Apuleius durchaus die traditionellen Götter als individuell verschieden agierende Personen, was aber offenbar nicht hindert, dass diese Götter-Vielheit auf einer höheren Ebene geeint besteht, welche Isis als summa numinum präsentiert. Noch über Isis steht dagegen das absolute summum numen: Osiris, welcher auch noch die geeinte Götter-Vielheit transzendiert als die höchste Gottheit schlechthin. Wenn diese Interpretation zutreffend ist, dann geschieht hier nichts Geringeres, als dass Apuleius eine philosophische Theologie andeutend vorwegnimmt, wie sie später von Plotin genauer ausgeführt wird: Analog zu Isis bei Apuleius versteht Plotin Kronos im Sinne des seienden Einen als die geeinte Götter-Vielheit (er hat alle seine Kinder in sich verschlungen), Uranos als das jede Vielheitlichkeit absolut transzendierende überseiende Eine in Entsprechung zu Apuleius’ Osiris.187 Für Apuleius’ philosophische Theologie bezeichnend ist also, dass er in seinem Roman (1) viele Götter, (2) eine diese Götter in sich einende Gottheit und (3) ei met. XI, 11, 3. Vgl. Plutarch, De Iside, Kap. 13–17. 184 met. XI, 11, 3. 185 met. XI, 11, 3. Dazu, dass im späteren Neuplatonismus bei Proklos die Theologie ebenfalls in ein Schweigen führen muss, insofern sie nicht dem ‚Grundübel‘ verfalle, Transrationales in eine diesem nicht mehr angemessene, weil nur rationale Rede zu überführen, s. u. Kap. III.d mit Anm. 349 sowie De mal. II, 14; 47, 20–26 in Kap. III.f. 186 met. XI, 30, 3. 187 S. dazu unten genauer Kap. II.5 c. 182 183
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nen diese Götter-Vieleinheit überragenden allerhöchsten Gott unterscheidet, während er in seinem theoretischen Werk zwischen vielen Göttern einerseits und einem einzigen Gott als deren Vater andererseits differenziert. Somit kann insgesamt festgehalten werden, dass bereits im Mittelplatonismus – also vor Plotin und Proklos – mono‑ sowie polytheistische Aspekte integrierend zusammengedacht wurden, ohne dass Apuleius’ mittelplatonische Position einseitig als entweder monotheistisch oder polytheistisch interpretiert werden dürfte:188 Die erste Möglichkeit scheidet offensichtlich aus, weil er von vielen Göttern spricht; die zweite muss aber ebenso entfallen, weil er den allerhöchsten Gott nicht einfach unter die Vielheit der vielen Götter subsumiert, sondern gegenüber dieser explizit absetzt. Letzteres wäre sinnlos, wenn es sich bei dem „Vater der Götter“ (bzw. im Roman bei Osiris) nur um einen primus inter pares handelte. Damit weist Apuleius’ Position bereits konkrete Züge auf, die später in sehr viel detaillierterer und komplexerer Form von Plotin und Proklos durchdacht werden sollten.189 Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt, dass Apuleius in seinem theoretischen Werk bei der Erörterung der unkörperlichen, ewigen, höchst glückseligen Götter kurz den Aspekt der Teilhabe thematisiert: Diese Götter seien nämlich „durch keinerlei Partizipation an irgendeinem [sc. ihnen] äußeren Gut, sondern aus sich selbst gut.“190 Beide Aspekte – die wesensmäßige Gutheit, welche schon Platon für Gott in Anspruch nimmt,191 wie auch die Frage der Partizipation angesichts des Verhältnisses zwischen dem einen Gott und den vielen Göttern – werden im Folgenden immer wieder im Fokus der Untersuchung liegen und erweisen Apuleius’ philosophische Theologie als eine wichtige Station innerhalb der historischen und systematischen Entfaltung der platonischen Methexis‑ und Gotteslehre. Hier nicht unerwähnt bleiben soll die Tatsache, dass – zusätzlich zu der oben schon konstatierten Bezugnahme des Nikolaus von Kues auf Apuleius192 – Nikolaus’ wichtige und bedenkenswerte Annahme, die Vielzahl religiöser Kulte ergebe sich aus der Vielfalt der Kulturen,193 die Religion selbst jedoch sei „eine in der Mannigfaltigkeit der Riten“194 (religio una in rituum varietate, De pace fidei I, 6), bereits einen Vorläufer in Apuleius hat, wenn dieser sagt: Belayche (2010: 166) zu Apuleius, De mundo 25 (343). S. u. Kap. II.5 und III. 190 DDS 3 [123]. – Alkinoos spricht Gott im Sinne einer negativen Theologie sogar das GutSein ab – dies jedoch nicht im sachlichen Widerspruch zu Platon, sondern weil er den Gedanken, dass Gott seinerseits nur Anteil haben könnte an einem anderen Gut, abwehren möchte, genau wie Apuleius den Göttern auch die Teilhabe an einem ihnen fremden Gut abspricht, weil sie aus sich selbst gut sind (did. 10, 4). 191 Platon, resp. 379b1–c7. 192 S. o. Abschnitt a) dieses Kapitels. Zu Cusanus selbst s. u. Kap. V. 193 Vgl. Blum (2002: 529). 194 S. dazu den gleichnamigen Aufsatz von Schmitz (2005). 188 Vgl. 189
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II. Philosophische Grundlagen
Den Praktizierungen unterschiedlicher195 religiöser Kulte und den Gebeten vielfältiger Gottesdienste muss der Glaube entgegengebracht werden, dass es bestimmte [sc. Wesen] aus der Zahl der Göttlichen gibt, die sich an nachts oder tags stattfindenden, öffentlichen oder geheimen, fröhlicheren oder traurigeren Opfern, Zeremonien oder Riten erfreuen (DDS 14 [148]).
Diese Passage bezeugt nicht nur, dass Apuleius selbst eine ernst zu nehmende Frömmigkeit zu eigen gewesen sein dürfte,196 sondern dass aus seiner philosophisch-platonischen Theologie ein bestimmter rational fundierter Ansatz zur Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Ausprägungen von Religiosität hervorgeht. Dieser findet sich, wie oben gesehen, auch in den Metamorphosen, wo Isis sich als einshafte Göttin vorstellt, die aber unter vielen verschiedenen Kulten von den einzelnen Völkern verehrt werde197 – ein Indiz dafür, dass Apuleius’ Roman nicht bezugslos von seinen philosophischen Werken interpretiert werden sollte.198 Während bei Apuleius der Toleranzgedanke nicht zuletzt daraus folgt, dass es aufgrund der vielen Mittlerwesen (daimones199) zwischen Göttern und Menschen entsprechend auch verschiedenste Kulte geben müsse, wird es Cusanus zwar nicht um eine „absolute Gleichberechtigung aller Religionen“ gehen, sondern „um diejenige Wahrheit, die alle Religionen implizit voraussetzen,“200 weil sie (die vielen Religionen) an dieser (einen Wahrheit) teilhaben. Daher gilt auch für Cusanus – wie für Apuleius –, dass die vielen Kulte zu schützen sind, weil zu fasse diversis als Enallage zu religionum auf, ebenso variis auf sacrorum. Vgl. apologia 56. 197 Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass es nicht auch bei Platonikern einen Spalt zwischen Theorie und Praxis geben kann: Immerhin findet sich in Apuleius’ Roman eine wohl als Invektive gegen den (jüdischen bzw. christlichen) Monotheismus zu verstehende Äußerung (met. IX, 14, 5). 198 Apuleius’ philosophische Werke und den Roman einander diametral entgegenzustellen, führt mitunter zu seltsamen Schlussfolgerungen, so jetzt wieder (im Anschluss an Moreschini 1983) Cerutti (2010: 16): „He [sc. Moreschini] draws attention to the contrast within the work of a single author, Apuleius of Madaura, who in his philosophical works accounts for the traditional gods as lower grades of divinity compared to the deus summus, unique on his own superior level, but who in the Metarmorphoses, exalting Isis as the one and only goddess, mocks and devalues these same gods, without, however, altogether eliminating them from the scope of the divine world.“ Der letzte Satz zeigt im Grunde schon, dass diese Interpretation in sich nicht stimmig ist: Weder werden die anderen Götter im Roman ‚devaluiert‘ (s. Cupido und Psyche), sondern Apuleius nimmt – über den partikulären Einzelgöttern – zusätzlich in der Person der Isis ein höheres göttliches Wesen an, welches diese Partikularunterschiede transzendiert und eint (s. o.). S. in dieser Hinsicht der Versuch einer – Komisches und Philosophisches zusammenschauenden – Gesamtinterpretation des Romans in Drews (2009: 411–642). Zur religionsphilosophischen Würdigung des Apuleius-Romans vgl. Athanassiadi / Frede (1999 b: 8): „the most famous passage in ancient literature where the principle of polyonymy is enunciated is Lucius’ hymn to Isis in Apuleius’ Metamorphoses.“ 199 Vgl. Bernard (1994) sowie oben Kap. II.4.1 zur Rolle des Daimonischen bei Alkinoos. 200 Berger / Nord (2002: 14). 195 Ich
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5. Plotin: Teilhabe-Philosophie und Theologie beim Archegeten des Neuplatonismus
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viel Homogenität dem Frieden hinderlich sein und die Vielheit der Kulte sogar die Frömmigkeit fördern könnte.201
5. Plotin: Teilhabe-Philosophie und Theologie beim Archegeten des Neuplatonismus a) Einleitung und Rückbezug zu den skizzierten vor-plotinischen Argumentationslinien In den bisherigen Kapiteln wurde versucht, den folgenden geistesgeschichtlichen und systematischen Weg nachzuzeichnen: (a) vom Vorsokratiker Parmenides mit seiner Unterscheidung zwischen der Welt der doxa („Schein, Meinung“) und dem Wirklichkeitsbereich des wahren Seins; über (b) Platons dreiteilige Wirklichkeitsauffassung (wahres Sein der intelligiblen Ideen – Seele – materielle Realität des Körpers / Leibes) und seine damit unmittelbar zusammenhängende Teilhabe-Philosophie (materielle Strukturen existieren dadurch, dass sie am Intelligiblen partizipieren); weiter über (c) Aristoteles’ Kritik an einer abstrakte, sachlich unbestimmte Allgemeinbegriffe einfach zu ‚Ideen‘ hypostasierenden Platon-Interpretation sowie an einer darauf fußenden Fehldeutung des Teilhabe-Gedankens; (d) hin zu der Präsenz der platonischen Ontologie und Teilhabe-Philosophie im sog. ‚Mittelplatonimus‘ bei Alkinoos und Apuleius, wobei besonders bei Letzterem das Augenmerk auf damit zusammenhängende theologische Implikationen (ein höchster Gott, aber viele Götter und viele Kulte) gelenkt wurde. Mit Plotin (204–270 n. Chr.) erreicht die Geschichte und Systematik platonischen Denkens einen ihrer Höhepunkte: Der Begründer des in neuzeitlicher Terminologie sog. ‚Neuplatonismus‘ knüpft gleichsam direkt an Platon an, nimmt aber auch die aristotelischen Kritikpunkte an einer bestimmten, zweifelhaften Interpretation von Platons Ideenlehre auf 202 und führt die vor ihm gewesene Teilhabe-Philosophie, Ontologie und Theologie zu einer neuen Spitze. Plotin etabliert dabei zugleich die wesentlichen Grundlagen für das in dieser Arbeit im Zentrum stehende, sog. ‚voll ausgebildete Methexis-Theorem‘ des Proklos. Diese Verbindungslinien sollen im Folgenden dargestellt werden. b) Plotins Unterscheidung von immateriellem und materieverbundenem Eidos als Grundlage der Teilhabe-Philosophie Wie bei Platon und im Mittelplatonismus liegt selbstverständlich auch Plotins Philosophie der Gedanke zugrunde, dass die sinnlich-wahrnehmbaren Dinge Hösle (2013: 241) sowie Cusanus, pac. XIX, 67; 62, 5–8. Zu Plotins „höchst respektvolle[r] Haltung“ gegenüber Aristoteles vgl. Thiel (2004: 187– 191, 202–218). 201 Vgl. 202
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II. Philosophische Grundlagen
nicht ein Zufallsprodukt einer sich autopoietisch organisierenden Materie sind, sondern sich in ihrer Sachbestimmtheit als sie selbst der Teilhabe an intelligiblen, sie formenden Prinzipien verdanken. Wenn die im letzten Kapitel vertretene Apuleius-Interpretation zutreffend ist, dann sind bereits für den Mittelplatoniker aus Madaura die universalen Ideen jeweils eine bestimmte intelligible Sache auf einshafte Weise und umfassen alle sachlich späteren, partikulär geschiedenen Instanzen dieser Sache in sich noch ungeschieden als geeinte Potenz, während das, was Apuleius exempla(ria) nennt, bereits vereinzelt-partikularisierte Formen sind, welche den sinnlich-wahrnehmbaren Dingen ihre Form mitteilen. Der Sache nach wird diese Differenzierung von Plotin ebenfalls vertreten, allerdings auf genauere, philosophisch schärfer fassbare Weise, wenn er vom ahyletischen (immateriellen) Eidos im Unterschied zum enhyletischen (materieverbundenen) Eidos spricht.203 Wenn die Idee wie z. B. [sc. die] des Feuers nämlich nicht in der Materie ist – denn die Argumentation (logos) soll die den [sc. vier] Grundelementen zugrundeliegende Materie [sc. als Beispiel] nehmen –, dann wird, obwohl also das Feuer selbst [sc. d. h. die Idee des Feuers] kein Werden in der Materie hat (ouk engenomenon204), es selbst dennoch der Materie205 [sc. die] Gestalt (morphê) des Feuers überall dort verleihen, wo Materie von Feuer entzündet wird. Es sei also vorausgesetzt, dass enhyletisches Feuer zuerst206 ein ausgedehntes Volumen (onkos polys) wird; denn dasselbe Argument (logos) wird auch auf die übrigen sogenannten Elemente zutreffen. Wenn nun jenes eine transzendente Feuer (to hen ekeino pyr) – die Idee – in allem erschaut wird als das ein Abbild seiner selbst Verleihende, dann wird es, weil es ‹nicht207› dem Ort nach getrennt ist, es nicht so verleihen wie die sichtbare Erleuchtung.208 Denn folglich erzeugt wohl209 all dieses sinnlich 203 Mein herzlicher Dank für seine sehr instruktiven Hinweise und Korrekturen bei der Übersetzung der beiden folgenden überlieferungstechnisch, sprachlich und inhaltlich nicht einfachen Plotin-Passagen gilt Christian Pietsch. – Bezeichnenderweise sagt auch Tornau (1998: 411) in seinem Kommentar, der Abschnitt „ist von notorischer Dunkelheit.“ 204 Zur sprachlichen und inhaltlichen Parallele bei Proklos vgl. in Parm. 930, 33–37. 205 Die Atethese von têi hylêi an dieser Stelle erscheint mir nicht zwingend nötig. Im Sinne einer ‚behutsameren Textkritik‘ s. Tornau (1998: 412) zur Stelle. 206 Zur überzeugenden Deutung von to prôton als Adverb s. Tornau (1998: 413). 207 Hier scheint inhaltlich ein ou notwendig. 208 Tornau (1998: 415–7) diskutiert diese schwierige Stelle detailliert und entscheidet sich für eine textkritische Lösung: Statt dem hier befürworteten kai ‹ou› topôi chôris on favorisiert er ‹ou› kata ‹to› topôi chôris on und übersetzt: „sie wird das Abbild nicht nach Art des räumlich Getrennten darbieten, wie die sichtbare Belichtung.“ Trotz philologischer Differenz entspricht der philosophische Inhalt auch der hier vertretenen Deutung. 209 Ich fasse eiê pou von vornherein als mit gennêsan verbunden auf („mag wohl ein Erzeugendes sein“ > „erzeugt wohl“) und verstehe zusammen mit Christian Pietsch den Satz nicht irreal. – Ganz anders dagegen Tornau (1998: 417–8), der to pyr als Idee des Feuers auffasst und die attributive Stellung von to en aisthêsei in eine prädikative ändert und übersetzt: „denn in diesem Fall wäre ja wohl dieses Feuer (das geistige) ganz im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung.“ Somit beziehe sich touto to pyr zurück auf to hen ekeino pyr. Dies scheint mir deshalb wenig überzeugend, weil Plotin die transzendente Idee (terminologisch mit ekeino bezeichnet) von dem vor Augen liegenden Feuer (touto) abgrenzt. In der Konsequenz ändert Tornau (1998: 420) auch das Folgende ei pan auto polla, hêi heautou tês ideas autês menousês en atopôi auto zu ‹oud’›
5. Plotin: Teilhabe-Philosophie und Theologie beim Archegeten des Neuplatonismus
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wahrnehmbare Feuer hier, wenn es als ganzes selbst Vieles ist, insofern seine Idee selbst im Ortlosen verharrt, selbst Örter aus sich heraus, da es ja nötig war, dass dasselbe, wenn es zum Vielen geworden ist, vor sich selbst flieht, damit es auf diese Weise ein Vieles ist und auf vielerlei Weise Anteil gewinnt an demselben. Und so gab die Idee, da sie unzerstückelbar ist, zwar nichts von sich der Materie, ist jedoch nicht unfähig geworden, obwohl sie Eines ist, das nicht-Eine durch ihr Eines zu gestalten und dessen [sc. des Nicht-Einen] Ganzem tatsächlich so gegenwärtig zu sein, dass sie nicht durch einen Teil von sich dieses, durch einen anderen [sc. Teil von sich] aber ein anderes gestaltet, sondern durch [sc. das] Ganze jedes Einzelne und alles. Lächerlich wäre es nämlich, viele Ideen des Feuers einzuführen, so dass (hina) jedes einzelne Feuer von je einer einzelnen verschiedenen [sc. Idee], das nächste aber von einer anderen geformt würde; unendlich viele nämlich werden so die Ideen sein (enn. VI, 5, [23] 8, 22–42).
Plotin expliziert die platonische Ideenlehre hier – vermutlich aus didaktischen Gründen – an einem relativ einfachen Beispiel: ‚Feuer‘ als eines der Elemente ist nach platonischer Auffassung kein aus sich selbst heraus ‚festgefügter Materiebaustein‘, vielmehr muss auch bei den vier Grundelementen zwischen Form (Idee, Eidos) und erst durch sie geformter Materie unterschieden werden.210 Wenn also ein wahrnehmbares, empirisch sichtbares und erlebbares Feuer existiert, dann geht sein Feuer-Sein gemäß platonischem Verständnis auf eine eidetische Formung zurück, welche sich an einer geeigneten Materie manifestiert. Die Sache ‚Feuer‘ steckt jedoch nicht einfach in der Materie drin – sonst müsste gleichsam überall ‚Feuer‘ existieren –, sondern ist eine Seinsmöglichkeit, die sich entfalten kann, wenn sie auf geeignete Materie trifft. Aus diesem Grunde sagt Plotin, dass die Idee des Feuers – welche also ein einzelnes Feuer erst zur Sache ‚Feuer‘ werden lässt – „kein Werden in der Materie hat“: Die Idee ‚Feuer‘ ist die begreifbare Sache selbst, welche in ihrer Begreifbarkeit nicht erst zu einem Zeitpunkt x ins Werden tritt und an einem Zeitpunkt y aufhört zu sein, sondern immer sie selbst ist. Ins Werden sowie ins Vergehen treten jedoch einzelne Instanzen der Sache ‚Feuer‘. Diese wiederum basieren in ihrem instanzhaften Feuer-Sein auf der Voraussetzung, dass eine solche Idee ‚Feuer‘, welche genau diese Sachbestimmtheit ausmacht, Bestand hat. [ei p]an auto polla, ‹ei›ê heautou tês ideas autês menousês en atopôi auto und übersetzt: „und es (das transzendente Feuer) kann auch nicht selber in der Weise vieles sein, daß es, während es selber – die Idee selbst – im Raumlosen verbleibt, selber aus sich Räume schafft; denn eines und dasselbe müßte von sich selbst entfliehen, um in diesem Sinne vieles zu sein usw.“ – Mir scheint die oben vertretene Lösung weniger Texteingriffe zu erfordern und einen stimmigen, anderen Sinn zu ergeben. 210 Vgl. Tornau (1998: 412) zur Stelle sowie ferner Plotin, enn. V, 8 [31], 7, 18–20. Dies bedeutet zugleich, dass gemäß platonischem Verständnis die Materie der Grundelemente (in der Materie realisierte Elementardreiecke) nicht die Systemstelle eines ‚Atoms‘ im Sinne eines nicht weiter zerlegbaren bzw. teilbaren Materiebausteins einnehmen kann, da die Materie der Grundelemente nur die erste Minimal-Formung der von sich selbst her völlig formlos-unbestimmten Materie aufweist. Diesen Gedanken hat Schmitt (2003 a: 489–490) herausgearbeitet und darauf verwiesen, dass „diese letzten Elemente für Platon nicht nur nicht Ideen sind, sondern der äußerste Gegensatz zur [sc. intelligiblen] Idee.“
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II. Philosophische Grundlagen
Daher behauptet Plotin mit der auf den ersten Blick paradox wirkenden Formulierung nichts der Sache nach Widersprüchliches: Die Idee ‚Feuer‘, welche Seins-Ursache und Begründung der allgemeinen Möglichkeit des Feuer-Seins ist, geht tatsächlich nicht in die Materie ein, weil sie als Seinsmöglichkeit gar nicht einem materiellen Werdeprozess unterliegt; sie ist aber sachliche Voraussetzung dafür, dass einzelnes Feuer an entzündbarer Materie ins Werden tritt. Die Idee ‚Feuer‘ transzendiert selbst also die Materie und das Werden, ist aber Ermöglichungsursache dafür, dass einzelnes Feuer an der Materie werden kann: Als intelligible Idee verleiht sie aller brennenden Materie die seinsbestimmende Gestalt eines sinnlich wahrnehmbaren Feuers. Die transzendente Idee ist also der Materie enthoben und insofern immateriell (ahyletisch), aber Ursache für materielles (enhyletisches) Feuer, insofern sie sinnliche Abbilder von sich an der Materie erzeugt.211 Plotin weist explizit darauf hin, dass dieser Verursachungsprozess nicht zu vergleichen ist mit einer „sichtbaren Erleuchtung“: Während ein einzelnes, sichtbares Feuer an einem bestimmten Ort aufflackert, ein örtlich ausdehntes Volumen wird und insofern ‚Örter von Feuer‘ erzeugt212 (und irgendwann zumeist mangels brennbarer Materie vergeht), verharrt die Idee ‚Feuer‘ ortlos213 im intelligiblen, immateriellen Seinsbereich. Dagegen breitet sich ein sichtbares, einzelnes, materielles Feuer örtlich aus, es wechselt sogar den Ort, wenn es vom ersten Entfachen an einem Ort auf brennbare Materie an einem anderen Ort übergeht und den ersten verlässt, nachdem dort nichts Brennbares mehr vorhanden ist. In diesem Sinne führt Plotin aus, dass das einzelne Feuer auch „vor sich selbst flieht“, wobei zugleich erkennbar ist, dass dieses Feuer kein wirklich eines 211 Vgl. Tornau (1998: 415): „Die Form (Idee) läßt jedem Einzelding ein Abbild von sich zukommen, und nur von diesem Abbild, der immanenten Form, gilt, daß es in der Materie ist. […] Die Existenz dieser Abbilder ist aber nichts anderes als die Sichtbarkeit der Idee in allen Einzeldingen […]; und diese Sichtbarkeit ist nicht die irgendeines Stellvertreters, sondern die der Idee selbst.“ Insofern erscheint Tornaus (1998: 411–2) vorhergehende Abgrenzung Plotins gegen Aristoteles’ Konzeption des enhylon eidos weniger plausibel: „Von vornherein steht fest, daß die Form nicht ‚in‘ der Materie ist, wie es der platonische Parmenides andeutet, daß also dasjenige, was ein Ding zu dem macht, was es ist, nicht das enhylon eidos im Sinne des Aristoteles ist.“ 212 Gegen Tornau (1998: 417) erscheint mir diese Deutung („das sinnliche Feuer schafft Orte aus sich selbst“) nicht zu „einer falschen Aussage“ zu führen, insofern damit gemeint ist, dass die Idee, insofern sie als enhylon eidos in die sie aufnehmende Materie eintritt, zuerst ein ausgedehntes Volumen wird, also einen materiellen Ort aus sich heraus erzeugt. Aus umgekehrter Perspektive gedacht, erfordert gerade die Ortlosigkeit des Intelligiblen, insofern es nur intelligibel ist (vgl. Alt 2005: 34), gewissermaßen, dass das Wirken aus dem Geistigen heraus in die Materie hinein Örter erzeugt, weil diese nicht von selbst gegeben, aber auch nicht durch die unbestimmte Materie vorgegeben sein können. Vgl. Helmig (2006: 266–272), auch mit dem Hinweis auf Proklos, in Tim. II, 25, 9–16. S. ferner Thiel (2004: 93, 260, 294–300) zu Philoponos bzw. Damaskios. 213 Vgl. Horn (1995: 100) dazu, dass Plotin hier „in deutlicher Reaktion auf die Kritik an der platonischen Teilhabetheorie den chôrismos der Ideen im Sinn einer räumlichen Trennung zurück[weist].“
5. Plotin: Teilhabe-Philosophie und Theologie beim Archegeten des Neuplatonismus
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Feuer ist, sondern – wie der gesamte materielle Seinsbereich – eine (äußerliche) Vielheitlichkeit zeigt: Ein werdendes Feuer, das eben noch hier brannte, jetzt aber von hier nach dort gewandert ist und den Ort bereits wechselt, ist in seinem Werden bereits ein Vieles. Als dieses Viele hat es aber Anteil an demselben, also an etwas Identischem, nämlich der sachlichen Bestimmtheit, welche das FeuerSein ist. Insofern partizipiert dieses materiell-werdende, vor sich selbst fliehende, Örter erzeugende und insofern Vieles seiende Feuer an der einen Sache ‚Feuer‘, welche als Ermöglichungsursache des Feuer-Seins nicht dem Werden unterliegt, auch nicht materiell gebunden ist, sondern transzendent und ortlos verharrt in ihrem intelligiblen, begreifbaren Eidos-Sein, welches als solches jedoch zugleich wirksam ist, insofern es Anteil an sich gibt, so dass empirisch-wahrnehmbares Feuer entstehen kann. Daher ist die Idee des Feuers „unzerstückelbar“: Sie bleibt als intelligible Sachbestimmtheit ‚Feuer‘ und als Ermöglichungsursache einzelner Feuerherde sie selbst und unterliegt keiner örtlichen Trennung wie das einzelne Feuer, welches vor sich selbst flieht. In diesem strengen Sinne kann Plotin formulieren, dass die Idee „nichts von sich der Materie“ gab und gibt, denn die intelligible Idee inhäriert als sie selbst nicht der Materie; von ihr ist, insofern sie intelligibel ist, nichts in der wahrnehmbaren Materie vorhanden, da die Idee als begreifbare Sache rein intelligibel bleibt, also im Bereich der transzendenten Ideen verharrt. Trotzdem ist diese Diskrepanz zwischen intelligibler Idee und wahrnehmbarer Instanz nicht ohne Überbrückung: Denn sonst könnte ja nicht davon die Rede sein, dass eine intelligible Idee Ermöglichungsgrund ihrer Instanzen ist, sondern es gäbe überhaupt keinen Bezug zwischen beiden. Dass Plotin dies nicht meint, hatte er zuvor schon erkennen lassen, als er davon sprach, dass die eine Idee viele Abbilder von sich erzeugt. Und so sagt er auch jetzt, dass die Idee trotz ihrer Transzendenz „nicht unfähig geworden ist, obwohl sie Eines ist, das nicht-Eine durch ihr Eines zu gestalten.“ D. h., die von sich selbst her gestaltlose, von keinem einheitlich-bestimmten Sein geprägte Materie zeigt immer dort, wo Bestimmtes an ihr erkennbar wird (wie z. B. Feuer), dass sie eidetischer Formung unterliegt. Dabei wird die Idee durch ihre vielen und vielheitlichen Instanzen jedoch nicht ‚zerstückelt‘ und somit auch nicht selbst zu etwas Vielem – denn sie ist ja transzendent: Die ortlose, unzerteilbare Idee gestaltet die für ihr Wirken geeignete Materie nicht hier durch einen Teil x, dort durch einen Teil y von sich, sondern ist vielmehr als ganze allem präsent, das ihre Formgebung aufnehmen, also an ihr partizipieren kann. Wäre dies nicht so, führte dies in die lächerliche Konsequenz, dass man für jedes Feuer eine einzelne Idee annehmen müsste: Es drohte der infinite Regress214 bzw. der sog. ‚dritte Mensch‘.215 214 Auch hier greift Plotin die Kritik an einer missverständlichen Interpretation der platonischen Ideenlehre auf (vgl. Horn 1995: 100). 215 S. o. Anm. 79.
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II. Philosophische Grundlagen
Plotin zeigt hier mit aller Konsequenz den inneren Zusammenhang zwischen platonischer Ontologie und Methexis-Lehre: Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Form und Materie erweist sich darin als rational, dass jeglicher Erkennbarkeit überhaupt ein bestimmtes Sein zugrunde liegen muss. Genau dieses Bestimmt-Sein, welches Vieles und Verschiedenes trotzdem als etwas Einartiges (Feuer) erweist, gründet gemäß Platon in der Idee einer Sache (‚Feuer‘), an welcher ihre vielen Instanzen teilhaben. Die eine Sache für sich selbst hat keinerlei äußerliche Existenz, sie ist aber begreifbar und Ermöglichungsgrund für die vielen Dinge, welche diese eine Sache materiell auf vielerlei Weise verwirklichen. Daher kommt es, wie Plotin hier ausführt, zu folgendem Resultat: Die gegenüber der Materie transzendente Idee verharrt als sie selbst in ihrer Einheitlichkeit als immaterielle / ahyletische Form. In ihrer Anteilgabe an die Materie verliert sich die Idee nicht selbst – sie verharrt ja –, sondern sie teilt der an ihrer Formgabe partizipierenden Materie ein Abbild von ihr mit: die materielle / enhyletische Form, welche also der Materie einwohnt und an dieser ein Werden (sowie Vergehen) hat.216 Damit erklärt Plotin nun in der Tat sehr viel genauer und philosophisch prägnanter fassbar, was ein Mittelplatoniker wie Apuleius gleichwohl der Sache nach schon vorgezeichnet hatte: Die universale, ahyletische Idee umfasst eine bestimmte intelligible Sache auf einshafte Weise, während die exempla(ria) in Apuleius’ Sinn vereinzelt-partikularisierte, enhyletische Formen sind, welche den sinnlich-wahrnehmbaren Dingen Anteil an der einen Idee verleihen, von der sie ausgegangen sind.217 All diese Zusammenhänge erläutert Plotin kurz darauf an einem weiteren Beispiel: [sc. Jene transzendente, intelligible Natur] aber ist, ‹der Zahl nach› identisch, überall gegenwärtig, nicht als das enhyletische Dreieck,218 welches in Vielem Mehrere ist,219 sondern 216 Trotz aller Komplexität und Interpretationsschwierigkeiten, die sich bei einer Plotin-Interpretation stellen, ist mir unverständlich, warum Horn (1995: 100) zu dem Ergebnis kommt: „Plotin vertritt hier die paradox wirkende Lösung, daß auch das eidos enhylon dem Gegenstand nicht inhäriert.“ Mir scheint, dass Plotins Aussage vielmehr auf das ahyletische Eidos zu beziehen ist, wie oben ausgeführt, so dass Horns (ibd.) Konklusion unzutreffend wäre: „Man gewinnt aus dem Text den Eindruck, als müßte für Plotin die Unterscheidung von eidos chôriston und eidos enhylon damit hinfällig sein.“ 217 Dass Apuleius die exempla(ria) als Vermittlungsinstanz ansetzt, welche in systematischer Hinsicht die Funktion der enhyla eidê bei Plotin einnehmen, wurde oben (Kap. II.4.2.) erörtert. Dies ist jedoch eine Besonderheit (vgl. Baltes 1998: 240), welche keineswegs von allen Platonikern bzw. platonisch beeinflussten Philosophen so geteilt wird: Bei Boethius, cons. III, 9m, 6–7 z. B. sind die exempla sehr wahrscheinlich die paradeigmatischen, ahyletischen Ideen selbst (ähnlich Augustinus, civ. XV, 5; 64, 11; Eriugena, periph. II, 616 a; Thomas von Aquin STh I, q. 15, a. 3, resp.). 218 Horn (1995: 100–1) übersetzt: „Sie ist aber, da sie der Zahl nach identisch ist, nicht wie das enhyletische Dreieck überall präsent.“ Dadurch geht der Sinn von paresti pantê verloren. Möglicherweise fehlt vor „überall präsent“ nur ein Komma, jedoch will Horn (ibd.) zeigen,
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als das ahyletische [sc. Dreiecks-Eidos] selbst, von dem auch die [sc. Dreiecke] in der Materie [sc. ihr abgeleitetes Sein haben]. Weshalb nun ist nicht überall ein enhyletisches Dreieck, wenn doch überall das ahyletische [sc. ist]? Weil nicht alle Materie [sc. an ihm] partizipiert, sondern etwas Verschiedenes hat, und [sc. weil] nicht alle [sc. Materie] für alles [sc. geeignet ist] (enn. VI, 5, [23] 11, 31–36).
Die intelligiblen, immateriellen (ahyletischen) Ideen sind durch ihre Ortlosigkeit überall gegenwärtig: Sie haben keinen äußerlichen Ort, aber es gibt auch keinen Ort, an dem sie nicht prinzipiell ihre Präsenz entfalten könnten. Durch ihre Ortlosigkeit sind sie unzerteilt, „unzerstückelbar“ und bewahren so ihre substantielle Einheit auf vollkommene Weise, sind daher „der Zahl nach identisch“. Diese vollkommene Selbigkeit und Einheit unterscheidet sie von ihren vielen und vielheitlichen Instanzen, denn diese sind materiegebunden (enhyletisch). Für die Platoniker umfasst die intelligible Idee des Dreiecks alle Möglichkeiten, Dreieck zu sein, auf einshafte Weise. Der Rechtsgrund, überhaupt eine solche universale Idee als einheitliche Ursache des Dreieck-Seins anzunehmen, an welcher alle einzelnen Dreiecke partizipieren, besteht in der ergründbaren Bestimmung, dass es grundsätzlich nur eine Möglichkeit gibt, eine geradlinigebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu sein: die des Dreiecks. Diese Seinsmöglichkeit umfasst den spezifischen, eidetischen Unterschied dessen, was das Dreieck-Sein ausmacht. Sie kann innerhalb der wahrnehmbaren Materie jedoch auf unterschiedliche Weise realisiert werden: als rechtwinkliges, unregelmäßiges, stumpfwinkliges, gleichseitiges, gleichschenkliges Dreieck. Wenn es aber darum geht zu fragen, was alle diese Einzelfälle des Dreieck-Seins zum Dreieck (und nicht zum rechtwinkligen, unregelmäßigen … Dreieck) macht, dann erhellt, dass dieses Dreieck-Sein an sich nicht der Sinneswahrnehmung an sich zugänglich ist, sondern nur durch die Ratio begriffen werden kann entsprechend dem von Euklid durchgeführten Beweis.220 Das ahyletische Eidos des Dreiecks umfasst also einshaft alle diese Einzelunterschiede des Dreieck-Seins, welche auf der Ebene der Imagination und der Sinneswahrnehmung auftreten. Wenn aber die enhyletischen Dreiecke jeweils dadurch ‚Dreieck‘ sind, dass sie diesen Seinsunterschied auf verschiedene Weise verwirklichen, dann muss eine Partizipationsmöglichkeit an dieser immateriellen Idee bestehen. Da diese sich jedoch nicht zerteilt, sondern ihre Einheit bewahrt, außerdem die Einzeldreiecke ja immer nur einen ausschnitthaften „daß Plotin die mittelplatonische Dichotomie eines enhylon und eines ahylon trigônon (und allgemein: eidos) nur im Sinn eines Vergleichs oder Bildes heranzieht, sachlich gesehen die Unterscheidung aber […] aufhebt.“ Diese Interpretation scheint der Argumentation Plotins entgegensetzt zu sein. Zumindest handelt es sich bei Horns Deutung im Vergleich mit der hier vorgeschlagenen um mehr als nur eine sprachliche Divergenz, wie die gemäß Horn von Plotin angeblich vorgenommene Einebnung der ‚mittelplatonischen‘ Differenzierung zeigt. 219 Gemäß Theiler folge ich der Athetese von arithmô tauton und halte es an der markierten vorhergehenden Stelle für passend. 220 Euklid, elem. I, 32.
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II. Philosophische Grundlagen
Einzelfall dieses umfassenden Dreieck-Sein der ahyletischen Idee abbilden können, kann es nicht die transzendente, ahyletische Idee selbst sein, an der hier direkt partizipiert würde. Vielmehr muss auch hier eine Vermittlungsinstanz bestehen: Die enhyletische Idee, an welcher in vielerlei Weise partizipiert wird, so dass es zu unterschiedlichen Einzelausprägungen der universalen Idee ‚Dreieck‘ kommt: Deshalb sagt Plotin, dass das „enhyletische Dreieck in Vielem Mehrere ist.“ Hier geht es also genau um die Überbrückung und den Übergang zwischen unpartizipierbar-transzendenter Idee und den vielen an dieser irgendwie trotzdem partizipierenden Instanzen: Geleistet wird diese Überbrückung durch das eidos enhylon, welches zwar auch noch (wie die unpartizipierbar-ahyletische Idee) in einer Hinsicht ein Eines ist, insofern sie ein bestimmtes Sein an die Materie vermittelt (z. B. ‚Dreieck‘), in anderer Hinsicht jedoch „in Vielem Mehrere ist“: Als eine Seinsmöglichkeit, an welcher schon partizipiert wird, insofern diese materiell schon verwirklicht ist, ist dieses enhyletische Eidos in allen seinen an ihm direkt partizipierenden Instanzen, also „in Vielem“, bereits „Mehrere“ geworden: Das enhyletische Eidos ist an verschiedenen Orten verwirklicht, es ist daher zerteilt, weil es die unzerteilte Seinsmöglichkeit des ahyletischen Eidos an viele Partizipanten in der Materie mitteilt. Die materiell verwirklichten Dreiecke haben ihr abgeleitetes Sein zwar letztlich von der unpartizipierbaren Idee her, aber nur durch die Vermittlungsinstanz des enhyletischen Dreiecks-Eidos. Obwohl die ahyletische Idee überall präsent ist, zeigt die Materie trotzdem nicht überall und ausschließlich die enhyletische Gestalt eines Dreiecks: Dies begründet Plotin damit, dass die Materie Grundlage für viele Formungen ist und entsprechend „Verschiedenes hat“, also nicht eine monolithisch-uniforme Prägung aufweist, sondern verschiedene. Zudem sei nicht alle Materie für alle eidetischen Formgebungen in gleicher Weise geeignet. Es besteht daher kein Widerspruch dazwischen, dass die immaterielle Idee zwar selbst ortlos-omnipräsent ist, andererseits aber nicht überall diese intelligible Omnipräsenz auch einen materiellen Niederschlag findet. Wie der innere, sachliche Zusammenhang bei Plotin zeigt, darf man also die ahyletische Idee als einen bestimmten Seinsunterschied komplexiv umfassende Universal-Ursache dafür verstehen, dass (a) überhaupt eine solche Seinsmöglichkeit besteht und (b) dieser Seinsunterschied auch auf eingeschränkte Weise materiell verwirklicht werden kann. Da diese intelligibel-ahyletische Idee jedoch ortlos-allgegenwärtig ist, ist sie unpartizipierbar. Die Kluft zwischen den Befunden (a) und (b) überbrückt das enhyletische Eidos, welches in den vielen Teilverwirklichungen der für sich selbst einheitlichen und unpartizipierbaren Sache vielheitlich präsent ist. Damit liegt Plotins Denken der Sache die DreierUnterscheidung zugrunde, welche Proklos in seinem Teilhabe-Theorem mit der Differenzierung zwischen Unpartizipierbarem (amethekton) – Partizipiertem (metechomenon) – Partizipierendem (metechon) expliziert. Zugleich ist zu kon-
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statieren, dass gemäß der hier vertretenen Plotin-Interpretation der von Horn (1995: 101) vorgelegten Deutung widersprochen werden muss: Der Begriff einer enhyletischen Form kann somit bei ihm [sc. Plotin] lediglich noch den Sinn einer durch die Kraft der Materie beeinträchtigten Form bewahren (Horn 1995: 101).
Die von Horn propagierte angebliche Einebnung der Unterscheidung von ahyletischem und enhyletischem Eidos durch Plotin erscheint von dessen Text und philosophischem Argument her nicht gedeckt.221 Die Differenzierung zwischen unpartizipierbar-ahyletischem Eidos und partizipiert-enhyletischem Eidos zeigt darüber hinaus, dass Plotins Ideenlehre mit der von Aristoteles formulierten Kritik an einer missverstandenen, weil abstrakte Allgemeinbegriffe einfach zu ‚seienden Ideen‘ erhebenden Ideenlehre kompatibel ist und diese Kritik sachlich auch voraussetzt. Wie oben ausgeführt,222 kritisiert Aristoteles, wenn Einzeldinge einfach mit einer intelligiblen Sache gleichgesetzt werden: Ein einzelner Mensch kann in seiner wahrnehmbaren Gestalt nicht als Sachkriterium für das Eidos ‚Mensch‘ gelten, sonst ergäben sich eine Reihe von Aporien: Wenn dieser einzelne Mensch das Eidos ‚Mensch‘ schlechthin verkörpern sollte und z. B. männlich und hellhäutig wäre, wäre eine Frau oder ein dunkelhäutiger Mensch dann etwa nicht ‚Mensch‘? Um das Eidos ‚Mensch‘ dagegen begrifflich widerspruchslos zu fassen, dürfen also keine äußerlich-akzidentellen Qualitäten bzw. einzelne, jedoch nicht den spezifischen Unterschied treffende Bestimmungen verallgemeinert, sondern es muss das allgemein und spezifisch für ‚Mensch‘ Zutreffende herausgearbeitet werden (vgl. Pietsch 1992: 32), wie es durch die klassische Formel animal rationale et mortale definitionsweise formuliert wurde. Diese Bestimmung des Mensch-Seins, welche auf Aristoteles zurückgeht,223 umfasst begrifflich das, was einen Menschen von Gott (der unsterblich ist) und Tieren (die nicht rational begabt sind) spezifisch unterscheidet.224 Ein animal 221 Dass Horn in anderen Aspekten seiner Plotin-Interpretation jedoch durchaus zuzustimmen ist, soll im folgenden Kapitel deutlich werden. 222 S. Kap. II.3. 223 Vgl. Aristoteles, top. 128b34–36, ferner Augustinus, civ. XVI, 8; 135, 30. 224 Die Definition orientiert sich am gesunden Menschen. Dem Einwand, ob dann etwa weniger gesunden, z. B. geistig behinderten Menschen das Mensch-Sein im vollen Sinne nicht mehr zuerkannt werden dürfe, kann trotzdem von dieser Definition her sachlich sinnvoll begegnet werden: Zum einen ist ein Wesen oder eine Sache immer dann am besten erkennbar, wenn sie auch bestmöglich realisiert ist – insofern ist es legitim, dass sich die Definition am Bestzustand orientiert. Zum anderen zeigen aber gerade geistig behinderte Menschen (etwa mit Down-Syndrom), wie in jüngerer Zeit immer mehr gesehen wird, durchaus kognitive Fähigkeiten, die klar auf eine (wenn auch eingeschränktere) rationale Begabung hinweisen. In eigener Erfahrung als Zivildienstleistender habe ich (FD) z. B. erlebt, dass Menschen mit Down-Syndrom bei Brettspielen die gewürfelte Zahl (z. B. ‚6‘) sofort erfassen und auf dem Brett in einem Sprung setzen können, also ohne sechs Felder einzeln abzuzählen, wie dies (auch nicht-behinderte) Kinder beim Erlernen eines Spiels zunächst tun würden. Das Erfassen von sechs Einheiten als einer komplexen Einheit und deren Umsetzen mag im Vergleich zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit
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rationale et mortale zu sein, ist also das, was per definitionem jeden einzelnen Menschen zu ‚Mensch‘ macht; mit Plotin könnte man sagen, dass diese Definition das umfasst, was der Sache nach alle einzelnen Menschen als enhylon eidos wesensbestimmend auszeichnet.225 Damit wird nicht die menschliche Individualität und Personalität bestritten, welche einzelne Menschen selbstverständlich voneinander unterscheidet. Es wird lediglich das umgrenzt, was einzelne Menschen in spezifisch-allgemeiner Hinsicht als Menschen charakterisiert und ihnen gemeinsam zukommt. Bei genauer Unterscheidung trifft dann zu, dass, wie Rapp (1996 c: 177) konstatiert hat,226 gemäß Aristoteles „die Artform, die erste Substanz sein soll, überhaupt nicht von einem anderen und schon gleich gar nicht von mehreren Subjekten ausgesagt“ wird. Von einer generischen Allgemeinheit, „die über mehrere zugrundeliegende Subjekte ausgesagt wird“ (z. B.: ‚Menschen und Pferde sind Lebewesen‘), von einem hen epi pollôn, ist das substantielle Eidos ausgenommen. Hingegen umfasst das Eidos ‚Mensch‘ genau das, was es ausmacht, Mensch zu sein, nicht aber den generisch-unbestimmten Begriff ‚Lebewesen‘ und auch kein anderes Eidos wie ‚Pferd‘. Das Eidos ‚Mensch‘ wird also, streng genommen, nicht über oder von mehrere(n) Subjekte(n) ausgesagt, sondern es liegt als es selbst und einheitlich genau dann vor, wenn der spezifische Seinsunterschied animal rationale et mortale tatsächlich verwirklicht ist. Dieser spezifische Seinsunterschied besteht somit entweder oder nicht und kann entsprechend gemäß sich selbst ausgesagt werden. Insofern nur darauf geachtet wird, ob etwas ‚Lebewesen, rational begabt, sterblich‘ ist, wird nicht etwas Generisch-Allgemeines über vieles Verschiedenes im Sinne eines praedicabile nur als ein relativ geringer rationaler Erfassungsakt erscheinen; rational ist er aber trotzdem. Dass außerdem menschliche Emotionen wie Mitgefühl, Freude etc. oft gerade von geistig behinderten Menschen im Bestzustand, weil unverstellter und authentischer empfunden und gezeigt werden, lässt sich im Umgang mit ihnen immer wieder erleben und durch Erfahrung belegen. Insofern grenzt das Kriterium der Vernunftbegabung vermeintlich behinderte Menschen nicht aus; umgekehrt muss auch dieses Kriterium für eine spezifische Eingrenzung des Menschseins aber nicht aufgegeben werden, wenn man genau darauf achtet, wozu sog. ‚Behinderte‘ tatsächlich in der Lage sind: Ihre Fähigkeiten werden von der Warte eines vermeintlich gesunden Menschen allzu schnell unterschätzt. – Auch andere Lebewesen (v. a. Tiere), die nach platonischaristotelischer Auffassung zwar nicht als rational begabt im spezifischen Sinne gelten können, sind gemäß diesen Denktraditionen keine bloßen ‚Automaten‘ oder ‚Maschinen‘ (so aber Descartes, vgl. Bernard 1988: 229–230, Anm. 32), sondern verfügen über eine Seele als Prinzip ihrer Lebendigkeit und ihrer Unterscheidungsakte auf der Ebene der Sinneswahrnehmungen: Hier lässt sich durchaus fragen, ob nicht die Tatsachen, dass ein Hund sein Herrchen erkennt oder dass eine Spinne ‚weiß‘, wie sie ein geometrisches Gebilde als Spinnennetz herstellt, Vorformen bzw. eingeschränktere Weisen einer rationalen Begabung erkennen lassen. 225 Zur Parallelität von enhylon und metechomenon eidos im Zusammenhang mit Proklos vgl. Helmig (2006: 277). Das Eidos, welches für ein materiell verwirklichtes Einzelwesen sachlich bestimmend ist, ist das partizipierte Eidos, nicht aber das rein intelligible und dem Bereich alles Materiellen transzendente Sachprinzip selbst, welches unpartizipierbar und immateriell ist. 226 S. o. Kap. II.3
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de pluribus227 ausgesagt (‚Menschen und Pferde sind Lebewesen‘, ‚Kartoffeln und Kirschbäume sind Pflanzen‘), sondern etwas Spezifisches, weil nur dem Menschen als Menschen Zukommendes. Dieses ist nicht von generisch-unspezifischer, konfuser Allgemeinheit, welche keine Substantialität begründen kann und deshalb von Aristoteles kritisiert wird, sondern von nicht-partikulärer, spezifischer Allgemeinheit.228 Ein solches Spezifisch-Allgemeines wie der Seinsunterschied animal rationale et mortale ist entweder realisiert oder nicht; er kommt den vielen Menschen, insofern sie Mensch sind, nicht auf unterschiedliche, sondern in gemeinsamer Weise zu.229 Insofern darf dieser entweder vorliegende oder nicht vorliegende Seinsunterschied mit dem enhyletischen Eidos bei Plotin identifiziert werden, welches ja gerade das spezifische, einheitliche Sein einer Sache, insofern sie an einer Materie verwirklicht ist, ausmacht. Dabei wird nicht negiert, dass ein solches spezifisches, einheitliches Sein trotzdem auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann. Ein Arzt, ein Pianist, ein Mathematiker, Sokrates oder Nelson Mandela entfalten in unterschiedlicher Form das, was ihnen qua Mensch auf selbige Weise zukommt, nämlich rational begabt und sterblich zu sein.230 Analoges wurde für das Eidos ‚Dreieck‘ gezeigt, welches in sehr unterschiedlicher Gestalt ausgeprägt sein kann (‚rechtwinklig‘, ‚stumpfwinklig‘ etc.). Qua Dreieck – und nur darum geht es Plotin bei der Bestimmung des enhyletischen Eidos – entfalten diese Gebilde jedoch ein und denselben Unterschied, wenn auch auf unterschiedliche, weil eingeschränkt-partikuläre Weise. Die in der sinnlich-wahrnehmbaren Welt verwirklichten Eidê sind also dadurch, dass sie in der Materie realisiert sind, immer schon enhyla eidê. Die unterschiedliche wahrnehmbare Gestalt darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich gemäß Plotin für ‚Feuer‘, ‚Dreieck‘, ‚Mensch‘ etc. jeweils ein einheitlicher Seinsgrund ermitteln lässt, welcher all dieses genau zu dem macht, 227 Vgl.
Schmitt (2003 a: 62, 320–2). S. Rapp (1996 c: 165, 174). 229 Dieser Gedanke mag dem modernen Individualitätsdenken zunächst abnorm erscheinen. Umgekehrt betrachtet, ist aber auch vor dem modernen Hintergrund gerade die allen Menschen gemeinsame Teilhabe am Mensch-Sein Bedingung der Möglichkeit dafür, dass z. B. die Menschenwürde als unantastbar gelten kann: Dies ist nur gewährleistet, wenn sich ein Kriterium des Mensch-Seins, welches alle Menschen trotz ihrer Unterschiede und in diesen teilen, veranschlagen lässt. – In strenger Prädikation ist insofern dann der Plural (insofern sie Menschen sind) zu meiden, weil es hier nicht darum geht, dass viele Menschen unterschiedliche Personen sind, sondern darum, dass sie trotz individuell-personaler Unterschiede alle in einer bestimmten Hinsicht das eine Eidos ‚Mensch‘ verwirklichen (also ‚Mensch‘ sind), wenn auch – in anderer Hinsicht – auf unterschiedliche Weise, eben als verschiedene menschliche Personen. – Zum Unterschied zwischen Person und Individuum vgl. Spaemann (2012 a: 289 f.; 2012 b: 3–4). 230 Die Tatsache, dass sie qua Mensch an einem gemeinsamen Eidos partizipieren und dieses verwirklichen, bedeutet nicht, dass sie als einzelne Menschen – d. h. als distinkte menschliche Personen – nicht ein individuelles Eidos als dieser bestimmte Einzel-Mensch haben. S. enn. V, 7 [18] und dazu Lacrosse (2003: 160–2). Vgl. ferner Bernard (1990: 137–8) sowie Proklos, in Parm. 865, 33–35 (Kap. III.c). 228
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was jeweils vorliegt. D. h., mit dem Begriff des eidos enhylon ist nicht die sinnliche Gestalt gemeint, die ja bei allen Instanzen einer jeweiligen Sache (wie von jeweils ‚Feuer‘, ‚Dreieck‘, ‚Mensch‘ etc.) tatsächlich differiert, sondern der substantielle Unterschied, welcher ausschließlich begreifbar, intelligibel ist. Dass solche Unterschiede wie ‚verzehrende Flamme‘, ‚ebene, geradlinige Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln‘ oder ‚rational begabtes, sterbliches Lebewesen‘ jedoch auch dann in distinkter Weise gedacht werden können, wenn sie gerade gar nicht materiell realisiert sind (nicht überall brennt es, nicht alles ist Dreieck oder Mensch), zeigt, dass sie von sich selbst her intelligibler Natur sind, weshalb Plotin immaterielle Ideen (ahyla eidê) als sachliche Prinzipien ihrer sekundären, enhyletischen Instanzen unterscheidet. Aristoteles also (a) kritisiert, nicht-substantielle, generische, weil auf vieles Verschiedene konfus zutreffende Allgemeinbegriffe als Ideen (im Sinne Platons) auszugeben, und (b) versucht, das spezifisch-allgemeine (nicht-partikuläre), substantielle Sein einer Sache zu ermitteln: Sein Erkenntnisweg zielt auf das bestimmt-wesentliche Sein, welches in sinnlich-wahrnehmbaren Dingen / Instanzen verwirklicht ist. Plotin will aus umgekehrter Perspektive zeigen, wie das substantielle Sein einer Sache, welche begreifbarer, intelligibler Natur ist, (c) für sich selbst als immaterielles Eidos (eidos ahylon) erfasst werden kann, aber davon getrennt (d) als Bestimmungsmoment materieller Dinge (eidos enhylon) unterschieden werden muss. Aristoteles’ Kritik (a) erzwingt gleichsam Plotins Differenzierung zwischen (c) und (d), weil Aristoteles’ Ziel (b) zunächst zur Ermittlung von (d) führt: nämlich zur Unterscheidung dessen, was an einem materiellen Gebilde wesensbestimmend, also das enhylon eidos eines Syntheton ist. Ist aber etwa die Bestimmtheit ‚Dreieck‘ einheitlich als sie selbst bei allen wahrnehmbaren Dreiecken (trotz deren unterschiedlicher Gestalt und Ausprägung dieses substantiellen Unterschieds) erfassbar, dann wird sie sowohl als sie selbst und gemäß sich selbst bei jedem einzelnen Dreieck verwirklicht, erkannt und ausgesagt, als auch besteht sie für sich selbst, ist insofern unpartizipierbar und als solche unabhängig von diesen materialisierten Einzeldreiecken unterscheidbar (c: als ahylon eidos). Aristoteles zielt vor allem (b) auf die einheitliche Sache unter den vielen Bestimmungsmomenten eines wahrnehmbaren Gegenstands. Plotin zielt auf die einheitliche Sache, insofern sie einerseits (c) für sich selbst unterscheidbar und insofern seiend ist (ahylon eidos), und trennt davon, wie diese eine Sache (d) als sie selbst in ihren vielen Instanzen unterscheidbar ist (enhylon eidos). Aristoteles (a) legt scharfe Unterscheidungskriterien vor, um überhaupt in der vielheitlichen, materiellen Welt tatsächliche eidetische Bestimmtheit zu ermitteln. Plotin zeigt einerseits die in der Vielheit der Instanzen realisierte Sacheinheit auf und führt anderereits zur Unterscheidung dieser Sacheinheit für sich selbst, die von ihren Instanzen unabhängig Bestand hat und somit von diesen unpartizipierbar verharrt.
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c) Plotins Theologie: Ideenlehre, Mythos und die Integration von Mono‑ und Polytheismus Wenn Plotin einerseits Aristoteles’ und Platons grundsätzliche Unterscheidung von Materie und Form (Eidos) aufgreift und andererseits die Möglichkeit der Verbindung von beidem in zusammengesetzten Einzeldingen (syntheta) dadurch erklärt, dass zwischen immateriellen und materieverhafteten Eidê differenziert werden muss (nur ein materieverhaftetes Eidos gehört als Formursache zu einem zusammengesetzten Einzelding), dann bleibt jetzt zu fragen, welche theologische Relevanz diesen ontologischen Überlegungen bei Plotin zukommt. Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst von der Ideenlehre aus der Blick auf das oberste Prinzip aller Ideen und alles Seienden gelenkt werden. Wie am Beispiel des Dreiecks gesehen, darf die Idee des Dreiecks nicht mit einem sog. ‚idealen Gegenstand‘ bzw. einem ‚Ideator‘ verwechselt werden.231 Dass es gemäß platonischer Mathematikauffassung und Dialektik eine Idee des Dreiecks gibt, wird vielmehr dadurch begründet, dass eine nicht-gegenständliche, nicht-dingliche, nicht-anschauliche, aber geistig begreifbare (intelligible) Sache ermittelt werden kann, die trotz aller Unterschiede zwischen (auch ‚ideal vorgestellten‘) Einzeldreiecken in einshafter Sachidentität Bestand hat: nämlich in dem begrifflich fassbaren Unterschied, dass es grundsätzlich nur eine Möglichkeit gibt, eine geradlinig-ebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu sein – als Dreieck. Dieser begrifflich fassbare Unterschied liegt allen Einzelfällen des Dreieck-Seins als gleichseitiges, rechtwinkliges etc. Dreieck voraus, weil er in ausschließlicher und vollkommener Weise die Sache Dreieck unabhängig von ihr sachfremden Bestimmungen wie Rechtwinkligkeit, Gleichseitigkeit etc. umfasst. Dieser substantielle Unterschied verweist also auf das intelligible Sein der einheitlichen Eidos-Ursache ‚Dreieck‘. Damit wird an dem Dreiecks-Beispiel ersichtlich, dass (a) ein Eidos eine Sache auf einheitliche Weise umfasst und (b) dieses Eidos, wie gesagt, keine gegenständliche Existenz, sondern eine ausschließlich intelligible Subsistenz besitzt.232 Oben wurde bereits ausgeführt,233 dass bei Platon selbst der Fluchtpunkt des einen absoluten Seins, von dem bereits der Vorsokratiker Parmenides spricht, einerseits in der Bestimmung des absoluten Einen liegt, andererseits aber in der Bedingtheit alles Seienden durch das Eine. Dies kann nun von Plotin her dahingehend präziser interpretiert werden, dass in ihrer Gestaltetheit alle Materie von enhyletisch in ihr präsenten Eidê geformt Vgl. Schmitt (2003 a: 412). Diese Ergründung des nicht-gegenständlichen, rein geistig-begreifbaren Seins trägt wesentlich zu der in Kap. I.2 b angesprochenen Elastizität platonischer Philosophie bei (vgl. Schmitt 2011: XI, 169): Es geht gerade nicht um die Verabsolutierung äußerer Sinnesmerkmale, sondern um das Begreifbare, was in der Verschiedenheit der Sinnesdinge und auch über diese Verschiedenheit hinaus Einheit und Verständnisbrücken stiften kann. 233 S. o. Kap. II.2. 231
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ist, diese aber wiederum in Abhängigkeit zu den ahyletischen, wahrhaft und ewig seienden Eidê gesehen werden müssen. Wenn es das Charakeristikum der Ideen ist, einen Sachunterschied als diesen selbst in einshafter Weise zu umfassen (s. Dreiecks-Beispiel), dann ist weiter zu fragen nach der Ursache dieser Einheitlichkeit der einzelnen Ideen (etwa der Ideen der Schönheit, der Gerechtigkeit etc.). Diese Einheitlichkeit kann nur aus einer universellen Ursache von seinsbestimmender Sacheinheit abgeleitet werden: dem absoluten, überintelligiblen Einen, welches allen Ideen und dem seienden, intelligiblen Einen (als Inbegriff des Ideen-Kosmos und seiender Bestimmtheit) vorausliegt.234 Wie ist diese Verursachung aber gemäß Plotin genau zu verstehen? Es mag nahe liegen, hier eine systematisch analoge Erklärung zu vermuten wie bei dem Zusammenhang zwischen Materie, enhyletischem Eidos und ahyletischem Eidos. Dies wurde bereits von Horn (1995) der Sache nach gezeigt, obwohl Horn, wie im letzten Teilkapitel gesehen, Plotin erstaunlicherweise unterstellt, die Unterscheidung von ahyletischer und enhyletischer Idee sachlich aufgegeben zu haben. Horn gelangt aber in seiner Analyse zu einem Befund, welcher im analogen Einklang steht mit genau dieser Unterscheidung, und bezieht sich dabei auf folgende Plotin-Stelle: Das Eine nun, wenn das in jeder Hinsicht Eine [sc. gemeint ist], welchem nichts anderes beiwohnt – nicht Seele, nicht Intellekt, nicht sonst irgendetwas –, dieses kann wohl über nichts ausgesagt werden, so dass es auch kein Genus ist. Wenn aber das dem Sein (to on) beiwohnende [sc. Eine gemeint ist], bei welchem wir von dem seienden Einen sprechen: dieses ist nicht primär Eines (enn. VI, 2 [43] 9, 5–9).
Diese Passage interpretierend führt Horn aus: […] so sind hier drei verschiedene Größen zu konstatieren, nämlich zusätzlich zum absoluten Einen und zum Einen-Seienden noch das Eine, ‚auf dessen Grundlage wir vom Einen-Seienden sprechen‘. Augenscheinlich kennt Plotin also zwei Einheiten; dabei versteht er die zweite Einheit als Größe, die im hen on präsent ist (Horn, 1995: 296).
Auch wenn der Terminus ‚Größe‘ für die platonischen Begriffe des absoluten Einen, des seienden Einen und des vermittelnden Einen weniger passend sein dürfte,235 unterscheidet Horn in seiner Plotin-Interpretation überzeugend zwischen (a) dem absoluten Einen, (b) dem seienden Einen und (c) einem Einen, welches die Grundlage für die Einheit des seienden Einen ist. Man kann viel234 Zur Deutung des seienden Einen als Ideenkosmos bzw. des Ideenkosmos als „die Selbstentfaltung des seienden Einen“ vgl. Halfwassen (2004: 70): „In seiner Entfaltung in das Ganze der Ideen vermittelt sich darum das Sein zu sich selbst; durch sie ist es das, was es ist, nämlich die Einheit aller Ideen.“ Vgl. ebenso Halfwassen (2008 b: 204–5). Zur Unterscheidung der Termini Inbegriff und Vorbegriff in prinzipientheoretischer Hinsicht s. Halfwassen (1996: 72). 235 Eine ‚Größe‘ ist grundsätzlich nach platonischem Verständnis eine kontinuierliche Vielheit. Größen sind also in spezifischer Weise geometrische Figuren (vgl. Radke 2003: 16). Das Eine kann daher keine Größe sein; es ist aber auch keine Zahl, weil es als Eines nichts Zählbares ist, sondern Prinzip von Zahl (vgl. Radke ibd., 436).
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leicht darüber streiten, ob Plotin hier tatsächlich nur zwischen zwei oder doch zwischen ‚drei Einen‘ bzw. drei Einheitsbegriffen differenziert. Der Sache nach scheinen hier gemäß Plotin und auch gemäß der von Horn genannten „drei Größen“ aber wohl doch drei Eine gemeint zu sein: (a) Das absolute Eine ist (auf vor-seiende Weise) ausschließlich Eines, als Voraussetzung allen bestimmten Seins also auch dem Sein selbst vorausliegend-transzendent. (b) Das seiende Eine als erstes bestimmtes Seiendes und alle Ideen komplexiv umfassende Totalität236 ist von Einheit in höchstmöglicher Weise bestimmt. (c) Dieses Bestimmtsein geht auf ein ihm innewohnendes Eines zurück, welches aber von (a) zu unterscheiden ist: Denn (a) kann als absolutes, transzendentes Eines keinem anderen zukommen, ohne seine Transzendenz als dieses Absolute einzubüßen. (c) ist also die vermittelnde Instanz (‚vermittelnde Mitte‘), die aber noch als sie selbst unterschieden werden kann und muss von (b) als dem durch diese vermittelnde Einheit entfalteten seienden Einen selbst, in welchem die beiden Aspekte der Einheit und des Seins als seiende Einheit, also in geeinter Weise verbunden sind.237 Daher kann analog zu der Unterscheidung zwischen immateriell-transzendenter Idee, materieverhafteter Idee und von Letzterer bestimmter Materie auch hier zwischen dem transzendenten Einen, dem vermittelnden Einen und dem seienden Einen unterschieden werden – freilich nur unter dem wichtigen Zusatz, dass das seiende Eine als Inbegriff der eidetischen Seinsfülle nicht mit der völlig unbestimmten, allen bestimmten Seins ermangelnden Materie auf eine Stufe herabgesetzt werden darf, denn es handelt sich lediglich um eine Analogie. In dieser Analogie aber sind die drei Aspekte, welche man partizipationstheoretisch mit Proklos als Unpartizipierbares-Partizipiertes-Partizipierendes in Verbindung bringen darf, enthalten. Während jedoch die Materie von sich selbst her keinerlei Bestimmtheit hat und ihre eidetische Gestaltung durch ihr fremde Formprinzipien (Ideen) erhält, umfasst im Gegensatz dazu das seiende Eine als Gipfel und Inbegriff der Ideen gerade alles Sein in sich selbst. Die über die Vermittlungsinstanz geleistete Anteilhabe am absoluten Einen, welches letzte Ursache aller Einheit ist, kommt dem seienden Einen also nicht als etwas Fremdem zu, sondern diese vermittelte Anteilhabe am absoluten Einen ist dessen direkte Selbstentfaltung, wobei dieses als absolutes Eines auch absolut es selbst bleibt, aber aus seiner Überfülle238 diese Vermittlungsinstanz entspringen lässt, welche, in Horns Formulierung, „Grundlage“ des seienden Einen ist. 236 Vgl. Halfwassen ([2004: 71]; [2008 b: 204, 206]), Tornau (2014: 196) sowie Beierwaltes (2011: 110): „im Einzelnen (in jeder einzelnen Idee) sieht das Denken perspektivisch das Ganze, vom Ganzen her aber bewahrt es das Einzelne in einem durch Selbstreflexion vollzogenen Zusammenhang.“ 237 Vgl. auch enn. VI, 2 [43] 9, 39–42. 238 Zur Überfülle bei Plotin vgl. Halfwassen (1992: 114–130) sowie ders. (2008 b: 205): „Wie das Licht in seiner Ausbreitung in sich bleibt, so geht die Einheit in ihrer Entfaltung nicht aus sich heraus.“ S. ebenso Beierwaltes (2001: 146) zu folgender Stelle: kai to hyperplêres autou
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Wenn also gemäß Plotin (1) das höchste Eine (hen) als das Absolute schlechthin gelten muss, welches noch über dem Sein steht, da das Sein Implikat des Einen ist, und wenn (2) das Sein bzw. das seiende Eine (hen on) als alle Ideen komplexiv umfassende Totalität zu begreifen ist, dann liegt von der Ontologie und Ideenlehre her der theologische Rückschluss auf den Primat des Einen als höchster Gottheit vor der Vielheit der (Ideen‑)Götter nahe, wobei auch diese Vielheit von Einheit durchdrungen und gehalten ist (durch das seiende Eine). Lässt sich dieser theologische Rückschluss am Text erhärten? In einer Art Anleitung zum Beten und zur Schau empfiehlt Plotin, den Gott (des Intelligiblen) anzurufen:239 Dieser [sc. Gott] aber möge [sc. zu Dir, dem Beter] kommen, seine Welt (kosmos) bringend, zusammen mit allen in ihr [sc. wohnenden] Göttern, er, der Einer und Alle ist, und jeder Einzelne Alle, zusammenseiend zum Einen, obwohl zwar verschieden ihren Vermögen nach, aber durch jenes eine, vielfältige [sc. Vermögen] Alle Einer; vielmehr aber der Eine Alle; denn nicht lässt er selbst nach, wenn Alle jene entstehen; zugleich aber sind sie, und doch jeder Einzelne wieder für sich (chôris) in einem differenzlosen Stehen (stasis adiastatos), ohne irgendeine sinnlich wahrnehmbare Gestalt zu haben […]. Dieses aber ist – das Ganze – ein Allvermögen, ins Unbegrenzte gehend, ins Unbegrenzte vermögend; und so groß ist jene [sc. Welt], dass auch ihre Teile unbegrenzt sind (enn. V, 8 [31], 9, 14–27).
In diesem nahezu ekstatischen Passus beschreibt Plotin einen Gott, der dem Beter erscheinen möge, indem er die Welt, welche er in sich trägt, mitbringt und die darin wohnenden Götter. Aus dem Zitat und seinem inhaltlichen Kontext erhellt, dass Plotin nicht von einer sinnlich-wahrnehmbaren Welt spricht, sondern von der intelligiblen. Damit scheint Plotin die Gottheit zu meinen, welche auf philosophischer Ebene dem hen on, dem seienden Einen entspricht: Auch das seiende Eine, prinzipiiert vom absoluten, vor‑ bzw. überseienden Einen und diesem unterstellt, enthält in sich die Fülle der einzelnen intelligiblen Ideen als Totalität. Ebenso spricht Plotin in diesem Abschnitt theologisch davon, dass dieser Gott „Einer und Alle“, also ein von Einheit substantiell durchdrungener EinGott und doch zugleich auch alle Götter ist. Daher bringt er die Vielheit aller in ihm wohnenden Götter zugleich mit: Jeder einzelne von ihnen wiederum ist Alle, d. h. jeder einzelne Gott ist zugleich die jeweils anderen Götter, und zwar pepoiêken allo (enn. V, 2 [11], 1, 8). S. ferner Chlup (2012: 62) zu enn. V, 4, [7] 1, 23–26. Zum Begriff der Überfülle bei Proklos vgl. unten Anm. 342. Der Begriff der (überseienden) Über-Fülle hat in dem Gedanken der Seinsfülle, die schon bei Parmenides aus Elea philosophisch begründet ist (frg. 8, 24 b, s. o. Kap. II.1) seinen Vorläufer, dessen superlative Überbietung er zugleich ist. 239 Vgl. Beierwaltes (2001: 59–60; 2011: 113) sowie Alt (2005: 119) zur Stelle. Zur inhaltlich ähnlichen Passage enn. V, 3 [49], 17, 28–31 vgl. Alt (ibd., 123) und Chlup (2012: 260). Chlup (2012: 162) meint, der von Plotin in enn. V, 8 [31], 9 genannte Gott sei aus Proklos’ (!) Perspektive zu verstehen als Intervention eines „daemon (though one that no doubt in turn derives from the god this daemon is correlated with).“ Dass daimones als Mittlerwesen zwischen Gott und Mensch bei Proklos fungieren, sei unbestritten; jedoch ist Plotins Beschreibung des Gottes, der alle Götter in sich trägt, weit mehr als die Epiphanie einer Mittlerinstanz.
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„zusammenseiend zum Einen“, in einer Weise, die zum Einen hin gerichtet und von Einheit bestimmt ist. Auch dieser Aspekt lässt sich im Rahmen der platonischen Ideenlehre interpretieren, und zwar als die Ideenkoinonie, als die Gemeinschaft und Anteilhabe der einzelnen, für sich unterscheidbaren intelligiblen Ideen aneinander:240 Jede Idee ist ein Eines, Identisches, Distinktes, Ganzes, ruhend und bewegend (qua Ursache für alles an ihr Anteilhabende). Ebenso hat gemäß Plotin auch jeder Gott ein bestimmtes Wirkvermögen und ist dadurch distinkt von den übrigen Göttern, zugleich aber sind diese verschiedenen Vermögen zusammen ein vielfältiges, also ein die Vielheit der Einzelvermögen komplexiv einendes Vermögen. Denn der eine Gott erleide in seiner Einheit keinen Mangel, wenn die Vielheit der Götter in seinem Kosmos entsteht. Und auch hier präzisiert Plotin sogleich wieder, dass dieses Entstehen kein Werden im irdisch-menschlichen Sinne meint, sondern dass diese vielen Götter in dem einen Gott „zugleich sind“. Die Einheit geht zwar ontologisch-prinzipienhaft der Vielheit voraus; jedoch wird sie gerade nicht eingebüßt, sondern bleibt sowohl als sie selbst (als der eine, keinen Mangel erleidende Gott) wie auch als einendes Prinzip der in ihr geeinten Vielheit (in den vielen Göttern) bestehen. In hymnischer Sprache führt Plotin aus, wie diese in höchster Weise geeinte Vielheit der Götter zulässt, dass die einzelnen Götter zwar für sich unterscheidbar sind, dies aber nach Art eines „differenzlosen Stehens“, also ohne eine diese Einheit zersetzende heterogene Vielheitlichkeit. „Das Ganze“, d. h. der Gott in seiner Welt mit den vielen Göttern, ist ein „Allvermögen“, welches in seiner Ganzheit ins Unbegrenzt-Unendliche zielt und unbegrenzt wirksam ist, so dass auch die Teile dieses Ganzen sogar selbst unbegrenzt sind. Wenn diese Interpretation zutrifft, dann expliziert Plotin hier theologisch (in entsprechend hymnisch-ekstatischer Weise), was er andernorts philosophischmetaphysisch erklärt: Die intelligiblen Ideen verweisen in ihrer Distinktheit und Unterscheidbarkeit als jeweils ein Eines (‚Dreieck‘, ‚Gerechtigkeit‘) auf das seiende Eine selbst als Ursache ihres Seins. Dieses seiende Eine überragt die einzelnen Ideen, weil es diese alle auf seiende Weise in sich trägt und als Totalität umfasst. Insofern die Vielheit der einzelnen Ideen hier auf die Einheit aller Ideen hin transzendiert ist, ist dieses seiende Eine ganz von Sein und Einheit durchdrungen, bevor es in die Vielheit der einzelnen Ideen tritt. Als seiendes Eines ist es aber nicht das Absolute, sondern seinerseits prinzipiiert und abhängig vom dem absoluten Einen, welches die Ebene des Seins transzendiert und der Zweiheit von Einheit und Sein vorausliegt. Dieses absolute Eine entfaltet seine überseiende, aller Unterscheidbarkeit vorausliegende Überfülle jedoch dadurch, dass ein Eines aus ihm hervorgeht, welches diese Überfülle in die Unterscheidbarkeit des Seienden führt und so das seiende Eine erzeugt: Dies war partizipations Vgl. Platon, soph. 257a8–9.
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theoretisch mit Horn so gedeutet worden, dass nach dem absoluten Einen ein zweites Eines hervortritt, welches dem Sein verbunden ist und dieses zugleich hervorbringt. Plotin zeigt also, wie der metaphysisch-ontologischen Anteilhabe alles Vielen am Einen in theologischer Hinsicht sowohl polytheistische wie auch mono‑ bzw. henotheistische Aspekte entsprechen, die in unmittelbarer Interdependenz stehen und denen jeweils ihre eigene Berechtigung und Valenz zugesprochen wird: So wie sich das absolute Eine in die Einheit des seienden Einen entfaltet, welches dann die Vielheit aller einzelnen Seienden (d. h. der Ideen) in sich umgreift, so spricht Plotin auch theologisch in der oben übersetzten Passage davon, dass der seiende Gott die einzelnen seienden Götter in seinem intelligiblen Kosmos mit sich bringt: Die Vielheit der Götter ist in diesem einen Gott geeint; der eine seiende Gott ist diese Götter, und diese seienden Götter sind dieser eine Gott, wobei die Einheit der Vielheit als Prinzip vorausliegt und Letztere durchdringt. So wie das seiende Eine als Totalität die Vielheit des Seienden in sich umgreift, die Vielheit also sekundäres Implikat der Einheit ist, so steht auch das absolute Eine über der geeinten Vielheit der Götter. Am Ende der Enneade V, 8 mit dem Titel Über die intelligible Schönheit führt Plotin alle diese Gedanken zu einem großen theologischen Panorama zusammen: [sc. Der Beter habe] gesehen, dass Gott ein schönes Kind geboren und alles also in sich selbst erzeugt hat und die Geburtswehe in ihm selbst schmerzlos war: Denn erfreut über das, was er erzeugte, und seine Kinder bewundernd, hielt er alles bei sich selbst und empfing freudig den Glanz seiner selbst und den ihrigen. Als einziger aber von den anderen, die im Innern verharrt haben, da sie schön sind und schöner, offenbarte sich dieser Sohn, Zeus, nach außen. Von ihm her, und zwar als dem jüngsten Sohn, ist es möglich zu schauen – gleichsam aus einem bestimmten Abbild seiner selbst241 –, wie groß jener Vater und die bei ihm verharrenden Brüder sind. Dieser aber meint nicht, umsonst von dem Vater gekommen zu sein: Denn es ist notwendig, dass durch ihn eine andere Welt (kosmos) ist, schön geworden als Abbild von Schönem. Nicht aber nämlich darf es göttlicherseits statthaft (themiton) sein, dass ein Abbild nicht schön, weder von Schönem noch von Wesen [sc. Abbild] wäre. Es ahmt also das Urbild (archetypon) in jeder Hinsicht nach: Denn auch Leben hat es und das [sc. Sein] des Wesens als Nachahmung und das Schönheit-Sein als von dort her; es hat auch das Immer [sc. Währende] von ihm als Abbild, andernfalls wird [sc. jenes] manchmal ein Abbild haben, manchmal aber nicht, da das Abbild nicht künstlich (technê) entstanden ist. Jedes aber von Natur aus [sc. wesensmäßige] Abbild ist, solange das Urbild verharrend besteht (menê). Deshalb [sc. liegen die] nicht richtig, welche [sc. das Abbild] zugrunde gehen lassen, während doch das Intelligible bleibt, und es so entstehen lassen, als ob der Schöpfer zu einem bestimmten Zeitpunkt (pote) beschlossen habe, es zu schaffen. Welche die Art einer derartigen Schöpfung ist, wollen sie nicht verstehen, noch wissen sie, dass, solange jenes [sc. Urbild] erleuchtet, nicht zu irgendeiner Zeit die anderen Dinge [= die gewordenen Abbilder] zurückstehen, sondern seitdem [sc. jenes] ist, sind auch diese: es war aber immer und wird es sein. Denn man muss diese Inhaltlich zu beziehen auf das Folgende: den Vater.
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Bezeichnungen verwenden aufgrund der Notwendigkeit, [sc. diese Sachverhalte] andeuten zu wollen (enn. V, 8 [31], 12, 3–26).
Über den Gott, der mitsamt den Göttern und seinem Kosmos in sich dem Beter erscheinen möge,242 führt Plotin nun am Ende der Enneade zusammenfassend aus, dass dieser ohne Geburtsschmerzen ein „schönes Kind geboren und alles in sich erzeugt“ habe. Damit wird diese Geburt von einer irdisch-körperlichen strikt unterschieden, bei der das Kind nicht im Gebärenden selbst und auch nicht ohne Schmerzen geboren wird: Dagegen geht es hier um eine göttliche Geburt, die rein geistig-intelligiblen Charakters ist. Wie das seiende Eine (hen on) die Totalität der Ideen in sich enthält, so hält auch der Gott das von ihm Erzeugte, seine Kinder „bei sich“. Einzig allein Zeus sei „nach außen“, also in die sinnliche Wahrnehmbarkeit hinein erschienen. Mit diesem (an dieser Stelle einzig) expliziten Verweis auf einen der traditionellen Götter gibt Plotin zugleich einen impliziten Hinweis darauf, dass der in sich seine schönen Kinder geboren habende (und daher philosophisch mit dem hen on gleichzusetzende) Gott entsprechend als Vater des Zeus interpretiert werden darf: als Kronos, der alle seine Kinder verschlang, außer Zeus.243 Vor dem Hintergrund der platonischen Metaphysik erwächst Plotin hier die Möglichkeit einer allegorischen Deutung des Mythos,244 ohne dass er dies explizit benennt und ausführt – allein die Andeutung genügt bereits. Für Plotin ist an diesem Mythos, den er nicht nur im Sinne einer Sage oder eines Märchens, sondern als ernst zu nehmende Theologie versteht, zunächst der Aspekt wesentlich, dass Kronos seine Kinder verschlungen hat: Dieses Verschlingen muss gemäß herkömmlichem, d. h. sinnlich-literalem Verständnis als grausame Göttergeschichte gelten – daher wird sie nicht ohne Grund von Platon in der Politeia als für „junge und unverständige“ Hörer ungeeignet angesehen, „auch wenn sie wahr wäre“.245 Mit diesem leicht zu überlesenden Nebensatz hält bereits Platon – trotz seiner Kritik – gleichsam eine Hintertür offen: Während dieser Mythos junge Leute zu falschen theologischen Vorstellungen verleiten könnte, wahrt Platon en passant die Möglichkeit, dass dieser Mythos trotzdem wahr sein könnte. Dadurch dass Plotin den Namen Kronos in der oben übersetzten Passage nicht explizit nennt, scheint er Platons Kritik aus der Politeia implizit aufzugreifen und ihr zu folgen. Indem er aber eine allegorische Verständnisebene des Kronos-Mythos andeutet, auf welcher das prima facie Anstößige unerwarteterweise S. o. zu enn. V, 8 [31], 9. S. Hesiod, Th. 459 ff. Plotin macht den Bezug zwischen hen on und Kronos an anderer Stelle explizit (enn. V, 1 [10], 4, 9). Zu Kronos als zweiter Hypostase bei Plotin vgl. Lacrosse (2003: 152) sowie Beierwaltes ([2001: 39–40, Anm. 78; 49], [1985: 120], [2011: 107]). 244 Zum Begriff der neuplatonischen Allegorie und seiner philosophischen Ableitung s. Bernard (1990). 245 Platon, resp. 378a1–4. 242 243
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seine Anstößigkeit zu verlieren und eine theologische Stimmigkeit zu offenbaren vermag, greift Plotin (wiederum implizit) auch die drei unscheinbar-intrikaten Worte Platons ei ên alêthê („wenn es wahr wäre“) auf. Auf diese Weise zeigt sich Plotin als wahrer Platoniker, da er Platon zu beiden Seiten hin – im Sinne seiner Kritik sowie im Sinne der nur angedeuteten Wahrheitsmöglichkeit – folgt. Zeus’ Vater, Kronos, hat im implizit-allegorischen Verständnis Plotins seine Kinder verschlungen, weil er als die Gottheit des hen on, d. h. als seiendes Eines alle seine Kinder – die intelligiblen Ideen – in sich geeint enthält und ist: Die Ideen sind als intelligible Wesen im Innern des Geistes (nous) enthalten, alle zugleich als Totalität. Gegen die philosophische Interpretation des Mythos könnte man einwenden, dass die Kinder des Kronos ja zuerst geboren und danach von ihm verschlungen werden, während das seiende Eine alle Ideen in sich erzeugt und hält. Beim genaueren Hinsehen erweist sich dieser Gegensatz aber nur als vordergründig: Denn der Mythos berichtet qua Erzählung die beiden Aspekte – das Erzeugt- / Geboren‑ und das Verschlungenwerden – selbstverständlich als zeitliches Nacheinander, wobei Plotin selbst im letzten Satz der oben übersetzten Passage auf die Notwendigkeit und Unzulänglichkeiten des Sprachgebrauchs hinweist.246 Im metaphysischen Kontext fallen diese Aspekte jedoch nicht in einem zeitlichen Sinne auseinander: Vielmehr erzeugt der hen on-Gott die Ideen in sich und hält sie auch zugleich in sich. Beide Aspekte des Mythos finden also ihr Äquivalent in der allegorischen Auslegung im Hinblick auf die Metaphysik. Plotin wäre daher vermutlich nicht der Auffassung, er habe in seiner den Mythos evozierenden Andeutung diesen ‚einfach nur umgedeutet‘; im Gegenteil könnte für Plotin der Mythos in dieser philosophischen Ausdeutung seine eigentliche Plausibilität und Verstehbarkeit erreichen und dabei zugleich gegenüber der nur philosophischen Betrachtung der metaphysischen Zusammenhänge an sich den Vorteil bieten, dass die Lebendigkeit und Personalität des Göttlichen gewahrt bleibt und anschaulich wird.247 Anders gesagt: Wenn Plotins implizite Gleichsetzung des Gottes Kronos mit dem hen on eine Berechtigung für sich beanspruchen darf, dann deshalb, weil die im hen on geeinten Ideenwesen als Götter zu begreifen wird, so wie auch die von Kronos verschlungenen Kinder eben Götter sind.248 So wie im Mythos Zeus allein (dank einer List seiner Mutter Rheia249) nicht von seinem Vater verschlungen wird, spricht Plotin davon, dass nur Zeus „sich Vgl. Lacrosse (2003: 40) zu Plotins Mythos-Philosophie, enn. III, 5 [50], 9, 24–29. Zur Lebendigkeit und Personalität des Intelligiblen / Göttlichen im Neuplatonismus allgemein s. Bernard (1990: 95–164, 179–182) und speziell bei Plotin s. Beierwaltes (2011: 103, 112). 248 Diesen Gedanken von der Gleichsetzung der platonischen Ideen mit den traditionellen griechischen Göttern hat Bernard (1990: 180) für den Neuplatonismus hergeleitet und explizit vertreten. S. ebenso Büttner (2000: 146), Beierwaltes (2011: 112–3) sowie Alt (2005: 24). 249 Auch für Rheias List lässt sich eine allegorische Entsprechung finden: Wenn sie im Sinne der unbestimmten Zweiheit (ahoristos dyas, vgl. enn. V, 1 [10], 5, 14–15) als Prinzip der Vielheit und der Materie verstanden werden darf (enn. V, 1 [10] 7, 32), dann könnte die ‚List der Rheia‘ 246
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nach außen offenbart habe“. D. h., Zeus ist in beiden Fällen derjenige, der nicht von Kronos verschlungen wird bzw. nicht im hen on-Gott verbleibt. Man darf Plotins Andeutungen wohl so weiterführen: Dem Aspekt, dass Zeus im Mythos die Herausgabe seiner Geschwister von Kronos erzwingt, entspricht gemäß allegorischer Deutung in der platonischen Metaphysik die Entfaltung des Intelligiblen nach außen hin. Auch wenn das hen on die in ihm erzeugten Ideen in sich umfassend enthält, setzt sich der Entfaltungsprozess der Einheit in die Vielheit trotzdem weiter fort: Das Intelligible verharrt zwar als es selbst, und doch tritt es auch aus sich heraus, entfaltet sich in die einzelnen Ideen und schließlich in seine an der Materie realisierten Abbilder und gibt so die Ideen des hen on, die Kinder des Kronos, „aus sich heraus“ und hinein in die materielle Äußerlichkeit. Auf diesen Aspekt kommt Plotin in der obigen Passage dann wieder direkt zu sprechen: Durch den sich nach außen offenbarenden Zeus wird es möglich, wie „in einem Abbild zu schauen, wie groß jener Vater und die bei ihm verharrenden Brüder sind“. Genau diese ins Äußere entfaltete Wirklichkeit des seienden Einen (Kronos) und der Ideen (der Brüder des Zeus) geschieht nicht unmotiviert und grundlos – Zeus „kommt nicht umsonst“, weil nur über die sinnlichen Abbilder der intelligiblen Ideen diese selbst erschlossen, also der Aufstiegsweg zu ihnen eröffnet werden kann: Ohne Zeus’ Hervortreten wäre die Größe seines verborgenen Vaters Kronos, d. h. die Totalität der Ideen, nicht möglich zu schauen. Aber auch für sich genommen ist das Heraustreten des Zeus aus dem Intelligiblen gemäß Plotin positiv zu bewerten, weil durch ihn ein anderer Kosmos – die sinnlich wahrnehmbare Welt – ins Sein tritt, als schönes Abbild von Schönem, d. h. als Abbild der schönen, weil in Kronos (im Intelligiblen) verharrenden Kinder, der „Ideen-Götter“. Als Abbild ahmt dieser Kosmos das archetypon, das Urbild, „in jeder Hinsicht nach“: Leben, Wesen, Schönheit hat der irdische Kosmos gemäß platonischer Auffassung (und im Unterschied zur modernen) gerade nicht aus sich selbst, sondern nur als sekundäres Abbild des urbildlicheigentlichen Lebens, Wesens und Schönen, welches die Ideen-Götter sind bzw. die Welt ist, welche Kronos in sich enthält. Plotin vertritt dabei die Auffassung, dass als Abbild der göttlichen Ewigkeit der irdische Kosmos selbst auch dauerhaft existiert.250 Für ihn ist es zudem eine z. B. darin bestehen, dass sie die Wirksamkeit des Intelligiblen hin zur Materie hervorlockt, so dass, platonisch gesprochen, der Demiurg-Gott (s. o. Kap. II.2 zu Platon, Tim. 29a2–6) – Zeus – das Intelligible nach außen hin als materielle, sinnlich-wahrnehmbare Welt entfaltet. – Das Verhältnis zwischen der ahoristos dyas und dem hen on bei Plotin ist nicht ganz einfach zu bestimmen: Entweder „bekundet“ die ahoristos dyas ihre Wirksamkeit „in der sich bis ins Unendliche wechselseitig implizierenden Zweiheit von Einheit und Sein im seienden Einen“ (Halfwassen 1992: 284) oder ahoristos dyas und hen on sind sogar identisch (Lacrosse 2003: 179). Vgl. ferner Beierwaltes (2001: 22). 250 Platon selbst hat im Tim. 41a7–b2 die Möglichkeit der dauerhaften Existenz in salomonischer Schwebe gelassen: Solange der Schöpfergott nichts anderes beschließe, existiere alles unauflösbar fort; trotzdem sei alles Zusammengefügte prinzipiell (auf‑)lösbar. Auch Plotin trägt
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philosophisch und theologisch ganz abwegige Position, sich den Schöpfergott als innerhalb der Grenzen der Zeit vorzustellen: Denn dies würde bedeuten, dass der Gott sich zu einem bestimmten Zeitpunkt entschlossen hätte, die Welt zu schaffen. Da das Göttliche aber gemäß Plotin ewig zu denken ist, ist eine solche Theologie irrational und daher abzulehnen: Wer so etwas meine, verstehe nicht die Weise einer derartigen poiêsis, Schöpfung / Hervorbringung. In der Tat stünde man sofort vor dem theologischen Problem, was der Schöpfergott in der Zeit vor der Schöpfung gemacht habe – ein Problem, welches der philosophisch bekanntlich von Plotin inspirierte Kirchenvater Augustinus damit beantwortet, dass die Zeit zusammen mit der Welt von Gott erschaffen wurde und von daher die Frage, was Gott (zeitlich) vorher gemacht habe, in sich absurd sei.251 Exkurs: Ähnlichkeiten zwischen Plotin (enn. V, 8 [31], 12) und dem Neuen Testament Ohne hier die schwer zu beweisende These einer wirkungsgeschichtlichen Beeinflussung von der einen oder anderen Seite in irgendeiner Weise vertreten zu wollen, sei doch der Hinweis gestattet, dass Plotins Ausführungen in der gerade interpretierten Passage der Sache nach bestimmte theologisch-strukturelle Ähnlichkeiten mit der christlichen Theologie haben. Es geht hier, wie gesagt, nicht um die historische Frage einer möglicherweise, wie auch immer gearteten wechselseitigen Abhängigkeit, sondern ausschließlich um die Ähnlichkeit in der Sache, wie sie an zwei Punkten greifbar wird: (1) Bei Plotin begründet Zeus als nach außen tretender Gott die Möglichkeit, die Größe des intelligiblen, den Sinnen verborgenen Vaters zu ermessen und zu schauen. In der christlichen Theologie des Neuen Testaments ist im Evangelium nach Johannes davon die Rede, dass niemand Gott je geschaut habe, nur der eingeborene Gott, der an der Brust des Vaters ist, habe ihn verkündigt.252 D. h., auch in dem Menschen Jesus Christus tritt der verborgene Gott ‚nach außen‘, wodurch der Vater verkündigt wird; der eingeborene Sohn ruht an der Brust des Vaters, ist also aufs Innigste mit dem Vater verbunden – in grundsätzlich vergleichbarer Weise, wie bei Plotin Kronos (der hen on-Gott) in sich seine Kinder erzeugt und bei sich hält, von denen eines den Vater „nach außen hin offenbart“. Der Unterschied zwischen der johanneischen Theologie und der Plotins besteht in diesem Zusammenhang253 darin, dass bei Plotin der Gott viele Götterkinder dieser Offenheit insofern Rechnung, als das Abbild nur so lange Bestand haben könne, wie das Urbild „verharrend besteht“, auch wenn er sich eindeutig für die Persistenz auch der irdischen Welt ausspricht. 251 Augustinus, conf. XII, 13, 15. 252 Jh 1, 18. – Zum (gewagten) Vergleich zwischen der Rolle Christi im Christentum und der Theologie Plotins s. auch unten im Zusammenhang mit Origenes Kap. IV.3 b. 253 Dass darüber hinaus wesentliche theologische Unterschiede zwischen der Theologie Plotins und der christlichen bestehen, ist evident und braucht hier nicht im Einzelnen belegt zu
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in sich erzeugt, während bei Johannes nur von einem „eingeborenen Gott“ die Rede ist. (2) Außerdem sagt Plotin über Zeus, dieser meine nicht, umsonst von seinem Vater gekommen zu sein, denn durch diese Offenbarung nach außen, hinein in die sinnlich-wahrnehmbare Welt wird erst der Vater, Kronos, in seiner ganzen Größe erkennbar (zumindest für die Seelen, welche noch keine intellektive Schau erlangt haben). Auch dieser theologische Gedanke hat ein Pendant in der christlichen Heiligen Schrift, denn bei Jesaja heißt es: „So wird mein Wort sein, welches ausgeht aus meinem Munde: Es wird nicht leer (= ohne etwas erreicht zu haben) zu mir zurückkehren.“254 Vom Neuen Testament her im Hinblick auf Christus als das Wort Gottes interpretiert, lässt sich der Jesaja-Vers so lesen, dass die Mission des Logos / Christus, seine Menschwerdung nicht umsonst sein, sondern ihr Ziel erreichen wird. Auch hier gilt wieder: Bei allen unverkennbaren Unterschieden zwischen der Theologie des Neuen Testaments und derjenigen Plotins erscheint dieser Charakterzug, insofern die Wirksamkeit der Offenbarung des / eines unsichtbaren Gottes in die Sichtbarkeit hin gemeint ist, doch vergleichbar zu sein. Auf beide strukturell gemeinsamen Vergleichspunkte zwischen Platonismus und Christentum soll später zurückgekommen werden.255 *** Im letzten Kapitel der Enneade V, 8 führt Plotin sein Metaphysisches und Theologisches zusammenschauendes Panorama weiter aus: Der Gott nun, der zum Verharren so gefesselt ist und seinem Kind zugestanden hat, über dieses All zu herrschen – denn nicht war es für ihn angemessen, die Herrschaft dort [sc. im Intelligiblen] aufzugeben und [sc. dafür] eine ihm gegenüber jüngere und geringere zu verfolgen, als ob er einen Überdruss an den Schönen hätte –, verzichtete auf diese Dinge, stellte sowohl seinen Vater in Hinsicht zu sich selbst und bis dort hin zu dem Oberen; er stellte aber wiederum auch das zur anderen [sc. Richtung] hin, was von seinem Kind her, nach ihm zu sein begonnen hatte, sodass er zwischen beiden war sowohl durch die Verschiedenheit des Abgeschnittenseins im Hinblick auf das Obere als auch im Hinblick auf das Untere durch die von dem nach ihm [sc. Seienden] oben fernhaltende (anechonti) Fessel, in der Mitte seiend zwischen sowohl dem überlegenen Vater als auch dem geringeren Sohn. Aber da der Vater ihm zu groß für die Schönheit war, blieb er selbst der auf primäre Weise Schöne. Gleichwohl ist auch die Seele schön: Aber er ist schöner auch als diese, weil sie [sc. nur] eine Spur von ihm hat, und deshalb ist sie zwar schön ihrem Wesen nach, noch schöner aber, wenn sie dorthin [sc. zum Intelligiblen] schaut. Wenn nun die All-Seele – damit wir deutlicher sprechen: – d. h., Aphrodite selbst schön ist, wer ist jener? werden. Z. B. tritt Jesus Christus kraft seiner Menschwerdung sichtbar hervor, während Zeus selbst zwar unsichtbar bleibt, gemäß Plotin den intelligiblen Kosmos aber in die sinnliche Wahrnehmbarkeit ‚herausführt‘ – beide Male also tritt das Göttliche aus seiner Unsichtbarkeit heraus. 254 Jes 55, 11. 255 S. dazu unten Kap. IV.2.2 a zu Paulus (Rö 1, 20), Kap. IV.3 a Origenes, Kap. IV.6 zu Boethius und Kap. V zu Nikolaus von Kues.
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Denn wenn [sc. sie] zwar von sich selbst her [sc. schön ist], wie groß wohl mag jenes sein? Wenn [sc. sie] aber von einem anderen [sc. her schön ist], von wem hat die Seele sowohl die fremde als auch die ihrem Wesen verbundene Schönheit? Da ja auch, wann immer [sc. Menschen] auch selbst schön sind, [sc. sie es sind] durch ihr Bei-sich-Sein, hässlich aber, wenn sie zu einer anderen Natur übergehen: Und durch Selbst-Erkenntnis [sc. sind sie] schön, hässlich aber durch Selbst-Verkennung. Dort [sc. im Intelligiblen] also und von dort her ist das Schöne. Genügt nun das Gesagte, um zu einem einleuchtenden Verständnis des intelligiblen Ortes zu führen, oder ist es nötig, auf einem anderen Weg wiederum einen neuen Anlauf hierher zu unternehmen? (enn. V, 8 [31], 13, 1–24)
Der „zum Verharren gefesselte Gott“ ist, wie oben bereits konstatiert, Kronos, der seine Kinder verschlang, aber auf Zeus’ Wirken herausgeben musste: Kronos bzw. der Gott des seienden Einen, welcher alle seine Kinder bei sich hält in der ewigen Totalität des im hen on geeinten Ideenkosmos, den dieser Gott als seine göttliche Welt mit sich bringt, wie oben gesagt wurde.256 Die Kinder, Brüder des Zeus, die bei ihm (Kronos) verharren, sind die ewigen Ideen. Gemäß diesem Verständnis ist Kronos / das hen on „zum Verharren gefesselt“ – aber in dem Sinn, dass diese Fessel dem inneren Sein des Kronos / hen on entspricht und ihm nicht äußerlich aufgezwungen wird. In dieser Interpretation des Mythos – und hier zeigt sich vielleicht, weshalb Plotin diese mythologischen Zusammenhänge nur indirekt andeutet und kaum einen der traditionellen Götter beim Namen nennt – behält Kronos anscheinend unverändert seine Herrschaft über sein Reich (die intelligiblen Ideen), macht aber seinem Kind (Zeus) das Zugeständnis, über „dieses All zu herrschen“. In Plotins Theologie scheint Zeus Kronos also auf den ersten Blick – zumindest in einer bestimmten Hinsicht – nicht vom Thron zu stoßen. Gleichwohl kommt Zeus der rechtmäßige Anspruch der Herrschaft „über dieses All“ zu, denn Zeus hat in seiner Stellung als Demiurg257 dieses All geschaffen als sinnliches Abbild der intelligiblen Welt des Kronos / hen on: In Plotins Diktion ist die Formulierung „dieses All“ (toude tou pantos) eindeutig ein Hinweis auf die Sinneswelt, während die intelligibel-transzendente als „jene Welt“ (ekeinos ho kosmos) bezeichnet wird. Der Herrschaftsanspruch wird dem Sohn vom Vater „zugestanden“, d. h., das Regiment des Zeus leitet sich von der Herrschaft des Kronos ab und wird ihm von diesem übertragen: Es ist sekundär, und dies ist auch der theologische Grund, weshalb für Kronos gemäß Plotin gar kein Reiz darin bestehen kann, Vgl. Addey (2010: 158–9) zur theologisch analogen Stelle enn. II, 9 [33], 9, 32–39. Die Stellung des Zeus als Demiurg bzw. als Nous oder Seele changiert und muss vom jeweiligen Kontext her interpretiert werden (vgl. enn. III, 5 [50], 8, 11; enn IV, 4 [28], 9, 1–3; zu Zeus als Demiurgen vgl. auch enn. IV, 3 [27], 12, 8–12). – Vgl. Halfwassen (2004: 112) zur Identifikation des Demiurgen mit dem Ideenkosmos bei Plotin (mit dem Hinweis auf enn. V, 1 [10], 8, 4 ff.), s. in ähnlicher Weise Beierwaltes (2011: 94). Zum generellen Problem innerhalb der platonischen Philosophie, die Stellung des Demiurgen gegenüber der Weltseele klar abzugrenzen, s. Alt (2005: 17), zu Zeus als ‚Seele und Nous‘ (ibd., 45). 256 257
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seine angestammte Herrschaft aufzugeben und für eine neue, aber eben sekundär-geringere einzutauschen. Philosophisch-metaphysisch betrachtet steht das Intelligible ontologisch immer schon höher und hat den Status des Ewigen und darf nicht mit dem Sinnlich-Vergänglichen verwechselt werden. Plotin merkt an, dass für Kronos / den intelligiblen Kosmos diese Ewigkeit jedoch nicht mit einem bedauernswerten Mangel an Abwechslung verbunden ist.258 Die ewige intelligible Schönheit ist so stark, dass Kronos ihrer nicht überdrüssig wird und deshalb nicht ‚herabfällt‘ in die Welt der Materie: Kronos verzichtet, weil er in Übereinstimmung mit seinem Sein „gefesselt“ ist, d. h. ganz in der allumfassenden Einheit des Ideenkosmos glücklich und vom Glanz seiner Kinder und seiner selbst ganz erfüllt ist.259 In einer sprachlich zunächst nicht ganz leicht verständlichen Formulierung erklärt Plotin die Herrschaftsaufteilung der Götter folgendermaßen: „Der gefesselte Gott“ stellt seinen Vater vor sich, und zwar nach oben hin. D. h., Kronos weist den Herrschaftsbereich über sich seinem Vater zu (sein Name, Uranos, fällt nicht). Auch hier gibt es für den theologischen Kontext des Mythos eine philosophisch-metaphysische Entsprechung. Über Kronos, dem seienden Einen, steht sein Vater, Uranos: das absolute, überseiende Eine, welches der Zweiheit von Einheit und Sein noch vorausliegt, also auch den gegenüber der Sinnenwelt transzendenten Bereich der im seienden Einen vorliegenden Totalität der ewigen Ideen noch transzendiert. Auch das seiende Eine (hen on bzw. die Totalität des nous / Intellekts) hat noch einen Vater, das absolute hen. Wenngleich eine solche theologische Konzeption mit diesem metaphysischen ‚Unterbau‘ als besondere Leistung Plotins gelten darf, hat sie doch in Apuleius’ Darstellung von Isis und Osiris in dessen Metamorphosen bereits einen Vorläufer, wie oben gezeigt wurde: Isis ist die in ihrer facies uniformis die anderen Gottheiten inkludierende AllGöttin (summa numinum), während Osiris als summum numen der absolut höchste Gott ist, welcher in seiner absoluten Einheit und Transzendenz auch noch Isis überragt, die die anderen Götter ‚nur‘ als geeinte Götter-Vielheit in sich umfasst.260 Das hen on / der nous steht bei Plotin also wie Kronos in der Mitte zwischen seinem Vater Uranos (hen) und seinem Sohn Zeus (dem Demiurgen).261 Deshalb stellt Kronos, „der gefesselte Gott“, zur anderen Richtung – nach unten hin – das auf, was „nach ihm von seinem Kind her zu sein begonnen hatte“, 258 Dieser Aspekt wird von Plotin zuvor auch für die ewige Schau des Intelligiblen geltend gemacht (enn. V, 8 [31], 4, 26–31). 259 S. o. zu enn. V, 8 [31], 12. – Zum Aspekt des Nicht-überdrüssig-Werdens an Gottes Schönheit vgl. im christlichen Kontext bereits Origenes, princ. I, 3, 8; 62, 16–17 (s. dazu unten Kap. IV.3 a). 260 S. o. Kap. II.4.2 b. 261 Zu dem „von Plotin insinuierten Bezug zwischen Hesiods Göttergenealogie ‚UranosKronos-Zeus‘ und der Verbundenheit von ‚Hen-Nus-Psyche‘ “ vgl. Beierwaltes (1985: 120). Zum nicht leicht bestimmbaren Rang des Demiurgen s. o. Anm. 257.
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so dass er gemäß der so entstandenen Herrschaftsordnung die Mitte zwischen seinem überlegenen Vater Uranos und seinem geringeren Sohn Zeus einnimmt. Plötzlich ist es also nicht mehr nur so, dass Kronos die sekundäre Herrschaft über die materielle Welt seinem Sohn Zeus überlässt, sondern auch Kronos selbst erlangt gegenüber dem Absoluten (Uranos) eine sekundäre Stellung. Im Hinblick auf das eigentliche Thema der Enneade V, 8, die ja von der intelligiblen Schönheit handelt, kommt es angesichts dieser Herrschaftsaufteilung bei Plotin nun noch zu einem überraschenden Aspekt: Der Vater (Uranos) des gefesselten Gottes (Kronos) erweist sich, da er das absolute Eine selbst ist, als zu „groß für die Schönheit“. Hier ist ein deutlicher Zug negativer Theologie zu erkennen: Uranos ist ‚nicht schön‘ in dem Sinne, dass Schönheit etwas bezeichnet, was sein Wesen unvollkommen darstellen würde. Uranos / das absolute Eine ist also nicht unschön im Sinne eines Mangels an Schönheit; vielmehr stellt sogar das vollkommene (!) Schön-Sein gegenüber dem absoluten Einen noch einen Mangel dar, ist zu gering, um seinem übervollkommenen Charakter als Eines schlechthin gerecht werden zu können. Das absolute Eine ist also nicht nicht schön, sondern mehr als schön. Dadurch erhält das von ihm prinzipiierte seiende Eine (Kronos) trotz seines sekundären Abgeleitetseins vom Ersteren den Status des primären Schönen. Dies erscheint logisch, denn da Schönheit eine Bestimmung des Seins ist und als solche primär erst auf der Ebene der intelligiblen, wahrhaft seienden Ideen auftreten kann, kommt sie dem die Totalität der Ideen umfassenden seienden Einen primär zu. Theologisch formuliert Plotin, dass er, „der gefesselte Gott“ (Kronos), „auf primäre Weise schön“ bleibt. Nach der Herrschaftsaufteilung, bei welcher Kronos gleichsam ‚nur‘ die Mittelstellung zwischen Uranos und Zeus erlangt hatte, kommt ihm die Schönheit dennoch als erstem zu: er bleibt also „der auf primäre Weise Schöne“. Sogleich ergänzt Plotin, dass freilich auch die Seele schön sei. Da sie jedoch erst von der intelligiblen Welt des seienden Einen her ihr abgeleitetes Sein hat, ist Kronos / das hen on schöner als sie: Die Seele hat von ihrem eigenen Wesen her nur eine „Spur“ der intelligiblen Schönheit, nicht aber diese selbst. Insofern ist sie schön und hat – positiv betrachtet – gerade die Potenz, diese Spur an Schönem zu ‚steigern‘, indem sie „dorthin (ekei) blickt“, also zum Intelligiblen hin. Die All-Seele benennt Plotin als einzige in diesem Abschnitt mit einem theologischen Namen, Aphrodite. Dies scheint eine unterschwellige Überbietung zu implizieren: Wenn doch Aphrodite selbst schön sein muss – obwohl sie als Seele nur eine Spur der Schönheit hat –, wer ist dann jener Gott, der erste Schöne? Diese Frage hat bei Plotin natürlich deshalb ihre besondere Berechtigung, als er zuvor nur andeutend von Kronos als „dem gefesselten Gott“ und von Zeus als „seinem Sohn / Kind“ gesprochen hat: Sie zielt nicht nur auf die Suche nach dem Namen des fraglichen Gottes, sondern vor allem auf die überragende Schönheit des primär schönen Gottes, welcher doch in der Gesamthierarchie ‚nur‘ den Rang des sekundären Gottes nach dem Absoluten innehat. Wenn schon Aphro-
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dite – nur mit einer Spur an Schönheit – von sich selbst her schön ist, wie groß und schön mag jenes auf allererste Weise schöne Wesen sein? Sollte Aphrodite / die Seele aber ‚nur‘ „von einem anderen her“ schön sein, woher kommt ihr die fremde wie auch die eigene Schönheit zu? Diese Frage beantwortet Plotin zunächst mit dem Hinweis, dass Menschen – also Seelen mit der Potenz zum rationalen und intellektiven Erkennen – immer dann schön sind, wenn sie ganz bei sich sind, d. h. wenn sie ihr wahres Sein entfalten; hässlich aber, wenn sie von diesem wahren Sein abfallen und zu „einer anderen“, also einer ihnen nicht wesensgemäßen, „Natur“ wechseln. Das wahre Sein dagegen zeige sich dann, wenn die Seelen sich selbst, ihr wahres Sein erkennen und in Übereinstimmung damit leben. Entsprechend ist für Plotin Hässlichkeit eine Folge der Selbst-Verkennung, wurzelt also in einem seelischen Mangel an Erkenntnis darüber, wer sie – die Seele – eigentlich ist und sein könnte. Da der Quell aller Erkenntnis das Intelligible ist – das hen on als Kronos und die von ihm erzeugte und ‚verschlungene‘, weil bei sich gehaltene Ideenwelt –, deshalb kann Plotin konkludieren, dass das Schöne „dort im Intelligiblen und von dorther ist“. Wenn die Andeutungen Plotins hier wenigstens grundsätzlich angemessen interpretiert worden sind, dann ergibt sich nun also, dass Aphrodite als AllSeele von ihr selbst her nur eine Spur an Schönheit eigen ist. Diese Spur, welche sie besitzt, ist die von ihr selbst zu entfaltende Potenz zum Schönen, welche ihr ursächlich letztlich „von einem anderen“, von der Idee der Schönheit in der in Kronos’ Welt geeinten Totalität aller Ideen her zukommt. Insofern könnte es sein, dass Plotin mit der „fremden Schönheit“ den Aspekt meint, dass die Seinsursache für seelische Schönheit im Intelligiblen liegt, mit der „eigenen Schönheit“ die der Seele als solcher immer schon inhärente Schönheitsspur. Andererseits wäre aber auch denkbar, dass die eigene Schönheit der Seele bedeutet, dass der Seele qua Seele eine eigene geistige Schönheit (spurenhaft) eignet, während die fremde Schönheit diejenige wäre, die sie als Ursache für körperliches Sein nach außen trägt: Die Seele bildet Körperhaftes aus, auch dieses ist schön, jedoch für die Seele qua Seele eine ihr wesensfremde Schönheit. Dazu würde passen, dass Plotin am Ende darauf hinweist, dass Seelen / Menschen durch das Bei-sich-Sein schön sind – also insofern sie etwas Geistiges und vom Intelligiblen her sind, während sie durch Übergang zu etwas anderem (wie zur materiellen Körperwelt) eher drohen, ihre eigene Schönheit zu verlieren: Wenn die Seele nicht mehr weiß, dass sie Seele ist, sondern sich aufgrund ihrer zu starken Körperverhaftetheit ‚in Wirklichkeit‘ selbst für ein reines Körperwesen hält, dann verwirklicht sie durch „Selbstverkennung“ auch ihre eigene Potenz zur seelischen Schönheit nicht mehr. Je nachdem, auf welchen Aspekt man achtet, ist also die „fremde Schönheit“ unterschiedlich interpretierbar, wobei jeweils ein stimmiger Sinn erreicht werden kann. In jedem Fall kann die Selbsterkenntnis der Seele sie also nur dahin führen, zu erkennen, dass sie vom Geist (nous), vom seienden Einen als Fülle der Ideen her
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ihr Sein hat – denn dort ist die Erkenntnis, welche die Seele erlangen muss, um auch sich selbst qua Seele zu erkennen. Ist sie aber durch Selbsterkenntnis schön, dann liegt die wahre Schönheit in dem Quell der Erkenntnis, also im Intelligiblen begründet – in dem Kosmos, welchen Kronos in sich selbst erzeugt hat und mit sich bringen möge, wenn er dem schauenden Beter erscheint.262 d) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse zu Plotin Über Plotins Ontologie und Ideenlehre lassen sich folgende Wesenszüge für seine Theologie und für die Frage nach mono‑ und polytheistischen Aspekten darin resümieren: (1) Ausgehend von der platonisch-aristotelischen Erkenntniskritik und Ontologie, unterscheidet Plotin zwischen Materie und wesensbestimmender Form (Eidos): Ein Haus z. B. ist kein Backsteinhaufen, sondern ein Gebilde, welches zum Schutz seiner Einwohner dient und dafür auf bestimmte Weise konstruiert sein muss, um diese Funktion zu erfüllen. Die Unterscheidung zwischen Materie und Eidos führt (wie der Sache nach auch schon vor Plotin, z. B. bei Apuleius263) zur weiteren Differenzierung von materieverbundenen (enhyla eidê) und immateriellen Formen (ahyla eidê): Das einzelne Haus oder das einzelne Feuer sind jeweils eine materialisierte Form als Instanz der allgemeinen, immateriellen Form ‚Haus‘ bzw. ‚Feuer‘. Während jedes einzelne Dreieck zwar qua Dreieck die Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln aufweist, ist es doch immer schon ein Spezialfall der Möglichkeit, Dreieck zu sein (z. B. entweder ein gleichseitiges oder ein rechtwinkliges Dreieck etc.). Wenn es aber darum geht zu ergründen, was ein Dreieck unabhängig von den Akzidentien der Gleichseitigkeit oder Rechtwinkligkeit zum Dreieck macht, dann wird schnell klar, dass es dieses auf der Ebene der Vorstellbarkeit gar nicht geben kann. Hier eröffnet sich ein Scheideweg, der in der Konsequenz kaum radikaler sein könnte: Entweder es wird positivistisch der Schluss gezogen, dass es nur Einzeldinge bzw. Einzeldreiecke gibt – über die Vorstellbarkeit und Wahrnehmbarkeit hinaus wäre nichts. Dann wäre ein Wesen eines Dreiecks qua Dreieck nicht ergründbar, denn jedes Einzeldreieck hat mehr Bestimmungen an sich, als ihm ausschließlich qua Dreieck zukommen (wie Rechtwinkligkeit, Stumpfwinkligkeit etc.) – das rationale Denken an sich wäre somit leer, wenn es versuchen wollte, anhand bloßer Sinnesdaten eine allgemeine Bestimmung wie ‚Dreieck‘ zu ergründen, und die Akten wären zu schließen.264 Oder aber die platonische Erkenntniskritik führt zu dem Aufweis, dass dieses Wesen ‚Dreieck‘ qua Dreieck, insofern es nicht auf einen Einzelfall wie das stumpfwinklige oder unregelmäßige Dreieck etc. hin eingeschränkt ist, zwar in der Tat kein solches Seiendes zu enn. V, 8 [31], 9, 14 f. Kap. II.4.2. 264 Sehr eindrücklich und anschaulich ausgeführt (und kritisiert) wird diese Konsquenz bereits von Boethius, cons. V, 5p, 5–7. 262 S. o. 263 S. o.
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sein kann, welches auf den Ebenen der sinnlichen Wahrnehmbarkeit und Vorstellbarkeit existiert, sondern sein Sein auf einer höheren Erkenntnisebene rein begreifbarer, rational erschließbarer Sachgehalte, d. h. intelligibler Ideen, hat. Für diese Annahme solch einer Erkenntnis‑ und Seinsebene spricht zumindest, dass sich eine einheitliche Bestimmung für ein intelligibles Eidos ‚Dreieck‘ ermitteln lässt: das Sein einer ebenen, geradlinigen Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln.265 Dieses Eidos ist nicht wie ein Einzeldreieck ein bloß eingeschränkter Repräsentant der Möglichkeiten, Dreieck zu sein, sondern besteht unabhängig von diesen Einzelfällen, transzendiert sie auf das spezifische Allgemeine hin, welches wirklich ausschließlich das Dreieck-Sein qua Dreieck einkreist und dabei alle davon abgeleiteten, sachlich späteren Einzelfälle in sich als Einheit umgreift. Es ist also mehr Dreieck, als es ein Einzeldreieck zu sein vermag, hat entsprechend ein prägnantes, gefülltes Sein als intelligibles Eidos im Unterschied zur Konzeption einer von sich selbst her leeren Ratio, welche an den Partikularitäten von Einzelfällen verhaftet bleibt und sich von diesen nicht zu befreien vermag. Im Sinne Plotins ist das Eidos ‚Dreieck‘ also ein rational begründbarer Repräsentant immaterieller, ahyletischer Ideen. Denkt man dieses erkenntniskritische Beispiel weiter, dann lässt sich erahnen, warum Plotin von einem ganzen Kosmos intelligibler Ideen (wie von ‚Schönheit‘, ‚Gerechtigkeit‘ etc.) spricht. So wie das intelligible Eidos ‚Dreieck‘ in einheitlicher Weise die vielen einzelnen Möglichkeiten, Dreieck zu sein, in sich umgreift, also eine gegenüber dem SinnlichWahrnehmbaren und Vorstellbaren reichere, komplexere Einheitlichkeit zeigt, so sei auch der intelligible Kosmos als ganzer in seinem Sein von höherer Einshaftigkeit geprägt: Die Ideen stehen in ihrem intelligiblen Sein nicht bezugslos zueinander, sondern haben miteinander Gemeinschaft.266 Daher spricht Plotin von dem seienden Einen (hen on) als geeinter Fülle aller intelligiblen Ideen: Wie die einzelne Idee einer Sache deren Einzelmöglichkeiten einheitlich umfasst, so analog das hen on die einzelnen Ideen. Graduell eröffnet sich also ‚nach oben hin‘, in Richtung des Intelligiblen, ein immer höheres, umfassenderes, durch größere Einheit charakterisiertes Sein. (2) Da also das Sein von Einheit her bestimmt ist, wird ersichtlich, dass im Letzten die Einheitlichkeit dem Sein bestimmend vorausgeht bzw. ‑liegt: Das 265 Auf die Problematik der modernen Mathematik (nicht-euklidische Geometrien) kann hier nicht gebührend eingegangen werden. Dazu, dass zumindest nicht vorschnell der Schluss gezogen werden sollte, dass die ‚alte Geometrie‘ von den ‚neuen Geometrien‘ im Sinne eines allgemeinen, unkritischen Fortschrittsglaubens einfach überholt worden sei, sondern dass sich inhaltliche, erkenntniskritische Gründe anführen lassen, die Geometrie Euklids auf der Basis platonischer Philosophie gegenüber den auf kantianischen Annahmen fußenden nichteuklidischen Geometrien zu verteidigen, vgl. Schmitz (1996, 1997, 1998, 2000, 2010) sowie die grundsätzlichen Anmerkungen in Drews (2011: 166–7, Anm. 367). S. ferner zu Cusanus Kap. V.b mit Anm. 1141. 266 Vgl. Platon, soph. 257a8–9.
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absolute Sein – das seiende Eine (hen on) – ist in sich gemäß Plotin noch Zweiheit von Einheit und Sein. Das Absolute schlechthin kann daher nur das Eine selbst (hen) (sein), welches als überseiendes Eines die Ebene des intelligiblen Seins der Ideen noch überragt. Ihm ist das Sein daher im Sinne der Eminenz (nicht des Mangels!) abzusprechen. Daher legt Plotin dar, dass aus dem absoluten Einen überhaupt ein zweites Eines (in überzeitlicher Weise) hervorgeht, welches das seiende Eine erzeugt und als solches mit dem Sein aufs Innigste verbunden ist (hen on), so dass auf vermittelte Weise das Sein an dem Einen partizipiert. Im Sinne der hier vorgeschlagenen Interpretation ist dabei zu unterscheiden zwischen (a) dem absoluten Einen (hen) und (b) dem aus ihm hervorgehenden zweiten Einen, welches als solches (c) das seiende Eine (hen on) begründet / “dem Sein beiwohnt“.267 Damit ist das seiende Eine das erste Seiende und als Totalität der intelligiblen Ideen die erste (geeinte) Vielheit, die gegenüber dem absoluten Einen sekundär und von diesem erst prinzipiiert ist. (3) All diese Überlegungen, die von der Erkenntniskritik und Ontologie her ihren Ausgang nehmen und so zur Metaphysik führen, sind jedoch für Plotin nicht bloße Gedankenspielerei, ‚nicht nur Philosophie‘ im Sinne eines rein subjektiven Gedankenexperiments: Für Plotin ist diese Metaphysik zugleich Theologie, insofern es sich bei dem absoluten hen und dem von ihm her begründeten hen on um Götter handelt, also personale geistige Wesen. Dies wird besonders daran erkennbar, dass Plotin das absolute hen auf bestimmte Weise mit dem Gott Uranos gleichsetzt, das hen on mit Kronos, der alle seine Kinder verschlang: Letzterer Aspekt konnte von Plotins Metaphysik her damit interpretiert werden, dass Kronos als hen on die Totalität der Ideen in sich umgreift, insofern alle seine Kinder verschlungen hat und „bei sich hält“, wie Plotin formuliert. Da jedoch das hen on als Fülle der Ideen Geist (nous) ist, der Geist aber Ursache für Seele (psychê), kann Plotin auch hier den Mythos theologisch-philosophisch weiterdenken: Zeus entfaltet (im Sinne des Demiurgen aus Platons Timaios) den intelligiblen Kosmos nach außen hin, d. h. in die sinnliche Wahrnehmbarkeit der materiellen Welt. Denn Zeus ist nach dem Mythos das einzige von Kronos’ Kindern, welches von diesem nicht verschlungen wurde: Zeus erzwingt sogar die Herausgabe der verschlungenen Kinder. Plotin deutet dies nicht so, als ob Kronos nun seine Kinder ‚verliert‘ – sie verbleiben als Fülle der Ideen bei ihm268 –, trotzdem gibt er sie heraus, insofern Zeus die materielle Welt als Abbild des intelligiblen Kronos-Kosmos hervorbringt. Nicht unwesentlich für Plotins Einordnung als Philosophen und Theologen ist die Tatsache, dass er zwar seine Metaphysik rein philosophisch, also vom sachlichen Argument her entwirft, aber zugleich an den vorgegebenen Mythos anknüpft und diesen in erkennbarer Weise ernst nimmt, auch wenn er ihn im enn. VI, 2 [43] 9, 5–9. enn. V, 1 [ 32], 7, 30–32.
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Sinne platonischer Metaphysik ausdeutet. Damit verankert Plotin die Metaphysik – neben ihrer argumentativen Basis – ebenso innerhalb einer für ihn traditionellen Theologie, die ursprünglich – als Mythos – unabhängig von der Philosophie ihren Bestand hat. Auch wenn der Mythos nicht einfach auf gleicher Ebene mit Offenbarungsreligionen zu sehen ist, bleibt mit ihm in Plotins Theologie doch ein Element erkennbar, von dem man nicht wird sagen können, dass es sich einfach um ein ‚subjektives Konstrukt‘ handelte. Vielmehr nimmt Plotin den Mythos als theologisches Datum und denkt ihn eigenständig weiter und greift somit eine unabhängig von seiner Metaphysik vorliegende theologische Tradition auf, so wie er andererseits die Tradition der platonischen Philosophie aufnimmt – beides jedoch nie im Sinne eines bloß formalen Traditionalismus (im pejorativen Sinne), sondern vom sachlich begründeten Argument her geleitet. (4) Für den Zusammenhang der Frage nach mono‑ und polytheistischen Aspekten in Plotins Theologie ergibt sich nach diesem langen Anlauf also folgendes Resultat: Es geht nicht nur darum, ob Plotin ‚an einen oder mehrere Götter geglaubt hat‘ im Sinne eines bloßen Entweder-Oder, sondern um das sachliche, philosophisch fundierte Argument, welches seiner theologischen Position zugrunde liegt. Diese umgreift in eindeutiger Weise sowohl mono‑ wie auch polytheistische Aspekte:269 (A) Unverkennbar steht das absolute Eine (hen) – Uranos – als absolutes, überseiendes Über-Wesen an der Spitze von allem: präziser gefasst, nicht ‚von allem‘, denn sonst würde (in einem henotheistischen Verständnis) insinuiert, dass das hen / Uranos ‚nur‘ ein primus inter pares wäre; es / er ist ja aber jenseits des Seins, insofern nicht nur ‚Spitze von allem‘, sondern verharrt über allem in reiner Transzendenz. Dieses hen ist daher eindeutig monotheistisch zu begreifen: Es gibt ‚keine anderen Götter neben ihm‘, um es in Anlehnung an biblische Aussagen zu formulieren.270 (B) Auch wenn das überseiende Eine in sich ruht, prinzipiiert es jedoch aus seiner übervollen Einheit heraus271 ein zweites Eines: Kronos, das seiende Eine als Zweiheit aus Einheit und Sein. Dieses zweite Eine ist qua hen on das erste Seiende bzw. das Sein überhaupt:272 Insofern es das Sein schlechthin ist, umfasst es die Fülle alles wahrhaft Seienden, die Totalität der intelligiblen Ideen und ist daher Geist (nous). Kronos ist nicht nur der zweite Gott nach Uranos (dem absoluten Einen): Da Kronos gemäß Plotin der / das erste Seiende schlechthin ist, 269 Vgl. Frede (1999: 55): „Hence, though the Platonists can talk of many gods, at the level both of created and of uncreated beings, this is not supposed to undermine the belief that there is one God.“ 270 Ex 20, 3; Jes 44, 6 b; Joel 2, 27. 271 Vgl. Beierwaltes (2001: 146) zu enn. V 2 [11], 1, 8. 272 An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass die Platoniker den von dem Vorsokratiker Parmenides (s. o. Kap. II.1) geleisteten Aufweis des absoluten Seins weiterdenken und das Sein dadurch, dass es Einheit voraussetzt und begrifflich mit sich bringt, erst dem absoluten Einen folgen lassen.
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darf man ihn kaum – wie in einer Zahlenreihe – einfach als ‚zweites göttliches Wesen‘ betrachten. Denn aufgrund der absoluten, überseienden Transzendenz von hen / Uranos ist Kronos, insofern er seiend ist, der erste Gott. Es wäre also, von Plotin her gedacht, vermutlich falsch, einfach eine Aufzählung ‚UranosKronos‘ vorzunehmen und entsprechend seine Theologie als ‚polytheistisch‘ zu kategorisieren, denn beide Götter sind bei Plotin jeweils ein ‚Ein-Gott‘, Uranos als überseiendes Eines, Kronos als seiendes Eines. Trotzdem kommt nun mit Kronos / hen on eine göttliche Vielheit und somit ein polytheistischer Zug in Plotins Theologie zum Vorschein. Denn, wie oben gezeigt werden konnte,273 ist Kronos als der eine seiende Gott zugleich alle anderen seienden Götter, und diese sind er: Insofern Kronos qua hen on die Totalität der Ideen und somit nous ist, kommt es auf der Ebene des absoluten Seins bei Plotin dazu, dass dieser nous Einer-Vieles (heis polla) ist.274 Aber auch hier gilt es wieder, diesen ‚polytheistischen Zug‘ nicht vordergründig-plakativ misszuverstehen: Denn Kronos, der seine Kinder verschlungen hat und in sich trägt, ist keine bloße Vielheit an Göttern, die bezugslos zueinander stünden, sondern auf höchste Weise geeinte Vielheit. (C) Die im herkömmlichen Sinne als polytheistisch zu verstehende Vielfalt der einzelnen Götter mag damit aus dieser Perspektive erst auf der Ebene des dem Kronos unterstehenden (Demiurg-Gottes) Zeus ihren Anfang nehmen. Zeus erzwingt die Herausgabe der verschlungenen Kronos-Kinder in dem Sinn, dass er die im hen on, im nous geeinten intelligiblen Ideen in die abbildhafte Sichtbarkeit entfaltet, damit aber auch die in Kronos geeinten Götter in die Vielheit der einzelnen Götter überführt: Im Interesse der produktiven Entfaltung des Intelligiblen in die sinnlich-wahrnehmbare, materielle Realität scheint Zeus Kronos’ intelligible Einheit in der sinnlichen Welt dann doch vom Thron zu stoßen, weil die materielle Welt nicht die Geeintheit der intelligiblen bewahrt, sondern durch und durch von vielheitlicher Partikularisierung geprägt ist. Zugleich könnte Zeus in diesem Sinne als „Vater der Götter (patêr theôn) und Menschen“, wie er von Homer genannt wird,275 bezeichnet werden. Plotin jedoch scheint Zeus (qua Demiurgen) lediglich als „Vater derjenigen Götter, die er führt“,276 und als ‚Vater der Seelen‘ zu verstehen,277 den Beinamen patêr theôn dagegen für Kronos reserviert zu haben, weil er der Vater der intelligiblen und insofern wahrhaft seienden Götter ist (während auf Uranos mit dem Begriff „Vorvater“ hingedeutet wird).278 Kronos ist bei Plotin also Vater seiner Kinder, S. o. zu enn. V, 8 [31], 9, 14–27. enn. VI, 2 [43], 22, 10. Vgl. Alt (2005: 35). 275 Vgl. die erstmalige Nennung der berühmten Formel in der Ilias (I, 544). 276 enn. V, 8 [31], 10, 1–2 gemäß dem Mythos in Platons Phaidros (246 e ff.). 277 Vgl. enn. IV, 3 [27], 12 dazu, dass „Vater Zeus“ sich der Seelen erbarmt. 278 Es handelt sich wiederum insofern um Andeutungen, als Plotin die Namen Uranos und Kronos in der betreffenden Passage (enn. V, 5 [32], 3, 16–24) nicht explizit nennt (anders als z. B. 273 274
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die er jedoch verschlungen in sich bzw. geeint bei sich hält und insofern „immer schwanger ist“,279 sie somit nicht in die getrennt-vereinzelte Pluralität entlässt, wie dies für Zeus als den homerischen Vater der vielen einzelnen Götter (im Sinne eines starken Plurals) geltend gemacht werden könnte. Im Vergleich zu dem Mittelplatoniker Apuleius280 ergibt sich folgendes Resultat: Auch Apuleius unterscheidet in seiner philosophischen Theologie einerseits einen einzigartigen, unnennbaren Gott als Vater der intelligiblen Götter, der daher als durchaus in einer höheren Sphäre lokalisiert angesehen werden darf als der Demiurg. Andererseits differenziert er zwischen vielen Göttern, sowohl intelligiblen wie auch Gestirngöttern.281 Von Plotin her betrachtet hat der eine unnennbare Vater-Gott bei Apuleius qua seiner Transzendenz den Rang des Uranos, qua seines Vaterseins für die geeint-vielen intelligiblen Götter den des Kronos, qua seines Vaterseins überhaupt für alle einzelnen-vielen Götter (sowohl intelligible wie Gestirngötter) aber auch den des Zeus inne. Plotin besonders nahe kommt Apuleius’ Theologie in seinem Roman, im elften Buch der Metamorphosen: Hier transzendiert Osiris als summum numen jegliche GötterVielheit, so wie bei Plotin das Eine / Uranos völlig transzendent ist, wenngleich es / er „Vater“ und „Vorvater“ genannt wird.282 Vater des vollkommen in sich geeinten, seienden Götterkosmos ist bei Plotin Kronos, während Apuleius Isis als die die anderen Gottheiten in ihrer facies uniformis geeint umfassende, höchste Göttin der Götter (summa numinum) beschreibt.283 Auch hier scheint Plotin demnach Grundzüge mittelplatonischer Theologie aufzugreifen, denkt sie aber konsequenter und differenzierter weiter.284 Wenn man Plotins theologische Position von seiner Ontologie, Metaphysik sowie seiner Interpretation des Mythos her versteht, wie es hier versucht wurde, widersetzt sie sich also einer plakativen Rubrizierung ‚mono‑ vs. polytheistisch‘. Zugleich entwickelt der Archeget des Neuplatonismus – ausgehend von einer ontologisch-erkenntniskritischen Reflexion des bestimmten Seins innerhalb der sinnlich-wahrnehmbaren Welt – mit der platonischen Hypothesis des Eidos ein komplexes philosophisches Gefüge: Absolutes Sein ist intelligibles Sein (nous) und als solches absolut geeinte Vielheit (Kronos / hen on) „im differenzlosen
in enn. III, 5 [50], 33–34); vom Kontext her ist aber deutlich, dass die Zuordnung der Begriffe „Vater der Götter“ und „Vorvater“ gemäß der obigen Erklärung zu verstehen sein dürfte. 279 S. o. Anm. 268. 280 S. o. Kap. II.4.2. 281 Apuleius, DDS 4 [128] (zitiert in Anm. 176). 282 enn. V, 8 [31], 13, 5; V, 5 [32], 3, 23. 283 S. o. Kap. II.4.b. 284 Auf die bei Apuleius prominent wichtigen daimones wird hier im Hinblick auf Plotin nicht eingegangen, weil dies den Rahmen sprengen würde und hier der theologische Zusammenhang von hen-Uranos, hen on / nous-Kronos, psychê-Zeus im Vordergrund stand. Zu den daimones bei Plotin vgl. Alt (2005: 38–41) sowie Pigler (2002: 273).
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Stehen (stasis adiastatos)“,285 d. h. ohne ein Auseinandertreten dieser geeinten Vielheit ins getrennte Viele. Letzteres vollzieht sich erst unterhalb des seine Kinder „bei sich haltenden“286 Kronos. Kronos ist deshalb durch eine „Fessel“ von der nach ihm auseinandertretenden Vielheit ferngehalten.287 Diese Formulierung erinnert an die Charakterisierung des wahren Seins (to eon) in der Rede der Göttin bei dem Vorsokratiker Parmenides aus Elea: Das wahre Sein sei unbewegt, in den Grenzen großer Fesseln, / anfangslos und unaufhörlich, weil Werden und Vergehen / gar weit zurückgeschlagen sind, weggestoßen aber hat [sie] wahrer Glaube / wahre Überzeugung. / Sowohl als Identisches als auch in dem Identischen verharrend ruht es auch gemäß sich selbst / und so verharrt es feststehend daselbst. Denn die starke Notwendigkeit / hält es in Fesseln der Grenze, die es auf allen Seiten einschließt (Parmenides, frg. 8, 26–31).
Auch hier ist die „Fessel“ nicht als äußerlicher Zwang zu verstehen, vielmehr ergibt sich diese bildliche Rede aus dem Begriff des in sich selbst auf vollkommene Weise umgrenzten Seins: Seinem inneren anfangslosen, Werden und Vergehen transzendierenden Wesen entsprechend ist das absolute Sein umschlossen wie von einer Fessel, die es jedoch nicht einengt oder bedrängt, sondern ihm selbst wesensmäßig ganz entspricht und insofern eine ‚notwendige Fessel‘ ist, damit das Sein wirklich ewig-identisches ‚Sein‘, to eon, sein kann. Wenn bei Plotin Kronos / hen on auf derselben Ebene wie das absolute Sein bei Parmenides betrachtet werden darf, so steht im Unterschied zu Parmenides bei Plotin doch Uranos (als das absolute Eine) über Kronos (als dem Gott des absoluten Seins), während unter ihm Zeus und die Welt des Werdens ihren ontologischen Rang innehaben.288 Dass all diese Überlegungen keine nur theoretisch-abstrakten sein wollen / sollen, zeigt Plotin eindeutig dann, wenn er dem Beter wünscht, dass jener Gott – Kronos – ihm erscheinen möge, „seine Welt mit sich führend zusammen mit allen Göttern in ihr.“289 Plotin geht offenbar davon aus, dass das Gebet unerlässlich ist für eine Wissenschaft, die wirklich Theologie sein will, sowie auch davon, dass dieser Gott als geistiges Wesen wirklich ist und Bestand hat. Einer bloß abstrakten Theorie wären diese beiden Charakterzüge fremd.
enn. V, 8 [31], 9, 20. enn. V, 8 [31], 12, 6. 287 enn. V, 8 [31], 13, 9–10. 288 enn. V, 8 [31], 13. 289 enn. V, 8 [31], 9, 14–16. Vgl. Beierwaltes (2011: 103) zu dem „von Plotin entfaltete[n] intensive[n] intellektuelle[n] und emotionale[n] Verhältnis des Menschen zum göttlichen Einen und Guten“ (Kursive Beierwaltes). 285 286
III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklosals Basis für seine Mono‑ und Polytheismus umgreifende Theologie und der Status der überseienden Henaden a) Vorbemerkung und Skopos In den vorangegangenen Kapiteln des Teils II dieser Arbeit wurde versucht, entscheidende Stationen auf dem Weg der historischen und systematischen Entwicklung der platonischen Ontologie, Teilhabe-Philosophie und Theologie vor dem Hintergrund der Fragestellung zu markieren, wie sich das Verhältnis von mono‑ und polytheistischen Aspekten platonisch bestimmen lässt. Dabei wurde im Vorgriff bereits immer wieder auf das voll entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos (412–485 n. Chr.) verwiesen, insofern sich bei den behandelten Autoren Ansätze, Anknüpfungspunkte und Vorwegnahmen dieses proklischen Theorems als Grundlage für eine mono‑ und polytheistische Züge integrierende Theologie ausmachen ließen. Mit Plotin als Begründer des sog. ‚Neuplatonismus‘ ist gleichsam die letzte Station vor Proklos erreicht; Plotins Ausführungen zu den drei Themenfeldern Ontologie, Teilhabe-Philosophie und Theologie sind der Sache nach in allen wesentlichen, grundsätzlichen Punkten direkt anschlussfähig für Proklos’ eigene Position,290 auch wenn diese noch stärker systematisiert und griffiger ist und insofern als ‚voll entwickelt‘ bezeichnet werden kann. Die Ergebnisse zu Plotin wurden im letzten Abschnitt des vorangegangenen Kapitels (II.5 d), die vorplotinischen Wegmarken zu Beginn des Plotin-Kapitels (II.5 a) resümiert, so dass die Untersuchung nun direkt mit Proklos fortfahren kann, wobei im Einzelnen wiederum Rückbezüge zu den historischen und systematischen Vorstufen eingeflochten werden. Der Skopos und die Grundthese der folgenden Ausführungen zu Proklos seien hier knapp vorweggenommen: Proklos’ Teilhabe-Theorem ist nicht nur der grundlegende Schlüssel für das Verständnis seiner Ontologie. Denn bei genauer Beachtung und theoretischer Anwendung dieses Theorems und seiner Implikationen lässt sich entgegen der immer noch vorherrschenden Forschungsmeinung eine Lösung des sog. ‚Henaden-Problems‘ aufzeigen: Die Frage nach dem in der Genauer dazu s. u. Kap. III.c.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Tat zunächst schwer zu bestimmenden Status der von Proklos als „überseiend“ bezeichneten Henaden („Einser“) zwischen dem absoluten Einen (hen) und dem ihm untergeordneten absoluten Sein (hen on) kann auf der Basis des Teilhabe-Theorems einer philosophisch konsistenten Antwort zugeführt werden, die sich – in Abgrenzung zu einigen Forschungsstimmen – eindeutig aus dem Gesamtwerk ableiten lässt, ohne dass sachliche Widersprüche zwischen dem Früh‑ und dem Spätwerk des Neuplatonikers innerhalb einer historisch brüchigen Entwicklung postuliert werden müssten. Schließlich verbleibt, wie immer man Proklos’ Metaphysik bewerten und sich zu ihr positionieren möchte, diese entgegen gewichtigen Forschungsmeinungen nicht in einer Aporie hinsichtlich der Frage verfangen, wie eine Vermittlung zwischen dem unpartizipierbaren Einen und allem trotzdem an diesem Einen irgendwie partizipierenden Seienden möglich sein könnte. Vielmehr zeigt sich gerade hier auch die religionsphilosophische Begründung, weshalb Proklos’ Theologie – in grundsätzlicher Übereinstimmung, aber zugleich auch in konsequenter Weiterführung der Philosophie Platons, der Mittelplatoniker und Plotins – sowohl Monotheismus wie auch Polytheismus in einem System zu integieren vermag. b) Zur Forschungslage In jüngerer Zeit ist die Forschungslage zu Proklos’ Henologie bereits sehr gut zusammengefasst worden,291 weshalb dies hier nicht extensiv wiederholt werden soll, zumal es auch den Rahmen einer möglichst viele Autoren der Geistesgeschichte miteinander in Beziehung setzenden und zusammenschauenden Untersuchung sprengen würde. Statt dessen soll zunächst eine exemplarische Auseinandersetzung mit einem die Forschungslage sehr gut aufgreifenden und teils auch weiterentwickelnden Aufsatz stehen; während der Exposition meiner eigenen Proklos-Interpretation möchte ich dann an den entscheidenden Punkten der Argumentation jeweils punktuell konkreten Bezug auf die Forschung nehmen. Da zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Kapitels der neueste mir bekannte Forschungsbeitrag von Ilinca Tanaseanu-Döbler (2013) stammt, möchte ich hier beispielhaft eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Ausführungen voranschicken und genauer die Stärken dieses Ansatzes und das, was m. E. weiterer Klärung und Diskussion bedarf, herausstellen. Damit entscheidende Problempunkte, die für die Henaden-Frage und das Thema Mono‑ und Polytheismus relevant sind, besser herauskristallisiert werden können, ist eine bisweilen markante sachliche Abgrenzung unvermeidlich.
291 Vgl. Cürsgen (2007 a: 9–15) und Tanaseanu-Döbler (2013: besonders 245–248, inkl. der äußerst umfangreichen Anm. 7–11). Zur Auseinandersetzung mit der älteren Forschung (Kremer, Rosán, Festugière, Dodds) vgl. Meijer (1992: 81–87) sowie Butler (2005: 99–103).
b) Zur Forschungslage
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Zunächst zu den Aspekten in Tanaseanu-Döblers Aufsatz, die m. E. unbedingte Zustimmung verdienen: Neben der sehr instruktiven, überblicksartigen Auseinandersetzung mit großen Teilen der Forschungsliteratur292 ist der systematisch-sachorientierte Interpretationsansatz als solcher zu würdigen, der das Henaden-Problem philosophisch einkreist (allerdings weitgehend begrenzt auf den Text der Elementatio Theologica [ETh]293). Tanaseanu-Döbler arbeitet u. a. heraus, dass die „platonische überfließende Fülle der Gottheit […] in Proklos’ Sicht die Pluralität der Götter“ begründet (ibd., 251) und die Henaden / Götter ihre „Wesensgrundlage […] in ihrer ‚überseienden Güte‘ “ haben. „Damit ist die göttliche Vorsehung (pronoia) schon auf der höchsten Stufe verankert“ (254). Völlig zu Recht wendet sie sich in Abgrenzung zu Dodds’ (1963: 260) Rede von den „dusty shelves of this museum of metaphysical abstractions“ gegen eine „stillschweigende Unterscheidung zwischen echter, lebendiger Religion einerseits und trockener blutleerer Metaphysik andererseits“ (251, Anm. 23) und unterstreicht – wie auch Chlup (2012: 7) – Proklos’ eigene „tiefe und sehr emotionale Frömmigkeit und Gottesbeziehung“ (Tanaseanu-Döbler 2013: 263) sowie die Anschlussfähigkeit dieser rein rational begründeten Theologie an Offenbarungsreligionen wie Islam und Christentum (267). Äußerst wichtig sind zudem Tanaseanu-Döblers subtile Beobachtungen dazu, wie Proklos’ eigenes Verhältnis gegenüber dem Christentum zu bestimmen ist: In ähnlich strenger Weise wie christliche Theologen kann Proklos […] betonen, dass Gottsein nur auf der Stufe des Einen und der Henaden existiere, dass Gottsein also aufs engste mit der Einheit verbunden sei – ähnlich wie Origenes insistiert, dass nur Vater, Sohn und Geist wesenshaft Sein, Weisheit und Güte besitzen […]. Alles andere könne nur entsprechend der Teilhabe, abgeleitet, göttlich sein (ibd., 262).
Trotz dieser strukturellen Ähnlichkeit mit der christlichen Theologie kann Tanaseanu-Döbler die Vermutung plausibilisieren, dass Proklos sich durchaus der christlichen Versuche bewusst war, im Bereich des Göttlichen Einheit und Dreiheit zu vereinbaren. Allerdings ist bei ihm eine Auseinandersetzung mit christlicher Theologie nirgendwo explizit zu greifen; seine Argumentation bleibt immer bezogen auf das Universum hellenischer Philosophie und Religion. Seine Polemik gegen das Christentum besteht darin, dass er es philosophisch ignoriert und somit als intellektuelles Gegenüber grundsätzlich negiert (ibd., 245, Anm. 8).
Dieser historisch einleuchtende Befund von Proklos’ ‚polemischer Ignoranz‘ gegenüber dem Christentum führt Tanaseanu-Döbler zum Ende ihres Aufsatzes zu folgendem Fazit: Dieser zeit‑ und geschichtslose Gesamtblick auf die in der Hauptsache ewig gleichbleibende, vom Göttlichen durchwaltete Wirklichkeit erscheint als Gegenentwurf zu einer wie auch immer gearteten ‚Heilsgeschichte‘ (ibd., 264). S. vorhergehende Anm. S. Tanaseanu-Döbler (2013: 246–7).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Dass ausgerechnet Proklos’ Elementatio Theologica (über die arabische Vermittlung) als lateinischer Liber de causis im christlichen Mittelalter von Thomas von Aquin und Meister Eckhart theologisch rezipiert wurde, dürfte tatsächlich „der Absicht des Proklos diametral entgegengesetzt gewesen sein“ (ibd., 244). Trotz dieser vielen zustimmungswürdigen Ausführungen gibt es eine Reihe von Punkten, die beim genaueren Hinsehen diskussionbedürftig erscheinen. Im Unterschied zu dem hier verfolgten Ansatz fällt zunächst grundsätzlich auf, dass Tanaseanu-Döbler (ibd. 249, 253–4, 262) zur Klärung der Henaden-Frage eher beiläufig auf Proklos’ Teilhabe-Philosophie eingeht, ohne das vorausgesetzte Theorem (ETh 24) selbst zu thematisieren.294 Dies scheint letztlich der Grund dafür zu sein, dass (wieder einmal) die Schlussfolgerung gezogen wird, in Proklos’ Metaphysik bleibe letztlich „die Differenz zwischen dem Einen und den anderen Stufen der Wirklichkeit trotz vermittelnder Hypostasen bestehen“ (ibd., 254, Anm. 32). Tanaseanu-Döbler formuliert apodiktisch: Hier zeigt sich die Aporetik jedes Vermittlungsversuches zwischen dem Einen und dem Vielen: auch die Zwischenschaltung immer neuer Wesen kann höchstens Abstände immer weiter minimieren und so Kontinuität suggerieren, aber keinesfalls den qualitativen Unterschied aus der Welt schaffen (ibd., 255, Anm. 35).295
Zunächst dürfte es sich bei dem angesprochenen Unterschied zwischen Einem und Vielem gemäß Proklos kaum um einen bloß „qualitativen“ handeln, weil hier ein Sachunterschied gemeint ist, der substantiell bzw. übersubstantiell ist, aber nicht nur die Beschaffenheit (von etwas) betrifft.296 Zudem erscheint es fraglich, ob jeglicher „Vermittlungsversuch“ von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.297 294 Vgl. dazu Drews (2009: 262–291) im Kontext der Peras-Apeiria-Problematik sowie die folgenden Ausführungen in den Abschnitten III.c–d. 295 Dieser Vorwurf ist indes keineswegs neu: s. in selbiger Weise z. B. schon Moutsopoulos (1997: 87), Halfwassen (1992: 117), Beierwaltes (1979: 347–8; 2007: 80) und Dodds (1963: 211). Vgl. ferner Chlup (2012: 19). Zur Diskussion dieses „hartnäckigsten“ Vorwurfs vgl. Cürsgen (2007 a: 111 f., 147 f.). 296 Dieser Unterschied zwischen Substanz und Qualität wird generell in der Forschung des Öfteren nicht gemacht, s. z. B. Cürsgen (2007 a: 83) zur „Abnahme der Einheit […] als qualitativer Seinskraft“. 297 Vgl. Tanaseanu-Döbler (2013: 260), zitiert im folgenden Haupttext. Zur „systematisch scheiternde[n] Logik des Absoluten“ s. Cürsgen (2007 a: 101) und vgl. van Riel (2001: 419, 421). Obwohl Cürsgen (ibd., 294) den Neuplatonismus so interpretiert, „daß das endliche Erkennen sich erst am Absoluten seiner Aporetik bewußt werden kann“, ist er der Auffassung: „Das Scheitern des Denkens am Einen führt im Resultat trotzdem zwingend zu einer konsistenten ontologischen Prinzipientheorie“ (ibd., 118). Chlup (2012: 3, 205) betrachtet – einem postmodernen Ansatz entsprechend – Proklos’ Argumentationen nur als einen unter vielen möglichen „worldviews“, welche wie ein Wittgensteinsches Sprachspiel funktionieren sollen. Auch wenn dies im Rahmen postmodern begründeter Toleranz zunächst als eine begrüßenswerte Option erscheint, nimmt sie doch jeder philosophischen Bemühung von vornherein ihre Zielfähigkeit, da auf dieser Ebene dann alle Argumente als gleichwertig gelten müssen und es kein Kriterium für eine sachlich mehr oder weniger zutreffende Begründung mehr gibt: „All logical ‘proofs’ are only valid within the language game they belong to“ (ibd., 4); „Needless to say, the strict [sic] logical
b) Zur Forschungslage
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Dieser Eindruck mag aus einer abstrakten, das Warum verschiedener Seins‑ und Wirklichkeitsebenen nur pauschal, nicht aber konkret in den Blick nehmenden Perspektive zunächst so erscheinen – jedoch bestehen im Platonismus allgemein und bei Proklos speziell rational einsehbare Gründe, warum überhaupt eine ontologische Stufung der Wirklichkeit anzunehmen ist: zunächst (a) der ontologische Unterschied zwischen sinnlich-wahrnehmbarer, materieller Existenz deductive method [sc. wie sie Proklos’ ETh angeblich zugrunde liegt] is in part just an illusion. […] Proclus’ ‘proofs’ are thus to be seen rather as illustrative demonstrations, which frequently simply reiterate the proposition in question at greater length […]“ (ibd., 37, ähnlich 288). All dies würde Proklos selbst freilich bestreiten. Zumindest aber setzt Chlups Anspruch, zeigen zu können, „why an argument may make good sense in one worldview but appear as untenable in another one“ (ibd., 4), der Sache nach bereits implizit die Möglichkeit einer übergeordneten Perspektive voraus, von welcher aus verschiedene „worldviews“ als möglich (konsistent) oder unmöglich (scheiternd) beurteilt werden können. Genau diese Möglichkeit soll aber der von Chlup gewählte Ansatz („All logical ‘proofs’ …“ s. o.) ja ausscheiden helfen, wenn es nur noch um sprachspielhafte Weltsichten gehen soll, die alle gleich-gültig bzw. gleichermaßen ungültig sein können sollen (auch wenn es dabei ‚nur‘ um „functionality rather than […] logical coherence“ [ibd., 4] geht). Diese Konsequenz bestreitet Chlup jedoch ebenfalls in postmoderner Weise: „This is not to say, of course, that philosophical approaches should be immune to rational criticism“ (ibd., 5). In Chlups’ ‚System‘ sollte die rationale Kritisierbarkeit eigentlich nur innerhalb eines willkürlich gewählten Sprachspiels möglich sein dürfen. Da Chlup einen übergeordneten „rational criticism“ jedoch einräumen will, impliziert er die besagte übergeordnete Perspektive, von welcher aus dann doch die verschiedenen „worldviews“ rational kritisierbar sein sollen. Diese Konsequenz wäre zwar durchaus in Proklos’ Sinn, ist aber auf Chlups postmodernem Wege kaum begründbar, weshalb der Ansatz, rationale Argumente seien nur innerhalb einer beliebigen Weltsicht stichhaltig (vgl.: „deducing conclusions from the premises that a given school of thinkers has chosen to take for granted“, ibd., 15, ähnlich 206), philosophisch wenig konsistent erscheint. Letztlich handelt es sich dabei der Sache nach um eine Spielart philosophischer ‚Doppelköpfigkeit‘, welche schon der Vorsokratiker Parmenides kritisiert (frg. 6, 4–9). Es besteht indes kein Zwang, deshalb nun in das umgekehrte Extrem zu verfallen und gleichsam eine bestimmte philosophische Position autokratisch als ‚richtig‘ hinzustellen und andere zu ‚brandmarken‘: Denn grundsätzlich bietet speziell die neuplatonische Epistemologie auf der Basis des platonischen ontologischen und epistemologischen Komparativs (vgl. z. B. Proklos in Parm. 994, 31–32 zum gnôsthênai mâllon dynaton, zur höheren Erkennbarkeit des Intelligiblen im Vergleich zum Sinnlich-Wahrnehmbaren) zumindest eine philosophisch-rational begründete Perspektive, aus der unterschiedliche Weltsichten nicht plakativ mit ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ belegt werden müssen, sondern als richtiger oder verfehlter eingestuft werden können – ein Ansatz, der gerade für den interreligiösen Dialog in (Post‑)Moderne und Vormoderne (s. u. Kap. V. zu Cusanus) gleichermaßen von entscheidender Bedeutung ist. Diese Perspektive wahrt also die Möglichkeit, dass verschiedene Weltsichten immer einer rational-reflexiven Kritik unterworfen werden können, und vermeidet den Zwang eines postmodernen Dogmas, welches von vornherein das Scheitern philosophischer Rationalität bzw. die prinzipielle Unmöglichkeit, (zumindest gewichtige) philosophische Fragen einer tatsächlichen Lösung zuzuführen (vgl. aber Chlup 2012: 205), festschreibt. Die Befugnisse der Rationalität – und damit des kritischen Denkens – grundsätzlich und absolut zu beschneiden, würde eine für das menschliche Denken und Beurteilen folgenreiche Gefahr darstellen, wie Spaemann (2012 a: 225) in aller Deutlichkeit betont: „Der Bescheidenheitsgestus ist für die Vernunft tödlich.“ Dazu, dass die kategorische, historistische Zurückweisung der Wahrheitsansprüche von Texten einen übergeordneten „Maßstab“ impliziert, „mit dem“ man „alle zurückliegenden Wahrheitsansprüche interpretieren und bewerten kann“, vgl. Spaemann (ibd., 160–1). – Zur Kritik an einer Verlagerung von Glaube und Theologie auf eine Spielebene vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 175).
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und intelligiblem, eidetischem Sein (ein Dreieck mag der Wahrnehmung als ein Ding mit drei Ecken vorkommen; was aber den substantiellen Unterschied des Dreieck-Seins ausmacht, erkennt nur das rational-diskursive Denken bzw. der die Sache als Einheit komplexiv erfassende Intellekt, indem er sich auf die Sacheinheit des intelligiblen Eidos bezieht298); (b) die Seele als Vermittlungsinstanz zwischen der intelligiblen Welt und der materiellen Welt, insofern die Seele selbst geistiger Natur ist, aber Körperliches ausbildet;299 sodann (c) die Differenzierung zwischen bestimmten seienden Sacheinheiten (intelligible Ideen) und letzter Ursache seinsbestimmender Einheit (das absolute Eine, hen) und (d) die Bestimmung der Teilhaberelation der Ideen am hen, wie sie bei Proklos durch partizipierbare Vermittlungsinstanzen (Henaden) begründet wird. Schon von dieser knappen Skizze her lässt sich ersehen, dass Proklos mit der Einführung der Henaden als ‚neuer Zwischeninstanzen‘ seine Metaphysik nicht einfach zusätzlich (und unnötig) aufbläht, denn die Henaden vermitteln zwischen überseiender Einheit und seiender / intelligibler Einheit in grundsätzlich vergleichbarer, analoger Weise wie die Seelen zwischen intelligiblem Sein / Ideen und der Körperwelt: Damit ordnet er die Henaden – ganz grundsätzlich – durchaus stimmig in die platonische Metaphysik ein. Dass überhaupt von überseiender Einheit die Rede ist, ist dem Umstand geschuldet, dass Sein schon gemäß Platon begrifflich Einheit voraussetzt und impliziert, weil Sein nur als Bestimmt-Sein gedacht werden kann, Bestimmt-Sein aber seine Bestimmung nur durch bestimmende Einheit empfängt.300 Wenn Tanaseanu-Döbler letztlich einen Widerspruch darin sieht, dass die Henaden bei Proklos einerseits als überseiend und über-intelligibel eingestuft, andererseits aber entsprechend ihrem Partizipiertwerden von verschiedenen Seienden auf unterschiedlichen ontologischen Stufen auch als noerische (intellektuale), über‑ und innerweltliche Henaden bezeichnet werden, dann ist dies nicht auf eine philosophische Inkonsistenz301 und einen „recht brachialen Ausgleich“ bei Proklos (ibd., 255–6), sondern eher auf eine nicht hinreichende Applikation seines Teilhabe-Theorems zurückzuführen: Denn den Henaden eignet ja gerade die Funktion der vermittelnden Partizipierbarkeit des absoluten Einen im Seienden, so dass Proklos zu Recht unterscheiden kann zwischen (a) den Henaden an sich – als überseienden Über-Wesen – und (b) ihrer Partizipation S. o. Kap. II.5 b sowie auch den folgenden Abschnit III.c. Vgl. Kap. II.2. 300 Vgl. Kap. II.2. 301 „Die Formulierung von [ETh] 159 stellt die Götter – somit die Henaden – faktisch auf die gleiche Ebene wie das Sein und gefährdet somit gerade Proklos’ sonst stringent und konsequent verfolgte Lösung des henologisch-ontologischen Problems“ (Tanaseanu-Döbler 2013: 258–9; Kursive FD); „Letztlich ist [ETh] 159 als die letzte Konsequenz des Blickwinkels anzusehen, der die Henaden ihren Prinzipiaten und Partizipanten zuordnet und sie faktisch mit diesen zu‑ sammensieht, um nicht zu sagen, identifiziert“ (ibd., 259; Kursive FD). Zur Interpretation von ETh 159 s. u. Anm. 418. 298 299
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durch verschiedene Seiende auf unterschiedlichen Seinsebenen; ihre jeweilige Benennung richtet sich also je nachdem danach, ob man auf den Aspekt (a) oder (b) schaut, wie auch Tanaseanu-Döbler zu Recht festhält.302 Trotzdem stellt sie jedoch erneut apodiktisch fest: Die Spannung zwischen der absoluten Einfachheit und Einheit aller Henaden und der Entwicklung von Hierarchien ist letztlich wiederum nur eine Ausprägung des grundlegenden Paradoxes, das sich ergibt, wenn die Vielheit der Wirklichkeit auf eine Ursache zurückgeführt wird (ibd., 257). Auch Proklos’ Anspruch, ein geschlossenes theologisches System zu präsentieren, scheint also zu scheitern […] (ibd, 260).
Obwohl diese Sichtweise in der Forschung keineswegs singulär ist,303 gibt es in Proklos’ System – wie noch genauer zu zeigen sein wird – jedoch weder ein „grundlegendes Paradox“ zwischen vielheitlicher Wirklichkeit und diese strukturierenden Einheitsprinzipien noch eine überflüssige „Zwischenschaltung immer neuer Wesen“ (s. o.), sondern jede (Zwischen‑)Stufe hat eine konkret benennbare Funktion, die nur von ihr ausgeübt werden kann, sodass ein lückenloser Zusammenhang besteht, ohne dass Proklos bloß „Kontinuität suggerieren“ (s. o.) wollte. Dass Tanaseanu-Döbler Proklos einer solchen bloßen ‚Suggestion‘ zudem eine rein rhetorische Intention unterstellt, geht Hand in Hand damit, dass sie zu erkennen meint, Proklos verbinde hier [sc. in den Beweisgängen der ETh] seine ‚Rhetorik‘ des Mono‑ und Polytheismus mit einer Rhetorik der nüchternen Notwendigkeit (ibd., 248). Sind hier also Mono‑ und Polytheismus als rhetorische Strategien zur Beschreibung der Götterwelt verschränkt, so fällt besonders die Rhetorik des Abstrakten auf, die Proklos konsequent verfolgt (ibd., 263).
Wie im Folgenden genauer zu zeigen sein wird, dürfte ein solches rein rhetorisches Interesse Proklos’ sachorientiertes Denken kaum zutreffend charakterisieren. Jedenfalls lässt sich m. E. nicht am Text erhärten, dass Mono‑ und Polytheismus für Proklos so etwas wie bloße „rhetorische Strategien“ wären, da seine Intention von einem genuinen philosophischen Sachinteresse geprägt und geleitet ist, das ohne rhetorische Strategien zum Zwecke bloßer Suggestion und Kaschierung sachlich-philosophischer Mängel auskommt – ein Vorwurf, der jedoch in aller Schärfe bereits von Moutsopoulous (1997: 89) erhoben wurde, der Proklos den wiederholten Gebrauch des „sophistic device of petitio principi“ unterstellte. Auf weitere Punkte in Tanaseanu-Döblers Ausführungen, (1) Proklos verwerfe „die jamblicheische Konstruktion der zwei Einen, die nach dem höchsten völlig transzendenten Einen ein positiv bestimmbares, mit dem Sein verbunde302 Tanaseanu-Döbler (2013: 256). Vgl. auch zur „scope distinction“ in Anlehnung an Rijk (1992): „Je nachdem, wie man auf die Götter schaut, ob in Relation zum Einen oder zu dem, was sie hervorbringen, würde anderes von ihnen ausgesagt“ (Tanaseanu-Döbler 2013: 260). 303 Vgl. Abbate (2008: 16).
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nes Eines setzt“ (ibd., 257),304 (2) die Henaden seien personal, das absolute Eine jedoch nicht (ibd., 255, 250, Anm. 20), soll im Laufe der folgenden Interpretation genauer eingegangen werden. Wie dieser Abriss gemäß ‚Pro und Contra‘ exemplarisch zeigen sollte, besteht trotz vieler zustimmungswürdiger Beobachtungen auch in der jüngeren Proklos-Forschung noch das Desiderat, Proklos’ theologischen Entwurf – speziell das Henaden-Problem im Kontext der Stellung der dyadischen Prinzipien peras und apeiria – von seiner inneren Einheit her zu würdigen. Ein entscheidender Beitrag in diese Richtung wurde bereits von Bechtle (1999) geleistet, der sich aber so nicht durchgesetzt hat, wie bereits der kurze Rekurs auf die aktuelle Forschungslage zeigt und die genauere Auseinandersetzung unten dokumentieren wird. Chlup (2012: 112) scheint in Bezug auf die Henaden-Problematik zunächst einen nahezu identischen Ansatz wie den hier gewählten zu verfolgen, wenn er sagt: „As we shall see, the existence of the henads is understandable in light of Proclus’ theory of participation.“ Gleichwohl führt er diesen Ansatz auf gänzlich andere Weise aus, indem er die – zwar in gleicher Weise wichtige – Fragestellung thematisiert, von welchen verschiedenen Seinsstufen die Henaden qua ihrer überseienden Eigenheit (idiotês) jeweils partizipiert werden; jedoch geht Chlup dabei nicht auf die spezielle Stellung der Henaden zwischen überseiendem Einen (hen) und dem Prinzip ‚Sein‘ ein und entwickelt nicht die hier anhand des Methexis-Theorems begründete These, dass die Henaden als das vielfach partizipierbare Eine zwischen hen und ‚Sein‘ zu deuten sind. Genau dies zu unternehmen und unter Einbeziehung mehrerer Werke zur Henaden‑ und Methexis-Thematik Proklos’ philosophische Theologie als Einheit zu interpretieren, ohne entwicklungsgeschichtliche Brüche zwischen seinem (mutmaßlichen) Früh‑ und Spätwerk zu postulieren,305 scheint zumindest einen erneuten Versuch wert zu sein. Dabei geht es nicht darum, diese Theologie gleichsam missionarisch als eine ‚letztgültige Wahrheit‘ zu verteidigen, sondern lediglich um die Frage nach ihrer inneren philosophischen Konsistenz. Um diese ermitteln zu wollen, darf methodisch-hermeneutisch nicht immer schon implizit vorausgesetzt werden, dass schwierige Probleme sowieso per se unlösbar sind bzw. nicht lösbar sein dürfen: Eine Rhetorik, welche die Rede von der „Aporetik jedes Vermittlungsversuches zwischen dem Einen und dem Vielen“ (Tanaseanu-Döbler 2013: 255, Anm. 35) immer schon absolut setzt und ganz generell zu wissen meint, dass sich auch bei 304 S. u. zu dem auch nach Proklos dem Sein koordinierten Einen im Unterschied zum absoluten Einen (Kap. III.d). – Die Metaphysik Jamblichs ist Halfwassen (1996: 63) zufolge noch differenzierter, da Jamblich zwischen dem unsagbaren Einen, dem einfachhin Einen und dem Einen-Guten (also drei und nicht zwei Eine) unterscheide. Zum nicht leicht zu bestimmenden Verhältnis von Proklos und Jamblich im Zusammenhang mit Halfwassens (1996) Deutung s. u. Anm. 426 (in Kap. III.e). 305 So aber z. B. Cürsgen (2007 a: 43) zur angeblich konträren systematischen Stellung von Ganzheit und Teilhaftigkeit bei Proklos in der ETh und im Parmenides-Kommentar (zur Chronologie beider Werke vgl. ibd., 37).
c) Der Weg von der komplexiven Einheit zur partikulären Vielheit
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Proklos „wiederum nur eine Ausprägung des grundlegenden Paradoxes“ findet, „das sich ergibt, wenn die Vielheit der Wirklichkeit auf eine Ursache zurückgeführt wird“ (ibd., 257; Kursive FD), ist dabei wenig hilfreich, sondern besser zu vermeiden. Ohne methodisch offen zu lassen, ob ein Problem einer Lösung zuzuführen ist, wird jede Erkenntnisbemühung bereits im Keim erstickt. c) Der Weg von der komplexiven Einheit zur partikulären Vielheit. Proklos’ Teilhabe-Theorem als Vollendung der mittelplatonischen und plotinischen Methexis-Lehre Die Grundthese der vorliegenden Untersuchung beinhaltet, wie erwähnt, dass Proklos zum einen die platonische Ontologie und die dieser inhärierende Methexis-Problematik konsequent durchdacht und in der Elementatio Theologica zu einem vollständig entwickelten Theorem entfaltet hat und dass zum anderen genau dieses Theorem – bei entsprechender theoretischer Applikation – den Schlüssel darstellt für eine Lösung der Henaden-Problematik, d. h. für die Frage, warum die sog. ‚überseienden Henaden‘ sowohl unverzichtbar sind in Proklos’ metaphysischem System als auch wie sich ihre vieldiskutierte Stellung in diesem System widerspruchsfrei beschreiben lässt, und dass schließlich die Kombination von Methexis‑ und Henadenlehre die bereits zuvor im Mittelplatonismus und bei Plotin nachweisbare Synthese von mono‑ und polytheistischen Aspekten in einem theologischen System zur Vollendung führt und in der christlichen Rezeption bei Nikolaus von Kues einen Schlüssel für den interreligiösen Dialog darstellt. Die Exposition des Zentrums dieser Grundthese muss also bei Proklos’ Teilhabe-Theorem ansetzen.306 Die vorangegangenen Kapitel zur Entwicklung der parmenideisch-platonischen Philosophie sollten bereits darauf hinführen, dass dieses Theorem nicht losgelöst von der platonischen Ontologie betrachtet werden kann: Nur vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen intelligiblem Sein und sinnlich-wahrnehmbar-materieller Existenz vermag dieses Theorem als sinnvoll zu erscheinen. Wer der Meinung ist, ein Dreieck sei (wie sein Name nahe legt) lediglich das, was drei Ecken hat, achtet nicht darauf, dass das ei306 Der folgende Abschnitt ist eine komplett neu überarbeitete Zusammenstellung meiner Forschungsergebnisse, die ich unter dem Aspekt der Proklos-Rezeption bei Dionysius Areopagita bereits a. a. O. (Drews 2011: 161–183) dargelegt habe. – Zur Partizipationstheorie bei Proklos und Jamblich vgl. Rijk (1992) und Sweeney (1992: 257–285), der Proklos allerdings ein „lack of a doctrine of creation“ (ibd., 283–4) attestieren zu können meint. Zum Zusammenhang von Partizipationstheorie und Ideenlehre vgl. Cürsgen (2007 a: 175–188) sowie Chlup (2012: 99–111) mit sehr illustrativen Schemata. Unverständlich bleibt nur, warum Chlup (ibd., 99) den Teilhabe-Gedanken als „metaphor“ bezeichnet (in ähnlicher Weise: „the mechanism of participation“, „the language of participation“, ibd., 131), denn Proklos versteht methexis dezidiert nicht (bildlich‑)metaphorisch, sondern als reales constituens allen Seins, ohne dass es einem ‚Mechanismus‘ gleichkäme. Unberücksichtigt bleibt in den genannten Untersuchungen, wie zumeist in der Proklos-Forschung, jedoch das spezielle Problem der Partizipation am Ganzen und am Teil einer Sache (s. u.).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
gentliche Sachkriterium des Dreieck-Seins als einer geradlinigen ebenen Figur in der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu finden ist – zumindest nach platonischem Mathematikverständnis, denn drei Ecken kann z. B. auch eine Zickzacklinie haben, die überhaupt keine (geschlossene) Figur darstellt usw.307 Die Fragen, was viele, äußerlich so verschiedene Gebilde als veritable Repräsentanten der einen Sache ‚Dreieck‘ auszeichnet, warum ganz unterschiedliche Phänomene wie Gerüche, Geschmackssorten, Film-, Bild‑ und Musikwahrnehmungen paradoxerweise allesamt als ‚schön‘ empfunden werden (können),308 kann man entweder empiristisch dadurch ‚wegerklären‘, indem man auf ‚gegebene Tatsachen‘ verweist, oder versuchen, einer kritischen Antwort zuzuführen. Die platonische Antwort will darauf hinaus, dass die empirische Wirklichkeit sich nicht durch ein ‚geschlossenes materiell-naturwissenschaftliches Wirklichkeitsverständnis‘ hinreichend beschreiben lässt, sondern bereits geistige Gestaltungsprinzipien wie Seele und Intellekt voraussetzt: Seele, weil Materie von sich aus unbelebt ist (sonst gäbe es nicht den Unterschied zwischen leblosen und lebendigen Körpern) und weil die belebten Organismen bestimmte Erkenntnis‑ und Strebeformen zeigen; Intellekt, weil die Seele in ihrem Streben nach Erkenntnis, Schönheit und nach Gutem nur bei diesen Sachgehalten selbst, also bei etwas auf erfüllende Weise Erkenntnis, Schönheit und Gutes Stiftendem an ihr Ziel gelangt. Dieses aber ist geistiger Natur und kann nur von dem Intellekt aufgefunden werden, denn nur die intelligiblen Ideen sind, platonisch verstanden, das Schöne, das Gute, das Dreieck (etc.) selbst, während die materiellkörperlichen Erfahrungsmöglichkeiten dieser Sachgehalte lediglich Abbilder von diesen darstellen, deren untereinander bestehende Diversität bereits darauf hindeutet, dass sie nicht das Schöne, das Gute etc. sein können. Damit besteht aber eine Relation der Abbilder zu ihren paradeigmatischen Ideen: Die Abbilder repräsentieren auf verschiedene und vielheitliche Weise das, was die Idee als die jeweilige Sache auf einshafte Weise ist. Dieses Relationsgefüge bedarf, wenn es denn Stimmigkeit für sich beanspruchen soll und darf, einer philosophischen Erklärung, die Proklos in seinem Methexis-Theorem zu geben 307 S. o. Kap. II.5 b. Die Orientierung an dem Pseudo-Kriterium der ‚drei Ecken‘ für das Dreieck-Sein ist ein klassisches Beispiel dafür, wie sich das Alltagsdenken an Einzelwahrnehmungen orientiert und orientieren muss, dabei aber einen akzidentellen Wahrnehmungsbefund als Ersatzkriterium für das allgemeine ‚Wesen‘ einer Sache nimmt: Die akzidentelle Wahrnehmung kann qua Sinneswahrnehmung nicht das begriffliche Sein einer Sache ‚einsehen‘, sondern nimmt bestimmte Qualitäten eines Dings (wie ‚drei Ecken‘) als Erkennungsmerkmal(e) dafür, was für ein Ding sie vor sich hat. Diese Orientierung ermöglicht das im Alltag schnell zu erfolgende Urteilen über einen Sachverhalt (hat man z. B. tatsächlich ein Auto vor sich oder nur eine Attrappe?); sie bleibt aber qua akzidenteller Sinneswahrnehmung im Bereich des bloßen Meinens und dringt nicht zu tatsächlicher, die Sache selbst begreifender Erkenntnis vor. Zum Unterschied von Meinen und Wissen / Erkenntnis sowie zur akzidentellen Wahrnehmung und ihrer erkenntnistheoretischen Bestimmung vgl. Schmitt (2003 a: 324–333) und Bernard (1988: 113–132). 308 S. o. Kap. II.2. und II.3.
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versucht. Als Leitfaden für das Verständnis dieses oft als „paradox“ und „inkonsistent“309 bezeichneten Theorems können die folgenden drei Fragen dienen: (1) Stecken die Ideen in ihren einzelnen Abbildern drin? (2) Sind die Abbilder die Ideen? (3) Stehen Abbilder und Ideen ohne eine sie verbindende Mitte getrennt voneinander? Zunächst sei nun das Theorem aus der Elementatio Theologica zitiert: Alles Partizipierende ist geringer als das Partizipierte [Partizipiert-Werdende], und das Partizipierte ist geringer als das Unpartizipierbare. Denn das Partizipierende – vor der Partizipation gemäß seinem Sein310 unvollkommen, vollkommen aber durch die Partizipation geworden – ist gänzlich sekundär gegenüber dem Partizipierten, insofern es [sc. nur] vollkommen ist als Partizipierendes [die Anteilhabe aktual erlangt Habendes]. Inwiefern es nämlich unvollkommen war, insofern ist es geringer als das [sc. aktual] Partizipierte, welches es [sc. das Partizipierende] vollkommen macht. Das Partizipierte [PartizipiertWerdende] aber – gemäß seinem Sein zu einem bestimmten [sc. Repräsentanten einer Sache] und nicht zu allen [sc. Repräsentanten] gehörig – hat gegenüber dem gemäß seinem Sein zu allen und nicht [sc. nur] zu einem bestimmten [sc. Repräsentanten einer Sache] Gehörigen wiederum einen gemindert-untergeordneten Bestand. Denn das eine [sc. das Unpartizipierbare] ist der Ursache von allem verwandter, das andere [sc. das Partizipierte] weniger verwandt. Das Unpartizipierbare geht also den Partizipierten voraus, diese aber den Partizipierenden. Denn, um es zusammenfassend zu sagen: das eine ist Eines vor dem Vielen [sc. denn es ist genau eine Sache und erzeugt erst die in vielfacher Weise Partizipierten]; das in vielem Partizipierte aber ist zugleich Eines [sc. gemäß seiner sachlichen Bestimmtheit] und Nicht-Eines [sc. weil es als von etwas anderem Partizipiertes nicht die Sache selbst, von der es erzeugt wurde, sondern nur einen Teil von ihr ausstrahlt]; alles Partizipierende wiederum ist zugleich Nicht-Eines und Eines [sc. weil es dadurch, dass es an etwas anderem partizipiert, von diesem sachlich verschieden, also mehreres zugleich und daher ein Vielartiges ist, aber dennoch an der bestimmten Einheit der partizipierten Sache partizipiert] (ETh 24).
Mit der systematischen Dreierdifferenzierung zwischen Unpartizipierbarem Prinzip (amethekton) – Partizipierbarer / Partizipierter Vermittlungsinstanz (me‑ 309 Vgl. Tanaseanu-Döbler (2013: 257–260) und die obige Diskussion ihrer Ausführungen in Abschnitt III.b. S. ferner Beierwaltes (1979: 347–8), der angesichts der Frage, „wie das Eine unteilhabbar und zugleich Grund des Seins von Teilhabe“ ist, von einer „nicht aufhebbare[n] Paradoxie“ spricht. In seinem Kommentar zu ETh betrachtet Dodds (1963: 211) Proklos’ Differenzierung zwischen Unpartizipierbarem und Partizipiertem als angreifbar: „The solution of the antinomy by multiplication of entities is typical of Pr.’s method. […] But in doing so he lays himself open to charges of inconsistency“ (zur kritischen Auseinandersetzung mit Dodds vgl. Schmitz [2002: 456, 464–6], Meijer [1992: 81–87] sowie Drews [2009: 268, Anm. 58]). Vgl. außerdem Cürsgen (2007 a: 43) zur angeblichen „Ambiguität des Methexisbegriffs insgesamt“. Cürsgen (ibd., 92) spricht ferner allgemein von der „dialektische[n] Logik des [sc. Platonischen] Parmenides, die die Widersprüchlichkeit als Anwesenheitsmodus des Absoluten im Denken vollständig entwickelt.“ 310 Das Partizip on „seiend“ übersetze ich in dieser Passage immer mit der etwas sperrigen Formel „gemäß seinem Sein“, da Proklos hier m. E. den ontologischen, also das spezifische Sein betreffenden Aspekt betont, der sonst im Deutschen durch glattere Formulierungen, bei denen ‚ist‘ lediglich als Copula aufgefasst würde, verdeckt werden könnte.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
techomenon) – Partizipierendem Abbild (metechon) bringt Proklos hier auf den Punkt, was der Sache nach bereits vor ihm im Mittelplatonismus (bei Alkinoos und Apuleius) und beim Archegeten des Neuplatonismus Plotin grundgelegt wurde: Wenn, wie gesehen,311 bereits Alkinoos im Didaskalikos formuliert: Denn alles, was in irgendeiner Weise von den Menschen für gut gehalten wird, erlange, wie [sc. Platon] annahm, diese Bezeichnung dadurch, dass es in irgendeiner Weise an jenem ersten und ehrwürdigsten [sc. Guten] partizipiere (metechein) in der Weise, wie auch das Süße und das Warme gemäß dem gemeinschaftlichen Mitsein (metousia) des ersten [sc. Süßen respektive Warmen] die Benennung erhalte (Alkinoos, did. 27, 2),
so weist er in grundsätzlicher Weise darauf hin, dass die empirischen Erfahrungsmöglichkeiten des Guten ontologisch auf eine bestimmte Anteilhabe an dem höchsten Guten (Gott selbst) zurückgehen. Für Apuleius konnte oben312 gezeigt werden, dass er in De Platone differenziert zwischen den rein intelligiblen, transzendenten Ideen (formae, species), den daraus abgeleiteten instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen (exempla[ria]), durch deren Vermittlung erst – wie durch einen Abdruck – die sinnlich-wahrnehmbar instantiierten Abbilder zweiter Ordnung als dinglich immanente Form-Gestalten (formae et figurationes) entstehen. Diese Dreier-Unterscheidung hat systematisch eine vergleichbare Valenz wie die Dreier-Differenzierung in Proklos’ Teilhabe-Theorem. Eine geeignete Erläuterung dieses proklischen Theorems hat Plotin gleichsam schon vorweggenommen,313 wenn er ausführt: [sc. Jene transzendente, intelligible Natur] aber ist, ‹der Zahl nach› identisch, überall gegenwärtig, nicht als das enhyletische Dreieck, welches in Vielem Mehrere ist, sondern als das ahyletische [sc. Dreiecks-Eidos] selbst, von dem auch die [sc. Dreiecke] in der Materie [sc. ihr abgeleitetes Sein haben]. Weshalb nun ist nicht überall ein enhyletisches Dreieck, wenn doch überall das ahyletische [sc. ist]? Weil nicht alle Materie [sc. an ihm] partizipiert, sondern etwas Verschiedenes hat, und [sc. weil] nicht alle [sc. Materie] für alles [sc. geeignet ist] (Plotin, enn. VI, 5, [23] 11, 31–36).
Denn mit diesen Ausführungen erklärt Plotin anhand des Beispiels ‚Dreieck‘ antizipierend das, was Proklos sagen wird: Das immaterielle / ahyletische Dreieck ist das rein intelligible Eidos, welches alle Formen des Dreieck-Seins in einshafter Komplexion umfasst; es ist nicht entweder rechtwinklig oder gleichseitig (etc.), sondern ist alle diese auf der Ebene der Vorstellbarkeit existierenden Unterschiede als einshafte Idee, weil die Idee rein intelligibler, begreifbarer, also die bildhafte Imaginationsebene transzendierender Natur ist. Diese intelligible Natur des Dreiecks-Eidos lässt sich in ihrem tatsächlichen Sein aufzeigen durch den Auf311 S. o.
Kap. II.4.1. S. o. Kap. II.4.2. 313 S. o. Kap. II.5 b. 312
c) Der Weg von der komplexiven Einheit zur partikulären Vielheit
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weis der in allen Einzeldreiecken trotz ihrer bildlich-vorstellbaren Verschiedenheiten wie Rechtwinkligkeit und Gleichseitigkeit bestehenden Einheitlichkeit als ebene, geradlinige Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln. Weil aber dieses eine immaterielle Eidos ‚Dreieck‘ von keinem seiner Repräsentanten ganz abgebildet werden kann, ist das Eidos gegenüber diesen instanzhaften Repräsentanten transzendent, während diese nur Teilverwirklichungen – Partizipanten – sind. Proklos spricht deshalb von dem unpartizipierbaren Prinzip, dem Eidos, welches eine Sache vor ihrem Auseinandertreten in die Vielheit als „Eines vor dem Vielen“ ist. Dieses unpartizipierbare Eidos besteht für sich selbst ewig und ortlos, es kann nicht durch Partizipation in ein ‚Hier und Jetzt‘ herabgezogen werden; es ist, wie Plotin sagt, überall gegenwärtig, aber dabei nicht in partikulärer Einschränkung314 an eine bestimmte Materie gebunden und gerade in seiner intelligiblen Transzendenz ein wahrhaft Eines, „der Zahl nach identisch“. Die erste der o.g. Leitfragen, ob die Ideen selbst als Ideen in den einzelnen an ihnen partizipierenden Abbildern ‚drinstecken‘, kann also verneint werden. Das intelligible Eidos ‚Dreieck‘ ist aber umgekehrt Ursache dafür, dass überhaupt verschiedene, dreiecksartige Gebilde möglich sind und auch als Dreiecke erkannt werden können: Alle materiellen Dreiecke haben als Ursache für ihr spezifisches Dreieck-Sein dieses eine transzendente Eidos, wie Plotin formuliert. Diese Dreiecke partizipieren an der Möglichkeit, Dreieck zu sein – täten sie es nicht, wären sie gemäß Proklos „unvollkommen“, weil sie nichts Bestimmtes (kein Dreieck) wären. Bestimmtheit und damit Vollkommenheit im Sinne eines spezifischen Etwas-Seins erlangen sie erst durch Mitsein eidetischer Bestimmungen, durch Partizipation an der spezifisches Sein verleihenden Idee. Es muss also irgendwie zu einer Partizipation eines Aufnahmefähigen (Materie) an einer bestimmten Seinsmöglichkeit (Idee) kommen. Wenn aber das Aufnahmefähige ohne solche Partizipation nicht ist, was es erst durch die Partizipation werden kann, dann ist es qua von sich aus unbestimmter Materie Nicht-Eines, aber qua Partizipation an seinsgebender Einheit Eines. Damit können (Leitfrage 2) die Abbilder nicht die einshaften Ideen selbst sein. Weil, wie Plotin erklärt, nicht alle Materie aufnahmefähig für alle Ideen ist, deshalb kommt es nur teilweise zu Partizipationen. Aber auch die realisierten Partizipationen selbst sind wieder nur teilhaft, weil keine Materie, auch wenn sie partizipiert, die ganze Seinsfülle eines Eidos aufnehmen kann: Ein gleichseitiges Dreieck ist nicht zugleich unregelmäßig oder stumpfwinklig etc. Die Seinsfülle wird an der sie teilhaft aufnehmenden Materie also gebrochen und damit ins Viele zerteilt, denn es gibt viele Partizipanten (gleichseitige, rechtwinklige, stumpfwinklige etc. Dreiecke), die an der einen Sache partizipieren, wobei die Sache selbst als Prinzip doch unpartizipierbar bleibt. Mit Cusanus könnte man formulieren: ‚nicht als ein Contractum‘.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Dieses vordergründige Paradox ist auflösbar durch die Unterscheidung von immaterieller / ahyletischer vs. materiegebundener / enhyletischer Idee: Denn die an einem konkreten Dreieck empirisch feststellbare Form ist nicht das rein intelligible, alle Dreiecksmöglichkeiten vereinende Eidos selbst, sondern eine eingeschränkte Teilverwirklichung dieses Eidos: Es ist eine teilhabbare bzw. partizipierte Form, welche in der Mitte steht zwischen unpartizipierbarem Prinzip / Eidos und partizipierbarer Materie. Da viele partizipierte Formen des an und für sich unpartizipierbaren Prinzips aufweisbar sind (viele verschiedene Einzeldreiecke), deshalb spricht Plotin davon, dass „das enhyletische Dreieck in Vielem Mehrere ist“ – im Unterschied zum einshaften, der Zahl nach identischen Ideenprinzip selbst. Proklos nennt die partizipierbare Mitte daher qua ihrer einshaften Sachbestimmtheit „Eines“ und qua Brechung dieser einen Sachbestimmtheit ins Viele „Nicht-Eines“. Auch die dritte Leitfrage, ob einzelne an einer Sache partizipierende Abbilder ohne eine sie verbindende Mitte getrennt von den Ideen bestehen, kann also verneint werden. Als Zwischenfazit lässt sich mit Proklos und Plotin resümieren: (1) Das unpartizipierbare Prinzip ist die Ursache einer bestimmten Seinsmöglichkeit, die rein intelligibler, immaterieller Natur ist: das komplexiv-einshafte, immaterielle Eidos. (2) Diesem untergeordnet und zugleich zugeordnet / zugehörig, weil von ihm aus seiner transzendenten Zeugungskraft hervorgebracht, ist die partizipierbare und aktual partizipierte Vermittlungsinstanz,315 welche die Anteilhabe an dem von sich selbst her unpartizipierbaren Prinzip ermöglicht und dieses aus 315 Vgl. ETh 23, 22–29. Warum Meijer (1992: 67, passim) das Partizipierte aufspaltet in zwei Aspekte (das immanente metechomenon I vs. das transzendente metechomenon II), erscheint zunächst deshalb fragwürdig, weil Proklos selbst diese Differenzierung so nicht vornimmt, sondern stattdessen (wie auch von Meijer ibd., 69 f. ausgeführt) im Zusammenhang mit den partizipierbaren Henaden einerseits von „selbstvollkommenen Henaden“ und andererseits von bloßen „erleuchtenden Funken“ spricht (s. u. Kap. III.c zu ETh 114 und 64). Überraschenderweise negiert Meijer (ibd., 82) „that the metechomena can be participated as such“. Meijer (ibd., 75) weist darauf hin, dass die Henaden „do not belong to their participants as their substrata“. Für diesen Aspekt spricht, dass die Partizipationen an den Henaden nicht dinglich (vgl. ibd., 82) verstanden werden dürfen; jedoch ist der gesamte Partizipationsmodus bei Proklos geistig, d. h. entweder (im Falle von Sein, Leben, Intellekt, Seele) als intelligibel oder im Falle der Henaden als Zwischenstufe zwischen dem überintelligiblen Einen und dem intelligiblen Sein zu begreifen, so dass das geistig Partizipierte nicht dinglich zu einer bestimmten partizipierenden Materie allein „gehört“ („belong[s]“, ibd., 69, 72), sondern von verschiedenen Partizipanten auf verschiedene Weise partizipiert wird (verschiedene Dreiecke z. B. entfalten die partizipierbare Sache ‚Dreieck‘ unterschiedlich und zeigen unterschiedliche Gestalten). Trotzdem sagt Proklos ausdrücklich, dass die Anteilgaben der universaleren Ursachen zum Zugrundeliegenden für die Anteilgaben der weniger universalen Ursachen werden können (ETh 71). Dass Meijer abschließend selbst metechomenon II und amethekton in eine größere Nähe zueinander rückt („We may say, then, that the amethekton and the metechomenon have something in common: the amethekton may in a way be said to be participated like the metechomenon, and the (transcendent) metechomenon can be said to be eternally like the amethekton“, ibd., 83), scheint seine Interpretation bzgl. des metechomenon nicht unbedingt zu untermauern, weil beide dann nahezu ununterscheidbar wären.
c) Der Weg von der komplexiven Einheit zur partikulären Vielheit
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seiner komplexiven Einheit in die partikuläre Vereinzelung eines materieverbundenen Eidos überführt. (3) Damit es überhaupt zur Entfaltung der produktiven Fülle des jeweils Einen in viele aktuale Instanzen kommt, bedarf es eines Aufnahmefähigen, das (über eine partizipierbare Mitte) an seinsspezifischer Einheit partizipiert: die partizipierende Materie. Damit zeigt sich hier bereits, dass entgegen gewichtigen Forschungsmeinungen die Rückführbarkeit von vielheitlicher Wirklichkeit auf jeweils einheitliche Ursachen nicht per se auf einem unlösbaren Paradox beruhen muss316 – ein wichtiges Resultat für die später zu diskutierenden Fragen der Henadenlehre und des philosophischen Verhältnisses von Mono‑ und Polytheismus. Proklos und Plotin bringen mit ihrer Ontologie und Teilhabe-Philosophie gerade auf den Punkt, wie sich komplexive Einheit über partikularisierend wirkende Zwischeninstanzen in eine Vielheit partikulärer Repräsentanten dieser Einheit bricht: Denn dieser dynamische Prozess besagt nichts anderes, als dass die an der Materie vereinzelten und nicht vereinbaren Momente einer Sache (wie z. B. gleichseitiges vs. rechtwinkliges Dreieck) bereits zuvor in ihrem jeweiligen Sachprinzip, dem Eidos, vorliegen, jedoch auf geeinte, diese ‚Konträrvereinzelungen‘ zu einer komplexiven Einheit transzendierende Weise. Denn dadurch, dass sich zeigen lässt, dass ein gleichseitiges Dreieck qua ebener Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln genauso – gemäß demselben Seinsunterschied – Dreieck ist wie ein stumpfwinkliges, deshalb sehen die Neuplatoniker sich in ihrer ontologischen Annahme berechtigt, dass beide (und alle, die diesen Sachunterschied verwirklichen) als verschiedene, viele Instanzen zu dem einen Eidos ‚Dreieck‘ gehören. Es ist also gerade das Anliegen von Proklos und Plotin, darzulegen, warum die Vielheit der Instanzen auf eidetischer Einheit basiert und auf diese rückführbar ist und sogar sein muss: Mehrere Dreiecke sind voneinander verschieden, entfalten aber trotzdem jeweils denselben spezifischen Seinsunterschied, der sie jeweils zum Dreieck macht. Aristotelisch formuliert: Die Artform wird qua Artform nicht über Verschiedenes prädiziert, sondern liegt qua Artform entweder realisiert vor oder nicht (was graduelle Abstufungen des Werdens und Vergehens indes nicht ausschließt, insofern es sich dabei um das Werden und Vergehen von etwas durch die jeweilige Artform Spezifiertes handelt, die entweder spezifizierend wirkt oder nicht).317 316 Anders z. B. Abbate (2008: 16) und Tanaseanu-Döbler (2013: 257). S. ferner weitere Gegenpositionen in Anm. 309. – Zur Frage, warum das Unpartizipierbare das Partizipierbare erzeugt, s. unten im Haupttext sowie Chlup (2012: 52) mit dem Hinweis: „Participation and desire are but two sides of one coin.“ D. h., allem Streben nach einem Sachprinzip als Ursache seinsstiftender Gut‑ und Einheit liegt bereits ein (irgendwie geartetes) Partizipationsmoment zugrunde, das jedoch qua Streben über das nur Partizipierbare hinauszielt auf das Transzendent-Unpartizipierbare: Insofern ist das Streben nach dem unpartizipierbaren Prinzip die andere Seite der Medaille, dass aus der Überfülle des unpartizipierbaren Prinzips die partizipierbare Mitte heraustritt. Die Ursache des Strebens kann somit letztlich nur im Transzendenten selbst begründet liegen. 317 S. o. Kap. II.3.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Proklos kann besonders genau zeigen, wie einerseits das Viele sich voneinander unterscheidet: nämlich im Hinblick auf die nicht-einheitliche, unterschiedliche Materie (in der z. B. Dreiecksartiges realisiert sein kann), und wie andererseits eine Vielheit von der Zahl nach verschiedenen Partizipanten trotzdem zu einer Sache gehört: insofern sie denselben Seinsunterschied entfalten, wenn auch auf unterschiedliche Weise.318 Gerade weil die Partizipanten der Materie nach verschieden sind, gemäß der partizipierten Sache aber zu einem Eidos gehören, wird hier erkennbar, dass das sie Einende ebenfalls von ihnen verschieden sein muss,319 insofern es selbst nicht der Partikularisierung in die Vielheitlichkeit unterliegt, sondern umgekehrt gerade Ursache dafür ist, dass überhaupt eine Einheit in der Vielheit der verschiedenen partikulären Partizipanten realisiert sein kann. Denn ohne eine für sich als nicht-partikularisierte Einheit vor der Vielheit (s. o. ETh 24) bestimmbare Ursache – das intelligible Eidos – gäbe es nur eine Vielheit zueinander bezugsloser Instanzen von Unbestimmtheit. Genau die scheinbare Kluft zwischen dem Einen vor dem Vielen, das als solches die Vielheit der einzelnen Partizipanten transzendiert, und eben diesen Partizipanten überbrückt die partizipierbare Mitte, indem sie die transzendente Einheit vor dem Vielen in eine partizipierte Einheit in den vielen Partizipanten überführt. Das Methexis-Theorem will also zeigen, inwiefern die Vielheit der Instanzen einer Sache einerseits Vielheit ist, aber als solche sich einer vorausliegenden und diese Instanzen-Vielheit transzendierenden Einheits-Ursache verdankt und wie die Relation zwischen Instanzen und Einheits-Prinzip zu denken ist. Bevor aus dem gesonderten Henaden-Problem bei Proklos ein unauflösliches Paradox zwischen ‚vielheitlicher Wirklichkeit vs. Einheitsursache‘ abgeleitet wird, sollte daher das Methexis-Theorem ausreichend gewürdigt werden. Die Dreier-Differenzierung dieses Theorems darf jedoch nicht als dingliches Schema missverstanden werden, als ob es immer nur starr diese drei Instanzen und sonst nichts gäbe: Ein einzelnes materialisiertes Dreieck ist nicht nur Dreieck, sondern hat auch sachfremde Momente an sich (Stoff, Farbe, räumliche Ausdehnung). Auch das Eidos ‚Dreieck‘ selbst setzt andere Ursachen wie Einheit, Sein, Ganzes, Teil, Winkel, Linie, Punkt etc. voraus. Proklos’ Theorem bestreitet all dies nicht, sondern will zeigen, wie intelligible, komplexive Einheit sich in partikuläre Vielheitlichkeit entfaltet, und unterscheidet dabei jeweils die drei Seinsweisen des unpartizipierbaren Prinzips, der partizipierbaren Mitte und dem
318 Dazu steht keineswegs im Widerspruch, dass einzelne materielle Gebilde natürlich nicht nur ‚Dreieck‘, sondern zugleich immer auch anderes sind: z. B. rot, aus Eisen, fest etc., denn Proklos sagt ja gerade, dass der jeweilige Partizipant qua Materie Nicht-Eines, also Vieles, und nur durch Teilhabe ein Eines ist. – Zum Problem, dass dasselbe Eidos als seinsstiftende Ursache auf unterschiedliche Weise in den einzelnen Partizipanten entfaltet wird, s. u. Proklos’ Differenzierung zwischen der Partizipation am Ganzen und am Teil eines Eidos. 319 Vgl. ETh 23, 32–7.
c) Der Weg von der komplexiven Einheit zur partikulären Vielheit
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aktual an dieser Partizipierenden: Als solches bedarf das Theorem einer an der Frage nach dem jeweiligen Sachaspekt geleiteten, flexiblen Applikation. Die genannte Dreier-Differenzierung geht nicht zuletzt mit einer weiteren dreifältigen platonischen Basisannahme konform: der Unterscheidung von Intellekt – Seele – Körper. Das Prinzip ‚Intellekt‘ entspricht als Erkenntnisvermögen der intelligiblen, unpartizipierbaren Eidos-Ursache und vermag sie zu erkennen. Das Prinzip ‚Seele‘ entfaltet den Kosmos der intelligiblen Ideen nach außen hin zur Materie, in räumliche Dimensionen, indem sie (mehr oder weniger komplex) strukturierte Körper erzeugt. Diese wiederum gewinnen durch die jeweils vermittelnde Seele Anteil an den Seinsstruktur verleihenden intelligiblen Ideen, denn ohne (partizipierbare) Seele könnte nichts (unpartizipierbares) Intelligibles dem (partizipierenden) Körper beiwohnen, wie Platon ausführt,320 auch wenn er nicht die (hier deshalb eingeklammerten proklischen) Partizipationstermini gebraucht: Der Intellekt (nous) wiederum [d. h. das Vermögen, welches die wahren Ideen zu begreifen vermag] könne ohne Seele keinem beiwohnen. Aufgrund dieser Überlegung setzte dieser [sc. der Demiurg] Intellekt in Seele (psychê), Seele aber in Körper (sôma) und fügte so das Ganze zusammen, auf dass er gemäß der Natur das schönstmögliche und beste Werk hervorgebracht hätte. So also muss man nach der wahrscheinlichen rationalen Rede (kata logon ton eikota) sagen, dass dieser Kosmos ein beseeltes (empsychon) und intellektbegabtes (ennoun) Lebewesen in Wahrheit wegen der Vorsehung (pronoia) des Gottes geworden ist (Platon, Tim. 30b3–c1).
Obwohl das Teilhabe-Theorem aus ETh 24 den Methexis-Gedanken, wie er aus der platonischen Ontologie abzuleiten ist, in seinen drei wesentlichen Bestimmungsmomenten Unpartizipierbares – Partizipiertes – Partizipierendes vollständig entfaltet, bedarf der Teilhabe-Modus noch einer Präzisierung, die Proklos in seinem Parmenides-Kommentar321 vornimmt. Zunächst sei als Beleg dafür, dass Proklos auch im Parmenides-Kommentar grundsätzlich dasselbe Partizipationstheorem wie in der ETh vertritt, folgende kurze Passage angeführt: [sc. Ein wahrhaft seiendes Eidos] verharrt auf separate Weise bei sich selbst auch dann, wenn an ihm partizipiert wird, und nicht wird es etwas von den [sc. an ihm] Partizipierenden, sondern, selbst vor den Partizipierenden seiend, gibt es auch diesen [sc. an sich Anteil], soviel sie empfangen können; weder [sc. ist es selbst] ein Seiendes in uns – wir nämlich partizipieren [sc. an ihm] als solche, die nicht es selbst empfangen (etwas anderes [sc. als das Eidos selbst] ist das von dort [sc. aus dem Intelligiblen zu uns] Kommende) – noch ein Werdendes in uns, nicht aufnahmefähig nämlich ist es allen Werdens (in Parm. 932, 27–34). S. zur folgenden Stelle auch oben Kap. II.2. Obwohl inzwischen neuere Editionen verfügbar sind, zitiere ich hier und im Folgenden zumeist dennoch aus der älteren Cousin-Ausgabe, weil ihre Seiten‑ und Zeilenzählung m. E. immer noch ein in der Proklos-Forschung standardisierter Referenzpunkt ist und zugleich mit der älteren Forschung verbindet. Bei überzeugenderer Lesart wird punktuell die neue Edition von Steel (2007, 2008, 2009) herangezogen, vgl. z. B. unten Anm. 494. 320 321
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Damit macht Proklos auch im Parmenides-Kommentar deutlich, dass das jeweilige Sachprinzip unpartizipierbar, getrennt von allen materialen Zusätzen „separat bei sich“ verharrt, da es kein Werden kennt, sondern als intelligibles Eidos in ewiger Unveränderlichkeit allen Partizipanten gegenüber transzendent ist. Das, was jedoch als eidetische Bestimmtheit ein Werden an der Materie hat, ist von dem Eidos selbst verschieden, hat also den Status einer partizipierbaren Mitte, über deren Vermittlungsakt auch die transzendente Idee so viel Anteil von sich gibt, wie die jeweils partizipierende Materie aufzunehmen vermag. Interessanterweise lässt Proklos an dieser Stelle erkennbar werden, dass auch der Mensch („wir“) kraft seines Intellekts nicht das Eidos selbst in seiner ganzen Seinsfülle aufnehmen kann, sondern offenbar in seiner Intellekterkenntnis etwas bereits von dem transzendenten Eidos auf bestimmte Weise Verschiedenes, aber von diesem Prinzipiiertes ergreift. Denn das, was aus dem Intelligiblen kommend dem erkennenden Menschen zuteil werde, sei „etwas anderes“.322 Im Parmenides-Kommentar geht Proklos nun insofern über das in der ETh dargelegte Methexis-Theorem noch hinaus, als er auch folgenden Widerspruch einer philosophischen Lösung zuführt: Denn wenn das (über die partizipierbare Mitte) aktual partizipierte Eidos einerseits in den Partizipanten identifizierbar, d. h. als ein identisch Partizipierbares in den Vielen präsent ist, andererseits die Partizipanten jedoch nie die gesamte Seinsfülle des von sich selbst her unpartizipierbaren Eidos aufzunehmen in der Lage sind und sich außerdem die 322 Dies erscheint zunächst als ein gewisser Unterschied etwa zu Plotin, der zwischen „abbildlicher und gleichwesentlicher Teilhabe“ (Koch 1958: 23–26) differenziert: Während die Materie nur an Abbildern der Ideen partizipiere, werde die erkennende Seele mit den intelligiblen Urbildern selbst auf „gewisse Weise“ identisch: „Im Gegensatz zu den Sinnesdingen vermag die Seele an den Ideen selbst teilzunehmen, d. h. sie in sich zu haben. Sie selbst ist ja nach dem vorgelegten Text (Enn. V, 9, n. 13) in gewisser Weise mit ihrer Idee identisch“ (Koch ibd., 25). Die gleichwesentliche Teilhabe der Seele mit der von ihr erkannten Idee wird also durch das „in gewisser Weise“ wiederum eingeschränkt, zumal auch die „menschliche Seele ‚hier unten‘ “ gemäß Plotin nicht Selbst-Seele, „autopsychê in vollem Sinne“ sein kann (Koch ibd., 31). Plotin zielt ganz auf den dimensionalen Unterschied der materiellen, abbildhaften Partizipation durch eine Materie gegenüber der geistigen, gleichwesentlichen Partizipation durch eine Seele ab, wie er auch gemäß Proklos vorliegt. Die „auf gewisse Weise“ vorliegende Identität zwischen noetischer Seele und noetischem Eidos erklärt Proklos indes genauer als Plotin und steht damit nicht in einem tatsächlichen Widerspruch zu der aristotelischen Lehre, dass der Intellekt (nous) im Intellektakt mit dem erkannten Intelligiblen eines wird und das Eidos selbst aufzunehmen vermag (vgl. Aristoteles, de an. 429a15–16 und 430a3–5, s. dazu Bernard [1988: 181 f.; 199, Anm. 44]; sowie Aristoteles, metaph. 1052a29–31, s. dazu Pietsch [1992: 257]). Denn Proklos unterscheidet zwischen dem intelligiblen (noetischen) Eidos selbst und seinem intellektualen (noerischen) Erkanntwerden. In dieser Hinsicht lässt sich auch die oben übersetzte Passage des Parmenideskommentars so verstehen, dass eben nicht das Eidos selbst, insofern es noetisch ist, dem Menschen in seinem Nous zugänglich ist, sondern nur, insofern es vom Nous als noerisches erkannt wird: „ein anderes ist das Noeton in jedem einzelnen Intellekt und ein anderes das bei sich selbst vorher [sc. bevor ein Nous es denkt] gegründete [sc. Noeton]; und dieses ist nur noetisch, jenes aber ist noetisch, insofern es im Noerischen ist“ (in Parm. 1070, 9–11; vgl. ferner ibd., 905, 27 f.). S. ferner Proklos, in Parm. 1080,36–1081,10 (zitiert unten in Anm. 349).
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Partizipanten durch ihre differierende partikuläre Teilhabe auch voneinander unterscheiden, dann stellt sich die Frage, wie das partizipierte Eidos zum einen Ursache identitätsstiftenden Seins und zum anderen zugleich Ursache von Verschiedenheit sein kann. Besteht also doch ein Paradox zwischen ‚vielheitlicher Wirklichkeit und einheitlicher Ursächlichkeit? Proklos kann auch diesen berechtigten Einwand durch genauere Differenzierung des Partizipationsmodus zurückweisen: Das, was Anteil an einem bestimmten Sein empfängt und so durch dieses Sein geformt wird, nimmt nie die gesamte Seinsfülle auf, sondern – gemäß der spezifischen Geeignetheit (epitêdeiotês) des aktiv Aufnehmenden – immer nur bestimmte Aspekte dieses intelligiblen Eidos-Seins bzw. bestimmte einzelne Vermögen dieser Seinsfülle. Deshalb bleibe zwar einerseits die seinsspezifische Eigenheit (idiotês) in allen aktual an ihr partizipierenden Instanzen als selbige unteilbar erhalten (Partizipation am Ganzen einer Sache); zugleich wird sie in ihrer Seinsfülle aber auf bestimmte Einzelfälle hin beschränkt (Partizipation an der Sache gemäß einem bestimmten Teil):323 Wenn jemand nicht gemäß der körperlichen Weise das Ganze und die Teile als Eines untersucht, sondern so, wie es den intelligiblen immateriellen Eidê angemessen ist, wird er sehen, dass das Hiesige [= das Wahrnehmbare] an seinem jeweiligen Paradeigma sowohl als Ganzem wie auch als Teil partizipiert. Weil nämlich jenes den Rang (logos) einer Ursache hat, dieses aber aus der Ursache ist, keinesfalls aber das Verursachte das ganze Vermögen der Ursachen aufnimmt, partizipiert das Hiesige an dem Eidos nicht als Ganzem. Wo nämlich vermag das Wahrnehmbare die intellektualen Lebendigkeiten und Vermögen von jenem aufzunehmen? Wo aber kann das Einartige und das Teillose dessen [sc. des Intelligiblen] in der Materie ein Werden haben? Da aber das Hiesige die Eigenheit (idiotês) [sc. des Eidos] bewahrt, gemäß welcher das dort Gerechte [= das Gerechte im Intelligiblen] ‚gerecht‘ oder das Schöne ‚schön‘ genannt wird (gemäß ihrem Vermögen), deshalb also mag man wiederum sagen, dass dieses [sc. das Wahrnehmbare] an den Ganzen partizipiert und nicht an den Teilen (in Parm. 859, 7–22).
Proklos befindet sich mit der Rede von der ‚Teilhabe an einem Eidos als Ganzem und als Teil‘ nicht mit sich selbst in Widerspruch, wenn er ein Eidos als einshaft und teillos beschreibt. Denn ‚Eidos als Ganzes und als Teil‘ bezieht sich auf die Weise, wie das Partizipierende an dem Eidos partizipiert, nicht darauf, wie das Eidos von sich selbst her ist. Insofern zwar nämlich die [sc. spezifische] Eigenheit eines jeden einzelnen [sc. Eidos] auch bis zu dem Letzten unter den [sc. an ihr] Partizipierenden durchdringt, erfolgt die Partizipation an Ganzen; insofern das Sekundäre aber das Vermögen (dynamis) der [sc. jeweiligen] Ursachen nicht als ganzes aufnimmt, erfolgt die Partizipation an Teilen (in Parm. 874, 11–16).
323 Proklos bezieht sich in seinem Kommentar hier auf Platon, Parm. 131a8 f. (vgl. Chlup 2012: 22). – Das Folgende greift zurück auf frühere Untersuchungen in Drews (2009: 256 f.; 2011: 165 f.).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Verdeutlichen lässt sich dieses allgemein Gesagte wiederum am Beispiel des spezifischen Dreieck-Seins: Wenn ‚Dreieck‘ eine geradlinig-ebene Figur ist, dann kommt ihr wesensmäßig zu, dass ihre Innenwinkelsumme der von zwei rechten Winkeln gleich ist. Dieser die Substanz ‚Dreieck‘ begrifflich bestimmende Unterschied wird in allen einzelnen Dreiecken als Instanzen des übergeordneten Eidos ‚Dreieck‘ ganz verwirklicht, insofern sie Dreiecke sind. Jedes einzelne vorstellbare Dreieck kann aber verschiedene Aspekte des Dreieck-Seins verwirklichen, die in dem Begriff ‚geradlinige Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln‘ als Möglichkeiten ungeschieden enthalten sind. Diese einzelnen Aspekte treten in der Vorstellbarkeit als miteinander unvereinbar auseinander: Ein Dreieck, insofern es gleichseitig ist, kann nicht zugleich auch rechtwinklig sein; ein unregelmäßiges Dreieck ist nicht zugleich auch gleichschenklig. D. h., in diesen Partikular-Instanzen wird das übergeordnete begriffliche Dreieck-Sein auf bestimmte Aspekte hin eingeschränkt. In dieser Hinsicht partizipieren die Einzelinstanzen nur teilweise am Sein ihres übergeordneten Prinzips ‚Dreieck‘. Zugleich aber haben sie in anderer Hinsicht auch am Ganzen des begrifflich-intelligiblen Wesens ‚Dreieck‘ Anteil, insofern sie alle gemeinsam den substantiellen Unterschied verwirklichen, dass ihre Innenwinkelsumme der von zwei rechten Winkeln gleich ist. Es liegt also eine Partizipation sowohl am Ganzen wie auch am Teil des Seins ihres intelligiblen Prinzips vor, wie Proklos im Parmenideskommentar allgemein formuliert. Insofern das geeinte Sein des Prinzips etwas anderes als das eingeschränkte Sein desselben Prinzips in den Instanzen ist, unterscheidet Proklos das transzendente, in seiner Seinsüberfülle unpartizipierbare Prinzip selbst und die aus seiner Überfülle hervorgehenden, seine Bestimmtheit vermittelnden, partizipierbaren Mitten. Leichter verständlich und prägnant macht Proklos an anderer Stelle auf das sachlich identische Problem aufmerksam, dass die seinskonstituierende Teilhabe nicht materialistisch als bloße Anteilhabe an einem quantitativen Teil(‑ stück) denkbar ist, sondern die Teilhabe auch am Ganzen sachlich immer schon voraussetzt: Wie aber wird auch jeder Einzelne von uns [sc. in sachangemessener Weise] ‚Mensch‘ genannt, aber nicht ‚Teil von Mensch‘, wenn doch jeder Einzelne von uns einen Teil hat und nicht das Ganze? (in Parm. 865, 33–35)
Die auf geistige Weise zu verstehende Teilhabe am Ganzen und am Teil eines Eidos im platonischen Sinn ist also grundlegend zu unterscheiden von materialistischen Teilhabekonzepten, z. B. vom stoischen Verständnis der Seelen als „Stücken und Teilchen“ des von der Materie ungetrennten, in ihr immanenten Göttlichen (vgl. Weier [1970: 106] zu Epiktet, dissertationes I, 14, 6). Wie bereits oben im Zusammenhang mit Plotin324 erläutert wurde, kann ein einzelner Mensch in seiner wahrnehmbaren Gestalt nicht als Sachkriterium für S. Kap. II.5 b, mit Anm. 229.
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d) Das Eine als Ursache alles Vielen
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das Eidos ‚Mensch‘ gelten, sonst ergäben sich eine Reihe von Aporien: Wenn dieser einzelne Mensch das Eidos ‚Mensch‘ schlechthin verkörpern sollte und z. B. männlich und hellhäutig wäre, wären eine Frau oder ein dunkelhäutiger Mann dann etwa nicht ‚Mensch‘? Insofern weist auch Proklos hier darauf hin, dass kein einzelner Mensch die Fülle des eidetischen Mensch-Seins als ganze zu verwirklichen vermag. Trotzdem werden aber alle Menschen in ihrem partikulären Mensch-Sein zu Recht ‚Mensch‘ genannt und sind es auch. Denn auch wenn ein Schuster, ein Arzt, ein Pianist, ein Mathematiker, Sokrates oder Euklid in unterschiedlicher Form das Eidos ‚Mensch‘ entfalten, so kommt ihnen allen doch qua Mensch auf selbige Weise zu, Mensch, nämlich rational begabt und sterblich zu sein. Denn alle Menschen partizipieren qua ‚Mensch‘ an ein und derselben intelligiblen EidosUrsache für ihr Mensch-Sein; die einzelnen Menschen können aber dieses eine Eidos nur teilhaft und auf unterschiedliche Weise realisieren und partizipieren insofern einerseits in unterschiedlicher, teilhafter Weise an dem Eidos ‚Mensch‘, andererseits aber, insofern sie wirklich und in voller Hinsicht Menschen sind, an dieser einen Bestimmtheit ‚Mensch‘ als ein und derselben, in ganzer Weise. Somit lässt sich auch hier das scharfe Kriterium für die Bestimmung eines Eidos, welches Aristoteles einfordert und von Rapp (1996 c: 174) als Nicht-Partikularität herausgearbeitet worden ist,325 durchaus anwenden: Insofern alle Menschen an der einen intelligiblen Idee ‚Mensch‘ partizipieren und jeweils animal rationale mortale sind, partizipieren sie an ihr als ganzer, in nicht-partikulärer Weise (obgleich auch diese Partizipationsweise ein Teil-Haben sind, nur dass an der Sache als ganzer Anteil gewonnen wird). Insofern aber dieses nicht-partikuläre Eidos trotz und in seiner Einheitlichkeit dennoch auf unterschiedliche Weise realisiert ist, handelt es sich um die Partizipation am Teil desselben Eidos. Somit sind bei der einen aktualen Partizipation trotzdem jeweils zwei Hinsichten zu unterscheiden, denn alle Menschen sind ‚Mensch‘, besitzen aber nie die ganze Fülle des transzendenten, unpartizipierten Eidos ‚Mensch‘. Letzteres ist das „herausgehobene, vorgeordnete Allgemeine“, welches gemäß Simplikios bereits Aristoteles in den Zweiten Analytiken (1, 4) unterscheidet, während das „universale in multis, das gleichgeordnete Allgemeine“ (Thiel 2004: 53, 165; s. o. Kap. II.3), das enhyletische Eidos, sachlich dem partizipierten Eidos bei Proklos entspricht. d) Das Eine als Ursache alles Vielen; Grenze und Nicht-Grenze als Prinzipien des Seins Im vorangehenden Kapitel wurde gezeigt, dass die parmenideisch-platonische Ontologie mit ihrer Grundunterscheidung zwischen materiell-sinnlich Existierendem und intelligiblem Sein,326 (wie sie sich aus der Reflexion darauf, was 325 S. o.
Kap. II.3. Wenn der Unterschied zwischen (a) äußerlicher Existenz und (b) begreifbarem Sein, welches gemäß Proklos in seiner universalen, schöpferisch-seinsstiftenden Begreifbarkeit sub326
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
jeweils etwas Bestimmtes ist, ergibt) zu einer Teilhabe-Philosophie führt, deren historische und systematische Vollendung bei Proklos greifbar ist: Substantielles Sein ist begrifflich-intelligibler Natur und besteht als solches unabhängig von materiellen Verwirklichungen, welche jedoch in dem, was sie substantiell ausmacht, geprägt sind durch Teilhabe an begrifflich-intelligiblen Prinzipien / Ideen. Genau dieser Zusammenhang führt bei Proklos zur theorematischen Unterscheidung (1) eines (jeweils) für sich seienden, unpartizipierbaren Ideenprinzips, (2) vieler an diesem dennoch partizipierenden Instanzen und (3) einer partizipierbaren Mitte, welche diese Teilhabe der (2) Partizipanten ermöglicht und sich selbst als Partizipierbares der Zeugungskraft des (1) Unpartizipierten verdankt und von diesem prinzipiiert ist. Über dieses Dreier-Theorem hinausgehend, löst Proklos den Widerspruch auf, warum dieselbe partizipierte Sache einerseits in den vielen Partizipanten einheitskonstituierend wirkt und diese Vielen sich andererseits trotzdem qua Partizipanten durch Anteilhabe an einem Selbigen unterscheiden: Dieses gehe darauf zurück, dass die seinsspezifische Eigenheit (idiotês) zwar jeweils als selbige und ganze von allen an ihr Partizipierenden partizipiert werde (Partizipation am Ganzen des Eidos), andererseits sich aus dem Teilhabe-Begriff bereits ersehen lässt, dass alles Partizipierende nur teilhaft-partikulär diese seinsspezifische Ganzheit verwirkliche (Partizipation am Teil des Eidos). Beide Hinsichten müssen unterschieden und doch auch zusammengedacht werden. Mit der systematischen Entfaltung dieses Teilhabe-Gedankens als Theorem leistet Proklos nichts Geringeres als die widerspruchsfreie Explikation, wie seinskonstituierende Einheit, die qua Sacheinheit nicht zerteilbar ist (die Wesensbestimmung z. B. eines Dreiecks ist immer derselbe begrifflich erkennbare Seinsunterschied), in die Vielheit der an ihr partizipierenden Instanzen übergehen kann. Damit kann schon auf der Basis des bisher Erörterten der in der Forschung erhobene Kritikpunkt, jeder Vermittlungsversuch zwischen dem Einen und dem Vielen müsse in einer Aporie enden, als unbegründet zurückgewiesen werden. Trotzdem bleibt Proklos’ Philosophie keinesfalls bei der am Beispiel der wahrhaft seienden Ideen explizierten Ontologie stehen. Denn wenn bisher nur gefragt wurde, warum überhaupt die Annahme intelligibler Seinsprinzipien notwendig ist, und damit einhergehend das Methexis-Theorem erörtert wurde, so zeigte sich bislang der Zusammenhang zwischen Sacheinheit begründender, transzendenter Idee und ihren vielen Partizipanten. Woher aber ist solche eidetische Sacheinsistiert, aber kein existierendes Ding ist, konsequent bedacht würde, wäre ein wichtiges modernes Missverständnis ausgeräumt, welches sich jetzt auch bei Chlup (2012: 284) findet: „Few of us would nowadays be willing to take seriously Proclus’ ontological hypostases and consider them as completely realistic entities existing ‘out there’, indepently from us.“ Denn Proklos’ Hypostasen „existieren“ nicht irgendwo „draußen“ (etwa im Weltall), sondern sind gerade der Seele, insofern sie Philosophie betreibt, durch reines Nachdenken zugänglich. Freilich subsistieren die Ideen gemäß Proklos ‚nicht von Gnaden‘ der menschlichen Subjektivität, sondern unabhängig davon, aber gewiss nicht „irgendwo da draußen“.
d) Das Eine als Ursache alles Vielen
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heitlichkeit und wie ist wiederum das Verhältnis der einheitlichen intelligiblen Ideen (‚Dreieck‘, ‚Kreis‘, ‚Drei‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Schönheit‘, ‚Wahrheit‘, ‚Sein‘ etc.) zueinander als Vielheit eines intelligiblen Kosmos zu erklären? Die Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit stellt sich also erneut, nur auf einer höheren Ebene. Ganz am Anfang seiner Elementatio Theologica behandelt Proklos das Verhältnis von Einheit und Vielheit in grundsätzlicher Weise:327 Jede Vielheit partizipiert auf bestimmte Weise an dem Einen. Denn wenn sie in keiner Weise [sc. am Einen] partizipieren sollte, dann wird weder das Ganze Eines sein noch jeder einzelne seiner vielen [sc. Teile], aus dem die Vielheit besteht, sondern auch jeder einzelne von jenen [sc. Teilen] wird Vielheit sein, und dieses ad infinitum, und von diesen unbegrenzten [sc. Teilen] wird jeder einzelne wieder unbegrenzte Vielheit sein (ETh 1, 1–5).
Proklos zeigt hier, dass jede Vielheit nur als von Einheit prinzipiiert und gehalten bestehen und gedacht werden kann. Wird die Einheit als begriffliche Möglichkeit aufgehoben, dann ist weder Einheit noch Vielheit: Denn die Vielheit würde jeglicher Bestimmtheit ermangeln, da sie als nicht-eine Vielheit weder ein Ganzes noch als Nicht-Ganzes teilartig sein kann, weil jeder Teil wiederum voraussetzt, selbst ein bestimmter Teil einer größeren, komplexeren Einheit zu sein. Wird also das Eine aufgehoben, gibt es auch keine Vielheit; denn Vielheit kann nur dann bestimmte Vielheit sein, wenn sie als einheitliches Ganzes aus einheitlichen Teilen Vieles ist; ohne Einheit fehlt jegliche eingrenzende Bestimmtheit, und Ganzes wie Teile wären unbegrenzt und als solche weder Ganzes noch Teile. Jegliche Vielheit – etwa ein Dreieck aus Seiten und Winkeln – basiert also auf der Voraussetzung der Einheit und impliziert bereits diese Voraussetzung, während Einheit nicht notwendig Vielheit impliziert, so wie auch das Teil-Sein das Ganze, von dem es Teil ist, schon voraussetzt, das Ganz-Sein aber nicht notwendig impliziert, dass es auch Teile hat.328 So wie das Ganze dem Teil, liegt analog auch das Eine dem Vielen voraus. Dabei erweist sich das Eine, wie Platon im Parmenides erkennen lässt,329 sogar als dem Sein transzendent, da Sein qua Bestimmt-Sein immer schon Einheitlichkeit voraussetzt, diese aber nur von dem verursacht sein kann, welches in sich selbst nur Eines ohne alle Vielheit, also auch ohne innere Unterscheidung der zwei Aspekte von Sein und Einheit Bestand hat. Das ‚Sein‘ im Sinne des wahren, intelligiblen Bestimmtseins, wie es den intelligiblen Ideen eignet, umgreift als 327 Das Folgende fasst meine Ausführungen in Drews (2009: 239–247) zusammen. – Zur „Logik der henologischen Metaphysik“ s. grundlegend Schmitz (2002), der zeigt, dass mengentheoretische und formal-logische Interpretationsansätze Proklos schwerlich gerecht werden können, weil sie bereits auf ontologisch-sachlichen Vorannahmen basieren, und entsprechende Kritik an Proklos’ Argumentation zurückweist. – S. ferner Chlup (2012: 50) und Cürsgen (2007 a: 153 f.). 328 ETh 67, 1–2. 329 S. o. Kap. II.2.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
ursächliches Prinzip dieses wahren, intelligiblen Seins die Vielheit der einzelnen Ideen noch ungeschieden als geeinte Totalität330 in sich. Im Unterschied zur Ontologie des Vorsokratikers Parmenides aus Elea331 ist dieses absolute Prinzip ‚Sein‘ als Ursache aller Seienden jedoch bei Platon gemäß der Interpretation der Neuplatoniker nicht das tatsächliche Absolute, nicht das Allerhöchste überhaupt, insofern es als absolutes Bestimmt-Sein mindestens die Zweiheit von Sein und einheitlicher Bestimmtheit im Sinne eines ‚seienden Einen‘ (hen on) aufweist. Auch wenn dieses qua Ursache aller Seienden, insofern sie seiend sind, also das absolute Seinsprinzip ist, liegt ihm als Ursache seiner Bestimmtheit noch das absolute Eine (hen) voraus, welches gemäß den Neuplatonikern als ‚überseiendes Eines‘ das ‚absolute Absolute schlechthin‘ darstellt. Denn wollte man vor dem Einen erneut ein noch höheres, umfassenderes, implikationsreicheres Prinzip postulieren, müsste dieses wiederum Eines und Ursache von Einheit sein. Die platonische Einheitsmetaphysik, insofern sie alles Seiende qua auf Einheit basierender Vielheit zuletzt als Verursachtes des Einen zu denken lehrt, gelangt hier an ihre voraussetzungslose Voraussetzung: das Eine selbst. In diesem Sinne führt Proklos in seinem Kommentar zu Platons Parmenides aus: Das Viele, insofern es Vieles ist, hat als eine Ursache das Eine. Denn nicht von woanders her ist alle Vielheit als aus dem Einen, da ja auch die Vielheit der Seienden, insofern sie zwar intelligibel, aus dem Sein, insofern sie aber Vielheit ist, aus dem Einen ihre Hypostasis332 hat. Wenn nämlich die Vielheit aus einer bestimmten anderen Ursache wäre, verschieden von dem Einen, dann wäre es notwendig, dass jene wiederum entweder Eines oder nichts oder Nicht-Eines ist. Aber wenn sie nichts wäre, wäre es auch nicht möglich, dass sie Ursache ist; wenn aber wiederum Nicht-Eines, würde sie sich, da Nicht-Eines seiend, in keiner Weise vom Vielen unterscheiden, wo sich aber doch die Ursache überall von dem von ihr Verursachten unterscheidet. Übrig bleibt also, dass entweder das Viele keine Ursache hat und in unkoordinierter Weise zueinander und unbegrenztmal unbegrenzt ist, sofern in dem Vielen kein Eines ist, oder dass das Eine Ursache des Vieles-Seins ist. Sonst nämlich [sc. wäre] weder jedes Einzelne des Vielen Eines noch das [sc. Gesamte] aus allem, und so wird alles unbegrenztmal unbegrenzt sein. Oder jedes Einzelne wird zwar Eines, das [sc. Gesamte] aber aus allem nicht Eines, und [sc. alles] wird unkoordiniert zueinander sein (denn Koordiniertes partizipiert notwendig am Einen). Oder wiederum auch jedes Einzelne wird unbegrenztmal unbegrenzt sein, da es an keinem Einen partizipiert, oder beides partizipiert am Einen, und dann ist es notwendig, dass das Einheit Wirkende vor diesen beiden ist, sowohl vor den Teilen als auch vor dem Ganzen, [sc. als ein solches], das weder ein Ganzes noch Teile hat. Oder wiederum auch dieses wird bedürftig des Einen sein, und wenn es ad infinitum [sc. sich so] verhielte – wir werden letztlich ankommen bei dem Einen vor dem Ganzen und den Teilen (in Parm. 1100, 13–39). Vgl. van Riel (2001: 419). S. o. Kap. II.5 c zu Plotin. Kap. II.1. 332 „Hypostasis“ als ‚Darunter-in-Stand-Setzung‘ (d. h. ontologisch unter dem hervorbringenden Prinzip stehend) meint neuplatonisch ein aktives ‚Hervorbringen / ins-Sein-Setzen‘ und keineswegs etwas bloß Statisches. 330
331 S. o.
d) Das Eine als Ursache alles Vielen
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Ohne Einheit gäbe es also keine Vielheit als Einheit und aus Einheitlichem, kein bestimmtes Etwas. Vielmehr wäre alles unbegrenzte Vielheit bar jeglicher Bestimmtheit und somit nichts. Alles Bestimmte ist daher erst durch Einheit im Sinne von begrenzter Vielheitlichkeit etwas Bestimmtes. Das im höchsten Grade Bestimmt-Seiende ist gemäß Proklos das Prinzip ‚Sein‘, insofern es als das seiende Eine (hen on) aus dem überseienden Einen (hen hyperousion) prinzipiiert hervorgeht: Dieses Hervorgehen wird unten im Kontext der Henaden-Problematik genauer zu erörtern sein. Zunächst ist für das Prinzip ‚Sein‘, insofern es das Höchst‑ und Erst-Seiende überhaupt ist, festzuhalten, dass es nur deshalb im höchsten Grade Bestimmt-Seiendes sein kann, weil es auch auf höchste Weise intelligibel ist: Denn Bestimmt-Sein meint zugleich Erkannt-Werden-Können. Das seiende Eine als das höchste Intelligible beinhaltet die geeinte Fülle des Intelligiblen überhaupt, die noch ungeschiedene Totalität der intelligiblen Ideen.333 Wie also eine einzelne intelligible Idee alle Aspekte, die zu ihrer eidetischen Bestimmtheit gehören, geeint in sich umschließt – die Idee ‚Dreieck‘ ist deshalb auf höchste Weise Dreieck, weil sie alle Möglichkeiten des Dreieck-Seins in sich ungeschieden umfasst –, so umgreift in einem noch höheren Seinsgrad334 das seiende Eine wiederum die einzelnen Ideen auf geeinte, ungeschiedene Weise. In dem seienden Einen liegt also die auf höchste Weise geeinte – und insofern auch auf höchste Weise seiende – begrenzte Viel-Einheit vor. Denn wenn die Vielheit der erst ‚später‘ (im Sinne eines sachlichen Abhängigkeitsverhältnisses) in die Singularität auseinandertretenden vielen Ideen im seienden Einen ‚noch‘ auf höchste Weise geeint ist, dann besteht im seienden Einen der höchste Grad an seiender Bestimmtheit: Wahrhaftes Sein bedeutet durch Einheit charakterisiertes intelligibles, eidetisches Sein; das höchste intelligible Sein aber ist die geeinte Fülle der Ideen, weil sie als Fülle noch mehr und prägnanteres Sein und Erkanntwerden-Können in sich birgt, als einzelne Ideen dies vermögen. Die in höchster Weise durch Einheit bestimmte, begrenzte Viel-Einheit ist also diejenige Einheit, welche das Viele in größtmöglicher Form einheitlich zu durchdringen vermag: das seiende Eine, welches als das allererste Seiende das Prinzip des Seins selbst ist für alle von ihm abhängigen Seienden, insofern sie Seiende sind. Hieran mag nun schon deutlich werden, dass im seienden Einen, welches bisher – in Anlehnung an Plotin und Platon – als Zweiheit von Einheit und Sein gedacht wurde, unter einem anderen Aspekt eine weitere Zweiheit ihre Wirksamkeit zeigt: Denn wenn das seiende Eine mit Proklos gerade als die auf höchste Weise begrenzte Viel-Einheit dargestellt wurde, dann zeigt sich in ihm die Zweiheit von Grenze (das Prinzip alles Begrenzten) und Nicht-Grenze (das S. o. Kap. II.5 c. sog. ontologischen Komparativ erklärt Platon selbst (resp. 476 c–478 d) anhand der verschiedenen Seinsgrade der Erkenntnis und Meinung und weist dem Nichtseienden die Unkenntlichkeit zu (ibd., 478c3–5). Vgl. dazu Heilmann (2007: 123–125) und Halfwassen (2008 b: 202). 333
334 Diesen
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Prinzip vielheitlicher Unbegrenztheit).335 Diese Zweiheit von Grenze (peras) und Nicht-Grenze (apeiria)336 kann mit Proklos als „Monade und unbestimmte Zweiheit (ahoristos dyas)“337 zwischen seiendem, zahlhaftem Bestimmt-Sein, wie es sich zu allererst im seienden Einen offenbart, und dem überseienden Einen als dem schlechthinnigen Absoluten angesehen werden und bildet eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis der sog. ‚überseienden Henaden‘. Gemäß der bisher erarbeiteten Prinzipienordnung ließe sich also vorläufig folgende Prinzipienreihe bilden (noch unter Auslassung der Henaden-Frage): absolutes-überseiendes Eines (hen hyperousion) – Grenze (peras) und NichtGrenze (apeiria) – das seiende Eine (hen on) als das intelligible Prinzip ‚Sein‘ – weitere intelligible Wesen (‚Leben‘, ‚Intellekt‘, Ideen). Bevor zu der Problematik Grenze, Nicht-Grenze und ‚Sein‘ zurückgekehrt werden soll, sei zunächst noch eine Passage zitiert, in welcher Proklos beschreibt, wie die beiden Prinzipien Grenze und Nicht-Grenze ihre Wirksamkeit im intelligiblen Seienden generell entfalten (also nicht nur im seienden Einen als dem Prinzip des Seins überhaupt, sondern auch in den von diesem prinzipiierten, einzelnen intelligiblen Ideen): Alles Immerseiende hat ein unbegrenztes Vermögen. Wenn nämlich seine Hypostasis unaufhörlich besteht, dann ist auch sein Vermögen, gemäß welchem es ist, was es ist und zu sein vermag, unbegrenzt. Wäre es begrenzt, würde das gemäß dem bestimmten Sein bestehende Vermögen wohl irgendwann aufhören; hätte es aber aufgehört, würde auch das Sein dessen, das es [sc. dieses Vermögen] besitzt, aufhören und hätte nicht länger als ein Immerseiendes Bestand. Notwendigerweise ist also das Vermögen des Immerseienden, das es [sc. das Immerseiende] gemäß seinem Wesen [sc. auf bewahrende Weise] zusammenhält, unbegrenzt (ETh 84, 5–11).
Jedes Immer‑ und Wahrhaft-Seiende338 – die intelligiblen Ideen wie ‚Dreieck‘, ‚Gerechtigkeit‘ etc. und das seiende Eine als ihr Prinzip – zeigt also gemäß Proklos sein nur ihm als genau dieses Bestimmt-Seiende eigentümliches, einshaftes Sein in Form einer sachspezifischen Begrenztheit, die zugleich seine Intelligibilität, seine Erkennbarkeit ermöglicht.339 Denn, wie oben gesehen (ETh 1), kann einer völlig unbegrenzten Vielheitlichkeit weder Sein noch Erkennbarkeit zukommen. Diese im jeweiligen Bestimmt-Sein begründete Erkennbarkeit eines 335 Vgl. Platon am Anfang des Philebos (16c10): „[…] dass das, worüber gesagt wird, es sei immer (tôn aei legomenôn einai), zwar aus Einem und Vielem ist, aber peras und apeiria in sich als Zusammengewachsenes hat.“ Zur Stelle sowie zur zweiten peras und apeiria gewidmeten Passage des Dialogs (Phlb. 23 b–27 c) vgl. Frede (1997: 130 ff., 184 ff.), die jedoch tôn aei legome‑ nôn einai mit „die Dinge, von deren Sein jeweils die Rede ist“ (ibd., 19) wiedergibt. 336 S. dazu genauer meine Ausführungen in Drews (2009: 258–291). Zu Syrians Konzeption von peras und apeiria s. Wear (2011: 6–7). 337 Vgl. in Rem publ. I, 93; 4. Vgl. ferner in Parm. 711, 41–712, 9 sowie unten Anm. 341. 338 Vgl. ebenfalls ETh 89. 339 Als Vorbereitung zu diesem Erkenntnisschritt dient die Ergründung eines Eidos, etwa des Mensch-Seins oder des Dreieck-Seins, wie sie oben anhand von ‚Dreieck‘ exemplarisch durchgeführt wurde (s. II.5 b und III.c).
d) Das Eine als Ursache alles Vielen
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intelligiblen Eidos bzw. Prinzips kann aber nur dann von immerseiender Permanenz sein, wenn sie sich andererseits als genau diese sachliche Bestimmt- / Begrenztheit auf unbegrenzte Weise in diesem Bestimmtsein zu bewahren vermag. Das Vermögen des Eidos ‚Dreieck‘ als Inbegriff aller Möglichkeiten des Dreieck-Seins kann als (Form‑)Ursache nicht irgendwann nicht bestehen, sonst wäre die Möglichkeit, Dreiecke zu denken und zu erkennen, aufgehoben. Dies ist aber irreal, weil die Denk‑ und Realisierbarkeit von ‚Dreieck‘ immer gegeben ist. Alles Immerseiende ist also sowohl durch sachspezifische Begrenztheit wie auch durch ein unbegrenztes Vermögen charakterisiert, genau dieses spezifische Sein zu bewahren und (durch Partizipation an sich) zu entfalten. Damit zeigen Grenze (peras) und Nicht-Grenze (apeiria) in allem Immerseienden ihre Präsenz: Grenze verleiht sachspezifische Einheit, bestimmtes Sein; Nicht-Grenze unbegrenzte Potenz, genau dieses Bestimmt-Sein als Immerseiendes hervorzubringen. Damit ist bisher jedoch nur ein vergleichsweise leicht erkennbarer Aspekt des Zusammenhangs von Grenze (peras) und Nicht-Grenze (apeiria) tangiert. Denn Proklos erachtet alles Bestimmt-Seiende als aus Begrenztheit und Unbegrenztheit gemischt.340 Wie ist dies zu verstehen? Seiendes – platonisch verstanden als das, was etwas Bestimmtes und für sich Unterscheidbares ist – ist qua Seiendes Proklos zufolge jeweils etwas mit sich selbst Identisches und von anderem Verschiedenes. Bereits Identität, die Relation zu sich selbst als die primäre Relation (vor derjenigen zu anderem), setzt in dem mit sich selbst Identischen einen vielheitlichen Aspekt voraus, weil Relation als Selbstbeziehung nur in dem Bezug von etwas zu sich selbst möglich ist: Damit aber ist (a) etwas gedacht, und zwar (b) in Relation zu sich selbst und (c) als geeinte Relation. Diese Relation impliziert bereits Vielheitlichkeit in Form der Aspekte (a) und (b), während (c) diese Vielheitlichkeit durch Einheit begrenzt. Insofern pure Vielheitlichkeit unbegrenzt ist, wird sie vom Prinzip Nicht-Grenze (apeiria) bewirkt; insofern geeinte Begrenzung von Vielheitlichkeit vorliegt, wird sie vom Prinzip Grenze (peras) verursacht. Dabei kann das Prinzip peras als das aus dem überseiend-überidentischen Einen heraustretende, begrenzend wirkende zweite Eine verstanden werden, mit welchem – insofern es als zweites Eines die heraustretende, zeugend-produktive Öffnung des überseienden Einen einleitet – apeiria als das Prinzip der Entgrenzung paarhaft korreliert im Sinne der (noch) unbegrenzten Zweiheit (ahoristos dyas341). In dieser Zweiheit von peras und apeiria bricht die transzendente Über ThP III, 9; 34–35. Dazu, dass sowohl peras und apeiria zusammen wie auch apeiria allein von Proklos, je nach Perspektive, als ahoristos dyas bezeichnet werden, vgl. Wear (2011: 7, Anm. 22). Zur gegenseitigen Interdependenz von peras und apeiria vgl. Abbate (2008: 97): „[…] tuttavia questi due principi si implicano necessariamente in modo reciproco e complementare, poiché non può esistere limite senza illimitatezza e viceversa“, sowie van Riel (2001: 418): „l’illimité, c’est-à-dire la puissance, est toujours inhérente au limitant“. S. ferner Cürsgen (2007 a: 120) sowie neben 340 341
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
fülle342 des überseienden Einen hervor. Sie findet ihren ersten und zugleich höchsten produktiven Niederschlag im Sinne des Zusammenwirkens von peras und apeiria in dem ersten ‚begrenzten Unbegrenzten‘, nämlich dem seienden Einen als dem ersten Seienden und dem Prinzip des Seins überhaupt. In diesem Sinne zeigen sich im Seienden dessen konstituierende Prinzipien Grenze und Nicht-Grenze: zuerst im Prinzip ‚Sein‘ und danach in allen weiteren Seienden, so dass Seiendes allgemein anteilhaft aus Unbegrenztheit und Begrenztheit gedem Zitat in Anm. 337 die folgenden Passagen: „Das jeweils erste dieser beiden Prinzipien ist nicht etwas anderes als das, was es ist. Nicht also ist notwendigerweise das auf erste Weise Unbegrenzte etwas von der Art des Begrenzten und die erste Grenze etwas von der Art des Unbegrenzten. Vor dem [sc. aus ihnen] Gemischten also [sc. bestehen] diese [sc. Grenze und Nicht-Grenze] auf erste Weise“ (ETh 90, 13–16). „Und die Zweiheit [sc. als Prinzip der unbegrenzten Vielheit, apeiria] aber ist Quell und Ursache von Vielheit und hat auf bestimmte Weise [sc. als ursächliches Prinzip] die Vielheit als ganze in sich“ (in Parm. 1149, 14–16). Ebenso: „Denn auch die Zweiheit ist auf bestimmte Weise ein Ganzes, und zwar auf diese Weise: nach Art des Prinzips alles Teilbaren“ (in Parm. 1111, 13–15). „Generell aber ist die Zweiheit zwar das, was ‚Zwei‘ genannt wird, verlassen aber von dem Einen hat sie kein Sein; denn alles nach dem Einen ist teilhaftig des Einen, so dass die Zweiheit selbst auch auf bestimmte Weise Eines (hen) ist: sowohl Henade also ist die Zweiheit als auch Vielheit“ (in Parm. 712, 5–9). Zum Begriff der ahoristos dyas bei Plotin s. o. Anm. 249. 342 In der Forschung wird immer wieder als ein angeblich unlösbares Paradox und als „Zentralfrage“ angesehen: „Warum begründet das Gegensatzlose als logische und damit übergangslose Einheit das gegensatzbestimmte Sein?“ (Cürsgen 2007 a: 97, Anm. 187), ähnlich Tornau (2014: 185, 204), ebenso Abbate (2008: 16). Das Problem liegt hier vermutlich vor allem in der formal-logischen Perspektive, in der rationale Gegensätze als unvereinbar erscheinen. Proklos’ Antwort auf diese ‚Paradoxie‘ scheint letztlich in der göttlichen Überfülle zu liegen, die (über‑)substantial gedacht wird als Ursache alles Seienden. D. h., es geht hier um den Verursachungszusammenhang, dass das überseiende Eine Prinzip aller seienden Einheiten ist, die als Entfaltungen des Einen zugleich Unterscheidbarkeit und somit Vielheitlichkeit mit sich bringen. Da das Viele in seiner Dependenz vom Einen dessen ‚natürliches‘ Prinzipiat ist, besteht kausal-prinzipientheoretisch kein systematischer Widerspruch, auch wenn Vieles und Eines logisch als Gegensätze fassbar sind. – Ebenso erklärt nur die Überfülle den Modus des „giving without being diminished“ (Meijer 1992: 83) seitens des unpartizipierbaren Prinzips: Nur aufgrund seiner Überfülle vermag das an sich Unpartizipierbare dann doch partizipiert zu werden, denn die partizipierbare Mitte geht aus der Überfülle des Prinzips hervor; wird dieser Aspekt wie bei Meijer (ibd.) jedoch vernachlässigt, erscheint die „nature of participation“ als „problematic“. – Zur Überfülle vgl.: „Jeder Gott beginnt von sich selbst her seine ihm eigentümliche Aktivität (energeia). Denn die Eigenheit, gemäß der er beim Sekundären gegenwärtig (parousia) ist, zeigt er zuerst in sich selbst. Deshalb gibt er offenbar den anderen an sich Anteil: wegen seiner Überfülle. Denn weder das Mangelhafte ist den Göttern eigentümlich noch das nur Volle. Alles Mangelhafte hat nämlich seinen Bestand als etwas Unvollkommenes, und anderes vollkommen zu machen, selbst aber unvollkommen Bestand habend, ist unmöglich. Das Volle aber ist nur autark, keineswegs aber fähig zum Anteilgeben. Übervoll also muss dasjenige sein, was andere erfüllt und auf anderes hin seine Freigebigkeiten ausdehnt. Wenn also das Göttliche alles von sich selbst her mit dem Guten, das in ihm ist, anfüllen soll, dann ist jedes einzelne [sc. Göttliche] übervoll [sc. an Gutem]. Wenn sich dies aber so verhält, dann hat es in sich selbst als erstem die Eigenheit desjenigen gegründet, von dem es anderen gibt; so also verleiht es auch jenen anteilmäßig seine Gaben seiner übervollen Gutheit“ (ETh 131, 15–27). Zur Überfülle als der dynameôs periousia vgl. auch ETh 126, 23.
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mischt ist. Verschiedenheit kommt ihm von dem Prinzip des Unbegrenzten her zu, Identität von dem, das Einung stiftet.343 Aus der Perspektive der Partizipationstheorie können die von Proklos dem Seienden zugesprochenen Aspekte von Begrenztheit und Unbegrenztheit im Seienden nur als etwas Partizipiertes vorliegen, müssten ihrerseits selbst aber in etwas Unpartizipierbarem ihre übergeordnete Ursache haben:344 Allem vorausliegend, was seine Hypostasis aus [sc. den Prinzipien] ‚Grenze‘ und ‚NichtGrenze‘ hat, haben die erste ‚Grenze‘ (peras) und die erste ‚Nicht-Grenze‘ (apeiria) auf vorhergehende Weise immer schon für sich selbst ihren Bestand. Wenn nämlich dem, was gemäß seinem Sein einer bestimmten [sc. von ihm verschiedenen] Sache zugehört, das für sich selbst Seiende auf einfache Weise in seiner Hypostasis vorausgeht als allem gemeinsame und prinzipienhafte Ursache – und nicht etwa [sc. als Ursache] von nur bestimmtem Einzelnen, sondern von allem [sc. Derartigen] auf einfache Weise –, dann ist notwendigerweise vor dem aus beidem [sc. Gemischten] die erste Grenze und das auf erste Weise Unbegrenzte. Denn die Begrenztheit in dem Gemischten hat Anteil empfangen an der ‚Nicht-Grenze‘ und das Unbegrenzte [sc. in dem Gemischten] an der ‚Grenze‘.345 Das jeweils erste dieser beiden ist nicht etwas anderes als das, was es ist: Notwendigerweise ist also das auf erste Weise Unbegrenzte nicht etwas von der Art des Begrenzten und die erste Begrenztheit nicht etwas von der Art des Unbegrenzten. Vor dem [sc. aus ihnen] Gemischten also [sc. bestehen] diese auf erste, prinzipienhafte Weise [sc. als Prinzipien ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘] (ETh 90, 7–16).
In identischer Weise äußert sich Proklos auch in seiner Theologia Platonica (ThP): Wenn also aus diesen [sc. Prinzipien] die Seienden sind, dann ist offensichtlich, dass sie [sc. peras und apeiria] vor den Seienden ihre Hypostasis haben, und wenn das Sekundäre an ihnen als gemischten Anteil hat, dann haben diese in einer dem Ganzen vorhergehenden Weise ihren Bestand als Unvermischte. […] Notwendigerweise ist nämlich vor dem Begrenzten die ‚Grenze‘ und vor dem Unbegrenzten die ‚Nicht-Grenze‘ gemäß 343 ThP III,
26; 92, 1–3. Das Folgende (bis einschließlich der Übersetzung von ThP III, 8; 31,8–32,5) ist eine überarbeitete Kurzfassung aus Drews (2009: 269–275). 345 ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘ bezeichnen gemäß dieser Interpretation im Unterschied zu ihren Wirkungen im Prinzipiierten (Begrenztheit, Unbegrenztheit) das jeweilige Prinzip selbst. Da Proklos seine Argumentation immer vom Blick auf die inhaltlich gemeinte Sache leiten lässt und nicht von formaler Terminologie, kann diese Interpretation auch nur inhaltlich zu begründen versucht werden. Die Übersetzungen ‚Grenze‘ und ‚Begrenztheit‘ gehen beide auf griechisch peras zurück, das dabei zugunsten der Textinterpretation jeweils entsprechend unterschiedlich übersetzt wird. Eine Stütze kann dieser Methode, die insofern dem Interpretatorischen vor dem Übersetzungstechnischen den Vorzug gibt, daraus erwachsen, dass Proklos selbst – zumindest in dieser Proposition – bei dem komplementären Prinzip ‚Nicht-Grenze‘ und seiner Wirkung der ‚Unbegrenztheit‘ m. E. zwischen apeiria und apeiron unterscheidet und diese beiden Begriffe gemäß der hier vertretenen Differenzierung von Prinzip und Prinzipiierten gebraucht: Insofern findet sich hier ein quasi-terminologisch unterscheidender Ansatz (vgl. im Folgenden die Passage ThP III, 8 [31–32] in eben dieser begrifflichen Differenzierung; im Unterschied zu diesem Gebrauch und als Beleg für die ansonsten nicht-terminologische Vorgehensweise bei Proklos vgl. z. B. ETh 69, s. o.). 344
130
III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
der Ähnlichkeit der von ihm [sc. dem Einen] zu dem Einen Hervorgehenden (ThP III, 8; 30,23–31,8).
Zusammengefasst folgt aus Proklos’ Argumentation, dass peras (‚Grenze‘ als Prinzip aller Begrenztheit) und apeiria (‚Nicht-Grenze‘ als Prinzip aller Unbegrenztheit) – bevor sie als Prinzipien des ‚Seins‘ partizipiert werden346 – jeweils für sich selbst bestehen; und dies in der Konsequenz auf eine Weise, die dem gesamten Bereich des Seins vorgeordnet und transzendent ist. Insofern sie ferner eine kooperierende Zweiheit bilden, wirken sie in einer spannungsvollen ‚Nochnicht-Einheit‘ zusammen – sie sind im Sinne der noch ‚unbestimmten Zweiheit‘ (ahoristos dyas) gewissermaßen der Übergang vom ‚Nur-Einen‘ zu dem, was als etwas von sich selbst her Nicht-Eines bereits wieder geeint ist (als seiende Einheit im Unterschied zum Einen), wie Proklos im Parmenideskommentar darlegt: So nämlich [sc. verhält sich] das Unvermögende bei dem Einen auf wahrhafte Weise, insofern es größer (‹kreitton› 347) ist als alles aus ihm hervorgehende Vermögen (dynamis), [sc. größer als] sowohl das Verschiedenheit wirkende wie auch das Identität wirkende Vermögen im Seienden;348 denn von dort her [sc. ist] sowohl [sc. das Prinzip] ‚Grenze‘, das den Seienden alle Identität spendet, wie auch [sc. das Prinzip] ‚Nicht-Grenze‘, das alle Scheidung und Trennung erzeugt (in Parm. 1189, 14–20).
Stellt man die Rangfolge dieser Prinzipien in den Kontext des oben bereits diskutierten Methexis-Theorems (ETh 24), dann ergibt sich die Frage, ob das Theorem mit der Unterscheidung ‚Unpartizipierbares-Partizipiertes-Partizipierendes‘ auch hier seine Geltung behält oder ob Proklos dazu in der von ihm selbst für die höchste Theologie als angemessen erachteten Weise schweigt, da sich über die Fragen des Überseiend-Transrationalen eigentlich nicht mehr angemessen rational sprechen lässt.349 In diesem Zusammenhang ist eine Passage aus der Theologia Platonica von besonderer Relevanz:
„Alles wahrhaft Seiende ist aus Grenze und Unbegrenztem“ (ETh 89, 1). Ich folge hier Taylors Einfügung, die sich aus dem vorhergehenden Text (in Parm. 1189, 14) inhaltlich ohne weiteres erschließen lässt. 348 tôn ontôn verstehe ich als Genitivus obiectivus; die Übersetzung „im Seienden“ bezeichnet also den Bereich, in dem diese dynameis ihre Wirksamkeit zeigen. 349 Zum Schweigen auf der höchsten Stufe der Theologie vgl. Apuleius (s. o. Kap. II.4.2 b mit Anm. 185) sowie Proklos selbst: „Denn von dem Ersten, sagt er [sc. Platon], ist nichts so, wie wir zu erkennen gewohnt sind. So ist denn, wie er selbst in den Briefen gesagt hat, dieses die Ursache von allen Übeln für die Seele: die Eigenheit des Ersten zu suchen und die Erkenntnis von Jenem der rationalen Erörterung (logismos) zu übergeben, wo es doch vielmehr nötig ist, aufzuwecken das Eine in uns, auf dass wir fähig werden, durch das Ähnliche das Ähnliche – wenn es das göttliche Recht erlaubt, so zu sprechen – zu erkennen auf bestimmte Weise gemäß unserer [sc. Seins‑ und Erkenntnis‑]Ordnung: Wie wir nämlich durch Meinung das Meinbare erkennen, wie durch Ratio das Rationale und wie durch das Noerische in uns das Noetische, so auch durch das Eine das Eine“ (in Parm. 1080,36–1081,10). S. ferner De mal. II, 14; 47, 20–26 (zitiert in Kap. III.f). Zum Aufwecken des ‚Einen in uns‘ vgl. Cürsgen (2007 a: 277) sowie Grondijs (1960: 34–35). 346 347
d) Das Eine als Ursache alles Vielen
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Und wenn wir nämlich wiederum auch die Seienden nach dem Einen unvermittelt einführen wollen, dann werden wir keineswegs die Eigenheit des Einen auf reine Weise finden. Denn weder ist das ‚Sein‘ mit dem Einen identisch, sondern es partizipiert am Einen; noch ist das Erste gleichsam auf wahre Weise Eines, erhabener nämlich ist es, wie vielfach gesagt worden ist, sogar als das Eine.350 Wo also [sc. hat Bestand] das auf erhabenste und vollkommenste Weise Eine? Es ist also ein bestimmtes Eines vor dem Sein, welches sowohl das Sein hypostasiert und auf erste Weise Ursache des Seins ist, da ja das [sc. Eine] vor ihm sowohl jenseits der Einung351 und der Ursächlichkeit352 war – ohne Abhängigkeitsrelation zu allem und unpartizipierbar, von allem herausgehoben. Aber wenn dieses Eine [sc. nach dem ersten Einen] Ursache des Seins ist und es hypostasiert, dann wird wohl in ihm ein Vermögen (dynamis) bestehen, welches das ‚Sein‘ erzeugt. Denn alles Hervorbringende bringt gemäß seinem Vermögen hervor, das eine mittlere Hypostasis zwischen dem Erzeugenden und den [sc. von ihm] Erzeugten empfangen hat und vom einen ein Hervorgehen und wie eine Ausspannung ist, vom andern aber [sc. die diesem] vorgeordnete erzeugende Ursache. Und zwar hat das ‚Sein‘, da es von diesen [sc. beiden] hervorgebracht wird und nicht das Eine selbst (autohen), sondern einartig (henoeides) ist, das Hervorgehen von dem Einen wegen des Vermögens. [sc. Dieses Vermögen] bringt es [sc. das ‚Sein‘] hervor und lässt es hervorscheinen vom Einen her. Die verborgene Einung selbst aber [sc. hat das ‚Sein‘] vom Bestand (hyparxis) des Einen her. Diesem Einen also, das dem Vermögen vorausliegend Bestand hat (prohyparchon) und als erstes von der unpartizipierbaren und unerkennbaren Ursache der Universalen her in vorausgehender Weise seine Hypostasis hat (prohypostan), gibt der Sokrates im Dialog Philebos353 den Namen peras, dem das ‚Sein‘ erzeugenden Vermögen aber den Namen apeiria (ThP III, 8; 31,8–32,5). das Ende der ersten Hypothesis in Platons Parmenides (141e10–142a1), wo dem wahren Einen nicht nur ‚Sein‘ abgesprochen wird, sondern auch ‚Eines‘, weil hier das Ende aller Differenzierung erreicht ist. Ein über und vor aller Unterscheidung Liegendes ist als NichtAbgrenzbares auch nicht in dem Sinne Eines, dass es nicht Nicht-Vieles ist, weil bei ihm kein Gegenüber mehr denkbar ist, also ‚Vieles‘ gar nicht als ein unterscheidbarer Gegensatz und Bezugspunkt zu Nicht-Vielem besteht und insofern auch das Eine nicht Eines [ist]: „[…] dann ist es möglich, das Eine dem wahrhaft Einen abzusprechen, was er auch am Ende [sc. der ersten Hypothesis] tun wird – er wird nämlich negieren ‚das Eine ist Eines‘ zusammen mit dem ‚ist‘ [sc. dann, wenn er auch das Sein dem Einen abspricht]“ (in Parm. 1095, 21–24). Vgl. ferner Radke (2003: 613). Letztlich mündet die negative Theologie als Weg der Bezeichnung dessen, das nicht bezeichnet werden kann, in eine Negation der Negation, einer hyperapophasis, einer „ÜberNegation“ (in Parm. 1172, 33–38). Zur via eminentiae der negativen Theologie vgl. Knepper (2009: 212): „To state matters semantically, this is to say that God is not-p does not mean it is not the case that God is p; rather, it means that God is preeminently-p.“ 351 In seiner Unsagbarkeit transzendiert das oberste Eine auch jegliche Art von henôsis, da nur etwas, das (eben im Unterschied zum ersten Einen) nicht von sich selbst her als Eines besteht, der Einung bedarf – das Eine selbst muss nicht geeint werden. Dass das oberste Eine alle henôsis transzendiert, schließt aber nicht aus, dass es Prinzip der Einung bzw. des Stiftens von Einheit ist (ThP III, 8; 34, 16). Zur Transzendenz des Einen bei Proklos und Platon s. Halfwassen (2006). 352 Proklos scheint hier zu unterscheiden zwischen Prinzipienhaftigkeit und Ursächlichkeit (im Sinne des Erzeugens von Sekundärem): Auch wenn das Eine letztlich das universale Prinzip von allem ist (weil ohne es nichts ist), ist es gemäß der Unterscheidung ‚Unpartizipierbares-Partizipiertes-Partizipierendes‘ nicht die hervorbringende Ursache – Letzteres ist das Partizipierte / Partizipierbare, welches das Sekundäre hervorbringt, indem das Partizipierende am Partizipierbaren partizipiert. 353 Platon, Phlb. 24 a ff. 350 Vgl.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
In dieser komplexen Passage benennt Proklos vergleichsweise deutlich die folgenden Unterscheidungen, die gemäß seinem Verständnis eigentlich einen transrationalen Charakter haben und keine rationalen Differenzierungen im Sinne strikter Abgrenzbarkeit mehr sein können: Wie oben schon ausgeführt, ist ‚Sein‘ nicht denkbar oder bestandsfähig, wenn es nicht von Einheit durchdrungen und gehalten ist. Daher transzendiert das schlechthinnige Eine nach platonischem Verständnis das Sein: Es kommt zur Unterscheidung des überseienden Einen (hen) im Sinne des absoluten Absoluten einerseits und des von diesem abhängigen seienden Einen (hen on) als erstem Seienden und damit als Prinzip ‚Sein‘ andererseits. Beides steht aber, so Proklos hier, „nicht unvermittelt“ untereinander bzw. zueinander in Beziehung. Das überseiende Eine als absolutes Eines schlechthin transzendiert alle für sich unterscheidbaren Bestimmungen wie Einung, Zeugung und Ursächlichkeit. Als überseiendes Eines ist es aber nicht bestimmungslos, sondern eben überbestimmt, über alle unterscheidbaren Bestimmungen hinaus: Aus dieser Überbestimmung und Überfülle354 geht, ohne dass das Eine seine Transzendenz einbüßt, ‚ein Eines nach dem (überseienden) Einen‘ hervor und leitet als zweites Eines – als das Prinzip ‚Grenze‘ (peras) – die heraustretende, zeugend-produktive Öffnung des überseienden, unpartizipierbaren Einen ein, indem es das Prinzip ‚Sein‘ hypostasiert, also gleichsam das ‚Sein ins Sein bringt‘. Dieses zweite Eine fungiert also als die partizipierbare Mittlerinstanz des unpartizipierbaren, überseienden Einen und erzeugt das ‚Sein‘ dadurch, dass es (peras, das zweite Eine) gemäß seinem hervorbringenden Vermögen der NichtGrenze (apeiria) das ‚Sein‘ als erstes aus Grenze und Nicht-Grenze Gemischtes355 und als an Einheit Partizipierendes hervorbringt. Damit aber erweist sich peras (das zweite Eine nach dem ersten Einen) zusammen mit seinem Zeugungsvermögen, apeiria, zugleich als die unbestimmte Zweiheit (ahoristos dyas356) zwischen absolutem Einem und dem Prinzip ‚Sein‘ sowie als das partizipierbare Eine nach dem unpartizipierbaren überseienden Einen, wobei ‚Sein‘ das erste am Einen Partizipierende darstellt. Auch in den höchsten metaphysisch-theologischen, transrationalen Distinktionen hält Proklos also an seinem Methexis-Theorem fest,357 dessen Bedeutung für seine Theologie daher nicht zu überschätzen ist.358 354 Zum
Begriff der Überfülle s. o. Anm. 342. Zum Begriff des mikton s. die oben übersetzte Passage ETh 90, 7–16. 356 S. dazu oben Anm. 341. 357 S. auch in Parm. 1242, 2–15; 1180, 6–22 (vgl. dazu Drews 2009: 279–281). 358 Jedoch wird dies bis in die jüngere Forschung hinein nicht in der gebührenden Weise in Rechnung gestellt (s. o. Abschnitt III.b). Wenn Chlup (2012: 55–56) im Hinblick auf die gerade übersetzte Passage feststellt, dass Proklos hier in „sympathy with Iamblichus’ approach“ ein über dem Einen (!) anzusetzendes allerhöchstes, unsagbares Prinzip postuliere, dann beachtet er nicht den Aspekt der Partizipierbarkeit des zweiten Einen, welchen Proklos jedoch in Abgrenzung zum überseienden, absoluten Einen herausstellt: Denn gerade im Kontext des MethexisTheorems ist hier deutlich erkennbar, dass das zweite Eine (peras) einfach das partizipierbare 355
e) Die überseienden Henaden
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Zugleich wird hier ebenfalls erkennbar, dass Proklos mit diesen seinen Ausführungen über das transzendent-unpartizipierbare Eine und das partizipierbare Eine, welches dem ‚Sein‘, dieses hervorbringend, beiwohnt und koordiniert ist, im Grunde dieselbe Metaphysik entfaltet wie schon sein Vorläufer Plotin:359 Das Eine nun, wenn das in jeder Hinsicht Eine [sc. gemeint ist], welchem nichts anderes beiwohnt – nicht Seele, nicht Intellekt, nicht sonst irgendetwas –, dieses kann wohl über nichts ausgesagt werden, so dass es auch kein Genus ist. Wenn aber das dem Sein (to on) beiwohnende [sc. Eine gemeint ist], bei welchem wir von dem seienden Einen sprechen: dieses ist nicht primär Eines (Plotin, enn. VI, 2 [43] 9, 5–9).
Denn auch Plotin unterscheidet offenbar schon (a) das absolute Eine, welches auf überseiende Weise ausschließlich Eines ist, (b) das seiende Eine als erstes bestimmtes Seiendes und (c) das ihm innewohnende Eine, welches aber von (a) zu unterscheiden ist: Denn (a) kann als absolutes, transzendentes Eines keinem anderen zukommen, ohne seine Transzendenz als dieses Absolute einzubüßen. (c) ist also die vermittelnde Instanz, die aber als sie selbst zu unterscheiden ist von (b) als dem durch diese vermittelnde Einheit entfalteten seienden Einen selbst, in welchem die beiden Aspekte der Einheit und des Seins als seiende Einheit, also in geeinter Weise verbunden sind. Genauso unterscheidet Proklos das „mit dem Sein zusammenseiende“ (coexistens, synhyparchon) und dieses dadurch erzeugende Eine von dem transzendenten, überseienden Einen.360 e) Die überseienden Henaden: Die aus dem Einen Gott als Einheit entfaltete Göttervielheit und die Partizipierbarkeit des Göttlichen als Begründung des Seins Alle bisherigen Überlegungen – zum Methexis-Theorem, zum Primat des Einen vor dem Vielen, zu den Prinzipien ‚Grenze‘, ‚Nicht-Grenze‘ und ‚Sein‘ – bilden die Voraussetzung, um Proklos’ komplexe Metaphysik und Theologie im HinEine ist, und genau dieser Zusammenhang zeigt, dass das allerhöchste Prinzip gemäß Proklos folglich nicht noch über dem absoluten Einen steht, sondern eben dieses unpartizipierbare Eine selbst ist. Chlups (ibd.) Schlussfolgerung, mit der er seine Deutung dieser Passage als für Proklos eher untypisch abmildern muss, ist in sich nur ein Beleg, dass er – von seiner JamblichInterpretation herkommend – Proklos in diesem Punkt überinterpretiert: „In general, however, Proclus avoids this subtle distinction and in most cases we can rest assured that by the ‘One’ Proclus does mean the first principle.“ – Dazu, dass sich in anderer Hinsicht eine größere Nähe zwischen Proklos und Jamblich abzeichnen könnte, s. u. Anm. 426. 359 Vgl. oben Kap. II.5 c. 360 „Er beweist also, dass nicht ein solches Eines das erste Eine ist wie das, welches mit ‚Sein‘ zusammen Bestand hat (coexistens). Denn das ‚Eines-Sein‘ nimmt ‚Sein‘ [sc. anteilmäßig] mit auf, wenn tatsächlich wahr über das ‚Eine-Sein‘ gesprochen wird. Denn über das transzendente (exaltato) Eine sagt er, dass es auch nicht möglich ist zu sagen, dass es selbst Eines ist. Über welches wir aber sagen ‚das Eine ist‘ (le unum esse), jenes ist wahrhaft mit dem ‚Sein‘. Nicht also ist es angemessen zu sagen, jenes sei ‚das Eine‘ [sc. das Autohen] (esse le unum illud). Denn das ‚Eines-Sein‘ gilt von jenem Einen, welches mit dem ‚Sein‘ [ist]; und welches partizipiert an Substanz, das ist nicht eines geblieben (mansit), sondern geworden ‚seiendes Eines‘ “ (in Parm., Moerb., 498,99–499,5).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
blick auf ihre mono‑ und polytheistischen Aspekte hin zu durchdringen: Denn dies kann nach hier vertretener These nur gelingen, wenn ein weiterer, in der Forschung besonders kontrovers diskutierter Teilbereich dieser neuplatonischen Theologie – die Henadenlehre – auf der Basis des bisher Dargestellten durchleuchtet und einem Lösungsvorschlag zugeführt wird. Als Überleitung dazu mag folgende Passage dienen: Aber nach diesem allein übersubstantiellen und überseienden und in Relation zu allen Weisen des Bestandhabens (hyparxeis) unvermischten [sc. Einen] ist eine Henade, die zwar partizipiert wird von dem ‚Sein‘ und um sich selbst die erste Substanz hypostasiert und vervielheitlichend überfließt durch den Zusatz dieser Partizipation an dem auf erste Weise Einen, selbst aber eine übersubstantielle Hyparxis und ‹Gipfel›361 der allerersten intelligiblen Triade [sc. ist] (ThP III, 24; 84, 4–9).
Aus dem Kontext dessen, was im letzten Teilkapitel aus einer Zusammenschau verschiedener Proklos-Texte ermittelt wurde, erhellt, dass Proklos hier über peras als dem zweiten Einen (nach dem ersten, überseienden Einen) und über dessen zeugungsmächtiges Vermögen apeiria spricht, die oben als ahoristos dyas, als Prinzip der unbestimmten Zweiheit (Monade und Dyade) abgeleitet wurden zwischen dem absoluten Einen und dem ‚Sein‘, welches Proklos an dieser Stelle als „allererste intelligible Triade“ bezeichnet.362 Auffällig ist nun, dass Proklos peras bzw. die ahoristos dyas hier „Henade“ nennt.363 Ihr schreibt er vier für seine Henadenlehre insgesamt entscheidend wichtige Charakteristika zu: (1) Partizipierbarkeit, (2) hypostasierendes [= Sein erzeugendes] Wirken, (3) Überfließen aus der Einheit in die Vielheit, (4) eigenes über‑ bzw. vorseiendes, übersubstantielles Bestehen / Bestandhaben (hyparxis). Im Folgenden ist nun die hier in ihren wesentlichen Bestimmungsmomenten schon greifbare Henadenlehre vor dem Hintergrund von Proklos’ Theologie zu interpretieren. Kennzeichnend für diese philosophische Theologie ist, dass Proklos sie als Abbild und im Kontext der griechischen Götterwelt entwicktelt.364 Von daher stellt sich die Frage, wie der rein monotheistische Zug, der aus dem Primat des überseienden Einen unmittelbar deutlich wird, im Zusammenhang mit der 361 Auch Saffrey / Westerink übersetzen diese lacuna konjizierend mit „‹le sommet› de la toute première triade intelligible“ (ThP III, 24; 84, 9). 362 Gemeint ist das ‚Sein‘ als erste Trias der intelligiblen Seienden (nach der Dyade peras und apeiria und dem allerersten, überseienden Nur-Einen). ‚Sein‘ ist gemäß Proklos zugleich Prinzip alles Seienden, jedoch auch in sich triadisch strukturiert. Aber auch der Bereich der gesamten intelligiblen Seienden ist in sich triadisch gegliedert und besteht gemäß Proklos aus den drei Triaden ‚Sein‘, ‚Leben‘ und ‚Intellekt‘ (ThP III, 14; 51, 11–19). Vgl. ferner unten die Passage ETh 115 sowie Anm. 491. Vgl. Beierwaltes (2007: 81) und Chlup (2012: 92–99) mit sehr prägnanten Schemata, die Proklos’ triadische Differenzierungen aus verschiedenen Perspektiven unter einem jeweiligen Sachaspekt sehr gut abbilden. 363 Auch an anderer Stelle bezeichnet Proklos peras und apeiria als „Henaden“: ThP III, 9; 36, 12–15. 364 Vgl. etwa Proklos’ Homer-Interpretationen, s. dazu Bernard (1990: passim, z. B. 83–87) und Chlup (2012: 186, 195, 199–200).
e) Die überseienden Henaden
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polytheistischen griechischen Religion und den vielen Göttern (Henaden) bei Proklos einzuordnen ist, denn für ihn gilt (auf der Ebene der überseienden göttlichen Wesen): „Gott also [sc. ist] einer und Götter [sc. sind] viele.“365 In diesem prägnanten Zitat betont Proklos gemäß seinem in der ETh 1 abgeleiteten Axiom (welches letztlich nur das Abbild der höchsten theologischen Ursache ist) ‚Vieles ist nicht ohne Eines‘, dass ein Gott ist: Handelte es sich um einen bloßen Polytheismus, wäre dieser Zusatz unnötig. Wie schon in Homers Ilias Zeus von der „goldenen Kette“ spricht, an der die Götter ihn nicht vom Ouranos zu ziehen imstande wären, sondern vielmehr er alles zu sich hinaufziehen könne,366 so beschreibt auch Proklos das Verhältnis der einzelnen Götter zu dem einen Gott: Das Eine, so könnte man philosophisch mit Proklos formulieren, hebt alles mit sich auf, weil es das Erstprinzip ist, von dem alle anderen Prinzipien als ihrer Voraussetzung abhängen (da sie im Sinne des anhairein367 mit aufgehoben wären, wenn dieses Eine aufgehoben wäre): Denn die göttliche Eigenheit (idiotês) hat die Henaden und die Gutheiten der Götter differenziert, auf dass jeder [sc. Gott] gemäß einer bestimmten Eigenart (idiôma) der Gutheit alles gut macht, also z. B. vollendend, zusammenhaltend und beschützend wirkt. Von diesen nämlich ist jedes Einzelne ein bestimmtes Gutes, aber nicht das Gute als Ganzes,368 als dessen einshafte Ursache das Erste sich vorangestellt hat. Deshalb ist Jenes das Gute, als das hypostatische [sc. Prinzip] aller Gutheit. Und nicht nämlich kommen die gesamten Bestandhabensweisen (hyparxeis) der Götter zusammen dem Einen gleich – ein so großes Übermaß [sc. an Transzendenz] hat Jenes im Verhältnis zu der Vielheit der Götter erlangt (ETh 133, 12–19).
Die Unterscheidung ‚Polytheismus vs. Monotheismus‘ greift für Proklos also zu kurz, weil durchaus eine differenzierte Rangordnung zwischen den Göttern und dem einen ersten Gott besteht: Proklos spricht ja unverkennbar von einer göttlichen Eigenheit bzw. Gutheit, die die Henaden differenziert; diese verwirklichen ihrerseits diese eine göttliche Gutheit gemäß einer bestimmten Eigenart, so dass sich in dem Wirken der Henaden diese eine Gutheit des Einen-Guten, 365 Theos oun heis kai theoi polloi (ThP III, 3; 14, 4; genauer zur Stelle s. u. Kap. III.g). Vgl. Cürsgen (2007 a: 75) dazu, dass Proklos mit der Lehre von den überseienden Henaden „schon auf der präontologischen Ebene den Hervorgang des Polytheismus aus dem Monotheismus etablieren will.“ 366 Homer, Il. VIII, 19–27. Vgl. dazu Proklos, in Tim. I, 314, 17 ff. 367 Der Begriff anhairein („mit sich aufheben“) bedeutet: Wenn eine prinzipienhafte Voraussetzung aufgehoben (negiert) wird, dann ist auch alles von dieser Voraussetzung Abhängende zugleich mitaufgehoben bzw. negiert. S. Radke (2003: 209–214). Vgl. Aristoteles: „Denn Prinzip ist das Mitaufhebende“ (metaph. 1060a1). 368 Dodds (1963: 119) übersetzt „the sum of good“, obwohl Proklos im Folgenden betont, dass die einzelnen Götter dem Allerhöchsten nicht gleichkommen, so dass ein quantitatives Verständnis im Sinne einer Menge / Summe nicht gemeint sein kann. – Zur Abgrenzung der Zahl als binnenstrukturierte Einheit gegenüber einer bloßen Summe im Platonismus vgl. Heilmann (2007: 133).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
von dem die Henaden stammen, auf bestimmte, verschiedene Weisen offenbart und entfaltet. Über die vielen Götter – die Henaden im Unterschied zum (auto‑)hen (dem Einen selbst) – sagt Proklos, dass sie als erster arithmos (zahlhafte Ausfaltung) vom Einen sogar die Verschiedenheit / Andersheit transzendierend in Einfachheit gegründet mit dem Einen vereint sind: Der allererste arithmos aber ist sowohl mit dem Einen wesensmäßig verbunden als auch einartig, unsagbar und übersubstantiell und in jeder Hinsicht der Ursache überaus ähnlich. Denn weder Verschiedenheit fällt zwischen die allerersten Ursachen und entzweit von dem Erzeuger die Erzeugnisse und versetzt sie in eine andere Ordnungsstufe (taxis) noch bewirkt [sc. eine] Bewegung der Ursache ein Herabsinken (hyphesis) des Vermögens und führt dadurch das Erzeugen der Universalen zur Unähnlichkeit und Unbestimmtheit hervor, sondern überragend auf einshafte Weise fern aller Bewegung und Unterscheidung hat die Ursache von allem um sich selbst den göttlichen arithmos gegründet und mit seiner ihm eigenen Einfachheit vereint. Vor den Seienden also hypostasiert das Eine die Henaden der Seienden [d. h. die Henaden, die die Seienden dadurch, dass an ihnen partizipiert wird, erzeugen] (ThP III, 3; 12,21–13,5).
Nicht nur der Verschiedenheit, sondern auch der Unähnlichkeit im herkömmlich-rationalen Sinne ist diese erste Ausfaltung nach Proklos transzendent,369 denn nur gemäß der Einung (kath’ henosin) werden die Henaden hervorgebracht.370 Jeder Gott hat „gemäß der überwesenshaften Gutheit seine Hypostasis gegründet und ist gut weder nach Art des Wesens (Substanz, ousia) noch eines Habitus (hexis), sondern auf überwesenshafte (hyperousiôs) Weise.“371 Wenn also die Henaden so sehr mit dem Einen selbst geeint sind und sich gar nicht nach menschlich-rationalem Verständnisvermögen unterscheiden, einander nicht einmal nur ähnlich sind, sondern überähnlich, kann man dann tatsächlich polytheistisch von „vielen Göttern“ bei Proklos sprechen? Wenn aber nicht, wieso entwirft Proklos nicht eine eindeutig monotheistische Theologie? Bereits im letzten Kapitel wurde die gemäß Proklos notwendige Vermittlung zwischen dem absoluten, überseienden Einen und dem seienden Einen (‚Sein‘) durch das ‚zweite Eine nach dem Einen‘ erklärt, das als spannungsvolle Zweiheit der Prinzipien ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘ vor dem Bereich des Seienden seinen Bestand hat. Auch diese Prinzipien bezeichnet Proklos als vom Einen hypostasierte Henaden,372 so dass hier bereits erkennbar wird, dass die subtile 369 Zur Begrifflichkeit des ersten, die Verschiedenheit transzendierenden arithmos vgl. ferner in Parm. 1219,40–1220,5 (s. u. Kap. III.f) sowie Butler (2005: 94). Dazu, dass „die Henaden zwar diskret, aber zugleich auch unsagbar geeint und auf arelationale Weise alle alles sind“, s. Cürsgen (2007 a: 272). – Zum Problem, dass die höchste Theologie gemäß Proklos im Grunde in ein Schweigen münden muss, um nicht unangemessenerweise Transrationales in einer diesem nicht mehr angemessenen rationalen Rede auszudrücken, s. o. Anm. 349. 370 ThP III, 3; 12, 2–7. 371 ETh 119, 16–19. 372 S. o. Anm. 363.
e) Die überseienden Henaden
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Unterscheidung zwischen dem Einen (hen) und den Henaden (die als Unterscheidung nach Proklos ja ohne Verschiedenheit auskommen müsste, wodurch das rational-diskursive Denken ohne einen intellekt-einshaften Zusammenblick auf jeden Fall überfordert wäre) wesentlich die Wahrung der Transzendenz des unpartizipierbaren Einen selbst (autohen) und die aus ihm „in Einung hervorgehende“ Aktivität (energeia) als immanentes Wirken der partizipierbaren Henaden miteinander in Einklang bringen soll. Das [sc. Erste besteht] auf wahrhafte Weise als übersubstantielles Eines, jeder einzelne der anderen Götter aber gemäß seiner eigentümlichen Bestandhabensweise (hyparxis), insofern er ein Gott ist, als übersubstantieller auf mit dem Ersten benachbarte Weise, wird aber partizipiert von Substanz und dem ‚Sein‘. Als Henaden also, und zwar als partizipierbare Henaden, sind uns gemäß dieser Argumentation die Götter erschienen, indem sie mit sich alles Seiende verknüpft haben, durch sich aber das nach ihnen Bestehende mit dem Einen, welches alles gleichermaßen vollkommen transzendiert,373 verbinden (ThP III, 4; 17, 6–12).
Einerseits transzendieren das Eine und die Henaden gemeinsam den Bereich des Seienden; sie unterscheiden sich andererseits aber darin, dass der Eine Gott (das Eine selbst) gemäß Proklos in absoluter Transzendenz unvermischt und, ohne eine (Abhängigkeits‑)Relation zum Sekundären einzugehen,374 für sich selbst bestehen, während die Henaden vom Seienden partizipiert werden und den Bereich des Seins dadurch erzeugen und erhalten (ThP III).375 Dass es sich nicht um einen Bruch oder einen unüberbrückbaren Spalt zwischen dem Einen einerseits und den Henaden und dem ‚Sein‘ andererseits handelt, erklärt sich daraus, dass die Henaden von der unsagbaren Überfülle des Einen her ihre Hypostasis haben und insofern als Partizipierte gerade die (tätige) Mitte zwischen der transzendenten, unpartizipierbaren, rein für sich bestehenden Erstursache und dem Partizipierenden als dem Anderen und Vermischten einnehmen. Weshalb spricht Proklos aber davon, dass eine Henade „selbstvollkommen“ (autotelês) ist? Dieses Attribut wäre man kaum geneigt, denjenigen Prinzipien zuzusprechen, die von einem höheren, allerersten Prinzip abhängen und ‚nur‘ die Funktion einer Vermittlung innehaben, also gar nicht wirklich in selbstvollkommener Weise bei sich bleiben. 373 „vollkommen transzendiert“ soll als Umschreibung des resultativ-präsentischen Perfekts ekbebêkoti dienen, weil das deutsche Perfekt einen zeitlichen Nebensinn suggerieren würde, der dem (Über‑)Ewigen des Einen nach Proklos nicht gerecht würde. 374 Für Proklos’ Theologie, gemäß der ein Prinzip – und besonders das Eine selbst – nicht in Abhängigkeitsrelation zu dem von ihm Prinzipiierten steht, dieses aber zu seinem Prinzip, ist daher vermutlich die folgende These nicht zutreffend: „Dieses Eine [sc. in der Philosophie des Proklos] ist immer in Relation zu dem Vielen, zu der Vielfalt zu sehen“ (Hoffmann 1998: 47). 375 ThP III, 8; 32, 8–13. Vgl. ebenso ETh 116. Dazu, dass von diesen Voraussetzungen her die neuplatonisch begründete Transzendenz nicht von „Aristoteles’ Chorismos-Vorwurf gegenüber Platons Ideenlehre“ getroffen ist, s. Schmitz (2002: 455, Anm. 1).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Jeder Gott ist eine selbstvollkommene Henade und jede selbstvollkommene Henade ein Gott. Denn wenn die zahlhafte Ausfaltung (arithmos) der Henaden zweifach ist, wie vorher gezeigt worden ist, und die einen selbstvollkommen, die anderen aber erleuchtende Funken (ellampseis) von jenen sind, der göttliche arithmos dem Einen und Guten aber von Natur aus verbunden und wesensähnlich ist, dann sind die Götter selbstvollkommene Henaden (ETh 114, 16–21).
Gemäß Proklos’ Unterscheidung von unpartizipierbarem Prinzip, partizipierbarer Mitte und dem durch diese Mitte instantiierten Partizipierenden sowie gemäß seiner Differenzierung zwischen göttlicher Überfülle und Fülle376 stellt sich das Selbstvollkommensein nicht als die höchste Form des Bestandhabens (hyparxis) dar, wie auch das Wesen der sich unablässig-immer selbst hervorbringenden (authypostatischen) Ideen im Bereich des Intelligiblen nach Proklos nicht bedeutet, dass diese nicht auf ihnen transzendente, höhere Prinzipien angewiesen und von diesen abhängig wären, sondern dass jedes Eidos genau diese seine jeweilige Bestimmtheit selbst als erstes ist:377 Insofern ist es nach Proklos Prinzip seiner Bestimmtheit (d. h. seines bestimmten So-Seins) und gemäß seiner so-bestimmten Substanz autark,378 jedoch ist es im allgemeinen Bereich des ‚Seins‘ als ein bestimmtes Seiendes unter vielen Ideen z. B. nicht unabhängig von ‚Sein‘ und von den universalen, dem Seienden vorausliegenden und es konstituierenden Prinzipien (peras und apeiria). In der Hinsicht eines Sich-selbst-Hypostasierenden und Autarken ist etwas nur für sich selbst genug; sofern es aber in anderer Hinsicht Prinzip einer sachlichen Bestimmtheit ist, vermag es auch anderem durch sein prinzipienhaftes Vermögen an sich Anteil zu geben, ist aber gegenüber dem geringer, was sich nach Proklos gar nicht erst hervorbringen muss wie das Überseiende. Denn im allerersten arithmos ist alles auf höchste Weise miteinander geeint, so dass die Unterscheidung zwischen Hervorbringendem und Hervorgebrachten (die nach Proklos auch beim Authypostatischen impliziert ist) gar nicht denkbar ist, weil das Einfache die vorausgesetzte Verschiedenheit einer solchen Unterscheidung transzendiert.379 Analog zum authypostatischen, autarken Sein ist auch überseiende Selbstvollkommenheit für Proklos ein noch zu geringes Charakteristikum für das Allerhöchste, sondern kommt dem direkt von ihm Erzeugten zu: Jede prinzipienhafte Monade hypostasiert ihre zahlhafte Ausfaltung (arithmos) als zweifache: einerseits den [sc. arithmos] selbstvollkommener Hypostasen, andererseits den [sc. Zu dieser Unterscheidung s. oben Anm. 342. Vgl. Thiel (2004: 232). – Zum Begriff des authypostaton vgl. als kurze Begriffsklärung Drews (2009: 409–410), ausführlicher Chlup (2012: 69–76). Vgl. Rijk (1992: 19, 30) zur analogen Begriffsbestimmung des amethekton, welches zwar gemäß seinem bestimmten Sein als solches unpartizipierbar ist, aber trotzdem von vorausliegenden Ursachen abhängig ist (ETh 99). – Dazu, dass das Eine nach Proklos auch den Aspekt der Selbsthypostasierung transzendiert, vgl. Cürsgen (2007 a: 254; 2007 b: 53) sowie Beierwaltes (2001: 181; 1985: 348). 378 ETh 40, 11–13. 379 ETh 40, 23–29. 376 377
e) Die überseienden Henaden
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arithmos] erleuchtender Funken (ellampseis), die ihre Hypostasis in einem jeweils Anderen besitzen. Wenn nämlich gemäß dem Herabsteigen (kath’ hyphesin) der Hervorgang durch das den hypostasierenden Ursachen Eigentümliche [sc. erfolgt], dann geht von dem Ganzvollkommenen das Vollkommene und durch diese Mitten das Unvollkommene auf wohlgeordnete Weise (eutaktôs) hervor, so dass die einen selbstvollkommene Hypostasen sein werden, die anderen aber unvollkommene.380 Und diese werden sofort [sc. zugehörig zu] den [sc. an ihnen] Partizipierenden, denn unvollkommen seiend bedürfen sie der zugrundeliegenden [sc. Partizipierenden] für ihr eigenes Bestandhaben (hyparxis); die anderen aber machen sich das Partizipierende zu eigen, denn vollkommen seiend füllen sie zwar jene mit sich selbst und bereiten ihnen einen Wohnort in sich selbst, bedürfen aber in keiner Weise der Geringeren für ihre eigene Hypostasis. Die selbstvollkommenen Hypostasen also bleiben381 aufgrund ihrer Scheidung in die Vielheit [sc. in der Ordnung] hinter ihrer prinzipienhaften Monade zurück, aufgrund ihres selbstvollkommenen Bestandhabens besitzen sie auf bestimmte Weise Ähnlichkeit mit jener. Die Unvollkommenen aber haben dadurch, dass sie in einem Anderen sind, sowohl von der für sich selbst bestehenden [sc. Monade] einen entfernten Stand als auch durch das Unvollkommene von der alles vervollkommnenden [sc. mittleren Hypostasis]. Die jeweiligen Hervorgehensweisen aber [sc. erfolgen] durch das Ähnliche bis zu dem gänzlich Unähnlichen. Einen zweifachen arithmos also hypostasiert jede der prinzipienhaften Monaden. Von daher ist offenbar, dass auch Henaden einerseits als selbstvollkommene von dem Einen hervorgehen, andererseits als erleuchtende Funken von Einungen (ellampseis he‑ nôseôn); auch Intellekte sind zum Teil selbstvollkommene Wesen, teils aber bestimmte intellektuale (noerai) Vollkommenheiten; auch manche Seelen sind für sich selbst, andere aber [sc. gehören] den beseelten [sc. Körpern] an, gleichsam nur Abbilder seiend von Seelen. Und so ist weder jede Einung ein Gott, sondern die selbstvollkommene Henade, noch ist jede intellektuale Eigenheit Intellekt, sondern nur die wesensmäßige [sc. als Substanz bestehende intellektuale Eigenheit], noch ist jeder Funke von Seele Seele, sondern es gibt auch Schattenbilder der Seelen (ETh 64, 20–12).
Proklos betrachtet es also als für alles Selbstvollkommene wesensmäßig, dass es anderes erfüllt und dieses in seine Vollkommenheit hineingründet, während das Nicht-Selbstvollkommene das Andere als Grundlage seiner Hypostasis benötigt, da es nicht autark ist. Selbstvollkommen ist also nicht die höchste Form des Bestandhabens, die bei sich verweilt, sondern die partizipierbare Mitte, die von dem eigentlich transzendenten Prinzip, der unpartizipierbaren Monade,382 380 ‚Unvollkommen‘ meint anders als nach modernem Sprachgebrauch bei Proklos nicht per se einen beklagenswerten Zustand. Insofern also etwas in einem anderen als Grundlage sein Sein hat, ist es von diesem in bestimmter Hinsicht abhängig, aber insofern dies zu seinem bestimmten So-Sein gehört, ist dies etwas Gutes, da es für ein solches die beste Seinsform darstellt. Deshalb steht es auch innerhalb der guten Ordnung (eutaktôs); ‚unvollkommen‘ bedeutet für Proklos nur dann eine beklagenswerte Beeinträchtigung, sofern das jeweilig erreichbare Optimum verlassen wird. 381 Eigentlich Perfekt, aber „sind zurückgeblieben“ hat im Deutschen eine ausschließlich negative Konnotation. 382 Zu Proklos’ Unterscheidung der Begriffe Monade (unpartizipierbares Prinzip) vs. Henade (partizipierbar) vgl. Sheldon-Williams (1972: 69), Meijer (1992: 80–81), Cürsgen (2007 a: 60, 185), Chlup (2012: 102) sowie Horn (2006: 24).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
herkommt, von sich selbst her jedoch nicht auf ein (materiehaftes) Zugrundeliegendes angewiesen ist (im Gegensatz zur unvollkommenen Bestehensweise). Insofern Proklos zufolge das Eine als die erste aller prinzipienhaften Monaden in überseiender Einshaftigkeit die Henaden „um sich selbst als göttlichen arithmos gründet“,383 kommt diesen in ihrer Mittlerfunktion die entscheidende Stellung für das göttliche Wirken im Seienden und Werdenden zu. Wenn oben zu Beginn dieses Kapitels (III.e) gemäß der arithmetischen Folge 1–2–3 nach (1) dem überseienden Einen (2) peras und apeiria als unbestimmte Zweiheit, danach (3) das Prinzip ‚Sein‘ als erstes Seiendes und triadisch Strukturiertes eingeführt wurden, dann mag – gleichsam im Sinne eines Systemzwangs – das Problem entstehen, wo Proklos hier noch den überseienden Henaden ihre Stellung zukommen lassen möchte.384 Wenn nämlich jeder [sc. Gott] eine selbstvollkommene Henade ist, jedes aber von diesen [sc. intelligiblen Prinzipien: ‚Sein‘, ‚Leben‘, ‚Intellekt‘] nicht Henade, sondern Geeintes ist, dann ist also offenbar, dass jeder Gott diese besagten – ‚Sein‘, ‚Leben‘, ‚Intellekt‘ – gänzlich transzendiert (ETh 115, 29–31).
Trotz Proklos’ Aussage, dass innerhalb der ersten Ausfaltung vom überseienden Einen selbst (autohen) her noch keine Verschiedenheit besteht, fragt er selbst, worin sich denn eine weitere unpartizipierbare Henade neben dem Einen vom Einen selbst unterscheiden werde.385 Der ‚wesensmäßige‘ Unterschied (der ja im Überseienden nicht eigentümlich von der Art eines nur Seiendes betreffenden Unterschieds sein kann) besteht nach Proklos darin, dass die Henaden jeweils als selbstvollkommenes, partizipierbares Eines386 das, was sie erfüllen, mit dem autohen verknüpfen,98 denn: Jeder Gott ist partizipierbar, außer dem Einen (ETh 116, 13).
Diese Feststellung löst allerdings noch nicht das schwierige Problem, welcher Status den Henaden innerhalb Proklos’ Prinzipienreihe zukommen soll. Entsprechend hat die Forschung Proklos’ Henadenlehre mit den Attributen „supraratio S. o. ThP III, 3; 12,21–13,5. Zum Problem, ob die Henaden gemäß den Neuplatonikern der ersten oder zweiten Hypothesis des platonischen Parmenides zuzuordnen sind, s. Proklos, ThP III, 23; 82 und vgl. Sheldon-Williams (1972: 66–67). 385 ETh 116, 17–19. 386 So bereits Proklos’ Lehrer Syrian, in metaph. 183, 24, vgl. Sheldon-Williams (1972: 65), ferner Bechtle (1999: 385). Zu Syrian allgemein s. jetzt Wear (2011; 2008). – Im Hinblick auf Proklos erscheint es daher fragwürdig, ob Henaden unter „unteilgenommene Einheiten“ subsumiert werden sollten – so Cürsgen (2007 a: 110), der andernorts die Henaden als „z. T. partizipierbar“ bezeichnet (ibd., 137), im späteren Verlauf seiner Untersuchung jedoch klar ihre Partizipierbarkeit benennt (z. B. ibd., 237). ‚Unpartizipierte Henade‘ gebraucht Proklos m.W. nur im Singular von dem Einen selbst (ThP III, 3; 13, 16–17), vgl. Rijk (1992: 22–23). 387 ETh 116, 22–24. Vgl. Saffrey / Westerink (1978: LV–LVI): „[…] mais il faut au sommet des monades un autre et encore plus puissant facteur d’unité, qui réunisse les monades à l’Un imparticipable, c’est l’henade.“ Vgl. auch Sweeney (1992: 279–281) mit Bezug auf ETh 100. 383 384
e) Die überseienden Henaden
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nal paradox“, „flaw“, „odd“, „faulty“, „petitio principi“388 bezeichnet und befindet sich selbst in einer Aporie, die schon Saffrey und Westerink symptomatisch auf den Punkt gebracht haben, wenn sie feststellen: „Nulle part, semble-t-il, dans les écrits conservés de Proclus, on ne trouve traitée pour elle-même la question de la nature des hénades divines.“389 Beide heben zwar hervor, dass die Henaden nach Proklos im Bereich der intelligiblen Ideen ihre „überwesenshaften Eigenheiten (idiotêtes) auf seiende Weise“ offenbaren390 und dass den Henaden insofern der jeweils selbige Charakter zukommen müsse.391 Damit bleibt aber trotz „verfeinerter Einshaftigkeit“ die systematische Notwendigkeit der Henaden innerhalb Proklos’ platonischer Theologie unklar, da sie wie eine unnötige Verdopplung der Ordnung der seienden Ideen erscheinen,392 wie jetzt auch wieder in der jüngeren Forschung betont wird: Die Formulierung von [ETh] 159393 stellt die Götter – somit die Henaden – faktisch auf die gleiche Ebene wie das Sein und gefährdet somit gerade Proklos’ sonst stringent und konsequent verfolgte Lösung des henologisch-ontologischen Problems. […] Letztlich ist [ETh] 159 als die letzte Konsequenz des Blickwinkels anzusehen, der die Henaden ihren Prinzipiaten und Partizipanten zuordnet und sie faktisch mit diesen zusammensieht, um nicht zu sagen, identifiziert (Tanaseanu-Döbler 2013: 258–9; Kursive FD).
Als Erklärung für die Henaden werden in der Forschung zum Teil die zweifellos wichtigen Entsprechungen zwischen Proklos’ philosophisch begründeter Prinzipienlehre und den mythologischen Göttern gegeben: Allerdings erörtert z. B. Brisson (1987: 70–71) nur die Prinzipien peras und apeiria als Henaden, während Proklos doch in einem allgemeineren Sinne von Henaden (und nicht nur von diesen beiden) zu sprechen scheint. Ferner finden Proklos’ detailliertere Ausführungen über die Götter in den Bereichen der Seienden (die noetischen, noetisch-noerischen, noerischen Götter, hyperkosmischen, enkosmischen Göt388 Moutsopoulos
(1997: 87). Saffrey / Westerink (1978: LXVI). 390 ETh 137, 3. 391 „Pour lui [sc. Proclus], les hénades divines sont comme composées d’unité toute pure et d’une propriété ou d’un caractère propre. Mais cette unité et cette propriété sont les analogues plus raffinés de l’identité et de l’altérité qui se trouvent dans les Formes“ (Saffrey / Westerink 1978: LXX). 392 Vgl. Cürsgen (2007 a: 89): „Das Sein wird zum symbolischen Wiederholungszusammenhang des Göttlichen […].“ S. auch Moutsopoulos (1997: 83) zu „this further multiplication of ontological values“ und (ibd., 87) zur „most widely used method […] to successively interpolate new elements“. – Im Unterschied dazu zeigt van Riel (2001: 430), auch wenn seine Henaden-Interpretation nicht mit der hier vertretenen deckungsgleich ist (s. u. Anm. 478), dass die Henaden keineswegs in Proklos’ theologischem System verzichtbar sind, sondern ein wesentliches Element im Kontext seiner negativen Theologie darstellen (zur Methode der mit eingrenzenden Negationen das Überseiende / Göttliche spiegelnden Theologie im Neuplatonismus vgl. am Beispiel von Dionysius Areopagita Drews 2011: 71–79). Gegen eine Verwechslung von Henaden und Ideen wenden sich völlig zu Recht Horn (2006: 24) und Butler (2005: 86; 2014: 49, 56 f.). 393 Zu dieser Stelle s. u. Anm. 418. 389
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
ter etc.) eine größere Beachtung394 als die Frage, was Proklos zufolge das ‚Wesen‘ der Henaden sein könnte. Cleary (2000: 86) sieht seine skeptische Haltung gegenüber Proklos’ gesamtem System gerade in der Unerkennbarkeit der Henaden begründet: Even if everything which he says about the superiority of Platonic dialectic were accepted at face value, still this would not provide knowledge of the divine henads because they transcend being, and even the highest faculty of nous is confined to the realm of being.395
Cleary „argwöhnt“ deshalb, Proklos habe im Unterschied zu Plotin nie eine mystische Vision gehabt.396 Gemäß der hier versuchten Interpretation sowie der bisher verfolgten Methode, die innere Konsistenz der proklischen Argumentation (soweit möglich) aus dem Kontext seiner spezifisch theologischen Schriften herauszulesen, sagt Proklos jedoch genug, um neben der bereits als Mittlerfunktion397 abgeleiteten Stellung der Henaden auch ihre überseiende „Natur“ noch etwas genauer zu beschreiben, wobei allerdings in Rechnung zu stellen ist, dass Proklos schon in eigener Konsequenz die gemäß seiner Position zum Bereich des Unsagbaren gehörenden Henaden398 nicht in größerer Ausführlichkeit behandelt. Das interpretatorische Problem, dass Proklos innerhalb seiner Systematik die Henaden nicht ausreichend beschreibe bzw. warum er (in positiver wie negativer Theologie) so wenig über die Henaden spreche, lässt sich möglicherweise mit einer letztlich eher einfachen, aber vielleicht für Proklos um so charakteristischeren Erklärung auflösen, die im Folgenden entwickelt und vorgestellt werden soll. Dabei sind aufgrund der Sachproblematik fast ausschließlich subtile Abgrenzungen gegen394 Vgl. Brisson (1987: 72 ff.), Saffrey / Westerink (1978: LXX). In der Forschung wird (verbunden mit der Erörterung, welche Gottheit Proklos den jeweils philosophisch ermittelten Sachheiten zuordnet) zumeist die These vertreten, durch Proklos werde „die Mythologie endgültig entmythologisiert“ (Beierwaltes 1985: 158). Cürsgen (2007 a: 91) spricht von der „Entmythisierung der Götter und Remythisierung der Logik“ als von einem „symbolischen Zirkel“, Dillon (2000: 341) allgemein von einem „rationalized and demythologized later Platonism“. Gegen einen solchen Ansatz wendet sich Bernard (1990: passim) mit der grundsätzlichen Feststellung, dass bei den neuplatonisch interpretierten Allegorien stets der personale Charakter der Gottheiten gewahrt bleibe und sogar scheinbar Unpersönliches noch personalisiert gedacht werde (ibd., 102). Dass man bei der These der Entmythologisierung zumindest in Rechnung stellen sollte, dass Proklos Mythen (wie die in Platons’ Phaidros) als inspiriert sowie als Teil göttlicher Initiation ansieht und daher bestimmte mythische Passagen bei Platon im Unterschied zu Interpretationen aus moderner Perspektive gerade nicht in distanziert-ironisierender Weise interpretiert, zeigt Sheppard (2000: 419). 395 Die Stärke dieses Arguments bleibt aufgrund der von Proklos ja selbst nie bestrittenen Unmöglichkeit der direkten Erkenntnis der Henaden (vgl. ETh 123) jedoch fragwürdig. 396 „[…] it still leaves me with the suspicion that, unlike Plotinus, he [sc. Proclus] never actually experienced a mystical vision“ (Cleary 2000: 87). Zu Recht in Frage gestellt wird diese drastische Kontrastierung zwischen Plotin und Proklos (ohne die Unterschiede zu verkennen) jetzt von Chlup (2012: 161, 179–184). 397 Vgl. Beierwaltes (1985: 155). 398 Vgl. Perczel (2000: 509).
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über bestehenden Forschungsmeinungen erforderlich, die auf den ersten Blick als ‚beckmesserische Haarspaltereien‘ erscheinen könnten: Diese verdanken sich gleichwohl keiner polemischen Intention, sondern werden um eines möglichst präzisen Herausschälens der eigenen Interpretation willen vorgebracht. Wenn man Proklos’ Aussage, die Henaden seien als erste zahlhafte Ausfaltung (arithmos) vor aller Verschiedenheit mit dem Einen in einshafter Weise geeint, ernst nimmt, dann dürfte es sich bei ihnen – abgesehen davon, dass diese Einung sowohl das intellekthafte wie auch das rationale Denken und erst recht die Vorstellbarkeit399 übersteigt – kaum im spezifisch-eigentümlichen Sinne um eine Vielheit oder ‚Menge‘ handeln. Dagegen scheint jedoch eine der Anfangspropositionen aus der ETh zu sprechen, wo es heißt: Jede Vielheit besteht entweder aus Geeinten oder aus Henaden. Dass nämlich jedes Einzelne der Vielen (tôn pollôn) nicht auch selbst ausschließlich Vielheit (plêthos) und jedes Einzelne dieser [sc. Vielheit nicht] wiederum Vielheit sein wird, ist offenkundig.400 Wenn es [sc. das Einzelne] jedoch nicht ausschließlich Vielheit ist, dann ist es doch aber Geeintes oder Henade. Und wenn es an dem Einen partizipiert, [sc. ist es] Geeintes; wenn es aber [sc. das ist], woraus das auf primäre Weise Geeinte [sc. besteht, dann ist es] Henade. Denn wenn das Eine-selbst (autohen) ist (éstin), dann ist (éstin) das auf primäre Weise an ihm Partizipierende und auf primäre Weise Geeinte. Dieses aber [sc. besteht] aus Henaden. Denn wenn es aus Geeinten [sc. bestünde], dann [sc. bestünden] wiederum die Geeinten aus bestimmten [sc. Geeinten], und so ad infinitum. Notwendigerweise muss also das auf primäre Weise Geeinte aus Henaden [sc. bestehen]; und damit haben wir das anfangs [sc. Zugrundegelegte] gefunden (ETh 6, 22–30).
Zu Beginn dieser nicht leicht zu interpretierenden Passage401 scheint Proklos auf den ersten Blick tatsächlich die Henaden als Vielheit anzusehen, da eine Vielheit entweder aus Geeintem oder aus Henaden bestehen soll. Denn jedes einzelne Bestimmungsmoment einer Vielheit sei entweder Geeintes oder Henade. Auffällig ist aber, dass er irgendeinen Unterschied zwischen Geeintem und Henade macht, der zunächst keineswegs zwingend und offensichtlich erscheint. Auch hier – an einer frühen Stelle der ETh – zeichnet sich bereits ab, dass nur das (später folgende402) Methexis-Theorem den Grund der besagten Differenzierung aufhellen kann: Das an dem Einen Partizipierende sei Geeintes. 399 Diese erkenntnistheoretisch-ontologischen Differenzierungen zwischen Vorstellen und rationalem sowie intellektivem Denken (so in positiver Weise Cürsgen 2007 a: 128–9) werden jedoch nicht immer adäquat mitbedacht oder zumindest in Formulierungen nicht berücksichtigt, z. B.: „mehr und Größeres als das Eine und das Gute […] ist nicht vorstellbar, weil sie das Vorstellen aller Dinge und ihrer Verhältnisse stets begleiten“ (Cürsgen 2007 a: 54); „Das Denken kann das reine Übergehen nicht verstehen bzw. nur als überseiende, reine Einheit vorstellen“ (ibd., 118; ähnlich ibd., 101). 400 Vgl. ETh 1 (s. o. Kap. III.d). 401 Anders Dodds (1963: 192): „The argument of this proposition is simple and seemingly unimportant […].“ – Vgl. zur Problematik ferner die Passage in Parm. 1219,40–1220,5 (s. u. Kap. III.f). 402 ETh 24 (s. o. Kap. III.c).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Davon grenzt Proklos das „auf primäre Weise Geeinte“ ab, welches aus Henaden bestehe. Die Henaden sollen also qua „auf primäre Weise Geeintes“ von dem auf herkömmliche Weise Geeinten unterschieden werden. Dafür lassen sich von Proklos her zwei Gründe anführen: (1) Wie oben schon gesehen, besteht ein wesentliches Charakteristikum der Henaden gemäß Proklos darin, dass sie partizipierbar sind – gerade im Unterschied zum Einen selbst, welches unpartizipierbar ist.403 Geeintes sei aber das am Einen Partizipierende. Damit scheint Proklos bereits hier der Sache nach die wichtige Dreierdifferenzierung zwischen Unpartizipierbarem Prinzip, Partizipierbarer Mitte und Partizipierender Instanz zu implizieren. Denn das Geeinte partizipiere am unpartizipierbaren Einen, was nur möglich ist, wenn es partizipierbare Vermittler gibt. Wenn es richtig ist, dass diese höchsten Vermittler die per se partizipierbaren Henaden sind, dann wird auch ersichtlich, warum Proklos die Henaden nicht als herkömmliche, (durch die Partizipation am Einen) geeinte Vielheit begreift, sondern ihnen einen Sonderstatus zubilligt. Denn eine ‚herkömmliche Vielheit‘ kann nur eine bestimmte, seiende Vielheit sein, bei der es sich um eine geeinte Vielheit im Sinne eines aus peras (‚Grenze‘) und apeiria (‚Nicht-Grenze‘) gemischten Seienden handelt.404 Wenn die Henaden überseiend ‚sind‘, dann können sie nicht auf derselben ontologischen Stufe wie das Seiende stehen, da sie als Überseiende prinzipientheoretisch ja aller Ontologie vorausliegen bzw. das Seiende erst dadurch begründen, dass sie Anteilhabe am unpartipierbaren Einen vermitteln. (2) Das Geeinte verdankt sich als solches bereits der realisiert-vermittelten Partizipation am überseienden Einen. Denn platonisch basiert Sein auf Einheit, setzt also bereits Einheit als Prinzip voraus: Prinzipienhafte Ursache von Einheit kann aber nur das Eine selbst (autohen) sein. Wenn diese prinzipienhafte Ursache somit als zwingend bestehend zugestanden werden muss, dann kann sie nicht zugleich und im selben Sinn wie das Seiende sein, weil sie sonst nicht mehr Eines wäre, sondern Zwei (Sein und Eines).405 Daher muss das Eine dem Sein in überseiender Weise vorausliegen, Sein jedoch ist nicht ohne Eines möglich. Wenn somit allem, weil vom Prinzip der Einheit abhängigen Sein immer schon Einheit zukommen muss, damit es überhaupt zu sein vermag, dann lässt sich das Sein, insofern es also Geeintes ist, nicht immer weiter auf bloß höheres Geeintes zurückführen: Dies wäre ein infiniter Regress, wie Proklos explizit sagt. Das in ETh 1 grundgelegte Axiom,406 dass alle Vielheit am Einen partizipiert, zeigt hier dahingehend seine Konsequenz, dass die Ontologie nicht ohne Henologie zu begreifen ist: Wenn Geeintes bloß auf wiederum Geeintes reduzibel wäre, dann wäre die Bedingung der Möglichkeit des Geeintseins nicht aufzufinden. Dafür, ETh 116, 13 und ThP III, 24; 84, 4–9. Kap. III.d. 405 S. o. Kap. II.2, II.5 c und III.d. 406 S. o. Kap. III.d. 403 S. o.
404 S. o.
e) Die überseienden Henaden
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dass das Eine – dessen absolute Einfachheit widerspruchsfrei nur als überseiend zu fassen ist – trotzdem und zugleich Prinzip alles Geeinten und damit des Seins ist, bedarf es einer Vermittlung: durch die überseienden Henaden. Nur so kann das ‚anfangs zugrunde gelegte Prinzip‘ gefunden werden, und zwar im doppelten Sinne: dass jede Vielheit entweder aus Geeinten oder aus Henaden besteht und – vor allem – dass das Eine Prinzip aller Vielheit und Geeintheit ist. Proklos scheint also in ETh 6 entweder bereits die Vermittlungsfunktion der Henaden zu implizieren; oder aber er expliziert zumindest etwas, was mit seiner Henadenlehre kompatibel ist: Denn die Tatsache, dass er die Henaden als das „auf primäre Weise Geeinte“ einführt, ist direkt anschlussfähig an seine oben schon erörterten Ausführungen darüber, dass die Henaden – jegliche Verschiedenheit transzendierend – mit dem absoluten Einen selbst (autohen) in einshafter Weise geeint sind. Überhaupt macht diese unsagbar-transrationale Übergängigkeit zwischen dem Einen und den Henaden erst wirklich verständlich, warum Proklos die Henaden qua „auf primäre Weise Geeintes“ von dem auf herkömmliche, seiende Weise Geeinten unterscheidet. Wenn diese Interpretation von ETh 6 zutrifft, dann impliziert sie zugleich, dass die Henaden – gerade entgegen dem ersten Augenschein – nicht als ‚herkömmlich-seiende Vielheit‘ verstanden werden dürfen. Proklos’ Differenzierung zwischen Geeintem und Henade hätte sonst auch gar keinen einsehbaren Sinn. Nur wenn man also – im uneigentlichen Sinne des Denkens – zu ‚bedenken‘ versucht, dass die epistemischen Ebenen der Vorstellung, Ratio und sogar des Intellekts, insofern er Seiendes begreift, transzendiert werden müssen, um Proklos’ Verständnis der überseienden Henaden halbwegs gerecht werden zu können,407 wird auch klar, dass seine Rede: „Jede Vielheit besteht entweder aus Geeinten oder aus Henaden“, nicht so aufzufassen ist, als ob er das Geeinte (= Seiendes) und die Henaden (= Überseiendes) auf derselben ontologisch- / prinzipientheoretischen Ebene Vielheit konstituieren würde. Somit bleibt zunächst als wichtiges Resultat festzuhalten, dass die überseiende ‚Henaden-Vielheit‘, von der Proklos eingangs spricht, als solche keine Vielheit aus einzelnen für sich unterscheidbaren, weil seienden Bestimmungsmomenten begründen kann. Denn die Henaden, wie aus anderen Textzeugnissen belegt wurde, überragen in ihrer Relation zum Einen sogar Verschiedenheit und Unähnlichkeit. Sind die Henaden aber keine Vielheit aus etwas für sich Unterscheidbarem, dann sind sie erst recht nicht als „Menge“ (aus einzelnen Elementen)408 zu be407 Zur Nichtbeachtung dieser epistemischen Forderung in der Forschung s. o. Anm. 399. – Völlig zu recht weist Bechtle (1999: 364–5) darauf hin: „Eine fundamentale, wenn nicht sogar schlechthin die Voraussetzung jeder Diskussion über das Thema der göttlichen Henaden besteht darin, daß man sich klarmacht, was in unserem Zusammenhang eigentlich ‚überseiend‘ und ‚überintelligibel‘ genau heißt und was dementsprechend also ‚seiend‘ und ‚intelligibel‘ ist.“ S. in ähnlicher Weise Butler (2005: 83; 2014: 49). 408 Vgl. aber Tanaseanu-Döbler (2013: 248–9): „Die ersten sechs Sätze [sc. der ETh] legen den Grundstein für alles weitere und führen von dem Einen an sich zu den Henaden, die die erste
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
zeichnen und zu verstehen, wie oben bereits angedeutet wurde. Formulierungen wie: „[…] gleichzeitig bilden alle Henaden eine geeinte Menge“ (Cürsgen 2007 a: 82, 152, 238, 247) ebenso wie die Interpretation der Henaden als „first unified group“ (Dodds 1963: 7, 192) erscheinen von daher kaum zutreffend. Auch Dodds’ Interpretation von ETh 6 ist zu hinterfragen: We shall find later that the group whose members are unanalysable units is exemplified not only in the infima species but also at the other end of the scale, in a system of ‘divine units’ or gods (props. 113 ff.). The way is here prepared for this development, though the term henas means in the present prop. simply ‘indivisible unit’ […] (Dodds 1963: 193).
Denn wie oben zu zeigen versucht worden ist, setzt die gesamte Argumentation in ETh 6 der Sache nach bereits den komplexen Zusammenhang von Sein und Einheit, überseiendem Einen und der Vermittlung zwischen diesem und dem Sein voraus, auch wenn in einer diskursiven, nur im Nacheinander explizierbaren theologischen Elementarlehre, wie Proklos sie vornimmt, dieser Komplex in all seinen Aspekten nicht auf einmal erörtert werden kann, sondern nur Schritt für Schritt. Der vermeintliche Unterschied zwischen einerseits dem späteren „development“, in welchem die Henaden von Proklos als Götter dargestellt werden und welches Dodds hier immerhin „vorbereitet“ sieht, und andererseits der in ETh 6 angeblich nur schwachen Bedeutung von henas als „einfach ‚unteilbare Einheit‘ “ besteht sachlich nicht: Denn wenn man die Henaden in ETh 6 nur formal-logisch als unteilbare Einheiten verstehen und gleichsam den ‚metaphysisch-theologischen Ballast‘ der in den späteren Propositionen entwickelten Henadenlehre abschütteln wollte, bleibt der Unterschied zwischen seiender Vielheit aus Geeinten vs. überseiender Vielheit aus Henaden letztlich unverständlich. In der Forschung wird immer wieder versucht, die Henaden als quasi-Vielheit zu betrachten, wie es z. B. der Wortlaut von ETh 6 auch nahezulegen scheint. So spricht z. B. Chlup (2012: 116) von „a kind of primordial plurality, but one that is solely pluralized by individual uniqueness which makes each of the henads a self-contained unit“, ähnlich Cürsgen (2007 a: 82) von der „höchstmöglichen Einheit, die noch keine absolute Einheit ist, sondern das Minimum an Differenz […] mit umschließt.“ Eine solche Interpretation bietet den Vorteil, dass sie gegenüber den Begriffen ‚Menge‘ und ‚Gruppe‘ dem transrationalen Aspekt der Henaden-Vielheit besser gerecht wird, hat jedoch den Nachteil, dass der Aspekt, dass zwischen absolutem Einen und Henaden aufgrund der Überseiendheit nicht einmal Verschiedenheit herrscht, aus dem Blick zu geraten droht: Unversehens Vielheit oder Menge (plêthos) ausmachen.“ S. dagegen grundlegend Schmitz (2002); im Hinblick auf Proklos’ Verständnis von plêthos s. besonders ibd., 461–2 zum gravierenden Unterschied zwischen einem rein abstrakten, inhaltlich indifferenten „Mengenbegriff “, wie er der modernen Logik entstammt, und einem „zu erschließende[n], intelligible[n] Seinsgrund“ bei Proklos. Zu einigen (aus platonisch-aristotelischer Perspektive) problematischen Implikationen des modernen Mengen-Begriffs vgl. Schmitt (2003 a: 248–9) und Thiel (2004: 127–134).
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scheint damit der sachliche Unterschied zwischen der (seienden) Vielheit der Ideen und der Henaden-Vielheit eingeebnet, und das oben schon angerissene Problem tritt wieder auf, dass „die Henaden faktisch auf die gleiche Ebene wie das Sein“ zu geraten scheinen (Tanaseanu-Döbler 2013: 258). Auch Beierwaltes’ (1985: 155) zwar überaus behutsame Interpretation, die Henaden seien „die erste, von der Einheit noch vorherrschend gehaltene, die Vielheit im eigentlichen Sinne erst vermittelnde Viel-Einheit nach dem reinen Einen“, trifft womöglich nicht ganz das von Proklos Gemeinte: Erstens bleibt schwammig, was genau eine „Viel-Einheit“409 sein soll; zweitens ist allein „von der Einheit vorherrschend gehalten [zu sein]“ kein spezifisches Charakteristikum der Henaden, weil Proklos dies auch von den unvergänglich-wahrhaft seienden, intelligiblen Ideen sagt; drittens meint Proklos mit der von Beierwaltes zu Recht herausgestellten Vermittlerfunktion der Henaden vermutlich weniger eine Vermittlung von Vielheit, sondern von überseiender Einheit an das (durch diese Vermittlung ‚erzeugte‘) ‚Sein‘ und an die für sich unterschiedenen, vielen einshaften intelligiblen Ideen (etc.). Durch diese Vermittlung von Einheit entsteht das Viele, insofern man darunter die Vielheit einzelner Einheiten versteht, die für sich selbst jeweils geeinte Vielheit sind. Ferner sind nach Proklos nicht die Henaden, sondern apeiria (‚Nicht-Grenze‘) das Prinzip der Vielheit.410 Deshalb können die Henaden, da sie im eigentümlichen Sinne mit dem Einen – sogar alle Verschiedenheit sowie Vielheit und Unähnlichkeit transzendierend – geeint sind, kaum selbst „schon Vielheit“ sein, wie Beierwaltes (1985: 207–8) jedoch andeutet: Die Henaden sind zwar schon Vielheit, Einheit herrscht in ihnen jedoch derart vor, daß sie lediglich als Vermittlung zur eigentlichen Vielheit hin verstanden werden können.
Die höchste Form der geeint seienden Vielheit spricht Proklos (gemäß seinem Parmenideskommentar) vielmehr dem seienden, noetischen Einen (‚Sein‘) zu, das sogar noch vor der eigentümlich seienden (im Sinne einer sich in Einzelnes zergliedernden) Vielheit im Bereich des noetisch-noerischen Seienden liege.411 Wie oben412 gezeigt werden konnte, spricht Proklos von einem „bestimmten Einen nach dem Einen“, welches als (vom reinen Einen insofern ‚verschiedene‘) 409 Diesen Begriff gebraucht in selbiger Weise Halfwassen (1992: 116). Vgl. Horn (1995: 256, Anm. 541) zu Proklos’ Henaden als „Vorformen vielheitlicher Einheit“, ebenso Abbate (2008: 94) zu den Henaden als „principi molteplici“ und als „principi divini mediatori fra la trascendenza del Principio Primo ed ogni genere di molteplicità“. 410 S. o. Kap. III.d sowie ThP III, 26; 92, 20–22. 411 Hier wird Proklos zufolge die Vielheit als [immer] ‚entstehende‘ [weil noch nicht für sich geschiedene] Vielheit im Seienden zuerst offenbar (in Parm. 1090–1091). Vgl. Opsomer (2000: 364): „the second [sc. triad] engenders all the intelligibles but is not yet itself a multitude of beings.“ Vgl. ebenso Butler (2005: 98) sowie Halfwassen (1996: 78): „Totalitätscharkater besitze erst das intelligible Sein, und zwar unter seinem mittleren Aspekt als ‚Leben‘.“ 412 Kap. III.d.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Zweiheit peras und apeiria das seiende Eine (hen on) erzeugt, und nicht von einer Vielheit von ‚Einen‘ bzw. Henaden, welche dieses Wirken übernehmen. Die Henaden sind nach Proklos zwar vor dem Sein anzusetzen.413 Sofern jedoch ‚Sein‘ als das erste Gemischte aus Begrenztheit und Unbegrenztheit bzw. als erste geeinte Vielheit das erste Erzeugnis von peras und apeiria ist414 und die „Vielheit von Henaden und Vermögen (dynameis) zu einer Substanz zusammengemischt aufgenommen hat“,415 können die Henaden nach Proklos kaum „die erste Kon‑ kretion ihres [sc. des von peras und apeiria] gleichursprünglichen Zusammenwirkens“ (Beierwaltes 1985: 208) sein,416 weil „Konkretion“ als ‚Vorgang bzw. Ergebnis des Zusammenwachsens‘ dieser beiden Prinzipien nach Proklos den Bereich des Seienden eröffnet, dem die überseienden Henaden selbst doch gerade vorausliegen sollen.417 Dies gilt gerade auch dann, wenn Proklos an anderer Stelle (ETh 159) davon spricht, die Ordnungen der Götter seien aus Grenze und Nicht-Grenze gemischt: Denn hier geht es – anders als es die thematische Gliederung in Dodds’ Edition 413 So ebenfalls Beierwaltes (1985: 207): „Denn sie [sc. die Henaden] sind selbst noch vor dem Sein.“ 414 „Wenn aber die Grenze der Seienden peras war und das Unbegrenzte der Seienden apeiron und das aus beidem seine Zusammensetzung Habende die Seienden sind, wie es Sokrates selbst in klarer Weise lehrt, dann ist offenbar, dass das Allererste des Gemischten das Allererste der Seienden ist, dieses aber ist nichts anderes ist als der Gipfel unter den Seienden und was das ‚Sein selbst‘ (autoon) und nichts anderes als ‚Sein‘ ist“ (ThP III, 9; 35, 1–7). 415 ThP III, 9; 40, 6–8. 416 Wie Beierwaltes vertritt auch Erler (1978: 127, Anm. 2) mit Bezug auf ETh 159 die Interpretation, dass es die Henaden sind, die erst aus peras und apeiria hypostasiert werden. Ebenso Dodds (1963: 281): „It is somewhat surprising that the henads, which are henikôtatai and haploustatai (p. 127), should be infected by this radical duality [sc. peras / apeiria].“ S. ferner in gleicher Weise Siorvanes (1996: 176) und Halfwassen (1996: 77) zu „den Henaden und ihren beiden Prinzipien [sc. peras und apeiron]“ bei Proklos (zur Auseinandersetzung mit Halfwassens Aufsatz vgl. auch unten Anm. 426). Vgl. auch Chlup (2012: 122): „The henads also preconceive the cooperation of Limit and the Unlimited […]“. S. ferner Cürsgen (2007 a: 143) zu der (angeblich) in den Henaden „über-gemischte[n] Einheit“ von „Grenze und Unbegrenztem“ (ähnlich ibd., 165): Die Henaden bildeten „eine Art des ‚überseienden Werdens‘, des reinen Übergehens zwischen Grenze und Unbegrenztheit, und hierbei gehen sie ineinander über“ (ibd., 148; Kursive FD). Ein solcher Übergang ineinander kommt einer dem Sein eigenen Mischung zumindest sehr nahe und ist davon nur schwer unterscheidbar. Die ‚Übergängigkeit der Henaden‘ liegt m. E. aber gar nicht zwischen ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘, sondern zwischen dem absoluten Einen und dem Sein, insofern die Henaden durch ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘ hindurch das für das Sein partizipierbare überseiende Eine darstellen (s. das Folgende). 417 Die überseienden Henaden im spezifischen Sinn unterscheidet Proklos vom Intelligiblen, in welchem diese ihre Wirksamkeit erst sekundär offenbaren: Nur insofern diese Wirksamkeit gemeint ist, spricht Proklos dann auch von „intelligiblen Henaden“ (in Tim. III, 22, 8–11). Diese „intelligiblen Henaden“ aber sind von den eigentlichen und überseienden Henaden gemäß der Prinzipienordnung zu unterscheiden, weil Proklos betont, dass „gemäß dem Logos“ (ana-log) das Höchste einer Ordnung immer aus der jeweils nächsthöheren Ordnung empfangen wird, z.B: der Gipfel des Noerischen als Noetisches, der des Noetischen als Henade (in Tim. III, 163, 7–11). Daher wird deutlich, dass Proklos mit überseienden Henaden und noeta genauso wenig dasselbe meint wie mit noeta und noera. Vgl. Bechtle (1999: 375).
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nahe legt und von der Forschung interpretiert wird – bei den gemeinten Götterordnungen vermutlich nicht um die Henaden an sich, insofern sie überseiend und dem Sein „verborgen“ sind, sondern insofern sie vom Seienden partizipiert werden und sich in diesem als „intelligibel“, „hyperkosmisch“, „enkosmisch“ (etc.) zeigen und entsprechend „Ordnungen (taxeis) des Seienden begründen,418 während die Henaden selbst als überseiende offenbar die Unterscheidung von Ordnungen selbst transzendieren, die es nur im Seienden geben kann.419 Daher kann auch „das Urgegensatzpaar Grenze und Grenzelosigkeit [= peras und apeiria]“ nicht als „Ermöglichungsgrund der vielen Einheiten [= Henaden]“ (Beierwaltes 1985: 208) angesehen werden:420 Sonst liefe es darauf hinaus, dass 418 ETh 159 wird in der Forschung geradezu selbstverständlich als eine Passage über die Henaden an sich interpretiert, vgl. van Riel (2001: 419, 431–2) und Tanaseanu-Döbler (2013: 258–9; zitiert oben Anm. 301). Zwar sagt Proklos, dass „jede Ordnung (taxis) der Götter aus den ersten Prinzipien ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘ ist“ (ETh 159, 30–31), jedoch spricht er hier bezeichnenderweise nicht mehr von überseienden Henaden, sondern offensichtlich von Göttern im Bereich der Seinshierarchie(n) (taxeis), in denen gemäß Proklos’ Philosophie die Prinzipien ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘ in jeweiliger Mischung ihr Wirken entfalten. Dass der Bereich des Seins gemeint ist, legen auch die folgenden Propositionen nahe, die vom „göttlichen Nous“ (ETh 160) und dem „wahrhaften Sein“, der Seele und dem Wahrnehmbaren (ETh 161–5) handeln und insofern die Henaden – aufgrund ihres jeweiligen Partizipiertwerdens – als „noetisch“, „noerisch“, „hyperkosmisch“ und „enkosmisch“ bezeichnen. Die Henaden ‚sind‘ von sich selbst her zwar übersubstantiell (ETh 115, 28) und „verborgen, insofern sie dem Einen anhaften; intelligibel aber, insofern sie vom ‚Sein‘ partizipiert werden“ (ETh 162, 29–30). – Das an ihnen jeweils in erster Weise Partizipierende ist mit ‚Göttern im Bereich des Seins‘ gemeint, die insofern auch auf die Prinzipien peras und apeiria zurückgehen. Die Henaden selbst, insofern sie überseiend sind, sind jedoch weder eine „Konkretion“ von peras und apeiria noch von sich selbst her intelligibel, sondern intelligibel nur gemäß ihrem aktualen Partizipiertwerden im Seienden, d. h. insofern sie sich sekundär im Seienden offenbaren und dadurch erkannt werden können. Zur ‚Vergöttlichung‘ der verschiedenen Seinsebenen vgl. ferner ETh 129: Die Henade ist Gott (theos), der Intellekt am göttlichsten (theiotaton), die Seele göttlich (theia), der Leib gottartig (theoeides). Sollte diese Interpretation zutreffen, müsste wohl stärker unterschieden werden zwischen den verschiedenen Ordnungen der im Seienden partizipierten Henaden und den überseienden Henaden an sich, insofern sie überseiend sind: Wenn Abbate (2008: 96) davon spricht: „Anche fra le enadi, del resto, v’è, secondo la prospettiva procliana, una specifica gerarchia“, dann bleibt dieser Unterschied eher verborgen. 419 Vgl.: „Denn weder Verschiedenheit fällt zwischen die allerersten Ursachen und entzweit von dem Erzeuger die Erzeugnisse und versetzt sie in eine andere Ordnungsstufe (taxis) […]“ (ThP III, 3; 12, 23 ff., s. o. das vollständige Zitat im Eingangsteil von Kap. III.e). Die Ordnungen der Henaden ergeben sich erst durch ihr Partizipiertwerden im Seienden (vgl. in Parm. 1048, 23–25). Zu Recht wendet sich Butler (2005: 93) gegen die Annahme, dass „the more ‘universal’ henads would be more henadic than the more ‘specific’ ones. But there are not degrees among the Gods.“ 420 Die (jeweilige) Eigenheit (idiotês) nimmt nach Proklos ihren Anfang bei den göttlichen Henaden und ist dann durch die verschiedenen Ausfaltungsketten des Seienden präsent, „im Bereich des Göttlichen selbst hat die Eigenheit in vorausgehender Weise ihre hyparxis und begrenzt die Henaden gemäß der dortigen apeiria [d. h. dem ersten Zeugungsvermögen] und der göttlichen Zweiheit“ (in Tim. I, 36, 9–19). D. h. nach dieser Interpretation, dass die Henaden nicht erst durch die Prinzipien peras und apeiria erzeugt werden, sondern bereits vorher – aus dem Einen kommend als das partizipierbare Eine nach dem Einen – ihren Bestand haben und erst dann durch apeiria vervielheitlicht im Sein wirksam werden und diese ihre Wirksamkeit
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
die Henaden sowohl überseiend (also vor dem ‚Sein‘) als auch zugleich wie das ‚Sein‘ aus der zusammenwirkenden Aktivität der Prinzipien peras und apeiria erzeugt würden.421 Was würde das für Proklos’ Argumentation bedeuten? Es bestünde das widersprüchliche Problem, wieso einerseits Henaden und ‚Sein‘ auf selbe Weise von denselben Prinzipien erzeugt werden sollten und trotzdem die Henaden überseiend, das Prinzip ‚Sein‘ aber das erste Seiende wäre.422 Dann wäre gleichsam die seit Dodds vorherrschende Standardinterpretation und ‑kritik, dass Proklos in seiner Metaphysik einfach nach Belieben immer wieder (unnötigerweise) weitere „entities“ interpoliere,423 durchaus berechtigt, ja das gemäß ihrer Eigenheit in den verschiedenen Ordnungen erweisen. Wenn Proklos davon spricht, apeiria bringe als Prinzip der Vielheit alle Henaden hervor (ThP III, 26; 92, 22 f ), verstehe ich dies im Kontext auch der folgenden Ausführungen so, dass die verborgene göttliche Einshaftigkeit durch das vervielheitlichende Prinzip (dyas) erst in den Bereich des ‚Seins‘ (vgl. in Parm. 1223, 22–24) und damit in die Erkennbarkeit als viele Henaden geführt wird. 421 Dieses Problem zeigt sich in der Forschung auch dann, wenn Proklos’ Rede von den Henaden als „Blüte (anthos) des Seienden“ (ThP III, 4; 14, 11–15) so interpretiert wird, als ob die Henaden „Effekte des Seienden“ wären: „However the henads still remain outside all kinds of being, of which they can be said to be the ‘blossoms’. This image is strinkingly contradictory. For here the henads are no longer intermediate causes of being, but are qualified as being’s proper effects and prolongations“ (Moutsopoulos 1997: 86–87). Proklos meint dies offenbar genau umgekehrt: Die Henaden sind die Blüte im Sinne der „Spitze“ (akrotês) und des „Zentrums“ (kentron) des Seins, so dass das von ihnen prinzipiierte Sein die Henaden als schmückende Spitze hat – nicht das Sein bringt die Henaden hervor, sondern umgekehrt die Henaden als partizipierbares Eines das Sein. Die Metapher – man beachte das hoion („gleichsam“) – „anthos des Seins“ ist also nicht so zu verstehen, als ob aus dem Sein die Henaden hervorsprossen, sondern entweder im Sinne der „Spitze des Seins“ oder gar nicht als „Blüte“, sondern als „Keim“ des Seins, wie anthos auch übersetzt werden könnte. Zur Verwendung ähnlicher Metaphern vgl. in Parm. 1050, 12–15; 1071, 29–31. 422 Zum Verhältnis von Henaden und dem Bereich des ‚Seins‘, wie er auf in die Vielheit entfaltete Weise durch die intelligiblen Eidê repräsentiert wird, vgl. auch: „Denn notwendigerweise sind vor den partizipierten Eidê die unpartizipierbaren, vor den unpartizipierbaren aber die Henaden von ihnen: Denn eines ist das Geeinte, anderes die Henade; und vor den vielen Henaden ist ihr einer Quell“ (in Tim. II, 122, 7–10). 423 Aufgeführt wurden entsprechende Zitate bereits oben: Tanaseanu-Döbler (2013: 255, Anm. 35), Moutsopoulos (1997: 83), Dodds (1963: 211). Sogar Halfwassen – obwohl er (1996: 79) Proklos andernorts vor dem Vorwurf „einer Verdopplung der Ideen“ in Schutz nimmt – äußert sich in diesem Punkt ähnlich: „[…] denn einerseits droht die [sc. proklische] Einfügung überseiender Einheiten (Henaden) zwischen dem absoluten Einen und dem Sein die radikale Transzendenz des Einen zu gefährden; andererseits wird der Abgrund zwischen dem Einen und dem Anderen dadurch nicht eigentlich überbrückt, weil auch für Proklos gilt, daß das absolute Eine selbst der höchsten Henadenordnung gegenüber genau so transzendent ist, wie gegenüber allem anderen“ (Halfwassen 1992: 117). Vgl. ferner Beierwaltes (2007: 80): „Die Einführung von vermittelnden Wesenheiten, beginnend mit den Henaden als der vermittelnden Instanz zwischen der reinen Einheit und der Viel-Einheit, steht sozusagen im Dienst einer ‚Kunst des kleinsten Übergangs‘. […] Die emphatisch geübte ‚Kunst des kleinsten Übergangs‘ […] birgt allerdings auch die Gefahr einer Über-Subtilisierung und Über-Differenzierung in sich, die eine sachlich überzeugende Begründung für manche Dimensionen des Systems erheblich erschwert.“ Vgl. ebenso Chlup (2012: 105). Zur „moltiplicazione delle entità intermedie“ s. auch Abbate (2008: 93, ähnlich 18) sowie Horn (2006: 21).
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Sein würde tatsächlich zum bloßen „symbolischen Wiederholungszusammenhang des Göttlichen.“424 Dieser oft wiederholte Einwand entfällt jedoch, wenn man in Rechnung stellt, dass gemäß Proklos die überseienden Henaden dem Einen über alle Verschiedenheit hinaus verbunden, daher überseiend, überintelligibel sind und aus‑ schließlich nur in der Hinsicht als intelligibel, d. h. als erkennbar erachtet werden können, insofern sie vom Seienden partizipiert werden und das Seiende genau durch dieses ihr Partizipiertwerden hervorstrahlen lassen. Denn aus dieser Perspektive sind die Henaden weder unnötigerweise interpoliert noch geraten sie auf dieselbe Stufe wie das Sein.425 Vielmehr sind die Henaden die überintelligiblen, letzten Einheitsgründe der Seienden, insofern z. B. intelligibles, eidetisches Sein nicht allein in sich vollkommen bestimmte Sachhaltigkeit beinhaltet (z. B. ‚Gerechtigkeit‘, ‚Schönheit‘, ‚Dreieck‘), sondern diese Sachhaltigkeit qua innerer Sacheinheit Ausdruck des absoluten, überseienden Einen ist und entsprechend einen inneren, überseienden Einheitsgrund besitzt in Form der jeweils von einem Seienden partizipierten Henade. In einer für seine Interpretation von Platons Parmenides grundsätzlich wichtigen Passage spricht Proklos konkret darüber, wie man die zweite Hypothesis des Dialogs – sie ist die zentrale Quelle, aus der Proklos das Verhältnis von absolutem Einen, seiendem Einen und den Henaden ableitet, auch wenn eine detaillierte Interpretation dieser Hypothesis in Proklos’ Parmenideskommentar nicht überliefert ist – nach der Interpretation seines Lehrers Syrian, dem sich Proklos anschließt, aufzufassen hat: Denn es scheint also auch ihm [sc. Syrian die angemessene Interpretation des Dialogs zu sein], dass die erste Hypothesis über Gott, den Allerersten, sei und die zweite über den Bereich des Intelligiblen. […] Die ganze zweite Hypothesis offenbare uns nun die Vielheit der selbstvollkommenen Henaden, von denen diese [sc. Intelligibilia] abhängen, über die uns die zweite Hypothesis unterweist, indem sie uns die Eigenheiten (idiotêtes) von ihnen [sc. den Henaden] durch diese [sc. Intelligibilia], wie beschaffen also bestimmte [sc. Eigenheiten] sind, der Reihe nach alle aufzeigt (in Parm. 1061, 31–33; 1062,34–1063,1).
Proklos teilt also nicht die Meinung mancher seiner Interpreten, dass die Henaden wie das intelligible ‚Sein‘ gleichermaßen erst aus dem Wirken der Prinzipien peras und apeiria hervorgehen.426 Vielmehr sagt Proklos nur, dass die Henaden Cürsgen (2007 a: 89; ähnlich 95, 106, 137, 251). Anders jedoch Tanaseanu-Döbler (2013: 258; Zitat s. o.). 426 Auch Halfwassen (1996) – obwohl er speziell Proklos’ Vorwurf gegen Jamblich behandelt, dieser habe mit seiner Henadenlehre die Ordnung der Ideen verdoppelt (ibd., 79) – vertritt die Argumentation, dass bei Proklos einerseits „Einheit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit […] das Wesen der Henaden“ sei (ibd., 66; ebenso ders. 1992: 116, Anm. 42 und 43) und weist auf ETh 90 hin, wo Proklos von der Gemischtheit alles Seienden aus den vorhergehenden Prinzipien peras und apeiria spricht, jedoch nicht von den „Henaden […] und ihren beiden Prinzipien“ (1996: 77, Kursive FD). Somit erscheint ETh 90 für Proklos’ Henadenlehre im Grunde nicht aussagekräftig. Andererseits ist Halfwassen zufolge „der Ort der Entfaltung der Henaden 424 425
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
sich in diesem Bereich offenbaren: Da das Intelligible von den Henaden wesensmäßig abhängig ist, sind auch sie indirekt erkennbar, jedoch erst auf sekundäre Weise, denn von sich selbst her sind sie überseiend-verborgen und nur insofern selbst intelligibel, als sie vom Seienden partizipiert werden.427 Somit sind die Henaden von sich selbst her nach Proklos eindeutig nicht Teil des Intelligiblen, sondern des Überseienden. Handelt aber die zweite Hypothesis des Parmenides vom Intelligibel-Seienden und die erste nur von „Gott, dem Allerersten“, so besteht hier dennoch kein Widerspruch, weil Proklos ja gerade sagt, dass die Henaden durch die zweite Hypothesis indirekt-sekundär erkannt werden:428 […] auch nach Jamblich [sc. wie auch nach Proklos] das seiende Eine als mikton aus peras und apeiron. Das die Henaden unentfaltet vorwegbesitzende hen agathon Jamblichs ist somit wirklich die in die Unfaßbarkeit der Transzendenz erhobene Eminenzform des Platonischen hen on“ (ibd., 81). Wären aber bei Proklos die Henaden wesenshaft als Gemischtes aus peras und apeiria konstituiert, dann wären sie weder überseiend noch könnten sie im seienden Einen ihre Wirksamkeit entfalten, weil sie ja auf selber Ebene wie das hen on stünden. Es bleibt insofern dieselbe interpretatorische Frage wie bei Beierwaltes offen, wieso die proklischen Henaden – genau wie das Seiend-Intelligible – erst aus den Prinzipien peras und apeiria als deren Konkretion hervorgehen und zugleich sich vom Seienden deshalb unterscheiden sollen, weil sie überseiend ‚sind‘. Gemäß der hier vorgeschlagenen Deutung der proklischen Henadenlehre würde sich mit Blick auf Halfwassens Jamblich-Interpretation einerseits wohl nicht ein so gravierend-grundsätzlicher Widerspruch zu Proklos ergeben, weil man Jamlichs hen agathon dann nicht als „Eminenzform“ des hen on zu verstehen brauchte, sondern – aus Proklos’ Perspektive – als das „zweite Eine nach dem Einen“, das er auch peras (zusammen mit dem ihm zugehörigen Wirkvermögen apeiria) nennt (ThP III, 8; 31,8–32,5; s. o. Kap. III.d), verstehen könnte, welches die partizipierbare Mitte zwischen dem Einen selbst und dem seienden Einen darstellt. (Zur Identifikation von peras als dem zweiten Einen, in dem sich das transzendente Eine als partizipierbare Henade[n] offenbart, s. das Folgende im Haupttext.) Sofern aber, wie hier vorgeschlagen, Proklos mit den Henaden in einem bestimmten, noch darzulegenden Sinn gar nichts anderes meint als ‚das zweite Eine nach dem Einen‘ (peras-apeiria), könnte andererseits – im Unterschied zu Halfwassens (1996: 81) Auffassung – „Proklos’ Verdopplungsvorwurf gegenüber den Henaden Jamblichs“ deshalb als „stichhaltig“ gelten, weil Jamblich, wie Proklos ihn zu verstehen scheint, die Henaden nicht mit dem ‚zweiten, partizipierbaren Einen nach dem Einen und vor dem Sein‘ identifiziert (wie Proklos selbst es aber nach der hier vorgeschlagenen Interpretation tut), sondern erst nach dem zweiten Einen die Ebene der Henaden – als zusätzliche Vermittlungsinstanz und tatsächliche Vielheit – einführt (vgl. Wear 2011: 7), die im Vergleich zu Proklos’ Lehre dann tatsächlich eine Verdopplung der Eidê bedeuten könnte. – Anders als Halfwassen scheint mir daher insgesamt, dass (1) für Proklos zwar nicht „das positive [sc. zweite] Eine, das bei Jamblich zwischen dem absolut Transzendenten und den die Seinsvielheit ordnenden ‚göttlichen Zahlen‘ vermittelt, überflüssig“ (1996: 66) ist, sondern dass Proklos dieses zweite Eine ebenfalls ansetzt (ThP III, 8; 31,8–32,5) – allerdings ohne tatsächliche Vielheit in ihm –; aber dass (2) Proklos keine von diesem zweiten Einen noch verschiedene Ebene der Henaden bzw. der zwei Prinzipien peras und apeiria als zusätzliche Vermittlungsinstanz (zwischen dem hen agathon [= dem zweiten Einen] und dem hen on Jamblichs [Halfwassen, ibd., 62]) für sinnvoll hält, weil in peras als dem zweiten Einen die Henaden eingefaltet und ohne Vielheitlichkeit bestehen, aber mittels des zu peras zugehörigen Wirkvermögens apeiria durch das vielfache Partizipiertwerden im / vom (intelligiblen) Seienden in die Vielheit entfaltet werden. – Zur Diskussion um Proklos und Jamblich s. ebenso Dillon (1972, 1993 a), Bechtle (1999), de Rijk (1992: 5–9) und Clark (2010). 427 ETh 162, 29–30 (zitiert in Anm. 418). 428 Bereits Dillon (1972: 105) hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Proklos – obwohl er die erste Hypothesis des platonischen Parmenides für das überseiende autohen reser-
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Aber von dem her, was [sc. von ihnen seinem Wesen nach] abhängt, werden ihre Eigenheiten (idiotêtes), wie beschaffen sie eben sind, erkannt, und dieses auf notwendige Weise. Denn gemäß den Eigenheiten der Partizipierten werden zugleich auch die inneren Differenzierungen der Partizipierenden zugeteilt,429 und auch partizipiert ja nicht alles an allem […]430 (ETh 123, 4–7).
Im Kontext des bisher Erörterten ist nun noch einmal die Frage zu stellen, inwiefern von Proklos her die Interpretation berechtigt ist, die überseienden Henaden innerhalb des ausschließlich gemäß der Einshaftigkeit (kath’ henosin)431 hervorgebrachten ersten arithmos als ‚Vielheit‘ zu verstehen, wenn nicht einmal das Eine in letzter Konsequenz ‚Eines‘ ist.432 Denn es ist genau diese Frage, von welcher abhängt, ob die Henaden in selbiger Weise wie die intelligiblen Ideen eine Vielheit darstellen und es somit zu einer ‚Verdopplung der Ideenebene‘ kommt oder nicht. Diese Interpretationsfrage hat nicht zuletzt eine unmittelbar philologische, die Übersetzung tangierende Relevanz. Meint Proklos: „The whole number of the gods has the character of unity“,433 oder will er nach hier vorgeschlagener Interpretation sagen: Die göttliche zahlhafte Ausfaltung (arithmos) ist gänzlich einshaft. Denn wenn der göttliche arithmos als vorangehende Ursache das Eine hat, wie der intellektuale (noerische) [sc. arithmos] den Intellekt und der seelische die Seele, und die Vielheit überall als Analogon zu ihrer Ursache ihr Sein hat (éstin), dann ist also offenbar, dass der göttliche arithmos einshaft ist, wenn doch das Eine Gott [sc. ist]; dieses aber [sc. ist offenbar], wenn doch das Gute und das Eine identisch ist.434 Denn auch das Gute und Gott ist identisch – jenviert – sich nicht gegen die Lehre der gleichfalls überseienden Henaden wendet, sondern sie als partizipierte Mitte hin zum Seienden vom unpartizipierbaren Einen selbst absetzen möchte: „Proclus does not, of course, object to the doctrine [sc. of seirai, each belonging to a divine henad], simply to the idea of associating these participated entities too closely (i. e. in the same hypothesis) with the imparticipable One.“ 429 Zu syndihairountai vgl. LSJ, 1702/1: „divide, share a property“. 430 S. ebenso Plotin (enn. VI, 5, [23] 11, 31–36), zitiert oben in Kap. II.5 b. 431 ThP III, 3; 12, 2–7 (s. o.). 432 Vgl. in Parm. 1095, 21–24 (s. o. Kap. III.d, Anm. 350). 433 So Dodds’ (1963: 101) Übersetzung des ersten Satzes der folgenden Passage (ETh 113). „Göttlicher arithmos“ scheint mir jedoch nicht als ‚Anzahl (der Götter)‘ (vor allem nicht im Sinne einer ‚Menge‘, s. o. Haupttext mit Anm. 408), sondern als ‚zahlhafte Ausfaltung‘ gemeint zu sein, die nach Proklos’ eigener Beschreibung als „überseiender arithmos“ eben vor dem eigentümlich-spezifisch auf seiende Weise Zahlhaften (d. h. der aus Einheiten geeinten, seienden Vielheiten) zu verstehen ist. Gleich im zweiten Satz derselben Passage übersetzt auch Dodds arithmos mit „series“ („Ausfaltungskette“), scheint am Ende der Proposition aber die einshafte Vielheit der Götter wieder als tatsächliche Vielheit zu interpretieren, wenn er im Unterschied zum Griechischen den Plural wählt: ei ara esti plêthos theôn, heniaion esti to plêthos: „Thus if a plurality of gods exists they must have the character of unity“ (ibd., 101; Kursive FD). Gemäß dem englischen Sprachgebrauch könnte man dies im Sinne eines ‚notional concord‘ auffassen (plurality – they); in Proklos’ Sinne könnte jedoch die formal-grammatische Übereinstimmung plurality – it hier zielführender und inhaltlich zutreffender sein. 434 Dass das eine erste Prinzip (in seiner umfassendsten Benennung) stets mit diesem zwei‑
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
seits wessen nämlich nichts ist und wonach alles strebt, dieses ist Gott; und von welchem her und zu welchem hin alles ist, dieses ist das Gute. Wenn also Vielheit von Göttern ist (éstin), dann ist (estin) diese Vielheit einshaft. Aber es ist fürwahr offenbar, dass sie ist (éstin), wenn doch jede prinzipienhafte Ursache ihre eigene Vielheit anführt als eine, die ihr sowohl ähnlich als auch wesensverwandt ist (ETh 113, 5–15).
Proklos spricht hier in unzweifelhafter Weise davon, dass eine Vielheit der Götter besteht; auffällig ist an dieser Propositio jedoch, dass überhaupt nicht von überseienden Henaden die Rede ist. Aufgrund des griechischen Akzents könnte man das ésti so verstehen, dass Proklos hier vom Bereich des (intelligiblen) Seienden spricht (in dem nach Proklos durchaus Götter sind, die jedoch nicht im primären – d. h. überseienden – und ersten Sinne Götter sind435). Aber auch wenn man das akzentuierte ésti nicht als Hinweis auf die Hierarchie innerhalb des ‚Seins‘, sondern unabhängig von dieser Differenzierung im Hinblick auf die Henaden im Sinne von: ‚es besteht auf überseiende Weise‘ interpretieren wollte, dann ist hier entweder einfach die Grenze des sprachlich Möglichen erreicht und Proklos verwendet eine uneigentliche Sprechweise. Oder aber es lässt sich vielleicht dadurch eine widersprüchliche Argumentation vermeiden, dass weitere Werke von Proklos als Interpretationshilfe hinzugezogen werden: […] wie auch immer du das Eine auffasst, nicht entkommst du der Schau der unkörperlichen Hypostasen und der prinzipienhaften Henaden: Denn die Henaden sind alle ineinander und sind zueinander geeint, und viel größer [sc. ist] die Einung (henôsis) jener als die Gemeinschaft (koinônia) und die Identität in den Seienden. Denn es ist (éstin) zwar auch unter diesen Zusammengeschiedenheit (synkrisis) der Ideen, Ähnlichkeit, Liebe436 und Teilhabe aneinander; die henôsis jener aber, da sie ja von Henaden ist, ist (estin) weitaus mehr einshaft und unsagbar und unübertreffbar: Alle nämlich sind in allen, was nicht unter den Ideen ist (éstin). Denn diese partizipieren zwar aneinander, alles aber in allem ist (éstin) nicht (in Parm. 1048, 9–21). Denn wie die Seelen von der Universalseele und von dem gänzlich vollkommenen Intellekt die partikulären Intellekte [sc. her sind], so [sc. ist] gewiss auch aus dem auf primäre Weise Guten, vielmehr aber – wenn es das göttliche Recht erlaubt, so zu sprechen – aus fachen Namen beschrieben wird, scheint der deutlichste Hinweis darauf zu sein, dass sich das Eine-Gute nach Proklos vollkommen der Beschreibbarkeit und (direkten) Erkennbarkeit entzieht. Die duale Rede über das doch Aller-einshafteste gibt insofern einen Beleg dafür, dass die Sprechweise in Form von Vielheiten dem einshaften arithmos nicht der gemeinten Sache nach gerecht wird. 435 Dies bedeutet keinen Widerspruch, weil nach Proklos die überseienden Henaden, an denen das Intelligible partizipiert, die intelligiblen Götter (= die intelligiblen Henaden) ‚zeugen‘, und analog die Henaden, an denen das Seelische partizipiert, die hyperkosmischen Götter sind usw. Insofern betrachtet Proklos das, was jeweils unmittelbar als erstes an einer überseienden Henade partizipiert, als Gott innerhalb des Seienden, der sich dann durch die weiteren von Proklos unterschiedenen Ordnungen der Seinshierarchie ausfaltet (vgl. ETh 162–165). Zu den einzelnen Götterhierarchien vgl. Brisson (1987: 72 ff.; 2000), van Riel (2001: 421–2, 429–430), Steel (2000; s. besonders die aus der zweiten Hypothesis des Parmenides abgeleiteten Begriffe und Götterhierarchien in der hilfreichen Übersicht S. 398). 436 Vgl. in ähnlicher Weise Augustinus, mus. VI, 17, 56.
e) Die überseienden Henaden
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der Gutheit selbst und aus der Einheit aller Guten der allererste arithmos437 der Guten, die keine andere Seinsform und Bestandhabensweise (hyparxis / existentia) haben außer dem Einen und Guten, denn genauso haben weder die Partikularintellekte [sc. ein anderes Sein] außer dem intellektiven Erkennen noch die Seelen außer dem Leben (De mal. 13; 45, 3–11).
Die Frage nach dem Einen (hen) und der Vielheit der Henaden (Götter im ersten Sinne) stellt sich also analog zu derjenigen nach dem prinzipienhaften Übergang von Einheit zu Vielheit. Wenn das rein Eine in völliger Transzendenz (weil jenseits aller Gegensätzlichkeit und frei von allen Unterschieden) nur Eines [ist] – was also ‚sind‘ dann die überseienden Henaden? Denn jede Henade [sc. ist] von dorther und jede Gottheit [sc. ist] aus der Henade der Henaden und dem Quell der Götter (in Parm. 1044,31–1045,2). […] jeder Gott, qua Gott, ist Henade – dieses nämlich ist das alle Substanz Vergöttlichende, das Eine438 (in Parm. 1066, 22–24).
Diese Textpassagen zeigen, dass, wie im letzten Kapitel gesehen, das MethexisTheorem (Unpartizipierbares – Partizipiertes – Partizipierendes) auch im Hinblick auf die allerhöchsten Prinzipien (das absolute Eine – peras / apeiria – ‚Sein‘) relevant ist: Eine Henade ist nach Proklos nichts anderes als das partizipierte Eine. Wie sich ferner oben439 ergeben hat, ist bereits ein intelligibles, wahrhaft seien‑ des Eidos nach Proklos immer genau ein Prinzip (z. B. die eine Sache ‚Dreieck‘), das transzendent bei sich verharrt, zugleich aber auch immanent – nämlich gemäß einer partizipierbaren Mitte – in vielen Instanzen (z. B. in den vielen Dreiecken) präsent ist, ohne seine Transzendenz einzubüßen.440 Insofern scheint Proklos auch wegen der mit der zahlhaften Ausfaltung korrelierenden Prinzipienfolge ‚Eines‘ (‚1‘), peras und apeiria (‚2‘), ‚Sein‘ (‚3‘) der theologischen Sache nach nicht von in seiender Weise vielen (d. h. mengenmäßig abzählbaren) Henaden zu sprechen, denen innerhalb dieses Systems kaum ein plausibler ‚Zahlort‘ zugewiesen werden könnte. Von der Systematik her erweist es sich vielmehr als konsistenter, von einer partizipierbaren Mitte zwischen ‚Einem‘ und ‚Sein‘ aus-
437 Ich übersetze numerus mit arithmos, da das deutsche Wort ‚Zahl‘ kaum die Bedeutung ‚zahlhafte Ausfaltung‘ mit abdecken kann (so aber Erler 1978: 48). 438 Im Kontext der Frage nach der spezifischen Funktion der Henaden zitiert auch Dodds (1963: 258, Anm. 2) diese Stelle aus dem Parmenideskommentar, lässt allerdings gerade den m. E. wichtigen Zusatz in der Klammer außen vor, der schon daraufhin deutet, dass sich das unpartizipierbare Eine sozusagen durch die Henaden in die Partizipierbarkeit begibt, ohne seine Transzendenz aufzugeben. Vgl. in ähnlicher Weise in Tim. III, 72, 27–30. 439 S. Kap. III.c. 440 S. in Parm. 932, 27–34 (zitiert in Kap. III.c) sowie: „Die Ideen sind den an ihnen Partizipierenden präsent durch ihr Anteilgeben, und nicht sind sie präsent durch ihre [sc. von den Partizipierenden] separate Hypostasis“ (in Parm. 890, 1–4). Explizit stellt Chlup (2012: 99) Proklos’ Zusammendenken von Transzendenz und Immanenz heraus.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
zugehen, an der analog441 zu der partizipierbaren Mitte zwischen transzendenter Idee und ihrer immanenten Präsenz in jeder konkreten Einzelinstanz partizipiert wird. Das bedeutet der Sache nach, dass diese Mitte (peras) in vielen Einzelinstanzen partizipiert wird, also durch die Partizipation (man könnte auch sagen: durch das unbegrenzte Wirkvermögen, apeiria) vervielheitlicht wird bzw. eine Vielheit von Instanzen erzeugt (so, wie ja auch die eine transzendente Sache ‚Dreieck‘ gemäß einer Mitte partizipiert wird442 und dann in vielfältiger Form ausgeprägt sein kann als gleichseitiges oder rechtwinkliges etc. Dreieck). Dieselbe theologische Aussage scheint auch hinter der zu Beginn dieses Kapitels bereits angeführten Proposition aus der ETh zu stehen, gemäß welcher nach dieser Interpretation und Übersetzung (im Unterschied zu Dodds’ auch von der jüngeren Forschung maßgeblich zitierten443) sich die [sc. eine] göttliche idiotês in vereinzelter, also vielartiger Weise gemäß einem jeweils bestimmten idiôma offenbart, indem sie die einzelnen Henaden differenziert: Denn die göttliche Eigenheit (idiotês) hat die Henaden und die Gutheiten der Götter differenziert, auf dass jeder [sc. Gott] gemäß einer bestimmten Eigenart (idiôma) der Gutheit alles gut macht, also z. B. vollendend, zusammenhaltend und beschützend wirkt. Von diesen nämlich ist jedes Einzelne ein bestimmtes Gutes, aber nicht das Gute als Ganzes, als dessen einshafte Ursache das Erste sich vorangestellt hat. Deshalb ist Jenes das Gute, als das hypostatische [sc. Prinzip] aller Gutheit. Und nicht nämlich kommen die gesamten Bestandhabensweisen (hyparxeis) der Götter zusammen dem Einen gleich – ein so großes Übermaß [sc. an Transzendenz] hat Jenes im Verhältnis zu der Vielheit der Götter erlangt (ETh 133, 12–19).
Daraus folgt nichts Geringeres, als dass gemäß Proklos aus der theologischen Perspektive ‚von oben‘ (soweit es denn möglich sein kann, so zu sprechen) nicht 441 Zum ausschließlich analogen Verständnis zwischen wahrhaft Seiendem und Überseiendem s. o. Anm. 417. 442 Die partizipierbare Mitte ist dieser Interpretation nach das „andere [sc. als das transzendente Eidos], das von dort aus dem Intelligiblen [sc. zu uns] kommt“ (in Parm. 932, 32). 443 So z. B. Chlup (2012: 113), der Dodds zitiert. Dodds übersetzt den Anfang des folgenden Zitats (ETh 133, 12): „For the several henads and the excellences of the several gods are distinguished by their several divine functions“ (Kursive FD). Diese freie Übersetzung gibt hê gar idiotês hê theia diestêse als abstrakte Unterscheidungsmöglichkeit für die einzelnen Henaden an, während Proklos nach meinem Verständnis ein aktives Moment an dem (wenn auch unsagbaren) absoluten Einen meint, das (durch seine partizipierbare Mitte, dem ‚Einen nach dem Einen‘, s. ThP III, 8; 31 in Kap. III.d) seine eigene unsagbar-einshafte Gutheit den Henaden gemäß ihren sich im Seienden entfaltenden Wirkvermögen auf vervielheitlichende Weise zuteilt, da das Eine ja den ‚vielen‘ Henaden vorausgeht. Der Übergang von der einen göttlichen Gutheit zu den – gemäß ihrem Partizipiertwerden – vielen Gutheiten der Henaden wird von Dodds’ Übersetzung dadurch nivelliert, dass das Aktive diestêse innerhalb der Passivkonstruktion nicht einmal als Agens der göttlichen idiotês verstanden, sondern wie ein Instrumental zum bloß formalen Unterscheidungskriterium an den Henaden („distinguished by their several divine functions“) herabgesetzt wird. Im Vergleich zu ETh 133 s. auch in Tim. I, 36, 15–17 (zitiert in Anm. 420).
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viele partizipierbare Mitten des Einen angenommen werden können, sondern eine; aus der eigentümlich menschlichen, weil in Unterscheidungen denkenden Perspektive ‚von unten‘, die ein Mensch eigentlich nur einzunehmen vermag, meint man aber mit Proklos, viele partizipierbare Mitten ‚sehen‘ zu können, weil vieles Seiende an einer seinstranszendenten Eigenheit (idiotês) partizipiert (dies gilt schon für die partizipierten Ideen, in weitaus höherem Maße müsste es für die göttlich-überseienden Prinzipien gelten). Das partizipierbare Eine (peras) nach dem absoluten Einen ist genau die Schnittstelle zwischen überseiender Einshaftigkeit und seiender Einheitlichkeit, welche immer schon geeinte Vielheitlichkeit ist: Ohne diese Metapher überstrapazieren zu wollen, entfaltet sich exakt an dieser ‚Schnittstelle‘ das überseiende, unpartizipierbare Eine über die partizipierbare Henade in den Bereich des Seins und der Seienden; bei dieser Entfaltung aber wird die partizipierbare, überseiende Henade zur Vielheit der Henaden, ohne deshalb mit den wahrhaft seienden, ewigen, intelligiblen Ideen auf eine Stufe zu geraten. In diesem Sinne lassen sich im Kontext der Hypothesis ‚wenn viele Henaden sind‘ auch die beiden folgenden Passagen verstehen, die nochmals den Primat des Einen betonen, so dass das zuerst in unmittelbarer Nähe zu bzw. mit dem Einen Erzeugte (die Henaden) als nichts anderes denn als selbst Eines verstanden werden kann und insofern von sich selbst her als Nicht-Vieles Bestand hat (da es ja von / mit dem Einen besteht), gleichwohl es sich im Seienden (also im Bereich der geeinten Vielheiten) nach Art des Vielen zeigt: Wenn also viele Henaden sind, dann ist Ursache des Vielen qua Vieles das Eine (to hen). Denn für die Henaden [sc. ist] auf primäre Weise Ursache Eines (hen) – deshalb werden sie auch ‚Henaden‘ genannt; die Vielheit der Seienden ist aus der Vielheit der Henaden, so dass alle Vielheit aus dem Einen ist (in Parm. 1101, 3–8). […] alle [sc. Henaden] sind in dem Verharren im Einen geeint und geschieden dadurch, dass sie den Hervorgang vom Einen [sc. zum ‚Sein‘] als durch Verschiedenheit bedingt (diaphoron) gemacht haben. Und nicht sollst du dich wundern, wenn wir dieses im Hinblick auf die göttlichen Henaden sagen; vielmehr pflegen wir ja auch im Hinblick auf die intellektualen (noerischen) Wesen auf diese Weise ein unteilbares und eines das ganze intellektuale [sc. Wesen] zu nennen und alle Intellekte einen und den einen alle wegen der zusammenführenden und zusammenhaltenden Identität der intellektualen Hypostasis als ganzer. Wenn es sich aber im Hinblick auf diese so verhält, was muss man dann über die in den Seienden [sc. partizipierten] Henaden selbst glauben? (in Parm. 1051, 10–21)
Wenn schon das Intellekthafte (und entsprechend die intelligiblen Ideen), also das wahrhafte Sein, nur als Einheit begriffen werden kann – im Sinne des seienden Einen (hen on), welches Plotin mit dem Gott (Kronos) gleichsetzt, der alle Götter ist,444 – um wieviel mehr müsste diese Einheit im Hinblick auf die überseienden Henaden noch gesteigert sein? S. o. Kap. II.5 c zu Plotin, enn. V, 8 [31], 9, 14–27 und enn. V, 8 [31], 12, 3–26.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Dabei ist jedoch zu unterstreichen, dass die Henaden nach Proklos’ Aussage dennoch nicht im Einen selbst Bestand zu haben scheinen, wie Chlup (2012: 114) jetzt in seiner Interpretation annimmt: The henads too, therefore, are established in the One. […] All this said, it is important to stress that for Proclus the henads are not merely aspects of the One, but exist in it in a very strong sense as independent individualities.
Chlups Interpretation erscheint – trotz seines (ibd., 118) Abgrenzungsversuchs – nahezu mit der folgenden Butlers identisch: The One then […] is not an hypostatized One Itself, but each God. […] There is no such thing as the One Itself; if we mean something different than the henads […] (Butler 2005: 97–98; Kursive Butler). We will not lapse into hypostatizing the One if we accord to the henads the full systematic weight that they have for Proclus […] (Butler 2014: 69).
Zu Recht wird Butlers Deutung von Tanaseanu-Döbler (2013: 247, Anm. 11) kritisiert: Denn auch wenn die Henaden alle Verschiedenheit transzendierend in höchster Einfachheit mit dem Einen vereint sind, so identifiziert Proklos sie dennoch nicht mit dem absoluten hen (so van Riel 2001: 424), da sie alle zusammen nicht dem Einen gleichkommen, wie Chlup (2012: 118) selbst mit ETh 133 begründet. In gleicher Weise sagt Proklos, dass das Eine „um sich selbst den göttlichen arithmos gegründet und mit seiner ihm eigenen Einfachheit vereint“ habe (ThP III, 3; 12,21–13,5; s. o.). Entsprechend dem seiner Theologie einzig angemessenen ‚transrationalen Zugriff ‘ bleibt also zu konstatieren, dass die Henaden weder vom Einen selbst durch Verschiedenheit, wie sie Seiendem zukommt, getrennt noch mit ihm in ebenfalls Seiendes charakterisierender Selbigkeit identisch sind. Der einzige, aber entscheidende Unterschied zwischen dem Einen und den Henaden scheint entsprechend dem Methexis-Theorem tatsächlich darin zu bestehen, dass Letztere, wie gerade übersetzt, „den Hervorgang vom Einen [sc. zum ‚Sein‘] als durch Verschiedenheit bedingt (diaphoron) gemacht haben“, indem sie partizipierbar sind, während das absolute Eine unpartizipiert bleibt. Damit aber ist ein auch auf rationale Weise noch fassbarer Zug in Proklos’ Lehre von den überseienden Henaden greifbar, der ihre systematisch-theologische Einordnung ermöglicht, ohne sie als bloß ‚unsagbares Mysterium‘ stehen lassen zu müssen (s. in diese Richtung aber Chlup 2012: 118). Kommt es, wie anhand von Texten aus der Elementatio Theologica, der Theo‑ logia Platonica sowie des Parmenideskommentars gezeigt werden konnte,445 im 445 Es soll nicht schweigend übergangen werden, dass sich bei Proklos auch Textpassagen finden lassen, die dem Unterschied zwischen den ‚vielen‘ partizipierten Henaden und dem unpartizipierbaren Einen scheinbar widersprechen, etwa wenn er partizipierte und transzendente Henaden unterscheidet (in Parm. 714, 17–23). Allerdings scheint auch hier kein sachlicher Widerspruch zu der oben vorgeschlagenen Interpretation zu bestehen, wenn man die genaue Hin-
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Unterschied zum absoluten und daher unpartizipierbaren Einen den Henaden (über‑)wesensmäßig zu, in allen Bereichen des Seins partizipiert zu werden, dann ist zwar „jeder Gott, qua Gott, Henade“ – dahinter steht aber nichts anderes, als dass die jeweilige Henade „das alle Substanz Vergöttlichende, das Eine ist“ (in Parm. 1066, 22–24). Das überseiende, unpartizipierte, erste Eine offenbart sich,446 insofern aus seiner unsagbaren Überfülle das zweite Eine (peras, ‚Grenze‘) heraustritt und damit die zeugend-produktive Öffnung des ersten Einen einleitet und diese gemäß seinem (d. h. peras zugehörigen) Wirkvermögen apeiria (‚Nicht-Grenze‘) als dem Prinzip der Entgrenzung zum Sein hin entfaltet, d. h. zur Hervorbringung des Prinzips ‚Sein‘ und aller Seienden: Dieses zweite Eine (peras) ist durch sein ebenfalls überseiendes Wirkvermögen (apeiria) partizipierbar als die Henade, die „alle Substanz vergöttlicht“. Als überseiende Nicht-Grenze ist apeiria also über‑ bzw. vorseiende Vielheit, d. h. keine abzählbar-zergliederte Vielheit, sondern die sich in unbegrenzter Nicht-Grenze ‚ergießende‘ Überseinsfülle des Einen, welche, insofern sie unbegrenzt-unendliche Nicht-Grenze (sc. ‚ist‘), als uneigentliche Über-Vielheit der überseienden Henaden verstanden werden kann.447 sicht beachtet, gemäß der Proklos diese Differenzierung einführt: Denn er meint hier sich auf Einzeldinge beziehende Definitionen, die deshalb – weil sie nur auf Einzeldinge und somit auf Sinnlich-Wahrnehmbares rekurrieren –, „zu den partizipierten Henaden gehören“ sollen, von denen aus man zu den (im Hinblick auf die Ebene der Definitionen) transzendenten Henaden aufzusteigen versuchen soll. D. h., es geht hier gar nicht um die überseienden Henaden im theologischen Sinne, sondern um das sich – gemäß ihren jeweiligen Partizipationsweisen – über alle Seinsstufen bis ins Sinnlich-Wahrnehmbare erstreckende Wirken der Henaden (vgl. ETh 161–5 [s. o. Anm. 418] zu den noetischen, noerischen, hyperkosmischen und enkosmischen Henaden). Die Passage in Parm. 714, 17–23 bezieht sich also auf eine ganz niedrige Ebene des henadischen Wirkens und muss entsprechend eingeordnet werden: Denn auch Definitionen vermögen nach Proklos nur eine vorläufige, weil abstrakt-rationale Erklärung einer Sache zu sein und auf ein tatsächlich sachliches Eines deshalb nur zu verweisen (s. Drews 2009: 250–1). Beachtet man diesen nach Proklos’ Kriterien nicht besonders hohen Stellenwert abstrakter Definitionen gegenüber einer die Sache vollständig auf einshafte Weise erfassenden Intellekterkenntnis, die im Vergleich zu einer noch mangelhaften Definition einen entsprechenden Erkenntnisfortschritt bedeutet, dann ist es erstens gar nicht verwunderlich, dass Proklos über den Henaden, die mit Definitionen auf gewisse Weise Umgang haben, transzendente(re) annimmt. Zweitens wird auch deutlich, dass Proklos die Unterscheidung zwischen partizipierten und transzendenten Henaden (diese stehen hier vermutlich ‚nur‘ für die intelligiblen Ideen, insofern Letztere in ihrem Sein von Henaden abhängen und an ihnen partizipieren) hier auf einer vergleichsweise niedrigen Ebene ansiedelt, so dass diese Passage der Sache nach gar nicht in den Kontext der höchsten theologischen Fragen bei Proklos gehört, auch wenn sie dem Wortlaut nach von ‚Henaden‘ spricht. Nochmals zeigt sich, dass Proklos sprachlich identische Begriffe nicht formalterminologisch verwendet (vgl. Anm. 345); vielmehr muss der Sinn ihres Gebrauchs jeweils aus dem Kontext abgeleitet werden. Der Unterschied zwischen „transzendenter“ und „partizipierter bzw. mit der Vielheit verkehrender Henade“ (in Parm. 707,40–708,3) ist also kein anderer als zwischen unpartizipierbarem Prinzip und partizipierbarer Mittlerinstanz. 446 S. o. Kap. III.d. 447 Apeiria ist umfassende Vielheit vor jeglicher Differenzierung in seiende Vielheitlichkeit, welcher es zukommt aus Einheiten geeinte Vielheit, Ganzes aus Teilen zu sein etc. In diesem vor‑ bzw. überseienden Sinne verstehe ich folgende Passage: „Und die Zweiheit [sc. als Prinzip der
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Qua peras – d. h. als partizipierbares zweites Eines, „das alle Substanz vergöttlicht“ – ‚ist‘ diese Henade eine; insofern sie sich durch dieses ihr Partizipiertwerden aber in die Vielheit des an ihr partizipierenden Seins und der an ihr partizipierenden Seienden entfaltet, ‚ist‘ sie – aus der Perspektive alles partizipierenden Seienden – Henaden-Vielheit, auch wenn diese keine Vielheit im Sinne eines aus Einheiten geeinten Vielen darstellt. Denn wie das absolute Eine selbst sind auch die Henaden überseiend und als überseiende Vielheit – logischerweise – keine seiende Vielheit. Deshalb unterscheidet Proklos, wie erörtert, bereits zu Beginn seiner ETh448 zwischen aus Geeinten bestehender (seiender) Vielheit einerseits und Henaden-Vielheit andererseits. Die überseienden Henaden ‚sind‘ somit das zweite Eine nach dem Einen – dieses zweite Eine liegt dem Sein prinzipienhaft voraus, bringt es aber durch seine Partizipierbarkeit hervor, denn „jeder Gott ist partizipierbar, außer dem Einen“449 und „[…] jeder Gott, qua Gott, ist Henade – dieses nämlich ist das alle Substanz Vergöttlichende, das Eine“:450 Das [sc. Erste besteht] auf wahrhafte Weise als übersubstantielles Eines, jeder einzelne der anderen Götter aber gemäß seiner eigentümlichen Bestandhabensweise (hyparxis), insofern er ein Gott ist, als übersubstantieller auf mit dem Ersten benachbarte Weise, wird aber partizipiert von Substanz und dem ‚Sein‘. Als Henaden also, und zwar als partizipierbare Henaden, sind uns gemäß dieser Argumentation die Götter erschienen, indem sie mit sich alles Seiende verknüpft haben, durch sich aber das nach ihnen Bestehende mit dem Einen, welches alles gleichermaßen vollkommen transzendiert, verbinden (ThP III, 4; 17, 6–12).
Trifft diese Interpretation das von Proklos Gemeinte, lösen sich die zunächst so problematisch erscheinenden Fragen nach dem ‚Wesen‘, der Funktion und der Stellung der überseienden Henaden sowie der immer wieder erhobene Vorwurf, mit den Henaden komme es nur zu einer unnötigen Verdopplung der Ordnung / Ebene der Ideen, in letztlich einfacher Weise auf. unbegrenzten Vielheit, apeiria] aber ist Quell und Ursache von Vielheit und hat auf bestimmte Weise [sc. als ursächliches Prinzip] die Vielheit als ganze in sich“ (in Parm. 1149, 14–16). 448 S. o. zu ETh 6. 449 ETh 116, 13. 450 in Parm. 1066, 22–24. Zur Identifikation von peras und erster Henade s. bereits Bechtle (1999: 377–8), der jedoch „Grenze und Unbegrenztes“ (verstanden als die ersten beiden Henaden) – im Unterschied zur hier vertretenen Deutung – „einfach als die ersten beiden Glieder der Henadenreihe“ auffasst, „die die restlichen Henaden produzieren“ (ibd., Anm. 47). Dies würde Bechtles Deutung wieder in die Nähe zu Beierwaltes’ Interpretation rücken, gemäß welcher die (bei Bechtle: „restlichen“) Henaden dann „Konkretion“ von peras und apeiria wären. Nach hier vorgeschlagener Interpretation ist die überseiende, uneigentliche Henaden-Vielheit das zweite Eine (peras) selbst, das jedoch im Seienden vielfach partizipiert wird und nur insofern auch die Henaden – aus der Perspektive des partizipierenden Seins – tatsächlich vervielheitlicht. Diese Deutung steht zudem nicht in Spannung dazu, dass die Henaden vom Einen selbst hervorgebracht werden und nicht von peras als der „erste[n] Henade“ (vgl. Bechtle ibd., 379, Anm. 48), weil sie eben gemäß Proklos keine „Konkretion“ von peras und apeiria darstellen und erst von diesen produziert werden (vgl. oben Anm. 420), sondern unmittelbar mit dem Einen im unsagbar-übergeeinten arithmos gegründet sind. Vgl. in diese Richtung Bechtle selbst (ibd., Anm. 49).
e) Die überseienden Henaden
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Ferner hängt es dann lediglich vom Blickwinkel (‚von oben‘ oder ‚von unten‘ schauend) ab, ob Proklos’ Theologie als monotheistisch oder polytheistisch erscheint – ohne, dass hier ein sachlicher Widerspruch bzw. Zwiespalt im Sinne eines Entweder-Oder bestünde oder eine historische Erklärung einer Entwicklung von Polytheismus zu Monotheismus (oder umgekehrt) bemüht werden müsste. Proklos könnte, wenn er Gehör fände, sogar als ein Gewährsmann dafür dienen, dass Diskussionen über eine angebliche Überlegenheit des Polytheismus gegenüber dem Monotheismus (oder umgekehrt) dann verfehlt sind, wenn sie auf eine vielleicht weniger angemessene Weise die höchsten theologischen Fragen thematisieren, die (von Proklos her gedacht) in ihrer Unsagbarkeit dann doch besser dem Schweigen anvertraut wären, als dass sie zu erhitzten Konfrontationen führen sollten. Denn aus platonischer Sicht, wie sie Proklos vertritt und expliziert, ist die Frage, ob Polytheismus oder Monotheismus eine ‚höherentwickelte Form von Religion‘ darstellt, bereits in sich religionsphilosophisch wenig sinnvoll:451 Vielheit ist nicht ohne Einheit zu denken; das Eine bedarf zwar nicht der Vielheit (im Sinne eines Abhängigkeitsverhältnisses), erzeugt aber aus seiner Einheitsfülle vielheitlich Seiendes. Die hier vorgeschlagene Interpretation lässt sich durch eine weitere einschlägige Passage aus Proklos’ Parmenideskommentar stützen: Denn was sonst ist jenes Eine, das dem ‚Sein‘ koordiniert452 ist und mit dem ‚Sein‘ hervorgeht, als die Vielheit der Götter, welche die Hypostasis des ‚Seins‘ als ganze vergöttlicht und die substantielle Vielheit als ganze zusammen erhält? Denn jede göttliche Substanz ist [sc. als seiende] den [sc. überseienden] Henaden der Götter unterbreitet, und jedes partizipierbare Eine eint eine intelligible (noêtê) Substanz oder eine intellektuale (noera) oder außerdem eine seelische oder körperliche [sc. Substanz], und nichts anderes ist jeder einzelne der Götter als das partizipiert werdende Eine. Wie nämlich der auf herrlichste Weise (kyriôs453) [sc. verwirklichte] Mensch gemäß der Seele [sc. ist], so der, der auf herrlichste Weise Gott ist, gemäß dem Einen […]. Deshalb auch wird alles diesem Einen abgesprochen als allem übergegründet und von allem herausgehoben und als zwar alle Eigenheiten (idio‑ têtes) der Götter hervorbringend, selbst aber unumgrenzbar und allem unumschreibbar Bestand habend; denn nicht ist es ein bestimmtes Eines [sc. im Unterschied zu dem partizipierten], sondern einfach Eines; und auch nicht intelligibel oder intellektual, sondern 451 Insofern gibt es hier eine gewisse Überschneidung zu der im jüngeren religionswissenschaftlichen Diskurs immer wieder anzutreffenden Beobachtung, dass der vordergründige Antagonismus Mono‑ versus Polytheismus nur unzureichend als Beschreibung für real existierende Phänomene von Religion verwendet werden kann: Vgl. Gers-Uphaus / Klug (2013: 3), Fürst (2013 b: 10), Kratz / Spieckermann (2009 a: XIV–XV, XVII–XVIII), Ahn (2003: 9–10). Philosophisch markant formuliert Frede (1999: 49): „It would be quite misleading to say that somebody who believes in one divine first principle and five further divine beings believes in six gods.“ 452 S. o. Kap. II.5.c zu dem dem Sein koordinierten Einen bei Plotin, enn. VI, 2 [43] 9, 5–9. – Zu Proklos vgl. auch: ThP IV, 1; 8, 4–5. 453 kyriôs ist im Griechischen selbstverständlich kein Superlativ, sondern nur Adverb des Positivs. kyriôs bringt aber m. E. nicht nur den (nüchternen) Aspekt der Vollgültigkeit zum Ausdruck, sondern hat hier auch eine hervorragende, fast hymnisch-lobende Konnotation, wie es semantisch durch den deutschen Superlativ „auf herrlichste Weise“ angedeutet werden soll.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
hypostasierend sowohl die intelligiblen als auch die intellektualen Henaden454 (in Parm. 1068,34–1069,23).
Die „Vielheit der Götter“ sind das dem ‚Sein‘ koordinierte Eine, d. h. das vom ‚Sein‘ partizipiierte zweite Eine (peras) nach dem allerersten, unpartizipierbaren Einen. Alles Seiende ist aber den Henaden „unterbreitet“, d. h. von ihnen abhängig. Von hier aus wird also die Interpretation bestätigt: Die überseienden Henaden ‚sind‘ das zweite Eine nach dem Einen, welches dem ‚Sein‘ beiwohnt. Dies ist allerdings nur in der Hinsicht zu verstehen, dass dieses zweite Eine par‑ tizipiert wird: Es kann, wie Bechtle (1999: 385) bereits gesehen hat, nicht davon die Rede sein, dass „das seiende Eine mit der Menge der Henaden“ von Proklos „identifiziert“ würde (so Cürsgen 2007 a: 238) – sonst würde gerade der Übergang vom überseienden Einen zum seienden Einen durch die partizipierbare Mitte des dem Sein beiwohnenden Einen (entsprechend dem dreigliedrigen Methexis-Theorem) verunklart. Es handelt sich somit jeweils um das überseiend-überwesentliche und deshalb unerkennbar-unumschreibbare Eine, das sich über das partizipierbare zweite Eine dem Bereich des Seienden in bestimmten ‚Erscheinungsformen‘ mitteilt; Letztere werden aufgrund des vielfachen, unterschiedlichen Partizipierens an dem zweiten Einen als Vielheit im Seienden entfaltet, weil allgemein das Partizipierende die Fülle eines Prinzips, an dem es partizipiert, nie vollständig aufzunehmen vermag.455 Von der Perspektive her, dass Seiendes nach Proklos in vielfältiger Weise über die Vermittlungsinstanz der Henade(n) Anteil an dem von sich selbst her vollkommen transzendenten Einen erlangt, erscheinen die Henaden, wie auch Bechtle (1999: 379 f.) herausgearbeitet hat, als viele; von sich selbst her ‚sind‘ sie jedoch überseiend (ETh 115, 28) und verborgen, insofern sie dem Einen anhaften, intelligibel insofern sie vom ‚Sein‘ partizipiert werden (ETh 162, 29–30).
Als partizipierte Henaden-Götter, also gemäß ihrem nach Proklos erkennbaren Wirken im Seienden, kann man ihre Eigenheit(en) anhand des an ihnen Partizipierenden, das immer etwas Seiendes ist, erkennen und so auf indirektem Wege auf das henadische Übersein zurückschließen. Denn wenn allem vom Prinzip der Einheit abhängigen Sein immer schon Einheit zukommen muss, damit es überhaupt zu sein vermag, dann lässt sich das Sein, insofern es Geeintes ist, nicht immer weiter – ohne infiniten Regress – auf bloß höheres Geeintes zurückführen: Würde Geeintes nur auf wiederum Geeintes zurückgeführt, dann wäre die Bedingung der Möglichkeit des Geeintseins nicht aufzufinden.456 454 Zu den noetischen, noerischen, hyperkosmischen und enkosmischen Henaden vgl. ETh 161–5 [s. o. Anm. 418]. Die Teilhabe an den Henaden schreitet fort bis zum körperlichen Bereich (in Parm. 1067, 8). 455 ThP III, 2; 8, 24–26. Vgl. ebenso Chlup (2012: 114). 456 S. o. zu ETh 6.
e) Die überseienden Henaden
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Bei diesem scheinbar ‚nur spekulativen Rückschluss‘ auf die überseienden Henaden als im Sein Einheit stiftende Prinzipien bleibt Proklos jedoch keinem Agnostizismus verhaftet,457 den man leicht vorschnell aus der von sich selbst her unerkennbaren Überseiendheit des Einen und der Henaden ableiten könnte: Die Götter aber sind jenseits von allen Seienden. Weder also meinbar ist das Göttliche noch rational-diskursiv erkennbar noch intelligibel. Denn alles Seiende ist entweder wahrnehmbar und deshalb Gegenstand der Meinung, oder es ist wahrhaft seiend (ontôs on) und deshalb Gegenstand der Intellekterkenntnis, oder es ist zwischen diesen, zugleich seiend und werdend und deshalb Gegenstand des diskursiven Denkens. Wenn folglich die Götter als übersubstantielle und vor den Seienden ihren Bestand haben, dann ist von ihnen weder Meinung noch Wissen und rationales Denken noch Intellekterkenntnis möglich. Aber von dem her, was [sc. von ihnen seinem Wesen nach] abhängt, werden ihre Eigenheiten erkannt, und dieses auf notwendige Weise. Denn gemäß den Eigenheiten der Partizipierten werden zugleich auch die inneren Differenzierungen der Partizipierenden zugeteilt,458 und auch partizipiert ja nicht alles an allem […] (ETh 123, 31–7).
Ganz am Ende seines Parmenideskommentars, wie er durch Moerbekes mittellateinische Übersetzung überliefert ist, geht Proklos so weit, dass er im Gegensatz zum unsagbaren, gerade noch durch negative Theologie andeutbaren EinenGuten sogar eine positive (affirmativ-kataphatische) Redeweise über die – aus menschlichem Blickwinkel – vielen Henaden zulässt: Und wenn ich nämlich sagen soll, was mir richtig erscheint, dann sind die Affirmationen weitaus mehr [sc. zugehörig zu] den Henaden des Seienden459 – denn in ihnen [sc. ist] auch das zum Erzeugen des Seienden fähige Vermögen (generativa entium virtus). Das erste [sc. Eine] jedoch ist sowohl vor allem Vermögen wie auch vor den Affirmationen (in Parm, Moerb., 520, 30–33).
Im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage, wie der sich aus dem überseienden Einen ableitende monotheistische Zug im Zusammenhang mit der polytheistischen griechischen Religion und den vielen Göttern (Henaden) bei Proklos zu vereinbaren ist,460 lässt sich an diesem Punkt der Argumentation nun Folgendes 457 Durch das partizipierbare Eine (peras), welches der Überfülle des Einen entspringt, gibt es m. E. zumindest bei Proklos keinen „im Platonismus latenten Agnostizismus im Namen der Transzendenz“, den Halfwassen (1992: 114, 224) „seit Plotin – ja seit Platons Parmenides“ ausmachen will. Vgl. aus anderer Richtung, aber in sachlich ähnlicher Weise Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 182): „Es gibt aber […] auch den späten Platonismus eines Porphyrius und Proklus, der sich zum Instrument der Abwehr des christlichen Anspruchs und der Neubegründung des Polytheismus macht […]. Nun wird gerade die skeptische Position zur Begründung des Polytheismus: Weil man das Göttliche nicht erkennen kann, darum kann man es nur in vielgestaltigen Chiffren verehren, in denen sich das Geheimnis des Kosmos und seine in keinen Namen einzuengende Vielfalt ausdrückt.“ 458 Zu syndihairountai vgl. LSJ, 1702/1: „divide, share a property“. 459 D. h.: „die Henaden, die das Sein erzeugen“, Genitivus obiectivus wie oben bei ThP III, 8; 32,5 (s. Kap. III.d; vgl. außerdem im selben Kapitel in Parm. 1189, 14–20 mit Anm. 348). 460 S. den Anfang von Kap. III.e. Im Anschluss an Butler betrachtet Chlup (2012: 118) Proklos’ Metaphysik und die traditionelle griechische Götterwelt als zwei verschiedene „Diskurse“,
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
festhalten: Tauscht man die ‚theoretisch‘ wirkende Redeweise gegen eine nach Proklos’ eigenen Maßstäben theologisch angemessenere ein, dann kann man seinen Satz, „jeder einzelne der Götter ist nichts anderes als das partizipierte Eine“, so verstehen, dass die vor dem Unterschied von seiender Ein‑ und Vielheit bestehende(n) überseiende(n) Henade(n) aus menschlicher Perspektive z. B. das Eine ist / sind, insofern es sich gemäß einer bestimmten Seinsweise als Athene offenbart bzw. Athene ist oder Apoll, Artemis oder Aphrodite usw.461 Denn um sich zu offenbaren, d. h. um erkennbar werden zu können, muss sich das Göttliche im Seienden mitteilen und insofern partizipiert werden; dies aber ist nur möglich, wenn sich die überseiende Fülle des Göttlichen in einem bestimmten Seienden spiegelt. Solche verschiedenen Erscheinungsweisen in Form henadischer Götter sind in ihrer Bestimmtheit etwas Eigenständiges; trotzdem stehen sie ‚in direkter zwischen welchen Proklos erst eine Brücke schlagen musste. Obwohl unbestreitbar ist, dass Proklos beides zusammendenkt (vgl. Butler 2014: 38), scheint mir in Proklos’ System keine fundamentale, sachliche Spannung zwischen diesen sog. „Diskursen“ und „parallel systems“ (Chlup 2012: 175) zu bestehen, die er erst „versöhnen“ müsste („reconcile“, ibd., 124), weil seine Metaphysik, wie das Folgende kurz andeuten soll, ohne Weiteres anschlussfähig an die klassische griechische Religion ist. Vgl. Tanaseanu-Döbler (2013: 263, Anm. 61): „Die etwa von Dodds prominent vertretene These, die Henaden seien der Versuch, die traditionellen Götter zu retten […], erweist sich angesichts der Gesamtstruktur und dem Gesamtduktus der Elementatio als unbegründet.“ 461 „Die Götter sind somit also alle provident tätig: Und was sie sind, sind sie nämlich, wie gesagt, alle als Henaden (unitates)“ (Dec. Dub. X, 65; 134,1). Vgl. schon Dillon (1972: 104): „The henads, which may be equated with the traditional gods on their highest level […].“ S. in vergleichbarer Weise Chlup (2012: 117). Die Frage, bis zu welcher göttlichen Hierarchie man den Begriff ‚Gott‘ gebraucht, ist einerseits eine theologische (z. B. bei Augustinus, s. u. Kap. IV.4.a), andererseits eine sprachliche: So werden Proklos’ Henaden bei Dionysius Areopagita als Engel verstanden (Bernard 1990: 106). – Eine solche Einheit in der Erscheinung der vielen Gottheiten vermag der grundsätzlichen augustinischen Kritik (z. B. civ. IV, 8 und 10; VII, 10, 16 und 18), die (griechisch-römischen) Götter wären nicht genau für eine Sache zuständig gewesen und deshalb habe es unsinnige Überschneidungen in den göttlichen Kompetenzen gegeben, welche die Nichtigkeit dieser Religion zeigen würden, zu begegnen: Denn auch nach Augustinus zeigt sich der christliche eine Gott den Menschen bisweilen gemäß einer bestimmten trinitarischen Person – sei es durch einen Engel oder eine bestimmte Kreatur (trin. III, 10, 26; 157, 181–5; trin. III, 10, 27; 158, 193–8). Dabei ist auch nach Augustinus selbst nicht immer klar erkennbar, um welche der drei trinitarischen Personen es sich in einer Gotteserscheinung handelt (trin. II, 10, 19; 106, 112–3; vgl. ebenso trin. II, 18, 35), obwohl die Trinität ungetrennt und einshaft wirkt und die partikuläre Erscheinung ‚gemeinsam‘ als der drei-einige Gott bewirkt (trin. II, 10, 18; 104, 72–73). – Dennoch kann diese Gemeinsamkeit in der augustinischen und proklischen Theologie nicht darüber hinwegtäuschen, dass den vielen Göttern bei Proklos eine unvergleichlich stärkere Eigenaktivität zukommt, während dies von den Boten Gottes bei Augustinus nicht gilt, da sie streng im ‚Auftrag des Herrn‘ handeln und keinen Kult für sich selbst in Anspruch nehmen, sondern zur Verehrung des Allerhöchsten anreizen (civ. X, 7; 412, 12–15), denn nur in ihm bestehe für alle Wesen (Engel und Menschen) das Gut, welches ihnen Sein und Erfüllung zuteil werden lässt (vgl. civ. X, 5; 408, 8–9). Eine von Gott unabhängige Handlungsweise der Engel – etwa im Sinne sozusagen völlig autark agierender Wesen – kann gemäß Augustinus im Grunde nur den gefallenen Engeln (innerhalb eines bestimmten Handlungsspielraums) zukommen.
e) Die überseienden Henaden
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Verbindung‘ zu dem einen überseienden Gott, da sie nach hier vertretener Interpretation ja das partizipierte Eine sind und ihnen daher keine derartige Partikularität eignet, wie sie für die sinnlich-materielle Welt charakteristisch ist. Gemäß dieser theologischen Konzeption könnten die einzelnen Gottheiten somit als jeweilige Entfaltung des transzendenten Einen betrachtet werden so, wie die Henaden die Brücke zwischen dem Einen und dem Seienden überhaupt darstellen: Denn die Vermögen (dynameis) der Götter sind überwesenshaft und haben ihre Hypostasis zusammen mit den Henaden selbst der Götter462 [sc. vor dem Bereich des ‚Seins‘], und dank dieser [sc. dank der dynameis, durch welche die Götter als partizipierbare Henade im Seienden ihre jeweilige Wirksamkeit entfalten] sind die Götter die Erzeuger der Seienden. Richtigerweise folglich sagt auch die Dichtung [sc. Odyssee X, 306] überall, dass ‚die Götter alles vermögen‘ (ThP III, 24; 86, 7–11).
Aus dem Kontext der interpretierten Proklos-Passagen ergibt sich, dass der Grund, weshalb das Eine als sich ‚nur‘ in bestimmter Weise offenbarend gedacht werden kann, darin besteht, dass das Aufnahmefähige (dem also ein Anteil an göttlicher Offenbarung zukommen soll) nie die göttliche Fülle als ganze zu empfangen vermag,463 sondern nur einen Teil: Zur Verdeutlichung des hier abstrakt Formulierten könnte man z. B. daran denken, dass im ersten Gesang der Ilias nicht irgendein Gott, sondern Athene dem Achill erscheint.464 Genau diese göttliche Erscheinung ist für Achill die geeignete, was sich daran zeigt, dass er allein sie erkennt, während die Umstehenden sie nach Homers Darstellung nicht bemerken – weil sie die Göttin offenbar gar nicht zu sehen vermögen bzw. sie zu sehen nicht ertragen würden.465 Proklos unterscheidet allerdings nicht nur die verschiedenen Götter an sich, sondern bei jedem einzelnen Gott verschiedene Hierarchien innerhalb der jeweils zu ihm gehörenden Ausfaltungskette, deren Prinzip die jeweilige Gottheit selbst ist – daher kann z. B. von ganz verschiedenen, also vielen, Einzelausfaltungen der Person des Zeus die Rede sein.466 Gemäß Proklos offenbart sich bzw. erscheint das Göttliche im Seienden also als Bestimmt-Verschiedenes und passt sich diesem zugleich an – wie auch in Diesen Genitiv verstehe ich explikativ als ‚Henaden-Götter‘. ThP III, 2; 8, 24–26 (s. o. Anm. 455). 464 Il. I, 198. Zur theologisch-daimonologischen Deutung der Athene-Erscheinung bei Apuleius vgl. Drews (2009: 545–6). 465 Vgl. in dieser Hinsicht – trotz aller theologischen und religionsgeschichtlichen Unterschiede – Augustinus, civ. X, 13; 423, 5–7. 466 in Tim. III, 190, 19–26. Dazu, dass die Götter, obwohl sie auf verschiedenen Ebenen der Seins‑ (bzw. auch: Überseins‑)Hierarchie als daimonartige, vermittelnd tätige ‚Instanzen‘ ihrerselbst auftreten können (Chlup 2012: 127), nach platonischem Verständnis nicht ihre Personalität als bestimmte Gottheit einbüßen, s. Bernard (1990: passim, z. B. 101; 1994: 361, 369 f.) gegen die überwiegende Mehrheit der Forschung; vgl. etwa zur selbigen Stelle aus dem Timaios-Kom‑ mentar Dodds (1963: 260): „That Homer’s Olympians […] should have ended their career on the dusty shelves of this museum of metaphysical abstractions is one of time’s strangest ironies.“ 462 463
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
der „Dichtung“ Homers, auf die Proklos in dem gerade übersetzten Textstück anspielt, nicht irgendein beliebiger Gott auf einen bestimmten Menschen trifft: Vielmehr ist z. B. die charakterliche Disposition eines Odysseus besonders für Athene, die einer Helena besonders für Aphrodite empfänglich.467 Insofern ist es hier der Mensch, der jeweils „selbst erwirkt, in welcher Gestalt sich ihm das Göttliche zeigt – oder auch entzieht“ (Schmitt 1990: 92). Dem Menschen begegnet das Göttliche demnach auf verschiedene Weise, dennoch lässt sich in der Verschiedenheit der Götter ein bestimmtes göttliches Einheitswirken beobachten.468 Denn trotz der unterschiedlichen göttlichen Personen und ihrer verschiedenen Ziele im Blick auf die menschlichen Angelegenheiten kann man für die Ilias in der homerischen Darstellung des Zeus eine übergeordnete Instanz sehen, welche die vielen Götter letztlich zu einem bestimmten einheitlichen Wirken zusammenführt.469 Eine genauere Erörterung eines solchen Vergleichs zwischen homerischer Dichtung und Proklos’ Theologie ist hier nicht zu leisten. Es sei nur darauf hingewiesen, dass sich in der Art und Weise, wie Zeus bei Homer das partikuläre Wirken der ihm (letztlich immer) unterstehenden Götter auf eine Einheit hin ordnet, möglicherweise ein literarisches Abbild von Proklos’ Theologie erblicken lässt,470 welche die im Bereich des ‚Seins‘ als Vielheit erscheinenden Götter auf ihren Einheitsgrund hin zu bestimmen sucht, sofern (der eigentlich unsag467 Vgl. grundsätzlich Schmitt (1990: 85 ff.) und speziell zum Verhältnis zwischen Athene und Odysseus Drews (2016: 533–548). 468 Auch im christlichen Bereich gibt es hiermit Vergleichbares: Gott ändert sich nicht von sich selbst her (Jak 1, 17; Mal 3, 6), aber je nachdem, wie der Mensch sich ihm gegenüber verhält, erscheint er aus menschlicher Perspektive verschieden: „Dich verliert niemand außer dem, der dich verlässt, und da er dich verlässt – wohin geht er oder wohin flieht er, wenn nicht von dir, der du freundlich bist, zu dir, der du zornig bist?“ (Augustinus, conf. IV, 9, 14). Auch in der Bibel ist von einem vielfältigen Wirken des einen Gottes die Rede: „Es sind Unterschiede bei den Gaben, aber es ist derselbe Geist […], und es sind Unterscheidungen bei den Formen des Tätigseins, aber derselbe Gott ist der, der alles in allem wirkt“ (1 Kor 12, 4–6). In ähnlicher Weise spricht Proklos davon, dass das Geben der ganz verschiedenen Güter durch die Providenz nicht nur auf eine, sondern auf jeweils verschiedene Weise (gemäß der Aufnahmefähigkeit) geschieht (Dec. Dub. VI, 38; 99, 2–3). – Die von Proklos unterschiedenen Henaden-Götter (z. B. Athene als Göttin des intellekthaften Denkens, Aphrodite als Göttin der die Gegensätze verbindenden Liebe etc.) entsprechen in der christlichen Theologie zum Teil den Attributen Gottes (Güte, Liebe, Gerechtigkeit, Allmacht etc.), die aber nicht Gott selbst sind (wie auch die Henaden nach Proklos nicht das Hen, sondern Erscheinungsweisen des Einen sind). Auch der christliche Gott erscheint in unterschiedlicher Weise (vgl. oben Anm. 461): „Aber der HERR (JHWH) ging vor ihnen her am Tage in einer Wolkensäule, um sie den Weg zu führen, und in der Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, – zum Reisen bei Tag und Nacht“ (Ex 13, 21). 469 Vgl. etwa die Zeusreden in Ilias VIII, 5 ff. und XV, 14 ff. (nachdem Hera Zeus kurzfristig überlisten konnte [XIV], muss sie nun einlenken [XV, 78]). In der Odyssee lässt sich das einheitsstiftende Element, das z. B. Telemach und Odysseus zusammenführt, in dem Plan der Athene ausmachen. 470 Dies ist natürlich nur im Hinblick auf sachliche Vergleichbarkeit gemeint – Homer soll damit nicht als neuplatonischer Metaphysiker avant la lettre ‚eingemeindet‘ werden (s. Chlup 2012: 199–200).
f) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse
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baren theologischen Sache nach) „jeder einzelne Gott nichts anderes als das partizipierte Eine ist“ (in Parm. 1069,7). Seine Theologie sieht Proklos ferner durch den Abbildcharakter der mathematischen471 Zahl gestützt: Denn, was auf einshafte und eingefaltete Weise in der [sc. prinzipienhaften] Monade ist, dieses wird auf getrennte Weise in den Kindern (tois ekgonois) der Monade offenbar. […] [sc. Dies] zeigt aber ferner auch die Monade der mathematischen Zahlen (arithmoi): Denn sie ist alles auf erste Weise selbst, hypostasiert die Ideen der Zahlen auf samenhafte Weise in sich und teilt den nach außen hervorgehenden Zahlen jeweils verschiedene Vermögen (dynameis) zu (ThP III, 2; 8, 12–24).
Gemäß platonischem Verständnis ist die Mathematik472 nicht bloß anwendungsbezogene ancilla der Naturwissenschaft, sondern gehört zu den theoretischen Wissenschaften wie Philosophie und Theologie und bereitet – wie etwa am Beispiel des Dreiecks bei Plotin und Proklos gesehen473 – den Zugang zu diesen beiden Disziplinen vor. Deshalb verwundert es nicht, wenn Proklos die ZahlMonade ‚Eins‘ in mathematischer Analogie zum theologischen überseienden Einen betrachtet: So wie das überseiende Eine alles, was als Seiendes entfaltet werden kann, auf vorseiende Weise in sich als Eines komplexiv umschließt, so die mathematische Eins auf vorzahlhafte Weise alle sich von ihr ableitenden Zahlen im eigentlichen Sinne, denn ‚Eins‘ ist platonisch noch gar keine spezifische Zahl, sondern Prinzip der Zahlen; erste Zahl im starken Sinne ist die erste aus Einheiten geeinte Vielheit, die Drei (analog zum ‚Sein‘ bzw. ‚seienden Einen‘474), während die Zwei als Übergang vom Prinzip zum Prinzipiierten betrachtet werden kann (analog zur unbestimmten Zweiheit im metaphysischen Bereich475).476 f) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisseund das Prinzip der Kausalitätsüberlagerung in der Entfaltung der verschiedenen Seinsbereiche Das Ergebnis der hier vorgestellten Interpretation zu dem Verhältnis zwischen dem überseienden Einen (autohen) und den ebenfalls überseienden Henaden ist, dass die vielen Henaden nichts anderes als das partizipierte Eine sind, d. h. das zweite, partizipierbare Eine nach dem allerersten Einen, das Proklos im Anschluss an Platons Philebos auch ‚Grenze‘ (peras) nennt. Weder in das transzendente Eine selbst noch in peras wird dabei der Aspekt seiender Vielheit hineingetragen, so dass gemäß der Gleichsetzung des zweiten, partizipierbaren 471 Dazu, dass sich die Theologie nach Proklos abbildhaft in anderen Wissenschaften wie der Mathematik spiegelt und deshalb aus didaktischen Gründen der Erkenntnisweg auch dort zunächst beginnen sollte, s. in Parm. 926, 16–25; vgl. zur Stelle Drews (2009: 248 f.). 472 Zum platonischen Mathematikverständnis s. die vielfältigen Arbeiten von Schmitz (1996, 1997, 1998, 2000, 2010) sowie Radke (2003), Bechtle (2006) und Chlup (2012: 151–8). 473 S. Kap. II.5 b und Kap. III.c. 474 S. o. Anm. 362 zum triadisch strukturierten intelligiblen Sein bei Proklos. 475 S. o. Anm. 249, 337 und 341. 476 Vgl. Radke (2003: 436–7, 798–9).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Einen mit den Henaden auch die ‚vielen Henaden‘ im Unterschied zu vorherrschend-einflussreichen Interpretationen (Beierwaltes, Dodds477) noch nicht als Vielheit im seienden Sinne zu verstehen sind.478 Erst dadurch, dass mit der unsagbaren ‚Unterscheidung‘ der Partizipierbarkeit von peras, in dem die der Überfülle des Einen selbst entstammende(n) und mit ihr vereinte(n) Henade(n) Bestand hat (haben), der Weg vom Einen selbst in die Zweiheit ‚beschritten‘ wird, ‚entsteht‘ auch die Zweiheit selbst. Diese Zweiheit ist nach Proklos von sich selbst her noch unbegrenzt-unbestimmte, nicht-seiende Vielheit, da sie (nach dem transzendenten autohen) als die spannungsvolle Zweiheit von bestimmt-bestimmendem Einen (‚Grenze‘, pe‑ ras) und erster unbestimmter Verschiedenheit (‚Nicht-Grenze‘, apeiria) Bestand hat. Da diese erste Verschiedenheit / Andersheit in überseiender Weise noch nicht festgelegt, nicht begrenzt ist, umfasst sie in unbegrenzter Überseinsfülle vorwegnehmend alle sachlich späteren, weil von ihr sekundär abhängigen Seinsmöglichkeiten: Deshalb nennt Proklos das unbegrenzte Wirkvermögen apeiria. In apeiria besteht qua Unbegrenztheit die wirkmächtige Potenz, bestimmte, begrenzte Vielheit dadurch zu erzeugen, dass das eine peras sich durch apeiria (1963: 259) sieht zwar eine Parallele zwischen den Henaden und peras und apeiria („They [sc. the henads] are, like peras and apeiria, and like the second ‚One‘ of Iamblichus, an attempt to bridge the yawning gulf which Plotinus had left between the One and reality“, ibd.), identifiziert aber nicht die Henaden als das vielfach partizipierte Eine mit dem zweiten Einen. Im Unterschied zur hier vertretenen Proklos-Interpretation meint Dodds ferner, dass die Henaden Vielheit in das Eine hineintragen würden („The doctrine of henads represents an attempt to account for the existence of individuality by importing plurality into the first hypostasis, yet in such a manner as to leave intact the perfect unity of the One“, ibd.) – eine Interpretation, die auch in der jüngeren Forschung vertreten wird (s. Chlup 2012: 114, 117). S. dagegen Gerson (2008: 107, Anm. 58) mit dem Verweis auf in Parm. 1066,16–1071,8. 478 Auch van Riel (2001) scheint die Henaden gleichsam noch ‚zu wenig transrational‘ einzuordnen, wenn er sie einerseits mit dem Einen sogar „koinzidieren“ lässt („Les hénades sont tout à fait unes, et en tant que telles coïncident avec le Dieu premier“, ibd., 423; „Leur union fait qu’elles sont toutes identiques à l’un premier“, ibd., 424; Kursive FD), er sie andererseits aber wie für sich unterscheidbare (d. h. seiende) Einheiten interpretiert („Leur idiotês garantit que chacune des hénades dispose d’une existence séparée“, ibd., 424; Kursive FD). Beides sind Extreme auf der Basis strikt rationaler Differenzierbarkeit; als solche lassen sie sich kaum auf die transrationalen Aspekte der Henadenlehre anwenden – auch nicht in Kombination unvereinbarer Gegensätze. Van Riels Lösungsvorschlag: „Les hénades sont donc des modalités de peras“ (ibd., 428, ebenso 422, 432), gemäß welchem die Henadenvielheit nur als Vielheit der Modalitäten des einen peras zu verstehen seien, hat grosso modo eine gewisse Ähnlichkeit mit dem hier vertretenen Lösungsversuch. Bei genauerem Hinsehen scheint es mir jedoch, als ob van Riel mit den vielen Modalitäten Vielheit bereits in peras – das zweite Eine nach dem überseienden Einen und vor dem ‚Sein‘ – hineinträgt. Daher könnte es plausibler sein, die Henade(n) als uneigentliche, überseiende ‚Vielheit‘ so zu verstehen, dass sie in peras überseiend geeint und in größter Nähe zum absoluten Einen Bestand hat (haben) und sich erst über apeiria als unbegrenzte dynamis vervielheitlicht( / -en), insofern das unbegrenzte Vermögen in vielfältiger Weise zusammen mit dem begrenzenden peras seine Wirkmächtigkeit entfaltet durch die Erzeugung von ‚Sein‘ und aller Seienden. Es bedarf dann keiner Modalunterscheidung, sondern die Henaden sind „verborgen“ in peras und ergießen sich in apeiria ins Seiende – nur dadurch sind bzw. ‚werden‘ sie (auf zeitfreie Weise) „intelligibel“ (ETh 162, 29–30). 477 Dodds
f) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse
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in vielfältiger Weise mitteilt: Das partizipierbare Eine, in dem die Henaden von sich selbst her als Nicht-Vielheit bestehen, wird erst dadurch Vielheit, dass das eine peras durch apeiria in vielfältiger Weise – und insofern als Vielheit der Henaden – seinen begrenzenden Akt vollzieht: Als erstes ‚entsteht‘ (im Sinne einer unzeithaften Seinskonstitution) aus diesem unsagbar-überseienden Wirken das Prinzip ‚Sein‘, das als erste begrenzte Viel-Einheit aus Begrenztheit und Unbegrenztheit gemischt ist. Die Dualität der höchsten Prinzipien ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘ wirkt in ihrer gegensätzlichen Spannung aktiv zeugend, während das überseiende NurEine in reiner Einshaftigkeit allem Denkbaren transzendent bleibt. Da aber die Dualität ‚Grenze‘ – ‚Nicht-Grenze‘ nach Proklos nicht ohne ein ihnen übergeordnetes Eines möglich ist, weist sie einerseits auf das transzendente Eine hin und ist zugleich seine Vermittlungsinstanz, durch die das gleichwohl stets transzendente Eine seine verborgene Einheit schöpferisch entfaltet: primär in dem zuerst aus Begrenztheit und Unbegrenztheit Gemischten, der ersten geeinten Viel-Einheit ‚Sein‘, welches nach Proklos analog zu der mathematischen Zahl ‚3‘ zu denken ist. Dank der Vermittlung des partizipierbaren Einen durch das unbegrenzte Wirkvermögen hindurch offenbart sich diese partizipierbare Mitte in dem an ihr Partizipierenden,479 dem Bereich des ‚Seins‘, als Vielheit. Daher spricht Proklos von der Vielheit der Henaden, denen es zukommt, die Überfülle des überseienden Einen dem Bereich des Seienden anteilhaft zu vermitteln. Vermittlung bedeutet nach Proklos hier Partizipierbarkeit, welche die Henade(n) vom unpartizipierbaren Einen unterscheidet.480 Weil es der Sache nach nur ein absolut Eines geben kann, argumentiert Proklos, dass die Henaden / Götter nichts anderes sind als das partizipierte Eine. Insofern sind sie nicht in sachlich-adäquater Weise, sondern nur uneigentlich als Vielheit zu beschreiben. Das partizipierbare Eine (peras) nach dem unpartizipierbaren Einen entlädt sich in überzeitlicher Weise wie in einem (über‑)ewigen Jetzt durch die unbegrenzte Zweiheit (apeiria) hindurch als Vielheit der Henaden, die – qua überseiende – mit dem absoluten Einen auf alle Verschiedenheit transzendierende Weise geeint sind und daher nicht schon als primäre „Konkretion“ von peras und apeiria zusammenwachsen bzw. zusammengemischt werden,481 denn genau dieses Charakteristikum ist ja nach Proklos erst dem Seienden eigentümlich. Vielmehr entfalten die überseienden Henaden als partizipierte durch die beiden Prinzipien peras und apeiria 479 Das Partizipierende wird als intelligibles Sein durch die Partizipation zugleich hervorgebracht. Insoweit dabei auch im Intelligiblen ein materieller Aspekt im Sinne eines Aufnahmefähigen (= intelligible Materie) vorausgesetzt ist, geht dieses Aufnahmefähige – als das noch nicht Bestimmte – auf die unbestimmte Zweiheit (apeiria) zurück (ThP III, 12; 45, 3–6). Vgl. Drews (2009: 288, Anm. 110). Zum Begriff der intelligiblen Materie im Neuplatonismus vgl. Radke (2003: 541–5, 500, 65). 480 ETh 116, 13–19. 481 S. o. zu Beierwaltes (1985: 155, 207–8).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
hindurch ihre Wirksamkeit im Seienden und werden nur von hier aus indirekt als Vielheit erkennbar. Die Henaden spiegeln482 sich als reine Erscheinungsformen des Einen im Intelligiblen, zuerst in dem seienden Einen, dem hen on als dem Prinzip ‚Sein‘. Aus dem seienden Einen entfaltet sich die Vielheit der seienden, intelligiblen Götter, in dem diese Seienden an den überseienden Henaden in vielfacher Weise partizipieren. Durch die Eigenheiten, die das intelligible Seiende (als das im spezifischen Sinn erstmöglich Erkennbare) als jeweilige Sacheinheit repäsentiert, werden so indirekt auch die Henaden bzw. wird das vielfach partizipierte Eine selbst erkennbar. Erst im Bereich des Prinzips ‚Intellekt‘ ist das Seiende, welches im Prinzip ‚Sein‘ noch ungeschieden geeint ist, Vielheit der einzelnen intelligiblen Ideen. Eine jede Idee ist als genau eine Sache Seiendes durch die Rückwendung über eine bestimmte Henade (also eine bestimmte Partizipationsweise am zweiten Einen) zum absoluten Einen hin ‚verbunden‘.483 Denn jede überseiende göttliche Eigenheit – jede Henade als eine solche Partizipationsweise des Einen – bewahrt ihre Eigenheit auch im Intelligiblen auf reine Weise als ein bestimmtes Seiendes.484 Umgekehrt erklärt sich hieraus auch, warum der eine erste Gott / das Eine nach Proklos gänzlich unerkennbar bleibt für das menschliche Erkenntnisvermögen, denn als das unpartizipierbare Prinzip ist er nicht in einer bestimmten Idee erkennbar.485 Nach Proklos wird „jede göttliche Henade von einem Bestimmten des Seienden unvermittelt partizipiert.“486 Damit die Teilhabe des Seienden am Überseienden möglich ist und die göttliche Eigenheit (idiotês) trotzdem in reiner Weise Vgl. ebenso Cürsgen (2007 a: 150) und Bechtle (1999: 374). „Alles wahrhaft-Seiende, das den Göttern [= Henaden] anhaftet, ist ein göttliches Intelligibles“ (ETh 161, 14). 484 ETh 137, 3. Van den Berg (2000: 431) erklärt, dass nach neuplatonischer Auffassung alles von einem bestimmten Gott Durchwirkte und zu ihm Gehörige ein bestimmtes synthêma besitzt, aufgrund dessen zwischen all diesem jeweilig Bestimmten auch eine bestimmte sym‑ patheia besteht. Auch dies basiert darauf, dass in allem an einer Bestimmtheit Partizipierenden die jeweilige Eigenheit bewahrt bleibt und dadurch jeweils ein bestimmtes Band zwischen den Partizipierenden unter sich sowie dem Partizipierten besteht. 485 Zum Problem der angemessenen Redeweise innerhalb der neuplatonischen negativen Theologie vgl. Bernard (1990: 123–5). Platon selbst spricht davon, dass der Mensch, wenn er erkennend tätig ist, immer nur etwas zu erkennen vermag, das von sich her etwas Bestimmtes, Eines und Seiendes ist (resp. 476 c–477 a). Von dieser Systematik ausgehend ist es nicht verwunderlich, dass Proklos das Göttliche für von sich selbst her unerkennbar und nur die indirekte Erkenntnis des Göttlichen als dem Menschen möglich hält (ETh 123). Insofern ist die Rede vom ‚Einen‘ im grammatischen Neutrum von Proklos her auch nicht als Mangel an persönlicher Wesenheit aufzufassen, sondern als Hinweis darauf, dass der allerhöchste Gott über die Unterscheidung von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ hinaus ist (vgl. Bernard 1990: 113, Anm. 256) und gegenüber unserer menschlichen Vorstellung von Personalität ein Mehr (und kein Weniger) an Personalität besitzt (ibd., 124–5). 486 ETh 135, 1–2. 482 483
f) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse
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erhalten bleibt, handelt es sich um jeweils einen Partizipator aus dem Bereich des wahrhaft-intelligibel Seienden, in dem die jeweilige idiotês, unvermischt mit anderen idiotêtes, ist, d. h. auf seiende Weise besteht. Es ist aber notwendig, dass das Partizipierende in bestimmter Hinsicht dem Partizipierten ähnlich ist, in bestimmter Hinsicht aber [sc. von ihm] verschieden und unähnlich. Da folglich das Partizipierende ein Bestimmtes der Seienden ist, die Henade aber übersubstantiell, sind sie sich ja in dieser Hinsicht unähnlich. Eines also muss das Partizipierende sein, damit es auch in dieser Hinsicht dem partizipierten Einen ähnlich ist, wenn auch das eine auf diese Weise Eines ist, als Henade; das andere aber als ein das Eine Erleidendes [d. h. nicht von sich her Eines] und Geeintes wegen der Teilhabe an jener [sc. Henade] (ETh 135,10–16).
Im Widerspruch dazu, dass jede Henade von einem bestimmten Seienden partizipiert wird, scheinen aber die obigen Ausführungen zu stehen, nach denen das ‚Sein‘ als allererster Partizipator des Göttlichen487 „alles auf verborgene Weise sowie Ursache der Seienden ist“ sowie „Träger der Zeugungskraft von allem und gleichsam alles auf einartige Weise“ ist.488 Man möchte einwenden, dass in der Fülle des ‚Seins‘ scheinbar doch alle Henaden schon wie in einem Gemischten zugleich partizipiert werden. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man ‚Sein‘ als das durch die erste und universellste Teilhabe am partizipierbaren Einen Erzeugte versteht, in dem nach Proklos tatsächlich die Fülle des Einen in ungeschiedener Weise seiend ist. Ferner führt Proklos aus, dass die verschiedenen Ursachen in ihrer verschiedenartigen Ursächlichkeit auch auf verschiedene Weise wirken bzw. partizipiert werden.489 Aus dem Kontext von Proklos’ Argumentation lässt sich erkennen, dass das erste Seiende, das Prinzip ‚Sein‘ (to on), zwar durch die Erstprinzipien nach dem allerersten, absoluten Einen-Guten, d. h. durch peras und apeiria, erzeugt wird. Vom Einen als dem Ersten überhaupt aus gesehen nimmt das ‚Sein‘ insofern einen dritten Rang ein,490 wird aber von Proklos sogar als der erste der seienden Götter bezeichnet.491 Die seienden Götter – ‚Sein‘, ‚Leben‘ und ‚Intellekt‘ – sind ETh 138, 7–8. ThP III, 9; 39, 3–10). 489 Beispielsweise spricht Proklos davon, dass eine universellere Ursache schon auf das Sekundäre hinwirkt, bevor eine partikuläre Ursache wirkt, und auch später als die partikuläre aufhört zu wirken (ETh 70, 11–14). Insofern wird das von den universelleren Ursachen Erwirkte gewissermaßen zur Grundlage (zum hypokeimenon) für das Wirken der partikuläreren (ETh 71). S. das Folgende im Haupttext. 490 ThP III, 9; 36, 8–10. 491 Seiende, genauer: noetische, noetisch-noerische und noerische Götter sind gemäß der allgemein dreigeteilten Seinshierarchie nach Proklos die (in sich geeinten) Dreiheiten, Triaden, von denen die erste die Trias ‚Sein‘ (peras-apeiria-ousia / autoon), die zweite die Trias ‚Leben‘ (peras-apeiria-zôê), die dritte die Trias ‚Intellekt‘ (peras-apeiria-nous) ist (ThP III, 14; 51, 8–12). S. dazu Beierwaltes (1979: 48 ff.). In jedem dieser drei sind peras und apeiria in jeweils unterschiedlicher Dominanz präsent und wirksam, so dass die drei in sich wiederum eine Triade bilden: Das ‚Sein‘ umfasst als erster dieser seienden Götter ungeschieden alles wahrhaft Seiende 487 488
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
den überseienden Henaden (nach dieser Interpretation immer verstanden als die sich durch peras und apeiria zum Bereich des ‚Seins‘ hin vervielheitlichende Vermittlungsinstanz des absoluten Einen) insofern ähnlich, als sie qua Abbild deren überseiender Einshaftigkeit im Sein die Identität entfalten, haben aber als Unterschied zu den Henaden die Verschiedenheit erlangt.492 Das Göttliche im seienden Bereich ist nach Proklos daher nicht im primären Sinne göttlich wie die überseienden Henaden.493 Wenn nun Proklos zufolge jede überseiende Henade (als durch Partizipiertwerden sich vereinzelnde Erscheinungsweise des Einen) von einem bestimmten Seienden partizipiert wird, damit die jeweilige göttliche idiotês unvermischt im Bereich des Seienden bewahrt bleibt, dann geht den einzelnen Seienden (etwa den einzelnen Ideen) wiederum das universale Prinzip ‚Sein‘ (das seiende Eine) voraus, welches als Prinzip des Seins Ursache für alles weitere Seiende ist. Denn auch wenn ‚Sein‘ als erstes Seiendes überhaupt seinerseits abhängig ist vom überseienden Einen und dessen Henade, so hängen von ihm wiederum als dem Prinzip ‚Sein‘ alle anderen Seienden ab, insofern sie seiend sind. Nach Proklos müssen hier somit verschiedene Kausalitätsebenen differenziert und zugleich auch im Zusammenhang betrachtet werden. Insofern ‚Sein‘ also Prinzip aller Seienden qua Seienden ist, erzeugt es die Seins-Grundlage für das weniger universelle Einheitswirken derjenigen überseienden Henaden, aus dem die einzelnen Seienden (onta) – auf überzeitliche Weise – ‚entstehen‘: Alles unter den prinzipienhaften Ursachen eine universellere und höhere Ordnung (taxis) Besitzende wird in seinen Wirkungen gemäß den von ihnen [sc. den Ursachen gewirkten] erleuchtenden Funken (ellampseis) auf bestimmte Weise Grundlage (hypokeimena) für die Anteilgebungen der partikuläreren [sc. Ursachen]; und die erleuchtenden Funken von den höheren [sc. Ursachen] nehmen die Hervorgänge (prohodoi) aus den sekundären [sc. (das ja als wahrhaft Seiendes nach Proklos wesensmäßig intelligibel ist), das ‚Leben‘ ist in der Zwei das zeugungsfähige Vermögen des ‚Seins‘, welches das Verborgene des ‚Seins‘ offenbart (ThP III, 13; 48), der ‚Intellekt‘ ist die bereits erzeugte Fülle der nun geschieden für sich seienden Intelligibilia, also die Fülle des Intelligiblen überhaupt, insofern jedes einzelne Intelligible für sich im ‚Intellekt‘ seinen Bestand hat (ThP III, 14; 51). Zu ‚Sein-Leben-Intellekt‘ vgl. ferner ETh 103 sowie Beierwaltes (1979: 93–118), Opsomer (2000) und Chlup (2012: 92–99). Vgl. oben Anm. 362. 492 in Parm. 1173, 26 f. Im göttlichen arithmos – als erster zahlhafter Ausfaltung – ist dagegen nichts gemäß der Teilhabe, sondern alles gemäß der hyparxis (d. h. gemäß dem ‚Für-sich-Bestehen‘) oder gemäß der Ursache (ETh 118), während „alles dieses [sc. das nicht auf henadische, sondern auf körperlich, seelisch und intellektuale Weise Göttliche] göttlich ist gemäß der Teilhabe“ (ETh 139, 29–31). 493 ETh 139, 31–32. Dass Proklos tatsächlich zwischen mehreren Götterordnungen differenziert, zeigt z. B. ETh 132, 28. Vgl. ferner ETh 139 sowie ETh 162–165 zu den verschiedenartigen Henaden, an welchen auf verschiedenen Ebenen des Seienden partizipiert wird und welche diese Ebenen des Seienden somit erzeugen bzw. „herableuchten“ (ETh 162, 28). S. oben Anm. 418 und 435. Zur Differenzierung der verschiedenen Götterordnungen und ‑ebenen sowie zur Vermittlung des göttlichen Anteils durch all diese Stufen hindurch vgl. ebenso ThP III, 6; 28 und ETh 129.
f) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse
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Ursachen] auf, jene aber [sc. die Hervorgänge von den sekundären] erhalten ihren Sitz auf diesen [sc. primären hervorgeleuchteten Wirkungen]; und so gehen die einen Partizipationen den anderen voran […] (ETh 71, 31–4).
Nach dem universalen Erzeugnis ‚Sein‘ als erstem Seienden werden somit die im Vergleich partikuläreren Seienden (ta onta) als sekundäre Partizipationsmöglichkeiten am Wirken der Henaden durch diese Teilhabe ins Sein gerufen. Denn alle Sachgehalte sind entweder Henaden [sc. von sich her Eines] oder zahlhafte Ausfaltungen [sc. Geeintes durch die Henaden]. Denn das nicht Henade, sondern Geeintes Seiende, wenn es doch von bestimmten Henaden begrenzt494 ist, ist zahlhafte Ausfaltung (arithmos), und erste zahlhafte Ausfaltung (arithmos) sollte wohl diese sein, die aus Unteilbaren ihre Hypostasis hat (hypostas). Denn jede Henade [sc. ist] unteilbar; die zahlhafte Ausfaltung der Seienden aber [sc. ist] auch aus Seienden, [sc. d. h.] nicht aus Unteilbaren (in Parm. 1219,40–1220,5).
Alles Bestand Habende basiert auf Einheit. Alles Seiende ist aus Vielem Geeintes und in dieser Hinsicht und so verstanden Zahl / zahlhafte Ausfaltung. Prinzip seiender, d. h. geeinter Vielheit kann nicht wiederum nur Geeintes sein, weil so ein infiniter Regress drohte, ohne dass eine prinzipienhafte Ursache des Geeintseins gefunden wäre. Eben diese Ursache des Geeintseins von Vielheit kann nur in unteilbarer Einheit bestehen, welche als unteilbare nicht wiederum aus Vielen geeint ist. Unteilbare Einheit kann somit nichts Seiendes sein (weil dieses qua Seiendes geeinte Vielheit ist), sondern nur überseiende Einheit, also Henade. Die erste zahlhafte Ausfaltung – die erste (Vor‑)Zahl im Sinne des Prinzips von seiender Zahl als aus vielen Einheiten geeinter Vielheit, welches als Prinzip insofern noch nichts im vollen Sinne ‚Zählbares‘ ist495 – ist daher der vollkommen einshafte arithmos der dem Sein und der Vielheitlichkeit vorausliegenden überseienden Henaden.496 Wenn also zuerst das Prinzip ‚Sein‘ als ungeteilte Fülle des intelligiblen Seins durch das Wirken der überseienden Henade(n) erzeugt wird, so ist es trotzdem als universelles Prinzip aller intelligibel Seienden deren Ursache. Hier kommt es zu einer Kausalitätsüberlagerung, ohne dass dies widersprüchlich von Proklos gemeint wäre: ‚Sein‘ ist das erste henadisch Prinzipiierte; alle weiteren Seienden hängen qua Seiende vom Prinzip des Seins kausal ab. Insofern sie aber als einzelne Intelligibel-Seiende (etwa als bestimmte Ideen) ihr spezifisches Geeintsein ebenfalls letztlich auf eine Henade zurückführen, bildet in diesem Sinne einerseits das Wirken des Prinzips ‚Sein‘ die Grundlage dafür, dass sich aus ihm die Seinsfülle weiter entfalten und partikularisieren kann; andererseits trifft dieser vom Prinzip ‚Sein‘ gewirkte Hervorgang (prohodos) in seiner Rück494 Mir scheint peperasmenon einen besseren Sinn als das überlieferte peperasmenôn zu geben, wie es jetzt auch Steel (2009: 245) in seiner Edition vorzieht. 495 Zur Analogie zwischen metaphysischer Prinzipientheorie und mathematischer Zahl im Neuplatonismus vgl. oben den Schluss von Kap. III.e. 496 Vgl. ETh 149 sowie oben ETh 6 und ThP III, 3; 12,21–13,5 (Kap. III.e).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
wendung (epistrophê) zum absoluten Einen hin auf die Partizipation an einer bestimmten Henade, d. h. einer weniger universellen Partizipationsweise am partizipierbaren Einen. Im Sinne von ETh 71 bringt so das universelle Prinzip ‚Sein‘ (obgleich selbst als erstes durch Henaden hervorgebracht) in seinen ursächlichen Wirkungen die Grundlage hervor für ihm gegenüber sekundäre und weniger universelle Seiende, die sich ebenfalls dem Henadenwirken als Entfaltung der Überfülle des überseienden Einen verdanken: Bei diesen handelt es sich um eine im Vergleich zur Hervorbringung des Prinzips ‚Sein‘ sekundäre, weniger universelle Partizipationsweise am Wirken der Henaden, als deren Grundlage (hypokeimenon) aber das vom universellen Prinzip ‚Sein‘ Gewirkte fungiert. So kommt es zu einer komplexen Kooperation der einzelnen Prinzipien: Jede Henade hypostasiert zusammen mit dem Einen das an ihr partizipierende Seiende. Denn das Eine, insofern es alles hypostasiert, ist in eben dieser Hinsicht sowohl Ursache der partizipierten Henaden als auch der [sc. in ihrem Bestehen] von den Henaden abhängigen Seienden. Das jeweils einer einzelnen [sc. Henade im Sinne einer partikuläreren Möglichkeit der Teilhabe am partizipierbaren Einen] anhaftende [sc. Seiende] aber wird von der Henade hervorgebracht,497 die dieses [sc. ihr Anhaftende] hervorleuchtet. Das [sc. im Sinne des universalen Umfassens] einfache ‚Sein‘ wird vom Einen geschaffen; das naturgemäße Verbundensein [sc. mit der jeweilig partizipierten Henade] aber wirkt die Henade, insofern [sc. dieses Seiende] naturgemäß verbunden ist [sc. mit ihr]. Diese nun ist diejenige, welche gemäß sich selbst das an ihr partizipierende Seiende begrenzt und [sc. dadurch] ihre übersubstantielle Eigenheit auf seiende Weise zeigt. Denn aus dem Ersten [d. h. aus der überseienden Henade] kommt immer dem Zweiten das Bestehen als dieses spezifische Sein zu, was es ist. Welches nun die übersubstantielle Eigenheit der Gottheit ist, dies ist auch dieselbe [sc. Eigenheit] des Seienden, das an ihr [sc. der Gottheit] partizipiert, [sc. allerdings] auf seiende Weise (ETh 137, 31–6).
Dass Proklos an dieser Stelle von dem ersten – seiner eigenen Aussage nach ja unpartizipierbaren – Einen als Ursache auch des Seienden spricht, bedeutet im Kontext der hier dargelegten Interpretation, dass ohne das Eine-Gute als ‚unhintergehbarer Anfang von allem‘ natürlich nichts seinen Bestand hätte. Gleichwohl haben andere Textstellen bereits gezeigt, dass das Eine-Gute in seiner absoluten Transzendenz nicht selbst eine Aktivität auf das Sekundäre hin richtet; sondern seiner Überfülle entspringen die Henaden, die als partizipierte Götter das Sekundäre erzeugen und mit ihm verkehren. Daher sagt Proklos auch zuerst, dass das Eine Ursache der Henaden (immer im Sinne der partizipierbaren Vermittlung zwischen dem Einen selbst und den Seienden) ist, erst durch sie ist es auch Ursache des Seins; umgekehrt aber wären die Henaden bzw. das partizipierte Eine nicht Ursache des Seins, läge ihnen sachlich nicht schon das transzendente Eine selbst voraus. 497 Ich wähle hier die passive Ausdrucksweise, weil im Deutschen bei der aktiven Formulierung Objekt und Subjekt sonst nicht klar unterscheidbar wären („das Anhaftende“ und „die Henade“ können beides jeweils Akkusativ wie Nominativ sein).
f) Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse
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Da das Prinzip ‚Sein‘ als das erste Seiende innerhalb von Proklos theologischer Prinzipienlehre in universaler Weise die Gesamtheit der Seienden und aller Seinsmöglichkeiten einshaft und in sich eingefaltet umfasst, spricht Proklos hier verkürzt, dass das Eine (das hen als universale Henade der Henaden) das ‚Sein‘ erzeugt, wohingegen die einzelnen seienden Bestimmtheiten aus der jeweils eingeschränkteren Teilhabe am Einen (d. h. als Partizipation an einer bestimmten Henade) ‚entstehen‘ – all dies in einem unzeitlichen Sinne, denn Proklos spricht ja über die Konstitution des wahrhaft Seienden, das als Überzeitliches weder wird noch vergeht. Bevor aber einzelnes intelligibles Seiendes als Einzelverwirklichung der im universalen, intelligiblen Prinzip ‚Sein‘ vorher schon eingefalteten und geeint ‚enthaltenen‘ Seinsmöglichkeiten ist, besteht das universale Prinzip ‚Sein‘, welches seinerseits nach Proklos die erste Verwirklichung der Teilhabe am (partizipierbaren) Einen darstellt. Da also ohne das jeweils universellere Prinzip das relativ partikuläre nicht zu denken ist, sagt Proklos, dass die Aktivität des universelleren Prinzips zur Grundlage, zum hypokeimenon der Wirksamkeit des partikuläreren Prinzips ‚wird‘. Proklos’ Darlegung, dass jede Henade (= jede Weise, in der die partizipierbare Mitte des überseienden Einen im wahrhaft Seienden partizipiert wird) von genau einem Seienden partizipiert wird, steht nach dieser Interpretation daher nicht im Widerspruch zu seiner Rede, gemäß welcher das ‚Sein‘ als erster Partizipator des Göttlichen498 „alles auf verborgene Weise und Ursache alles Seienden“ sowie „Träger der Zeugungskraft von allem und gleichsam alles auf einartige Weise Seiende“ ist.499 Denn wenn allgemein gilt, dass „aus dem Ersten immer dem Zweiten das Bestehen als dieses spezifische Sein zukommt, was es ist“,500 dann bedeutet dies nichts anderes, als dass ein Ursächliches das Verursachte, welches der Sache nach später ist, qua Ursache in sich selbst vorwegnimmt und dass die universellere Ursache in einshaft-eingefalteter Weise auch alles dasjenige bewirkt, was die von dem Universalen hypostasierten partikuläreren Ursachen in aus‑ gefaltet-vereinzelter Weise bewirken. Auch hier ist also die ‚nach oben hin‘ immer weiter zunehmende Einshaftigkeit der Prinzipien – nicht im Sinne einer Vereinzelung, sondern einer höheren und komplexeren henôsis – der Schlüssel zur Auflösung des scheinbaren Widerspruchs, dass einerseits das Prinzip ‚Sein‘ bereits die Gesamtheit des Seienden umfasst und andererseits zugleich jede Henade von jeweils einem bestimmten Seienden partizipiert wird, damit die göttliche Eigenheit rein bewahrt bleibt: Aus den universelleren Wirkungsweisen des Einen (in Form der vielen partizipierten Henaden, insofern die partizipierbare Mitte des Einen auf vielfache Weise partizipiert wird) entspringen gemäß der Seinshierarchie auch die partikuläreren 498 ETh 138,
7–8. ThP III, 9; 39, 3–10. 500 ETh 137, 31–6. 499
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Wirkungs‑ und ‚Erzeugungsweisen‘ im Seienden. Im Rahmen der ETh führt Proklos diesen Grundsatz (im Blick auf das Göttliche und Intelligible) an mehreren Stellen in seiner allgemeinen Gültigkeit aus: Alles vom Sekundären Hervorgebrachte wird auf universellere Weise (meizonôs) auch vom Ersteren und Ursächlicheren hervorgebracht, von dem auch das Sekundäre hervorgebracht wurde (ETh 56, 3–5). […], weil jede Ursache in sich selbst das [sc. von ihr] Verursachte vorweggenommen hat, denn sie ist auf erste Weise das, was jenes auf sekundäre Weise ist (ETh 65, 16–17). […] Alles, das etwas hypostasiert, ist [sc. innerhalb der Rangordnung der Prinzipien] höherstehend als die Natur dessen, das von ihm hypostasiert wird. Das in dem Geber selbst auf vorhergehende Weise immer schon seinen Bestand Habende (to prohyparchon) ist also auf höherstehende Weise als das Gegebene (ETh 18, 8–10).
g) Mono‑ oder Polytheismus?Sowohl als auch sowie weder noch! Ein Fazit zur Theologie, Personalität der Götter und Theodizee bei Proklos als Basis eines interreligiösen Dialogs Aufgrund der gerade skizzierten Ursachenlehre kann also zusammengefasst werden: So, wie das transzendente Eine-Gute die Henaden aus und mit sich ‚erzeugt‘ und sie, die mit ihm „auf geeinte Weise vereint sind“, bei sich hält; wie ferner das erste peras alle Bestimmt‑ bzw. Begrenztheit und die erste apeiria alle Unbegrenztheit umfassend, aber noch vorseiend vorwegnehmen – so umfasst analog auch das ‚Sein‘ als Erst-Seiendes und als erster Partizipator des Göttlichen alles partikulär Seiende (das unter ihm steht und ihm gegenüber auf sekundäre Weise ist) in geeint-ungeschiedener Weise,501 während das einzelne ‚Für-sich-Sein‘ der auf partikulärere Weise Seienden erst durch die Aktivität des vorausliegenden Prinzips ‚Sein‘ (als der ersten und universalen Partizipation am Einen) sowie durch die sekundären Partizipationen am Einen (= den sekundär partizipierten Henaden) erzeugt und ermöglicht wird. Dabei liegt das unpartizipierbare EineGute selbst in seiner Transzendenz als erster Gott allen Göttern bzw. Henaden (insofern an ihnen als der Vermittlungsinstanz des Einen vielfach partizipiert wird) voraus. Dieser monotheistische Zug in Proklos’ Theologie ist jedoch im Blick auf das göttliche Wirken – ‚Providenz‘ im weitesten Sinne – nicht ohne die Vermittlung des Transzendenten durch die Henaden bzw. die vielen Götter, die „nichts anderes sind als das partizipierte Eine“ (in Parm. 1069, 7), zu denken, die für sich 501 Als solches bezeichnet Proklos das ‚Sein‘ sogar als dem Einen am ähnlichsten, weil es auch dem ‚Leben‘ transzendent ist (was hier wiederum bedeutet, dass es auf eine umfassendere Weise als Leben ist) und durch sein Sein alles erzeugt: alle Arten von Leben, Intellekten und Seelen (ThP III, 6; 26, 2–11). Es ist also Prinzip alles Seienden, selbst aber ist es nicht ohne die ihm vorausgehende und es erzeugende Henade. Gemäß der hier vorgeschlagenen Proklos-Interpretation erzeugt das ‚Sein‘ als das Erstseiende und Prinzip des Seins alles übrige (auf partikulärere Weise) Seiende – jedoch nicht ohne die diesem zugeordneten (auf partikulärere Weise partizipierten) Henaden (ETh 137, s. o.).
g) Mono‑ oder Polytheismus?
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selbst – sprachlich unfassbar – in ihrer Nicht-Vielheit Bestand haben, aber durch das universellste Zeugungsvermögen apeiria in die Vielheit des Seienden treten und dadurch indirekt erkennbar werden: Dem Quell alles Guten also [sc. entspringt] in der Folge vieles Gute; und der arithmos der Henaden502 verharrt abgeschieden in dem Unsagbaren des Quells; diesem [sc. Quell] aber ist der erste arithmos von Hervorgehendem und Voranschreitendem verbunden, gleichsam in den Vorhöfen der Götter seinen ordnungsgemäßen Platz habend und ihr Schweigen verkündend503 (De mal. II, 14; 47, 20–26).
Genauso, wie für Proklos Transzendenz und Immanenz (bei entsprechend hinreichender Differenzierung) keine einander ausschließenden theologischen Optionen sind,504 denkt er in seiner Theologie aus einer inneren, sachlichen Notwendigkeit, nicht aber aus einer unkritischen, vereinnahmend-allversöhnlichen Intention heraus Poly‑ bzw. Kosmotheismus (viele, die Transzendenz in Immanenz vermittelnde Götter) und Monotheismus (ein transzendenter Gott) zusammen: Denn das überseiende Eine selbst ist der eine Gott, aber die um ihn in Einheit gegründeten, ebenfalls überseienden Henaden sind die vielen Götter, von denen im Bereich des intelligiblen Seins weitere göttliche Wesen ursächlich abhängig sind.505 Gott also [sc. ist] einer und Götter [sc. sind] viele, und Henade eine und viele vor den Seienden [sc. bestehende] Henaden, und Gutheit eine und viele nach der einen [sc. Gutheit bestehende] Gutheiten, aufgrund derer auch der demiurgische Intellekt gut und jeder Intellekt göttlich ist, sei er nun intellektual (noeros) oder intelligibel (noêtos). Und das auf primäre Weise Übersubstantielle [sc. ist] eines und viele [sc. sind] die Übersubstantiellen nach dem Einen (ThP III, 3; 14, 4–9).
502 Erler (1978: 54) übersetzt „Einheiten“ und deutet sie als monades. Aus dem Kontext anderer, bereits besprochener Stellen (z. B. ThP III, 3; 12–13) scheinen hier jedoch die Henaden gemeint zu sein, da von Monaden eigentlich immer dann die Rede ist, wenn das Prinzip einer ihm zu gehörigen Ausfaltungskette gemeint ist (vgl. ETh 64), während Proklos hier die Einshaftigkeit im allerersten arithmos fokussiert zwischen dem absoluten hen und den Henaden, an die sich die Ausfaltung in die Vielheit anschließt und die der Monaden-Vielheit insofern noch übergeordnet sind: Die „Henaden der Monaden haben als die eigentlichsten Prinzipien Bestand – denn überall ist das Eine Prinzip [sc. und die Henaden haben als das partizipierte Eine insofern den Stand des Einen]“ (in Parm. 1047, 26–31). Es handelt sich jedoch wesentlich um eine Unterscheidung von Aspekten: Die Henaden können Monaden sein, insofern sie als Prinzip eines bestimmten arithmos angesehen werden (vgl. im Sinne Erlers ThP II, 12; 73, 19–23). S. ferner Sheldon-Williams (1972: 69), Rijk (1992: 31) sowie Cürsgen (2007 a: 136–152). 503 Zum der Theologie angemessenen Schweigen s. o. Anm. 349 sowie Cürsgen (2007 a: 284). 504 Vgl. Helmig (2006: 277), Schmitz (2002: 455, Anm. 1) und Drews (2009: 247–258) sowie oben den Anfang von Kap. III.e. Entsprechend der sachlichen Differenzierung kann von einer Relativierung des Satzes vom Widerspruch durch Proklos m. E. nicht die Rede sein – so jedoch Cürsgen (2007 a: 181). Vgl. aber in zutreffender Weise zur Geltung des Widerspruchsaxioms und seiner Transzendierung allein durch das absolute Eine gemäß Proklos ebenfalls Cürsgen (ibd., 239, 252–3, 281). 505 Vgl. ebenso Bechtle (1999: 388).
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
Wäre für Proklos nicht der eine Gott (das überseiende Eine) von den vielen Göttern, nicht die eine Henade (peras, das zweite Eine nach dem überseienden Einen) von den vielen Henaden (als viele Partizipations‑ und Wirkweisen von peras und seinem Zeugungsvermögen apeiria) zu unterscheiden, dann wäre die Differenzierung zwischen dem einen Gott und den vielen Göttern unnötig, und alles ließe sich ‚einfach‘ zu einer Vielzahl zusammenaddieren.506 Jedoch: Das unpartizipierbare Eine ist weder dasselbe wie die vielen Götter, noch rangiert es auf derselben prinzipienhaften Ebene wie sie, da alles Viele nur als von Einheit gehalten, weil an ihr partizipierend bestehen und gedacht werden kann. Dieser Sachunterschied verhindert eine simplifizierende Addition sachlich unvergleichbarer Prinzipien zu einer bloßen ‚Anzahl‘ bzw. ‚Gesamtsumme‘. Da die vielen Götter, d. h. die vielen bzw. vielfach partizipierbare(n) Henade(n) die Entfaltung des unpartizipierbaren Einen in das ‚Sein‘ und die Seienden hinein ermöglichen, kann, wie eingangs angedeutet,507 im Sinne einer kühnen Analogie den überseienden Henaden systematisch eine grundsätzlich vergleichbare Vermittlungsfunktion wie der Seele eingeräumt werden: Wie Seele Intellekt an Körper vermittelt, so die Henaden Einheit an Seiendes. Diese ‚grobe Analogie‘ darf keinesfalls prinzipientheoretische, henologische und ontologische Unterschiede innerhalb von Proklos’ Philosophie einebnen; sie verweist nur auf den für Proklos insgesamt charakteristischen Zug der Vermittlung zwischen sachlich Differentem. Sowohl die Gemeinsamkeit, dass das absolute Eine und die Henade(n) über‑ bzw. vorseiend sind, wie auch die Differenz, dass das Eine unpartizipierbar, die Henade(n) aber partizipiert ist / sind, denkt Proklos transrational, d. h. jenseits eigentümlich für sich unterscheidbarer, rationaler Unterschiede. Gleichwohl weisen diese transrational erahnbaren, ‚uneigentlichen Distinktionen‘ dem einen Gott und den vielen Göttern jeweils eine bestimmte Systemstelle in Proklos’ Metaphysik zu und machen diese Unterscheidung des einen Gottes und der vielen Götter dann doch ‚rational‘ im Sinne einer sachlich begründeten und deshalb begreifbaren Theologie. Darüber hinaus wird genau hier sichtbar, dass erstens die Henaden – gegen Meijer508 – nicht aus Proklos’ Methexis-Theorem herausfallen: Denn im Sinne des Theorems kann die Beziehung zwischen Henaden und hen als genau die verstanden werden, welche allgemein etwas Partizipierbares zu seinem unpartizipierbaren Prinzip besitzt – nur in höherer, geeinterer Weise als im Bereich des intelligiblen Seins. Denn Proklos verneint zwar, dass die Götter etwas durch Partizipation empfangen (ETh 118), d. h., sie sind keine Partizipierenden; unter 506 S. Frede
(1999: 49), zitiert oben in Anm. 451. Kap. III.b. 508 Meijer (1992: 87) vertritt die Ansicht, der Henaden „relation with their Origin, the One, is likely to fall outside the scope of participation“. 507 S. o.
g) Mono‑ oder Polytheismus?
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dem Aspekt des Partizipierbaren sind sie jedoch ohne Weiteres innerhalb seines Methexis-Theorems integrierbar. Damit lässt sich zweitens auch eine sachliche Kontinuität zwischen Proklos und dem Mittelplatonismus zurückverfolgen: Denn Apuleius hatte ausgeführt, dass die Götter „durch keinerlei Partizipation an irgendeinem [sc. ihnen] äußeren Gut, sondern aus sich selbst gut“ sind, und Alkinoos spricht Gott gemäß der negativen Theologie sogar das Gut-Sein ab – dies jedoch nicht im sachlichen Widerspruch zu Platon oder Proklos, sondern weil er den Gedanken, dass Gott seinerseits nur Anteil haben könnte an einem von ihm verschiedenen Gut, abwehrt.509 Auch Proklos weist den Gedanken, die Götter könnten Partizipierende an etwas ihnen Vorausliegendem sein, konsequent zurück:510 Denn so drohte nur ein infiniter Regress, weil das jeweils Partizipierte das eigentliche(re) Göttliche sein müsste. Damit aber wird nur umso deutlicher erkennbar, warum Proklos die vielen Götter als Partizipierte begreift: Denn einzig und allein ihre (aus dem Überseienden erfolgende) Anteilgabe verursacht und vergöttlicht das Seiende; das Göttliche im eigentümlichen Sinn kann daher nicht selbst etwas bloß Partizipierendes sein, sonst wäre es nicht primär und spezifisch göttlich, sondern nur in abgeleitet-sekundärer Weise vergöttlicht. Vielmehr muss dem spezifisch Göttlichen, insofern es unüberbietbar göttlich ist, die Partizipierbarkeit auf primäre Weise zukommen, da nur so ein infiniter Regress mit einer immer noch höheren, göttlicheren Ebene vermieden wird. Dies bedeutet zugleich, dass die Proklos (oft und zu Unrecht) vorgeworfene Hypostasenvermehrung511 zumindest in ihrer Spitze – den Henaden – ein systematisch begründetes und rational einsehbares telos besitzt (sowohl im Sinne eines ‚Endes‘ zur Vermeidung eines infiniten Regresses wie auch einer ‚Zielgerichtetheit‘). Proklos’ überseiende Henaden fallen also weder aus seinem Methexis-Theorem heraus noch stehen sie im Widerspruch zur mittelplatonischen Auffassung, dass den Göttern nichts nur aus Partizipation eigne, sondern sie aus sich selbst heraus gut seien. Diese Kontinuität zwischen Mittel‑ und Neuplatonismus erweist Proklos’ Henadenlehre somit gerade nicht als ‚unnötigen metaphysischen Ballast‘, sondern als integralen, philosophisch stimmigen Bestandteil seiner platonischen Theologie. Schließlich sei angemerkt, dass die in der Forschung vertretene Meinung, im Unterschied zum überseienden Einen seien die Henaden aufgrund ihrer idio‑ 509 Apuleius, DDS 3 [123]; Alkinoos, did. 10, 4 (beides zitiert s. o.. Kap. II.4.2 b, Anm. 190). – Dies ist zugleich ein wesentlicher Unterschied zur partizipationstheoretisch ausgedeuteten christlichen Theologie des Origenes, welcher dem göttlichen Logos – Gott Sohn – nur ein GottSein durch Anteilhabe, also als erstes an Gott Vater Partizipierendes, zuweist und ihn zugleich als Quell der Gott-Werdung (Partizipiertes) für alle weiteren Götter denkt (in Jh. II, 2, 17–18; zur Stelle und Problematik s. u. Kap. IV.3 b). 510 Vgl. Butler (2005: 88), ebenfalls mit dem Hinweis auf ETh 118. 511 S. o. Anm. 392 und 423.
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
têtes, also ihrer individuellen Eigenheiten, durchaus personal zu verstehen,512 wenig plausibel ist. Denn, obgleich partizipierbar für das Seiende, sind die Henaden von sich selbst her doch in gleicher Weise wie das absolute, unpartizipierbare Eine überseiend und mit diesem in völliger Einfachheit geeint. D. h., der mit der Personalität oft assoziierte Gedanke einer für sich abgrenzbaren Individualität kann kaum auf die Henaden und das Eine wirklich zutreffen, insofern sie überseiend sind; vielmehr könnte es sich bei dieser Denkfigur um einen Anthropomorphismus handeln, wenn unreflektiert eine leiblich begründete Individualität, wie sie Menschen eignet, auf die Henaden übertragen wird. Dies wäre zumindest nicht in Proklos’ Sinne, denn die Henaden sind nicht von sich selbst her als Seiende unterscheidbar, sondern nur, insofern sie sekundär von Seienden partizipiert werden. Das Argument für die Personalität kann schwerlich in der bloßen Individualität liegen,513 wie sie Seiendem eignet. Wenn die obige Übersetzung und Interpretation514 zutreffend ist, dass die Henaden nicht einfach sich durch eine bestimmte idiotês unterscheiden, sondern die göttliche idiotês die Henaden unterscheidet und so das überseiende (Eine‑)Gute bei der durch die Henaden erfolgenden Erzeugung der Seienden sie (die Henaden) in verschiedene Einzel-Gutheiten ausdifferenziert (ETh 133), dann lässt sich vielleicht erahnen, dass die Henaden, da sie nicht erst sekundär durch Partizipation, sondern aus sich selbst heraus gut sind, in ihrer Gut‑ und Eigenheit mit dem absoluten Einen-Guten unmittelbar-überseiend geeint sind, ohne dass auch nur Verschiedenheit dazwischentritt, wie Proklos formuliert (ThP III, 3; 12,21–13,5).515 Dieser Umstand dürfte kaum dafür sprechen, dass die Henaden personaler als das absolute hen aufzufassen sind. Vielmehr wäre vielleicht mit einer für hen (Gott) und Henaden (Götter) gleichermaßen anzusetzenden überseienden Überpersonalität zu rechnen, die aufgrund der partizipierten Henaden lediglich leichter fassbar erscheint. Wenn Gerson (2008: 110) „the suprapersonal Idea of the Good“ im Sinne einer geringeren Personalität zu begreifen scheint 512 S. Tanaseanu-Döbler (2013: 255, 250, Anm. 20). Vgl. ebenso: „It is a straightforward matter to infer the personal attributes of the henads from the existence of these anywhere, since these henads are the unifying causal agents of these ‘series’ or ‘orders’“(Gerson 2008: 107); „Alternatively, Proclus can say that it is ‘divinity itself, ’ thereby ensuring that the first principle is completely stripped of personal attributes“ (ibd., 109). Aber auch jegliche Personalität wird den Göttern in der Forschung (teils allgemein, teils speziell im Hinblick auf die Neuplatoniker) mitunter abgesprochen: „This means, in other words, that the divine was primarily perceived by the Greeks as a power which in itself is impersonal (though not necessarily lacking in individual features), acquiring a personal form in its concrete manifestations only“ (Chlup 2012: 119); „The concept of a personified, individual deity that functions as a transcending ultimate cause is alien to the Neoplatonists“ (Siniossoglou 2010: 131). 513 Vgl. allgemein Spaemann (2012 b: 4): „ ‚Person‘ meint nicht einfach das Individuum.“ S. auch oben Anm. 229. 514 Kap. III.e. 515 Zitiert oben Kap. III.e.
g) Mono‑ oder Polytheismus?
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(ibd., 109), dann spricht der generelle Duktus der Supereminenz, also der alles Seiende überbietenden Bestandhabensweise des Einen, bei Proklos eher dagegen: Aufgrund seiner unsagbaren Einheit ist zwar letztlich jede positive Aussage über es [sc. das oberste Eine] eine unzulässige Verengung, aber wenn man das Eine nicht als Person bezeichnen wollte, so könnte man es höchstens als Über-Person oder als das beschreiben, das die letzte Quelle aller Personalität, allen Lebens und aller Erkenntnis ist (Bernard 1990: 180).516
Bereits für Plotin konnte gezeigt werden, dass er das hen on, das seiende Eine, als Fülle der Götter, ja als den Gott, der alle (seiend-intelligiblen) Götter mit sich bringt, bezeichnet.517 Ähnliches lässt sich für Proklos beobachten.518 Das geeinte Ineinander göttlicher Wesen schon auf seiender Ebene scheint der Personalität also nicht zu widersprechen; in noch eminenterer Weise sollte dies für die überseiende Über-Personalität gelten, die gerade keinem apersonalen Mangel gleichkommen kann. Das Eine hat eine unvergleichliche Eminenz, die Proklos nicht einfach im Sinne einer traditionellen Religion postuliert, sondern systematisch ableitet: Es ist die Ursache aller Vielheit und geeinten Vielheit, als Eines aber selbst vor aller Vielheit und für diese unpartizipierbar, während sich in den vielen HenadenGöttern genau diese eine Überfülle des Einen zeugend ‚entlädt‘ und so den Bereich des wahren, intelligiblen Seins und aller von diesem abhängigen Seienden (Intellekte, Seelen, Körper) sowie der Materie hervorbringt. Genau diese systemorientierte Metaphysik macht es Proklos möglich, eine exklusive Opposition von Mono‑ versus Polytheismus als vielzu vordergründig zu enttarnen. Daher sollte seine eigene Religionsphilosophie auch nicht als „Proclus’ polytheistic theology“ überschrieben werden.519 Vor allem aber ist der polytheistische Aspekt nicht unabhängig von der Einheit zu denken; zudem sind die „vielen Henaden“ nur auf überseiende Weise viele, S. außerdem oben Anm. 466. enn. V, 8 [31], 9, 14–27 (s. o. Kap. II.5 c). 518 Vgl. Cürsgen (2002: 337, Anm. 502) mit dem Hinweis auf ThP VI, 6; 30, 15–19, wo Proklos das Fressen der Kinder durch Kronos im Sinne seiner Ontologie als epistrophê deutet, während der Demiurg (Zeus) das Intelligible nach außen hin offenbart. Vgl.: „[…] the cosmos is seen by Proclus in its tripartite division as the realm of Ouranos, Cronos, and Zeus, whom he conceives respectively as the cohesive, the partitive, and the creative principle“ (Athanassiadi 1999: 160). Analog zu Plotin, enn. V, 8 [31], 12, 3–26 s. o. Kap. II.5 c sowie grundsätzlich damit vergleichbar Proklos’ Erörterung der Triaden im Bereich des wahrhaften Seins: „Di conseguenza Crono viene identificato con il dio che introduce, in quanto la comprende in se stesso, la totalità dell’Intelletto universale“ (Abbate 2008: 130); „Zeus viene identificato con il Demiurgo, ovvero il Sommo Artefice del cosmo“ (ibd., 132). Vgl. auch ibd., 120–2. 519 So aber Chlup (2012: 112–136), der gleichwohl in seinem Buch und auch speziell in diesem Kapitel viel Bedenkenswertes zu Proklos’ Theologie und Philosophie beiträgt. Gerade deshalb aber erscheint die Wahl einer solchen Kapitelüberschrift (gleichsam als ‚Etikett‘) zweifelhaft. Chlup (ibd., 188–9) sieht jedoch in der „polytheistic plurality“ der Henaden gerade eine „source of the henads’ postmodern attraction“. S. in ähnlicher Weise Butler (2005, 2014). 516 517
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
und dies bedeutet, dass sie mit dem Einen selbst auf überseiende Weise geeint sind und nicht auf seiend-verschiedene Weise von ihm abgegrenzt. Man könnte daher Proklos’ platonische Theologie so interpretieren, dass der mono‑ bzw. henotheistische520 Zug gegenüber dem des Polytheismus dominant bzw. stärker ist: Denn, wie der erste Satz der ETh bereits deutlich macht, ist alle Vielheit – areziprok – von vorausliegender Einheit abhängig und folglich das Eine als Ursache aller Einheit und Vielheit der allerhöchste Gott. Es wäre aber falsch, Proklos einseitig als ‚reinen‘ Monotheisten zu vereinnahmen, weil ganz offensichtlich ist, dass das überseiende Eine in seiner Überfülle sich über die Henaden durch ‚Grenze‘ und ‚Nicht-Grenze‘ hindurch in die Fülle des Seins ‚ergießt‘ und insofern die vielen, vom Sein partizipierten Götter prinzipiiert und verursacht. Das Eine bleibt zwar unpartizipierbar Eines, ist aber trotzdem auch (Über‑)Ursache von Vielheit. Der polytheistische Aspekt ist in Proklos’ Theologie also genauso wesensmäßig verankert und nicht bloß ‚versuchsweise in einen Monismus integriert‘.521 Wenn Cürsgen (2007 a: 296) das Verhältnis von Ein‑ und Vielheit so interpretiert: Die Entäußerung der Überfülle ist nur in eine Vielheit hinein möglich, weswegen ‚Mangelformen‘ zur Selbstentfaltung des Ursprungs unerläßlich sind […],
dann bedarf diese Auslegung in zweierlei Hinsicht einer korrigierenden Präzisierung: (1) Die „Entäußerung der Überfülle […] nur in eine Vielheit hinein“ ist kein beklagenswerter Zwang, dem das Eine – der höchste Gott – ‚bedauerlicherweise‘ unterliegt. Denn seiende Vielheit bedeutet ja geeinte Vielheit bzw. aus vielen Einheiten geeinte Einheit, d. h. diese geeinten Vielheiten spiegeln gerade positiv 520 ‚Henotheismus‘, insofern er Inklusivität implizieren soll (vgl. Siniossoglou 2010: 145–7), könnte sich vielleicht als ein zweischneidiger Begriff für Proklos’ Theologie erweisen, weil diese in bestimmter Hinsicht schon einen deutlichen Zug zum Monotheismus zeigt, insofern nur ein einziger Gott allein der Höchste sein kann (hen). Andererseits sind die anderen Götter nicht nur abhängige Emanationen des Allerhöchsten, sondern haben als autarke, authypostatische (zum Begriff s. o. 377) Wesen im Sinne des Polytheismus eine größere Eigenständigkeit als etwa die Engel als Diener Gottes im Christentum. Vgl. Cerutti (2010: 32): „There is therefore a tendency to make a distinction between a henotheism of a hierarchic nature, and an inclusive or syncretistic henotheism, and to distinguish philosophical from ordinary henotheism.“ Ob letztere Distinktion zum Platonismus passt, bleibt zu fragen, weil für Apuleius (s. Kap. II.4.2 b), Plotin (II.5 c) und Proklos (III.e–g) nachweisbar ist, dass ihre Theologie sowohl hierarchisch (hen – viele Götter – daimones) als auch inklusiv ist (Isis inkludiert die vielen Gottheiten in sich; das seiende Eine nimmt als Gottheit später ausgefaltete Unterschiede implikativ vorweg). Um diese Aspekte nicht vordergründig einem ‚henotheistischen Inklusionismus‘, insofern dieser Begriff den Aspekt der Hierarchie zu verdecken droht, ‚zu opfern‘, wurde oben zumeist mit den ‚klassischen‘ Termini ‚Mono‑ und Polytheismus‘ gearbeitet. 521 Vgl. jedoch van Riel (2001: 423): „[…] la doctrine des hénades peut être considérée comme une tentative de sauvegarder le polythéisme dans un cadre nettement moniste.“
g) Mono‑ oder Polytheismus?
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(doppelt verstanden als ‚Setzung‘ und ‚Bejahung‘) das überseiende Eine, ohne dass hier eine zwanghafte, bedauernswerte Nuance im Spiel wäre. (2) Es handelt sich deshalb auch nicht um negative „Mangelformen“, sondern um die positive Entfaltung des Seienden.522 Deplorable „Mangelformen“ im eigentlichen Sinne entstehen dagegen als Privationen in Seele und an Materie nur, falls Seelen sich vom Einen-Guten abwenden; sie sind aber nicht eidetisch begründet und schon gar nicht prädeterminiert, gehen also auch nicht auf die vom Einen prinzipiierte Seinskonstitution als solche zurück, da es gemäß Proklos keine Ideen von Übeln gibt: Nur so lässt sich eine neuplatonische Theodizee widerspruchsfrei begründen, wenn die Übel als (in ihrem Realitätsgehalt keineswegs geminderte523) Verfallsformen des wahren, intelligiblen Seins betrachtet werden können,524 die an sich keinesfalls nötig für den Weltenlauf sind,525 weil dieser anders als in der Stoa nicht vorherbestimmt,526 sondern kontingent ist – obgleich genau dies auch in der jüngeren Proklos-Forschung wieder bestritten wird.527 Proklos’ Theologie und Metaphysik ruhen auf rein argumentativer Basis auf 528 und können so als Basis eines interreligiösen Dialog dienen, welcher für sehr verschiedene religiöse und theologische Traditionen grundsätzlich anschluss522 Cürsgen
(2007 a: 304) spricht dagegen vom Sein als der „ ‚Bleibe‘ des Unvollkommenen, des nicht reinen Einen.“ Wenn gemäß Proklos das Eine selbst übervollkommen ist, eignet dem Prinzip ‚Sein‘ und seinem Bereich jedoch gerade im spezifischen Sinne die Vollkommenheit (s. ETh 24, zitiert in Kap. III.c, sowie ETh 64, zitiert in Kap. III.e). 523 Mit vollem Recht betont Chlup (2012: 218): „To conceive of evil as privation of good certainly does not mean to deny its strength.“ 524 Vgl. Drews (2009: 347–8) zu in Parm. 832,35–833, 18. 525 Die Übel sind in Proklos’ Sicht grundsätzlich vermeidbar, insofern Seelen sich nicht vom Guten abwenden, denn erst diese Abwendung bewirkt Privationen von Gutem. Obwohl Chlup (2012: 222) angemessenerweise bestimmte Standardeinwände zurückweist („One may object that […] [sc. i]n Proclus’ thought evil becomes nothing but a weak mistake without a clear source of its own. Its existence is unavoidable, yet it is no more than an unplanned error. […] – Proclus would possibly reply that it is precisely this incomprehensibility of evil that may be seen as an advantage of his theory“), schließt er dennoch im Sinne des postmodernen Paradigmas, welches die grundsätzliche Lösbarkeit derartiger Probleme von vornherein ausklammert: „Needless to say a clear answer to the question of evil’s origin is not really given in this way“ (ibd., 224); „It might appear that this approach plays evil down and belittles it“ (ibd., 229). Vgl. dazu auch oben Anm. 297. 526 Dieser wichtige Unterschied zur Stoa wird in der Forschung oft nicht hinreichend gesehen: „If Proclus differed from Plato or Epictetus, it was not in his overall attitude to injustice but merely in the degree of logical consistency and in his readiness to work out the common Stoic and Platonic conception into the most bizarre details“ (Chlup 2012: 233). Ähnlich bereits Opsomer / Steel (1999: 260), in kritischer Auseinandersetzung dazu vgl. Drews (2009: 352–7). 527 Chlup (2012: 14): „The Neoplatonic world is thus far more precisely delimited, each detail fitting in with all the others in a sophisticated way.“ Ebenso: „Their metaphysics is designed to offer to each individual reliable support and a feeling of safety, though one that is paid for by a greater degree of determinism“ (ibd., 16). An anderer Stelle relativiert Chlup (ibd., 60, 69, 223) jedoch Dodds’ (1963: 223) Rede vom „rigid monistic determinism“ bei Proklos. 528 Vgl. Tanaseanu-Döbler (2013: 263): „Es geht nicht um eine religiöse Tradition, die ja auch anders aussehen könnte, da sie letztlich kontingent ist, sondern um die tatsächliche, logisch erschließbare Beschaffenheit der Wirklichkeit.“
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III. Das vollständig entwickelte Teilhabe-Theorem bei Proklos
fähig erscheint, weil in Proklos’ System jeweils genau bestimmbar bleibt, warum sowohl einem Monotheismus wie auch einem Polytheismus jeweils ein rationaler Zug innewohnt, auch wenn Proklos einer einseitigen Verabsolutierung – in welche Richtung auch immer – vermutlich eine entschiedene Absage erteilen würde.529 Gemäß Proklos’ Selbstverständnis darf der rationale Anspruch jedoch nicht mit einem Rationalismus verwechselt werden, der das Göttliche zu bloßen Abstraktionen herabstufen wollte und z. B. der Personalität entkleidete – dies würde, wie oben gerade gezeigt, Proklos’ Verständnis von philosophischer Theologie widersprechen. In seinem Sinne geht es vielmehr darum, hinter den subtilen begrifflichen Distinktionen eine lebendige Theologie bzw. das Göttliche in seiner Lebendigkeit zu erblicken. Denn, wie die jüngere Forschung zu Recht unterstreicht, Proklos wird weder eine „stillschweigende Unterscheidung zwischen echter, lebendiger Religion einerseits und trockener blutleerer Metaphysik andererseits“ gerecht (Tanaseanu-Döbler 2013: 251, Anm. 23), noch darf seine „tiefe und sehr emotionale Frömmigkeit und Gottesbeziehung“ (ibd., 263) bei der Textinterpretation außer Acht gelassen werden. Die Stärke der proklischen Metaphysik wurde in der Geistesgeschichte mehrfach erkannt, etwa von Dionysius Areopagita und Nikolaus von Kues. Allerdings wäre vor einer Verabsolutierung auch von Proklos’ Theologie im Sinne eines vermeintlichen ‚religiösen Allheilmittels‘ ebenso zu warnen, da auch im Rahmen einer rational zugänglichen und argumentativ hinterfragbaren Metaphysik nur bestimmte Charakteristika verschiedener Religionen anschlussfähig erscheinen, jedoch nicht alle. Die Stärke wie auch die Grenze eines auf der rationalen Basis von Proklos’ Theologie führbaren interreligiösen Dialogs gilt es daher zu beachten, wenn als Abschluss dieser Untersuchung Cusanus’ Dialog De pace fidei interpretiert werden soll.530
529 Chlup (2012: 289) betont diese Anschlussfähigkeit auch, legt sie aber rein polytheistisch aus und meint zudem: „Proclus’ thought has an extreme ‘totalitarian’ tendency.“ Diese Interpretation scheint dann doch wieder die Elastizität und ‚Immunität‘ von Proklos’ theologischem Entwurf gegenüber einseitigen Vereinnahmungen zu verfehlen. 530 S. u. Kap. V.
IV. Christliche Theologie und Platonismus: Schöpfungstheologie und Ontologie, Monotheismus, Trinität und polytheistische Denkfiguren sowie die Herausforderung des neuplatonischen Methexis-Theorems 1. Überleitung: Perspektivenwechsel – von Proklos zum Christentum Um das Ziel der vorliegenden Untersuchung zu erreichen, d. h. den fiktiven interreligiösen Dialog des Cusanus von seinen systematischen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen her zu interpretieren, sind zwei lange, jeweils in sich selbst stark verästelte Traditionen und Wege – jedenfalls in einigen wichtigen Teilstrecken – abzuschreiten, die bereits bei Kirchenvätern wie Augustinus und Dionysius Areopagita, entscheidend aber noch einmal zu Beginn der Neuzeit bei Nikolaus von Kues in eine gemeinsame Linie einmünden: zum einen der Weg der platonischen Philosophie (in ihrer paganen Ausprägung), zum anderen der Weg der christlichen Offenbarungsreligion und ihrer Theologie. Bisher wurde die Wegstrecke in den Blick genommen, welche von dem Vorsokratiker Parmenides über Platon, Aristoteles und die Platoniker zu Proklos führt, dessen Partizipationstheorem und Henadenlehre für den interreligiösen Dialog des Cusanus entscheidende philosophische Voraussetzungen darstellen und dabei zugleich theologische Implikationen beinhalten. Obgleich Cusanus genuin in der platonischen Tradition steht, so ist der Kardinal doch in gleicher Weise im Christentum verwurzelt, welches er mit Hilfe der platonischen Philosophie besonders des Proklos durchdenkt. Wenn nun die Perspektive vom (Neu‑)Platonismus hin zum Christentum schwenken soll, dann mag das wie ein radikaler Bruch erscheinen, da zunächst entscheidende Unterschiede zwischen beiden Traditionen vorrangig ins Blickfeld rücken. Überraschen mag indes, dass zwei (Glaube, Liebe) der drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe (1 Kor 13, 13) zusammen mit der Wahrheit (vgl. Jh 8, 32) und der Betonung der Notwendigkeit göttlichen Beistands (vgl. 1 Kor 15, 10) auch bei Proklos einen besonderen Stellenwert einnehmen, auch wenn sie bei ihm natürlich in einem anderen Kontext zu sehen sind. So erachtet Chlup (2012: 57) Proklos als
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
putting greater emphasis on the need of divine help. Significantly, he postulates Faith (pistis531) as one of the crucial cosmic forces (together with Love and Truth) acting as a mediator between human souls and the One.532
Derartige strukturell-theologische Ähnlichkeiten können und sollen nicht die grundsätzlicheren Differenzen zwischen dem paganen Platonismus und dem christlichen Glauben überdecken, dessen zentrale Aussagen sich in einem ersten, groben Zugriff vielleicht folgendermaßen zusammenfassen lassen: Der christliche Gott ist einziger und alleiniger Gott, Schöpfer der Welt, zugleich die drei Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist; seine ultimative Offenbarung geschieht in dem Mensch gewordenen Sohn Gottes, Jesus Christus, der das Menschsein voll geteilt hat, während seines irdischen Lebens lehrend und heilend tätig war, am Kreuz auf Golgatha gestorben ist und durch seine Auferstehung von den Toten am dritten Tag den Sieg über alles Lebensfeindliche (wie Tod und schuldhafte Verfehlungen) gewirkt und ein unvergängliches Leben in Gott gebracht hat, danach zu Gott Vater aufgefahren ist, mit welchem er im Heiligen Geist eins ist; Letzterer wird zugleich ausgesandt zum Zeugnis und zur geistig-geistlichen Auferbauung der gläubigen Menschen bis zur endgültigen Wiederkunft des Sohnes zum Gericht, zur Auferstehung der Toten und zum Anbruch des „Lebens der künftigen Welt“, wie es am Ende des nizänischen Glaubensbekenntnisses heißt. Freilich ist in systematischer und theologiegeschichtlicher Hinsicht die unterschiedliche Ausdeutung einzelner Glaubensartikel in den verschiedenen christlichen Strömungen nicht zu verkennen. Diese im Einzelnen zu würdigen, kann jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Buchs mit seiner oben genannten Zielsetzung sein, weshalb eine pauschale, aber doch den Kern des christlichen Glaubens einzukreisen versuchende Skizze in Gegenüberstellung zur platonischen Tradition hier zweckdienlich erscheinen mag. Analog zum obigen Kapitel II, welches mehrere Autoren und unterschiedliche Texte der platonischen Tradition übergreifend zusammenschauen und dadurch eine Hinführung zu Proklos (Kap. III) bieten wollte, soll nun Kapitel IV einen Überblick über entscheidende christliche Autoren und Texte geben, ohne die ein Theologe wie Cusanus weder denkbar noch verstehbar wäre. Ebenfalls in Entsprechung zu Kapitel II kann auch dieser Überblick keine Vollständigkeit für sich beanspruchen, sondern soll lediglich einige hervorstechende Wegmarken präsentieren. Als Einstieg wird ein Blick auf einige Passagen der christlichen Bibel geworfen, welche für die Themen Schöpfungstheologie, Ontologie, Monotheismus und polytheistische Denkfiguren sowie für eine im weitesten Sinne zu fassende 531 Vgl.
ebenso Butler (2014: 67). verweist dabei auf Proklos, ThP I, 25; 110, 6–16. Vgl. ferner Chlup (ibd., 135). – Zum Verhältnis von Proklos und Christentum s. außerdem Tanaseanu-Döbler (2013: 262; 245, Anm. 8), zitiert oben in Kap. III.b. 532 Chlup
2. Die Bibel
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Teilhabe-Philosophie als relevant angesehen werden dürfen. Auch hier gilt: Angesichts dieses sachlichen Zusammenhangs werden die biblischen Passagen nicht vor dem Hintergrund ihrer historischen Genese und Autorengebundenheit betrachtet; im Zentrum des Interesses stehen Aussagen, welche in systematischer Hinsicht für die gerade genannten Themenfelder von entscheidender Bedeutung sind oder sein können.
2. Die Bibel: ausgewählte Passagen zur Schöpfungstheologie, Ontologie, zur Mono‑ bzw. Polytheismusfrage und zum Teilhabe-Gedanken 2.1. Methodische Vorbemerkung Das folgende Teilkapitel schaut auf Auszüge verschiedener Bücher der Bibel mit einem die christliche Heilige Schrift als Einheit begreifenden, weniger historisch als philosophisch fragenden Blick. Dabei werden zum Teil einzelne Passagen bewusst aus ihrem Kontext herausgelöst, weil es ausschließlich um deren Relevanz für übergeordnete Themen wie Teilhabe, Ontologie, Schöpfungstheologie, Mono‑ und Polytheismus geht. Außerdem werden Interpretationsmöglichkeiten erwogen, die von den heute in den theologischen Fachwissenschaften vorrangig vertretenen abweichen können: Dies geschieht nicht mit der Absicht zu polarisieren; vielmehr geht es um philosophisch-theologische Interpretationsansätze, welche unter bestimmten hermeneutischen Voraussetzungen auch möglich und letztlich eine Hinführung zu Cusanus als Christen und Platoniker in einer Person sein können. Wie es für Cusanus’ interreligiösen Dialog von entscheidender Relevanz sein wird, geht es auch hier um Dialogfähigkeit mit auf dem ersten Blick möglicherweise unvereinbar erscheinenden Ansätzen und Positionen. 2.2. Passagen zur theologischen Implikation / Nicht-Implikation des Teilhabe-Gedankens a) Ein himmlischer Schatz in irdenen Gefäßen: Teilhabe, Leiblichkeit, Person, Gott, Schöpfungstheologie und Ontologie bei Paulus (im Dialog mit platonisch-aristotelischen Auffassungen) Der Begriff ‚(An‑)Teilhabe‘ muss nicht immer dem Wort nach fallen, um der Sache nach gemeint oder impliziert zu sein.533 Eine Passage des Neuen Testaments, 533 Zum Thema ‚Partizipation‘ bei Paulus s. speziell vor dem Hintergrund des ‚in ChristusSeins‘ der Gläubigen Rehfeld (2012: 52–62, 255–9, 281–9, 297–315), zu „Glaube als Teilhabe“ s. von Dobbeler (1987), ferner die (sehr in Einzelbeobachtungen verhaftete) Wortuntersuchung von Baumert (2003) sowie vor allem jetzt den umfassenden Band von Thate / Vanhoozer / Campbell (2014): S. dort Vanhoozer (2014) zu verschiedenen Deutungsansätzen zu „Being in Christ“ und der damit implizierten „participation in Trinitarian communicative activity oriented toward
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
die zwar dem bloßen Wortlaut nach keinerlei Reminiszenz an einen philosophischen Begriff ‚Teilhabe‘, aber der Sache nach das Problem der Relation zwischen unterschiedlichen ontologischen Ebenen erkennen lässt, ist die folgende bei Paulus (ungefähr 5–60/64 n. Chr.): communion ‚in Christ‘ “ (ibd., 29). Als Lösung für eine Reihe theologischer Fragen (wie kommt jemand zum Glauben, wie verhalten sich Natur und Gnade, Schöpfung und Eschatologie zueinander etc.) votiert D. A. Campbell (2014: 58) für „a participatory account of believing“. Zum Zusammenhang von „spiritual experience“ und „divine participation“ s. Eastman (2014: 123). Zur sakramentalen Relevanz der ‚Partizipationstheologie‘ vgl. Macaskill (2014) im Hinblick auf die Eucharistie und Morales (2014) für die Taufe. Gorman (2014: 206) versteht Rechtfertigung im Zusammenhang mit „theosis“ als „the event of initial and ongoing sharing in the justice of God revealed in Christ by the power of the Spirit.“ Croasmun (2014) erörtert den Zusammenhang von „the Body of Christ and the Body of Sin in Evoluionary Perspective“ und versteht ‚reale Teilhabe‘ vor dem Hintergrund von „overlapping and conflicting corporate memberships or even world-participations“, wie sie für das menschliche Leben „under selective pressure at multiple levels“ kennzeichnend seien; er stellt abschließend fest, dass „modern scientific description ends up helping us take Pauline participation language quite literally“ (ibd., 154). C. R. Campbell (2014: 85) unterstreicht, dass Paulus’ Gebrauch von Metaphern immer (partizipatorisch) an „spiritual / material realities“ angebunden bleibt: „It is simply not true that the images he employs are mere metaphors, since Paul insists on the implications of these realities for Christian identity and conduct.“ – Letzteres Resultat erscheint deshalb als besonders wichtig, da in der Forschung ein teils inflationärer Gebrauch der Begriffe ‚Metapher, Metaphorik, metaphorisch‘ zu verzeichnen ist, bei welchen ihr Wirklichkeitsgehalt und ‑bezug, d. h. das Wohin / Worauf ihres ‚Über-Tragen-Seins‘ als Metaphern, entweder unreflektiert oder zumindest schwammig bleibt: Vgl. etwa die Rede von „der Metapher ‚Tod‘ “ bei Reinmuth (2004: 109, 106, 110, 112, 130, 140), ebenso „die Metapher ‚Sohn Gottes‘ “ (ibd., 97). Die Tendenz, alles als ‚rein metaphorisch‘ zu verstehen, führt zu einer theologischen Abstraktheit und Unbestimmtheit, in der Konsequenz letztlich zu bloßen, nicht mehr entscheidbaren „Deutemöglichkeiten“ (ibd., 97, ähnlich 101, 105): So betrachtet Reinmuth (ibd., 91, 93, 97–101, 105, 112–3) Paulus’ (!) Verständnis von Jesu Tod als das ‚Nein Gottes / der Tora‘ zu Jesus und seine Auferweckung als das ‚Ja Gottes‘. Wo aber ist im NT explizit-konkret von einem „Nein Gottes“ die Rede, noch dazu im Hinblick auf Jesus Christus? Gerade Paulus versteht Christus als das absolute Ja Gottes (vgl. 2 Kor 1, 19–20, wie freilich auch Reinmuth [ibd., 97, 100] bemerkt). Reinmuth (ibd., 91) verweist immer wieder auf Gal 3, 13, wo zwar vom Fluch des Kreuzes, nicht aber von einem „Nein Gottes“ gesprochen wird. Die metaphorisierende Abstraktion, dies als „Nein Gottes“ zu werten (und z. B. nicht als Nein der den Kreuzestod Jesu betreibenden Menschen, um eine vielleicht naheliegendere „Deutemöglichkeit“ zu erwägen, vgl. Berger 2004: 315, 623) und deshalb einen dualistischen Widerspruch von Ja und Nein in Gott selbst hineinzuprojizieren, ist keineswegs unproblematisch und erzeugt nicht zuletzt ein wohl unlösbares theodizetisches Dilemma (s. dazu Kap. VI.2). Angeblich könne – gemäß Paulus – „das Nein Gottes nicht ohne sein Ja – und das Ja nicht ohne das Nein Gottes gedacht werden“ (Reinmuth 2004: 99). Damit wird die Widersprüchlichkeit direkt in Gott selbst hineinverlegt und an höchster Stelle verankert: Um sie dennoch halbwegs aufzulösen, „gerät die Tora in die Krise. Sie hat den einzig Schuldlosen schuldig gesprochen und getötet“ (ibd., 104). Es darf bezweifelt werden, dass Paulus ein solch dualistisches Gottesverständnis vertreten haben sollte (welches zumindest das Verhältnis zwischen Gott und der von ihm selbst ausgehenden Tora unmittelbar beträfe, vgl. dagegen Rö 3, 31 b). – Die vielschichtigen Implikationen und Wechselwirkungen zwischen einer ‚metaphorisierenden Theologie‘ und der historisch-kritischen Bibelexegese können in diesem Rahmen freilich nicht angemessen diskutiert werden. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Exegese s. die grundlegenden Studien von Reiser (2007) und Berger (1986), zum Zusammenhang von Bultmanns Kerygma-Verständnis und der Rechtfertigungslehre vgl. Berger (2004: 47).
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Denn Gott, der sprach: ‚Aus der Finsternis soll534 Licht hervorstrahlen‘ (Gen 1, 3), ließ in unseren Herzen [sc. sein Licht] hervorstrahlen zur Erleuchtung, auf dass Gottes herrlicher Ruhm (doxa) im Angesicht Christi erkannt werde.535 Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit das Übermaß der vermögenden Macht (dynamis)536 sei Gottes und nicht aus uns (2 Kor 4, 6–7).
Ausgehend vom dritten Vers aus dem Buch Genesis, welcher das Licht als Schöpfung Gottes erweist, versteht Paulus die Offenbarung Gottes in Christus ebenfalls als Lichtereignis:537 Wie das irdische (Sonnen‑)Licht alles erstrahlt, so habe Gott, der Schöpfer, auch „in den Herzen“ der Menschen sein Licht als Quell der Erkenntnis leuchten lassen, und zwar als Lichtquelle dafür, dass „Gottes herrlicher Ruhm“ erkannt werde, wie er sich im Angesicht Jesu Christi spiegele. Im Angesicht Christi geht das Licht auf, welches Gottes herrlichen Ruhm ausstrahlt und ausbreitet. Erkannt werden kann es aber nur von einem Herzen, welches auch selbst von Gott erleuchtet wird bzw. sich der Erleuchtung nicht verweigert, d. h., es muss eine Entsprechung zwischen dem Licht von Gottes Herrlichkeit im Angesicht Christi und dem sie erkennenden Herzen geben. Die Gotteserkenntnis in Christus sei für den erkennenden Menschen ein „Schatz in irdenen Gefäßen“: D. h., wie ein tönernes Gefäß mit etwas gefüllt wird, das es von sich selbst her nicht besitzt, so hat der Mensch in seiner irdenirdischen Konstitution die Gotteserkenntnis ebenfalls nicht von sich aus, sondern als einen Schatz, der aus dem „Übermaß der vermögenden Macht Gottes“ kommt. Dieser Aspekt ist für Paulus entscheidend im Hinblick darauf, dass der Mensch die Gotteserkenntnis nicht als einen von ihm selbst als Menschen autark produzierbaren Glanz missversteht und sie so gerade verfehlt: Die Gotteserkenntnis wird dem Menschen als etwas von ihm dimensional und ontologisch Verschiedenes zuteil, das erst im Angesicht Jesu aufstrahlt. Erst wenn auch diese Verschiedenheit – der Schatz selbst als göttlicher und sein Umfangensein von einem irdenen Gefäß – angemessen erkannt wird, dann vermag auch Gottes Herrlichkeit wirklich zu erstrahlen, insofern diese nicht menschengemacht ist, sondern als Offenbarung in Christus aufscheint. 534 lampsei ist hier, wie allgemein üblich bei der Wiedergabe des hebräischen Jussivs / Apokopatus (jehi von hajah „geschehen, sein“) durch das griechische Futur, adhortativ-imperativisch übersetzt. 535 Wörtlich: „zum Licht / zur Erleuchtung der Erkenntnis des herrlichen Ruhmes (doxa) Gottes im Angesicht Christi“. 536 Da der griechische Begriff dynamis zunächst das bestimmte Vermögen (etwas zu wirken oder auch zu erleiden) meint und nicht (in aller Unbestimmtheit) bloß ‚Macht‘ bedeutet, welche im modernen Verständnis oft nur noch nach ‚Kraftprotzen‘ oder nach der Ausübung von (oft willkürlicher) Herrschaft über Unterlegene klingt, gebe ich es auch bei den biblischen Zitaten, die von der dynamis Gottes sprechen, als „vermögende Macht“ wieder. 537 Damit wird ersichtlich, dass es sich gemäß Paulus um denselben Schöpfergeist Gottes handelt, der als Ursache sowohl hinter der Schöpfung der Welt als auch hinter dem Christusereignis steht.
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
Trägt man der dimensionalen und ontologischen Differenz Rechnung zwischen dem „Licht der Erkenntnis des herrlichen Ruhmes Gottes im Angesicht Christi“ und den „irdenen Gefäßen“, in welchen dieses Licht als Schatz wohnt, dann ist darin impliziert, dass die irdenen Gefäße etwas um‑ bzw. auffangen und daran Anteil gewinnen, was von ihnen als Gefäß zutiefst verschieden ist. Ein solches Anteilgewinnen aber lässt sich als Form der methexis begreifen, auch wenn der Terminus selbst nicht fällt. Ohne Paulus zum Platoniker zu machen, birgt seine Rede von dem „Schatz in irdenen Gefäßen“ einen Gedanken, der in seiner philosophischen Implikation dem (neu‑)platonischen Verständnis der Anteilhabe zumindest ähnlich und vergleichbar erscheint: Die sinnlich-wahrnehmbare Materie erlangt ihre bestimmte Erkennbarkeit erst dadurch, dass sich begreifbares, intelligibles, göttliches Sein in bzw. an ihr spiegelt. Ein Dreieck aus Erde besitzt nicht qua Erde, sondern als die bestimmte Gestalt, welche an der Erde (zumindest graduell, mehr oder weniger genau) vorliegt, die begreifbare Bestimmtheit des Dreieckseins, dass seine Innenwinkelsumme der Summe von zwei rechten Winkeln gleicht. Ein rein begreifbarer Sachverhalt liegt an der ErdMaterie vor und ist doch von ihr verschieden: Er ist nur per Anteilhabe präsent, zumal in jedem einzelnen Dreieck jeweils nur eine Teilverwirklichung (wie z. B. gleichseitiges, aber nicht zugleich rechtwinkliges Dreieck) des allgemeinen, umfassenden Dreieck-Seins vorliegen kann.538 Vielleicht lässt sich in Analogie dazu, wie sich nach platonischer Auffassung generell intelligibel-eidetisches Sein in der Seele oder auch an der Materie spiegelt, bei Paulus die Anteilhabe am „Schatz“ der Gotteserkenntnis im Angesicht des Mensch gewordenen Christus begreifen. Die Anteilhabe des Irdischen am Himmlischen ist bei Paulus – ohne dass er dabei freilich philosophische Implikationen reflektiert, denn dies ist nicht das Ziel seines missionarischen Anliegens – des Öfteren als Thema präsent: Denn wir wissen, dass der, welcher den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und mit euch gemeinsam aufstehen lassen wird.539 Denn all dieses geschieht um euretwillen, damit die überfließende Gnade durch [sc. immer] mehr [sc. Menschen hindurchströmend] die Danksagung (eucharistia) wachsen lasse zum herrlichen Ruhme (doxa) Gottes. Daher werden wir nicht müde, sondern wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht, wird doch unser innerer [sc. Mensch] erneuert Tag für Tag. Denn unsere gegenwärtige, leichte Bedrängnis540 erwirkt uns zum überschwänglichen Übermaß eine ewige, schwerwiegende Herrlichkeit,541 da wir unseren Blick nicht auf das Sichtbare, sondern das Nicht-Sichtbare richten: Denn das Sichtbare ist vergänglich, das Nicht-Sichtbare aber ewig (2 Kor 4, 14–18).
Zum Dreiecks-Beispiel s. o. Kap. II.5 b sowie III.c. parastêsei wörtlich „daneben-, zur Seite stellen wird“. Gemeint ist m. E. das „an die Seite Stellen“ aller Gläubigen bei der Auferstehung der Toten, daher oben die etwas freiere Übersetzung. 540 Wörtlich: „das gegenwärtig Leichte unserer Bedrängnis“. 541 Wörtlich: „ein ewiges Gewicht an herrlichem Ruhm“. 538 539
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Für Paulus ist das menschliche Ziel des irdischen Lebens die (leibliche542) Auferstehung zusammen mit dem Erlöser Jesus Christus,543 in die alle Menschen anteilhabend einbezogen sein werden, welche mit Christus im Glauben verbunden sind bzw. „sich mit Gott versöhnen lassen“:544 Gottes „überfließende Gnade“ erreiche immer mehr Menschen, so dass die Zahl der Christus-Gläubigen und zugleich ihre Danksagung wachse, dadurch aber auch der herrliche Ruhm (des erlösenden) Gottes.545 All dies ist nur denkbar, wenn die himmlisch-ewige, nicht mit bloßen Augen sichtbare Wirklichkeit Gottes die vergänglich-sichtbare Natur der irdischen menschlichen Existenz immer mehr („Tag für Tag“) in sich hineinzieht: In seiner irdisch-leiblichen Vergänglichkeit geht zwar der äußere Mensch zugrunde, der innere Mensch aber, der das Nicht-Sichtbare zu schauen lernt, wird erneuert.546 Auch diese Ausführungen lassen sich mit dem Teilhabe-Gedanken verbinden: Das Sichtbar-Vergängliche muss Anteil gewinnen an Gottes unsichtbarer Wirklichkeit, um so innerlich erneuert zu werden und eine „schwerwiegende, ewige Herrlichkeit“ zu erlangen. Im Folgenden führt Paulus dies mit dem Bild des Umkleidetwerdens noch genauer aus: Denn wir wissen, dass, wenn das Zelt (skênos) unseres irdischen Hauses547 aufgelöst wird, wir dann einen Bau von Gott als nicht mit Händen gebautes, ewiges Haus im Himmel haben. Und in diesem [sc. irdischen Zelt] nämlich seufzen wir, da wir verlangen, unsere Behausung, die aus dem Himmel [sc. kommt], anzuziehen (ependysasthai) […]. Daher sind wir stets mutig und wissen, dass wir, solange wir daheim sind im Leib / Körper,548 fern sind von dem Herrn, wie im Exil. Denn durch den Glauben wandeln wir [sc. in unserem irdischen Leben] und nicht durch Schau (eidos). Mutig aber sind wir und in Freude ent Vgl. 1 Kor 15, 44. Vgl. Rö 7, 24–25. 544 Vgl. 2 Kor 5, 20 b (vgl. Berger 2008: 70). „[D]ie Auferweckung Jesu ist ein erstrangiges Lebenszeichen Gottes. Das Angebot der Versöhnung und der Teilhabe an der Auferstehung gibt es seitdem“ (Berger 2008: 48). 545 Mit dem Wachsen von Gottes herrlichem Ruhm korreliert Gottes Anteilgeben an seinem Namen gegenüber anderen: Es dient „der Verherrlichung Gottes (Phil 2, 11 b), wenn Gott seinen Namen auch anderen mitteilt. Dadurch wird seine Herrlichkeit größer, denn der ‚Erstreckungsraum‘ seiner absoluten Gegenwart wächst“ (Berger 2008: 67) und der Schöpfer wird „universal anerkannt“ (ibd., 63). 546 Zum inneren Menschen bei Paulus vgl. Berger (2008: 124). Der Begriff „innerer Mensch“ ist bereits in einer klassischen Passage bei Platon belegt und dort philosophisch begründet (resp. 589a7–b1). Vgl. dazu Kammler (2013: 82–93): Im Rahmen der drei menschlichen Seelenteile identifiziert Platon (1) das logistikon, d. h. die dem Menschen spezifisch zukommende Begabung des rationalen Denkens, mit dem „inneren Menschen“, (2) das thymoeides, das sich Erzürnende, Mut‑ und Schamhafte, mit einem Löwen und (3) das epithymêtikon, das Begehrende, mit einem vielköpfigen und vielgestaltigen Tier. Das logistikon ist „um das Gedeihen der anderen Teile bemüht wie ein Bauer um die ihm anvertrauten Tiere“ (Kammler 2013: 92). Zur Seelendreiteilung bei Platon vgl. außerdem Drews (2013 a: 51–60). 547 Wörtlich: „unser irdisches Haus des Zeltes“; Enallage. 548 Ich gebrauche die beiden Termini hier und im Folgenden synonym. 542 543
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schlossen, lieber im Exil fern von dem Leib und [sc. dafür] daheim zu sein bei dem Herrn (2 Kor 5, 1–8, gekürzt).
Vergleichbar mit dem Prolog des Johannes-Evangeliums, wo davon die Rede ist, dass der Logos tou Theou, das Wort Gottes, „unter uns“, d. h. als Mensch unter Menschen, „gezeltet (eskênôsen) hat“,549 wird auch hier der irdische Leib von Paulus mit einem Zelt verglichen, welches durch den Tod „aufgelöst“ bzw. vernichtet wird – ähnlich, wie ein Zelt sowohl aufgeschlagen als auch wieder abgebaut werden kann.550 Die Hoffnung und die Ursache für Zuversicht und Mut ist für Paulus im Ausblick auf ein „himmlisches Haus“ gegründet, welches „ewig“ und „nicht mit Händen gemacht“ ist. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen der irdischen und der himmlischen Heimat eröffnen sich zwei Blickrichtungen, wobei zweimal der Begriff des Lebens im Exil (ekdêmeo) fällt: einmal von der Perspektive des Lebens im irdischen Leib, welches in Bezug auf Gott einem Exil gleicht, weil hier keine „Schau“ Gottes, sondern nur „Glaube“ möglich sei; zum anderen von der Perspektive des zukünftigen, ewigen Lebens bei Gott, welches deshalb vorzuziehen sei gegenüber dem hiesigen, weil es besser sei, das Exil des Leibes zu verlassen und dafür bei Gott seine Heimat zu finden. Dabei ist der Begriff des „Anziehens“ (ependysasthai) bzw. Umkleidetwerdens zentral und zeigt, wenn seine begrifflichen Voraussetzungen reflektiert werden, eine Verwandtschaft mit dem Teilhabe-Gedanken: Denn Subjekt in Paulus’ Ausführungen ist ein „wir“, welches offenbar in unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen bzw. ‚Welten‘ beheimatet sein kann: im irdischen Leib oder in einer ewigen himmlischen Behausung. D. h., das „wir“, entweder als Gemeinschaft menschlicher Personen in ihrer Gesamtheit oder als Vielheit einzelner Individuen interpretierbar,551 zielt in jedem Fall auf die personale Identität auch des einzelnen Menschen, welche dann aber nicht nur von der irdisch-vergänglichen Leiblichkeit begründet werden kann, sondern auch unabhängig von dieser in einer „ewigen, himmlischen Behausung“ beheimat sein können muss. Das „wir“ bzw. die personale Identität eines jeden einzelnen Menschen, welche zugleich in Gemeinschaft mit anderen Menschen eingebettet ist, muss nach Paulus’ Ausführungen also sein / ihr „Zelt“ sowohl im irdischen Leib aufzuschlagen als auch eine „himmlische Behausung anzuziehen“ in der Lage sein: Das „wir“ hat demnach in seiner irdischen Existenz sowohl Anteil an der vergänglichen, empirischmateriellen Welt, soll aber auch Anteil an einer unvergänglichen552 „Heimat Jo 1, 14 a. Paulus war selbst Zeltmacher (Berger 2008: 26). 551 Vgl. Rehfeld (2012: 75–78) dazu, dass der Mensch von Paulus nie als autonomes Individuum, sondern ontologisch als relationales, in Beziehungen stehendenes Wesen angesehen wird: „[…] der Mensch ist seine Beziehungen“ (ibd., 77). S. ebenso von Dobbeler (1987: 315) sowie Berger (2008: 24). 552 S. o. 2 Kor 4, 18. 549 550
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bei dem Herrn“, d. h. bei dem auferstandenen Jesus Christus553 bzw. bei Gott554 gewinnen können. Anders als von der begrifflichen Voraussetzung, dass dieses „wir“ an verschiedenen Welten und Wirklichkeiten partizipieren kann, wären diese Ausführungen schwer verständlich.555 Auch in dieser Passage fällt der Terminus ‚Anteilhabe‘ in keiner Weise, jedoch scheint etwas impliziert, was mit seiner Hilfe verständlich werden kann. Trotzdem bleibt zunächst zu fragen, mit welchen Begriffen Paulus selbst seine Theologie durchdenkt. Im Hinblick auf die Unterscheidung der beiden Exile respektive Beheimatungen menschlicher Personalität ist Paulus’ Rede von zwei Arten von Leibern / Körpern im ersten Korintherbrief von entscheidender Relevanz: Hier differenziert der Apostel zwischen „himmlischen“ (epourania) und „irdischen Körpern / Leibern“ (epigeia sômata).556 „Gesät“ werde, wie meist in Übersetzungen moderner Sprachen (etwa auf Deutsch und Englisch zu lesen), ein „natürlicher Leib (sôma psychikon), auferweckt aber ein geistiger Leib (sôma pneumatikon).“557 Exkurs: Die Begriffe ‚Seele‘, ‚seelisch‘ – Bibel versus Platon oder versus Descartes? Weite Teile moderner Theologie warnen eindringlich davor, die angeblich ‚verfremdenden‘ platonisch-aristotelischen Seelen-Begriffe für das Neue Testament oder auch allgemein für die Bibel in Anschlag zu bringen, wobei ein genereller antimetaphysischer Reflex,558 welcher sich zum einen der Kritik der Aufklärung an allem vermeintlich ‚Mystischen‘ sowie zum anderen der (kaum thematisier2 Kor 4, 14. S. o. 2 Kor 5, 1. 555 Vgl. Bergers (2008: 62) Ausführungen: „Dabei bleibt zwischen irdischem Leben und globaler neuer Schöpfung durch den Zwischenzustand hindurch die persönliche Identität (der ‚Name‘) erhalten.“ 556 1 Kor 15, 40 a. 557 1 Kor 15, 44 a. 558 So z. B. Janowski (2013: 43–44), der zudem für den Verzicht auf die Übersetzung von hebr. nefesch mit „Seele“ plädiert. Als antimetaphysischer Reflex darf wohl auch die (Um‑)Deutung des ewigen Lebens bei Zumstein (2013: 80) mit Bezug auf das Johannes-Evangelium verstanden werden: „Das ewige Leben ist keine Gabe nach dem physischen Tod, sondern es wird in der Nachfolge Jesu bereits in dieser Lebenszeit zur Wirklichkeit. Der Begriff ‚ewiges Leben‘ evoziert nicht in erster Linie ein jenseitiges Leben mit unbegrenzter Dauer, sondern es geht um einen qualitativen Begriff, der das vollendete, von Gott gegebene Leben bezeichnet. Von daher ist der natürliche Tod für den Glaubenden, der das ewige Leben schon empfangen hat, kein Verhängnis mehr.“ Während nicht in Abrede gestellt werden soll, dass das ewige Leben nach Johannes bereits im Hier und Jetzt beginnt und gerade deshalb auch die Todesangst als überwunden gelten kann, so erscheint die Negation des Aspekts, dass das ‚ewige Leben‘, insofern es ewig sein und überhaupt als den Tod überwindendes Geschenk begriffen werden können soll, zugleich auch „ein jenseitiges Leben“ sein muss, als eine mehr oder weniger verdeckte Spielart des eliminativen Reduktionismus: Das „ewige Leben“ wird zur abstrakten Qualität der ‚Vollendung‘, wobei dann nicht zu sagen wäre, ob dieses ‚ewige Leben‘ nicht schlicht im Tod-Sein seine ‚Vollendung‘ findet, insofern es danach in jeglicher Hinsicht beendet ist (was Zumstein, s. o., jedoch so nicht ausspricht). Sollte ein neutestamentlicher Autor wie Johannes also nicht doch zwischen Voll553 S. o. 554
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ten) Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen, empiristischen Weltbildes verdankt, nicht zu verkennen ist.559 Unbestreitbar richtig an einer solchen Warnung ist, dass auf keinen Fall ‚einfach vorausgesetzt‘ werden kann, die griechischen Termini psychê, psychikon im NT müssten mit deren platonisch-aristotelischem Verständnis deckungsgleich sein. Zu Recht wird auf den jüdisch-christlichen Hintergrund etwa der nefesch in der hebräischen Bibel verwiesen. Eine Überbetonung der immer schon absolut gesetzten und ‚sicher gewussten‘ Differenz zwischen griechischem und biblischem Denken könnte umgekehrt jedoch ebenfalls Gefahr laufen, für etwaige verbindende Aspekte zwischen diesen beiden als ‚zwei Traditionen‘ zusammengefassten Denkweisen blind zu sein: Die Meinung, dass, egal wie man entsprechende Passagen des NT zu interpretieren habe, auf jeden Fall alles griechisch-platonische Denken in größtmögliche Ferne zu ‚verbannen‘ sei,560 könnte sich zumindest theoretisch als ein ähnlich verhängnisvolles Vorurteil erweisen wie eine vorschnelle Identifikation beider Denktraditionen. Denn es ist, wie inzwischen von verschiedener Seite gezeigt, sehr fraglich, ob nicht ‚der‘ platonisch-aristotelische Seelen-Begriff, wie er im modernen Denken im Sinne eines Leib-Seele-Dualismus oft gebraucht und als Vergleichspunkt veranschlagt wird,561 doch in sich bereits wesentlich cartesianisch überfremdet ist.562 endung und Ewigkeit zu unterscheiden gewusst haben? Zu Tod und ewigem Leben vgl. Berger (2004: 598). 559 Vgl. dazu Schmitt (2003 a: 3). Eine kurze, kritische Auseinandersetzung mit diesem grundsätzlichen Problem versuche ich in Drews (2011: 57–60). 560 Bezeichnenderweise sind es bei Paulus’ Predigt über Jesus und die Auferstehung (in Athen) Stoiker und Epikureer, die sich über seine Rede mokieren (Apg 17, 17–18). Zumindest trifft Lukas hier keine Aussage über potentielle Entgegnungen aus platonisch-aristotelischer Sicht. 561 So z. B. bei Zumstein (2013: 73), Janowski (2013: 42–43), Bruns (2013 b: 211), Aland (1998: 276), Dihle (1998: 229); Ratzinger – Benedikt XVI. (2005: 329–335), der jedoch keine Elimination des Seelenbegriffs intendiert: „Damit ist nicht gesagt, dass die Redeweise von der Seele falsch sei (wie ein einseitiger und unkritischer Biblizismus heute gelegentlich behauptet); sie ist in gewisser Hinsicht sogar notwendig, um das Ganze dessen zu sagen, worum es hier geht. Aber sie ist andererseits auch ergänzungsbedürftig, wenn man nicht in eine dualistische Konzeption zurückfallen will […].“ 562 Dazu, dass Platons Auffassungen von Leib und Seele nicht als „unüberbrückbarer Dualismus“ interpretiert werden sollten, s. mit einem Vergleich von Platon und der Neuen Phänomenologie Kammler (2013). Dass es zu folgenreichen Verzerrungen führt, wenn die platonische Seelenlehre durch eine cartesianisch-kantianische Brille betrachtet wird, zeigt Büttner (2000: 18–130). Zur Abgrenzung der aristotelischen Seelenlehre gegenüber Kant und Descartes s. Bernard (1988). Zu einem grundlegenden philosophischen Vergleich von Descartes und Platon s. Schmitt (2011); s. ders. (2003: 283–340) zur Gegenüberstellung eines bewusstseinsphilosophisch respektive unterscheidungsphilosophisch begründeten Seelenbegriffs, wobei Letzterer – also der platonisch-aristotelische – gerade nicht einer Widerlegung durch die moderne Naturwissenschaft, besonders die Neurobiologie anheim fällt (Schmitt 2003 b). Zum selben Problemkreis, speziell der Frage, ob die naturwissenschaftliche Sichtweise, der Geist sei ein bloßes Epiphänomen des Gehirns, d. h. der Materie, einfach unkritisch übernommen werden sollte, vgl.
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Unbestreitbar ist ferner die philologische Tatsache, dass Paulus’ Terminus für „natürlicher Leib“ auf Griechisch sôma psychikon heißt, wörtlich: „seelischer Leib / Körper“. Sollte diese Übersetzung und die Assoziation des Begriffs mit griechischer, speziell platonisch-aristotelischer Philosophie gleichsam ‚dogmatisch besser verboten‘ bleiben? Dies hängt entscheidend davon ab, ‚was für ein Platon‘ hier als Vergleichspunkt dienen soll: Wenn klar wird, dass das platonisch-aristotelische Seelenverständnis nicht mit einem neuzeitlichen, cartesischen Dualismus zwischen Körper und Seele verwechselt oder gar identifiziert werden darf,563 gemäß welchem ‚Seele‘ nur noch als das „seiner selbst bewusste, nichtausgedehnte Ding“ (res cogitans) im Unterschied zum Körper als „ausgedehntem Ding“ (res extensa) gilt und folglich das ‚Ich‘ ausschließlich mit der res cogitans identifiziert wird und so in seiner Existenz völlig bezugslos zu dem auf seine bloße Ausdehnung reduzierten Körper erscheint, dann kann z. B. Platon nicht mehr als Zielschiebe für ontologische Dualismen herhalten. Denn für ihn spaltet sich der Mensch nicht dualistisch in Seele und Körper auf, sondern die Seele fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen Intellekt (nous) und Körper, indem sie Letzterem anteilhaft seine bestimmte Struktur und Lebendigkeit vermittelt: Seele ist selbst ein ‚Produkt‘ des Intelligiblen, etwas vom Geist Hervorgebrachtes, und Prinzip des Lebens für von ihr beseelte Materie, d. h. für lebendige Körper.564 Beide Begriffe erscheinen bei Platon somit keineswegs so abstrakt-blutleer wie bei Descartes: Für Platon ist der beseelte Körper kein bloßes ‚Stück messbarer Ausdehnung‘, sondern etwas Lebendiges; und die Seele ist platonisch nicht einfach das in sich selbst geradezu ‚eingeigelt‘ erscheinende Ich-Bewusstsein (idea meî ipsius, quatenus sum tantùm res cogitans), welches für Descartes allein das (somit entleibte) ‚Ich‘ ausmachen soll (certum est me a corpore meo revera esse distinctum),565 sondern steht bei Platon in ihrer Lebens‑ und Denkaktivität in direkter Beziehung zu ihrem Körper. Auch wenn bei Platon eine (absteigende) Hierarchie von Intellekt – Seele – Körper nicht zu leugnen ist, lässt sich doch nicht sagen, dass diese drei das Menschsein ausmachenden Teile bezugslos und voneinander getrennt wären: Vielmehr ist es gerade die Seele, welche das intelligible Leben des Intellekts nach außen, an sinnlich-wahrnehmbare Materie vermittelt und ihrem Körper fürsorglich zugetan ist, auch wenn ihre eigentliche, himmlische Heimat für Platon im Intelligiblen besteht und sie diese höher schätzen soll als den Körper.566 Drews (2011: 58–60). Auch am Beispiel von Augustinus lässt sich zeigen, dass sein Seelenbegriff im Gegensatz zum cartesianischen nicht von der neurobiologischen Kritik getroffen oder gar ‚widerlegt‘ wird (Drews 2013 b: 91–94). Zur systematischen und historischen Entwicklung der Seelenlehre innerhalb des Platonismus s. Drews (2013 a; 2017 b). 563 S. die vorhergehende Anm.. 564 Vgl. oben Kap. II.2. 565 R. Descartes, Meditatio Sexta [9] 77/78. 566 S. vor allem Platon, Phaidon und dazu Kammler (2013: 24–34) mit dem Nachweis, dass auch der Philosoph, welcher sich in Vorbereitung auf seinen Tod „soweit möglich“ vom Körper-
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Wenn also Seele platonisch nicht als ein ‚seiner selbst bewusstes Ding‘, sondern als Lebensursache für (irdische) Körper verstanden werden kann, dann ist ein lebendiger Körper ohne eine ihn belebende Seele gar nicht denkbar, denn ohne sie wäre er ein totes Relikt ohne eigene Lebendigkeit – wie ein Stein. D. h., Körper und Seele sind platonisch zwar sachlich unterscheidbar, bilden aber bei einem lebendigen Körper, insofern er lebendiger Körper ist, eine untrennbare, ganzheitliche Einheit: Die Seele ist Lebensursache für genau den Körper, welcher zu ihr gehört und in welchem sie ‚inkorporiert‘ ist; der Körper verdankt seine Struktur und seine Lebendigkeit in allen seinen Körperfunktionen der ihm zugehörigen Seele. Begreift man nun die Seele als Lebensprinzip / -ursache für den jeweils ihr eigenen Körper, dann bedarf es keiner künstlichen Überfremdung der christlichen Bibel durch Platon, um die Frage zu stellen, ob nicht auch das biblische Denken ‚Seele‘ (psychê, nefesch) begrifflich in aller Grundsätzlichkeit damit in Verbindung bringt, dass einem Körper die Lebendigkeit vermittelt wird: Auch in der bildlichen Rede davon, dass z. B. im zweiten Schöpfungsbericht der Genesis Adam der „Lebensodem“ (nischmat chajjim567) eingehaucht wird, scheint dieser begriffliche Zusammenhang impliziert.568 Der Alttestamentler Bernd Janowski (2013: 34) macht geltend, dass der Mensch hier „insgesamt zu einer nefesch chajjah“, zu einer „lebendigen Seele“ wird. Vergleicht man damit gerade das nicht-dualistische Seelenverständnis Platons, gemäß welchem ein lebendiger Körper nur er selbst ist, wenn er eine Einheit mit der ihn beseelenden psychê bildet, dann entsteht zumindest kein fundamentaler Gegensatz. Janowski selbst (2013: 35) fasst die Eigenschaften der nefesch unter dem Oberbegriff „Leben“ bzw. „Lebenskraft“ zusammen: Ohne dass hier eine Bezugnahme auf Platon intendiert ist, erscheint dieses Verständnis von nefesch in aller Grundsätzlichkeit an den gerade gegen Descartes abgegrenzten Seelenbegriff Platons durchaus anschlussfähig. Dabei dürfen und sollten gewichtige Unterschiede nicht nivelliert werden: Wenn bei Platon und vielleicht auch im Alten Testament die Seele ganz allgemein mit „Lebenskraft, Lebensursache“ assoziiert wird, kann dies selbstverständlich nicht bedeuten, dass dann ebenfalls etwa die platonische Reinkarnationslehre auch für die hebräische Bibel zu veranschlagen wäre. Wenn die Seele Lebenskraft, Lebensursache für den ihr zugehörigen Körper ist, vermittelt sie ihm anteilhaft lichen nicht behindern lassen, sondern sich dem Intelligiblen zuwenden und so die beim Tod (!) erfolgende Trennung von Körper und Seele vorbereiten soll, nicht strikt oder gar total vom Körper getrennt leben kann. Nicht ohne Grund (s. Kammler ibd., 28) beschreibt Sokrates (im Anschluss an bestimmte Geheimlehren) das ‚im-Körper-Sein‘ als phroura (Phd. 62b1–9), d. h. als „göttliche Obhut“, welche der Mensch nicht ohne notwendigen Zwang verlassen solle (etwa durch Suizid). Diese Ausführungen wären unpassend, wäre der Körper nach Platons Auffassung nur verachtenswert (wie z. B. in der Stoa: vgl. Mark Aurel, Med. II, 2; VIII, 38; XII, 1; IV, 41). 567 Vgl. die Übersetzung bei Janowski (2013: 33): „Hauch des Lebens“. 568 Gen 2, 7. S. zur Stelle Janowski (2013: 33–34).
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Leben, insofern der Körper selbst trotzdem sterblich bleibt, aber (auf Zeit) einen Anteil an Lebendigkeit gewinnt. Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass Gott als Schöpfer universale und letzte Ursache von Leben und Sein ist: Wenn im zweiten Schöpfungsbericht Gott Adam den Lebensodem (nischmat chajjim) einbläst und Adam so zur einer ne‑ fesch chajjah“, zu einer „lebendigen Seele“ wird, dann könnte ein wohlwollender Platoniker dies mit seinen Begriffen so interpretieren, dass eher die nischmat chajjim seinem Begriff von Seele (psychê) als Lebensursache entsprechen könnte, die nefesch chajjah als entstehende Einheit aus Leib und dem ihm gespendeten Lebensodem dagegen eher der Einheit des Menschen aus Körper und Seele, wobei auch für einen Platoniker die Seele nicht einfach ‚von selbst‘ da ist, sondern sich dem Göttlichen (den intelligiblen Ideen und letztlich dem überseienden Einen als höchstem Gott) verdankt. Und auch wenn man nischmat chajjim und nefesch chajjah eher synonym verstehen wollte,569 so wäre auch dies z. B. für einen Aristoteliker oder einen Neuplatoniker, der geschult ist durch Aristoteles’ Kritik an einer missverstandenen, abstrakte Allgemeinbegriffe zu Ideen hypostasierenden, pseudo-platonischen Ideenlehre, philosophisch gut verständlich: Die Frage, ob der Lebensodem selbst (nischmat chajjim) oder die nefesch chajjah („lebendige Seele“), welche nach Janowski den durch den eingeblasenen Lebensodem entstehenden Menschen in seiner Ganzheit bezeichnet, als „Seele“ zu begreifen sei, kann analog betrachtet werden zu dem Problem, was nach Aristoteles eigentlich als „Substanz“ verstanden werden darf:570 Wie Thiel gezeigt hat, kann als Substanz gemäß Aristoteles (1) ein in der empirisch-materiellen Welt vorkommendes „Einzelding, und zwar als synholon, als aus Form und Materie zusammengesetztes Ganzes“ gelten (z. B. ein Mensch als ganzheitliche Einheit aus Seele und Körper); in anderer Hinsicht (2) kann Substanz aber auch und in besonderer, eigentümlicherer Weise das eidos, das jeweils sachhaltige Sein von Etwas Bestimmende sein571 (z. B. die Seele eines Menschen, insofern sie seine Lebensursache, sein Leben als diese bestimmte Person mit bestimmten Neigungen, Erkenntnishaltungen etc. ist). Warum diese Doppeldeutigkeit? Weil das Sach-Bestimmende gemäß aristotelischer (und auch platonischer) Auffassung jeweils das begreifbare Sein (eidos) und vermögende „Werk“ (ergon) von Etwas ist. Um ein einfaches Beispiel zu wählen: Eine Schere (als Einzelding) ist ‚Schere‘ nicht gemäß ihrer Materie (Stahl) oder von ihren Akzidentien (‚schwarz‘, ‚10 cm lang‘) her, sondern ausschließlich deshalb, weil sie in ihrem materialisiert vorliegenden Sein, d. h. gemäß ihrem (materiegebundenen) Eidos, das begreifbare Vermögen realisiert, schneiden zu können. Genau diese Sachbestimmung macht sie zur Schere. Diese 569 Vgl. in dieser Hinsicht Janowski (2013: 36), der in seiner Übersetzung von Ps 88, 4 nefesch und chajjim beides ununterschieden mit „mein Leben“ übersetzt. 570 Vgl. oben Kap. II.3. 571 Thiel (2004: 65).
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Sachbestimmung des Schneidenkönnens ist zunächst jedoch eine begreifbare Seinsmöglichkeit: Zwei scharfe Kanten bewegen sich um ein gemeinsames Zentrum und durchtrennen so bestimmtes, durch sie schneidbares Material (z. B. Papier). Das, was eine Schere wesentlich ausmacht, damit sie ‚Schere‘ ist, besteht in dieser begreifbaren Möglichkeit. Ein Einzelding wird in seinem spezifischem Sein genau nach dieser in ihm materialisiert vorliegenden Seinsmöglichkeit benannt, weil es sie auf ‚seiende, existierende Weise‘ verwirklicht.572 Analog könnte ein einzelner Mensch in zweifacher Weise als ‚Seele‘ verstanden werden: im ersten Fall (1) als dieses bestimmte Wesen eines beseelten Körpers, welches in dem, was es wesentlich-substantiell ausmacht, von seinen Handlungen, seinen charakterlichen Dispositionen, Vorlieben, Erkenntnishaltungen und Begabungen her begriffen wird. All dies sind Wesensmerkmale, welche ein bestimmter Mensch als Ganzheit (synholon) aus Körper und Seele besitzt: Seine Handlungen und Begabungen vollzieht er als Körperwesen, welches jedoch nicht einfach nur ‚Körper‘ ist wie ein Stein, sondern lebendiger, beseelter Körper: Denn die Ursache der Lebendigkeit ist für Aristoteles die Seele; alle besonderen, die Lebendigkeit implizierenden Vermögen, zu erkennen, zu lieben etc. hat ein Körper nicht von sich aus, sondern aus seiner Beseeltheit, die ihn wesentlich von einem toten, leblosen Körper unterscheiden. Insofern kann der ganze Mensch aus Seele und Körper als ‚Seele‘ begriffen werden, weil der entscheidende Unterschied (die differentia specifica) seines So-Bestimmt-Seins in seiner Seele begründet ist. Appliziert auf den zweiten biblischen Schöpfungsbericht korrespondiert diese aristotelische Betrachtungsweise eines Menschen als Seele mit der nefesch chajjah („lebendige Seele“), welche nach Janowski den durch den eingeblasenen Lebensodem entstehenden Menschen in seiner Ganzheit bezeichnet. Im zweiten Fall (2) ist natürlich auch die Seele für sich selbst als geistige Substanz betrachtet ‚Seele‘, insofern sie lebendig und für den Körper, mit welchem sie eine ganzheitliche Einheit bildet, Ursache von Lebendigkeit ist. In diesem Sinne könnte die Seele als Substanz mit dem Lebensodem (nischmat chajjim) in Verbindung gebracht werden, welchen der biblische Gott dem entstehenden Menschen einhaucht. Alle hier skizzierten Ausführungen haben nicht das Ziel, wie in einer ‚allversöhnlichen Harmonisierung‘ bestehende Unterschiede schlicht zu nivellieren. Sie wollen lediglich darauf hinweisen, dass allzu rigide Abgrenzungen ihrerseits ebenfalls Gefahr laufen könnten, bestimmte Anschlussfähigkeiten verschiedener Denktraditionen allzu schnell und apodiktisch auszublenden. ‚Idealerweise‘ geht es also um eine möglichst sachangemessene Balance zwischen Unterschieden und Überschneidungen. *** 572 „Denn das, was es ist, […] ist das Compositum aus ontologischer Sicht stets von seinem eidos, seiner substantiellen Form her“ (Thiel 2004: 66).
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Nach diesem Exkurs wird nun vielleicht deutlicher, warum bei der anliegenden Paulus-Stelle 1 Kor 15, 44 die Übersetzung von sôma psychikon mit „natürlicher Leib“ im Hinblick auf den Menschen weniger zielführend erscheint, weil sie dem Unterschied zwischen belebtem und unbelebtem Körper nicht gerecht wird: Während ‚Leib‘ zwar begrifflich für Mensch und Tier reserviert ist und insofern auf ein ‚animalisches Lebewesen‘ verweist, bezeichnet ‚natürlich‘ im Deutschen zunächst einmal nur das, was ‚in der Natur vorkommt‘ bzw. ‚was den Gesetzen der Natur entspricht‘:573 Auch ein toter Körper eines Tieres oder Menschen wäre insofern noch ein ‚natürlicher Leib‘, als er ein Körper eines gestorbenen Lebewesens ist, ‚in der Natur vorkommt‘ und nichts ‚Unnatürliches‘ ist. Die Junktur sôma psychikon hat bei Paulus aber eindeutig die Konnation eines lebendigen Leibes / Körpers: Er ist zwar sterblich (‚lebendig auf Zeit‘); dass er aber zunächst einmal überhaupt ‚in der Natur vorkommt‘, liegt in seiner primären Lebendigkeit begründet. Das Spezifikum der Belebtheit eines Körpers ist also wesentlich im Begriff des sôma psychikon impliziert, bevor Paulus die weitergehende Differenzierung zwischen „seelischem“ und „geistigem (Auferstehungs‑)Leib“ vornehmen kann. Diese Belebtheit, so konnte am Beispiel des zweiten Schöpfungsberichts festgehalten werden, besteht für einen grundlegenden Text der hebräischen Bibel in der nischmat chajjim bzw. der nefesch chajjah, welche der leblosen Natur im Unterschied etwa zu Menschen und Tieren nicht eignet. Fasst man psychê im weitesten Sinne als Lebenskraft bzw. Ursache der Lebendigkeit für Körper / Leiber auf, dann ergibt die wörtlichere Wiedergabe von sôma psychikon mit „seelischer Körper / Leib“ vielleicht doch einen besseren, prägnanteren Sinn, da eindeutig ein Körper / Leib gemeint ist, welcher lebendig ist – und zwar dadurch, dass er „seelisch“, d. h. beseelt oder einer Seele zugehörig ist.574 Dieser prägnante Sinn wird in der Übersetzung und Interpretation als ‚natürlicher Leib‘ wenigstens verwischt, wenn nicht aufgegeben. Auch wenn man für Paulus mit gutem Grund eher das hebräisch-jüdische Verständnis von psychikon voraussetzen möchte, könnte es also doch von Vorteil sein, sôma psychikon mit „seelischer Leib / Körper“ zu übersetzen. Aber selbst für einen wohlwollend interpretierenden Platoniker, welcher von der Anteilhabe eines lebendigen Körpers an einer ihn belebenden Seele ausgeht, die ihm nur deshalb Leben zu vermitteln vermag, weil sie aus dem Quell der Lebendigkeit, Vgl. Störig (1990: 692/3). In aller Grundsätzlichkeit ist dabei zunächst zweitrangig, wie das Verhältnis von Körper und Seele genauer gefasst wird: Ob die Seele ihren Träger im Blut, auf der Haut, im Kopf, im Herzen usw. hat oder ob der menschliche Körper, insofern er lebendig ist, als ganzer Träger der Seele und diese für den ihr zugehörigen Körper das wesensbestimmende Eidos und Ursache der aktualen Lebendigkeit ist (so Aristoteles, de an. 412a19–21), ist zwar keinesfalls unwesentlich, aber im ersten Zugriff noch nicht entscheidend. Wichtiger ist dagegen die Frage, ob der Träger (materialistisch) mit der Seele identifiziert wird, so dass die Seele innerhalb einer Anthropologie auch ersatzlos eliminiert werden könnte, oder ob ‚Träger‘ wirklich nur als Träger verstanden wird, ohne dass die Seele dabei ihren eigenen Stellenwert verliert. 573 574
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d. h. aus dem Geistig-Intelligiblen heraus ihr Sein hat, wäre Paulus’ Begriffsbildung ohne Weiteres innerhalb der Kategorien Körper-Seele-Geist verständlich. Ein solcher, vermeintlicher ‚Platonismus‘, dass das Leben ursächlich aus dem Geist / Intellekt kommt, ist auch der christlichen Bibel in aller Grundsätzlichkeit keineswegs fremd: Die ruach elohim, der Geist Gottes, „schwebt“ zu Beginn der Genesis (1, 2 b) „über den Wassern“, und dadurch, dass Gott spricht, wird die Welt erschaffen; ebenso heißt es zu Beginn des Johannes-Evangeliums, dass alles durch Gottes Wort (logos tou theou) geschaffen wurde und dass „in ihm“, dem Wort, „das Leben war“.575 Auch hier ist es in aller Grundsätzlichkeit der Geist bzw. das Wort Gottes, welches der „Quell des Lebens“ ist,576 d. h. aus welchem alles Leben, alle Beseeltheit ihren Anfang nimmt und ihre Ursache hat. Auch für Paulus selbst ist Gottes Schöpfergeist tatsächlich Geist und soll als solcher erkannt werden: Denn seine [sc. Gottes] Unsichtbarkeit (ta ahorata) wird von der Gründung des Kosmos an anhand der Schöpfungen [sc. Gottes] geschaut als etwas geistig-intellekthaft Erkennbares577 (nooumena), die Ewigkeit578 sowohl seiner vermögenden Macht (dynamis) als auch seiner Gottheit (theiotês)579 (Rö 1, 20). 575 Jh
1, 3–4 a. Vgl. Ps 36, 10 a. 577 Wörtlich: „als geistig-intellekthaft / noetisch Erkanntwerdendes“. Um diese Sperrigkeit zu vermeiden, übersetze ich oben „Erkennbares“, da es inhaltlich um das Erkanntwerden und Erkanntwerdenkönnen geht. – Zu Gottes wesentlicher Unsichtbarkeit im NT vgl. auch 1 Tim 6, 16 b. 578 Da ich dynamis als „vermögende Macht“ wiedergebe (s. Anm. 536), übersetze ich das Attribut aidios „ewig“ hier mit dem Substantiv „Ewigkeit“, wobei aidios sich m. E. inhaltlich sowohl auf dynamis als auch auf theiotês bezieht. 579 Die Luther-Übersetzung (revidierte Fassung 1984) von Rö 1, 20 lautet: „Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt.“ Der letzte Teilsatz „wenn man sie wahrnimmt“ als Übersetzung von nooumena legt vom deutschen Duktus zumindest nahe, dass die Werke Gottes hier wahrgenommen werden. Im Griechischen ist aber eindeutig ersichtlich, dass nooumena sich grammatisch auf ta ahorata, die Unsichtbarkeit, bezieht. Außerdem wird in der lutherischen Übertragung der im Griechischen mitschwingende erkenntnistheoretische Unterschied eingeebnet zwischen Sinneswahrnehmung, die sich auf Sichtbares bezieht, und intellekthaftem Begreifen, welches auf Begreifbares, nicht per se sinnlich Wahrnehmbares / Sichtbares zielt. Paulus spricht aber gerade über den Unterschied zwischen Gottes Unsichtbarkeit und der sichtbaren Schöpfung! Es wäre also falsch, diese erkenntnistheoretische Dimension einfach auszublenden. In ihrer modernen, oft freieren, aber inhaltlich prägnanten Übertragung übersetzen Berger / Nord (1999: 151): „Gott, der Unsichtbare, hat die Welt geschaffen, und wenn man vernünftig nachdenkt, kann man von der Schöpfung, die man sieht, auf den Schöpfer, den man nicht sieht, schließen und erkennen, daß er ewig, mächtig und göttlich ist.“ Berger / Nord beziehen nooumena richtigerweise auf „den Schöpfer, den man nicht sieht“. Der Rückschluss von der sichtbaren Schöpfung auf den unsichtbaren Schöpfer wird zwar mit dem ‚vernünftigen Nachdenken‘ gekoppelt. Trotzdem kommt der Gedanke, dass Gottes Unsichtbarkeit für sich selbst genommen etwas ist und daher „als etwas geistig-intellekthaft Erkennbares (nooumena) geschaut wird“, nicht voll zur Geltung, sondern erscheint bei Berger / Nord eher im modernen Sinn als ein ‚vernünftiges Nachdenken über die Welt‘, ohne dass dabei ein eigener nicht-sichtbarer, intellekthaft begreifbarer, göttlicher Wirklichkeitsbereich erschlossen werden müsste: 576
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Paulus spricht hier eindeutig aus, dass Gottes Unsichtbarkeit, Ewigkeit und Schöpfermacht als etwas Geistig-Intellekthaftes (nooumena) erkannt werden kann und muss, das jedoch nicht als abstrakt und leblos missverstanden werden darf: Damit ist ein (wie auch immer genau zu beschreibender) Wirklichkeitsbereich benannt, welcher sich klar von der sichtbaren, sinnenfälligen, empirischen Realität unterscheidet. Denn, wäre es nicht so, warum sollte Paulus das auf geistig-intellekthafte Weise Erkanntwerden Gottes an seine Unsichtbarkeit koppeln? Würde sich dieser ‚geistig-intellekthafte Zugriff ‘580 der Gotteserkenntnis seinerseits lediglich auf die sinnenfällige Realität richten im Sinne einer pantheistischen Identifikation von Gott und Welt, dann könnte kaum sinnvoll von einer „Unsichtbarkeit“ Gottes die Rede sein, weil dann die sichtbare Welt Gott selbst wäre. Jedoch steht dieser ‚geistig-intellekthafte Zugriff ‘ wiederum nicht völlig bezugslos zur sinnenfälligen, empirischen Welt: Denn Gottes Unsichtbarkeit wird gerade „von Anbeginn der Schöpfung anhand seiner Schöpfungen“ geschaut. Es geht also auch hier nicht um einen antik-gnostischen581 oder modern-cartesianischen Dualismus zwischen unsichtbarem Geist und sichtbarer Körper-Welt,582 bei dem von seiner theoretischen Grundlegung her Geist und Körper strikt separiert, ohne eine sie verbindende Mitte erscheinen.583 Bei Paulus verweist vielmehr die sichtbare Schöpfung auf Gottes Unsichtbarkeit: Erst anhand seiner Schöpfung(en) wird der unsichtbare Gott erkennbar, weil seine Unsichtbarkeit sich gleichsam trotzdem in der Sichtbarkeit seiner Schöpfungen spiegelt. Als es selbst kann das Unsichtbare aber nur auf geistig-intellekthafte Weise geschaut werden, da es sich gerade von der Sichtbarkeit der sinnlich-wahrnehmbaren Schöpfung unterscheidet.584 Man kann über Gott und die Welt „vernünftig nachdenken“, auch ohne Gott einen eigenen Wirklichkeitsbereich zuzuerkennen (z. B. im Sinne eines Pantheismus). Gegen diese von Paulus’ Gedanken und Formulierung her als Fehlschluss zu wertende Interpretation erscheint auch die Übersetzung von Berger / Nord leider nicht wirklich gefeit. 580 Im modernen Denken werden Vernunft und Glaube zumeist als Antagonisten verstanden (vgl. Drews 2011: 55–63). Zur „Hochschätzung der Vernunft“ bei Paulus s. Berger (2008: 114) und zur Identität von „Vernunft, Ordnung und Liebe“ (ibd., 111). 581 Vgl. Thümmel (1998: 245) zum gnostischen „Gegensatz von Göttlich-Geistigem und Materiellem“. 582 Vgl. Eastman (2014: 122): „The experience of the Spirit on display in Romans 8 simply does not fit in such dualistic Cartesian categories.“ 583 S. oben der Exkurs in diesem Kapitel. Vgl. Berger (2008: 75). 584 Vgl. inhaltlich in ähnlicher Weise: „Durch den Glauben erkennen wir geistig-intellekthaft (nooumen), dass die raum-zeitliche Welt durch Gottes Wort strukturiert geschaffen worden ist, sodass nicht aus Vorstellbarem (mê ek phainomenôn) das Sichtbare geworden ist“ (Hebr. 11, 3). Luthers Übersetzung (revidierte Fassung 1984) des letzten Teilsatzes „so dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist“ setzt dagegen das Nicht-Vorstellbare lapidar mit ‚nichts‘ gleich. Dies ist philologisch falsch und droht inhaltlich-systematisch dem Fehlschluss Vorschub zu leisten, dass Gottes Wort ‚nichts‘ wäre; dies kann nicht gemeint sein. Vielmehr geht es darum, dass Gottes Wort selbst nichts Vorstellbares oder Sichtbares ist und dass die Erschaffung der
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Diese schöpfungstheologischen Aussagen führen nun wieder zurück zum Ausgangspunkt all dieser komplexen Überlegungen, zu Paulus’ Differenzierung zwischen „himmlischen“ (epourania) und „irdischen Leibern“ (epigeia sômata)585 und zu der Passage: Gesät wird ein seelischer Leib / Körper (sôma psychikon), auferweckt aber ein geistiger Leib / Körper (sôma pneumatikon) (1 Kor 15, 44 a).
Der seelische Körper wird „gesät“ und ist der Vergänglichkeit unterworfen.586 Wie oben anhand von 2 Kor 4–5 gezeigt wurde, kann nach dem Tode des sôma psychikon die Auferstehungshoffnung für den Apostel nur im Ereignis der Auferstehung Jesu von den Toten begründet liegen:587 Gott wird die Gläubigen zusammen mit „dem Herrn Jesus auferwecken und auferstehen“ lassen. Diese Auferstehung beginnt (gleichsam als ‚Prozess‘) schon im hiesigen Leben mit der „Erneuerung des inneren Menschen“. Dabei ist der Blick bereits im Hier und Jetzt nicht auf das Sichtbare in seiner Vergänglichkeit, sondern auf das „NichtSichtbare“ gerichtet, welches „ewig“ ist. Der irdische, sichtbare Körper, das sôma psychikon, ist dagegen ein ‚exilhaftes‘, weil wesentlich durch Gottesferne charakterisiertes „Zelt“, das im Tod „aufgelöst“ wird. Das „wir“, die personale Identität der Gläubigen, erwartet „einen Bau von Gott als nicht mit Händen gebautes, ewiges Haus im Himmel“ und ersehnt, mit diesem „bekleidet“ zu werden. Dieses „Haus“ ist nicht sichtbar wie der irdische Körper, sondern ist gerade in seiner die Sichtbarkeit überragenden ‚Bauart‘ zutiefst (philosophisch formuliert: ontologisch) mit der nur geistigintellekthaft (als nooumena) erkennbaren Unsichtbarkeit und Ewigkeit Gottes verknüpft und ausschließlich deshalb – aufgrund seiner wesentlichen Gottesnähe – nicht dem Tod unterworfen.588 sichtbaren Welt durch Gottes Wort deshalb nur „geistig-intellekthaft“ bzw. begreifend erkannt werden kann, insofern dieser geistig-intellekthafte Zugriff das Vorstellbare und Sichtbare übersteigt. Das Verbum nooumen konnotiert im Griechischen, dass damit keineswegs ein Irrationalismus gemeint ist, sondern vielmehr eine erhöhte Form der Rationalität bzw. intellekthaften Transrationalität erforderlich ist, um Gottes Schöpfungswort als der Schöpfung vorausliegende Ursache zu begreifen. 585 1 Kor 15, 40 a. 586 Vgl. 1 Kor 15, 42 b. 587 Vgl. 1 Kor 15, 3–8.12–20. Vgl. allgemein Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 266): „Der christliche Glaube steht und fällt mit der Wahrheit des Zeugnisses, dass Christus von den Toten auferstanden ist.“ Vgl. Rehfeld (2012: 352). „Erstmalig wird bei Paulus die Auferstehung Jesu mit der Auferstehung der Toten verknüpft. […] In 1 Kor 15 unternimmt Paulus den großartigen und riskanten Versuch, eine innergeschichtliche Auferstehung mit der noch ausstehenden zu verknüpfen“ (Berger 2008: 42). 588 Auch wenn Gottes geistig-intellekthaft zu begreifende Unsichtbarkeit und Ewigkeit von Paulus als nooumena, der geistige Auferstehungskörper dagegen als pneumatikon beschrieben wird, besteht im Neuen Testament ein innerer Zusammenhang zwischen nous und pneuma, s. 1 Kor 2, 14–16, obwohl beide nicht völlig deckungsgleich sind (s. 1 Kor 14, 14). Vgl. Tloka (2005: 32) und Reiser (2007: 130). Das sôma pneumatikon im Sinne eines feinstofflich(er)en Körpers
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Nur von diesen Voraussetzungen her kann Paulus auch begründeterweise von einem sôma pneumatikon sprechen: Ohne eine tatsächlich über die irdische Realität hinausgehende, unsichtbare und ewige Wirklichkeit Gottes ließe sich weder die Auferstehung Jesu mit einem besonderen, geistigen Leib589 noch die Auferstehungshoffnung des Apostels und der Gläubigen plausibilisieren. Die Differenzierung zwischen der irdisch-empirischen Leiblichkeit eines sôma psy‑ chikon, eines „seelischen Körpers“, und der geistigen Leiblichkeit eines sôma pneumatikon, „eines ewigen Hauses im Himmel“, wie Paulus sagt, kann daher nur sinnvoll erscheinen, wenn mit gutem Grund eine (wie auch immer genau zu verstehende) geistige Wirklichkeit anzunehmen ist. Das „wir“, welches schon innerhalb seiner Existenz „im Zelt“ des sôma psy‑ chikon die unsichtbare Heimat bei Gott im Auferstehungsleib des sôma pneu‑ matikon ersehnt, erscheint dabei als Kern der personalen Identität eines jeden Gläubigen und ist zugleich kontinuitätsstiftend, indem es die personale Identität im ‚irdischen Zelt‘ wie in der ‚himmlischen Behausung‘ darstellt: Andernfalls wäre nicht zu sagen, warum gemäß Paulus das „wir“ (bzw. eine Gemeinschaft von verschiedenen Ichs im Sinne einer für das jeweilige Individuum personal garantierten Identität über den Tod hinaus) von Gott auferweckt würde. Diese (wie auch immer genau zu fassende) Kontinuität der personalen Identität lässt sich im Sinne des „inneren Menschen“, welcher schon im Hier und Jetzt „erneuert wird“, mit einer klassischen Deutung als ‚Seele‘ bzw. ‚Geist‘ eines Menschen verstehen.590 Dies hätte für die Paulus-Interpretation zumindest den Vorteil, dass seine Rede von einem „seelischen Körper“ im Sinne des irdischen, beseelten Leibes eine direkte Verknüpfung von Seele und Körper für den Menschen in seiner Ganzheit impliziert. Zugleich bietet die Annahme einer (wie auch immer zu begreifenden) Seele als geistiger Substanz, welche den Menschen nicht nur von seinen äußerlichen Körpermerkmalen, sondern von seinem Denken, kann als ein leibhaftiges Korrelat zur Wirklichkeit des geistig-intellekthaften Seins des unsichtbaren, ewigen Gottes verstanden werden. Zum Bezug zwischen „Wahrheit“ (!) und „Geist“ (pneuma!) vgl.: „Denn der Geist ist die Wahrheit“ (1 Jh 5, 6 b), wobei pneuma hier deutlich dem Intellekt (nous) ähnlich erscheint, insofern er Wahres erkennt. Ebenso: „Geist ist Gott, und die ihn anbetend verehren, müssen ihn in Geist (pneuma) und Wahrheit (alêtheia) anbetend verehren“ (Jh 4, 24). Zum Bezug zwischen Auferstehungsleib und Geist s. ferner: „Der Heilige Geist hat seinen [sc. Jesu] irdischen Leib in einen Auferstehungsleib verwandelt“ (Berger 2008: 43). In jedem Fall „ist der Bereich Gottes, auf den sich Paulus im ‚Exil‘ wie auf seine ‚Heimat‘ freut, die unsichtbare Hälfte der Wirklichkeit […]“ (Berger ibd., 22). Berger (ibd., 62) geht sogar so weit und versteht ‚Auferstehung‘ paulinisch als „eigentlich nichts anderes als Verähnlichung mit Gott“; Letztere betrachtet er dabei als ein „pharisäische[s] Thema“ (also ohne Anleihen an den platonischen Begriff der „Verähnlichung mit Gott“, homoiôsis tôi theôi, zu machen, wie er klassisch von Platon, Tht. 176a8–b3 geprägt wurde). 589 Vgl. dazu in den Evangelien die Darstellungen des besonderen Leibes Jesu, der plötzlich (auch bei verschlossen Türen) zu erscheinen und ebenso unvermittelt wieder der Sichtbarkeit zu entschwinden vermag: Jh 20, 26 b; Lk 24, 31, 36+51. 590 Eine ähnliche Interpretation macht Zumstein (2013: 76) mit Bezug auf das MatthäusEvangelium geltend: „Mit psychê ist ist hier der innere Mensch gemeint.“
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Fühlen, seinen charakterlichen Dispositionen, Vorlieben und Begabungen als ‚seelisch‘ begreift,591 eine gedankliche Anschlussfähigkeit an die nur geistig begreifbare Unsichtbarkeit Gottes: Gottes unsichtbarer Geist und die sichtbare Körperwelt stehen einander nicht bezugslos gegenüber, sondern sowohl der Schöpfergeist selbst kann im Sinne von Rö 1, 20 aus der sichtbaren Schöpfung heraus erschlossen als auch der Mensch in seiner geistigen Begabung als Geschöpf Gottes angesehen werden. Dies ist kein lediglich verdeckter Platonismus: Auch Paulus selbst impliziert mit dem „wir“, welches sich danach sehnt, sein „irdisches Zelt“ als ‚Exil der Gottesferne‘ abzulegen und dafür mit seiner himmlischen Behausung „umkleidet“ zu werden, eine anthropologische Systemstelle, welche, wenn nicht von einer Seele, so doch von einem Träger einer über den Tod hinaus bestehenden personalen Identität eingenommen wird und insofern zumindest direkt anschlussfähig für eine platonisch-aristotelisch verstandene Seelenlehre erscheint – allerdings nur, wenn diese psychê nicht cartesianisch als entleibtes (Selbst‑)Bewusstsein interpretiert, sondern in ihrer direkten Bezogenheit auf die körperliche, leibliche Dimension des Menschen gedacht wird. Unter diesen Voraussetzungen erscheint es möglich, die Seele bzw. den Träger der personalen Identität als potentiell ‚mit unterschiedlichen Körpern / Leibern‘ „bekleidet“ zu begreifen: Als (geistige, von Gott erschaffene) Ursache der Belebtheit eines ihr zugehörigen Körpers sowohl im biblischen wie auch im aristotelischen Sinne592 könnte eine Seele grundsätzlich unterschiedlich gearteten Körpern verbunden sein. Insofern Gott selbst Geist593 ist und das menschliche Bei-Gott-Sein von Gottes Geist zutiefst durchdrungen ist, erscheint der Auferstehungsleib, von welchem Paulus spricht, als sôma pneumatikon, als „geistiger Körper“: Dies könnte so interpretiert werden, dass der christus-gläubige Mensch nach seinem irdischen Tod bei der Auferstehung der Toten594 in seiner personalen Identität „mit dem auferstandenen Herrn Jesus“595 auferweckt und in Gottes unsichtbare, geistige Wirklichkeit aufgenommen wird, ohne seine körperlich-leibliche Dimension völlig abzulegen, sondern sie auf verwandelte Weise in geistiger Form neu zu empfangen. Für einen Platoniker / Aristoteliker, der den Menschen gerade nicht dualistisch als Körper-Seele-Wesen, sondern als Einheit aus Geist (nous) – Seele (psychê) – 591 S. o. Kap. II.5 b (Plotin) und III.c (Proklos) zu den Aporien und den daraus potentiell erwachsenden Extremismen, wenn das Mensch-Sein nur von äußeren Merkmalen her definiert wird. 592 S. o. der Exkurs in diesem Kapitel zum biblischen Kontext sowie Anm. 574 zu Aristoteles. 593 Vgl. Jh 4, 24 sowie oben Anm. 588. 594 Vgl. 1 Kor 15, 21+42; Phl 3, 11. 595 S. o. zu 2 Kor 4, 14–18. Zur unmittelbaren Identifikation des Christen mit Christus vgl. Gal 2, 19–20: Paulus sieht sich selbst (repräsentativ für die Gläubigen) mit Christus „mitgekreuzigt“; „Christus lebt in mir“, der „mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“
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Körper (sôma) begreift,596 könnte sich die Frage ergeben, ob nicht das sôma pneumatikon, wie es Paulus versteht, spezifisch als Träger des Geistes zu deuten wäre:597 Dann wäre der Mensch aus einer auch platonisch interpretierbaren Gottesferne, insofern die Seele sich von dem Einen-Guten (= Gott) und vom Intelligiblen als Ursache aller Lebendigkeit entfernt und der von sich selbst her unbestimmten und unbelebten Materie zugewandt hatte, zu seinem prinzipienhaften Quell und zum Ziel seines Mensch-Seins, dem nous, zurückgekehrt und so nicht mehr in einem irdisch-beseelten, sondern in einem himmlisch-geistigen Körper beheimatet. Letzteres ist natürlich interpretatorische Spekulation, die nur verschiedene mögliche Deutungshorizonte skizzieren soll. Erkennbar wird so aber vielleicht, dass sowohl paulinisch wie auch mit Hilfe platonisch-aristotelischer Philosophie die von Paulus gebrauchten Begriffe sôma psychikon bzw. pneumatikon sinnvoll durchdacht werden können: Dabei wäre für einen Platoniker das sôma psy‑ chikon verständlich als irdischer, beseelter Körper eines Menschen, das sôma pneumatikon als himmlischer Leib des zum göttlichen Prinzip (nous) seines Seins zurückgekehrten Menschen.598 Rein paulinisch könnte das „wir“, assoziiert mit der biblischen nefesch im Sinne des ganzen Menschen, als Träger personaler Identität aufgefasst werden: Dieses „wir“, der Mensch in seiner ganzheitlichen Person, wäre einmal „im Zelt seines irdischen Hauses“ beheimatet, würde zum anderen ‚im Auferstehungsakt‘ selbst – entsprechend der Gott eigenen, geistig erschließbaren Unsichtbarkeit und Ewigkeit – mit einer ‚geistigen, unsterblichen Leiblichkeit umkleidet‘. Beide Male (paulinisch und platonisch) wäre der Sache nach das Moment einer An S. o. Kap. II.2 sowie die Anm. 562. Zum pneuma bei Aristoteles vgl. Düring (2005: 342–5, 550–2), der in seinem Überblick über Aussagen bei Aristoteles zum pneuma dieses abschließend allerdings als „uns absurd vorkommende Idee“ (ibd., 345) bzw. als „Chamäleon unter den Begriffen des Aristoteles“ (ibd., 550) abqualifiziert. Eine weiterführende, sehr gute, leider jedoch bisher unpublizierte Untersuchung zur Frage des pneuma bietet im Rahmen von Aristoteles’ Zeugungslehre Grewe (2009: 14–15, 63–71, 89–90). – Zur neuplatonischen Drei-Leiber-Unterscheidung bei einem Menschen vgl. Bernard ([1997: 61–68], [2002]): Die Deutung des sôma pneumatikon fällt hier gleichwohl anders aus, weil das pneuma neuplatonisch-aristotelisch als Träger des Leibes der Sinneswahrnehmungen fungiert und eine Mittelstellung besitzt zwischen dem irdischen (Austernschalen‑)Leib und dem Lichtleib eines Menschen: Nur Letzterer (der Astralleib) gilt als ewig und ist mit dem ewigen vernunftbegabten Seelenteil verbunden (der Intellekt / nous hat dagegen keinen Leib, weil er – anders als die Seele – nicht innerkosmisch beheimatet ist, vgl. Bernard 1997: 68). – Es treten also trotz bestimmter grundsätzlicher Überschneidungen in der Lehre von verschiedenen Leibern eines Menschen durchaus Differenzen zu Paulus’ christlicher Auffassung vom sôma psy‑ chikon und sôma pneumatikon zutage. Da Zentrum und Ausgangspunkt in diesem Kapitel aber Paulus ist, wurde oben die Frage verfolgt, inwiefern sein Verständnis eines sôma pneumatikon platonisch-aristotelisch anschlussfähig sein könnte: Insofern für Paulus das sôma pneumatikon aber der ewige Auferstehungsleib ist, darf es nicht mit dem Verständnis eines sôma pneumatikon im neuplatonischen Sinn verwechselt werden. 598 Vgl. Paulus: „Gott, von dem alles ist und wir zu ihm hin“ (1 Kor 8, 6). 596 597
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teilhabe eines Selbigen an verschiedenen Wirklichkeitsbereichen bzw. ‚Welten‘ impliziert. Als Differenz zwischen Paulus selbst und einer mit offenkundig platonischen bzw. aristotelischen Koordinaten arbeitenden Interpretation könnte im Kontrast zu einer verbreiteten Platon-Deutung geltend gemacht werden, dass der Mensch nach biblischem Verständnis die Unsterblichkeit nicht einfach als ontologisches Datum (‚unsterbliche Seele‘) besitzt, während Platon im Phaidros ausdrücklich sagt, dass „jede Seele unsterblich“ sei:599 Denn das Immer-Bewegte sei unsterblich, weil es nie aufhöre in Bewegung zu sein; dieses komme aber nur der Seele als Sich-Selbst-Bewegender zu, welche, da sie sich selbst nie verlasse, auch nicht aufhöre, selbst bewegt zu sein und für anderes (d. h. für durch Seele belebte Körper600) als Ursache von Bewegung zu fungieren. Auffallend ist hier zunächst, dass Platon die Unsterblichkeit der Seele offensichtlich nicht statisch, sondern gerade als das Gegenteil auffasst. Ohne diese berühmte Platon-Stelle irgendwie abmildern zu wollen, erscheint auch diese Kontrastierung von Platon versus Bibel / Paulus vorschnell. Denn Platons Aussagen sind hier im Rahmen einer allgemeinen Ontologie zu verstehen – von der philosophischen Systemstelle übrigens vergleichbar mit Paulus’ allgemeiner Rede davon, dass eine Saat nur zum Leben kommt, wenn sie zuvor stirbt, auf die im Folgenden gleich einzugehen sein wird. Ein solches, allgemeines ‚ontologisches Datum‘ besagt aber weder für Paulus, dass, egal, was ein Mensch wirklich glaubt und tut, er sowieso auferstehen werde, noch kann Platons Aussage, „jede Seele ist unsterblich“, so interpretiert werden, dass die Unsterblichkeit einem Menschen ganz unabhängig von seiner Lebensführung sowieso zusteht. Denn aus einem zentralen Text Platons, der Diotima-Rede aus dem Symposi‑ on, geht hervor, dass die ‚Unsterblichkeit der menschlichen Seele‘ – genauer vermutlich: des menschlichen Intellekts (nous) im Sinne des intelligiblen Eidos als Quell und Ursache seines individuellen und personalen Seins – nur dann erreicht wird, wenn ein Mensch „mit dem, wodurch das [sc. wahre, intelligible] Schöne geschaut werden kann“, an der Wahrheit des intelligiblen, ewigen Seins rührt, mit dieser verbunden ist, so (in sich) die „wahre Tugend zeugt“ und nur unter dieser Bedingung es erreicht, ein „Gottgeliebter zu werden“.601 Hier ist gerade nicht von einer immer schon ‚gegebenen Unsterblichkeit‘ die Rede; vielmehr erscheint es als eine sehr schwierige Aufgabe, diese überhaupt zu erreichen.602 Platon, Phdr. 245c5–9. Vgl. zur Stelle Kammler (2013: 96–97). Platon, Phdr. 245e4–6. 601 Platon, symp. 212a2–7. 602 Zur Frage, ob eine von der Wahrheit (veritas) bzw. Vernunft (ratio) getrennte Seele platonisch noch unsterblich sein könne, vgl. die Diskussion bei Augustinus, imm. an. 11–13, 18. – Im christlichen Kontext gibt es schon im Neuen Testament bestimmte Aussagen, dass die Teilnahme an der Auferstehung kein allgemeines Schicksal des Menschen ist, sondern den Menschen zuteil wird, welche dafür „würdig befunden“ werden (kataxiôthentes, Lk 20, 25). 599 600
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Für Platon ist ‚die‘ Unsterblichkeit offenbar kein Automatismus. Zudem muss hier nach dem genauen Sinn von Unsterblichkeit gefragt werden: Für Platon geht es in der Symposion-Stelle um eine ganz bestimmte, qualifizierte Unsterblichkeit und nicht um die bloße Fortexistenz als eine in vielen, aneinandergereihten Einzel-Leben (re‑)inkarnierte Seele innerhalb der vergänglichen und damit sterblichen Welt. Eine solche Fortexistenz in letzterem Sinne stünde immer noch unter der Bedingung der Sterblichkeit und wäre nicht von sich selbst her Unsterblichkeit im starken Sinne.603 Dass Platon die mögliche, nicht immer schon aktual bestehende Unsterblichkeit eines Menschen wesentlich mit dem Verbundensein bzw. Anhaften des menschlichen nous an der göttlichen, intelligiblen Wahrheit erklärt, macht indes seine Aussage in einem anderen Sinne wiederum anschlussfähig an biblische Aussagen aus dem Johannes-Evangelium: Jesus sprach zu ihm: ‚Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Keiner kommt zum Vater, wenn nicht durch mich‘ (Jh 14, 6). „Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Jh 8, 32).
Auch hier geht es im christlichen Sinne darum, dass ‚Wahrheit‘ keine bloße Abstraktion über zutreffende oder nicht-zutreffende Aussagen ist, sondern im starken und vollen Sinne eine göttliche Person, die sogar auf den Menschen zukommt und ihn befreit zu seinem wahren, vollen Menschsein.604 Zugleich wird genau hier nun aber doch die tatsächliche Differenz zwischen christlichem und platonischem Denken sichtbar, wie sie auch für Paulus entscheidend ist: Denn auch wenn beide Traditionen darin übereinstimmen sollten, dass eine Unsterblichkeit des Menschen nicht einfach von selbst gegeben ist, so besteht doch ein gewichtiger Unterschied darin, wie diese erreicht werden kann: Für Platon ist es das Sich-Annähern des Menschen qua seiner Ratio bzw. seines Intellekts an die intelligible Wahrheit, während christlich gesehen dies allein nicht ausreicht. Der Mensch kann sich nicht einfach nach oben ‚Empor603 Für den interreligiösen Dialog bedeutsam ist, dass eine solche platonische Unterscheidung zwischen tatsächlicher Unsterblichkeit und bloß innerweltlicher Fortexistenz im Rahmen potentiell unendlicher Reinkarnationen – aus einer bestimmten Perspektive – einem buddhistischen Verständnis nahe steht, allerdings mit der wohl notwendigen Einschränkung, dass das buddhistische Nirwana nicht ohne Weiteres mit den intelligiblen Ideen und dem überseienden Einen-Guten Platons identifiziert werden kann. Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 183): „Wo ist der Ort des Heils? Der Buddhismus kommt zum Ergebnis, daß er in der Welt, in der Gesamtheit des erscheinenden Seins nicht zu finden ist. Es ist in seiner Ganzheit Leid, ein Kreislauf der Wiedergeburten und immer neuer Verstrickungen. Der Weg der Erleuchtung ist der Weg aus dem Durst nach Sein hinein in das, was uns als Nichtsein erscheint, das Nirwana. Das bedeutet: In der Welt selbst ist keine Wahrheit. Die Wahrheit geschieht im Heraustreten aus ihr. In diesem Sinn ist die Wahrheitsfrage in die Frage der Erlösung aufgelöst, oder auch: in ihr aufgehoben. Die Götter gibt es, aber sie gehören der Welt des Vorläufigen, nicht dem endgültigen Heil zu.“ 604 Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 107, 218; 2005 b: 56, 59, 86, 186).
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Erkennen‘, sondern bedarf – nicht zuletzt aufgrund seiner Gottesferne, von der Paulus spricht und die letztlich im Zusammenhang mit dem Sündenfall eines jeden Menschen steht – nicht nur einer göttlichen Hilfe, sondern einer von Gott selbst initierten Erlösung.605 Deshalb spricht Paulus in der eingangs übersetzten Passage aus 2 Kor 4, 14–18 davon, dass das Geschenk der Unsterblichkeit den Menschen nur durch Christus zuteil wird: Die Christus-Gläubigen werden durch Gott zusammen mit Jesus auferweckt; dies ist für Paulus der christliche Quell der Unsterblichkeit, nur so empfangen die Christen ein „nicht mit Händen gebautes, ewiges Haus im Himmel“ (2 Kor 5, 1–8). In diesem Kontext wird entscheidend erkennbar, dass es um die personale Beziehung606 eines Menschen zu Gott (Vater) und dem auferstandenen Christus (Sohn) ankommt, ohne welche ‚die ewige Heimat bei Gott‘ gemäß christlicher Theologie607 gleichsam ‚nicht zu haben ist‘.608 Diese Beziehung vollzieht sich gemäß Paulus zugleich durch und im Heiligen Geist.609 Auch wenn die paulinisch verstandene Unsterblichkeit in diesem besagten Sinne als Geschenk zu verstehen ist und nur als solches empfangen werden kann, macht Paulus zugleich seinerseits (vielleicht überraschend, aber in vergleichbar allgemeiner Weise wie Platon) ein ‚ontologisches Datum‘ geltend, wenn er darauf hinweist, dass eine Saat nur zum Leben kommt, wenn sie stirbt.610 Analog verhalte es sich mit dem sôma psychikon, welches gesät werde, aber als sôma pneumatikon auferstehe: Gesät wird ein seelischer Leib / Körper (sôma psychikon), auferweckt aber ein geistiger Leib / Körper (sôma pneumatikon). Wenn es einen seelischen Leib / Körper gibt, dann gibt es auch einen geistigen. So steht es geschrieben: ‚Der‘ erste ‚Mensch (Adam) wurde zur lebenden Seele‘ (Gen 2, 7), der letzte Adam [= Christus] zum lebensspendenden Geist (pneuma) (1 Kor 15, 44–45).
Durch Paulus’ Vergleich mit dem ausgestreuten Samen erscheint der Gedanke der Auferstehung beinahe wie eine Selbstverständlichkeit: Da der seelische, irdische Leib gesät wird und wie der Same in der Erde stirbt, ist klar, dass etwas Vgl. Paulus, Rö 7, 24–25. Vgl. Rehfeld (2012: 313–4), Berger (2008: 95, 116). 607 In diesem Sinn, d. h. in Hinsicht auf die Beziehung eines Menschen zu Gott durch Christus, ist m. E. auch die folgende Stelle zu verstehen: „ ‚Vertraut auf Gott und auf mich vertraut!‘ “ (Jh 14, 1 b). 608 Vgl. (unter Bezug auf die Evangelien): „Sein [sc. des Menschen] Leben ist ein gegebenes Leben. – […] dieses Leben (psychê) kann verloren oder gerettet werden“ (Zumstein 2013: 74, ähnlich 77). „Ist das ewige Leben keine Eigenschaft des menschlichen Daseins, so wird sie als Gabe dargestellt“ (Zumstein 2013: 79–80). 609 Vgl. Rö 8, 23. Zur zentralen Stellung des Heiligen Geistes bei Paulus vgl. Berger (2008: 13–14, 33, 39, 43, 53–54, 71, 127). In der Balance zwischen dem Wirken Jesu und dem Heiligen Geist bei Paulus liegen „die Anfänge der späteren Trinitätstheologie“ (ibd., 72); der Heilige Geist ist nicht zuletzt die „Verbindung zwischen Jesus und Paulus“ (ibd., 88). 610 1 Kor 15, 36. Vgl. analog die Gleichnisse vom Weizenkorn bzw. der Saat in den Evangelien Jh 12, 24 sowie Mk 4, 1–20. 605 606
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anderes daraus entstehen muss. Daher folgert Paulus lapidar, dass, wenn es seelische Körper gebe, es auch geistige geben müsse. Das seelische Sein ‚des alten Adam‘ wird verwandelt durch den „lebensspendenden Geist“ des letzten, d. h. unüberbietbar-endgültigen Adam, welcher Christus selbst ist.611 Diese Verwandlung612 beinhaltet in ihrer Konsequenz, dass Auferstehung gemäß Paulus nicht eine erneute Reinkarnation in die alte menschliche Existenz hinein bedeuten kann: „Fleisch und Blut können das Königreich Gottes nicht erben, noch erbt die Vergänglichkeit die Unvergänglichkeit.“613 Die Welt der Auferstehung ist von der irdischen Existenz mindestens so verschieden wie der Same von einem ausgewachsenen Baum, da der Auferstehungskörper „geistiger Leib“ ist: Als solcher ist er von Gottes unsichtbarem (Heiligen) Geist, welcher auch Christus von den Toten auferweckt hat, ganz durchdrungen.614 „Fleisch und Blut“ sind jedoch sterblich und können als sie selbst nicht unvergänglich werden: Noch einmal geht es Paulus daher um das Bekleidetwerden des Vergänglichen mit einer „Behausung, die aus dem Himmel kommt“ (2 Kor 5, 1–8), wenn er sagt, dass das „Vergängliche die Unvergänglichkeit und das Sterbliche die Unsterblichkeit anziehen muss.“615 In diesem Prozess des Umkleidetwerdens wird das Sterbliche, sogar der Tod selbst „verschlungen in den Sieg“,616 ganz „absorbiert“ in die Unsterblichkeit hinein.617 All dies kann nur dann Ausdruck einer Hoffnung sein, wenn dabei die personale Identität bzw. das seelische Sein eines Menschen bewahrt und gerade nicht vernichtet wird, sondern im Sinne des Umkleidet‑ und sieghaften Verschlungenwerdens Anteil gewinnt an der neuen Auferstehungswelt, welche durch Gottes Geist aus der ‚ersten Saat‘ völlig neu hervorgeht.618 Der Auferstehungsprozess beginnt mit dem „letzten Adam“: Christus hat bereits das Gesetz erfüllt und mit seiner Gerechtigkeit der Liebe619 dem Tod die Macht, welche dieser aus der Sünde als Inbegriff der Ungerechtigkeit und des Sich-Abwendens von Gott bezieht, entzogen. In Jesus Christus ist Gottes Geist Vgl. 1 Kor 15, 22. 1 Kor 15, 52. 613 1 Kor 15, 50. Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 268) zur Auferstehung als „Ausbruch in eine ganz neue Art des Lebens, in ein Leben, das nicht mehr dem Gesetz des Stirb und Werde unterworfen ist, sondern jenseits davon steht.“ 614 Vgl. Berger (2008: 43, 61–63, 73). 615 1 Kor 15, 53. Vgl. Berger (2008: 122). 616 1 Kor 15, 54. 617 Vgl. Berger (2008: 62). 618 „Die neue Schöpfung, die mit der Sendung des Sohnes beginnt und mit seiner Auferstehung öffentlich wird, zielt am Ende darauf, daß die ganze Welt Anteil an Gottes unvergänglichem Leben hat“ (Berger 2008: 72). 619 „Weil der Heilige Geist als erste Frucht Liebe hervorbringt und weil Liebe schon bei Jesus die Summe des Gesetzes ist [vgl. Mt 22, 35–40], genau deshalb bedeutet die Gabe des Geistes auch endlich die Möglichkeit, das Gesetz zu erfüllen [vgl. Mt 5, 17, Rö 8, 3–4]“ (Berger 2008: 53; Verweise in eckigen Klammern von F. D.). Zum Thema Liebe als Erfüllung der Gerechtigkeit vgl. auch Berger (2004: 456) sowie Reinmuth (2004: 120, 122). 611 612
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in einem Menschen in vollkommener Weise zum Zuge, zur Verwirklichung gekommen: Insofern ist er der letzte, unüberbietbare Adam. Das Verhältnis des letzten zum ersten Adam beinhaltet über die implizite Anteilhabe an dem Schicksal des ersten bzw. des zweiten Adams zugleich eine Relation von Einheit und Vielheit:620 Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen zu Sündern wurden die vielen [sc. Menschen], so werden auch durch den Gehorsam des Einen zu Gerechten die vielen (Rö 5, 19).
Beide Male ist gemäß Paulus das Handeln / Wirken des einen ersten bzw. des einen letzten Adams folgenreich und wesensbestimmend für die vielen Menschen: Wie immer er interpretiert werden mag, Adams Sündenfall steht für den Sündenfall der Menschheit selbst621 und sogar der Schöpfung,622 betrifft beide fundamental und umfassend. Die vielen Menschen leiten von Adam ihr Menschsein her und sind so auch von seiner Sündhaftigkeit mitbetroffen. Dieser sich perpetuierende Abfall wird durch Christus als Mensch gewordene Liebe und Gerechtigkeit623 durchkreuzt: Durch seinen „Gehorsam“ und seine Gerechtigkeit werden auch die vielen Menschen, insofern sie Anteil an Christus und seiner Gerechtigkeit624 empfangen, wieder zu Gerechten. Die Vielheit der Menschen, welche in degenerierter Form sich von dem einen Adam ableitete, wird durch Christus als Vielheit in dem einen „letzten Adam“ zu ihrer Vollendung (zurück‑)geführt. Die Christus-Gläubigen sind damit „in Christus“625 vereint. All
620 Auch wenn diese Einheit-Vielheit-Relation auf einem ‚anderen Blatt‘ steht als im paganen Platonismus, sei trotzdem auf die oben erörterte Problematik bei Proklos im Kontext seiner Teilhabe-Philosophie verwiesen (Kap. III.c–d). 621 Vgl. Berger (2008: 94–95). – Als ‚klassische‘ Interpretationskandidaten der Sündenfallgeschichte kommen u. a. in Frage: die Erbsündenlehre (mit ihren ‚Spielarten‘), die Nachahmung Adams durch jeden einzelnen Menschen, eine allegorische Deutung (Adam als Sinnbild für die gesamte Menschheit) oder auch – wie z. B. bei Augustinus – eine Kombination aus einer allegorischen und historischen Interpretation (Adam nicht nur als Symbol für die Menschheit, sondern selbst zugleich als einzelner konkreter Mensch verstanden). Augustins Interpretation der Genesis in einem seiner Hauptwerke De Genesi ad litteram möchte ich mich in einem gesonderten Forschungsprojekt detaillierter zuwenden. 622 Vgl. Rö 8, 19–21. 623 Vgl. Rö 8, 3–4, 35–39. 624 Vgl. Rö 3, 21 f. sowie Gorman (2014: 206). 625 Zum Thema „in Christus“ vgl. den einschlägigen Band von Thate / Vanhoozer / Campbell (2014) (s. o. Anm. 533) sowie Rehfeld (2012: 222–315). Rehfeld (2012: 315) verweist zu Recht auf die theologische Bedeutung der verschiedenen präpositionalen Ausdrücke bei Paulus: „So hebt das dia Christou auf das grundlegende Heilswerk Christi ab, während das en Christô einai die Christusbezogenheit des Christen im Sinne externer Seinsbestimmtheit ausdrückt (und damit zugleich die Teilhabe am Heilswerk Christi)“ (Kursive R.). Diese theologischen Bestimmungen können letztlich jedoch nur plausibel werden vor dem Hintergrund eines bestimmten, philosophisch-ontologischen Begründungshorizonts, der oben zu skizzieren versucht bzw. vorgeschlagen wurde.
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dies findet nicht zuletzt seinen sakramental-partizipatorischen626 Niederschlag in der Eucharistiefeier, in welcher die vielen Christen „Anteil gewinnen an dem einen Brot“,627 welches von seiner geistigen Substanz her Christus selbst ist.628 Fazit: Das Thema Anteilhabe ist bei Paulus auf vielfältige Weise, ex‑ oder implizit im Rahmen christologischer, eschatologischer und erkenntnistheoretischtheologischer Überlegungen präsent:629 Die Gotteserkenntnis, welche durch Jesus Christus möglich wird, ist ein himmlischer Schatz in irdenen Gefäßen, d. h., an ihm können die Christus-Gläubigen partizipieren, obwohl sie von ihrer irdischen Konstitution her wie in einem „Exil“ der Gottesferne leben. Diese Partizipation vollzieht sich in der täglichen Erneuerung des „inneren Menschen“, welcher auf Gottes Unsichtbarkeit ausgerichtet ist und so nicht der Vergänglichkeit der sichtbaren Wirklichkeit unterliegt. Während der irdische Leib vergeht, ersehnt der Christ gemäß Paulus seine himmlische Heimat und verlangt danach, mit ihr umkleidet zu werden: Es geht also nicht nur um eine Anteilhabe des Irdischen am Himmlischen, sondern um ein Umhüllt‑ und Aufgenommenwerden des Irdischen ins Himmlische, d. h., die Partizipation führt hier zur vollständigen Umwandlung des Partizipierenden in das Partizipierte hinein. Entsprechend formuliert Paulus dies mit dem Bild, dass ein irdisch-seelischer Leib gesät, aber ein geistiger auferstehen werde: Wie Christus von den Toten auferstanden ist, so werden auch die Christus-Gläubigen einst an seiner Auferstehung teilhaben und in einer von Gottes Heiligem Geist durchdrungenen Leiblichkeit auferweckt werden. Gott selbst ist unsichtbar, wird aber aufgrund seiner sichtbaren Schöpfungen „intellekthaft“ erkannt, d. h. in einem Erkenntnismodus, welcher nicht auf die empirische, sinnlich-wahrnehmbare Realität beschränkt ist. Gemäß einem bestimmten geistigen Zugriff ist Gottes Wirklichkeit für den Menschen somit schon jetzt – in seiner irdischen Konstitution – erkenn‑ und partizipierbar. In seiner Auferstehung zeigt Jesus Christus einen von Gottes Geist ganz transformierten Körper; entsprechend wird auch der geistige Auferstehungsleib (sôma pneumatikon) der Gläubigen verwandelt und durch vollständige Anteilhabe an Gottes Ewigkeit und Unsterblichkeit geprägt sein. Diese bleibt Gottes freies Ge626 Paulus’ Ausführungen über die Partizipationstheologie, wie sie für den Gedanken der Teilhabe an der Eucharistie und an der (Gottes‑)Sohnschaft zentral ist, werden jetzt von Macaskill (2014: 91–99) erörtert (ebenso bei Berger 2008: 73–79), weshalb eine genauere Behandlung dieser zentralen Zusammenhänge hier unterbleiben kann. 627 1 Kor 10, 17. 628 Vgl. Jh 6, 35.51; Mk 14, 22–24. Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 149): „Die austeilende Güte Gottes wird ganz radikal in dem Augenblick, in dem der Sohn im Brot sich selbst mitteilt und austeilt“; ders. (2007: 312): „Das Gesetz ist Person geworden. In der Begegnung mit Jesus nähren wir uns sozusagen vom lebendigen Gott selbst, essen wir wirklich ‚Brot vom Himmel‘.“ 629 Zum Thema ‚Partizipation‘ bei Paulus vgl. Thate / Vanhoozer / Campbell (2014), dazu s. o. Anm. 533. In seiner Paulus-Exegese benennt Berger verschiedene Aspekte der Teilhabe, ohne dass der Begriff eigens thematisiert und philosophisch reflektiert würde (dies ist auch nicht sein Thema), vgl. Berger (2008: 10, 39, 43, 48, 64, 71, 75, 101, 106, 115, 123).
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schenk, welches in der Überwindung von Sünde und Tod durch Christus erwirkt wurde. b) Die Stellung und das Verhältnis Jesu zwischen Gott Vater und den Menschen jenseits partizipatorischer Kategorien630 Da die Person Jesu Christi für alle christliche Theologie von zentraler Bedeutung ist, ist auch nach ihrer besonderen Stellung zu fragen. Die Relation zwischen Jesus und Gott wird in den Evangelien als Einheit bzw. als besonderes Verhältnis des Gottessohnes zu Gott als seinem Vater beschrieben, welches nicht im Rahmen einer bloßen Anteilhabe des Sohnes an Gottes Wesen erklärbar erscheint (so wie etwa im Platonismus bestimmte Materie zwar Spuren der Anteilhabe an eidetisch-intelligiblem Sein zeigt, aber nicht mit diesem, insofern es transzendent für sich selbst Bestand hat, identisch ist). Vielmehr weist sich diese Relation zwischen Jesus und seinem Vater bereits selbst als wesentliche (substantielle) im Sinne einer ursprünglichen Identität aus: Jesus: Ich und der Vater sind eins (Jh 10, 30). Der mich gesehen hat, hat den Vater gesehen (Jh 14, 9 b). Der 12jährige Jesus: Wusstest ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist? (Lk 2, 49 b) Jesus: Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand erkennt den Sohn als nur der Vater, noch erkennt den Vater irgendjemand als nur der Sohn und der, welchem der Sohn [sc. den Vater] offenbaren will (Mt 11, 27). Petrus: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16, 16 b).
In sachlich ähnlicher Weise wird die Einheit des Sohnes mit Gott Vater greifbar in der Geschichte von der Heilung des Gelähmten (Mk 2, 1–12): Dessen physische Heilung wird von Jesus zugleich zum Beleg für seine Vollmacht gemacht, Sünden zu vergeben (V. 10); diese jedoch kann nur Gott selbst zukommen, wie die Schriftgelehrten kritisch (wenn auch unausgesprochen, nur in ihren Herzen) einwenden (V. 6–7). Die in Anspruch genommene Vollmacht impliziert also, dass Jesus, wenn er denn tatsächlich Sünden zu vergeben vermag, auf irgendeine Weise Gott selbst ist: Die physische Heilung des Gelähmten gerät so zum Zeichen für die von Jesus implizit beanspruchte Göttlichkeit.631 630 Zum Zusammenhang von „Incarnational Ontology and the Theology of Participation“ vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Macaskill (2014). S. ferner Macaskill (2012: 370) zu einem „participatory account of [sc. Christ’s] atonement“ vor dem Hintergrund der Einsetzung der Eucharistie durch Jesus selbst im Sinne der Antizipation seines Kreuzestodes als „atoning death and resurrection in which others would participate“ (ibd., 379). – Die Frage nach dem GottSein Jesu – ob von Natur aus oder nur durch Partizipation an dieser Natur – wird sich unten besonders für Origenes als relevant erweisen (s. u. Kap. IV.3 b). 631 Die Identifikation Gottes mit Jesus Christus erscheint auch in Titeln wie „Herr der Herrlichkeit“: „Diese Bezeichnung […] gilt im antiken Judentum dem Gott Israels“ (Reinmuth 2004: 84, ähnlich 92). – Dazu, dass Christus (etwa als Herr über den Sabbat [Mt 12, 8], da er
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An anderer Stelle erscheint diese Relation zwischen Jesus und Gott (Vater) zunächst etwas weniger eindeutig, wenngleich ihr Bestehen als unverkennbares Datum vorausgesetzt ist: Jesus: Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat (Mt 10, 40).
Zunächst erklärt dieses Wort, dass Jesus im Namen dessen auftritt, der ihn gesandt hat, d. h. im Namen Gottes, welchen er seinen Vater nennt: Dies ist eindeutig impliziert, wenn die Menschen, welche Jesus aufnehmen, zugleich auch den ihn Sendenden, Gott Vater, aufnehmen können sollen, denn, wie oben anhand von Mt 11, 27 gesehen, hat der Sohn die Vollmacht, den Vater zu offenbaren, wem er will. Weniger eindeutig ist dagegen, inwiefern sich hier in Mt 10, 40 die Relation zwischen Jesus und dem ihn sendenden Vater eigentlich gegenüber derjenigen zwischen Jesus und seinen Jüngern unterscheidet: Denn zwar vermittelt Jesus den Menschen die Kenntnis und die Gegenwart des ihn sendenden Vaters; zugleich vermitteln aber auch seine Jünger ihn, den Sohn (und dadurch mittelbar auch den Vater) anderen Menschen (vgl. in ähnlicher Weise Jh 17, 20–23). Die Mehrfachrelation Vater (V: der Sendende) – Sohn (S: der Gesandte) – Jünger (J: „euch“) – andere Menschen (M: „wer euch …“) erscheint zunächst wie ein Analogieverhältnis (V zu S zu J zu M), in welchem nicht unmittelbar einsichtig ist, inwiefern sich der Sohn und die Jünger grundsätzlich unterscheiden: Man könnte hier zu vermuten geneigt sein, dass so, wie die Menschen durch die Jünger Anteil an dem Sohn gewinnen und die Jünger durch den Sohn Anteil am Vater erlangen, in analoger Weise auch der Sohn lediglich in einem Verhältnis der Teilhabe zum Vater steht. Dagegen scheint jedoch einerseits zu sprechen, dass der Sohn überhaupt Anteil am und den Zugang zum Vater vermitteln kann. Andererseits weist der Vers Mt 11, 27 (vgl. Jh 17, 25–26) eindeutig darauf hin, dass die Erkenntnis des Vaters exklusiv durch den Sohn vermittelt wird; vor allem aber ist die Erkenntnis zwischen Vater und Sohn reziprok: Auch den Sohn erkennt exklusiv nur der Vater.632 Dadurch steht der Sohn ebenso außerhalb eines ‚gewöhnlichen‘ menschlichen Erkenntniszugriffs wie der Vater selbst und erscheint als Sohn daher aus der Menge der Menschen herausgehoben, so dass die Stellung Jesu und die der Jünger beim genaueren Hinsehen doch grundverschieden ist. Dass es überhaupt zu einer Offenbarung des Vaters (und so dann auch des Sohnes) ‚nach außen hin‘, d. h. gegenüber den gewöhnlichen (eines ontologischen und gnoseologischen Sonderstatus entbehrenden) Menschen kommt, liegt in dem Ruhe gewährt [Mt 11, 28] und insofern selbst ‚Sabbat ist‘) den „Platz der Tora“ einnimmt, vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2007: 142). 632 „Die Einheit des Erkennens ist nur möglich, weil sie Einheit des Seins ist“ (Ratzinger – Benedikt XVI. 2007: 391).
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Willen des Sohnes, welcher zugleich der Wille des Vaters ist:633 d. h. darin, dass der den Vater unmittelbar (er‑)kennende Sohn durch seine Menschwerdung ‚direkt‘ in die Gemeinschaft der Menschen eintritt. 2.3. Passagen zur Mono‑ und Polytheismus-Frage in der Bibel a) Hebräische Bibel / Altes Testament Eine der bekanntesten Stellen, welche den Gott des sog. Alten Testaments klar als einzigen und somit die jüdische Religion eindeutig als monotheistisch erweist, ist das berühmte Schemaʿ Jisraʾel: Höre, Israel, der HERR (JHWH), unser Gott, der HERR (JHWH) ist Einer (ʾächad) (Dt 6, 4)
Mit diesen Worten ist das Bekenntnis zum „Herrn“ (JHWH) als dem Schöpfer der Welt verbunden, der Israel als sein Volk erwählt hat:634 Er ist „einer“, ein „einziger“, er ist Gott „allein“. Die in der hebräischen Bibel hervorgehobenen jeweils letzten Konsonanten des ersten und des letzten Worts dieses Verses ergeben zusammen das Wort ʿed, „Zeuge“. Damit ist der Aufruf des Höre, Israel mit einer sphragis besiegelt: Israel soll nicht nur hören und die Botschaft empfangen, sondern ist zugleich aktiver Zeuge für diese Botschaft, dass Gott, der Herr, ein Einziger ist. Ohne in die Fachexegese eindringen zu wollen, erscheint dieser zentrale Vers mindestens auf zweierlei Weise interpretierbar: (1) Es gibt generell und absolut nur einen Gott, den Gott Israels. (2) Der Gott Israels, an den Israel sich allein halten soll und darf, ist ein Einziger, daneben sollen in Israel keinen anderen Götter verehrt werden.635 In dieser doppelten Weise lassen sich auch Prophetenworte bei Jesaja und Joel verstehen, denn, wenn der Gott Israels spricht, geht es immer um seine Beziehung zu Israel: JHWH bleibt nicht bezugslos zu seinem Volk, sondern steht in direkter ‚Verbindung‘ zu ihm, weil er es erwählt hat:636 Denn ich bin Gott (ʾel) und sonst keiner (Jes 46, 9). Und ihr werdet erkennen, dass in der Mitte Israels ich bin. Ich aber bin der HERR (JHWH), euer Gott, und sonst keiner (Jo 2, 27).
633 „Denn wer immer den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist selbst Bruder, Schwester und Mutter von mir“ (Mt 12, 50); „da ich nicht meinen eigenen Willen suche, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Jh 5, 30 b). – Zur „Willenseinheit“ von Gott Vater und Gott Sohn vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2007: 392). 634 Vgl. Dt 7, 6 sowie van Oorschot (2002). 635 Vgl. Ex 20, 3; Dt 32, 39; 1 Sm 2, 2; Jes 43, 10 b–11; 44, 6 b. 636 Zum Beziehungscharakter zwischen Gott und Mensch auch nach christlichem Verständnis vgl. Jh 14, 1 b (s. o. Kap. IV.2.2 a mit Anm. 607).
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Andere Passagen der hebräischen Bibel erweisen den Gott Israels als den Gott, wobei aber nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, dass es auch andere Götter gibt – nur sind sie für Israel nicht von Belang bzw. ist der Gott Israels der höchste Gott, an welchen es sich zu halten gilt: Denn ein großer Gott ist der HERR (JHWH) und ein großer König über alle Götter (Ps 95, 3). Gott (ʾelohim) steht im Gottesrat; mitten unter den Göttern (ʾelohim) ist er Richter (Ps 82, 1).
Der letzte Vers, dem der Titel dieses Buchs entnommen ist,637 spricht in aller Deutlichkeit davon, dass Gott (= der Gott Israels) in einer Ratsversammlung von Göttern steht. Wie von der Forschung klar herausgestellt, präsentiert der Psalm [82] eine Welt voller Unrecht und Gewalt. Die Ursache dafür wird im Versagen der Götter der Völker gesehen, deren Aufgabe eigentlich wäre, für Frieden und Wohlergehen zu sorgen. Als Ausweg wird proklamiert: Die Götter müssen verschwinden, der eine Gott Israels muß zum Gott aller Völker werden, als Retter der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Natürlich steht damit der eine Gott gegen die vielen Götter, Monotheismus gegen Polytheismus. Aber dieser Gegensatz ist nicht der Fokus des Textes. Es geht vielmehr um das qualitative Problem wahrer Religion und wahren Gott-Seins: Als wahr, so der Text, erweise sich der Gott, der aus Rechtlosigkeit und Entwürdigung befreie und ein Leben in solidarischer Gerechtigkeit ermögliche, und das sei der eine Gott JHWH, den Israel von Anfang an als Retter und Befreier erfahren hat. Der Begriff des Göttlichen wird vom Begriff der Gerechtigkeit her definiert […] (Fürst 2007: 280). Weil die anderen Götter in den von menschlichen Amtsträgern und Machthabern geschaffenen Verhältnissen als wirksame Größe erfahren werden, ist die Frage, ob der Psalm [82] tatsächlich vom Sturz von Göttern erzählt, oder ob die Rede von den Göttern eine Metapher für menschliche Machthaber ist, dahingehend zu entscheiden, dass zunächst tatsächlich von Göttern die Rede ist. […] Dennoch liegt das Interesse des Textes in der Veränderung der als ungerecht erlebten Verhältnisse der Welt. Diese Verhältnisse sind aber von menschlichen Würdenträgern verantwortet, die sich auf ihre jeweiligen Götter berufen. Indem der Psalm schildert, wie Gott in der Versammlung Els die Herrschaft der anderen Götter dadurch beendet, dass er sie zur Sterblichkeit verurteilt, wird illustriert, dass die Macht der anderen Götter schon an ihr Ende gekommen ist. […] Ihre Macht ist nur in der Welt selbst präsent in den Ansprüchen der Völker, die diese Götter verehren und als Legitimationsinstanz benutzen. […] Der Hintersinn der wuchtigen Gottesrede der VV. 6 f., in der die anderen Götter dazu verurteilt werden, sterblich zu sein wie Menschen, liegt darin, dass die Macht der anderen Götter tatsächlich nur so weit reicht wie die Macht sterblicher Machthaber. […] Als Hüter der Gerechtigkeit wird Gott angerufen, die ungerechten Zustände auf der Welt zu beseitigen (Gerhards 2015: 252–3).
Für die Frage nach dem Verhältnis von Poly‑ und Monotheismus ist, ganz basal, zunächst entscheidend, dass es gemäß der Darstellung des Psalms also doch in irgendeiner Weise eine Vielheit von Göttern zu geben scheint – sonst könnte der Vgl. Kap. I.1 und Epilog, Kap. VII.2.
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eine Gott nicht in ihrer Ratsversammlung als Richter sprechen; genau dadurch ist er jedoch zugleich aus dieser Göttervielheit herausgehoben. Sprachlich liegt im Hebräischen bekanntlich die Besonderheit vor, dass das Wort ʾelohim, grammatisch ursprünglich Plural, sowohl singularisch für den Gott Israels steht wie auch als Plural „Götter“ bedeuten kann. Beide Varianten kommen in Ps 82, 1 nebeneinander vor: Durch das zugehörige Prädikat im Singular ist das erste ʾelohim eindeutig Singular und bezeichnet „Gott“ im Sinne des einen Gottes Israels. Das zweite ʾelohim ist durch die status constructus-Verbindung mit beqäräw „mitten unter“ als Plural identifizierbar, weil „Mitte“ nach einer Bestimmung, von der sie Mitte ist, verlangt: Dies kann hier nur der Plural ʾelohim sein, weil der Satz andernfalls keinen Sinn ergäbe (Gott müsste sonst in seiner eigenen Mitte von und für sich selbst Richter sein). Es erscheint also für den Psalmisten keineswegs undenkbar, dass es andere Götter gibt; da sie aber in der Welt nicht für gerechte Verhältnisse sorgen, hält der eine wahre Gott Israels, der Hüter der Gerechtigkeit, über sie Gericht und entmachtet sie (V. 6–8): Nur aufgrund seiner Gerechtigkeit ist der Gott Israels gegenüber den anderen Göttern herausgehoben und verfügt ihnen gegenüber über richterliche Potenz. Für Israel spielen die anderen Götter daher schlicht keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle: Halten muss man sich an den Gott, der über die Götter Richter ist und tatsächlich für Gerechtigkeit (in der Welt) sorgt. Ihm gebührt dankendes Lob: Lobt den Gott der Götter! (Ps 136, 2)
Auch in einer anderen Passage aus dem Buch Josua wird er „Gott der Götter“ genannt, was zumeist nur mit „der starke, mächtige Gott“ wiedergegeben wird: Gott der Götter (ʾel ʾelohim), der HERR (JHWH), Gott der Götter, der HERR: er erkennt! (Jos 22, 22 a)
Hier ist JHWH in vergleichbarer Weise wie in dem vorher genannten PsalmZitat aus der Göttervielzahl herausgehoben: Er ist der Gott der Götter, steht also über ihnen; sein Erkennen als höchster Gott wird dabei unterstrichen. Der Gott des Judentums ist also nicht ‚allein‘. In einer weiteren Passage ist von dem „Himmelsheer“ die Rede, welches ihn umgibt: Und [sc. Micha] sprach: Daher höre das Wort des HERRN (JHWH): Ich sah den HERRN (JHWH) sitzen auf seinem Thron und das ganze Heer des Himmels um ihn stehen zu seiner Rechten und zu seiner Linken (1 Kö 22, 19).
Alle diese aus ganz unterschiedlichen Kontexten entnommenen Verse der hebräischen Bibel untermauern unmissverständlich den monotheistischen Anspruch des Gottes Israels als des Allerhöchsten: Und sie werden erkennen, dass du, dessen Name HERR (JHWH) ist, allein der Allerhöchste (ʿäljon) bist über alle Welt (Ps 83, 19).
2. Die Bibel
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Zwischen ihm und seinem Volk besteht eine besondere Beziehung, und dies ist der Grund, weshalb es falsch und unsinnig wäre, wenn Israel sich anderen Göttern zuwendete.638 Das bedeutet, dass nicht ausgeschlossen ist, dass es generell auch andere Götter geben mag.639 Wenn es sie aber geben sollte, sind sie für Israel nicht von Bedeutung, denn der Gott Israels ist ihnen überlegen – sonst könnte er nicht Allerhöchster und Richter über die Götter sein. Deshalb bleibt es aus der Perspektive jüdischer bzw. alttestamentlicher Theologie dabei: „Ich bin Gott und sonst keiner“ (Jes 46, 9). b) Neues Testament Das christliche Neue Testament steht bekanntlich auf der Basis der jüdischen Tradition,640 auch wenn diese nun vor dem Hintergrund der Gottesoffenbarung in Jesus Christus und dessen besonderer Stellung641 neu durchdacht wird: Wie schon in der hebräischen Bibel, ist auch im Neuen Testament die Gottesfrage wesentlich gekoppelt an die Frage der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Diese erhält aber durch Christus eine neue Dimension, insofern die von Sünde und Tod belastete Beziehung des Menschen zu Gott erst durch Christus wiederhergestellt und neu vermittelt wird:642 Einer nämlich ist Gott, einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Auslösung (antilytron) für alle (1 Tim 2, 5–6).
Wie bei dem Schemaʿ Jisraʾel wird auch hier unterstrichen, dass Gott einer ist. Diesem monotheistischen Zug bzw. der Einheit Gottes entsprechend gibt es auch nur einen Mittler in der Beziehung zwischen Gott und Mensch, den „Menschen Jesus Christus“, denn er gibt sich / sein Leben als „Auslösung für alle“ Menschen. In der gegenwärtigen Theologie wird diese Mittlertätigkeit und besonders das Thema ‚Auslösung‘ und ‚Sühnetod‘ kontrovers diskutiert. Klar erscheint, dass diese Auslösung in irgendeiner Weise an den Tod und die Auferstehung Jesu gekoppelt ist: Dabei ist keinesfalls zwingend an eine ‚merkantile Satisfaktion‘ für die Sünden der Menschen zur ‚Beschwichtigung des Gotteszorns‘ zu denken.643 Entscheidend aber scheint zu sein, dass alle Theologie des Christentums in ihrem 638 Genau dieses Beziehungsproblem ist jedoch Hintergrund vieler alttestamentlicher Texte, vgl. z. B.: Ex 32; Jer 1, 16; 2, 17; 9, 12; 15, 6; Jes 1, 4; 49, 14–16; Ri 10, 10–16. 639 Vgl. Assmann (2003: 58). Da potentielle andere Götter dem Gott Israel aus jüdischer Perspektive untergeordnet sind, sehe ich nicht, wieso man den alttestamentlichen Monotheismus „präziser“ als „Monojahwismus“ bezeichnen sollte (so Assmann ibd., 59). JHWH ist der einzige, allerhöchste Gott, insofern nimmt er eine als monotheistisch zu beschreibende Position ein, weil er nicht mit anderen Göttern verwechselt oder auf ihre Stufe gestellt werden kann. 640 Vgl. Jh 4, 22 b; Rö 9, 3–5; 11, 28 b. 641 S. o. Kap. IV.2.2 b. 642 Ratzinger – Benedikt XVI. (2005: 265). 643 Vgl. in dieser Hinsicht z. B. die Kritik bei Reinmuth (2004: 147, Anm. 156), umfassender und ausgewogener zur Stellvertretung und zum Sühneopfer Berger (2004: 313–6, 598) und Ratzinger – Benedikt XVI. (2005: 264–276).
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Zentrum nicht ohne die Auferstehung Jesu von den Toten denkbar ist:644 Die Überwindung des Todes und der lebensfeindlichen Mächte (Sünde, Krankheit etc.) wird durch das Leiden und Auferstehen des gerechten Mittlers „im Interesse der / für die“ von sich selbst her nicht (mehr) gerechten Menschen erreicht.645 In diesem Sinne ist in Jesus Christus Gottes Liebe zu den Menschen selbst Mensch und so (Ver‑)Mittler der neuen Gerechtigkeit geworden,646 welche Tod und Ungerechtigkeit fundamental beseitigt.647 Wesentlich im Hinblick auf den Aspekt Mono‑ und Polytheismus ist hier, dass Jesus Christus kein ‚Extra-Gott‘ neben dem Gott Israels ist: In seiner Einheit mit dem Gott Israels, den er als Vater anspricht,648 offenbart Christus allein diesen selbst als den einen Gott und ist als Sohn derjenige, welcher mit dem Vater „eins ist“ (Jh 10, 30) sowie zwischen Gott und den Menschen vermittelnd eintritt und tätig wird. Es mag also verschiedene göttliche Personen geben, aber nur einen Gott, wie dies später auch in der klassischen Trinitätslehre entwickelt und festgehalten wurde.649 Die Beziehung zwischen Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist stellt somit den monotheistischen Zug der jüdischen Religion nicht in Frage.650 Trotzdem – und aus jüdischer Sicht keineswegs unverständlich – sieht sich Christus dem Vorwurf ausgesetzt, er mache sich selbst zu Gott (Jh 10, 33), und antwortet mit einem Verweis auf die Heilige Schrift der Juden: Es antwortete ihnen Jesus: Ist es nicht in eurer Tora (eurem Gesetz, nomos) geschrieben: ‚Ich habe gesagt: Ihr seid Götter‘ (Ps 82, 6)? Wenn er jene Götter nannte, zu denen das Wort Gottes (ho logos tou theou) kam – und die Schrift kann nicht verletzt werden –, wie sagt ihr zu dem, welchen der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: ‚Du sprichst blasphemisch‘, weil ich sagte: ‚Ich bin Sohn Gottes‘? (Jh 10, 34–36)
Jesus Christus verwahrt sich gegen den Vorwurf der Gotteslästerung dadurch, dass bereits diejenigen, „zu denen das Wort Gottes kommt / ergeht / geschieht“, im Psalm-Wort „Götter“ genannt würden. Dieses Argument scheint aus mindestens drei Nuancen zu bestehen: Erstens rechtfertigt sich Christus durch ein Wort der Heiligen Schrift, die nicht „verletzt“ werden kann und darf. Zweitens ist die Bezeichnung „Sohn Gottes“ nicht nur keine Blasphemie, weil auch diejenigen, die das Wort Gottes hören, gemäß der Schrift als „Götter“ gelten (können). Drittens steht gerade aus der Perspektive des Johannes-Evangeliums hier der Aspekt im 644 Vgl.
Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 266). Vgl. 1 Pt 3, 18; Rö 3, 22–24. Vgl. Berger (2004: 606–7); zu Jesus als dem „wahrhafte[n] Gerechte[n]“ s. ibd., 339, 598. Zum Gedanken der Sühne und Stellvertretung s. ferner Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 278, 196–7). 646 Vgl. Tit 3, 4–7; Rö 1, 17. Zum Gedanken der Erlösung, die nur Gott selbst bewerkstelligen kann, vgl. auch schon Jes 49, 26 b. 647 Vgl. 1 Kor 15, 26. 648 S. o. Kap. IV.2.2 b. 649 Vgl. Augustinus, trin. V, 8, 9 ff.; civ. X, 24; (im Anschluss an Augustinus) Boethius, trin. 1; 167, 41–42; V, 178,310–179,316 (dazu s. u. Kap. IV.6); Thomas von Aquin, STh I 1, qu. 34, art. 1. 650 Vgl. oben Anm. 609. 645
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Hintergrund, dass Christus selbst das „fleischgewordene Wort“ Gottes (Jh 1, 14) ist. D. h., für den christus-gläubigen Hörer / Leser des Johannes-Evangeliums wird zugleich deutlich, dass Christus mit Verweis auf ‚gewöhnliche‘ Menschen, denen Gottes Wort zuteil wird und die deshalb „Götter“ seien, sich diesen einmal gleichstellt, zum anderen aber, da er selbst das Wort Gottes ist, von ihnen zugleich herausgehoben ist – ein Interpretationsergebnis, welches sich oben bereits gezeigt hatte.651 Für den Christus-Gläubigen ist also der Mensch Jesus Christus qua logos, d. h. dadurch dass „ihn der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat“, selbst derjenige, der offenbar andere, zu denen er als logos kommt, zu „Göttern“ machen kann.652 Durch diese seine Sendung ist er somit erst recht und in primärer Weise „Sohn Gottes“. Für die Mono- / Polytheismus-Frage erscheint es bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit Jesus Christus von „Göttern“ im Plural spricht – dass eine solche Rede gerade aus der monotheistischen Perspektive Israels provozierend wirken könnte, wird implizit zugestanden und zugleich abgefedert dadurch, dass in Ergänzung zu dem Schriftwort unterstrichen wird: „Die Schrift kann nicht verletzt werden.“ Nicht nur die Heilige Schrift als solche dient als Argument, auch ihre unverletzbare Autorität wird explizit in Anspruch genommen. Der Plural „Götter“ bleibt freilich eingeschränkt auf diejenigen, zu denen Gottes Wort kommt. D. h., wer auch immer diese „Götter“ tatsächlich sein könnten – sie wären es in sekundärer, abgeleiteter Weise durch Teilhabe / Anteilgewinnung an Gottes Wort, welches „zu ihnen kommt“. Der monotheistische Ein-Gott des Schemaʿ Jisraʾel bleibt unangetastet der einzige Gott, welchen Christus als „Vater“ anredet. Eine weitere Passage aus dem ersten Korintherbrief des Paulus bedient sich ebenfalls auffällig selbstverständlich der Rede, dass es „viele Götter“ gebe: Und selbst wenn es denn sogenannte Götter, sei es im Himmel oder auf Erden, gibt, wie es viele Götter und viele Herren gibt – aber für uns ist ein Gott, der Vater, von dem alles ist und wir zu ihm hin, und ein Herr Jesus Christus, durch welchen alles ist und wir durch ihn (1 Kor 8, 5–6).
So, wie es oben schon für die hebräische Bibel gezeigt werden konnte, gilt auch hier: Es ist nicht ausgeschlossen, dass es generell auch andere Götter gibt – aber sie spielen weder für Juden noch für Christen eine Rolle. Es mag viele Götter „im Himmel und auf Erden geben“, denn es gibt viele „Herren“ – die als Götter fungieren, insofern sie als „Herren“ verehrt werden. Diese beiläufig-selbstverständlich erscheinende Rede könnte nun, wenn man sie stark auslegt, tatsächlich so gelesen werden, als ob hier auch die griechisch-römische Göttervielheit gemeint, zumindest als Bezugspunkt nicht ausgeschlossen ist. Immerhin zeigt sich der 651 S. o.
Kap. IV.2.2 b. Vgl.: „ ‚Ihr seid schon rein wegen des Wortes, das ich zu euch gesprochen habe‘ “ (Jh 15, 3). S. außerdem Kap. IV.3 b zu Origenes. 652
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Apostel offen gegenüber anderen Denktraditionen, insofern sie Anknüpfungspunkte an sein Evangelium von Jesus Christus bieten.653 Dieses Vielleicht in Bezug auf andere Götter bleibt jedoch auch bei Paulus nicht theologiebestimmend, weil er es im selben Atemzug als irrelevant entkräftet: Es gibt nur einen Gott, den Vater, „von dem alles ist und wir zu ihm hin“. D. h., der eine Gott Israels, der Vater Jesu Christi, ist universaler Schöpfer allen Seins, und deshalb geht auch der Weg der Menschen („wir“) zu ihm als Ziel hin. Aber, wie zu Beginn dieses Teilkapitels gesehen, gibt es zugleich nur einen Mittler, welcher die Beziehung zwischen Gott und Menschen (wieder‑)herstellt und ermöglicht: In der oben zitierten Passage erscheint Christus überdies als Schöpfungsmittler, „durch welchen alles ist und auch wir durch ihn.“654 Fazit: Insgesamt lässt sich also festhalten, dass sowohl die hebräische Bibel wie auch das christliche Neue Testament gleichermaßen eindeutig an der monotheistischen Theologie, wie sie prägnant im Schemaʿ Jisraʾel ausgesprochen ist, festhalten. Daneben gibt es aber immer wieder Andeutungen bis ausdrückliche Bemerkungen, dass es außer dem einen Gott Israels auch andere Götter geben könnte: Bisweilen wird eine Götterpluralität angenommen, die aber nie den Status und die Macht des einen Gottes fragwürdig erscheinen lässt, sondern, wenn es sie gibt, ihm (etwa als Richter) klar inferior unterstellt ist. Bestimmend für die jüdische respektive christliche Theologie der Heiligen Schrift(en) sind diese „sogenannten vielen Götter“ indes nie: Sie bleiben belanglos, können außer Acht gelassen werden. Im Vergleich zur platonisch-paganen Tradition, welche in der ersten Hälfte dieses Buchs im Zentrum stand, zeigt sich für die Frage nach dem Verhältnis von Mono‑ und Polytheismus somit folgendes Bild: Für die Platoniker ist das absolute, überseiende Eine bzw. das Gute als personhaftes (Über‑)Eidos der allerhöchste Gott schlechthin; ihm kommt kein anderer Gott gleich, und insofern liegt ein monotheistischer Zug vor, da der allerhöchste Gott eindeutig herausgehoben ist von allen anderen Göttern und Wesen. Trotzdem besteht, diesem untergeordnet, ganz klar eine Göttervielheit im Sinne der klassischen griechischen Religion: Diese Vielheit ist von dem Einen ontologisch abhängig und zugleich dessen kreative Entfaltung in die Vielheit bestimmter göttlicher Mächte (z. B. Zeus, Athene, Ares, Aphrodite etc.), welche das intelligible Sein begründet und von diesem her auch die vergängliche Welt der materiellen Existenz. Dieser polytheistische Aspekt gehört für die Platoniker somit genauso zur philosophischen Theologie wie der monotheistische; beide Aspekte sind klar voneinander unterscheidbar, bilden aber eine systematische Einheit, ohne dass eine bloße Addition der vielen Götter und des einen Gottes zu einer ‚Gesamtsumme‘ philosophisch-theologisch gerechtfertigt wäre. Aus diesen Gründen konnte Proklos Vgl. 1 Kor 9, 19–22; Apg 17, 23.28. Vgl. Berger (2008: 8) zu Paulus’ „Offenheit“. Zu Christus als Schöpfungsmittler / Wort Gottes vgl. Jh 1, 3; Kol 1, 16–17.
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es auf die (keineswegs tautologische) Formel bringen: „Gott also [sc. ist] einer und Götter [sc. sind] viele“ (ThP III, 3; 14, 4–9). Im Vergleich zwischen der platonisch-paganen und der biblischen Theologie fallen daher zwei Ergebnisse auf: (1) Während die Göttervielheit für die Platoniker nie zu leugnen und in ihrem theologischen System wesentlich verankert ist, konnte sowohl für die hebräische Bibel wie auch für das Neue Testament festgestellt werden, dass die Annahme bzw. das Bestandhaben vieler Götter zwar möglich sein könnte, aber nie ausschlaggebend oder wesentlich für das theologische Gesamtbild ist. Es mag viele Götter geben oder nicht – diese Frage zu entscheiden, spielt letztlich keine Rolle, da es um den einen Herrn, den einen Gott Israels geht, welcher einer potentiellen Göttervielheit in jedem Fall überlegen ist. Auf ihn nimmt Jesus Christus im Neuen Testament als seinen „Vater“ Bezug und ist selbst entsprechend der eine Mittler, welcher die Beziehung zwischen Gott und Mensch neu ermöglicht und wiederherstellt. (2) Trotz dieses deutlichen Unterschieds stimmen die Heiligen Schriften des Juden‑ und Christentums mit der platonisch-paganen Tradition grundsätzlich darin überein, dass – auch wenn es eine Göttervielheit geben sollte – dieser ein einziger Gott als allerhöchstes (Über‑)Wesen vorausliegt: An der Spitze beider theologischer Systeme, wenn man so sprechen darf, kann keine Vielheit gleichrangiger göttlicher Wesen stehen, sondern nur der eine Gott allein. Vor diesem Hintergrund geht es weder darum, eine strukturelle Gemeinsamkeit überzubewerten, noch darum, die viel augenfälligeren Unterschiede überzubetonen oder herunterzuspielen: Im Sinne des interreligiösen Dialogs, auf dessen Interpretation diese Untersuchung zusteuert, sollen lediglich Unterschiede, aber auch mögliche Anknüpfungspunkte zwischen verschiedenen geistesgeschichtlichen Traditionen gemeinsam gewürdigt werden. Als ein sicher entscheidender Unterschied zwischen der platonischen und der christlichen Theologie bleibt vor allem die herausragende Rolle Jesu Christi im Neuen Testament und damit in der christlichen Religion bestehen: Während es für die Platoniker göttliche Mittlerwesen gleichsam als besondere ‚Kategorie‘ in Gestalt der zwischen Gott und Mensch (welche sich nach Platon „nicht mischen“655) vermittelnden daimones gibt, sind der christlichen Tradition zwar auch Zwischenwesen (Engel) bekannt:656 Diese können aber nicht die Funktion übernehmen, welche dem „einen Mittler“ zwischen Gott und Mensch zukommt. Die Wiederherstellung der Beziehung von Gott und Mensch wird nur von Gott selbst in Gestalt des Sohnes und Mensch gewordenen logos, also durch Jesus Christus, geleistet, welcher höher steht als die Engel und einen ganz anderen, symp. 203a1–2. Vgl. Mt 4, 11; 13, 41.49; 16, 27; 18, 10; 26, 53; 28, 5; Lk 1, 18.26.28; 2, 13; 16, 22; 22, 43; 24, 23; Jh 20, 12. 655 Platon, 656
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exzeptionellen Rang einnimmt.657 Von daher zeigt sich auch, dass die Rede von „Mittlern“ zwischen Gott und Mensch bei Platon etwas ganz anderes meint als diejenige von „dem einen Mittler“ im Christentum: Die Ähnlichkeit in der Wortwahl darf nicht über eine grundsätzlich verschiedene Theologie hinwegtäuschen: Im Platonismus selbst gibt es weder eine Person noch eine Systemstelle, welche der Person Jesu Christi im Neuen Testament vergleichbar wäre.658
3. Origenes: Teilhabe-Philosophie, Schöpfungs-Ontologie, Trinitätstheologie und das Verhältnis von Mono‑ und Polytheismus a) Grundlagen: De principiis Origenes (185–253/4 n. Chr.), der erste große wissenschaftliche Theologe in der Geschichte des Christentums, führt am Ende des vierten Buchs von De principiis einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema Teilhabe aus: Jeder, welcher an etwas Bestimmtem partizipiert, ist mit dem, welcher derselben Sache teilhaftig ist, ohne Zweifel von einer Substanz und von einer Natur. Beispielsweise partizipieren alle Augen am Licht, und daher sind alle Augen, die am Licht partizipieren, von einer Natur; aber wenn auch jedes Auge am Licht partizipiert, partizipiert dennoch – weil der eine schärfer, der andere schwächer sieht – nicht jedes Auge auf gleiche Weise am Licht. […] Gehen wir nun von den sinnlich-wahrnehmbaren Beispielen zur Betrachtung der intellektualen [sc. Naturen] über. Jeder Geist (mens), welcher am intellektualen Licht partizipiert, muss zusammen mit jedem Geist, welcher auf ähnliche Weise am intellektualen Licht partizipiert, ohne Zweifel von einer Natur sein (princ. IV, 4, 9; 361,16–362,5).
Origenes erklärt zunächst gut platonisch die Partizipation an etwas Bestimmtem als wesensbestimmend für die partizipierenden Instanzen einer partizipierten Sache: Insofern jedes Auge das bestimmte Vermögen, sehen zu können, verwirklicht, partizipiert es am Augenlicht, wenngleich es hier Abstufungen gibt. Die Bestimmung des Wesens bzw. der Natur erfolgt also über die Bestimmung der partizipierten Sache, d. h. des bestimmten Vermögens, Sehorgan zu sein. Zugleich liegt hier vielleicht eine ‚Schwachstelle‘ in Origenes’ knapper Darstellung verborgen: Qua Sehorgan mögen Augen verschiedener Lebewesen ein bestimmtes Wesen hinsichtlich ihres Vermögens gemeinsam haben; insofern die Augen aber nicht nur Augen, sondern – aristotelisch gesprochen – zu einem bestimmten Zugrundeliegenden zugehörig sind (etwa Augen eines Menschen oder eines Adlers), müssten sie doch wohl als wesentlich verschieden betrachtet werden, zumal auch die Augenmaterie, welche als Sehorgan im Sinne des jeweiligen Seh-Werkzeugs dient, sehr unterschiedlich sein kann. Es scheint also zunächst eine hinreichende Differenzierung zwischen der partizipierten Sache Vgl. Heb 1, 5–14. Vgl. Drews (2011: 32, Anm. 70).
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3. Origenes
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selbst und den an ihr partizipierenden Instanzen zu fehlen – mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen für Origenes’ Trinitätstheologie, Christologie und die Frage, ob Gott Vater und Gott Sohn „wesensgleich“ (homoousios) sind, worauf unten zurückzukommen sein wird (s. Kap. IV.3 b). Das Fehlen einer derartigen Differenzierung könnte aus historischen Gründen damit erklärt werden, dass Origenes natürlich vor Proklos (und höchstwahrscheinlich auch vor Plotin) schreibt und insofern die spätere Differenzierung, wie sie oben für den paganen Neuplatonismus abgeleitet wurde, hier noch nicht vorliegt.659 Ebenso denkbar erscheint aber, dass Origenes hier (in Rufins Text) auf einen bestimmten Punkt – nämlich die gemeinsam partizipierte Sache, insofern sie wesensbestimmend für das Partizipierende ist – achtet und entsprechend verkürzt spricht. Denn mit der Abstufung der aktualen Anteilhabe, wodurch sich die Partizipierenden wiederum voneinander unterscheiden, könnte genau diese Differenzierung impliziert sein. Eben diese Differenzierung scheint Origenes auch im Hinblick auf die mens, den Geist (nous), dadurch zu benennen, dass er von einer „ähnlichen Weise“ der Partizipation spricht: Die mentes, deren unterscheidbare Vielzahl sprachlich allein schon das Pronominaladjektiv omnis zum Ausdruck bringt, haben nicht auf selbige, sondern – qua mentes – auf lediglich ähnliche, sie als Vielheit verbindende Weise am „intellektualen Licht“ teil. Die Vielheit und Unterschiedenheit der Partizipierenden blendet Origenes also nicht grundsätzlich aus; zugleich wird durch die Partizipation am selben „intellektualen Licht“ die gemeinsam geteilte Vernunft der einzelnen mentes als Quell des mens-Seins unterstrichen. Nicht zuletzt zeigt Origenes in der obigen Passage mit der Unterscheidung von wahrnehmbarem und intelligiblem Licht660 deutlich, dass er der parmenideischplatonischen Grunddifferenzierung zwischen sinnlich-wahrnehmbarer Existenz und geistig-intelligiblem Sein Rechnung trägt, mit deren Hilfe er z. B. auch die Aussage des ersten Johannes-Briefs (1, 18), niemand habe Gott je gesehen, so auslegt, dass Gott von Natur aus, also wesensmäßig, nichts Sinnlich-Wahrnehmbares sei, sondern nur durch das intellekthafte Erfassen erkannt werden könne,661 wie es oben auch schon für Paulus anhand von Römer 1, 20 gezeigt wurde.662 Origenes’ Ausführungen über Ontologie und die damit unmittelbar verbundene Partizipations-Philosophie führen zugleich zum Verständnis seiner Gotteslehre und Schöpfungstheologie hin: Die Schöpfung verdankt sich Got659 S. o. Kap. II.5 und III.c. Origenes steht insofern noch der mittelplatonischen Tradition nahe (s. Thümmel 2011: 9). Jedoch weist Fürst (2014: 562) zu Recht darauf hin, dass Origenes’ denkerischer Entwurf und sein „Gesamtkonzept“ nicht nur eindeutig platonisch (und nicht stoisch) ist, sondern bereits – wie sich auch im Folgenden zeigen wird – Neuplatonisches vorwegnimmt: Origenes „liefert den ersten Entwurf eines neuplatonischen Systems“ (ibd.). 660 Vgl. ebenso in Jh. I, 25,160–26,167. 661 princ. I, 1, 8; 25,7–26,6. Zur Unterscheidung von wahrnehmbarer und intelligibler Wirklichkeit vgl. ferner princ. III, 6, 7; IV, 2, 1; IV, 3, 15; IV, 4, 10. 662 S. o. Kap. IV.2.2 a.
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tes Schöpfergeist663 und der Anteilhabe an ihm. Alles Leben kommt aus dem Geist,664 Gottes ewiger Vernunft, dem so verstandenen Logos, d. h. Christus, Gottes Wort.665 Insofern er auf bestimmte Weise zugleich Weisheit ist, sind in ihm (ihr) gemäß Origenes die intelligiblen Seinsprinzipien der (platonisch verstandenen) Eidê666 (species) und Vernunftgründe (rationes) der „gesamten Schöpfung präfiguriert und enthalten“:667 Nur deshalb ist der Logos auch die Weisheit „als Anfang der Wege Gottes“ (Spr 8, 22), insofern die Weisheit das Wissen um alle (noch so verborgenden) Vernunftgründe darstellt und der Logos diese Geheimnisse „dolmetscht“668 – ein Gedanke über Gottes Vernunft, der bereits bei Philon von Alexandria (ca. 25/10 v. Chr. – 40/50 n. Chr.) belegt ist.669 Zugleich ist der göttliche Logos, Gottes Sohn, als Quell alles wahrhaften Seins auch Ursache des Lebens und der Wahrheit: ‚Sein‘ ist kein philosophisches Abstraktum, sondern Inbegriff und Fülle aller Seinsmöglichkeiten, welche Leben konstituieren; alles, was lebt, „lebt aus der Ursache des Lebens heraus“. Wahrheit Vgl. oben Kap. IV.2.2 a (mit Anm. 575 und 576) zu Gen 1, 2 b; Ps 36, 10 a; Jh 1, 3–4; Rö 1, 20. in Jh. I, 19, 112+117. 665 Zur Abgrenzung gegen dass Missverständnis, der Sohn als Wort Gottes wäre nur ein aus Silben bestehender Ausspruch ohne eigenes Wesen und Hypostasis, s. in Jh. I, 24, 151. Vgl. Heine (2010: 95). 666 Edwards (2002: 104) meint hingegen, Origenes „rejects the Platonic world of Forms as he [sc. Plato] conceives it“, und verweist auf princ. II, 3, 6: Hier grenzt Origenes jedoch nur das Reich des Sohnes („Ich bin nicht von dieser Welt“, Jh 17, 14+16) gegen eine (wie auch immer verstandene oder auch missverstandene) platonische Ideenwelt ab. Jedoch reicht die alle species et rationes in sich enthaltende sapientia zumindest recht nahe an Platons Ideenverständnis heran (Ähnliches gilt für die vielen, in dem Logos enthaltenen theôrêmata, in Jh. V, 5). Bei sehr wohlwollender Interpretation ließe sich Edwards’ Einschränkung „as he [sc. Plato] conceives it“ zwar so auslegen, als ob sich Origenes hier nur gegen die platonische (polytheistische) Eigenständigkeit der (Götter‑)Ideen abgrenzen wollte; Edwards (ibd., 160) intendiert jedoch eine andere Schlussfolgerung: Origenes „declares the Ideas or Forms of Plato to be chimerical […]“. Edwards’ schon im Buchtitel greifbare Radikal-Abgrenzung „Origen against Plato“ bezeichnet Fürst (2014: 562) zu Recht als „abwegig“. Zur „Sophia […] als Ort der Ideenwelt“ bei Origenes vgl. Thümmel (2011: 18). – Zum platonischen Eidos-Begriff s. o. die Hauptteile II und III passim. Zum Standardbeispiel ‚Dreieck‘ s. dort Kap. II.5 b und III.c. 667 In dieser Hinsicht kann Origenes sagen, dass Christus als „prinzipienhafter Anfang“ (archê) qua Gottes Weisheit (sophia) „auf bestimmte Weise Demiurg“ ist (in Jh. I, 19, 110–1; ebenso 35, 255). Christus wird hier also eindeutig auch als sophia Gottes verstanden; während Origenes zwischen sophia und logos teils differenziert (s. Anm. 668), sind doch beide mit Christus als dem Sohn Gottes wesensmäßig verbunden. Zu den in der sophia bzw. dem einen logos enthaltenen logoi als vorausliegenden (Eidos‑)Ursachen für die Schöpfung s. in gleicher Weise in Jh. I, 19, 114; V, 5. 668 princ. I, 2, 3; 30, 9–15. Vgl. Jacobsen (2015: 110, 123). Zur weitergehenden Differenzierung bei Origenes zwischen sophia und logos, insofern Letzterer in Ersterer umfasst ist, beide aber in Christus sind, vgl. Thümmel (2011: 17–18): Die sophia wird in Spr 8, 22 archê genannt, der logos sei aber in der archê (Jh 1, 1). Bei Origenes bleiben trotz dieser Differenzierung zwischen sophia und logos beide Begriffe in einem engen Bezug zueinander und werden mitunter fast synonym gebraucht (vgl. in Jh. II, 18, 126). Vgl. Heine (2010: 93), Hengstermann (2011: 79), Bruns (2013 b: 70–71) und Fürst (2014: 555). 669 Vgl. Philon über Gottes Logos (heres 205–6). 663
664 Vgl.
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bezieht sich, insofern sie tatsächlich Wahrheit von etwas ist, auf wahrhaft Seien‑ des, dieses aber ist auf unüberbietbare Weise in dem Quell allen Seins zentriert. Umgekehrt könnte das Seiende nicht wahrhaft Seiendes sein, wenn es nicht der Wahrheit entspringen würde.670 Vor diesem Hintergrund kann Origenes das Wort Jesu: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Jh 14, 6) schöpfungsontologisch als Explikation dafür begreifen, dass Jesus Christus der Logos, das Wort Gottes, ist: Der Logos ist der Anfang der Wege Gottes, aber auch der Weg, welcher diejenigen, „welche ihn gehen, zum Vater führt“;671 er ist die Wahrheit, weil er der Schöpfungsgeist (Jh 1, 3) und als solcher Ursache allen wahrhaften Seins ist; er ist das Leben, weil aus ihm alles Leben kommt, sowohl das Leben der (ersten) Schöpfung wie auch das Leben der Auferstehung (vgl. Jh 11, 25).672 Als Logos – Gottes Wort, Weisheit und Wahrheit – ist Christus also Gottes Sohn. Gottes Wort, Weisheit und Wahrheit sind untrennbar mit Gott selbst verbunden; Gott wäre nicht Gott ohne seine Weisheit und sein Schöpfungswort. Daher kann gemäß Origenes theologisch nicht widerspruchsfrei gedacht werden, dass Gott Vater zu irgendeiner Zeit nicht diese seine Weisheit gezeugt habe;673 vielmehr zeugt er seine Weisheit, den Sohn, immer – ein Gedanke, der unmittelbar zur klassischen Trinitätstheologie hinführt.674 Qua Logos ist Christus somit selbst wesensmäßig, „von Natur aus“ Gottes Sohn und wird dies „nicht erst äußerlich durch Adoption“; seine Zeugung (generatio) als Sohn aus Gott „ist immer und ewig so, wie der Glanz aus dem Licht gezeugt wird.“675 Die Anteilhabe an Gott und an Christus als seinem ewigen Logos vollzieht sich gemäß Origenes nicht nur auf verschiedene Weise, sondern ist auf unterschiedlichen Stufen möglich – dies ist nicht zuletzt im Hinblick auf einen aus platonisch / christlicher Perspektive geführten interreligiösen Dialog von entscheidender Bedeutung. Dass aber die Aktivität (operatio) des Vaters und des Sohnes sowohl in den Heiligen wie auch in den Sündern ist, wird dadurch offenbar, dass alle, die mit Rationalität begabt sind, an Gottes Logos (verbum dei), d. h. der Ratio, partizipieren und deshalb gleichsam princ. I, 2, 4; 31, 5–9. Vgl. in Jh. I, 27, 186. princ. I, 4; 32, 4–5. Vgl. in Jh. I, 21, 126. 672 princ. I, 4; 31, 13–16. Vgl. in Jh. I, 27, 181. Zur Auferstehung und zum verwandelten Auferstehungsleib vgl. in princ. II, 10; III, 6. 673 princ. I, 2, 2; 29, 4–5. S. ebenso princ. I, 4, 4; 67, 8–10 und in Jh. I, 29, 204 zum „ewigen Heute“, in dem der Sohn gezeugt ist. 674 Vgl. Boethius (s. genauer unten Kap. IV.6): „Und nicht kann [sc. theologisch sinnvoll] gesagt werden, dass irgendetwas zu Gott hinzugekommen sei, auf dass er Vater geworden wäre; denn er hat nicht irgendwann angefangen, Vater zu sein – deshalb, weil die Hervorbringung (productio) des Sohnes ihm freilich substantial-wesensmäßig ist“ (trin. 5; 179, 318–321). – Zur Trinitätstheologie des Origenes s. Bruns (2013 b). 675 princ. I, 2, 4; 32, 34–36. Vgl. dazu, dass der Logos „immer mit dem Vater ist“ (in Jh. II, 1, 8). Zur ewig-fortwährenden Zeugung des Sohnes durch den Vater s. ferner Bruns (2013 b: 25, 60–65) und Jacobsen (2015: 337). 670 671
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bestimmte Samen an Weisheit und Gerechtigkeit in sich eingepflanzt tragen, welches Christus ist. Aus diesem aber, der wahrhaft ist, der durch Mose gesagt hat: ‚Ich bin, der ich bin‘ (Ex 3, 14),676 zieht alles Seiende seinen Anteil; diese Partizipation an Gott Vater geht durch zu allen, ebenso zu den Gerechten wie den Sündern, sowohl zu den mit als auch den ohne Rationalität Begabten und zu überhaupt allen Seienden. Auch der Apostel Paulus zeigt deutlich, dass alle Anteil an Christus haben, wenn er sagt: ‚[…] Sehr nahe ist dir das Wort (verbum; gr. rhêma) in deinem Munde und in deinem Herzen‘ (Rö 10, 8; Dt 30, 14). Damit gibt er zu erkennen, dass im Herzen aller Christus ist, insofern er Logos (verbum) bzw. Ratio ist: Durch den Anteil an ihm sind sie mit Rationalität begabt. […] Auf diese Weise also erstreckt sich die Aktivität der vermögenden Macht (virtus)677 Gottes des Vaters und des Sohnes ohne Unterschied über die gesamte Schöpfung, die Partizipation an dem Heiligen Geist jedoch wird, wie wir ausfindig machen konnten, nur von den Heiligen besessen. Deshalb heißt es: ‚Niemand kann Jesus den Herrn nennen außer im Heiligen Geist‘ (1 Kor 12, 3) (princ. I, 3, 6; 56,19–57,11; I, 3, 7; 59, 4–7).
Das Schöpfersein Gottes beinhaltet, dass die Schöpfung trotz seiner Transzendenz auf bestimmte Weise in Verbindung zu ihm steht, nämlich durch Anteilhabe an bestimmten Gaben, welche sich Gottes Schöpfergeist und seinen intelligiblen Seinsprinzipien verdanken. Die menschliche Rationaliät – insofern damit im platonischen Sinne das Erfassen sachlich-begrifflicher Unterschiede und somit eine eigene, für sich selbst bestehende geistige Wirklichkeit gemeint ist und nicht nur ein ‚Auswertungsorgan‘ für die der materiell-empirischen Realität entnommenen ‚Daten‘678 – ist für Origenes bereits eine Form der Partizipation am Vermögen des sachunterscheidenden Denkens, welches seine höchste Ursache in dem Quell aller Rationalität, der göttlichen Vernunft selbst, d. h. Christus als Gottes Logos und Sohn hat. Christus wird damit – jedenfalls gemäß dem Origenes-Text – nicht auf ein metaphysisches Abstraktum679 reduziert: Gott ist (dreifache) Person, auch der Logos als Quell der Rationalität bedeutet keine nachträgliche Personifikation einer an sich abstrakten Rationalität, sondern ist und bleibt Person Gottes. Für Origenes impliziert dieses Gott-Sein Jesu keinen Widerspruch zur Menschlichkeit des in Jesus Christus inkarnierten Logos: Vielmehr entspricht die Vollmacht, mit welcher der Mensch Jesus Christus handelt – d. h. die sowohl aus der Tora entspringende wie auch über sie hinausgehende Vollmacht –, gerade seinem ‚metaphysischen‘ Logos-Sein:680 Er ist das Schöpfungswort Gottes, und Zu Ex 3, 14 bei Origenes vgl. Bruns (2013 b: 42–45). Virtus entspricht dem dynamis-Begriff, welcher inhaltlich hier sowohl platonisch wie auch christlich gefüllt ist (vgl. oben Anm. 536). 678 Vgl. Schmitt ([2003 a: 110, 175], [2016: 97, 110]). 679 Origenes betreibt „keine abstrakte Metaphysik“ (Thümmel 2011: 16). 680 Insofern unterscheidet Origenes die „intelligible Präsenz“ Christi von seiner sachlich späteren, weil davon abgeleiteten körperlich-leiblichen Gegenwart (in Jh. I, 7, 37). Vgl. auch princ. I, 2, 6 zu Christus als „Abbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1, 15 f.) – der Bibelvers, den Thümmel (2011: 19) plausiblerweise als „Lieblingswort des Origenes“ bezeichnet. 676 677
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dies spiegelt sich in seiner Lehre und seinem Handeln als Mensch.681 Zumindest gemäß Origenes682 (sowie für weite Teile der alten Kirche) besteht hier kein Widerspruch:683 Es deutet sich möglicherweise bereits an, was später auf dem Konzil von Chalkedon mit dem formelhaften Dogma von der „unvermischten und ungetrennten“ Einheit der menschlichen und göttlichen Natur in der Person Jesu Christi zusammengefasst werden konnte.684 ‚Anteilhabe‘ an dem göttlichen Logos bedeutet für Origenes genauso wenig wie für die paganen Platoniker, dass der Mensch bereits irgendwie auf göttlicher Stufe stünde: Teil-Habe, participatio, beinhaltet das Erfassen eines Teils, nicht eines (universalen) Ganzen. Diese Interpretation erweist sich für den obigen Text aus verschiedenen Gründen als gerechtfertigt: Zum einen differenziert Origenes unter Rekurs auf den christlichen Gottesbegriff, der bereits in der frühen Kirche erkennbar trinitarisch angelegt erscheint,685 dass zwar alle Menschen, ob gläubige Christen oder nicht, am Wirken Gottes des Vaters und des Sohnes partizipieren, nicht aber alle am Wirken des Heiligen Geistes. Zum anderen weist Origenes zu Anfang der Passage darauf hin, dass alle Menschen „bestimmte Samen an Gerechtigkeit und Weisheit in sich eingepflanzt tragen“: Dies kann nicht heißen, dass im Grunde alle Menschen bereits aktual gerecht und weise wären. Vielmehr geht es um die samenhafte Potenz, welche ein Mensch, insofern er sich dabei von Gott leiten lässt, zur Entfaltung bringen kann. Auch die Anteilhabe an Sein im weitesten Sinne begreift Origenes als Partizipation an der Schöpfungsaktivität Gottes, und zwar des Vaters, wie er sich gegenüber Mose im brennenden Dornbusch offenbart: Denn Sein, d. h. das bestimmte Etwas-Sein, ist die grundlegende Bedingung der sich durch Gottes Vgl. Mk 2, 7–11; 2, 28; Jh 1, 3. S. auch oben Kap. IV.2.3 b zu Jh 10, 34–36. Vgl. princ. II, 6, 2 – jedenfalls auf der Basis der Gestalt, in welcher der Text von De principiis uns vorliegt, und unter dem Vorbehalt, dass Rufin in seiner lateinischen Übersetzung diesen Text maßgeblich geformt hat. Dazu, dass auch die lateinischen Texte „substantially viable as sources for Origen’s theology“ sind, vgl. jetzt Jacobsen (2015: 60; ähnlich 74). – Auch außerhalb von princ. spricht Origenes unverkennbar von Christus sowohl als „Menschen“ wie auch als „König gemäß seinem Göttlichen“ – Formulierungen, die dem späteren Dogma von den zwei Naturen in dem Mensch gewordenen Sohn durchaus nahe stehen (in Jh. I, 28, 192). 683 Gemäß Origenes gilt: „Der Gläubige muß über das Vordergründig-Irdische an der Person Christi hinauskommen und ihn als ewigen Logos erkennen“ (Thümmel 2011: 15). Vgl. in Jh. I, 2, 9. – Dazu, dass Anteilhabe an Christus auf verschiedene Art möglich ist – unterschiedliche Menschen brauchen Christus in unterschiedlicher Weise: als Arzt, Hirten, Lösegeld, Weisheit, Logos, Gerechtigkeit –, s. in Jh. I, 20, 124; princ. II, 7, 3; IV, 4, 4. Dabei wird jedoch nicht das Wesen Christi ‚zerspaltet‘ (in Jh. I, 28, 198–200). Vgl. Jacobsen (2015: 134, 152) und Fürst (2014: 554, 547–8, 564). 684 Vgl. in dieser Interpretationsrichtung jetzt sowohl Bruns (2013 b: 217) wie auch Jacobsen (2015: 106). – Zur „Gottheit des Sohnes“ vgl. die explizite Formulierung: hê tou hyiou theotês (in Jh. I, 27, 189; ebenso I, 4, 22). Zur Unterscheidung zwischen Gott Vater und Gott Sohn s. auch in Jh. II, 2, 16–17 (zitiert unten in Kap. IV.3 b). – Dazu, dass allgemein der Christus zugesprochene Titel „Herr“ vom Kontext des Alten Testaments her nur auf die Gottheit bezogen werden kann, vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 274). 685 Berger (2008: 72, 88) sieht dies sogar bereits bei Paulus gegeben. 681 682
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Wirken entfaltenden Schöpfung. Insofern kommt diese Partizipation aktual allen Geschöpfen zu, unabhängig davon, ob sie rational begabt sind oder nicht, ob Gerechte oder Sünder. Alle Seienden partizipieren gemäß Origenes also, insofern sie seiend sind, an der Schöpfungsaktivität Gott Vaters. Insofern sie rational begabt sind, haben sie „in ihren Herzen“ Anteil an Christus als dem Logos: Damit wird das Herz als rationales Denk-Organ beschrieben,686 und Origenes geht so weit zu sagen, dass die mit Rationalität Begabten nur durch Partizipation an Christus vernunftbegabt sind. Letztlich wird hier nichts Geringeres angedeutet, als dass Christus qua göttliche Person des Logos speziell von den rational begabten Wesen überhaupt nicht geleugnet werden kann: Wer rational zu denken in der Lage ist, mag sich über Christus als Gottes ewigen Logos im Unklaren bzw. seiner unbewusst sein; er ist aber gemäß Origenes nur rational begabtes Wesen aufgrund seiner Anteilhabe an diesem Logos und kann seine Begabung und ihre letzte Ursache nicht leugnen, ohne sich in den Widerspruch zu begeben, dass er kraft seiner rationalen Begabung die (eidetische) Ursache genau dieser Begabung in Abrede stellen würde. Deshalb kann Origenes begründeterweise resümieren, dass sich die Aktivität Gottes des Vaters und des Sohnes „unterschiedslos auf die gesamte Schöpfung erstreckt“. Dies gilt aber nur für einen Teil von Gottes Wirken, insofern dieses an die Personen des Vaters und des Sohnes gebunden ist: Denn die Anteilhabe am Heiligen Geist sei den Heiligen vorbehalten. Vom Duktus seiner Argumentation her erscheint dies insofern logisch, als, wie gerade erörtert, die Anteilhabe an Christus als Logos und Quell der Rationalität nicht vor den ‚Unheiligen‘ (gemeint sein dürften gemäß Origenes z. B. Nicht-Christen) Halt macht. Dies bedeutet ja, dass gerade auch den ‚ungläubigen‘ Menschen weder die Anteilhabe an Rationalität noch – und dies mag überraschen – an Christus selbst versagt ist. Auf den ersten Blick könnte man hier einen Widerspruch auszumachen geneigt sein: Wieso sollte jemand, der gar nicht an Christus als Gottes Sohn und als göttliche Person glaubt, Anteil an ihm haben? Diesen Widerspruch löst Origenes durch sein trinitarisches Gottesverständnis auf: Die Anteilhabe an Christus als Quell der Rationalität erstreckt sich universal auf alle vernunftbegabten Wesen. Das Bekenntnis zu Christus als Herrn, welches sowohl das reflexive Wissen um ihn als den Logos-Sohn Gottes wie auch das sich aus der Glaubensbeziehung zu ihm ergebende, ihn als Herrn bejahende Bekenntnis umfasst, ist eine Gabe des Heiligen Geistes, und diese spezielle Anteilhabe kann nicht unterschiedslos allen Geschöpfen zugesprochen werden. Origenes scheint also eine universale Anteilhabe an Christus als dem Logos und der Ursache aller Rationalität von einer spezielle(re)n Partizipation an ihm 686 Vgl. in Jh. I, 30, 206. – Zur „Immanenz des Logos“ bzw. Christi „in der Seele“ gemäß Origenes vgl. Fürst (2011: 19).
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„im Heiligen Geist“ zu unterscheiden und umgeht so auch den gerade genannten, sich vordergründig ergebenden, tatsächlich aber nur scheinbar bestehenden Widerspruch – nicht ohne zu betonen, dass damit nicht der Heilige Geist über Gott Vater und Sohn gestellt werde.687 Denn auch die Gabe des Heiligen Geistes werde gnadenhaft durch den Dienst des Sohnes geschenkt und durch Gott Vater gewirkt.688 Gerade durch das Empfangen des Heiligen Geistes werde Christus erst eigentlich und vollständig als die „Gerechtigkeit Gottes“ erkannt, die Gabe der Weisheit sowie das Sein, welches allen Geschöpfen von Gott Vater geschenkt wird, in vollkommen-reiner Weise aufgenommen.689 Nach den „einzelnen Stufen der Vervollkommnung“ lässt sich gemäß Origenes nur mit großer Mühe „ein heiliges und glückseliges Leben erschauen“ bzw. ist selbst eine Schau, in der es „ohne Überdruss zu verharren“ gilt, auf dass das „Verlangen (desiderium)“ nach Gott immer größer werde und man Vater, Sohn und Heiligen Geist „immer brennender und umfassender“ erfasse und bewahre.690 Der Aspekt der Schau „ohne Überdruss“ erscheint später in anderem Kontext in Plotins691 Ausführungen über den Gott Kronos: Im Unterschied zu seinem I, 3, 7; 59, 16–20. Vgl. analog in Jh. II, 11, 80. I, 3, 7; 60, 10–21. Zur Diskussion über die Echtheit dieser Passage s. Görgemanns / Karpp (1992: 179, Anm. 24–26). Die unterschiedliche Anteilhabe an Christus als dem GottLogos führt Origenes im Johanneskommentar zu dem Schluss, dass im vollen Sinne nur derjenige Mensch logikos sei, welcher an dem von Anfang an bei Gott seienden Logos partizipiert (und nicht an verminderten Seinsweisen des Logos), so dass in diesem starken, spezielleren Sinne nur „der Heilige“ auch in vollgültiger und vollendeter Weise logikos sei (in Jh. II, 16, 114). – Zur Gnade als „Ermöglichung“ von Freiheit und zum „intimen Zusammenspiel von Gnade und Freiheit“ bei Origenes s. Fürst (2014: 545–8) – ein Zusammenspiel, welches grundsätzlich demjenigen Verhältnis von göttlicher Gnade und geschöpflicher Freiheit bei Augustinus nicht unähnlich erscheint (s. Drews 2009: 167–238), obgleich Fürst (2011: 494) selber das Verhältnis zwischen Augustinus und Origenes in diesem Punkt anders beurteilt. 689 princ. I, 3, 8; 61,7–62,5. 690 princ. I, 3, 8; 62, 13–20. 691 Wenn (nach Halfwassen 2004: 177) Plotin zumindest die schriftliche Ausarbeitung seiner Philosophie erst 254 n. Chr. begonnen hat, so war Origenes zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon verstorben (vgl. Thümmel 2011: 10). Eine wirkungsgeschichtliche Beziehung zwischen Origenes und Plotin erscheint wenigstens nicht ausgeschlossen, denn Origenes war „möglicherweise ein Schüler von Plotins Lehrer Ammonios“ (Halfwassen 2004: 142): Trotz aller Unterschiede zwischen dem paganen Neuplatoniker Plotin und dem platonischen Christen Origenes könnten Überschneidungen / Gemeinsamkeiten im Denken möglicherweise nicht zuletzt auf den gemeinsamen Lehrer zurückgeführt werden (vgl. Fürst 2014: 466) – eine Voraussetzung, die historisch jedoch umstritten bleibt (vgl. Heine [2010: 24–25] und Bruns [2013 b: 27]). Thümmel (2011: 9) votiert jedoch dafür, dass „sowohl Origenes wie auch Plotin“ Ammonios’ Schüler waren; außerdem habe es keine „zwei Philosophen des Namens Origenes“ gegeben, sondern nur einen: „In der Schule des Origenes wurden die Platoniker gelesen, das in unserem Verständnis ‚Christliche‘ bildete die oberste Stufe der Vermittlung. Und es kamen ‚Heiden‘ zu Origenes, nicht um von ihm bekehrt zu werden, sondern um von ihm Platonismus zu lernen“ (ibd., Anm. 33). Zu den von Origenes unterrichteten Autoren und Fächern wie Geometrie, Arithmetik, Philosophie etc. s. ebenso Fürst (2014: 493, 503, 513), welcher (ibd., 469) betont, dass der „Zweck“ von Origenes’ Schule „nicht Mission war“ (was Bekehrungen im Einzelfall jedoch nicht ausschloss). Anders als Thümmel spricht sich Fürst (2011: 60) jedoch für ‚die klassische Lösung‘ 687 princ. 688 princ.
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
Sohn Zeus, der die intelligible Welt des seienden Einen (Kronos) nach außen hin in die materielle Welt entfaltet, halte Kronos selbst an der vollkommenen intelligiblen Schönheit des in ihm selbst bestehenden seienden Einen (hen on) „ohne Überdruss“ fest.692 Wenngleich der religionsphilosophische Kontext denkbar verschieden ist – Plotin spricht über den zweithöchsten Gott Kronos, dem nur Uranos (als absolutes, überseiendes Eines) überlegen ist, Origenes über die Gottesliebe der gläubigen Christen –, so wird doch beide Male der Aspekt einer unablässigen, nicht durch Überdruss (koros, satietas) gemilderten Schau auf Gottes Güte ins Feld geführt. In einer Arbeit, welche auf einen philosophisch untermauerten interreligiösen Dialog zusteuert, kann dieser gemeinsame Aspekt nicht übergangen werden: Bei Origenes dient er in gewisser Weise einer homoiô‑ sis theô, einer Verähnlichung zu Gott,693 während er bei Plotin das Ruhen des Gottes Kronos in sich selbst verdeutlicht. Sollte aber doch einmal ein Mensch (!) von Überdruss überfallen werden, so schließt Origenes nicht aus, dass er sich davon wieder erholen kann: Sein Abstieg würde allmählich vor sich gehen, nicht abrupt, so dass nach einem nur kurzen Abfall eine erneute Umkehr zumindest möglich wäre.694
der historischen Frage aus: „Der heidnische Philosoph Ammonios, der von christlicher Abkunft war und später den Beinamen Sakkas erhielt, war nicht nur der philosophische Lehrer Plotins, sondern auch eines heidnischen und eines christlichen Philosophen, die beide zufällig Origenes hießen“ (s. ebenso Fürst 2014: 465). 692 S. Plotin, enn. V, 8 [31], 13, 1–24 (zitiert oben in Kap. II.5 c). 693 Vgl. Görgemanns / Karpp (1992: 183, Anm. 31) und Thümmel (2011: 15). – Zum Begriff der „Verähnlichung mit Gott“ vgl. oben Anm. 588. 694 princ. I, 3, 8; 63, 1–7. Das Paradebeispiel für die – gemäß Origenes – prinzipiell immer mögliche Rückkehr zum göttlichen Licht stellt Paulus dar (in Jh. II, 20, 134). Die Möglichkeit des Abfalls und Wiederaufstiegs berührt grundsätzlich bekannterweise Origenes’ Lehre von der apokatastasis tôn pantôn (vgl. Fürst 2011: 146, 190): Dabei unterscheidet Origenes im Hinblick auf den Sündenfall zum einen verschiedene Abstufungen eines graduell mehr oder weniger ausgeprägten Abfalls, zum anderen bleibt in der Schwebe, inwieweit die Erlösung endgültig sein kann oder aber die Wahrung der Willens‑ und Entscheidungsfreiheit der Geschöpfe durch Gott grundsätzlich die Möglichkeit eines erneuten Abfalls nicht ausschließt (dagegen Fürst 2014: 551), wodurch ein ewiger Kreislauf mehrerer vergänglicher Welten verursacht sein könnte (vgl. Arruzza 2011: 203–5). – Zu Origenes’ „Theologie der Freiheit“ (vgl. das große Kapitel princ. III, 1) s. Fürst (2011: 3–24, 192; 2014: 483, 549 ff., 564–5). Fürst vertritt die Auffassung, dass Origenes die Seelenwanderung dezidiert ablehne (ibd., 510–1, 539) und auch die Präexistenz der Seelen „von Origenes mit starker Zurückhaltung und lediglich funktional herangezogen“ sei (ibd., 550). Inwiefern jedoch ohne die Möglichkeit der Seelenwanderung dann trotzdem in „mehreren sukzessiven Welten“ (ibd., 550) die Hinwendung aller Wesen zu Christus (ibd., 552) erreicht werden soll – d. h. auch jener, die Christus in ihrem irdischen Leben abgelehnt haben –, würde dann zumindest ein nicht unerhebliches theologisch-philosophisches Problem im Denken des Origenes implizieren: Welche Funktion sollten diese sukzessiven Welten und die Rede von Verdiensten und Sünden vor der Einkörperung (vgl. princ. II, 8, 3; 161, 7 f.; III, 1, 22–23; III, 3, 5; III, 5, 3) dann noch haben?
3. Origenes
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b) Der Kommentar zum Johannes-Evangelium:695 Die Integration des Poly‑ in den Monotheismus und die verschiedenen Partizipationsweisen an Gott-Logos / Sohn als Fundamente eines interreligiösen Dialogs In Anknüpfung an biblische Aussagen696 sowie im Einklang mit dem platonischen Primat des Einen vor dem Vielen697 vermag Origenes in grundsätzlicher Ähnlichkeit etwa mit Apuleius698 und Proklos699 polytheistischen Aspekten im Rahmen seiner christlichen Theologie eine bestimmte Systemstelle zuzuweisen: Es sind bestimmte Götter, deren Gott (der) Gott (ho theos)700 ist, wie die Prophetien sagen: ‚Lobt den Gott der Götter‘ (Ps 136, 2) und ‚[sc. der] Gott der Götter, der Herr,701 sprach, und rief die Erde‘ (Ps 50, 1): Gott aber ist er nach dem Evangelium ‚nicht der Toten, sondern der Lebendigen‘ (Mt 22, 32): Lebendige also sind auch die Götter, deren Gott (der) Gott ist. Auch der Apostel aber versteht, wenn er im [sc. Brief] an die Korinther schreibt: ‚Wie aber viele Götter und viele Herren sind‘ (1 Kor 8, 5), den Namen der Götter gemäß den Prophetien als zutreffend (tynchanontôn) [sc. in dem Sinne, dass ‚die Götter‘ zu Recht den Namen Götter erhalten]. Es sind aber außer den Göttern, deren Gott (der) Gott ist, bestimmte andere [sc. Götter702], welche ‚Throne‘ heißen, und weitere, ‚Prinzipien / Fürstentümer‘ (archai), ‚Herrschaften‘ (kyriotêtes) und ‚Gewalten‘ (exousiai) (Kol 1, 16) genannte, von diesen [sc. Göttern] verschiedene. Aber wegen des [sc. Schriftwortes]: ‚Über jeden Namen, der genannt wird nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen‘ (Eph 1, 21) und wegen anderer neben diesen [sc. bestehender,] uns nicht ganz gewohnter Bezeichnungen muss man glauben, dass es rationale (Geist‑)Wesen (logika) sind, deren eine bestimmte Gattung der Hebräer ‚Sabai‘ nannte, wonach der [sc. Begriff] ‚Sabaoth‘ gebildet ist, welcher der Herrscher über jene ist, kein anderer als (der) Gott. Und nach allen [sc. diesen] besteht als sterblich-rationales [sc. Wesen] der Mensch (in Jh. I, 31, 212–215).
Zunächst zeigt Origenes in Übereinstimmung sowohl mit Aussagen der christlichen Bibel wie mit platonischer Theologie, dass der höchste Gott nicht ein695 Zum Werk selbst vgl. Vogt (1999: 187–205) sowie Thümmel (2011). Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Schrift s. Heine (2010: 86–103), zu speziell neuplatonischen Aspekten („divine procession and creative contemplation“) vgl. Hengstermann (2011: 77). 696 S. o. Kap. IV.2.3. 697 S. dazu besonders oben Kap. III.d. 698 S. o. Kap. II.4.2 b 699 S. o. Kap. III.g 700 Im Deutschen klingt die Junktur „der Gott“ eher nach einem bestimmten Gott in Unterscheidung zu anderen Göttern, während ‚Gott‘ ohne Artikel traditionell im christlichen Sinne den absoluten, einen Gott bezeichnet. Für Origenes ist aber der Artikel – gerade im zweiten Buch des Johanneskommentars (vgl. II, 2, 13; s. u. Anm. 753) – durchaus von Bedeutung. Daher ist oben ein Kompromiss als Mittelweg gewählt und der Artikel in Klammern gesetzt. 701 kyrios hier als griechische Übersetzung des Tetragramms JHWH, weshalb der Artikel im Deutschen ergänzt wird. 702 Origenes scheint die Throne und die folgenden Wesen gegen die Pluralität der zuvor genannten Götter abzugrenzen, insofern könnte man geneigt sein, vielleicht zu „bestimmte andere“ eher den Begriff ‚(göttliche) Wesen‘ (ousiai) als Bezugswort zu setzen. Da im Griechischen hier aber heteroi tines steht, scheint klar, dass ein maskulines Bezugswort ergänzt werden muss, und hier bietet sich vom Kontext her in erster Linie theoi an, auch wenn man eher an angeloi („Engel“) denken mag (vgl. princ. I, 8, 4; 101, 13–18); s. das Folgende im Haupttext.
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
fach zur Vielheit der vielen Götter ‚hinzuaddiert‘ werden kann, weil dies seiner Stellung als wahrer Gott nicht gerecht würde. Origenes stellt das Sein gewisser vieler, nicht genauer spezifizierter Götter nicht in Abrede; sie können aber nicht tatsächlich auf gleicher Ebene oder gar in Konkurrenz zu dem einen, wahren Gott gesehen werden. Nach dem Evangelium ist Gott ein Gott der Lebendigen und nicht der Toten, d. h. der Tod hat im Angesicht Gottes keine Macht, es gibt für Gott im Sinne des einen Gottes nur lebendige Wesen. Wenn von Gott als „Gott der Götter“ die Rede ist, dann impliziert dies für Origenes, dass auch die Götter, deren Gott (der) Gott ist, lebendig sind. Als platonischer Christ nimmt Origenes also polytheistische Passagen der Bibel durchaus ernst.703 Interessanterweise grenzt er dabei die im Kolosserbrief 1, 16 genannten „Throne, Herrschaften, Prinzipien / Fürstentümer und Gewalten“704 in gewisser Weise gegen die vielen Götter, „deren Gott (der) Gott ist“, ab, obwohl sie einfach als heteroi tines [sc. theoi], als „bestimmte andere [sc. Götter]“ eingeführt werden.705 Der Fortgang der Passage sowie der Vergleich mit De principiis zeigen jedoch, dass Origenes diese Wesen als Engel verstanden hat706 – eine andere Abgrenzung im Sinne einer Unterordnung von Engelwesen unter die Stufe der vielen Götter wäre auch unverständlich: Wenn die Engel unterschiedslos ebenso Götter wären, bestünde kein Grund, sie als besondere Gruppe einzuführen. Da Christus gemäß dem Epheserbrief durch Gott Vater auferweckt und eingesetzt wurde zu seiner Rechten in den Himmeln über jedes Prinzip / Fürstentum, jede Gewalt, Macht und Herrschaft und über jeden Namen, der genannt wird, nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen (Eph 1, 20–21),
kann Origenes hier, ohne es detailliert auszuführen, interpretieren, dass es sich bei diesen göttlichen Engelwesen um logika, um rational begabte (Geist‑)Wesen handeln muss: Denn wenn Christus als Gott-Logos über sie eingesetzt wurde,707 dann ist damit impliziert, dass er als Logos über ihnen steht, sie als göttliche Engel aber ein abgeleitetes Sein als logika besitzen müssen. Sie alle machen das Heer der himmlischen Heerscharen, die „Sabaoth“ aus: Allerdings versteht Origenes sabaoth nicht als Bezeichnung der Heerscharen selbst (im Sinne des ursprünglichen hebräischen Plurals), sondern bereits als Gottestitel – eine Tendenz, die 703 Vgl. Thümmel (2011: 14–15): „Obwohl die Kanonsbildung, die Abgrenzung der maßgeblichen biblischen Schriften, noch im Gange ist, nimmt Origenes das Wort der Bibel wörtlich. […] Aber auch wenn er einen tieferen Sinn hinter dem Vordergründigen sucht, ist er der festen Überzeugung, daß sein Verständnis sich aus dem wörtlich ernstgenommenen Text ergibt. Nur so ist sein Vorgehen zu verstehen.“ 704 Mit der Differenzierung zwischen verschiedenen Engelwesen – Throne, Herrschaften, Prinzipien und Gewalten (vgl. Anm. 702 und 706) – und ihren spezifischen Funktionen besteht hier ein Bezugspunkt zur späteren Entfaltung der dreimal drei Engelsordnungen in der Himm‑ lischen Hierarchie des Dionysius Areopagita (um 500 n. Chr.). Vgl. Drews (2011: 10 f.). 705 Vgl. Anm. 702. 706 princ. I, 5, 3; 6, 2; 8, 4; II, 6, 1; 9, 5. 707 Vgl. Hebr 1, 5–14.
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schon in der hebräischen Bibel selbst nachweisbar scheint708 und vor allem in der griechischen Septuaginta greifbar ist, wo das hebräische sabaoth oft mit pantokratôr, „Allmächtiger“ übersetzt wird.709 Deshalb spricht Origenes von der (Engel‑)Gattung „Sabai“, aber von „Sabaoth“ als dem „Herrscher“ (im Singular) über diese rationalen Engelwesen. Trotz dieser begrifflichen Verwischung, die Origenes bereits ererbt hat, kann er sein theo-ontologisches System am Ende sinnvoll beschließen, indem er – nach dem einen Gott, den Göttern, den Engelwesen – nun, all diesen untergeordnet, als sterblich-rationales Wesen den Menschen zuunterst innerhalb der Hierarchie der logika einführt. Damit greift er nicht zuletzt die von Aristoteles her bekannte Definition des Menschen als animal rationale et mortale der Sache nach auf.710 Vor allem mit seiner strikten Abgrenzung des einen Gottes von den vielen Göttern ähnelt Origenes’ System der Sache nach durchaus der philosophischen, Mono‑ und Polytheismus integrierenden Theologie eines Proklos („Gott also [sc. ist] einer und Götter [sc. sind] viele“711) und nimmt sie – historisch betrachtet – vorweg, da Origenes bereits vor Plotin und damit vor dem gesamten auf diesem fußenden Neuplatonimus schreibt.712 Damit zeigt sich aber bereits bei Origenes ein entscheidendes Charakteristikum eines potentiellen interreligiösen Dialoges, wie ihn rund 1200 Jahre später Cusanus am Ende des Mittelalters unter Rückgriff auf Proklos’ Einheits‑ und Vielheitsmetaphysik (fiktiv) führen wird.713 Als für diesen philosophisch fundierten interreligiösen Dialog ebenso relevant wie Proklos’ Metaphysik wird sich der Sache nach die Rolle des Gott-Logos erweisen, wie Origenes sie grundsätzlich entwirft. Oben714 wurde bereits gezeigt, dass Origenes von einer bestimmten, jeweils verschiedenen Partizipation aller rational begabten Geschöpfe an Christus als dem Gott-Logos ausgeht. Damit werden zwei wesentliche Eckpunkte für ein aus christlicher Perspektive zu führendes interreligiöses Gespräch abgesteckt: 1. Die einzigartige Rolle Jesu Christi als dem Wort Gottes und dem Erlöser sowohl der Menschheit wie auch der gesamten Schöpfung715 kann aus christlicher Sicht nicht geschmälert werden, ohne die spezifisch christliche Position und ihre wesentlichen Inhalte aufzugeben.
z. B. Ps 80, 8; Am 9, 5. Vgl. Gesenius (1962: 671/2). S. LXX, Am 3, 13; Hos 12, 6. In der Septuaginta-Übersetzung von Ps 80, 8 steht für sabaoth jedoch „Herr, Gott der Mächte“ (Ps [LXX] 79, 8), wo also der ursprüngliche hebräische Plural noch deutlich erkennbar ist und „die Mächte“ von Gott selbst unterschieden erscheinen. 710 S. o. Anm. 223. 711 Proklos, ThP III, 3; 14, 4. S. o. Kap. III.g. 712 S. o. Anm. 691. 713 S. u. Kap. V.c. 714 S. Kap. IV.3 a. 715 Vgl.: in Jh. I, 32, 234. Erlösungsbedürftig ist gemäß Origenes der Kosmos im Ganzen, z. B. auch die Sterne, wie er vorsichtig erwägt (in Jh. I, 35, 257). 708 S. 709
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2. Gerade vor dem Hintergrund, dass Origenes’ Theologie nicht auf einen ausschließlich historisch argumentierenden Blickwinkel eingeschränkt ist, sondern Christus philosophisch als Gott-Logos versteht, ergibt sich für ihn die Chance, diese einzigartige Rolle Christi nicht nur abgrenzend-exklusiv zu begreifen, sondern zugleich inklusiv-verbindend zu interpretieren. Wenn alle rationalen Lebewesen (mehr oder weniger) an Gottes Logos als Quell aller Rationalität, alles sachunterscheidenden und ‑begreifenden Denkens partizipieren,716 dann bietet ein so verstandenes Christentum einen universalen Anknüpfungspunkt, der die Menschen sogar über ihre Religionszugehörigkeit hinweg verbinden kann, insofern die philosophische Voraussetzung geteilt wird, dass es eine gemeinsame (eidetische) Ursache der Rationalitätsbegabung aller logika geben muss und diese Ursache als Quell alles sachunterscheidenden Denkens auch selbst nur ein geistiges und (gleichwohl in höherer Weise) denkendes, personales Wesen sein kann. Besonders für einen (post‑)modernen Leser springt dieses Argument also ganz fundamental auf die Voraussetzung des intelligiblen Seins zurück: Solange diese Voraussetzung, welche bei dem Vorsokratiker Parmendides greifbar und dann von den Platonikern mit der Erschließung sachbestimmender Eidê entscheidend weiter entwickelt wurde,717 ungeklärt ist, bleibt auch Origenes’ Theologie dunkel und nicht wirklich nachvollziehbar. Der Sache nach zeigt sich Origenes jedoch selbst bereits sensibel für diese ‚Verständnishürde‘, welche unbedingt genommen werden muss, um seine Theologie zu verstehen: Man muss das Intelligible begreifen, und zwar als beseelt und lebendig denken können, um so die lebendige Weisheit Gottes bzw. den Gott-Logos Christus als lebendige Person zu erkennen: Wenn aber jemand imstande ist, eine unkörperliche Hypostasis vielfältiger Ideen (theô‑ rêmata), welche die rationalen Seinsprinzipien für die universale [sc. Schöpfung] (tôn holôn) enthalten, als lebendige (zôsan) und gleichsam beseelte (empsychon) [sc. Hypostasis] zu begreifen, dann wird er die über der gesamten Schöpfung [sc. transzendent bestehende] Weisheit (sophia) (des) Gottes erkennen (in Jh. I, 34, 244).
Die vielleicht besonders von (post‑)modernen Lesern als gravierend empfundene Erkenntnishürde scheint somit auch schon zu Origenes’ Lebzeiten durchaus bestanden zu haben. Es wäre nun ein Fehlschluss, Origenes’ Ausführungen über Gottes Weisheit bzw. seinen Logos als ‚bloß platonisierend‘ abzutun, als ob sie in Wahrheit gar nichts Christliches an sich hätten:718 Denn es geht ihm nicht um eine ‚verfälschende Platonisierung‘ des Christentums, sondern darum, dass seine Theologie – im fundamentalen Unterschied zu einem vorherrschenden modernen, auf Kant Vgl. in Jh. I, 34, 246; 37, 269. Teil II. 718 Gegen diesen Vorwurf wird Origenes z. B. von Thümmel (2011: 20) verteidigt. Vgl. ebenso Fürst (2011: 17) zu Origenes als „vere Platonicus und vere Christianus“. Zur Kritik an Edwards’ (2002) radikaler Gegenüberstellung „Origen against Plato“ s. o. Anm. 666. 716
717 S. o.
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zurückgehenden Theologie-Verständnis719 – gerade nicht in einem gleichsam ‚luftleeren Raum‘, fernab alles Begründ‑ und Beweisbaren ihren Ort haben kann und darf, sondern im Bereich des Rationalen ihre Basis findet. D. h., Origenes’ Christentum ruht auf einer philosophischen Basis auf, von der aus es begriffen werden will: Seine Theologie erschöpft sich gerade nicht im Platonismus, sondern übernimmt dessen ontologisch-epistemologische Fundamente, um auf diesen aufbauend das Christentum begreifbar zu entfalten und zur Geltung zu bringen. ‚Fundament‘ und ‚Gebäude‘ müssen also wohl unterschieden werden, um dem Selbstverständnis von Origenes’ Theologie gerecht zu werden.720 Um etwas bereits Gesagtes zur Verdeutlichung noch einmal zu wiederholen: Für Origenes besteht gerade kein Widerspruch zwischen dem Gott-Sein Jesu und der Menschlichkeit des inkarnierten Logos, wie sie nach seinem Verständnis in der Person Jesus Christus historisch greifbar wird. Vielmehr entspricht die Vollmacht, mit welcher der Mensch Jesus Christus handelt und die sowohl aus der Tora heraus begründet ist wie auch über diese hinausgeht, gerade seinem ‚metaphysischen‘ Logos-Sein: Er ist das Schöpfungswort Gottes, und dies spiegelt sich in seiner Lehre und seinem Handeln als Mensch. Ohne einen philosophischen Unterbau, wie ihn Origenes teilt und wie er in Teil II dieses Buchs entwickelt wurde, bleibt eine solche Theologie freilich unzugänglich – sie verdient es aber, zumindest im Sinne ihres Selbstverständnisses als rational fundierte Disziplin beachtet zu werden. Die philosophische Dimension des in Christus Mensch gewordenen Gott-Logos bildet in Origenes’ Johanneskommentar nun die Basis dafür, dass verschiedene Wesen gemäß ihren spezifischen Erkenntnisfähigkeiten auf unterschiedliche Weise diesen Logos erblicken können: Die Einheit des Logos, welche zunächst christlich-exklusiv mit Christus identifiziert wird, eröffnet zugleich eine inklusive Pluralität verschiedener Formen und ‚Reichweiten‘ der Gotteserkenntnis. Grundgedanke ist dabei, dass, wie oben anhand von De principiis gesehen, Christus das Schöpfungswort und somit Inbegriff aller intelligiblen Seinsprinzipien (Eidê, species) und Vernunftgründe (rationes) für die gesamte Schöpfung ist.721 Damit kommt ihm eine philosophisch-metaphysische Stellung zu, welche auf bestimmte Weise mit dem späteren, neuplatonisch verstandenen seienden Einen (hen on) bzw. der Intellekt-Hypostase korrespondiert, die von Plotin mit dem Gott Kronos identifiziert werden wird:722 Bei Plotin eint das seiende Eine 719 Vgl. den berühmten Passus aus I. Kants Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft (B XXX): „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (s. o. Kap. I.2 b). 720 „Der metaphysische Gesamtrahmen von Origenes’ soteriologischer Ontologie ist neuplatonisch, seine Inhalte sind christlich“ (Fürst 2014: 563). Vgl. Thümmel (2011: 9, Anm. 33), zitiert oben Anm. 691. 721 princ. I, 2, 3; 30, 9–15. Vgl. in Jh. I, 31, 226. 722 Vgl. Hengstermann (2011: 80). S. o. Kap. II.5 c, mit dem Exkurs: Ähnlichkeiten zwischen Plotin (enn. V, 8 [31], 12) und dem Neuen Testament. – Die oben angedeuteten Verbindungslinien zwischen Platonismus und Christentum im Hinblick auf die Rolle Christi bei Origenes sind
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bzw. der Intellekt in der Person des Kronos die Totalität aller intelligiblen Ideen komplexiv in sich, hat aber selbst in Uranos seinen Vater. Mit aller Vorsicht gesprochen, nimmt bei Origenes in gewisser Weise das Schöpfungswort, der Gott-Logos, welcher Christus ist, eine im weitesten Sinne vielleicht ähnliche Stellung ein, denn auch er ist einerseits als Gott-Logos von Gott Vater abhängig und trägt andererseits diejenigen Seinsprinzipien in sich, welche die Schöpfung erst ermöglichen: Er ist das ewige Wort, die ewige Vernunft, welche Gott Vater (aus‑)spricht und zeugt.723 Während Kronos bei Plotin jedoch in sich ruht und die Entfaltung des Intelligiblen als äußerlich existierende Realität wiederum seinem Sohn Zeus obliegt, gehört diese schöpferische Entfaltung des Gott-Logos im christlichen Kontext bereits zur Dynamik zwischen Gott Vater und Gott Sohn (Christus). An dieser Stelle erweist sich nun zugleich der – über die Parallelen zu Plotin deutlich hinausgehende – spezifisch christliche Aspekt der Menschwerdung Gottes als entscheidend: Auch als Mensch gewordener Gott-Logos tritt Christus in die äußere Realität ein und trägt sein Wort-Sein in die Welt hinein, indem er gegenüber den Menschen mit der Vollmacht der Tora auftritt, wobei die soteriologische Dimension724 das christliche Spezifikum bleibt und keine vergleichbare Parallele im (späteren) Neuplatonismus hat. Aber auch für die Soteriologie und das Erlösungswerk Christi ist nach Origenes dessen Logos-Sein von grundlegender Bedeutung: Denn als Gott-Logos reinigt er die logika, die rational begabten Geschöpfe, von aller Irrationalität macht sie „wahrhaftig und gotterfüllt zu logika“. Auch hier könnte das Missverständnis drohen, als ob es Origenes nur um eine rationalistische Theologisierung gehe. Liest man jedoch bei ihm weiter, dann soll das Kennzeichen der erlösten rational begabten Geschöpfe, die durch Teilhabe an Christus auferstehen und erleuchtet werden,725 gerade darin bestehen, dass „sie alles zur Ehre Gottes indes nicht die einzig möglichen: So gibt es z. B. bei Dionysius Areopagita durchaus Anzeichen dafür, die drei Personen des christlichen, trinitarischen Gottes nicht unbedingt auf die einzelnen, triadisch strukturierten Hypostasen neuplatonischer Philosophie zu ‚verteilen‘, wenn Dionysius die Trinität insgesamt mit der Stellung des überseienden Einen (hyperousion hen) in Verbindung bringt (s. Drews 2011: 353–364). 723 S. o. Anm. 675. 724 Zum Abstieg Christi / des Logos bis zu den Toten und der durch die Auferstehung von den Toten gewirkten Erlösung vgl. in Jh. I, 31, 227; zur „Lamm Gottes“-Theologie s. in Jh. I, 32, 233–5; zu Christus als „Fürsprecher, Versöhnung und Sühnopfer (hilastêrion)“ s. in Jh. I, 33, 240. Zum Begriff hilastêrion als „Deckel der Bundeslade“ vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 255), als „Versöhnungsplatte (hebr. kapporät)“ und zu Christus als „Ort der Schuldtilgung, […] in überbietender Analogie zur einstigen Versöhnungsplatte“ vgl. Reinmuth (2004: 146–7). Genau diese Interpretation der „überbietenden Analogie“ kommt bereits bei Origenes zum Ausdruck, wenn er die kapporät als abbildhaften „Schatten“ (skia; vgl. Hebr 10, 1) des wahren hilastêrion, welches Christus ist, begreift (in Jh. I, 33, 240). Vgl. Heine (2010: 236) dazu, dass der leidvolle Tod Jesu gemäß Origenes nicht nur ‚für simple Gemüter‘ theologisch relevant ist. Zu Christi Tod und Auferstehung bei Origenes s. Jacobsen (2015: 195–7, 327). 725 in Jh. I, 37, 268.
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tun“.726 Damit zeigt sich einmal mehr, dass die Ratio, von welcher Origenes spricht, nicht eine abstrakte, (post‑)modern verstandene Rationalität meint,727 welche keinen Zugang zu Gott mehr kennt; vielmehr geht es wie schon zuvor darum, das Rationale als lebendig und von Gott herkommend zu denken – deshalb besteht die Erfüllung der durch Christus zu sich selbst befreiten rationalen Wesen gerade darin, ihre Ratio zur Ehre Gottes zu entfalten. Für beide Hinsichten – als Gott sowie in seinem Mensch-Geworden-Sein – zeichnet Christus gemäß Origenes das Logos-Sein aus: Während er als Schöpfungswort Prinzip aller Vernunft ist und die intelligiblen Seinsprinzipien der gesamten Schöpfung umfasst, wirkt er durch seinen Abstieg bis in das Reich des Todes und durch seine Auferstehung die Erlösung, welche den rationalen Wesen gerade ihren durch Sünde verlorenen Blick für Gottes Wirklichkeit wieder eröffnet, indem er sie von aller Unvernunft reinigt – auch dies ist nur möglich, weil Christus der Logos selbst ist, der „im Anfang (archê) war“ (Jh 1, 1). Auch diese archê ist nicht nur eine modale Angabe, sondern wird selbst wiederum prägnant als etwas Bestimmtes verstanden: als die Weisheit (sophia), welche „als Anfang der Werke des Herrn“ geschaffen wurde (Spr 8, 22). In der Konsequenz interpretiert Origenes die Schrift so, dass der Anfang, die archê, Gottes Weisheit war, der Logos aber in dieser Weisheit enthalten ist:728 ‚Alles‘ nämlich hat, nach dem Propheten David (Ps 104, 24), ‚(der) Gott in Weisheit (sophia) geschaffen‘ (in Jh. I, 34, 244).
Aufgrund dieser Spannweite, welche sich vom Sein des Sohnes als Gott-Logos bis zu seiner innerweltlichen Inkarnation als Mensch erstreckt, eröffnen sich gemäß Origenes für die verschiedenen Geschöpfe gemäß ihren spezifischen Erkenntnisfähigkeiten nun vielfältige Partizipationsweisen am Wirken des Logos: Zuerst nennt Origenes die Propheten, „zu“ denen der Logos „kommt / ergeht / geschieht“,729 während er zu Gott nicht ergeht, weil er immer schon „bei (dem) Gott ist“.730 Bei der genaueren Erörterung, wie Christus als der Gott-Logos auf verschiedentliche Weise Vermittler der Gotteserkenntnis sein kann, setzt Origenes ein Verhältnis zwischen Christus und Gott Vater an, welches mit der späteren nizänischen Theologie von der Wesensgleichheit (homoousios) von Gott Vater und Gott Sohn unvereinbar erscheint,731 obwohl sich Origenes kritisch abgrenzt 726 in Jh. I, 37, 267. Dies ist für Origenes vielleicht das wesentlichste Moment der apokatastasis tôn pantôn: „Für die erfüllte Freiheit der Liebe stellt Nicht-Liebe keine Versuchung mehr dar“ (Fürst 2014: 551), so dass die erlösten Wesen alles zur Ehre Gottes tun. 727 Zur Abstraktheit moderner Rationalität vgl. Schmitt (2003 a: 181–9). 728 in Jh. I, 31, 222–3; 39, 289. 729 in Jh. II, 1, 10. 730 in Jh. II, 1, 8. 731 Vgl. dagegen Jacobsen (2015: 116, 125, 289), Fürst (2014: 556) und Bruns (2013; 2013 b), welche Origenes stärker im Einklang mit der späteren nizänischen Theologie betrachten: „Die so
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gegen sowohl diejenigen, welche die „Eigenheit“ (idiotês) des Sohnes als von der des Vaters verschiedene leugnen, als auch gegen jene, welche die Gottheit des Sohnes in Abrede stellen.732 Diese Weichenstellung allein erscheint zunächst noch relativ unproblematisch: Dass der Sohn eine bestimmte „Eigenheit“, welche ihn als Sohn auszeichnet, besitzt, wäre vereinbar mit der späteren ‚klassischen‘ Trinitätstheologie;733 dasselbe gilt für die Betonung der Gottheit des Sohnes. Worin besteht innerhalb dieser von Origenes selbst gezogenen Grenzen nun das ‚theologisch Brisante‘ seiner Ausführungen? Denn man muss ihnen [sc. den Vertretern der beiden o.g. Irrlehren] sagen, dass dann einerseits Gott-selbst (autotheos) der Gott ist, weil auch der Erlöser (sôtêr) im Gebet zum Vater sagt: ‚Damit sie dich als den einzig wahren Gott erkennen‘ (Jh 17, 3). Andererseits mag alles (pan), was im Unterschied zu dem [sc. mit] ‚Gott-selbst‘ [sc. Bezeichneten]734 durch Partizipation an der Gottheit von jenem vergöttlicht wird (theopoioumenon), nicht ‚der Gott‘, sondern auf treffendere Weise wohl ‚Gott‘ genannt werden. Im Vergleich zu diesem [sc. allen] (hou)735 ist in jeder Weise ‚der Erstgeborene aller Schöpfung‘ (Kol 1, 15), weil er als erster durch das ‚Bei-dem-Gott-Sein‘ (Jh 1, 1) von der Gottheit [sc. das Sein] in sich selbst hineinzog, ehrwürdiger, da er den übrigen Göttern außer ihm – deren Gott der verstandene Einheit von Vater und Sohn impliziert die These, dass Origenes die nizänische Lehre einer ontologischen Wesensgleichheit von Vater und Sohn zwar nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach voraussetzt (Bruns 2013 b: 104–5; Kursive Bruns; ebenso ibd., 111 sowie Bruns 2013: 5). Zur Ambivalenz von Origenes’ Aussagen vor dem Hintergrund des homoousios-Problems s. Vogt (1999: 196 f.), vor allem sein Hinweis darauf, dass Origenes oft von dem inkarnierten Sohn spricht und nicht „vom ewigen Gottessohn“ (ibd., 202). Vogt (ibd., 200) macht zudem darauf aufmerksam, dass Origenes das vom Christus-Wort her exklusiv für Gott(‑Vater) reserviert scheinende Prädikat ‚gut‘ (vgl. Mk 10, 18) „im folgenden Sinn“ versteht: „Weißt du, daß du mich [sc. Jesus Christus] gut nennen kannst und sollst, weil ich tatsächlich das Bild dessen bin, der als einziger aus sich selbst gut ist?“ Vgl. diesbzgl. ebenso Bruns (2013 b: 109): „wenn der Sohn so vollkommen und vollumfänglich den Willen seines Vaters verinnerlicht, dass er dessen Wille ist, kann er ontologisch betrachtet unmöglich weniger gut sein als der Vater.“ Bruns Schlussfolgerung erscheint ontologisch indes nicht zwingend (s. u. Anm. 744 und 747). Edwards (1998: 670) argumentiert für eine analoge, nicht dogmatische Verwendung des Begriffs bei Origenes: „Origen did resort to the word homoousios to elucidate the unity of the two divine Hypostases, but he used it analogically and never proposed it as a dogmatic formula. […] The analogical usage of the predicate homoousios was forgotten, and its literal application to the Godhead was resisted by his followers in his native Alexandria, no less than in his adopted Caesarea.“ 732 in Jh. II, 2, 16. Vgl. Jacobsen (2015: 127). Zum Hintergrund der (valentianischen) Deutung, ‚Sohn‘ sei der Name des Vaters, vgl. Heine (2010: 96), zur monarchianistischen, vollständigen Identifikation von Vater und Sohn (Sabellianismus) s. ibd., 99, 103. 733 Vgl. Origenes’ Ausführungen zu den drei Hypostasen Gottes (in Jh. II, 10, 75). Vgl. Heine (2010: 101). Dazu, dass Origenes kein „Binitarist“ war, sondern „den Heiligen Geist für eine klar profilierte göttliche Hypostase hielt“, vgl. Markschies (2007: 126). S. ferner Fürst (2011: 21–22) sowie Bruns (2013 b: 123–157). 734 to autotheos ist grammatisch inkongruent: Der neutrale Artikel passt nicht auf das maskuline Bezugswort, so dass dieses in seiner Begrifflichkeit an sich substantiviert ist (so, wie man im Deutschen sagen könnte: ‚das Gott-selbst(‑Sein)‘ im Unterschied zu ‚der Gott selbst‘). 735 Das Relativpronomonen hou scheint mir das vorhergehende pan als Bezugswort aufzugreifen und als Genitivus comparationis von timiôteros abhängig zu sein, wenngleich beides syntaktisch sehr entfernt voneinander steht.
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Gott ist736 gemäß dem Wort: ‚[sc. der] Gott der Götter, der Herr, sprach, und rief die Erde‘ (Ps 50, 1) – den Dienst erweist und das Gott-Werden schenkt (diakonêsas737), indem er aus dem Gott schöpft, damit sie vergöttlicht werden, und neidlos auch jenen gemäß seiner Gutheit (chrêstotês) Anteil gibt.738 Wahrhaftiger Gott [sc. ist] nun der Gott, die jedoch gemäß jenem geformten Götter [sc. sind] wie Abbilder vom Ursprünglichen (prôtotypos); aber wiederum von den zahlreicheren Abbildern (eikones) das urbildhafte (archetypos739 eikon) Abbild ist der ‚bei dem Gott‘ [sc. seiende] Logos, der ‚im Anfang war‘ und durch das ‚Bei-dem-Gott-Sein‘ (Jh 1, 1) immer Gott bleibt; aber dieses (auto) hätte er wohl nicht, wenn er nicht bei Gott740 wäre, und würde nicht Gott bleiben, wenn er nicht in der ununterbrochenen Schau der väterlichen Tiefe verharrte (in Jh. II, 2, 17–18).
Die letzten Gedanken dieser Passage erinnern in philosophischer Hinsicht an bestimmte ontologische Ausführungen bei Apuleius: Wie oben741 herausgearbeitet werden konnte, begreift der Mittelplatoniker Ideen als paradeigmatische, unkörperliche und nicht-bildhafte742 Ur-Formen (formae), auf welche schauend der platonische (Schöpfer‑)Gott in abgeleiteter Weise instanzhaft-partikuläre Exemplar-Formen (exempla) produziert, die ihrerseits zum einen partikularisierte Abbilder der paradeigmatischen Ideen sind, zum anderen aber wiederum für alles an der Materie Entstehende als Vorbilder fungieren – das Werdende empfange sein vergängliches Wesen aus dem „Eindruck dieser instanzhaft-partikulären Exemplar-Formen (exempla)“. Apuleius unterscheidet also, wie oben detaillierter ausgeführt wurde, eine Dreierstufung von (1) paradeigmatischen Ideen, (2) vermittelnden Exemplar-Formen als Abbildern erster Ordnung und (3) von an der Materie werdenden Abbildern zweiter Ordnung. Mit einer philosophisch ähnlichen Dreierunterscheidung argumentiert im theologischen Kontext auch Origenes: Der Gott, „Gott-selbst“ ist allein der einzig wahre Gott der jüdischen Tradition bzw. der platonischen Prinzipien-Theologie. Alle anderen, vielen Götter sind nach ihm „geformt“ als Abbilder: Sie sind Gott lediglich durch Anteilhabe, nicht aber der Gott. Zwischen dem einen Gott und S. o. in Jh. I, 31, 212–215. Im Deutschen durch ein Hendiadyoin wiedergegeben. 738 Im Griechischen ist der gesamte Abschnitt bis hierhin ein Satz; im Deutschen wurde er in zwei Sätze geteilt, ansonsten folgt die Übersetzung dem Duktus der im Orignal vorliegenden Gedankenführung. 739 Zum Begriff archetypos vgl. oben (Kap. II.5 c) Plotin, enn. V, 8 [31], 12, 3–26. Beide – Plotin und Origenes – verwenden oft ähnliche Begriffe in zwar unterschiedlichen, aber dennoch vergleichbaren philosophischen Kontexten, was angesichts der Tatsache, dass beide möglichweise in Ammonios einen gemeinsamen Lehrer haben, nicht verwundert (s. o. Anm. 691). 740 Interessanter‑ und vielleicht sogar erstaunlicherweise verzichtet Origenes hier auf den bestimmten Artikel, den er sonst entsprechend Jh 1,1–2 immer setzt, wenn es gemäß seiner Theologie um „den (einzigen wahren) Gott“ geht im Unterschied zum abgeleiteten Gott-Sein des Logos. 741 Zu der entscheidenden Passage bei Apuleius, DP I, 6 [192–3] s. o. Kap. II.4.2 a. – Der Spekulation, ob hier womöglich eine historische Abhängigkeit des Origenes von Apuleius vorliegen könnte, braucht für den inneren sachlichen Zusammenhang nicht nachgegangen werden. 742 Zum Begriff ‚Abbild‘ als Bild von etwas selbst Nicht-Bildlichem s. o. Anm. 141. 736 737
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den vielen abbildhaften Göttern fungiert als Mittler743 und „urbildhaftes Abbild“ jedoch der Logos, d. h. Christus. Vergleichspunkte sind hier also nicht die Theologien des paganen Mittelplatonikers Apuleius und des mittel- / neuplatonischen Christen Origenes, sondern die ontologisch-prinzpientheoretische Dreierstufung zwischen Urformen und Abbildern erster und zweiter Ordnung. Der theologisch gleichsam kritische Punkt besteht nun bei Origenes darin, dass er auch Christus / dem Logos das Gott-Sein anscheinend nicht auf primäre Weise, sondern nur durch Partizipation an dem Gott-selbst, welcher allein der Vater sei, zuschreiben und ihm den Status eines Abbild-Gottes zuweist:744 Wenngleich er das „urbildhafte“, erste Abbild Gottes sein soll,745 von welchem alle anderen Götter ihr Gott-Sein per Anteilhabe beziehen, gerät der Logos so doch auf eine ähnliche bis gleiche Stufe wie die vielen Götter, z. B. wenn Origenes von 743 Zum Mittler-Sein des Logos / Christus – unter einem freilich anderen theologischen Aspekt – vgl. oben Kap. IV.2.2 b und IV.2.3 b. 744 In der Forschung erscheint dieser Aspekt nicht immer prägnant genug gewürdigt: So spricht z. B. Jacobsen (2015: 116) davon, dass gemäß Origenes „the Son’s nature is identical with the Father’s“; bzw.: „The Word’s subordination to the Father does not imply that the Word is of another substance than the Father“ (ibd., 125); „As far as I can see there is not much doubt that Origen has included the term homoousios to describe the relation between God the Father and Christ“ (289), wobei Jacobsen diese Interpretation selbst später relativieren muss (ibd., 127, 138, 143; zum Partizipationsgedanken bei Origenes s. ibd., 116, 134–5, 193–5, 337). – Ähnliches gilt für Bruns (2013 b: 74–78): Bruns streicht zwar die Verbindungslinien zur „späteren nizäno-konstantinopolitanischen Orthodoxie“ heraus, scheint sie dabei aber vielleicht auch überzubetonen. Beachtet man die Teilhaberelation, so weist Origenes dem Sohn klar den Status eines (wenn auch auf primäre Weise) Partizipierenden zu, welches als Abbild von dem Partizipierten selbst ontologisch-prinzipientheoretisch zu unterscheiden ist. Obwohl z. B. Jacobsen (2015: 127) gleichsam selbstverständlich das gemäß Origenes per Teilhabemodus partizipierte Gott-Sein des Sohnes / Logos erwähnt, bleibt unberücksichtigt, dass dieses – auch gemäß Origenes’ eigenen Worten – eben nicht ein in Wesensgleichheit auf gleiche Weise gemeinsam geteiltes Gott-Sein bedeuten kann. Außerdem spricht Origenes explizit vom Logos als einem „zweiten Gott“ (!), worauf wiederum Bruns (2013 b: 78, 117) selbst rekurriert. Bruns (ibd., 80, 117) weist zwar zu Recht darauf hin, dass dem Sohn bei Origenes die Funktion eines „Teilhabemittlers“ zukommt; dieser ist aber zumindest gemäß Origenes’ Wortwahl nicht einfach das Partizipierbare (im Sinne einer Mitte zwischen Unpartizipiertem und Partizipierendem wie bei Proklos, s. o. Kap. III.c), sondern „Abbild“ und unterscheidet sich darin nur deshalb von den übrigen Göttern, dass er erstes Abbild ist. Dabei geht es weniger um den Aspekt einer „Depotenzierung“ des Sohnes (Bruns ibd., 83) als um dessen (theo‑)ontologischen Status: Wenn Bruns (ibd., 88) bei Origenes nur eine Unterscheidung der jeweiligen „heilsökonomische[n] Funktion“ der trinitarischen Personen sieht, „ohne dass damit aber eine Differenz im Hinblick auf ihre jeweilige göttliche Wesensnatur behauptet ist“, erscheint ‚dieser Origenes‘ doch nizänisch überinterpretiert (wobei Bruns selbst [ibd., 111–122, 304] zumindest die Ambivalenz von Origenes’ Äußerungen abschließend würdigt). Diese sachliche Differenz zu betonen, ist heutzutage zum Glück nicht mehr gleichbedeutend damit, Origenes deshalb als ‚Ketzer‘ zu brandmarken. – Thümmels (2011: 243–4) kurze Ausführungen werden Text und Theologie der besagten Passage m. E. am ehesten gerecht. 745 Vgl. Vogt (1999: 204): „Vom Sohn sagt Origenes nicht, daß er vergöttlicht wurde, sondern spricht in aktiv-dynamischer Weise von ihm; er hat das Gott-Sein auf sich gezogen […]. […] Für Origenes bedeutet das Bei-Gott-Sein des Logos vielmehr, daß er zum Vater hingewendet ist, von dem er sein ganzes Gott-Sein empfängt.“
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„den übrigen Göttern außer ihm [sc. dem Logos]“ spricht. Wie bei Apuleius in philosophischer Hinsicht die partikulären Exemplar-Formen eine Mittelstellung zwischen den wahren, paradeigmatischen Ideen und den Materie gestaltenden Abbildern einnehmen, so soll bei Origenes der Logos einerseits durch das Beidem-Gott-Sein als dessen erstes, „urbildhaftes Abbild“ fungieren, als solches dann aber in sekundärer Weise Urbild für die weiteren, auf der nächsten Stufe angesiedelten Götter sein – theologisch ein schon bei Philon von Alexandria formulierter Gedanke.746 Anders als Origenes verwischt Apuleius jedoch nicht den sachlichen Unterschied zwischen paradeigma und Abbild: Die partikulären Exemplar-Formen sind bei Letzterem nur Abbilder der paradeigma und fungieren insofern als eidetische Bestimmungsmomente für die Einzeldinge; d. h., diese vermittelnden Exemplarformen haben gemäß Apuleius gerade nicht den paradoxen Status eines „urbildhaften Abbildes“ wie der Logos bei Origenes. Mit dieser Logos-Theologie erscheint die unmittelbar zuvor von Origenes in Anschlag gebrachte Betonung der Gottheit des Sohnes nun doch wieder zweifelhaft zu werden, weil sie dann nur in abgeleiteter Weise bestehen würde:747 Zwar ist Origenes der Meinung, durch die exponierte Stellung Christi / des Logos als erstes Abbild des Gott-selbst / des Vaters und als Urbild für alle weiteren Götter die Gottheit des Logos gerade bewahrt und trotzdem seine ihn vom Vater unterscheidende „Eigenheit“ (idiotês) aufgezeigt zu haben. Letztlich scheint er damit den Abbildcharakter Christi gemäß Kol 1, 15 jedoch insofern überzubetonen, als dass der Anspruch des vollgültig-primären Gott-Seins, den Christus z. B. mit der Vollmacht, Sünden vergeben zu können (Mk 2, 1–12), zu implizieren scheint, noch in vollem Umfang zum Ausdruck käme – und nicht nur in abgeleiteter, sekundär-partizipatorischer Weise. Andere Schriftzeugnisse wie z. B. eine der zentralen Selbstaussagen Christi nach dem Johannes-Evangelium: „Ich und der Vater sind eins“ (Jh 10, 30), welche sich im Sinne der (nicht-subordinatianistischen) Wesenseinheit von Vater und Sohn, also des späteren nizänischen Homoousios, interpretieren lassen, bleiben hier unberücksichtigt.748 746 Der Bezug zu Apuleius soll indes nicht suggerieren, dass bei Origenes diese abgeleiteten, unter dem Logos stehenden Götter ohne Weiteres mit den materialen Abbildern von Ideen bei Apuleius gleichgestellt werden können bzw. sollten: Es geht nur um den Vergleich einer ontologischen Stufung an sich. – Vgl. Philon, leg. all. III, 96. 747 Dass Origenes der philosophische Unterschied zwischen einer Sache selbst (‚Gott-Sein‘, ‚Leben‘ etc.) und einer sekundären Partizipation an ihr bewusst ist, zeigt z. B. in Jh. II, 6, 53; zur unterschiedlichen Intensität der Partizipation an einem Selbigen bei verschiedenen Partizipanten vgl. auch princ. IV, 4, 9; 362,17–363,3. Umso erstaunlicher ist, dass er diese Differenzierungen – vor allem diejenige zwischen einer Sache selbst und ihrem Partizipiertwerden durch von ihr zu unterscheidende Partizipanten – mitunter auszublenden scheint (princ. IV, 4, 9; 361,16–362,5, zitiert oben zu Beginn von Kap. IV.3 a). Dies hat besonders für die Christologie entscheidende Konsequenzen, wo ein nur partizipiertes Gott-Sein des Sohnes dann unumgänglich zu einer ontologisch-prinzipienhaften Subordination führt. 748 S. o. Kap. IV.2.2 b zu Mk 2, 1–12 sowie Jh 10, 30; zu letzterer Stelle vgl. Augustinus, trin. V, 9. Augustinus scheint interessanterweise auch Kol 1, 15 in einem entscheidenden Aspekt anders
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Vielleicht ohne dass Origenes dies direkt beabsichtigt, erscheint bei ihm der Logos in seiner ‚theologischen Funktion‘ gleichsam sogar als Prinzip des Polytheismus:749 Anstelle der Einheit zwischen Vater und Sohn,750 wie sie in den (später kanonischen) Evangelien zum Ausdruck kommt, wird der Sohn hier zum Prinzip der Gott-Werdung für alle durch Anteilhabe an ihm, dem Sohn / Logos, (in sekundärer Weise) Vergöttlichten.751 Beides zusammen führt von dem biblischen Zeugnis eher weg als zu ihm hin: Obwohl Origenes sich gegen das Missverständnis, Christus könne qua Logos als ‚Extra-Gott‘752 neben dem einen Gott erscheinen, verwahrt, steht seine Logos-Theologie dieser Interpretation nicht gerade fern, wenn er von den „übrigen Göttern außer ihm [sc. dem Logos]“ spricht und auch dem Logos nur ein instanzhaftes Abbild-Sein zuerkennt. Gott-Logos ist gemäß Origenes zugleich der erste an Gott selbst Partizipierende und von anderen Göttern Partizipierte, und dies entspricht in philosophischer Hinsicht einer oben (Kap. IV.3 a) schon konstatierten, nicht hinreichenden Differenzierung zwischen einer partizipierten Sache selbst und den an ihr partizipierenden Instanzen. Umgekehrt sollte hier nun nicht übersehen werden, dass Origenes am GottSein des Sohnes ohne Abstriche festhält („er bleibt immer Gott“) und dass diesem als Vermittler des Gott-Seins für (potentielle) andere Götter eine exponierte Prinzipienfunktion zukommt. Insofern lässt sich bei wohlwollender Interpretation festhalten, dass – auch wenn dem Logos nur ‚Gott-Sein‘ per primärer Teilhabe, nicht aber ‚das Gott-Sein‘ des Vaters eignen soll,753 welches beide wesensgleich machen würde – der Logos dennoch eine gegenüber anderen Göttern herausgehobene Stellung behält und dass ihm in Origenes’ Sichtweise gerade durch diese Eigenheit, welche den Sohn vom Vater unterscheidet, eine das (an sich) exklusive Gott-Sein inklusiv vermittelnde Funktion zukommt. Gravierende Einwände antizipierend, schreibt Origenes Gott Vater und Gott Sohn jeweils den Status eines Prinzips, eines „Quells“ zu: Der Vater sei der Quell zu verstehen als Origenes: „Thus being made to the image and likeness of God meant that we were made unto Christ, the image which is not like by participation but is the likeness without any unlikeness“ (Teske 1999: 378/1). 749 Explizit entgegengesetzt – und zumindest im Widerspruch zur philologischen Evidenz des oben gerade übersetzten und diskutierten Textes – äußert sich Edwards (2002: 72): „Had auto‑ theos been the neologism of a Platonist, it would no doubt have implied that God the Father is the paradigm in which an indefinite host of gods participates; Origen, however, does not teach that the Son ‘participates’ in the Father who created him […].“ Zur grundsätzlichen Kritik an Edwards (vgl. Fürst 2014: 562) s. o. Anm. 666. 750 Zur Reziprozität von Erkennen und Sein zwischen Vater und Sein s. o. Anm. 632. 751 Zur Partizipation am Sohn, welche die Sohn-Werdung der Partizipierenden impliziere, vgl. princ. IV, 4, 5; 356, 6. 752 in Jh. II, 2, 16. Vgl. o. Kap. IV.2.3 b. 753 Die Begründung dafür sieht Origenes im Gebrauch bzw. Weglassen des bestimmten Artikels in Jh. 1, 1 gegeben: „Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei dem Gott, und Gott [kein Artikel!] war der Logos“ (in Jh. II, 2, 13).
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der Gottheit, der Sohn der Quell des Logos,754 d. h. der Rationalität, an welchem, wie oben schon anhand von De principiis gezeigt,755 alle logika, alle rational begabten Geschöpfe, partizipieren. Diese prinzipientheoretische Differenzierung erscheint grundsätzlich durchaus analog zu pagan-neuplatonischen Unterscheidungen, etwa der zwischen dem überseienden Einen als Prinzip von Einheit überhaupt und dem seienden Einen als Prinzip des (intelligiblen) Seins.756 Für seine theologische Differenzierung zwischen Gott Vater und Gott Sohn kann Origenes sogar die Schilderung der Erschaffung des Menschen aus dem ersten Schöpfungsbericht als gewichtiges Argument anführen: Die Menschen seien „nach dem (Ab‑)Bild (kat’ eikona) Gottes“ (Gen 1, 27) geschaffen, aber nicht selbst „(Ab‑)Bilder“.757 Die beiden theologischen Thesen, dass (1) die Menschen als logika, als rationale Wesen, Anteil haben an dem Logos als Quell der Rationalität, welcher selbst (2) qua Logos wiederum erstes Abbild Gottes sei, kann Origenes nun so miteinander kombinieren, dass bereits Gen 1, 27 besage, dass der Mensch „nach dem Abbild Gottes“, d. h. Christus-gemäß geschaffen sei: Nicht der Mensch selbst sei also (direktes) Abbild des Gottes selbst, des Vaters, sondern zwischen beiden fungiere der Logos qua Gott Sohn als Mittler; er ist das primäre Abbild Gottes, und nach dem Logos als primärem Abbild Gottes sei dann auch der Mensch als ein sekundäres Abbild geschaffen.758 Diese Interpretation steht in nahezu perfektem Einklang sowohl mit Origenes’ kühn anmutender Theologie, dass der Logos Prinzip der Gott-Werdung für alle sekundären Götter ist, als auch mit dem (sich auf Ps 82, 6 stützenden) Christus-Wort des Johannes-Evangeliums (10, 35), gemäß welchem diejenigen, „zu denen das Wort (logos) Gottes kam, Götter genannt“ werden.759 Auch an sich spricht dieses Herren-Wort für Origenes. Seine theologische Interpretation mag insgesamt angesichts der oben skizzierten Einwände vielleicht unausgewogen erscheinen; sie zeigt aber bedenkenswerte Aspekte, welche ihre Berechtigung zumindest aus bestimmten Aussagen der Bibel und aus ihrer inneren, philosophischen Konsistenz beziehen und insofern keineswegs ohne Weiteres von der Hand zu weisen sind. Für seine Theologie scheint Origenes eine dem späteren Teilhabe-Theorem des Proklos760 ähnliche Konzeption in Anschlag zu bringen: Während der Gottselbst (der Vater) dem (1) unpartizipierbaren Prinzip bei Proklos entspricht, korrespondiert (2) die Stellung des Sohnes / Logos als demjenigen, welcher durch in Jh. II, 3, 20. S. Kap. IV.3 a. 756 S. o. Kap. II.5 c zu Plotin. – Origenes selbst klärt „nicht stringent […], ob ‚der einfache, unsichtbare und unkörperliche Gott des Alls Geist oder jenseits des Geistes und der Seiendheit‘ ist“ (Fürst 2014: 556, mit Verweis auf c. Cels. VII, 38). 757 in Jh. II, 3, 20. 758 Vgl. Bruns (2013 b: 171, 274) und Jacobsen (2015: 124, 128). 759 S. o. Kap. IV.2.3 b. 760 S. o. Kap. III.c. 754 755
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seinen Dienst anderen das Gott-Werden schenkt, der partizipierbaren Mitte und (3) die vielen Wesen, welche ihr Gott-Werden durch Anteilhabe an dem Logos gewinnen können, entsprechen dem Partizipierenden. Für die theoretische Applikation der Partizipationsphilosophie und ‑theologie zeichnen sich bei Origenes insgesamt zwei Befunde ab: (1) Da er die Beziehung selbst zwischen Gott Vater und Gott Sohn bereits partizipationslogisch erklären will, gerät Gott Sohn als Logos unweigerlich in eine den Geschöpfen doch mehr oder weniger ähnliche Position. Diese theologische Konsequenz wäre keineswegs notwendig; Origenes scheint die platonische Partizipationsontologie aus christlicher Sicht hier möglicherweise sogar zu überfordern.761 Aus der Perspektive von Kol 1, 15 und auch vor dem Hintergrund von Jh 10, 35 entfaltet seine Interpretation indes eine starke Attraktivität, wenn nicht Legitimation, obwohl eine theologische Balance zu Schriftzeugnissen, welche andere Akzente setzen und die Einheit zwischen Vater und Sohn betonen, zumindest teilweise fehlt. (2) Origenes macht den Partizipationsgedanken einerseits gut platonisch dahingehend stark, dass die exklusive Stellung von Gott Sohn / -Logos mit einem weitgehend inklusiven Teilhabemodus und vielen Teilhabemöglichkeiten an diesem vereinbar wird. So können gleichsam von dem einen Zentrum (Gott-Logos) aus verschiedene Kreise mit mehr oder weniger engen Radien gezogen werden, auf deren Peripherien in unterschiedlicher Nähe und Ferne die Geschöpfe auf entsprechend verschiedene Weise an dem Gott-Logos Anteil gewinnen und in Beziehung zu ihm stehen. In diesem Sinne kann Origenes eine sehr ‚elastische‘762 christliche Theologie entwickeln, ohne die unüberbietbare Rolle Christi als des Logos dabei aufgeben zu müssen: ‚Wie [sc. es] also viele Götter [sc. gibt], aber für uns einen Gott, den Vater, und viele Herren, aber für uns einen Herrn, Jesus Christus‘ (1 Kor 8, 5–6), so [sc. auch] viele Logoi, aber wir bitten, dass uns zuteil werde ‚der Logos im Anfang‘, der ‚bei (dem) Gott ist‘ (Jh 1, 1), der Gott-Logos. Wer nämlich diesen Logos, der ‚im Anfang bei (dem) Gott‘ [sc. ist], nicht fassen kann, der wird sich entweder ihm als Fleisch Gewordenem zuwenden oder wird an denen partizipieren, welche bereits an etwas Bestimmtem von diesem Logos partizipieren oder er wird, abgefallen von der Partizipation an dem Partizipierenden, in einem in jeder Hinsicht dem Logos fremden, sogenannten ‚Logos‘ sein. Verständlich aber wird das Gesagte sein durch die paradeigmatischen Ausführungen (paradeigmata) über (den) Gott, Gottes Logos und über Götter, welche entweder an Gott partizipieren oder zwar sogenannte, keinesfalls aber [sc. ihrem substanzhaften Sein nach] Götter sind, und wiederum über Gottes Logos und [sc. den] Fleisch gewordenen Logos und über Logoi, welche entweder in irgendeiner Weise an dem Logos partizipieren, [sc. als] zweite oder dritte [sc. Logoi] im Unterschied zu dem [sc. Logos] vor allen [sc. Logoi], [sc. über die,] 761 S. o.
Kap. IV.2.2 b. Begriff der Elastizität verwendet Schmitt (2011: XI, 169) im Hinblick auf die platonische Philosophie insgesamt. Hier scheint er speziell auch auf Origenes als platonisch denkenden Christen passend. 762 Den
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welche zwar als Logoi erachtet werden, nicht aber auf wahrhafte Weise Logoi sind, sondern sozusagen ganz und gar irrationale (alogoi) Logoi sind, wie auch bei den sogenannten, nicht aber seienden Göttern jemand anstelle von ‚irrationale (alogoi) Logoi‘ setzen könnte: ‚Götter, die keine Götter [sc. sind]‘ (in Jh. II, 3, 21–23).
Wenn oben anhand einiger Bibelstellen festgestellt werden konnte, dass die Annahme potentiell vieler Götter im Christentum zwar nicht grundsätzlich in Abrede gestellt wird, aber theologisch nie wirklich ausschlaggebend erscheint, weil es um die Erkenntnis und Beziehung zu dem einen, wahren Gott geht,763 so lässt sich für Origenes festhalten, dass er bei der Entwicklung seiner philosophischen Theologie zumindest genau diesen Ausgangspunkt nimmt: „Für uns“, wie schon Paulus in 1 Kor 8, 5–6 sagt, – d. h. für die Christen – gibt es nur „einen Gott, den Vater,“ und „einen Herrn, Jesus Christus“. Denn es kommt aus christlicher Sicht einzig und allein darauf an, den wahren Gott und den wahren Erlöser zu kennen. Es gebe, so Origenes, zwar viele „Logoi“, d. h. viele rationale Wesen(heiten); „für uns“ aber gehe es nur um den einen, wahren Logos, d. h. um Gottes lebendiges (Schöpfungs‑)Wort – dieses möge „uns“ gegenwärtig sein und zuteil werden, denn dieses sei der primäre, prinzipienhafte, eben „im Anfang bei dem Gott“ verharrende Logos. Die unmittelbare und unüberbietbare Nähe des Logos – d. h. Christi als des Sohnes – zu Gott Vater vermittelt, so scheint impliziert, allein den wahren Zugang zu Gott. Deshalb hat der Christ gemäß Origenes nur die Bitte, in der Gegenwart dieses wahren Logos zu sein. Gerade seine elaborierte Logos-Theologie führt Origenes nun aber dazu, diesen exklusiven Zug des Christentums dennoch elastisch zu interpretieren: Wer nämlich diesen Logos als solchen „nicht fassen“ könne, muss in Origenes’ theologischem System nicht außen vor bleiben: Denn der „Fleisch gewordene Logos“, d. h. der im Menschen Jesus Christus leiblich präsente Logos biete einen Zugang, den Logos, nicht insofern er Logos ist, sondern insofern er Mensch geworden ist, zu erkennen. Für Origenes eröffnet also die Menschwerdung Christi gerade einen theologischen Zugriff, welcher auch unabhängig von einer rein rational-intellektiven Schau möglich ist. Aufgrund der Reihenfolge wird indes unmissverständlich deutlich, dass Origenes die Erkenntnis des Logos als Gottes (Schöpfungs‑)Wort für höherwertig hält, weil sie in die tatsächlich unmittelbare Nähe zu „dem Gott“ führe. Logos-Theologie, Inkarnations‑ sowie Kreuzestheologie764 stehen hier also nicht als gleichwertige Aspekte, welche zusammen das Spezifikum christlicher Theologie ausmachen, neben-, sondern untereinander (analog dazu, dass auch Christus, der Logos, unter Gott Vater steht). Wenn Gotteserkenntnis auf verschiedene Weise möglich ist, dann impliziert dies für Origenes zugleich, dass Partizipation an Gott sich in unterschiedlicher Form realisieren kann. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass gerade der Gedanke S. o. Kap. IV.2.3. Vgl. in Jh. II, 3, 28–29.
763 764
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der Anteilhabe, welcher auf einer Ontologie der Partizipation an seinsstiftenden Prinzipien basiert, die eigentliche Elastizität in Origenes’ theologischem System ausmacht: Teilhabe bedeutet das Haben eines Teils bzw. das Verbundensein mit dem, woran partizipiert wird, und dies kann sich auf verschiedene Weise gestalten. Während der wahre Gott einer ist und der wahre Logos ebenfalls einer, kommt bei der Partizipation an ihm hier also der Gedanke der Differenz ins Spiel, ohne dass die Einheit Gottes in Origenes’ Verständnis in Abrede gestellt wäre. Es handelt sich somit um eine gleichsam ‚pluripotente‘, viele Möglichkeiten in sich bergende Differenz, welche – trotzdem – von der Einheit des einen Gottes und des einen Logos gehalten und umfasst wird, d. h. um eine Differenz, die aus der Auffächerung und Entfaltung des einen Logos entspringt, solange eine wie auch immer partikularisiert-eingeschränkte Teilhabe noch in einem Partizipationsbezug zu dem einen wahren Logos steht (und kein kompletter Abfall von diesem zu verzeichnen ist). Im Hinblick auf den Aspekt der Prinzipiierung des Vielen aus dem Einen zeigt Origenes’ christliche Theologie deutliche Gemeinsamkeiten mit der pagan-neuplatonischen Philosophie eines Plotin bzw. Proklos.765 In diesem Sinne fährt Origenes dann fort: Wer auch den Logos als Fleisch Gewordenen nicht fassen könne, vermag sich anderen anzuschließen und an diesen zu partizipieren, welche bereits an „etwas Bestimmtem“ von dem einen Logos Anteil gewonnen haben – als Beispiel dafür nennt Origenes kurz darauf (wenn auch nur beiläufig) die griechischen Philosophenschulen.766 Wer hingegen auch von der Anteilhabe an einem anderen, der bereits partizipiert, „abfällt“,767 der sei Pseudo-Logoi verfallen, welche in Wahrheit alogoi seien, also keinen wirklichen Logos, keinen wirklich rational-seinsbestimmenden Gehalt mehr aufwiesen und deshalb auch nicht mehr in einem Verhältnis zu Christus als Gottes Logos stünden, der in sich alle intelligiblen Seinsprinzipien und Vernunftgründe (rationes) der gesamten Schöpfung enthalte.768 Die Stufung der Gotteserkenntnis begründet Origenes von der hebräischen Bibel her: Der Gott der Universalen (tôn holôn) nun ist [sc. der] Gott der Erwählung, und vielmehr des Erlösers (sôtêr) der Erwählung;769 danach ist er Gott der auf wahrhafte Weise Götter [sc. Seienden], und überhaupt ‚Gott der Lebenden und nicht der Toten‘ (Mt 22, 32). Der Gott-Logos aber ist vielleicht Gott derjenigen, die das Universale (to pan) in ihn setzen und ihn für den Vater halten.770 Sonne aber, Mond und Sterne wurden, wie einige vor S. o. Kap. II.5 c und III.d. in Jh. II, 3, 30. Vgl. Jacobsen (2015: 129). 767 Wie oben (am Ende von Kap. IV.3 a) ausgeführt, bedeutet ein Abfall für Origenes jedoch nicht, dass dieser absolut endgültig und nicht rückgängig zu machen wäre. 768 S. o. Kap. IV.3 a zu princ. I, 2, 3; 30, 9–15. 769 Die nicht leicht verständliche Formulierung erklärt Thümmel (2011: 245) in seinem Kommentar: „Die ‚Erwählung‘ ist personal als ‚die Erwählten‘ zu verstehen und meint diejenigen, die am weitesten in der Gotteserkenntnis fortgeschritten sind.“ 770 Damit verweist Origenes auf die von ihm zuvor schon zurückgewiesene Meinung derje765 766
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uns erörtert haben, denjenigen zugeteilt, die nicht würdig waren, aufzunehmen,771 dass der Gott der Götter ihr Gott sei. So aber fassten sie [sc. das Göttliche] auf, weil sie durch das bewegt wurden (kinêthentes), was sich gemäß dem [sc. Buch] Deuteronomium wie folgt verhält: ‚Nicht sollst du zum Himmel aufblicken und Sonne, Mond und den ganzen Kosmos des Himmels anschauen und sie irrigerweise anbeten und verehren, welche der Herr, dein Gott, allen Heidenvölkern zugeteilt hat. Euch aber hat der Herr, dein Gott, es nicht so gegeben‘ (Dt 4, 19). Warum nämlich ‚teilte der Gott allen Heidenvölkern Sonne, Mond und den ganzen Kosmos des Himmels zu‘, wo er sie doch Israel so nicht gegeben hat? Deshalb, damit die, welche sich nicht zur intelligiblen Natur (noêtê physis) zu erheben vermögen, weil sie durch sinnlich-wahrnehmbare Götter im Hinblick auf die Gottheit bewegt sind, mit Zufriedenheit wohl in diesen [sc. Meinungen] ihren Stand gewinnen (histasthai) und nicht auf [sc. trügerische] Götterbilder und Dämonen hereinfallen (in Jh. II, 2, 24–26).
Der universale Gott ist für Origenes Gott Vater, welcher Israel erwählt hat, vor allem aber der Gott des „Erlösers“ der Erwählten, d. h. der Gott Jesu Christi, welcher qua Logos „im Anfang“ bei dem Gott ist (Jh 1, 1): Als erwähltem Volk wird Israel zwar die universale Gotteserkenntnis zuteil; insofern aber die universale Erlösung vermittelt durch den Logos geschieht, ist Gott Vater in primärer Weise der Gott, in dessen unmittelbarer Nähe („im Anfang“) der Logos verharrt. Der Erlöser rettet die Erwählten, daher verbirgt sich hinter der Aussage „Gott der Erwählung / der Erwählten“ für Origenes der christlich-theologische Gedanke, dass Gott durch Christus, durch den Erlöser, Gott der Erwählten ist. Erst danach sei Gott auch der Gott aller wahrhaftigen, aber lediglich sekundären Götter. Danach kommt Origenes gemäß seiner ‚elastischen Theologie‘ auf Meinungen zu sprechen, welche er aus bestimmten Gründen für theologisch gleichwohl weniger angemessen, aber doch – und zwar von den Heiligen Schriften her – in gewisser Weise für berechtigt erachtet: Zunächst führt er die Meinung derjenigen auf, die den Gott-Logos (Christus) für den ‚universalen Gott‘ halten. Dass Origenes mit dieser Auffassung nicht konform geht, hat seinen Grund wohl kaum darin, dass er die Göttlichkeit des Logos, welche er ja zuvor verteidigt hatte,772 nun plötzlich zurücknehmen wollte: Der Logos ist Gott, aber seiner Auffassung nach nicht der Gott, sondern Gott (Sohn) im Sinne des ersten „urbildhaften Abbilds“ des Gottes (des Vaters).773 Origenes’ (nur angedeutete) Kritik wendet sich lediglich gegen die Nivellierung jeglichen Unterschieds zwischen Gott Sohn und dem einen Gott(‑Vater) und gegen die Meinung, der Sohn sei nur nominell nigen, die keinerlei Unterschied zwischen Gott Vater und Gott Sohn ansetzen und den Sohn im Grunde als Vater betrachten und verehren (in Jh. II, 2, 16; s. o. Anm. 732). 771 Wörtlich: „dass ihnen eingeschrieben werde“. Epigraphô kann „einschreiben, (jemanden als Bürger) aufnehmen“ bezeichnen. Origenes scheint davon zu sprechen, dass bestimmten Menschen nicht die wahre Gotteserkenntnis „eingeschrieben werden“ konnte, weil sie dafür nicht aufnahmefähig, „nicht würdig“ waren. Dieser Gedanke des ‚Eingeschrieben-Werdens‘ wird oben durch das einfachere ‚Aufnehmen‘ wiedergegeben. 772 S. o. Anm. 684 und 732. 773 S. o. zu in Jh. II, 2, 17–18. (Zur Sohnschaft Christi bei Origenes vgl. z. B. in Jh. II, 3, 27.)
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‚Sohn‘ und sei in Wahrheit der Vater selbst und somit der universale Gott. Seine verhaltene Kritik gilt gewissermaßen der Eliminierung des Vaters, ohne den der Logos nicht Sohn wäre und „an der Brust des Vaters“ ruhen würde, wie von Johannes beschrieben.774 Aber auch diese theologisch nicht vollkommen zutreffende Auffassung hat gemäß Origenes offenbar noch eine gewisse Berechtigung, weil sie zum Logos – und so letztendlich auch zum Vater – führt, da der Logos die „Tür“ zum Vater ist.775 Mit der gleichen Toleranz erwähnt Origenes sodann diejenigen, welche die Gestirne als Götter verehren: Sie seien aus einem nicht weiter bestimmten Grund der wahren Gotteserkenntnis „nicht würdig“ gewesen. Was zunächst wie ein scharfes Urteil klingt, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen nicht nur als ‚Entschuldigung‘, sondern stellt gemäß Origenes sogar eine göttlicherseits sanktionierte Erkenntnisperspektive dar: Während es Israel von Gott geradezu vehement verboten wird, die Gestirne anzubeten, und man daher meinen könnte, dass jegliche Vergötterung des (sichtbaren) Himmels – von wem auch immer – ein Frevel sein sollte, liest Origenes den Fortgang der Passage, dass die Gestirne den Heidenvölkern schließlich von Gott selbst (!) „zugeteilt“ seien, nicht als eine Strafe, sondern im Sinne einer ihrer Erkenntnishaltung korrespondierenden Rücksichtnahme. Da gemäß seiner theologischen, christlich-platonischen Auffassung Gott nur als gut zu denken ist,776 kann die „Zuteilung“ der Gestirne an die Heidenvölker zur Gottesverehrung keinem ‚göttlichen Zynismus‘ geschuldet sein. Vielmehr verdanke sich diese Verehrung der Gestirngötter dem Umstand, dass diejenigen, denen sie zugeteilt sind, nur die sinnlich-wahrnehmbare Realität erkennen, sich aber nicht zur „intelligiblen Natur“ hinaufschwingen können.777 Aufgrund dieses Erkenntnisdefizits besteht das für sie – die Heidenvölker – Gute dann darin, dass sie so ihren „Stand gewinnen“, d. h. vor dem Un‑ und Abfall bewahrt werden, gefährliche Trugbilder und Dämonen zu verehren: Wie Origenes im Folgenden erläutert, sei die kultische Verehrung der Gestirne als Götter im Vergleich zu derjenigen künstlicher, durch Menschen verfertigter Objekte ein „bei Weitem distinguierter“, also viel eher zu tolerierender theologischer Irrtum.778 Die on Vgl. Jh 1, 1–2+18+34. in Jh. I, 27, 189; II, 18, 126. 776 Vgl. princ. I, 2, 13. Zur Gutheit Gottes im Platonismus s. o. Kap. II.2 und III.c–e. 777 Diesem epistemischen und epistemologischen Fehlschluss wird daher von Origenes auch gleich zu Beginn von princ. begegnet: Zur Widerlegung, Gott könne von sich selbst her etwas Körperhaftes und damit etwas Sinnlich-Wahrnehmbares sein, s. princ. I, 1. – Zu dieser erkenntnistheoretisch grundlegend wichtigen Unterscheidung bei Origenes s. o. den Anfang von Kap. IV.3 a sowie ferner allgemein zum Unterschied zwischen Sinnlich-Wahrnehmbarem und Intelligiblem bei Parmenides und im Platonismus oben Kap. II.1–3 sowie zum Standardbeispiel ‚Dreieck‘ Kap. II.5 b und III.c. 778 in Jh. II, 3, 27. Zum Verbot der kultischen Verehrung menschengemachter Bilder vgl. Dt 5, 8. „Idolatrie heißt nachbiblisch Avodah zarah, ‚fremder Dienst‘, Fremdversklavung. Der Zusatz 774
775 Vgl.
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tologisch begründete Voraussetzung, dass das absolut Gute Prinzip allen Seins ist, und das dadurch erschlossene platonische Axiom von der unhintergehbaren Gutheit Gottes779 führt Origenes also dazu, das Schriftzitat Dt 4, 19 positiv auslegen zu können: Denn ein Willkürgott kann kein wahrer Gott sein, schon gar nicht der universale Gott.
läßt aber auch die Deutung zu, daß Bilder solange harmlos und erlaubt sind, als man sie nicht anbetet und ihnen nicht sklavisch dient“ (Assmann 2007: 38). – Trotzdem bleibt auch die Verehrung der Gestirne ein Irrtum, denn man solle die Gestirne nicht anbeten, weil nur der Sohn die Gebete an den Vater vermittle (Bruns 2013 b: 99). Zur Akkommodationslehre bei Origenes vgl. Jacobsen (2015: 126): „[…] Origen argues that in protecting the weaker from the full light Christ is being merciful. If they were struck by his full light they would be spiritually ‘scalded’, so mediators are required.“ – Trotz aller Akkommodation, Anschluss‑ und Dialogfähigkeit wehrt Origenes die von Kelsos vorgeschlagene Möglichkeit, die Christen könnten doch die vielen (heidnischen) Götter als Diener des höchsten Gottes verehren, dennoch klar ab, da man nicht Diener an Stelle des Herrn verehren solle (Fürst 2007: 259; 2014: 560–1, mit Verweis auf c. Cels. VIII, 3–10). 779 Auf dem ontologischen Primat des Guten beruht nicht zuletzt die (neu‑)platonische Theodizee (s. o. Kap. III.g, s. u. Kap. VI.2). In diesem Sinne legt Origenes z. B. den Vers: „Alles ist durch ihn [sc. den Logos] geworden (egeneto), und ohne ihn ist auch nicht eines geworden (egeneto), was seine Entstehung abgeschlossen hat (gegonen)“ (Jh 1, 3), so aus, dass dementsprechend zwar alles Geschaffene qua Geschaffenem durch den Gott-Logos (in seiner seinsspezifischen Gutheit) geschaffen wurde, dass aber jegliche Abwendung des Geschaffenen vom Guten (d. h. Sünden, Abfall von Gott) nicht vom Gott-Logos herrühren kann, sondern auf geschöpfliches, freiheitlich-eigenverantwortliches Selbstverschulden zurückgeht (in Jh. II, 13, 91–92; princ. III, 2, 7). Damit entspricht Origenes’ Position zur Theodizeefrage (vgl. Arruzza 2011) der genuin platonischen wie christlichen Auffassung, die ich andernorts exemplarisch anhand von Augustinus und Proklos abzuleiten versucht habe (Drews 2009: 105–143, 341–357, 382–6): Das Üble ist zwar weder von Gott verursacht, noch gibt es platonische Ideen von Schlechtem / Üblem; insofern ist dieses prinzipienontologisch tatsächlich ‚nur‘ als Defizienz zu bestimmen; dies bedeutet aber gerade nicht, dass die spürbare und erlebte Realtität von Üblem / Schlechtem deshalb wegerklärt würde, wie dies hingegen einer stoischen Denkweise entsprechen würde: vgl. Mark Aurel IV, 39; IX, 35+42, s. dazu Rutherford (1989): „[…] once we grant their [sc. the Stoics’] premises of an ordered world and just gods, we have no alternative but to suppose that our human judgement is in error where it sees injustice in divine dispensation“ (213); „The existence of evil and of wicked men, instead of being explained by this rather sophistical rationale, is treated more as an inevitable by-product of universal processes which we cannot control“ (233). Aus platonischer Perspektive verlieren dagegen Deformanzen, wie sie sich innerhalb der materiellen Wirklichkeit aufgrund von seelischen Depravationen zeigen (können), in keinster Weise ihren Realitätsgehalt und Schrecken (vgl. Arruzza 2011: 291–2). Eine platonische Theodizee weist lediglich darauf hin, dass die Realität des Bösen nicht in Gott bzw. dem Guten selbst gründet und insofern – im Gegensatz zur Stoa – auch nicht ontologisch ‚immer schon‘ notwendig ist (so aber Arruzza 2011: 284), sondern in der selbstverschuldeten, nichtnecessitierten Abwendung der Seelen vom göttlichen Guten ihren Ursprung nimmt. Es gibt somit platonisch kein prinzipienontologisch-metaphysisches Übel, welches ‚immer schon da‘ wäre; die harte Realität des Bösen, obwohl es in sich selbst nicht notwendig ist, bleibt indes unvermindert und ungeschönt bestehen (vgl. Jacobsen 2015: 331). Die scharfe Gegenüberstellung einer angeblich ‚ontologisch-deterministischen‘ Erklärung des Bösen bei Plotin im Kontrast zu einer ‚rein moralisch-voluntativen‘ bei Origenes und Gregor von Nyssa (Arruzza 2011: 290) erscheint wenig plausibel.
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
c) Ein Resümee zu partizipationstheoretischen Aspekten in Origenes’ christlicher Theologie – im Vergleich mit Aristoteles und dem Teilhabe-Theorem im Mittel‑ und Neuplatonismus Aus Origenes’ Perspektive lässt sich gegen die hier erarbeitete Interpretation und Kritik an seiner partizipationstheoretisch entfalteten sowie mono‑ und polytheistische Aspekte theologisch integrierenden Christologie vielleicht folgende Rückfrage formulieren: Beinhaltet die Teilhaberelation nicht doch wesentlich eine Identitätsrelation? Konkreter: Ist nicht Christus, der Sohn und Gott-Logos, insofern er „Gott“ ist, doch eines Wesens mit „dem Gott (Vater)“, so dass Origenes der Sache nach das nizänische Homoousios zwischen Gott Vater und Sohn bereits vertritt? Wie oben gesehen, wird dies in der aktuellen Forschung bisweilen so gewertet.780 Im Hinblick auf den Aspekt, dass gemäß Origenes Christus Gott ist, besteht eine nicht zu verkennende Ähnlichkeit mit der späteren ‚Orthodoxie‘. Philosophisch bleiben aber innerhalb dieser Identitätsrelation, wie Origenes sie aufzufassen scheint, ontologisch-prinzipientheoretische Unterschiede zwischen Unpartizipierbarem, Partizipierbarem und Partizipierendem bestehen. Dazu noch einmal ein Beispiel zur Illustration: Oben781 konnte mit Blick auf Aristoteles interpretiert werden, dass in einem bestimmten Sinn den vielen Menschen dasselbe Eidos ‚Mensch‘ zukommt, insofern sie Menschen sind, auch wenn sie dieses selbige Eidos dann wieder auf jeweils spezifisch-individuelle Weise entfalten. Die Selbigkeitsrelation im Hinblick auf das Eidos ‚Mensch‘ eint die vielen Menschen gemäß ihrer Identität als Menschen: Sonst wären sie nicht – unbeschadet aller individuellen Unterschiede – jeweils als ‚Mensch‘ identifizierbar und könnten z. B. nicht qua Menschen bestimmte gesellschaftlich verankerte Normen gemeinsam teilen: Einen Löwen oder Wolf wird man qua Tier z. B. nicht vor ein menschliches Gericht stellen, weil er ein anderes Lebewesen getötet hat. Die Selbigkeitsrelation, welche die vielen Menschen als Menschen eint, besteht aber, wie oben gezeigt, auf der Ebene der Partizipierenden nur, insofern sie an einem selbigen Eidos als Partizipiertem teilhaben. Mit Plotin kann man hier also von dem enhyletischen, materieverhafteten Eidos sprechen, welches sich in den vielen Instanzen einer Sache materialisiert und diese untereinander eint.782 Von hier aus wird ersichtlich, warum es sich dabei um eine andere Identitätsrelation handelt als die zwischen dem göttlichen Logos und Gott Vater bei Origenes: Den Logos betrachtet Origenes als erstes Abbild, als zugleich erstes Partizipierendes und alle weitere Partizipation (für andere Götter) Vermittelndes. Gemeint ist also, um denselben Zusammenhang mit den später von Proklos entwickelten Kategorien zu beschreiben, die Differenz zwischen Gott Vater 780 Vgl.
vor allem Bruns (2013 b) und Jacobsen (2015) (s. o. Anm. 731 und 744). S. Kap. II.3. 782 S. o. den Schluss von Kap. II.5 c. 781
3. Origenes
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als dem unpartizipierbaren, höchsten Prinzip und Gott Sohn als dem ersten selbst Partizipierenden und zugleich als erstem Partizipierten alle weitere Partizipation an Gott Vermittelnden. Dieser Unterschied bleibt gemäß Proklos’ Teilhabe-Theorem, aber auch gemäß Origenes’ eigenem Wortlaut bestehen: Das Unpartizipierte ist nicht dasselbe wie das Partizipierte, das Letztere ist dem Ersteren subordiniert. Genau diese Subordination impliziert – gerade weil es hier um theologisch-metaphysische Prinzipienunterscheidung geht – eine nicht zu leugnende Differenz: Das Partizipierbare mag zwar denselben Seinsunterschied teilhabbar machen, welchen das Unpartizipierbare auf primäre Weise für sich selbst darstellt, trotzdem rangieren beide auf unterschiedlichen Systemstellen und implizieren eine ontologisch-prinzipientheoretische Rangfolge. Christlich-theologisch ‚brisant‘ ist dabei vor allem der Umstand, dass gemäß Origenes der Logos-Sohn als erstes Partizipierendes eher in die Nähe der vielen Götter rückt, denen er Anteil am Gott-Sein schenkt: Während die Integration des Polytheismus an sich schon für einen christlichen Bezugsrahmen keinesfalls selbstverständlich erscheint, ist gemäß Origenes’ Verständnis des Sohnes als Abbild Gottes die Einheit zwischen Vater und Sohn kaum anders denn als Subordination zu deuten, also nicht als eine Wesensgleichheit im nizänischen Sinne, insofern ein in Wesensgleichheit auf gleiche Weise gemeinsam geteiltes Gott-Sein gemeint ist. Der Vergleich mit Aristoteles mag noch einmal deutlich machen, dass die Partizipationsrelation zwischen einem Partizipierenden und einem Partizipierten ontologische Identität tatsächlich erst in der Vielheit der Partizipanten stiftet; diese Seinsidentität ist immer dann gegeben, wenn auf das von vielen gemeinsam Partizipierte, d. h. auf das vielfach teilhabbare enhyletische (materieverbundene) Eidos geschaut wird, nicht aber auf das ahyletische (immaterielle) Eidos, insofern dieses in einshafter Sachidentität in sich selbst Bestand hat, unabhängig von sachlich späteren, lediglich abgeleiteten Partizipationsformen. In der philosophischen Theologie bzw. Metaphysik geht es jedoch um das bzw. die Prinzipien selbst; dabei steht gemäß Origenes der Logos (Sohn) als „Gott“ unter „dem Gott“ (Vater) – in ähnlicher Weise wie bei Proklos das Partizipierte unter dem Unpartizipierbaren. Bei Proklos ist indes ganz deutlich,783 dass er die vielen Götter gerade als Partizipierte begreift: Denn einzig und allein ihre (aus dem Überseienden erfolgende) Anteilgabe verursacht und vergöttlicht das Seiende; das Göttliche im eigentümlichen, spezifischen Sinn kann daher nicht selbst etwas bloß Partizipierendes sein, sonst wäre es nicht primär und spezifisch göttlich, sondern selbst nur in abgeleitet-sekundärer Weise vergöttlicht. Vielmehr muss dem spezifisch Göttlichen, insofern es von sich selbst her und sozusagen unüberbietbar göttlich ist, die Partizipierbarkeit auf primäre Weise zukommen, da nur so ein infiniter Regress mit einer immer noch höheren, göttlicheren Ebene vermieden wird. S. o. Kap. III.g.
783
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
Proklos’ überseiende Henaden repräsentieren insofern auch noch die schon bei Apuleius belegte mittelplatonische Auffassung, dass den Göttern „Gutes nicht nur aus Partizipation“ eigne, sondern sie „aus sich selbst heraus gut“ seien.784 Philosophisch markiert dies einen wesentlichen Unterschied zur Theologie des Origenes, wo der Sohn-Logos sogar als der erste an dem selbstursprünglichen Gott Vater Partizipierende und alle weitere Partizipation an diesem Vermittelnde erscheint, was zu der bekannten Subordination unter Gott Vater führt.785 Während bei Proklos die überseienden Henaden gerade dadurch, dass sie partizipiert werden, noch von dem überseienden Einen unterscheidbar und ihm untergeordnet sind, erscheint die Subordination des Logos, d. h. von Gott Sohn unter Gott Vater, bei Origenes gegenüber derjenigen der Henaden bei Proklos sogar als noch stärker, da, wie gesagt, der Logos selbst bereits als erster Partizipant (und nicht nur Partizipation ermöglichend) gedacht wird. Trotz dieser philosophischen-metaphysischen Differenzen sollten aber theologische Gemeinsamkeiten dabei nicht übersehen werden: Auch der Logos, Gott Sohn, ermöglicht bei Origenes die Partizipierbarkeit Gottes, d. h. die positive Entfaltung Gottes in seine Schöpfung – auf vergleichbare Weise wie die überseienden Henaden bei Proklos das von sich selbst her unpartizipierbare Eine (das absolute hen) partizipierbar machen und so die überseiende Überfülle des Einen zur fruchtbaren Entfaltung bringen. Der rational-intellektive Ansatz, welcher sowohl Origenes’ christlich-platonischer wie auch Proklos’ pagan-platonischer Theologie eignet, stellt jeweils das Sachargument an sich in den Mittelpunkt: Als Zugang zu diesen Theologien ist dem Denken zunächst allein der konkrete Nachvollzug des argumentativ begründeten Gedankengebäudes aufgegeben (wobei dieser Nachvollzug letztlich nicht ohne eigene religiöse Praktizierung des denkend Erschlossenen auskommen wird, wie Origenes selbst darlegt, s. das Folgende). Von Vorteil mag dabei sein, dass eine sich in die Praktizierung veräußernde philosophische Theologie doch nicht beim Äußerlichen stehen bleibt, vor allem nicht äußerliche Riten und ihre Befolgung in einer Weise verabsolutiert, wie dies nur dem wirklich Absoluten, also Gott selbst, zukommen mag, welcher als absoluter Geist platonisch wie christlich ja gerade alle partikulären Einschränkungen überragt. Wie schon Apuleius und auch noch Nikolaus von Kues jeweils (jedenfalls von der Theorie her) nahe legen,786 sind die verschiedenen, mannigfaltigen Kulte in ihrer Verschiedenheit zu schützen – nicht zuletzt auch um des innerweltlichen Friedens willen. Dies kann aber nicht verdecken, dass die wahre Religion – jedenfalls aus den Perspektiven der hier verhandelten Autoren – über das Äußerliche in seiner sinnlichen Wahrnehmbarkeit und historischen Partikularität immer schon DDS 3 [123]), s. o. Kap. II.4.2 b mit Anm. 190. Vgl. Jacobsen (2015: 109, 125) und Bruns (2013 b: 117). 786 S. o. das Ende von Kap. II.4.2 b. 784 Apuleius, 785
4. Augustinus
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hinauszielt. In diesem Sinne spricht auch Origenes z. B. von der Beschneidung im äußerlich-rituellen und im geistig-intelligiblen Sinne (vgl. Kol 2, 11.13) und setzt beides in eine Beziehung; wird dieser Bezug positiv verstanden und nicht als Affront missverstanden, dann wird daran exemplarisch greifbar, wie in Origenes’ Theologie die Exklusivität des einen Gottes durch Christus inklusiv teilhabbar wird „für die Vielen“ in ihrer (auch religiösen) Verschiedenheit: Sowohl Paulus wie auch Petrus, in der äußerlichen Sichtbarkeit (en phanerô) früher Juden und Beschnittene, haben später auch im verborgenen Inneren (en tô kryptô) solche zu sein von Jesus empfangen (in Jh. I, 7, 41).
Die rituelle Beschneidung nach jüdischem Gesetz wird hier gerade nicht verworfen, sondern ernst genommen und in Christus selbst als dem Gott-Logos zentriert: Die Anteilhabe an Christus entfaltet nicht nur Gottes transzendente Einheit in die Vielheit; auch umgekehrt gilt gemäß Origenes, dass die vielen Kulte und ihre rituellen Vorgaben, insofern in ihnen wahre Gottesverehrung praktiziert wird, in Christus als dem Gott-Logos ihr Zentrum finden (vgl. Kol 2, 17). Es ist die Partizipation an dem Gott-Logos, in welcher Origenes den einen Gott teilhabbar und erlebbar sieht; diese Partizipation ist seiner Auffassung nach jedoch auf vielerlei Weise, der Verschiedenheit der Menschen entsprechend möglich,787 so dass Einheit sich in die Vielheit verströmt und Vielheit von der Einheit gehalten wird. Die Tatsache, dass Paulus schreibt, er sei „den Juden ein Jude und allen alles geworden“ (1 Kor 9, 20–22),788 zeichnet ein anschauliches Beispiel davon, wie Origenes die Anteilhabe der Vielen an Christus begreift. Origenes erkennt darin nicht zuletzt auch die Notwendigkeit, „geistig und leibhaftig-körperlich“ das Christentum zu leben und zu predigen.789
4. Augustinus a) „Die wahre Religion gab es immer“ – Augustinus im Vergleich mit Origenes’ universalistischer Christologie, das Homoousios und die Kritik an den ‚falschen Göttern‘ Werden Origenes und Augustinus790 (354–430 n. Chr.) miteinander verglichen, fallen möglicherweise vor allem die Unterschiede ins Auge:791 Das sie Trennende wird oft (keinesfalls unberechtigt) stärker hervorgehoben als das Verbinden Vgl. o. in Jh. II, 2, 21–25 (Kap. IV.3 b) sowie Anm. 683. Zitiert bei Origenes, in Jh. I, 7, 42. 789 in Jh. I, 7, 43. 790 Die Forschungsliteratur zu Augustinus ist bekanntlich kaum zu überblicken. Im Folgenden werden daher nur knapp einige für das übergeordnete Thema zentrale Gedankenlinien des Kirchenvaters skizziert, ohne dass dabei die Fülle der Forschungsbeiträge angemessen diskutiert werden könnte. 791 Vgl. z. B. Fürst (2011) und Reiser (2007: 364–371). 787 788
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de – bisweilen gepaart mit einem ex‑ oder implizit geäußerten Bedauern, dass, historisch besehen, nicht der Alexandriner, sondern der Bischof von Hippo ‚sich durchgesetzt‘ habe. So nachvollziehbar dies im Detail auch erscheint, so gilt es im Hinblick auf die im letzten Teilkapitel angerissene Frage eines auf christlich-platonischer Basis möglichen interreligiösen Dialogs nicht zu vergessen, dass bekanntlich auch der Kirchenvater der Überzeugung war, dass es „die wahre Religion“ zu allen Zeiten, von Anbeginn der Menschheit und schon vor der Menschwerdung Christi auf Erden gegeben habe; in seinem Frühwerk erwägt er sogar, dass in dem einen „Licht der Weisheit“ (lux ipsa sapientiae) die vielen Seelen möglicherweise Unterschiedliches, ja so viele Weisheiten sehen könnten, wie es auch Seelen gebe.792 Dieser Gedanke könnte der Potenz nach in unmittelbarer Nähe zu Origenes’ universalistisch geöffneter Christologie stehen: Per Anteilhabe an Christus als dem ewigen Logos könnte theoretisch jedes zôon logikon, jedes in Origenes’ Sinne rational begabte Wesen zu jeder x-beliebigen Zeit Anteil an Christus gewinnen – vor, nach oder auch ohne Inkarnation des ewigen Logos. Auf dieser Linie ließe sich potentiell auch Augustins Rede, dass die wahre Religion auf Erden nie gefehlt habe, begreifen. Jedoch entfaltet Augustinus die Potenz dieses Gedankens anders als Origenes: Wie seine Bibelexegese insgesamt stärker dem wörtlichen (proprie) Verständnis folgt, welchem dann auch ein geistig-übertragener Sinn innewohnen mag,793 so ist auch seine Christologie stärker an dem in dem Menschen Jesus Christus inkarnierten Logos orientiert und weniger ‚intellektualistisch‘ geprägt. Anders als für Origenes wird deshalb für Augustinus Christus als der Gott-Logos auch nicht zu einem Prinzip, über welches (zumindest potentiell) sogar ein Polytheismus in den christlichen Monotheismus integrierbar wäre,794 sondern Christus ist als das ungeschaffene Verbum Dei erst durch seine Menschwerdung795 der eine Mittler, durch Anteilhabe an ihm werden die Menschen „glückselig“.796 Zudem folgt 792 Zu den potentiell vielen Weisheiten in dem einen Licht der Weisheit lib. arb. II, 106–109; zur Stelle s. Drews (2009: 74–76). – Die wahre Religion gab es immer, vgl.: retr. I, 12, 3; civ. X, 25; 439, 12–15; praed. sanct. 10, 19; spir. et litt. 26, 44; civ. XVIII, 47; 330, 10–15. Dazu, dass auch die ‚falschen‘ Religionen möglicherweise unter ihren Irrtümern etwas Wahres über den einen Gott enthalten könnten, s. civ. XVIII, 14; 274, 8–10; 23; 285 f. – Vgl. Horn (1995 b: 34) und Burns (1994: 331). 793 Vgl. Reiser (2007: 367). 794 S. Fuhrer (2004: 145) mit Verweis auf civ. VIII, 1 zu Augustins Kritik am platonischen Polytheismus. 795 Für Origenes ist dagegen Christus bereits und vor allem als ewiger Logos tou Theou erlösend und reinigend tätig, da er die Ratio der Gläubigen, d. h. den Menschen in seinem spezifischen Sein als rational begabte Seele, von aller Unreinheit reinigt: Das Tote des Menschen ist verbunden mit einer Verdunklung seiner Ratio, insofern er alogos und nicht logikos ist; ihn davon zu erlösen, ist Werk Christi als „Logos und Auferstehung“. S. o. Kap. IV.3 b mit Anm. 725 und 726. Jedoch gibt es auch bei Augustinus Passagen, die an eine solche Theologie, wie Origenes sie entwirft, anschlussfähig erscheinen, wenn der Kirchenvater z. B. von der geistig-intelligiblen Salbung Christi – des Gesalbten – spricht (civ. XVII, 16; 238, 17–19). 796 civ. IX, 15; 388,24–389,1.
4. Augustinus
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Augustins Trinitätsverständnis dem nizänischen Homoousios797 und ist nicht subordinatianistisch konzipiert,798 worauf gleich zurückzukommen sein wird. Wie von der Forschung hinreichend erörtert wurde, billigt Augustinus den Platonikern zwar die Erkenntnis Gottes durchaus zu: Gott und die Götter sind wesenhaft gut;799 Kritikpunkt Augustins an den nicht-christlichen Platonikern ist aber zum einen, dass die platonische Theologie polytheistisch sei und vor allem die Inkarnation Gottes800 sowie damit einhergehend die Mittlerschaft801 Christi in Abrede stellten.802 Trotzdem – und insofern Origenes nicht gänzlich unähnlich – war auch Augustinus dahingehend zu Zugeständnissen gegenüber der pagan-platonischen Tradition bereit, dass die sog. ‚übelwollenden Götter‘ als „Dämonen“ und die guten Götter als (heilige) „Engel“ verstanden werden müssten:803 Dabei gehe es nicht um bloße Sprachregelungen,804 sondern die theologische Sache, d. h. die Rolle und das Verständnis der sog. Götter.805 Wie Fürst (2007: 275) herausgearbeitet hat, ist für Augustinus die Rede von sog. Göttern dann unproblematisch, „solange theologisch klar sei, daß sie diese Eigenschaften [sc. wie Unsterblichkeit und Seligkeit] nicht aus sich selbst hätten, sondern vom einen (höchsten) Gott her.“ An diesem Punkt lässt sich mit einem Umkehrschluss zugleich ersehen, worin aus der Perspektive des nizänischen Konzils, die Augustinus teilt, Origenes’ Christologie problematisch erscheinen Vgl. civ. X, 24; trin. V, 8, 9 ff. sowie Fuhrer (2004: 102–3). Zur Göttlichkeit und Menschlichkeit Jesu Christi vgl. z. B. die in Anm. 796 zitierte Passage sowie civ. IX, 17; 392, 25–29. Vgl. Williams (1999: 846/2): „Augustine follows Hilary in generally ascribing ‘subordinationist’ texts in the Bible to the sphere of the Son’s incarnate life.“ Dass Augustinus sich generell gegen jegliche Art von Subordinatianismus im Hinblick das Gottesverständnis wehrt, unterscheidet ihn nicht nur von Origenes, sondern – im nicht-christlichen Kontext – auch von Plotin (s. Beierwaltes 2011: 108, mit Anm. 51). S. ferner allgemein Fuhrer (2004: 102–3). 799 civ. VIII, 13; 339, 30–31. 800 S. civ. X, 29. 801 S. civ. IX, 15. – Zu Christus als universalem Mittler vgl. o. Kap. IV.2.3 b. 802 Vgl. Fuhrer (2004: 145–7). 803 Vgl. Fuhrer (2004: 145) mit Verweis auf die einschlägigen Stellen, civ. VIII, 22 und 24 (362, 16 f.). Zur Gleichsetzung heidnischer Götter mit Dämonen vgl. schon Paulus, 1 Kor 10, 20. – Zur Auseinandersetzung Augustins mit paganen Positionen und zu deren Kritikpunkten s. Tornau (2014 b: 450). 804 civ. IX, 23; 398, 5–9. Mit der Prämisse, dass die vielen Götter schon nach platonischer Auffassung Geschöpfe (conditi dei) des einen Gottes seien (vgl. civ. VIII, 1; 321, 6–8; X, 31; 453, 27), legt Augustinus bereits die Basis für seine Kritik und Zurückweisung der vielen Götter als Götter: Geschöpfe haben ihr Sein nicht aus sich selbst, auch geschaffene Götter können somit nicht im Vollsinn als Götter gelten. Als geschaffene bzw. gewordene Götter können platonisch jedoch eigentlich nur Gestirngötter gelten (vgl. Platon, Tim. 41a3–6). Dies sagt noch nichts aus über den Status höherer Götter im Sinne der reinen Geistwesen und intelligiblen Seinsprinzipien – eine Differenzierung, die Augustinus übergeht, obwohl er (civ. X, 27; 443, 23–31) z. B. eine Apuleius-Stelle zitiert, welche diese Unterscheidung thematisiert (DDS 1 [116]; 4 [128]; zitiert oben in Kap. II.4.2 b mit Anm. 176): Gemäß Augustinus können alle von dem einen wahren Gott auf irgendeine Weise abhängigen Wesen nicht als Götter im Vollsinn gelten. 805 Vgl.: Fürst (2007: 274–5). 797 798
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könnte: Die ‚falschen Götter‘, welche nicht mit dem wahren einen Gott verwechselt werden dürfen, haben ihr sog. Gott-Sein gemäß Augustinus nicht aus sich selbst, sondern bestenfalls per Anteilhabe, weil sie selbst als ‚Götter‘ Geschöpfe des wahren Gottes sind;806 wenn aber auch Christus als Gott-Logos nicht wesensgleich (homoousios) mit Gott Vater wäre, sondern ebenfalls sein Gott-Sein nur in abgeleitet-sekundärer Weise per Anteilhabe von Gott erhielte (als „erstes Abbild“ Gottes, wie Origenes darlegt807), dann geriete Christus entsprechend auf dieselbe Stufe wie die uneigentlichen, ‚falschen‘ Götter, was aus christlicher Sicht einem theologischen Eigentor gleichkäme. Augustins Kritik an den ‚falschen Göttern‘, die ihr Gott-Sein eben nicht aus sich selbst hätten, umkreist philosophisch-theologisch dabei nicht zufällig den entscheidenden Punkt des pagan-platonischen Verständnisses der vielen Götter, wie es oben bei Apuleius und Proklos exemplarisch abgeleitet werden konnte:808 Die vielen Götter sind zwar dem Einen als dem unpartizipierbaren absoluten Gott klar unterstellt; sie haben aber ihr Gott-Sein gleichwohl nicht aus sekundärer Anteilhabe, sondern aus sich selbst: Denn als aus sich selbst für das Seiende partizipierbare, nicht aber selbst bereits partizipierende Götter (bei Proklos: Henaden) vermitteln sie das Göttliche und die absolute Transzendenz des Einen an das Seiende bzw. die Schöpfung. Wird aber genau der Aspekt der Partizipierbarkeit der vielen Götter, welcher gleichbedeutend damit ist, dass die Götter aus sich selbst heraus (und nicht erst durch sekundäre Anteilhabe) Götter sind, negiert, wäre gleichsam die theologische Achillesferse getroffen, um die vielen Götter als Mittler des absoluten Einen in Augustins Sinn entweder als ‚falsch‘ zu entlarven oder aber ihnen ein nur noch engelhaftes Sein zuzusprechen. Unabhängig davon, ob man Augustins theologischer Kritik zustimmen möchte oder nicht (besonders ein Proklos würde hier eine ganze ‚Batterie‘ an Gegenargumenten vorbringen wollen809): Es spricht zumindest für den philosophisch806 Aliud est enim esse Deum, aliud participem Dei (civ. XXII, 30; 632, 21–22); Dii enim creati non sua veritate, sed Dei veri participatione sunt dii (civ. XIV, 13; 33, 30–31). S. ferner civ. IX, 23; 398, 9–12; civ. VIII, 24; 362, 16–17). Vgl. auch oben Anm. 748. 807 S. o. Kap. IV.3 b–c. Auch Augustinus kann Christus zwar als die „Ähnlichkeit des Vaters“ bezeichnen; jedoch ist Christus nach Augustinus nicht erst durch Partizipation an Gott(‑Vater) Gott(‑Sohn), vgl. Teske (1999: 378/1; zitiert o. Anm. 748). Vgl. Koch (1958: 44) zu div. qu. 23, sowie: „Nicht so das participatum: es hat das Leben nicht durch Teilhaben, sondern in sich selbst, ist selbst das Leben“ (ibd., 95–96). Zu Augustins Partizipationstheorie vgl. neben Koch (1958) außerdem Meconi (1996) und Bonner (1999). 808 S. o. Kap. II.4.2 b (mit Anm. 190) bzw. Kap. III.g und die Gegenüberstellung von Apuleius / Proklos mit Origenes in Kap. IV.3 c. 809 Vgl. o. Kap. III.e. Als Hauptgegenargumente aus Proklos’ Sicht wären z. B. zu nennen: 1. Der Übergang aus der Überfülle des überseienden Einen durch die partizipierbare(n) Henade(n) liegt allem Sein voraus, d. h. die vielen Henaden-Götter transzendieren gerade die Hervorbringung des intelligiblen Seins, erst recht natürlich die der materiell existierenden Welt, sind also keine ‚Geschöpfe‘. 2. Der Begriff des Authypostaton (vgl. oben Anm. 377): Die sich aus der Überfülle des Einen selbst hervorbringenden Wesen sind prinzipienontologisch zwischen dem Einen, das auch die Ebene des Authypostatischen (d. h. der Selbsthervorbringung)
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theologischen Scharfsinn des Kirchenvaters, dass er nach allen Zugeständnissen an die Platoniker im Hinblick auf das Gottesverständnis genau diesen Punkt einkreist und attackiert, an welchem sich tatsächlich entscheidet, ob die vielen göttlichen Wesen wirklich als Götter – nämlich als aus sich selbst heraus agierende, autarke Götter – oder aber nur als abgeleitete Dämonen / Engel zu gelten haben, denen dann aber kein eigener Kult mehr gebühren würde. Fazit: Anders als bei Origenes ist gemäß Augustinus Christus klar Gott-selbst (und nicht nur das erste an Gott partizipierende Abbild Gottes), und der Polytheismus erscheint höchstens dann noch in das theologische System des Kirchenvaters ‚integrierbar‘, wenn klar ist, dass es sich nicht mehr um einen Poly-Theis‑ mus, sondern um einen Poly-Angelo‑ bzw. Poly-Dämonismus810 handelt: Die vielen Götter sind de facto keine Götter mehr, sondern Engel. Dieses Resultat mag für ein (post‑)modernes, vielleicht vor allem an Integration und Gleichrangigkeit verschiedener Kulturen und Religionen orientiertes Denken zunächst strikt negativ wie eine Abkanzelung anderer (vor allem polytheistisch geprägter) Religionen erscheinen: Zweifellos ‚moderner‘ als Augustitranszendiert, und den durch fremde Ursachen hervorgebrachten Wesen zu lokalisieren. D. h., nach Proklos können also alle authypostischen Götterwesen nicht im eigentümlichen Sinne als geschaffen gelten. Das Wesen der sich unablässig-immer selbst hervorbringenden (authy‑ postatischen) Ideen im Intelligiblen bedeutet nach Proklos gleichwohl nicht, dass diese nicht auf ihnen transzendente, höhere Prinzipien angewiesen und von diesen abhängig wären, sondern dass jedes Eidos genau diese seine jeweilige Bestimmtheit selbst als erstes und auf primäre Weise ist: Über den Ideen der Schönheit, der Gerechtigkeit, des Dreiecks etc. gibt es keine seienden Prinzipien, die diese Sachgehalte jeweils vor ihnen schon auf seiende Weise wären, deshalb sind sie authypostatisch; die seienden Prinzipien selbst sind aber bereits entfaltete Einheitswesen, deren Einheitsgrund letztlich im überseienden Einen begründet ist und bei Proklos den Ideen über die partizipierbaren, von sich selbst her ebenfalls überseienden Henaden vermittelt wird. – Man könnte Augustinus sehr leicht vorwerfen, dass er derartige diffizile Differenzierungen nicht thematisiert, vermutlich nicht kennt (immerhin schreibt er zudem vor Proklos!), während ihm der Unterschied zwischen sinnlich-wahrnehmbaren Gestirngöttern und intelligiblen Göttern z. B. von Apuleius bekannt sein sollte (s. o. Anm. 804). Augustins Kritik an den vielen Göttern lässt sich aber ihrerseits auch positiv lesen, wenn man auf den Aspekt achtet, dass auch nach neuplatonischer Auffassung eines Proklos die authypostatischen Götter (auf der Ebene des wahren, intelligiblen Seins) sowie die Henaden als erste überseiende Ausstrahlungen des absoluten Einen eben nicht ohne das absolute Eine selbst denkbar sind: Auch wenn ein Proklos sehr gute Argumente für eine Differenzierung zwischen und Integration von dem Einen Gott und den vielen Göttern innerhalb seines theologischen Systems bringt, bleibt die absolute Transzendenz des Einen als höchstem und einzigem Gott auch bei ihm außer Frage. Aus dieser Perspektive ließe sich auch Augustins monotheistische Zuspitzung positiv verstehen und – auch (neu‑)platonisch – rechtfertigen. Damit wird indes keine postmoderne Beliebigkeit (‚alle haben sowieso Recht‘) veranschlagt, sondern es geht – platonisch-aristotelischer Erkenntnistheorie entsprechend (vgl. Bernard 1988: passim, v. a. 151; 241–243) – zunächst darum, zu ergründen, worauf jeweils geachtet wird und welcher Sachaspekt aus welcher Perspektive vordergründig relevant erscheint. 810 Ich vermeide den griechisch eigentlich richtigeren Begriff ‚Poly-Daimonismus‘, da daimo‑ nes schon von Platon her einfach engelhafte Mittlerwesen bezeichnen, ohne ethische Kategorisierung als ‚gut‘ oder ‚böse‘, während Augustinus – um dessen Sichtweise es oben geht – die (lat.) daemones allgemein als böse Geister versteht.
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nus wirkt das System des Origenes, in welches die Vielheit von Göttern besser integrierbar erscheint. Innerhalb eines platonischen Grundkonsenses, dass der Primat des Einen vor dem Vielen nicht nur logisch, sondern auch metaphysischtheologisch gilt und ‚durchzudeklinieren‘ ist, bleibt aber auch ein im Vergleich zu Origenes spezifischer christlich zugespitztes theologisches System eines Augustinus grundsätzlich noch in demselben platonischen Rahmen: Das Sein vieler göttlicher Wesen, wenn auch auf eine niedere theologische Ebene verlagert, wird nicht prinzipiell negiert;811 der eine wahre Gott der Christen ist seinem Wesen nach sogar derselbe wie derjenige der Platoniker. Zudem ist Augustins theologische Spitze, mit der er die vielen Götter qua Götter innerhalb eines platonischen theologischen Systems attackiert, letztlich nur eine Weiterführung der schon bei Origenes belegten Maxime, dass ein Christ deshalb nicht die vielen Götter verehren dürfe, weil sonst die Diener mit dem Herren verwechselt würden.812 Die ‚theologische Toleranz‘ findet sowohl bei Augustinus wie auch bei Origenes dann ein Ende, wenn es um die eigene christliche Identität geht: Man könne gewissermaßen nicht Christ sein und gleichzeitig die Gestirne oder die vielen paganen Götter anbeten.813 Dass jedoch Andersgläubige diese Verehrung unter Umständen nicht völlig zu Unrecht betreiben, ist für Origenes im Rahmen seines Akkommodationskonzepts814 leichter hinzunehmen als für Augustinus, obwohl auch dieser nicht an sich die Existenz vieler göttlicher Wesen auf deutlich subordinierter Ebene bestreitet: Diese sind, wie schon von der Heiligen Schrift her deutlich wird, jedoch für den Christen nicht von Bedeutung.815 b) Trinität, Homoousios und Partizipationsontologie bei Augustinus im Vergleich mit Auffassungen des nicht-christlichen Neuplatonismus Indirekt hat der Teilhabe-Gedanke bereits beim kurzen Vergleich Augustins mit Origenes sowie bei der Kritik des Kirchenvaters an den seiner Ansicht nach ‚falschen Göttern‘ seine Relevanz gezeigt. Inwieweit, so ist zu fragen, teilt Augustinus aber im philosophischen Kontext tatsächlich eine Partizipationsontologie, zumal er eher selten von Ideen im platonischen Sinne spricht? Um dieser Frage nachzugehen, soll als Ausgangspunkt folgende Passage aus De Trinitate dienen:
811 So spricht Augustinus z. B. davon, dass „wir“, d. h. die Christenmenschen, zusammen mit den guten Engeln den wahren Gott verehrten (civ. VIII, 25) – aber eben nicht die Engel zu Göttern machten. Analog würden auch den christlichen Märtyrern von den Priestern keine Opfer gespendet, da sie lediglich ‚Wegweiser‘ seien (civ. VIII, 27). 812 S. o. das Ende von Kap. IV.3 b mit Anm. 778. – Vgl. ebenso Augustinus über die Engel, die keinen Dienst für sich, sondern nur für Gott wollen (civ. X, 7; 412, 13–15; ähnlich X, 25; 442, 1–7). 813 Vgl. civ. IX, 23. Insofern ist der brisante Punkt, wie Fürst (2007: 275) zu Recht betont, der der Gottesverehrung. 814 S. o. Anm. 778. 815 S. o. Kap. IV.2.3.
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Wie wir also [sc. bei der göttlichen Trinität] nicht von drei Substanzen / Wesen (essentiae) sprechen, so sprechen wir [sc. auch] nicht von drei Großheiten noch von drei Großen. Bei den Dingen nämlich, welche durch Partizipation an der Großheit (magnitudo) groß sind, denen als etwas Verschiedenes (aliud) das Sein (esse) zukommt, als etwas [sc. wiederum] Verschiedenes das Groß-Sein (magnas esse) wie ‚großes Haus‘, ‚großer Berg‘ und ‚großer Geist‘ (animus), bei diesen Dingen also ist etwas Verschiedenes die Großheit, etwas [sc. wiederum] Verschiedenes das, was von dieser Großheit her groß ist, und mit einem Wort ist nicht dieses die Großheit, was ‚großes Haus‘ ist. Sondern jene ist die wahre Großheit, durch die nicht nur das Haus, welches groß ist, ‚groß‘ ist, und durch die jeder beliebige große Berg ‚groß‘ ist, sondern durch die auch ‚groß‘ ist, was immer sonst groß genannt wird, so dass einerseits etwas Verschiedenes die Großheit selbst ist, andererseits etwas Verschiedenes diese Dinge, die von jener her ‚groß‘ genannt werden. Diese Großheit jedenfalls ist primär groß und auf weitaus überragendere Weise als diese Dinge, welche durch Partizipation an ihr ‚groß‘ sind. Gott aber, weil er nicht durch diese Großheit ‚groß‘ ist, welche nicht ist, was er selbst [sc. ist] – als ob Gott an ihr partizipieren sollte, wenn er groß ist (sonst wird jene Großheit größer sein als Gott; im Vergleich zu Gott ist aber nicht irgendetwas größer) – ist also durch diejenige Großheit ‚groß‘, aufgrund der er selbst [sc. durch sein Gott-Sein] eben diese Großheit ist. Und wie wir deshalb nicht von drei Substanzen / Wesen sprechen, so auch nicht von drei Großheiten; dieses Sein (esse) nämlich kommt Gott zu, welches [sc. zugleich von sich selbst her] Groß-Sein (magnum esse) ist. Aus eben diesem Grund sprechen wir nicht von drei Großen, sondern einem Großen, weil Gott nicht durch Partizipation an der Großheit groß ist, sondern durch sich selbst als Großen ‚groß‘ ist, weil er selbst seine Großheit ist. Dasselbe sei auch über Gottes Gutheit, Ewigkeit und Allmächtigkeit gesagt und überhaupt über alle Prädikate, die über Gott ausgesagt werden können, wovon in Hinsicht auf ihn selbst gesprochen wird, nicht auf übertragene Weise (translate) und gemäß einem Gleichnis (per similitudinem), sondern in eigentümlicher Weise (proprie), wenn denn überhaupt über Gott in eigentümlicher Weise irgendetwas aus menschlichem Munde gesagt werden kann. – Soweit aber in eigentümlicher Weise von jeweils einzelnen [sc. Prädikaten] in derselben Trinität die Rede ist [sc. die nur eine einzelne Person der göttlichen Dreifaltigkeit betreffen], sind sie überhaupt nicht in Hinsicht auf sich selbst, sondern in wechselseitig-relationaler Hinsicht [sc. der trinitarischen Personen untereinander] oder in Hinsicht auf die [sc. Relation Gottes zu seiner] Schöpfung gemeint, und deshalb ist offenkundig, dass diese [sc. einzelnen Prädikate] relational und nicht substantial gemeint sind (trin. V, 10, 11; 217,1–11, 12; 218,4).
Zunächst ist eine Konsequenz des nizänischen Homoousios, dass Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist eine einzige Substanz, eben wesensgleich, ein und derselbe Gott sind. Von dieser Prämisse her können biblische Aussagen wie Jh 10, 30 („Ich und der Vater sind eins“) im starken Sinne interpretiert werden.816 Während Origenes bereits Gott Sohn als an Gott Vater lediglich partizipierend und als erstes Abbild der Vaters begriffen und so gerade dieser Umstand zu einem Subordinatianismus geführt hatte, schließt Augustinus in der obigen Passage kategorisch aus, dass Gott irgendetwas nur durch Partizipation zukommen 816 Zu Jh 10, 30 vgl. o. Kap. IV.2.2 b und – im Unterschied zu Augustinus – Origenes (Kap. IV.3 b).
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könne. Damit zeigt der Kirchenvater zugleich, dass er eine platonische Partizipationsontologie grundsätzlich durchaus voraussetzt. Weitere philosophische Konsequenzen des Homoousios sind u. a., dass eine innertrinitarische Rangfolge bzw. Unterordnung vermieden wird und dass ferner im Hinblick auf Gott keine Differenz zwischen Substanz / Wesen und qualitativen Attributen bestehen kann. Beide Konsequenzen erweisen die ‚traditionelle‘ christliche Theologie, wie sie Augustinus vertritt, als zutiefst monotheistisch: Die innere Einheit Gottes als der „einzige Gott“817 wird durch die eine essentia in philosophisch-ontologischer Hinsicht nahezu unüberbietbar untermauert. Dass aus pagan-neuplatonischer Perspektive die Identifikation Gottes mit dem einen, wahren Sein (im Sinne des Prinzips ‚Sein‘) indes nicht zwingend die höchstmögliche Steigerung eines philosophischen Monotheismus darstellt, zeigen Plotin,818 vor allem aber Proklos819 mit ihrer Rede vom überseienden Einen, welches sogar noch der Zweiheit von Einheit und Sein vorausliegt und diese Zweiheit transzendiert. Ein Dionysius Areopagita, der historisch nach Proklos schreibt und dessen Philosophie christlich interpretiert bzw. das Christentum mit Hilfe von Proklos’ Metaphysik durchdenkt, sollte diese Herausforderung eines philosophisch gleichsam auf die äußerste Spitze getriebenen Monotheismus nicht nur bemerken, sondern sie auch annehmen und zeigen, dass sich christliche Trinität und überseiendes Eines zusammendenken lassen;820 Ähnliches gilt für Boethius.821 Im Hinblick auf eine interreligiöse Auseinandersetzung – hier zunächst nur zwischen pagan-platonischem und christlich-platonischem Neuplatonismus – bleibt festzuhalten, dass prima facie beide Denkweisen miteinander unvereinbar erscheinen: Wenn (der höchste) Gott einmal als überseiendes Eines, einmal als seiende Drei-Einheit verstanden wird, lässt sich dies zunächst nicht anders denn als gravierender Unterschied begreifen. Zugleich muss aber auch kritisch zurückgefragt werden, worin genau diese Unterschiede dann tatsächlich bestehen sollen und wie weit sie wirklich gehen: Denn beiden Theologien eignet ganz klar ein gesteigert-monotheistischer Fluchtpunkt, insofern beide Male nur ein allerhöchstes (Über‑)Wesen an der Spitze alles Seienden, dieses zugleich transzendierend, stehen kann. Die Rede vom überseienden Einen bedeutet indes weder, dass dieses absolute hen weniger seiend noch dass es quasi nihilistisch in sich leer wäre; denn Proklos versteht das überseiende Eine ja gerade nicht als Mangel, sondern als absolute Überbietung des Seienden: Ihm kann das Sein also nicht in der Hinsicht abgesprochen werden, dass es gleichsam zu einem privativen Nicht-Seienden würde, sondern Vgl. Dt 6, 4 (s. dazu o. Kap. IV.2.3 a). Kap. II.5 c. 819 S. o. Kap. III.d. 820 Vgl. Drews (2011: 353–364) und s. u. Kap. IV.5 a. 821 S. u. Kap. IV.6. 817
818 S. o.
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nur insofern, als ‚Sein‘ eine zu geringe Kategorie für das absolute Eine darstellt. Weil alles Sein auf Einheit basiert,822 erscheint das höchste Eine für Platon und Proklos als Ursache / Schöpfer allen Seins. Schöpfer allen Seins ist aber auch der gemäß dem Homoousios als seiend, ja als das personale Prinzip ‚Sein‘ selbst823 gedachte christliche drei-einige Gott. Wie gleich anhand der oben übersetzten Augustinus-Passage weiter gezeigt werden soll, wird gerade jegliche Differenz, wie sie verschiedenen (= geschaffenen) Seienden untereinander zukommt, von dem drei-einigen Gott in seiner Einheit transzendiert. Ließe sich – und dies ginge wohl über Augustinus hinaus – womöglich sogar die Drei-Einheit Gottes als Überbietung der bloßen Identifikation Gottes mit dem Sein selbst interpretieren? In einer solchen harmonisierenden Perspektive würden sowohl überseiendes Eines wie auch wesenseine Trinität als Quell und Schöpfer allen prinzipiierten respektive geschaffenen Seins (Geist- / Engelwesen, Seelen, materielle Körperwelt) erscheinen; beide Male würde dem allerhöchsten Gott entweder qua überseiend oder qua Trinität eine theologisch sinnvolle Überbietung des Bereichs der Seienden eignen, insofern damit auf die innere (Über‑)Seinsfülle des Allerhöchsten verwiesen wäre. Gleiches gilt für den Aspekt der Personalität Gottes: Auch das überseiende Eine ist nicht weniger als Person, sondern eher als Über-Person zu begreifen;824 dass der drei-einige Gott mehr als nur (eine) Person ist, liegt auf der Hand.825 Diese für einen interreligiö822 Wie oben (Kap. II.5 b und III.c) anhand des Standardbeispiels ‚Dreieck‘ detailliert demonstriert wurde: Einzelnen Dreiecken, insofern sie im euklidischen Sinne eine geradlinigebene Figur sind, kommt in ihrer Verschiedenheit als vielen Dreiecken allen gemeinsam in derselben Hinsicht der spezifische Seinsunterschied zu, eine Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu haben. Damit basiert das Sein der vielen Einzel-Dreiecke auf einer ihnen gemeinsamen Einheitsursache für ihr Dreieck-Sein, dem Eidos ‚Dreieck‘. 823 Vgl. die in diesem Kontext bekanntlich wichtige und wirkmächtige Septuaginta-Version von Ex 3, 14: „Und Gott sprach zu Mose: ‚Ich bin der Seiende‘ “ (egô eimi ho ôn). – Entscheidend für die Identifikation Gottes mit dem (Prinzip) ‚Sein‘ bei Augustinus ist dabei immer, dass hier keinem Pantheismus das Wort geredet wird, denn ‚Sein‘ meint platonisch-parmenideisch im primären Sein ‚intelligibles Sein‘, welches gerade nicht dasselbe wie äußerliche, materielle Existenz ist (s. o. Kap. II.1 und II.2). Als das Sein (bzw. der Seiende schlechthin) bleibt Gott also immer gegenüber seiner Schöpfung transzendent, geht nicht in der materiellen Welt auf und ist insofern auch kein ‚werdender Gott‘, wie dies teils im modernen Idealismus gedacht wurde (zu Schelling vgl. Gabriel 2011: 209). 824 Vgl. Bernard (1990: 95–164, 179–182) sowie oben Anm. 394 und 485 und Kap. III.g. 825 In der Gegenwartsphilosophie vertritt Spaemann (2012 a: 298–9) sogar die Auffassung, dass die Trinitätslehre deshalb „ein kostbares Lehrstück“ sei, „weil sie eine Paradoxie in jedem nicht-trinitarischen Monotheismus beseitigt. Es gibt tiefe Gründe, Gott als Person zu denken. Und der Personbegriff, den wir heute haben, ist wesentlich dialogisch. Wir können Personen nur denken in Relation zu anderen Personen.“ D. h., wenn Gott Person ist, kann er auch als erstes (Über‑)Wesen vor und über aller Schöpfung nicht apersonal sein; wenn aber Personhaftigkeit Dialogizität impliziert, so steht die christliche Theologie (in ihrer klassischen Aussprägung) zumindest nicht vor dem Problem, Gottes Personalität deshalb wieder in Zweifel ziehen zu müssen, weil ihm angeblich das dialogische Moment, welches Personen untereinander in relationaler Hinsicht eignet (und sie somit als Personen wiederum eint), fehlte. Vgl. auch Ratzinger (1990).
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sen Dialog wichtigen Perspektiven seien hier wenigstens schon angedeutet; hilfreich werden sie sich als Basis eines solchen Dialogs erweisen, wie ihn Nikolaus von Kues exemplarisch entwirft.826 Das nizänische Homoousios ist somit nicht nur eine lediglich abstrakte Aussage über eine schwer verständliche Wesenseinheit zwischen Gott Vater, Gott Sohn und Gott Geist, sondern ist aus christlicher Sicht zugleich eine entscheidende Aussage über Gott als übervoller Quell und Schöpfer aller Seienden, insofern in Gott als dem Sein schlechthin keine Differenz anzusetzen und ihm auch kein in herkömmlichen Abgrenzungen sich vollziehendes Denken angemessen ist, wie es in Bezug auf geschaffene Seiende zutreffend wäre. Augustinus führt dies in der oben übersetzten Passage aus De Trinitate anhand eines vergleichsweise leicht verständlichen Beispiels exemplarisch aus: Als Schöpfer aller Seienden überragt Gott seine Geschöpfe.827 Das Überragen ist also ein Zeichen seiner Größe. Wäre es nun sinnvoll, zu sagen, dass Gott seinerseits an der Großheit im Sinne einer platonischen Idee der Größe partizipiert? Augustinus verneint dies aus ähnlichen Gründen, wie auch ein nicht-christlicher Neuplatoniker dies vermutlich verneinen könnte: Die Idee der Größe bzw. des Großseins, wie sie etwa einem Haus oder einem Berg anteilhaft zukommen mag, kann nur als in Gott selbst, insofern er alles Seiende überragt, bereits impliziert oder von ihm prinzipiiert / abgeleitet gedacht werden; sie kann nicht qua Großheit noch über Gott selbst stehen, denn sonst müsste sie ja gleichsam der höchste Gott sein. Gott aber ist mehr, ‚größer‘ als nur groß – z. B. gerecht, gut, ewig etc., wie Augustinus darlegt. Nicht erst durch Partizipation an der Idee der Großheit ist Gott folglich groß – die Ebene der Partizipation transzendiert er, weil er alle Attribute wie Größe, Ewigkeit, Allmacht nicht durch sekundäre Anteilhabe, sondern aus sich selbst qua seiner Seinsfülle als einziger Gott besitzt. Wäre Gott aber ein bloß Anteilhabender an ihm überlegenen Wesen bzw. Bestimmungen, wäre er kein wahrer Gott, sondern stünde ontologisch auf der Ebene der von dem Kirchenvater kritisierten ‚falschen Götter‘.828 Zugleich zeigt Augustinus hier nun explizit, dass er die platonische Partizipationsontologie philosophisch voraussetzt: Denn bei den Dingen sind ihr S. u. Kap. V. Gedanke, Platons ontologischem Komparativ (s. o. Anm. 334) vergleichbar, ist auch die Basis von Augustins Gottesbeweis in lib. arb. II (s. dazu Drews 2009: 31–68). Während dieser ontologische Komparativ in Gott seinen gleichsam ‚natürlichen Superlativ‘ findet (vgl.: eique [sc. Deo] adhaerentes magis essent, civ. XII, 9; 524, 26–27), erklärt Augustinus umgekehrt den Tod als eine Minderung der Partizipation an wesentlichem Sein (in Abgrenzung zu einem Todesverständnis im Sinne einer völligen Annihilation): […] sed tantum moriuntur quanto minus essentiae participant (vera rel. 11, 22, 61). 828 S. o. Kap. IV.4 a. – Dazu, dass alle einzelnen Attribute Gott nicht etwa sekundär durch Partizipation zukommen, sondern sein Leben, Erkennen und seine Glückseligkeit bereits mit seinem Sein wesensmäßig zusammenfallen, vgl. civ. VIII, 6; 330, 13–14. S. ebenso civ. XI, 10; 476,28–477,6 (s. u. Anm. 867). 826
827 Dieser
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wesenshaftes Sein und die ihnen eigenen Attribute voneinander verschieden und fallen – anders als bei Gott – nicht zusammen. Ein Haus ist von seinem Wesen her ‚Haus‘; ob es abgesehen davon auch noch groß ist, ist von seinem Wesen, d. h. seinem Haus-Sein her, nicht zwingend. Erst im Vergleich mit anderen Häusern oder anderen kleineren bzw. größeren Gegenständen ist zu entscheiden, ob ein Haus als ‚groß‘ gelten kann; tut es dies, hat es zusätzlich zu seiner Wesensbestimmung als Haus Anteil an der intelligiblen, rein begreifbaren Idee der Großheit, welche es im Vergleich zu etwas anderem groß sein lässt. Das Gleiche gilt von einem hohen Berg; sogar bei einem „großen Geist“ lässt sich erst im Vergleich mit anderen denkenden Wesen erschließen, ob er zusätzlich zu seinem Wesen als Geist das Attribut ‚groß‘ verdient, insofern er andere Geister durch seine Denkleistung überragt. Ursache des Überragens ist bei allen Beispielen jeweils die Großheit; diese aber ist – wie ein platonisches Eidos – zu unterscheiden von denjenigen Dingen, denen sie insofern und ausschließlich nur dann beiwohnt, als diese im Vergleich zu anderen Dingen groß sind: Es ist die partizipierte Großheit, welche als eidetisches Bestimmungsmoment einem Zugrundeliegenden (wie ‚Haus‘, ‚Berg‘) zukommen kann. Denn die Großheit selbst liegt als intellektiv begreifbarer Sachunterschied nicht in dem Haus‑ oder Berg-Sein begründet, noch kann ein einzelnes Haus der absolute Gradmesser von Größe sein.829 Idee und Instanz sind zu unterscheiden: Die Großheit ist kein Haus, und kein Haus ist die Großheit. Überragender als alles einzelne Große ist die Großheit selbst im Sinne einer platonischen Idee: Sie kommt anteilhaft all dem zu, was als Einzelnes andere Singularitäten überragt; ihnen beiwohnend macht die Idee der Größe Einzelnes zu etwas Großem, welches dann an der Idee der Größe bzw. der Großheit selbst partizipiert. Auf Gott, Ursache allen Seins, treffe diese Teilhabe an (eidetischem) Sein jedoch nicht zu: Gott partizipiert nicht an Sein, sondern ist als das absolute Sein Schöpfer aller Seienden. Als solcher kann er nicht an der Idee der Großheit partizipieren, auf dass er groß werde – sonst wäre die Idee größer als Gott und Gott nicht mehr Schöpfer allen Seins. Vielmehr sei Gottes Großheit kein bloßes, sekundäres Attribut, welches einem Wesen (wie einem Haus) zukommen könne oder auch nicht, sondern seinem Wesen qua Gott immer schon eigen: Gott ist also kein großer Gott im Sinne einer Addition des Gott-Seins plus Größe, sondern er ist qua Gott diese seine wesenseigene Großheit: Gottes Sein ist immer schon Groß-Sein, wie Augustinus sagt, ebenso wie Gut-Sein, Ewig-Sein, Allmächtig-Sein. Gerade durch die Tatsache, dass Gott nicht anders denn als gut und ewig und groß etc. denkbar ist, fällt nun bei Augustinus noch einmal aus 829 Analog wurde oben (Kap. II.5 b [Plotin] und III.c [Proklos]) das Beispiel behandelt, dass kein einzelner Mensch als Gradmesser für das Mensch-Sein im allgmeinen Sinn gelten kann: Sonst wären andere Menschen anderer Hautfarbe oder anderen Geschlechts womöglich plötzlich keine Menschen mehr, was nicht zuletzt zu allseits bekannten Diskriminierungen führen würde und leider auch immer noch tatsächlich führt.
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einer anderen Perspektive ein Licht darauf, dass der drei-einige Gott qua seiner Wesenseinheit (homoousios) unterschiedslos einer und ein Wesen, nämlich das Sein selbst als Quell des geschaffenen Seins aller Seienden ist: Dem Sein selbst können diese Prädikate nur als Einheit eignen, nicht als Qualitätsmerkmale, die seinem Wesen erst zusätzlich und akzidentell zukämen. Augustins Seins-Metaphysik steht so von ihrem inhaltlich-sachlichen Duktus her in einer gewissen philosophischen Nähe zur derjenigen des Vorsokratikers Parmenides aus Elea, welcher dem wahren Sein (to eon) Einheit, Ungewordenheit und Unvergänglichkeit bzw. Ewigkeit, Wahrheit, Unumstößlichkeit und Vollkommenheit etc. als Implikate des vollwertigen Ist, welches nicht nicht-sein kann, zugesprochen hatte.830 Gleichwohl ist nicht nur das christliche Spezifikum der Trinitätslehre unverkennbar, sondern die Partizipationsontologie weist (wie bei allen Platonikern) deutlich über den Vorsokratiker hinaus: Ohne Augustinus überinterpretieren zu wollen, lassen sich seine Ausführungen über (1) die Gottes Sein immer schon wesenseigene Großheit, (2) die (eidetische) Großheit, an welcher einzelnes Seiendes, insofern es groß ist, partizipiert, und (3) die an dieser Großheit Partizipierenden (wie ein großes Haus, ein großer Geist etc.) von der Sache her durchaus mit Proklos’ späterem Methexis-Theorem in Verbindung bringen.831 Gottes Sein, welches als Gott-Sein zugleich immer schon Groß-Sein, Ewig-Sein, Gut-Sein etc. ist, ähnelt dem Rang (1) eines unpartizipierten Prinzips bei Proklos; die Großheit, welche Augustinus explizit als von vielem partizipierte versteht, gleicht der (2) partizipierfähigen Mitte, die einzelnen großen Dinge den (3) Partizipierenden. Augustinus entfaltet dieses Theorem weder im Einzelnen, noch reflektiert er es als solches, setzt aber augenscheinlich in seiner Philosophie ein Teilhabekonzept voraus, welches unverkennbar neuplatonische Züge trägt. Aus der Perspektive Plotins,832 von dem er bekanntlich sowohl in historischer wie inhaltlich-systematischer Hinsicht abhängig ist, ist die von vielen partizipierte Idee der Großheit ein enhylon eidos, eine in vielen materiellen Einzeldingen präsente Idee; die Großheit Gottes, welcher als Schöpfer gegenüber seiner Schöpfung transzendent bleibt, ist philosophisch im weitesten Sinne der Stellung eines ahylon eidos, einer immateriellen Idee, vergleichbar, insofern dieses im göttlichen Nous subsistiert. An dieser Stelle zeichnet sich jedoch auch die Grenze eines derartigen philosophischen Vergleichs zwischen christlichem und nicht-christlichem Neuplato830 S. o. Kap. II.1. Zum Nicht-nicht-sein-Können des wahren Seins vgl. Parmenides, frg. 2, 3–4 a; zu den o.g., im Begriff des wahren Seins implizierten Eigenschaften bzw. „Zeichen“ (sêmata) auf dem Weg des wahren Seins: frg. 8, 2 b–6 a. 831 S. o. Kap. III.c. Meconi (1996: 91) nimmt in seiner kurzen Analyse von Augustins Participatio-Begriff zwar keinen Vergleich mit Proklos vor, kommt aber ebenfalls zu dem philosophisch entscheidenden Resultat: „Thus Augustine’s theory of participation in this early treatise is a ‚three factor‘ theory, first found in Plato“ (mit Verweis auf Platon, Phd. 100 d ff. und Sweeney 1992: 50–51). 832 S. o. Kap. II.5 b.
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nismus ab: Ein unpartizipiertes, immaterielles Eidos ist für Plotin und Proklos nur ein Prinzip unter vielen des intelligiblen Seins und hängt natürlich als solches für Proklos u. a. von den Prinzipien des Intellekts und des seienden Einen sowie letztendlich des überseienden Einen ab, während Plotin im Unterschied zu Proklos die Prinzipien des Intellekts (nous) und des seienden Einen nicht hierarchisch auffächert, sondern als ein und dieselbe, zweite Hypostase nach dem absoluten Einen begreift. Wie oben schon ausgeführt, steht Augustins philosophische Theologie von Gott als dem absoluten Sein historisch und systematisch Plotin näher, wenn er Gott alle Bestimmungen des seienden Einen (wie Ewigkeit, Gutheit, Allmacht) positiv zuschreibt, anders als Plotin aber Gott qua absolutem Sein zugleich auch absoluten Einheitsgrund sein lässt (ohne ein noch übergeordnetes überseiendes Eines). Besonders im Vergleich mit Proklos wird ersichtlich, warum die philosophische Ergründung vieler einzelner intelligibler Ideen und geistiger Wesen im paganen Neuplatonismus theologisch folgerichtig zu einer Integration des Polytheismus zusammen mit dem übergeordneten Monotheismus des absoluten, überseienden Einen führen musste.833 Diese im paganen Neuplatonismus ungleich stärker vereinzelten (unpartizipierbaren) Seinsprinzipien sind bei Augustinus indes in der Einheit des absoluten Seins des trinitarischen Gottes komplexiv umfasst; auch hier ist, wie oben bereits erörtert, der Fluchtpunkt der Theologie ein mit dem höchsten Prinzip assoziierter absoluter Monotheismus, welcher jedoch das Moment der Personalität dadurch stärker und konsequenter in Gott selbst zentriert, dass das mit dem Personbegriff implizierte Moment der Dialogizität bereits in den intrinsischen Relationen der drei Personen des dreieinigen Gottes zueinander aktual besteht.834 Am Ende des oben übersetzten Textes aus De Trinitate fasst Augustinus seine philosophisch-theologischen Ausführungen zusammen: Die menschliche Rede, welche nur im Nacheinander der Syntax prädikativ bestimmte Aussagen treffen kann, muss gewissermaßen immer mit dem caveat versehen werden, dass Attribute wie Größe und Güte Gott nicht erst im Sinne eines Gleichnisses bzw. der Ähnlichkeit (per similitudinem) mit anderen großen oder guten Dingen zugesprochen, schon gar nicht erst von diesen her auf ihn übertragen werden (translate), sondern als ihm „eigentümlich“ (proprie) zu verstehen sind: Denn der Kirchenvater vergisst freilich nicht, dass die menschliche Sprache dieses proprie im Grunde gar nicht angemessen zu leisten vermag, insofern zielen seine Ausführungen von vornherein einzig auf das angemessene theologische Verständnis seiner Worte. Wenn aber doch scheinbar einzelne Prädikate über Gott ausgesagt würden, sind sie nicht im Hinblick auf den drei-einigen Gott in seinem absoluten Sein, sondern entweder relational hinsichtlich der innertrinitarischen Beziehun833 S. o. Kap. III.e–g. S. dagegen – im Hinblick auf den Vielgötterglauben – Augustinus, civ. XIX, 17; 385, 3–7. 834 S. o. Anm. 825.
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
gen der drei Gott-Personen untereinander – Vater, Sohn und Heiliger Geist – oder aber in Bezug auf das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung zu begreifen. c) Augustins platonische Erkenntnistheorie und sein Ideenverständnis Die bisher entwickelte Argumentationslinie hat gezeigt, warum Augustinus den drei-einigen Gott als den einzig wahren Gott erachtet – weil er aus sich selbst heraus das absolute Sein, ewig, gut (etc.) ist, während alle anderen potentiellen Götter in irgendeiner Weise als von ihm abhängig begriffen werden müssten, so dass ihnen keine vergleichbare kultische Verehrung wie dem einen Gott gebühren kann. Während der Kirchenvater den Polytheismus der (paganen) Platoniker tadelt, gesteht er ihnen doch zugleich zu, das Wesen Gottes erkannt zu haben: Gott ist wesensmäßig Geist, gut, ewig etc. Diese ewige Gutheit Gottes ist aus christlicher Perspektive noch dadurch gesteigert, dass sich Gott in dem Menschen Jesus Christus als liebender Gott offenbart hat und folglich von sich selbst her wesensmäßig Liebe ist: Wie Augustinus in De Trinitate detailliert erörtert, ist Gottes Liebe als Heiliger Geist das Band zwischen Gott Vater und Gott Sohn und zeigt so die trinitarische Struktur des Liebenden (amans), des Geliebten (amatus) und der Liebe (amor) als innere und wesenseine bzw. ‑gleiche Einheit.835 Die Wesenseinheit (homoousios) Gottes in den drei Personen der Trinität beinhaltet zugleich das Verständnis Gottes als das absolute Sein (esse): Gott ist Liebe, gut, ewig, allmächtig, groß nicht durch akzidentelle Zusätze, die zu seinem Wesen als sekundäre Eigenschaften hinzutreten, sondern ist Liebe, gut, ewig, allmächtig, groß (etc.) allein durch sein (über‑)vollkommenes Sein selbst. Dies unterscheidet ihn vom Sein der Geschöpfe: Ein Haus ist durch sein Wesen qua Haus nicht zugleich und ‚automatisch‘ auch groß, und wenn, dann nur durch Teilhabe an der (Idee der) Großheit. Vor allem die im letzten Kapitel ausführlich besprochene Passage aus De Tri‑ nitate zeigte mit der Unterscheidung zwischen dem in Gottes Wesen immer schon implizierten Groß‑ und Ewig-Sein (etc.) und der Großheit, an welcher verschiedene Dinge partizipieren können oder auch nicht, bereits, dass Augustinus in irgendeiner Weise platonische Ideen denkt. Und auch das Zugeständnis an die paganen Platoniker, sie hätten Gott in seinem Wesen erkannt, setzt letztlich die Unterscheidung zwischen materieller Existenz und intelligiblem Sein, wie es den platonischen Ideen zukommt, voraus. Deshalb ist nun genauer zu fragen, was Augustinus unter Ideen versteht, wo also Gemeinsamkeiten zwischen ihm und den Platonikern bestehen und wo nicht. Der hauptsächliche Grund, warum Platon und die Platoniker überhaupt Ideen ansetzen, liegt bekanntlich darin, dass die sinnliche Welt allein aus den Sinneswahrnehmungen nicht widerspruchsfrei erklärbar ist – und dies ist keineswegs Vgl. trin. VIII, 10, 14; XV, 3, 5; 465, 67–70.
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eine ‚kategorische Absage‘ an die Empirie.836 Vielmehr ist die empirische Realität Ausgangspunkt der Ideenlehre, wie z. B. Platons Suche nach dem Wesen des Schönen darin ihren Anfang nimmt, dass Sokrates sich der Tatsache zuwendet, dass unterschiedliche Menschen auch sehr Unterschiedliches für schön erachten.837 Wenn aber verschiedene Dinge ‚schön‘ sind, stellt sich die Frage, was ihr Schön-Sein ausmacht (z. B. die Harmonie bestimmter Klänge, das Zusammenspiel bestimmter Geschmackseigenschaften usw.). Leichter erkennbar ist die aus platonischer Sicht notwendige Hypothesis eidetischer Ursachen an dem bereits öfter diskutierten Beispiel,838 was eigentlich die für die Sinneswahrnehmungen oder auch bildlichen Vorstellungen so disparat erscheinenden Gebilde von Dreiecken tatsächlich jeweils zu einem Dreieck macht: Dies lässt sich jedenfalls nach platonischem Verständnis nur unter Zuhilfenahme des rationalen Denkens sowie unter Reflexion auf den nur begreifend erschließbaren, d. h. intelligiblen Einheitsgrund des Dreieck-Seins beantworten. Diese intelligible Einheitsursache ist jedoch (im Unterschied etwa zu einem Dreieck aus Holz) nichts äußerlich Existierendes, sondern eine rein begreifbare Idee. Damit ist zugleich nichts Geringeres impliziert, als dass das Wahrheitskri‑ terium, ob etwas ‚Dreieck‘ oder ‚schön‘ ist, nicht selbst bereits in der äußeren Realität gegeben ist, sondern nur im Intelligiblen selbst und in dem sich an diesem orientierenden rationalen Denken bestehen kann. Wenn z. B. das ‚Alltagsdenken‘, welches naturgemäß nicht an tatsächlich wissenschaftliche Exaktheit heranreichen kann, dreieckige Gebilde einfach an ihren ‚drei Ecken‘839 ‚erkennen‘ will, verabsolutiert es in Wahrheit einen an Einzeldingen in ihrer Partikularität wahrnehmbaren Befund als etwas Allgemeines und Allgemeingültiges, welches jedoch der Sache nach ein akzidentelles, nicht wesensspezifisch Allgemeines darstellt: Denn ‚drei Ecken‘ kann auch ein nicht-geradliniges, nicht-geschlossenes, nicht-ebenes (etc.) Ding haben, welches folglich kein Dreieck ist. Ein solches ‚Alltagsdenken‘ ist also kein Denken im strengen Sinne einer widerspruchsfreien Erkenntnis, sondern ein sich an jeweils akzidentellen Wahrnehmungsinhalten orientierendes und diese verallgemeinerndes Meinen,840 ohne welches das Alltagsleben gar nicht gemeistert werden könnte, weil z. B. in unerwarteten Situationen ein schnelles Urteilen und Handeln nötig und gar keine Gelegenheit für wissenschaftliche Reflexion besteht. Problematisch wird es jedoch im philosophischen Sinne dann, wenn das Wahrheitskriterium selbst auf die Ebene der Sinneswahrnehmungen beschränkt wird, weil dann z. B. nicht mehr begründbar 836 So leitet Platon z. B. seine Seelenlehre unter eindeutigem Bezug auf die empirische Realität ab (vgl. Drews 2013 a: 49–60). Zu Platon und dem „empirischen Denken der Neuzeit“ s. Schmitt (2006). 837 S. o. Kap. II.2. 838 S. o. Kap. II.5 b und III.c. 839 S. o. Kap. III.c. 840 S. o. Anm. 307 zum Begriff der akzidentellen Wahrnehmung und der Unterscheidung zwischen Meinung und Erkenntnis.
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wäre, was ein Dreieck tatsächlich zum ‚Dreieck‘ macht. Genau diese wichtige wissenschaftliche Kritik teilen die Christen Augustinus und Origenes841 zusammen mit Parmenides und den Platonikern im Allgemeinen. So schreibt der Bischof aus Hippo:842 Was aber den anderen Teil der Lehre [sc. im Unterschied zur Naturwissenschaft / Physik] betrifft, der von ihnen [sc. den Platonikern] Logik, d. h. rationalis [sc. philosophia] genannt wird: Fern sei es, dass sie uns denen vergleichbar scheinen, welche das Kriterium, mit dem über die Wahrheit geurteilt wird, in die Sinneswahrnehmungen des Körpers gelegt haben und meinten, alles Lernbare müsse nach ihren unzuverlässigen und täuschenden Regeln gemessen werden, wie die Epikureer und bestimmte andere solcher Leute, wie sogar selbst die Stoiker, die – wo sie doch die Kunst des Diskutierens leidenschaftlich geliebt haben, die sie Dialektik nennen – geglaubt haben, sie [sc. die Wahrheit] müsse von den Sinneswahrnehmungen des Körpers gewonnen werden, und dabei ernstlich behaupteten, dass die Seele (animus) von dort [sc. den Sinneswahrnehmungen] her ihre Begriffe (notiones) [sc. passiv] empfange, die sie ennoiai nennen, d. h. [sc. Begriffe] derjenigen Dinge, die sie durch das Definieren erklären; von dieser Grundlage leite sich [sc. ihre] ganze Theorie (ratio) des Lernens und Lehrens ab und stehe in diesem Kontext. Wobei ich mich – da sie ja sagen, Schöne [sc. Menschen] seien nur die Weisen – sehr zu wundern pflege, mit welchen Sinneswahrnehmungen des Körpers sie diese Schönheit gesehen, mit welchen Augen des Fleisches sie die Form und den Schmuck der Weisheit wohl erblickt haben! Diese aber [sc. die Platoniker], die wir zu Recht den übrigen vorziehen,843 haben das, was durch den Intellekt (mens) erblickt wird, von dem, was durch die Sinneswahrnehmungen berührt wird, unterschieden und weder den Sinnen ihre Fähigkeiten genommen noch etwas zugestanden, was sie nicht zu leisten vermögen.844 Das Licht aber der Intellekte (mentes) für das Erlernen aller Sachen, haben sie gesagt, sei der nämliche Gott selbst, von dem alles geschaffen wurde (civ. VIII, 7; 331,18–332,8).
Die platonische Unterscheidung zwischen materieller Existenz, welche zunächst den Sinneswahrnehmungen zugänglich ist,845 und intelligiblem Sein, welches nur durch begreifendes Denken erschlossen werden kann, setzt Augustinus also klar voraus, nicht ohne die Platoniker mit deutlicher Anerkennung von anderen Philosophenschulen abzugrenzen. Dabei ist hervorhebenswert, dass er – immerhin der vermeintlich sinnenfeindliche Kirchenvater! – an den Platonikern lobt, dass sie den Sinneswahrnehmungen nicht ihre Fähigkeiten bestreiten würden. Wie oben bereits angedeutet, ist die platonische Erkenntnis‑ und Wissenschaftstheorie (entgegen anders lautenden Urteilen) tatsächlich nicht per se ‚sinnenfeindlich‘, auch wenn sie das rationale und intellektive Denken klar den Sinneswahrnehmungen überordnet. Denn um wirklich zu erkennen, was S. o. Kap. IV.3 a. Zur folgenden Passage s. auch Drews (2009: 62–63). 843 Zu Augustins ambivalentem Verhältnis zu den Platonikern vgl. Fuhrer (1997) und Karfíková (2004: 189): „Augustins Polemik gegen Apuleius zeigt sich […] als ein Streit um das Erbe Platons und seine legitime Weiterführung.“ 844 Vgl. vera rel. 29, 53, 146 und 33, 62, 174. 845 Im Sinne des für uns früher, zuerst Erkennbaren (vgl. Schmitt 2003 a: 27–28, 316). 841 842
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z. B. eine Flasche ist, genügt es nicht, nur zu ‚sehen‘, dass dieser Gegenstand ca. 30 cm hoch ist, aus Plastik, rund etc., sondern man muss begreifen, dass er zum Abfüllen von und als Behälter für Flüssigkeit taugt. Diese Funktion der Flasche erkennt man nur dann, wenn man über ihre materialen Qualitäten, die man sehen oder ertasten kann, hinaus zusätzlich begreift, wozu sie gut ist und was sie leistet, d. h. worin ihr wesentliches ergon besteht. Für das Flasche-Sein ist es also zweitrangig, ob sie 30 oder 10 cm, ob sie aus Plastik oder Glas ist; wesentlich ist, dass sie über ein Fassungsvermögen für Flüssigkeit verfügt und z. B. abdichtet und kein Loch oder einen Riss hat.846 So banal dieses Beispiel auch erscheint, es mag deutlich werden, dass die platonische Unterscheidung zwischen Sinneswahrnehmungen und begrifflichem Denken nicht empiriefeindlich ist und dass den Sinnen tatsächlich nicht ihre Leistung abgestritten wird, da ja das begreifende Denken beim Erkennen, was ein empirischer Gegenstand in Bezug auf sein wesentliches ergon ist, zum sinnlichen Wahrnehmen hinzukommen muss. Dabei bleibt das begreifende Denken gleichwohl nicht auf die Auswertung von Sinnesdaten beschränkt, sondern vermag – gerade im Bereich der Theologie – einen eigenen, geistig-intelligiblen Wirklichkeitsbereich zu erschließen. Problematisch wird eine Erkenntnistheorie aus platonischer Perspektive dann, wenn der dimensionale Unterschied zwischen sinnlichem Wahrnehmen und begreifendem Denken nivelliert wird. Genau diese Konfusion attackiert Augustinus, wenn er die Annahme der Stoiker, nur die weisen Menschen seien auch schön, von ihrer eigenen Erkenntnistheorie her attackiert: Wenn Wahrheit tatsächlich ausschließlich über die Sinneswahrnehmungen erkannt werden könne und wenn ferner nur der Weise schön sei, müsste seine Weisheit also auf spezifisch-eigentümliche Weise über den Seh-, Hör-, Tast-, Geruchs‑ und / oder Geschmackssinn ‚erkannt werden‘. Die Kombination dieser beiden Ansichten führt mindestens eine von ihnen ad absurdum: Weisheit ist per se mit Wissen und Erkenntnis verbunden, Wissen und Erkenntnis ist aber nichts, was die Sinne wahrnehmen können, sondern was begriffen werden muss. Denn die Inhalte des Wissens sind als sie selbst rein geistiger Natur; derjenige der sie (mehr oder weniger) besitzt, besitzt sie in seinem seelisch-geistigen Erkennen und Erinnern, entsprechend sind sie nicht äußerlich wahrnehmbar, sondern nur dann erkenn846 Das Beispiel soll indes nicht suggerieren, dass man deshalb platonisch zwingend von einer ‚ewigen Idee‘ der Flasche sprechen muss (ähnliches gilt z. B. für das aus didaktischen Gründen von Platon selbst gewählte Beispiel ‚Bett‘, resp. 596 a ff.; s. o. Kap. II.4.1): Das begrifflich vorauszusetzende Eidos mag hier einfach im menschlichen Geist subsistieren so, wie auch ein Kunstwerk aus dem menschlichen Denken heraus – entweder gemäß vorhergehendem Plan (z. B. eine Symphonie) oder spontan (z. B. eine Jazzimprovisation) – entsteht. Eidetische Bestimmtheit ist nicht nur im göttlichen, für sich bestehenden Intelligiblen (wie beim Eidos ‚Schönheit‘) möglich, sondern kann – in sekundärer Weise – auch im menschlichen Geist und seiner technê und, davon abgeleitet, dem von ihm Erzeugten gefunden werden (vgl. Koch [1958: 24] mit dem Hinweis auf Plotin, enn. V, 9, 5, 36–41.
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bar, wenn jemand anders dieses Wissen ebenfalls geistig begreift (etwa dadurch, dass er einem Vortrag nicht nur mit dem bloßen Ohr hörend beiwohnt, sondern mit seinem begreifenden Denken den Ausführungen zu folgen versucht). Die Annahme von Weisheit, welche auch die Stoiker konzedieren, impliziert, so die Stoßrichtung von Augustins Kritik, bereits die Bedingung der Möglichkeit eines geistig-intellektiven bzw. intelligiblen Wirklichkeitsbereichs, weshalb die Stoiker gemäß Augustinus einen erheblichen Widerspruch in ihrer theoretischen Grundlegung von Erkenntnis und Wissen riskiert und zugelassen haben. Die bei dem Vorsokratiker Parmenides847 in aller Grundsätzlichkeit aufgezeigte und von Platon848 auf ihre weiteren Implikationen hin genauer entfaltete Differenzierung zwischen sinnlichem Wahrnehmen und begreifendem Denken erweist sich einmal mehr auch als sachliche Basis der Philosophie und Theologie des Bischofs von Hippo. Dies ist nicht zuletzt auch deshalb ohne Weiteres möglich, weil der Apostel Paulus im Römerbrief und damit die Heilige Schrift der Christen eine ähnliche, an die platonische Erkenntnistheorie zumindest anschlussfähige Aussage trifft:849 Denn seine [sc. Gottes] Unsichtbarkeit (ta ahorata) wird von der Gründung des Kosmos an anhand der Schöpfungen [sc. Gottes] geschaut als etwas geistig-intellekthaft Erkennbares (nooumena), die Ewigkeit sowohl seiner vermögenden Macht (dynamis) als auch seiner Gottheit (theiotês) (Paulus, Rö 1, 20).
Scheinbar kommt in der oben übersetzten Passage civ. VIII, 7 zur platonischen Erkenntnistheorie die Theologie gar nicht wirklich vor. Am Ende weist Augustinus jedoch darauf hin, dass das Licht des Intellekts und des intellekthaften Erkennens Gott selbst ist. Dies ‚passt‘ nicht nur zum Sonnen‑ und Höhlengleichnis in Platons Politeia,850 dessen philosophischen Inhalt Augustinus andernorts aufgreift: Wie die Sonne alles sinnlich Sichtbare erleuchtet, damit es überhaupt gesehen werden kann, so erleuchtet auch Gott den Intellekt, welcher geistig Begreifbares erkennt.851 Es steht wiederum auch im Einklang mit Paulus’ Ausführungen im Neuen Testament:852 Denn Gott, der sprach: ‚Aus der Finsternis soll Licht hervorstrahlen‘ (Gen 1, 3), ließ in unseren Herzen [sc. sein Licht] hervorstrahlen zur Erleuchtung, auf dass Gottes herrlicher Ruhm im Angesicht Christi erkannt werde. Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit das Übermaß der vermögenden Macht sei Gottes und nicht aus uns (Paulus, 2 Kor 4, 6–7).
S. o. Kap. II.1. S. o. Kap. II.2. 849 Zu Rö 1, 20 s. o. Kap. IV.2.2 a. 850 Platon, resp. 505b ff. sowie 514a ff. Vgl. dazu Halfwassen (2008 a). 851 Augustinus, lib. arb. II, 9, 106–109. Vgl. zur Stelle Drews (2009: 74–78). 852 Zur Stelle s. o. Kap. IV.2.2 a. 847 848
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Die Erkenntnis Christi – genauer: die Erkenntnis von Gottes Ruhm, wie er sich im Angesicht Christi spiegelt – im Herzen der Gläubigen entspricht erkenntnistheoretisch der Erleuchtung des Intellekts durch Gott (bzw. das Gute) bei Platon und bei Augustinus in civ. VIII, 7. Die Erleuchtung durch Gott ist zugleich Ermöglichungsgrund der Gotteserkenntnis: Die gemäß Augustinus von Gott erleuchtete mens vermag nicht nur verschiedene Sachverhalte zu durchdringen, sondern in letzter Konsequenz auch Gott selbst zu schauen,853 zumal gemäß Rö‑ mer 1, 20 Gottes Unsichtbarkeit und Ewigkeit selbst etwas intellekthaft Erkennbares ist, so dass die Erleuchtung durch Gott – als Befähigung zur Erkenntnis wahrer Sachverhalte – bereits auf die Erleuchtung zu Gott, also auf die Gotteserkenntnis abzielt. D. h., das intellekthaft Erkennbare, platonisch formuliert: das Intelligible, erscheint selbst als ein göttlicher Bereich, welcher von der allgemeinen platonischen Ontologie mit ihrer Differenzierung zwischen sinnlich-wahrnehmbarer Realität und intelligibler Wirklichkeit her rational begründet und erschlossen wird und so der Theologie eine philosophisch und wissenschaftstheoretisch abgesicherte Systemstelle zuweist.854 Von hier aus erhellt, warum der Kirchenvater im Einklang mit entscheidenden Passagen der Heiligen Schrift den Platonikern eine derart herausgehobene Stellung unter den Philosophenschulen zuerkennen kann – und konsequenterweise im Grunde auch muss. Wenn Augustinus das Kapitel civ. VIII, 7 mit dem Satz beschließt: „Das Licht aber der Intellekte für das Erlernen aller Sachen, haben sie [sc. die Platoniker] gesagt, sei der nämliche Gott selbst, von dem alles geschaffen wurde“, so steht dessen Inhalt nicht zuletzt auch im Einklang mit den Ergebnissen, die im letzten Kapitel anhand von trin. V, 10, 11 im Hinblick auf sein Verständnis der Partizipationstheorie gewonnen werden konnten: Wie Augustinus dort zwischen (3) z. B. der Größe eines Geistes (animus), die aus der Anteilhabe an (2) der begrifflich fassbaren und partizipierbaren (eidetischen) Großheit resultiert, und der (1) in Gottes Sein qua Gott immer schon implizierten Großheit differenzieren konnte, so ist es hier (3) der Intellekt (mens), welcher poteniell (2) alle begreifbaren Sachverhalte (wie z. B. auch die Idee der Großheit als Ursache allen Überragens 853 Dies impliziert bei Augustinus zudem gnadentheologische und freiheitsphilosophische Aspekte und Voraussetzungen, die darzulegen ich andernorts versucht habe (s. Drews 2009: 185–238). Bezeichnenderweise bringt er die Funktion der Kirche damit in Verbindung, allen Menschen die Möglichkeit zu gewähren, an Gottes Gnade Anteil zu gewinnen, an ihr zu par‑ tizipieren (vera rel. 6, 10, 31). 854 Dies freilich nur, wenn ‚Ontologie‘ nicht nur materielle Existenz beinhaltet, sondern auch das, was jeweils als es selbst und von sich selbst her als innere Sacheinheit erkannt werden kann, also geistig-intelligible Substanzen wie die platonischen Ideen oder Gott selbst. Engt man den Begriff des Seins gemäß neuzeitlicher oder auch stoischer Philosophie auf äußerlich Existierendes ein, müsste man – gegen die Position der Platoniker – das Intelligible nur als sinngebend, nicht aber als seinsstiftend interpretieren, wie es z. B. teilweise (in wohlwollender Intention) Weier (1970: 78, 87, 96, 99–100) tut (s. o. Anm. 2). Damit aber wird der Platonismus keineswegs ‚gerettet‘, sondern mindestens halbiert und um ein ihm wesentliches Moment seiner Philosophie gebracht.
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und Übertreffens) durchdringen kann, dazu aber (1) von Gott erleuchtet werden muss, welcher alles – d. h. die materielle wie die geistige Welt – erschaffen hat. Diese Erleuchtung durch Gott ist, wie gesehen, sowohl von Platon wie auch von der Heiligen Schrift her erkenntnistheoretisch und ontologisch gut begründbar, weshalb eine Synthese von Platonismus und Christentum bekanntlich auch für Augustinus – trotz aller oben schon benannten theologischen Unterschiede zwischen diesen beiden geistesgeschichtlichen Traditionen – möglich erscheint. Die erkenntnistheoretisch-ontologische Basis der platonischen Ideenlehre teilt Augustinus also. Wie sind nun seine eher raren Ausführungen zu den Ideen selbst zu bewerten? Antwort gibt eine kurze Abhandlung aus De diversis quaes‑ tionibus:855 Ideen soll bekanntlich Platon als erster so bezeichnet haben: Gleichwohl, wenn es auch diese Bezeichnung, bevor er sie einführte, nicht gab, ist es doch nicht so, dass deshalb auch die Sachgehalte (res) selbst, die er Ideen genannt hat, nicht gewesen oder von keinem erkannt (intellectae) worden wären; sondern vielleicht sind sie von den einen mit dem einen und von den anderen mit einem anderen Namen benannt worden. […] Aber über die Bezeichnung sei hiermit genug gesagt: Die Sache wollen wir in den Blick nehmen, die in erster Linie zu betrachten und zu erkennen ist […]. Es sind nämlich die Ideen bestimmte prinzipienhafte Formen bzw. feststehende und unveränderliche Vernunftgründe (rationes) der Sachgehalte, welche [sc. Ideen] selbst nicht geformt sind und deshalb ewig und sich immer auf dieselbe Weise verhaltend, welche in der göttlichen intellekthaften Erkenntnis (intelligentia) enthalten sind (continentur). Und da sie selbst weder entstehen noch vergehen, wird ihnen gemäß, wie man sagt, dennoch alles geformt, was entstehen und vergehen kann, und alles, was [sc. tatsächlich] entsteht und vergeht. Es wird jedoch verneint, dass die Seele (anima) diese [sc. Ideen] schauen könne, ausgenommen die rationale Seele durch den Teil von ihr, durch welchen sie herausragt, d. h. durch den Intellekt (mens) selbst und die Rationalität (ratio), gleichsam durch ihr Antlitz (facies) bzw. ihr inneres und intelligibles Auge. Und [sc. damit ist] nicht jede x-beliebige rationale Seele selbst [sc. gemeint], sondern diejenige, welche heilig und rein gewesen ist, sie wird als geeignet für jene Schau (visio) befunden: d. h. [sc. diejenige Seele], welche jenes Auge selbst, mit dem jene dort (ista) geschaut werden (videntur), gesund und rein und heiter und den Sachgehalten (res), welche sie zu schauen anstrebt, ähnlich bewahrt hat. Welcher religiöse und mit der wahren Religion vertraute [sc. Mensch] aber sollte, obschon er diese [sc. Ideen] noch nicht schauen kann, dennoch zu bestreiten wagen und im Innersten nicht auch bekennen, dass alles, was ist, d. h. was auch immer in seiner Gattung durch eine bestimmte Natur bewahrt wird, auf dass es sei, durch Gott, den Schöpfer, hervorgebracht worden ist und dass durch denselben Schöpfer alles, was lebt, lebt und dass die allgemeine Unversehrtheit der Dinge und die (Schöpfungs‑)Ordnung selbst, wodurch die Dinge, welche sich ändern, ihre zeitlichen Umläufe mit sicherer Lenkung vollenden, durch Gesetze des höchsten Gottes umfasst und regiert wird? Da dies begründet und zugestanden ist, wer sollte zu sagen wagen, dass Gott alles auf irrationale Weise geschaffen habe? […] Die einzelnen Dinge also sind durch [sc. ihnen] eigentümliche Vernunftgründe (rationes) geschaffen. Diese Vernunftgründe aber – wo, soll man glauben, sind sie außer in dem Intellekt (mens) selbst 855 Vgl. dazu bereits Koch (1958: 33 ff.), der die quaestio „in die Spanne zwischen der Rückkehr Augustins nach Afrika und seine Erhebung zum Bischof “ datiert.
4. Augustinus
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des Schöpfers? Nicht nämlich schaute er auf irgendetwas außerhalb von sich Liegendes, so dass er gemäß diesem schuf, was er schuf: Denn dies zu meinen ist blasphemisch. […] Und diese prinzipienhaften Vernunftgründe der Dinge nennt Platon Ideen: Nicht nur sind die Ideen, sondern sie sind selbst wahr, weil sie ewig sind und derartig und unverändlich verharren; durch Partizipation an ihnen geschieht, dass ist, was auch immer ist, wie auch immer es ist. Aber die rationale Seele überragt unter diesen Sachen, welche von Gott geschaffen worden sind, alles; und sie ist Gott am nächsten, wenn sie rein ist. Und inwieweit sie sich ihm in Liebe verbunden hat, insoweit unterscheidet sie (cernit) – gewissermaßen übergossen und erleuchtet von diesem jenem intelligiblen Licht, nicht durch körperliche Augen, sondern durch das ihr eigene Prinzip (principale), wodurch sie hervorragt, d. h. durch ihre intellekthafte Erkenntnis (intelligentia) – jene Vernunftgründe dort (istae rationes), durch deren Schau (visio) sie in höchster Weise glückselig wird. Diese Vernunftgründe, wie gesagt, mag man entweder Ideen oder Formen oder Eidê (species) oder Vernunftgründe nennen, und vielen ist gestattet, [sc. sie so] zu bezeichnen, wie es beliebt, aber äußerst wenigen zu schauen, was wahr ist (div. qu. 46).
Zunächst weist Augustinus gut platonisch darauf hin, dass in philosophischer Hinsicht nicht die Terminologie entscheidend ist, sondern die Sache selbst – eine Methode, die der Kirchenvater analog bei der theologischen Frage, ob man die Gott dienstbaren Geister Engel oder Gott nennen soll, in Anschlag bringt.856 Im Blick auf die Ideenlehre ist Platon nicht in dem Sinne Begründer der Ideenlehre, dass es vor ihm diese Sachgehalte noch nicht gab; er mag den Terminus geprägt haben und einen Wirklichkeitsbereich in ungekannter Weise als erster erschlossen haben, aber dies bedeutet nicht, dass das, was er entdeckt hat, vorher nicht da war: Die Ideen der Schönheit und Gerechtigkeit werden nicht erst von Gnaden eines Menschen ins Sein gerufen, sondern bestehen für sich selbst. Der philosophische Zugang zu ihnen mag anderen Weisen vor Platon bereits möglich gewesen sein. Auseinanderzuhalten ist also, so der Kirchenvater, das Sein der Ideen selbst und ihre historisch fixierbare Entdeckung durch Platon. Diese durchaus wichtigen Vorbemerkungen, die vor dem Fehlschluss bewahren sollen, zu meinen, der Entdecker sei auch die Ursache dafür, dass es das Entdeckte überhaupt gibt, stehen in einer Linie mit Augustins Auffassung, dass es auch die wahre Religion zu allen Zeiten, also auch vor Christi Geburt, gegeben haben müsse:857 So, wie die wahre Religion durch Christus zwar unüberbietbar manifest geworden, aber vorher bereits frommen Menschen zu eigen gewesen sei, hätte es auch schon vor Platon nicht nur Weise und Weisheit gegeben, sondern hätten auch die Ideen schon vor ihrer Entdeckung durch Platon bestanden. Die Begründung für letztere Auffassung folgt später mit dem Hinweis, dass die Vernunftgründe (rationes)858 der Schöpfung nach platonischer Lehre ewig S. o. Kap. IV.4 a. Kap. IV.4 a. 858 Koch (1958: 34–35) übersetzt „Baupläne“, was dem intelligiblen Charakter der rationes als in sich selbst bestimmte, geistig-eidetische Prinzipien weniger gerecht wird und ein zu dinglichgegenständlisches Verständnis suggeriert, das nicht gemeint ist. 856
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sein müssen und in Gott selbst subsistieren – eine bis in die einzelnen Formulierungen Origenes sehr ähnliche Darstellung.859 Philosophisch bedeutsam ist Augustins Akzentuierung, dass die Ideen als „Formen“ selbst nichts Geformtes sind: Sie sind nichts, was erst sekundär geformt worden wäre, also keine Materie, sondern sind seinsstiftende Prinzipien, gemäß welchen formbare Materie geformt wird oder werden kann. Da sie also der Materie und der Welt des Werdens und Vergehens transzendent sind, sind sie selbst unveränderlich und ewig. Zugänglich, d. h. erkennbar, seien die Ideen keineswegs für die rationale Seele im Allgemeinen. Augustinus beschränkt die Möglichkeit der Ideenschau – seiner christlichen Theologie durchaus entsprechend und zugleich platonisch – auf die reine und heilige Seele, welche in ihrer Verfasstheit den zu erkennenden Ideen selbst ähnlich sein muss und nur durch ihr Bestes, d. h. durch ihr „Gesicht“, den Intellekt bzw. das intelligible Auge, die Ideen zu schauen vermöge: Auch Platon selbst schreibt von dem einen Auge, welches zu retten wichtiger sei als tausend Augen.860 Bis hierhin könnte Augustins quaestio als rein doxografisch erscheinen: ein Abriss der Lehre Platons. Dass der Kirchenvater jedoch selbst – aus einer bestimmten Perspektive – Platons Ansicht teilt, wird im zweiten Teil der Passage deutlich: Jeder wahrhaft religiöse, vor allem christliche Mensch könne nicht bestreiten, dass die (sichtbare) Schöpfung nach bestimmten Seins‑ und Ordnungsprinzipien hervorgebracht sei. Damit könne sich die Welt nicht einem irrationalen Schöpfungsakt verdanken. Jedes einzelne Geschöpf sei durch für sein Sein spezifisch ursächliche, eidetische Vernunftgründe geschaffen worden. Die Betonung, dass die eidetischen Bestimmungen ihr Sein in Gott selbst haben – alles andere sei gar Blasphemie – ist einerseits typisch christlich, weil das Christentum (in aller Regel861) nicht zwischen dem höchsten Gott (als Quell und Ursache des Intelligiblen) und einem Demiurgen als Schöpfer der materiellen Welt differenziert. Während auch der Mittelplatonismus zumindest nach vorherrschender Forschungsmeinung diese Unterscheidung zwar ebenfalls nicht kennt,862 erscheint vor dem Hintergrund der neuplatonischen Philosophie eines Plotin, von welchem Augustinus beeinflusst ist, die Tatsache, dass der Kirchenvater eine Differenzierung zwischen allerhöchstem Gott und Demiurg strikt zurückweist, andererseits als deutliche Abgrenzung gegen die Theologie Platons und des Neuplatonismus: Augustinus formuliert explizit, dass der Intellekt, in welchem die Ideen subsistieren, mit dem „höchsten Gott“ zu assoziieren sei: Der 859 Vgl. Origenes, princ. I, 2, 3; 30, 9–15 (s. o. Kap. IV.3 a mit Anm. 668) mit den parallelen Begriffsbildungen in se et rationes […] continens etc. 860 Platon, resp. 527e2–3. 861 Bei Origenes gibt es dagegen gewisse Anzeichen dafür, dass Christus als Demiurg aufgefasst werden könnte (s. o. Anm. 667). 862 Diese Forschungsmeinung ist jedoch diskussionsbedürftig: s. o. Kap. II.4.2 a–b (mit Anm. 131, 134).
4. Augustinus
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Schöpfer habe nicht auf etwas ihm Vorausliegendes geblickt – eine direkte Zurückweisung von Platons Darstellung im Timaios.863 Damit fällt theologisch zugleich die Deutung der ewig-göttlichen Ideen im Sinne des traditionellen griechischen Polytheismus.864 Wenngleich auch im nicht-christlichen Neuplatonismus die Einheit und Gemeinschaft (koinônia) der Ideen stark betont wird,865 so ist doch speziell bei Proklos die sich immer weiter in die Vielheit entfaltende Einheit des Seienden auch im Sinne einer stärkeren Eigenmächtigkeit der einzelnen Ideen interpretierbar. Augustinus stellt indes, wie gesehen, nicht in Abrede, dass jedem einzelnen Geschöpf (singula) seine ihm eigentümlichen (propria) Vernunftgründe des Schöpfers ins Sein verhelfen; dass die Ideen jedoch auch einzelne, bis zu einem gewissen Grade autark agierende göttliche Wesen sein könnten, ist für ihn undenkbar. Worin besteht also die Lösung dieser vordergründigen Diskrepanz? Wieder einmal lautet die Antwort: in der Partizipationsontologie, mit gleichwohl christlich-theologischem Gewand. Durch Partizipation an den Ideen trete alles ins Sein, was ist. Jedoch sind die Ideen für den Kirchenvater keine potentielle Vielzahl verschiedener göttlicher Wesen, sondern die aktual partizipierten Ideen: In der aktualen Partizipation an den vielen Ideen treten diese ins Einzelne, aber von sich selbst her, als ewige (unpartizipierte) Ideen haben sie ihr Sein in Gott selbst, und nur in ihm (seinem Intellekt). Wie im letzten Kapitel866 anhand der dort behandelten Stelle aus De Trinitate gezeigt werden konnte, kann auch Augustinus von einer Großheit an sich (im Sinne einer Idee) sprechen, durch Partizipation an ihr werden einzelne Dinge wie ein Haus oder ein Berg ‚groß‘. Damit wird aber – ohne dass der Kirchenvater dies eigens betont – die Idee selbst in ihrer Partizipierfähigkeit gedacht. Dadurch, dass er – aus guten philosophischen und theologischen Gründen – das Groß-Sein Gottes aus dessen ihm eigenen Sein qua Gott ableitet, bleibt hierarchisch über der partizipierten Idee das Sein Gottes gewissermaßen unberührt es selbst: Der Schöpfer allen Seins hat die Vernunftgründe der Schöpfung in sich, d. h. in seinem einheitlichen Sein qua Gott, so z. B. auch das Groß-Sein. Dadurch ist er selbst groß, ohne an einer ihm vorausliegenden Ursache für das Groß-Sein zu partizipieren. Sein Gott-Sein, welches alle (guten, nicht depravierten) Seinsprinzipien in sich umfasst, begründet somit auch die Ideen, welche in seinem Intellekt bzw. Gott-Sein enthalten sind.867 S. o. Kap. II.2. Vgl. o. Kap. III.e im Zusammenhang mit Proklos. 865 Z. B. bei Plotin als Totalität der Ideen im seienden Einen (hen on) bzw. in dem Gott Kronos (s. o. Kap. II.5 c). 866 S. o. Kap. IV.4 b. 867 Zu der mit Origenes’ (s. o. Kap. IV.3 a mit Anm. 666) identischen Auffassung Augustins, dass die vielen Ideen (simplicia) als unbegrenzte Schätze der einen Weisheit Gottes aufzufassen sind, vgl.: „Entsprechend werden also jene als Einfache (simplicia) bezeichnet, welche auf primär-prinzipienhafte Weise und wahrhaft göttlich sind, weil nicht etwas Verschiedenes in ihnen Qualität, etwas wiederum Verschiedenes Substanz ist und sie nicht durch Teilhabe an anderen 863 864
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
Vereinzelt und von Gott selbst unterscheidbar werden die Ideen aus Augustins Perspektive somit erst auf der Ebene ihres aktualen Partizipiertwerdens:868 Die Großheit, von der Augustinus spricht, ist keine autark, für sich seiende, unpartizipierte Idee (wie man dies von Proklos her möglicherweise denken könnte), sondern die begriffliche Bestimmung, an welcher ein großes Haus, aber auch ein großer Geist qua der jeweils partizipierten Großheit (im Sinne des Überragens) gemeinsam partizipieren, auch wenn beide als jeweils Partizipierende in ihrem wesentlichen Sein qua Haus oder Geist grundverschieden sind. Augustinus setzt somit nicht nur Ideen in einem platonischen Sinne voraus, sondern klärt auch ihre ontologisch-metaphysische Stellung über den Partizipationsbegriff. Dieser wird gleichwohl nicht eigens reflektiert, seine Relevanz muss der Interpret aus den Texten und ihrer inneren, impliziten Systematik ableiten.869 Aus dem platonischen Partizipationsgedanken zieht Augustinus im Detail zwar andere Schlussfolgerungen als ein Proklos oder auch Plotin. Die implizite Lösung des Kirchenvaters, dass die platonischen Ideen deshalb in Gott bzw. seinem Ingöttlich oder weise oder glückselig sind. Ferner ist in den Heiligen Schriften gesagt, dass der Geist der Weisheit vielartig ist in dem Sinne, dass er Vieles in sich enthält; aber was er in sich enthält, dieses sowohl ist er als auch ist er dieses alles als einer. Denn es sind nicht viele, sondern es ist eine Weisheit, in der bestimmte unbegrenzte und für sie [sc. die Weisheit] begrenzte Schätze der intelligiblen Sachheiten sind, in denen alle unsichtbaren und unveränderlichen rationalen Bestimmtheiten (rationes) auch der sichtbaren und veränderlichen Sachheiten sind, die durch sie [sc. die Weisheit] geschaffen worden sind“ (civ. XI, 10; 476,28–477,6). – Zu den Ideen als den Gedanken Gottes im Mittelplatonismus, aber auch bei Plotin in Form der im seienden Einen geeinten Ideen vgl. Beierwaltes (2011: 113), zu Gott als „Ort der Ideen“ bei Augustinus ders. (1994: 303) sowie Tornau (2014: 198, 206). 868 Dies erscheint als ein wesentlicher Unterschied zu Kochs (1958: 63) Interpretation: „Gewiß bleiben nun zwar die ewigen Ideen Gottes in sich, wenn sie partizipiert werden, aber sie sind zugleich, wie auch immer, im Gegründeten gegenwärtig.“ Wenn an den Ideen partizipiert wird, sind sie als Partizipierte bereits im geschaffenen „Gegründeten“ präsent und insofern – in dieser Hinsicht – nicht in Gott, in welchem sie vor und unabhängig von ihrem Partizipiertwerden subsistieren. Koch will möglicherweise sagen, dass die Partizipation an den Ideen nicht dazu führt, dass die partizipierten Ideen gleichsam dann in Gottes Sein ‚fehlen‘ würden (dies wäre ja ein materialer, nicht-geistiger Partizipationsmodus): Obwohl dies zutreffend ist, impliziert das Partizipiertwerden der Ideen auch bei Augustinus doch wesentlich ein Heraustreten aus Gottes Sein, welches mit dem Schöpfungsakt korrespondiert. In diesem Sinne unterscheidet Koch (ibd., 108, 110–2) selbst am Ende seiner Dissertation das „participatum in se“ und das „participatum in participante“. 869 Vgl. in dieser Hinsicht schon die eigens dem Thema der Partizipation bei Augustinus gewidmete Dissertation von Koch (1958: 33), der (trotz gewisser Unterschiede in seiner philosophischen Interpretation zu hier vertretenen Auffassungen, s. z. B. Anm. 868) den wichtigen Nachweis führt, dass sich bei Augustinus „participatio und creatio nicht ausschließen müssen“ (ibd., 52, ähnlich 63, 85–88; vgl. civ. XI, 9; 474, 1–9). – Weitere Passagen zum Partizipationsgedanken bei Augustinus sind z. B. vera rel. 6, 10, 31; 11, 22, 61; 55, 112, 308; mus. VI, 17, 56; lib. arb. II, 17, 172–6; civ. V, 11; 210, 15; VIII, 1, 5; 321, 15–16; VIII, 5; 326, 32; IX, 15; 388, 17–26; IX, 21; 396, 7; IX, 22, 397, 33–44; X, 1; 401, 15; X, 2; 404, 16–17; 405, 12–13; X, 7; 412, 10; X, 14; 424, 20–23; XI, 9; 474, 1–4; XI, 10; 476, 12 ff.; XII, 9; 524, 26–27; XII, 21; 544, 16; XIV, 13; 33, 30–31; XVI, 6; 133, 1–2; XVII, 20; 249, 20–26; XIX, 1; 350, 5–7; XXI, 15; 518, 14–20; XXII, 29; 623, 27–29; XXII, 30; 632, 21–22.
4. Augustinus
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tellekt ihr Sein haben, weil Gott als das absolute Sein eben auch diese eidetischen Bestimmungen ist, lässt sich mit einer platonischen Ideenlehre grundsätzlich vereinbaren: Die Vereinzelung der Ideen erfolgt auf der Ebene ihrer aktualen Partizipation. Von Proklos’ Theorem her formuliert, fällt bei Augustinus die Ebene der unpartizipierten Ideen mit dem absoluten, einen Sein Gottes zusammen. Aber auch bei Proklos selbst ist das unpartizipierte Eidos jeweils genau eines und verharrt transzendent bei sich selbst und wird erst durch sein Partizipiertwerden über eine von ihm prinzipientheoretisch zu unterscheidende partizipierbare Mitte ein Vieles.870 Ähnliches gilt für Plotin,871 auch wenn dieser eine gleichwesentliche Teilhabe an den Ideen in der erkennenden Seele (im Unterschied zur abbildhaften Teilhabe an ihnen in der materiellen Welt) auf gewisse Weise für möglich hält.872 Wenn Proklos diese „auf gewisse Weise“ vorliegende gleichwesentliche Partizipation damit präzisierend erklärt, dass ein menschlicher Intellekt ein von sich selbst her intelligibles / noetisches Eidos (‚nur‘) auf intellekthafte / noerische Weise erkenne und entsprechend mit ihm eins werde,873 dann trägt er sowohl der plotinisch-aristotelischen Lehre von der Identität des Erkennenden und des Erkannten im erkennenden Intellekt Rechnung, als auch wahrt er den dimensionalen Unterschied zwischen dem immer noch menschlichen Intellekt und dem göttlichen Intelligiblen. Genau dieser dimensionale Unterschied zwischen dem Sein der Ideen im Sein Gottes und ihrem Partizipiertwerden auf der Ebene der (geistig-seelischen oder körperlich-materiellen) Geschöpfe ist – mutatis mutan‑ dis – aber auch kennzeichnend für Augustins Ideen‑ und Partizipationslehre, da er eine wesensgleiche Identität der erkennenden rationalen Seele mit dem Sein Gottes so nicht für möglich erachten kann: Wesensgleich sind nur die trinitarischen Personen des drei-einigen Gottes (homoousios).874 Aus dieser Perspektive erscheint der Kirchenvater in philosophischer (!) Hinsicht sogar Proklos näher als Plotin: Der Unterschied zwischen dem Sein der Ideen in Gott bzw. dem göttlichem Sein der Ideen muss gegenüber den an ihnen in der Intellekterkenntnis partizipierenden Seelen / Intellekte gewahrt werden.
870 Auch für Proklos verharrt das Eidos (als Prinzip einer jeweiligen Sache wie ‚Gerechtigkeit‘) unpartizipiert in sich selbst und in seinem einheitlichen Sein – analog dazu, dass gemäß Augustinus die Ideen im Sein Gottes verharren: Beide Male ist also das transzendente Ruhen in sich respektive in Gott der entscheidende Punkt. In diesem Sinne unterstreicht auch Proklos, dass beim Erkanntwerden eines Eidos durch einen menschlichen Intellekt nicht das jeweilige Eidos selbst „zu uns kommt“, sondern etwas prinzipientheoretisch von ihm Verschiedenes, also seine partizipierfähige Mitte (Proklos, in Parm. 932, 27–34; s. o. Kap. III.c zur Stelle mit Anm. 322). 871 S. o. Kap. II.5 b. 872 S. o. zu diesem Unterschied zwischen Plotin und Proklos Kap. III.c (mit Anm. 322). 873 S. o. Anm. 322. 874 Vgl. Koch (1958: 31).
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
Bei wohlwollender Augustinus-Lektüre lässt sich nicht nur festhalten, dass es die Ideen immer schon – auch vor Platons Entdeckung – gab und sie möglicherweise unter anderen Namen bekannt waren, sondern auch, dass die platonische Ideenlehre in zeitlichem Abstand zu Platon ebenfalls unter anderem Gewand, z. B. im Rahmen einer spezifisch christlichen Theologie, beibehalten und ihre grundsätzliche philosophische Einsicht zugleich bewahrt werden konnte. Nicht unwichtig erscheint dabei, dass der rationale Anspruch, welchen auch Augustinus mit der exponierten Stellung der rationalen Seele in ihrer Nähe zu Gott vertritt, bei ihm christlich mit dem Begriff der Liebe (caritas) verbunden ist: Die von Gottes intelligiblem Licht durchflutete Seele muss vorher in Liebe zu Gott entflammt sein, weil Gott selbst „Liebe ist“,875 wie am Anfang dieses Kapitels auch anhand von Augustins trinitarischer Theologie her gezeigt wurde. Eine solche an den ewigen Vernunftgründen Anteil gewinnende Schau werde jedoch nur den Wenigsten zuteil.876
5. Dionysius Areopagita a) Dionysius’ christliche Adaption von Proklos’ Partizipationstheorem und Gottes überseiende Wesensgleichheit Der geheimnisvolle, in der Geistesgeschichte unter dem Namen Dionysius Areopagita bekannte Autor entzieht sich bekanntlich einer genauen historischen Fixierbarkeit. Unbestritten ist in der Forschung, dass er in seinem Denken von der neuplatonischen Philosophie des Proklos877 abhängig und insofern zeitlich zwischen 476–518/528 n. Chr. einzuordnen ist.878 Obwohl er unter dem Pseudonym des Paulus-Schülers879 schreibt, sollte er jedoch aufgrund der historischen Unstimmigkeit nicht vorschnell als bloßer ‚Fälscher‘ gebrandmarkt werden:880 Einerseits nimmt der Autor des Corpus 875 1 Jh 4, 16 b. – Zu Gott als „Liebe“ bzw. „liebende Verbindung“ bei Plotin vgl. Beierwaltes (2011: 114; 2001: 76); ebenso zu philia „als die dem Geist innewohnende, ihn bestimmende Bewegung des Denkens“ (ibd., 76). Jedoch: „Die Identifikation von Geist und Liebe steht an philosophischer Bedeutung für das Sein des Geistes freilich hinter der von Wahrheit, Weisheit, Schönheit zurück. Dies ist darin begründet, daß philia von ihr selbst her kein ausgesprochen reflexiver Charakter zukommt“ (Beierwaltes ibd., 71) – womit ein wesentlicher und entscheidender Unterschied zwischen Plotins paganem Neuplatonismus und Augustins neuplatonisch durchdachtem Christentum markiert sein dürfte. 876 In diesem Sinne ist die „gereinigte und erkennende Geistseele“ in der Tat ein „Spiegelbild des mundus intelligibilis, der ewigen Gründe“ (Koch 1958: 84). Dazu, dass bei Augustinus auch „die Erleuchtung des Geistes durch den Teilhabebegriff ausgelegt“ wird, s. Koch (ibd., 94); das „höhere Leben der Seele“ ist nicht „mit Gott identisch“ (ibd., 99). 877 S. o. Kap. III. 878 Vgl. Suchla (2008: 15–25). 879 Apg 17, 34. 880 Vgl. Drews (2011: 21–50).
5. Dionysius Areopagita
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Dionysiacum881 genau genommen gar nicht die volle Identität des Dionysius vom Areopag in Anspruch, da er sich an keiner Stelle seines Werks explizit als ‚Dionysius vom Areopag‘ bezeichnet. Vielmehr versteht er sich allgemein als Paulusschüler, und erst am Ende seines siebenten Briefs fällt – in einer eingespiegelten Selbstanrede – der Name „Dionysius“.882 Andererseits wird die in der Antike verbreitete Tradition der Pseudepigrafie nicht allein durch die Applikation äußerlich-abstrakter Koordinaten (wie z. B. die der schon angesprochenen historischen Fixierbarkeit) verständlich: Es muss dabei keineswegs per se darum gehen, eine Fälschung möglichst geschickt zu tarnen und zu lancieren.883 Gerade im Falle des Autors des Corpus Dionysiacum lässt sich zeigen, dass er schon mit seinem (nur angedeuteten) Namen ein bestimmtes philosophisch-theologisches Programm vertritt und sich entsprechend in eine bestimmte geistige und geistesgeschichtliche Tradition stellen will, welche christliche Theologie und (neu‑)platonische Philosophie vereint. Genau dies kommt im Namen des Paulus-Schülers (christlicher Aspekt) und dem nicht einmal explizit genannten, aber implizit durchaus beanspruchten Zusatz ‚vom Areopag‘ (griechischer bzw. platonischer Aspekt) wie in einer Chiffre, einem Symbol zum Ausdruck.884 Ganz im Sinne dieser generellen Vorbemerkung lässt sich auch die Präsenz und Relevanz des Partizipationsgedankens bei Dionysius bestimmen: Die Abhängigkeit von Proklos’ philosophisch-metaphysischer Grundlegung dieses Theorems ist unverkennbar und wird doch zugleich christlich adaptiert, wie im Folgenden exemplarisch gezeigt werden soll.885 Die Methexis-Problematik erläutert Dionysius am Beispiel des Schönen, das im Letzten mit dem Guten selbst, d. h. mit Gott identisch ist:886 ‚Schön‘ und ‚Schönheit‘ aber wird nicht differenziert in Bezug auf die Ursache, die in Einem die ganzen [sc. Schönen bzw. Arten des Schönen] zusammen umfasst. Diese nämlich [sc. ‚schön‘ und ‚Schönheit‘ und ihre Distinktion] differenzieren wir bei allen Seienden in Partizipationen und Partizipierende und sagen, dass das an ‚Schönheit‘ Partizipierende zwar ‚schön‘, ‚Schönheit‘ aber die [sc. aktuale] Teilhabe an der alles Schöne schön machenden Ursache ist. Das überwesenshafte Schöne aber wird ‚Schönheit‘ genannt wegen der von ihm allen Seienden, jedem auf eigentümliche Weise geschenkten Anteilgabe an Schönheit […], ‚schön‘ aber, insofern es allschön und zugleich überschön und immer gemäß denselben Hinsichten (kata ta auta) und auf dieselbe Weise schön ist und weder wird noch vergeht, weder zunimmt noch schwindet, auch nicht in einer Hinsicht zwar 881 Für die Werke des Corpus Dionysiacum werden folgende Abkürzungen verwendet: CH = De caelesti hierarchia, DN = De divinis nominibus, EH = De ecclesiastica hierarchia, epist. = Epistulae, MT = De mystica theologia. 882 Vgl. Suchla (2008: 15, 18), Dinzelbacher (1994: 70), Stock (2008: 6), Ruh (1990: 37). 883 Vgl. Drews (2011: 22–23). 884 Vgl. Drews (2011: 35). 885 Die sich anschließenden Ausführungen sind eine knappe, überarbeitete Zusammenfassung meiner andernorts publizierten Forschungsergebnisse (Drews 2011: passim, besonders 161–183). 886 DN IV, 7; 152, 6–9.
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
schön, in einer anderen aber hässlich ist, auch nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt [sc. schön], zu einem anderen aber nicht ist […], sondern zum einen selbst gemäß sich selbst und bei sich selbst einfach (monoeides) immer schön ist und zum anderen die quellhafte Schönheit alles Schönen auf überragende und vorausgehende Weise in sich selbst hat (DN IV, 7; 151, 2–17).
Die Unterscheidung zwischen ‚schön‘ und ‚Schönheit‘, so Dionysius, hat ihren philosophischen Sinn nur im Hinblick auf das jeweils an Schönheit Partizipierende: Das Partizipierende ist schön, weil es an Schönheit partizipiert, wie etwa ein Musikstück schön sein kann, weil ihm Schönheit anteilhaft zukommt.887 Ein Musikstück kann also Instanz des Schönen sein, nicht aber Schönheit selbst im Sinne eines absoluten Gradmessers für alles Schöne, weil sonst z. B. ein Gemälde nicht mehr schön wäre, weil es kein Musikstück ist. Dass dies abwegig ist, ist zwar unmittelbar einsichtig, der platonische Schluss auf eine intelligible Eidos-Ursache des Schönen, an welcher alles Schöne partizipiert, dürfte dagegen weniger selbstverständlich erscheinen.888 Dionysius’ Differenzierung zwischen einzelnem Schönen, partizipierter Schönheit und dem (Über‑)Schönen im Sinne des absoluten Schönen erinnert von ihrem Duktus her der Sache nach durchaus an die oben erörterte Argumentation Augustins:889 Ein großer Berg ist durch Partizipation an der Großheit groß; die Großheit ist also die partizipierte, wesensbestimmende Ursache für das Großsein einzelner Seiender; Gott aber ist groß nicht durch Partizipation an der Großheit, sondern durch sein ihm eigenes Gott-Sein, denn die Großheit (als partizipierbare Wesenheit) ist vielmehr als von Gott prinzipiiert / geschaffen zu denken, weshalb sie ihm nicht ontologisch-prinzipientheoretisch vorausliegen kann. Analog unterscheidet auch Dionysius einzelnes Schönes, welches an der Schönheit als (proklisch gesprochen) partizipierfähiger Mitte partizipiert, und grenzt das universale Prinzip des Schönen als unpartizipierbar ab, auch wenn er dies in der obigen Textstelle nicht explizit macht. Das eidetische Prinzip des Schönen liegt von sich selbst her also der genannten Differenz zwischen Schönheit und schön voraus: Es könne nur ‚Schönheit‘ genannt werden wegen der von ihm prinzipiierten, partizipierfähigen Mitte, durch welche alles Schöne Anteil an Schönheit gewinnt; ‚schön‘ werde das Prinzip genannt wegen seines primären, unwandelbaren Schön-Seins als erstes Schönes überhaupt (= qua Prinzip) und der von ihm als Quell aller Schönheit ursächlich begründeten Seinsmöglichkeit des Schönen. Auffällig ist bereits hier – und wird gleich noch genauer zu erörtern sein –, dass Dionysius kaum einen Unterschied
887 Vgl.
Kap. II.2 und II.3. Begriff des Schönen im Neuplatonismus s. Halfwassen (2003) sowie ders. (2008 b), zur oben zitierten Dionysius-Passage s. ibd., 199 f. 889 S. o. Kap. IV.4 b zu Augustinus, trin. V, 10, 11; 217,1–11, 12; 218,4. 888 Zum
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zwischen dem Schönen selbst und dem Überschönen890 zu machen scheint und dass er alle Schönheit eindeutig als von dem (Über‑)Schönen selbst geschenkt begreift: Auf diese Weise legt er die entscheidende Basis, um Proklos’ Methexis-Theorem mit der christlichen Auffassung von dem Allerhöchsten, welcher zugleich universaler Schöpfergott ist, zusammenzudenken. Denn das universale Schöne und Überschöne kann nur Gott selbst sein, der als Schöpfer aller Seienden im Letzten auch alles Schöne erschafft.891 Wie bei Proklos besteht auch für Dionysius der Grundgedanke des Partizipationstheorems darin, dass das (ontologisch und prinzipientheoretisch gesehen) Niedere an den Vermögen der höheren Wesen lediglich teilweise partizipiere,892 und zwar dank einer durch engelhafte Zwischenwesen893 geleisteten Vermittlung.894 Dabei setzt Dionysius die von Proklos in allgemeiner Gültigkeit etablierte Dreierunterscheidung zwischen unpartizipierbarem Prinzip – partizipierfähiger Mitte – Partizipierendem erkennbar voraus,895 wobei er die Unpartizipierbarkeit mit dem Absoluten und Allerhöchsten, also dem christlichen Gott assoziiert: Aber als Selbst-Sein (autoeinai) und Selbst-Leben (autozôên) und Selbst-Gottheit (auto‑ theotês) bezeichnen wir zum einen nach Art des Prinzipienhaften, Göttlichen und Ursäch‑ lichen das eine überprinzipienhafte und überseiende Prinzip und die ebensolche Ursache von allem, nach Art des Partizipierten [sc. bezeichnen wir] zum anderen aber die aus Gott, dem Unpartizipierbaren, herausgesandten Vorsehungsvermögen (pronoêtikai dynameis) als die Selbstverwesentlichung (autoousiôsis), die Selbstverlebendigung (autozôôsis), Selbstvergöttlichung (autotheôsis), an denen auf ihnen spezifische Weise partizipierend 890 Vgl. zur Schönheit des Überschönen bei Dionysius und Plotin Halfwassen (2008 b: 201–2,
207).
891 Dies widerspricht nicht der Tatsache, dass Menschen als Künstler natürlich Schöpfer ihrer Kunstwerke sind (vgl. Drews 2011: 39). Denn die Entstehung eines sinnlich wahrnehmbaren Bildes oder Liedes oder auch eines geistig begreifbaren Romans setzt auf menschlicher Ebene klar die seelische Denkaktivität und Kunstfertigkeit voraus. Von Dionysius oder auch Proklos her besehen ist die denkerische bzw. kunstfertige Hervorbringung eines einzelnen Kunstwerks zwar das Werk der entsprechend tätigen Seele, welche sich dabei jedoch (durchaus unbewusst) an der (über‑)schönen Universalursache des Schönen orientiert und gewissermaßen durch ihre eigene Aktivität eine Partizipation an der Universalursache des Schönen ‚kanalisiert‘ und insofern verwirklicht. Die Universalursache des Schönen bzw. Gott wird hier also keineswegs überflüssig, obwohl die kreative Seele selbst Schöpfer des von ihr hervorgebrachten Kunstwerks ist. Damit wird jedoch zugleich der dimensionale Unterschied zwischen Seele und Gott deutlich: Während Gott (bei Dionysius) universaler Schöpfer aller Seienden (z. B. des Schönen, des Gerechten, aber auch der Seelen) ist, ist die seelische Kreativität auf die Hervorbringung partikulärer Werke eingeschränkt. 892 Vgl. u. a. EH 1; 64,23–65,8; CH 11; 42, 8–12; 9; 36, 23 f.; 11; 41, 9–19. 893 ‚Zwischenwesen‘ sind in diesem Kontext alle Wesen, die an einem (bzw. der Wirksamkeit eines) ihnen gegenüber höheren Wesen(s) – in erster Linie also an Gott selbst und seiner Wirksamkeit – partizipieren, jedoch selbst Prinzip sind für in Bezug auf sie niedriger stehende, sekundärere Wesen. ‚Zwischenwesen‘ partizipieren also sowohl an Höherem als auch wird an ihnen von niedriger Stehenden partizipiert (vgl. DN IV, 5; 184, 12–16 und 182, 4–6). 894 Vgl. zum Vermittlungsgedanken z. B. CH 13; 45, 14–18. 895 S. dazu oben Kap. III.c
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
die Seienden seiend, lebend, gotterfüllt sowohl sind als auch [sc. entsprechend] bezeichnet werden und das Übrige auf dieselbe Weise (DN XI, 6; 222, 13–18).
Dionysius unterscheidet hier Gott als die prinzipienhafte und unpartizipierte universelle Ursache und spricht ihm das Sein aus sich selbst, das Leben aus sich selbst und das Gottheit-Sein aus sich selbst zu, nicht ohne dies zugleich dahingehend zu präzisieren, dass diese Aussagen im Hinblick auf Gott noch übersteigert gedacht werden müssen im Sinne seiner transprinzipienhaften und überseienden Bestandhabensweise als Allerhöchster und als das Absolute. Denn auch den Vorsehungsvermögen, d. h. den Mächten, welchen die providentielle Aufsicht über alles Seiende obliegt, eigne eine Art des Seins und Lebens aus sich selbst und der Selbstvergöttlichung: Ähnlich wie bei Proklos die überseienden Henaden896 qua Henaden und analog auf der Ebene des wahren und unvergänglichen Seins auch die intelligiblen Ideen qua Ideen als aus sich selbst heraus bestehend bzw. als authypostatisch897 zu verstehen sind, weil es – prinzipientheoretisch gedacht – vor ihnen keine Henaden bzw. keine intelligiblen Ideen gibt, welche bereits in dieser Weise Henaden und Ideen wären (es gibt z. B. keine prinzipienhafte Ursache des Dreieckseins an sich vor bzw. über dem eidetischen Prinzip ‚Dreieck‘), so sind auch bei Dionysius die providentiellen Mächte als solche aus sich selbst heraus das, was sie sind. Die obige Passage lässt deutlich erkennen, dass damit indes keineswegs in Abrede gestellt sein kann, dass die Vorsehungsvermögen aus Gott, dem Unpartizipierbaren, selbst ihren Ursprung haben. Als aus ihm „herausgesandte“ Vermögen bzw. Mächte sind sie selbst aber auf primäre Weise genau diese, d. h., es gibt vor ihnen keine providentiellen Wesen, weshalb ihnen als solchen ebenfalls eine Art des Seins und Lebens aus sich selbst und der Selbstvergöttlichung zuzusprechen ist. Die entscheidende Differenz zwischen Gott selbst und den Vorsehungsvermögen besteht bei Dionysius – genau wie bei Proklos im Hinblick auf das überseiende Eine im Unterschied zu den überseienden Henaden respektive den wahrhaft seienden Ideen – darin, dass Gott bzw. das überseiende Eine selbst unpartizipierbar ist, während die aus ihm entspringenden Vorsehungsmächte bei Dionysius bzw. die Henaden bei Proklos partizipierbar sind. An ihnen partizipieren, wie Dionysius ausführt, alle Seienden. Proklos’ Methexis-Theorem (unpartizipierbares Prinzip – partizipierfähige Mitte – Partizipierendes) ist also klar vorausgesetzt und angewendet. Wenn anders als bei Proklos gemäß christlicher Tradition Gott mit dem Prinzip des Seins identifiziert wird, so vermag Dionysius auch dies noch im Einklang mit proklischer Metaphysik zu denken: In dem Sinne, dass ohne das Eine natürlich auch kein Sein wäre und nichts Lebendiges lebte, kann er Gott in der obigen Passage als Selbst-Sein und Selbst-Leben begreifen, jedoch auf über S. o. Kap. III.e. S. o. Anm. 377.
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steigerte Weise. Denn Gott bzw. dem Einen kann Sein und Leben nicht insofern abgesprochen werden, als dass ihm Sein und Leben mangelten, sondern höchstens insofern, als er qua absoluter Einshaftigkeit sogar die Ebene des Seins und des Lebens genau genommen noch transzendiert. In Hinsicht darauf, dass Gott jedoch Quell und Ursache allen Seins und allen Lebens ist, nennt Dionysius ihn Selbst-Sein und Selbst-Leben. Dies entspricht, wie oben gesehen, exakt seinem Verständnis von der universalen Ursache des Schönen, welche er als schön und überschön bezeichnet: ‚Schön‘ benennt das Prinzip des Schönen im Hinblick auf sein spezifisches Sein und seine entsprechende Ursächlichkeit für alles Schöne, ‚überschön‘ den Aspekt der Transzendenz, womit zugleich die Identifikation des (Über‑)Schönen selbst mit Gott als dem (Über‑)Seienden aufscheint, welcher gerade im christlichen Kontext als Schöpfer allen Seins natürlich auch Schöpfer des Schön-Seins ist. Dadurch, dass Gott gemäß Dionysius als überseiende Ursache von allem in absoluter Transzendenz verharrt und daher unpartizipierbar ist, die von ihm als erste hervorgesendeten und hervorgestrahlten Vorsehungsvermögen / -mächte aber – analog zur Rede über die vom Über-Schönen „geschenkten Anteilgaben an Schönheit“ (s. o.) – dieses sein überwesentliches Selbst-Sein und Selbst-Leben in die Partizipierbarkeit für alle anderen Seienden überführen, vermag Dionysius also zu begründen, warum einerseits Gott als dem überseienden Einen, andererseits aber den Vorsehungsvermögen auf jeweils unterschiedliche Weise (und somit ohne ein philosophisches Paradox) eine Art des Selbst-Seins und Selbst-Lebens zugesprochen werden kann. Proklos’ Methexis-Theorem dient Dionysius somit gerade dazu, Gottes Überseiendheit auch noch plausibel mit dem christlichen Verständnis von Gott als dem Sein schlechthin in Einklang bringen zu können.898 Allein mit Hilfe dieser differenzierten philosophischen Theologie kann Dionysius in De divinis nominibus ferner erklären, dass alle Seienden an dem Seinsquell, d. h. an Gott selbst als ganzem partizipieren.899 Dies lässt sich nicht nur im Sinne der Identifikation Gottes mit dem ‚Sein‘ (im Sinne des absoluten Seinsprinzips) bei Augustinus900 und Origenes901 interpretieren sowie mit dem wirkmächtigen
898 Dionysius scheint hier tatsächlich keinen philosophischen Selbstwiderspruch zu riskieren. Wenn er Gott Selbst-Sein und Selbst-Leben etc. zuspricht, ist dies vielmehr analog zu Plotins (enn. VI, 8) Ausführungen zu sehen, in welchen Letzterer dem absoluten Einen auch in einem bestimmten Sinne Freiheit positiv zuspricht, weil es philosophisch und theologisch unsinnig wäre, das Gegenteil zu behaupten: Würde Gott in seinem Gott-Sein und seinem Hervorbringen der Seienden als unfrei gedacht, wäre dies ein Fehlurteil, dem Plotin in differenzierter Weise vorbeugen will (vgl. Halfwassen 2004: 137–141). Analog ist auch für Dionysius Gott eben nicht unlebendig oder nicht-seiend, sondern ihm kann in positiver, kataphatischer Rede sinnvollerweise Selbst-Sein und Selbst-Leben zugesprochen werden. 899 DN II, 5; 129, 4–5. 900 S. o. Kap. IV.4 b. 901 S. o. Kap. IV.3 a.
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Bibelvers Exodus 3, 14902 zusammendenken, sondern zugleich hält Dionysius hier mit dem Gedanken, dass Gott seinen Geschöpfen zwar das „Sein schenkt“, nicht aber deshalb selbst schon mit dem absoluten Sein identisch sein muss, die Tür für Proklos’ neuplatonisches Gottes-Verständnis offen: Gott „ist auf überseiende Weise“,903 d. h. er ist, proklisch formuliert, das überseiende Eine und doch zugleich der christliche, trinitarische Gott.904 Damit vereint Dionysius Proklos’ neuplatonische Metaphysik und die christliche Lehre von der Wesensgleichheit der drei trinitarischen Personen, indem er das nizänische Homoousios von der Ebene des reinen, absoluten Seins auf die neuplatonisch noch übersteigerte Sphäre des überseienden Einen transponiert, also als ‚Überwesensgleichheit‘ denkt,905 ohne indes Proklos’ sich an Platons Parmenides anschließende Differenzierung zwischen dem absoluten, überseienden Einen und dem seienden Einen ersatzlos aufzugeben.906 Im Sinne eines interreligiösen Dialogs vermag Dionysius zwischen einer Theologie, welche Gott mit dem Seinsprinzip identifiziert, und einer Theo902 S. o. Anm. 823. Zu Ex 3, 14 bei Origenes (princ. I, 3, 6; 56,19–57,11; I, 3, 7; 59, 4–7) s. o. Kap. IV.3 a. 903 DN II, 11; 136, 1–4. 904 S. dazu speziell Drews (2011: 353–364). 905 Vgl. dazu oben Kap. IV.4 b. Für Dionysius sind alle drei trinitarischen Personen Gottes dem Bereich des reinen Seins überseiend transzendent (DN II, 8; 132, 10–13). Vgl. de Andia (1996: 41) dazu, dass Dionysius Gottes trinitarische ‚Überseiendheit‘ der Sache nach mit dem Aspekt der Wesensgleichheit zwischen Vater und Sohn (homoousios) zusammendenkt, auch wenn diese Wesensgleichheit nicht spezifisch auf der Ebene der ousiai ein ‚Wesen‘, sondern Überwesensgleichheit meint: „La doctrine de Denys est cohérente: son silence sur le ‚consubstantiel‘ ne signifie pas qu’il ne confesse point le symbole de Nicée, mais qu’il ne veut pas employer le terme de ‚consubstantiel‘ car il a vu la contradiction entre l’hyperousios et l’homoou‑ sios.“ Vgl. aber auch Dionysius’ Rede vom Vater als „Quell der Gottheit“ (vgl. in ähnlicher Weise Origenes, s. o.. Kap. IV.3 b) und vom Sohn und Geist als „sog. Sprösse“ der Gottheit (DN II, 7; 132, 1–2). Zur Stelle vgl. Wear / Dillon (2007: 38–39); zur Gleichheit und Gleichberechtigung aller drei trinitarischen Personen vgl. dies. (ibd., 48), de Andia (1996: 40 ff.) sowie Beierwaltes (1994: 218), welcher jedoch die Abwesenheit des „orthodoxen“ homoousios-Begriffs herausstellt, aber dennoch unterstreicht, es sei „nicht hoch genug einzuschätzen, daß er [sc. Dionysius] die göttliche Einheit als eine erste und absolute dennoch trinitarisch sein läßt, ihre Dreiheit aus der Einheit ‚herleitet‘, oder die Einheit als in sich relationale Dreiheit entfaltet“ (ibd., 211): Zumindest „verträgt“ sich Dionysius’ Trinitätstheologie „mit der bisherigen ‚orthodoxen‘ Entwicklung des Trinitätsdogmas“ (ibd., 212). 906 So aber Suchla (2008: 91–92); nicht unähnlich Beierwaltes (1994: 212). Zur kritischen Auseinandersetzung in dieser freilich keineswegs einfachen Frage vgl. meine Ausführungen in Drews (2009: 353 ff.): Dionysius lässt m. E. deutlich erkennen, dass er zwischen Gottes (auch trinitarischer) Überseiendheit einerseits und seinem seinsschaffenden Wesen andererseits unterscheidet. D. h., für sich selbst genommen denkt Dionysius Gott klar als das überseiende Eine, welches mit dem christlichen drei-einigen Gott identisch ist, während Gott als Schöpfer die Ebene des Seins hervorbringt und insofern auch selbst qua Gott ein ‚seiendes‘ bzw. seinsschaffendes Wesen besitzt. Vgl. Beierwaltes (1994: 42–43): „[D]er Gottesname ‚Sein‘, verbürgt durch Gottes Selbstaussage in Exodus 3, 14 ‚Ich bin der ich bin‘, ist aber als Index von Sein im eminenten Sinne durchaus kompatibel mit ‚Über-Sein‘ zu denken“; „Der trinitarische Selbstaufschluss Gottes gibt jedoch dessen Einheit nicht preis, sondern macht sie zu einer sich selbst durch Reflexion gegenständigen Einheit.“
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logie, welche ihn qua Ursache des Seins noch dem Sein gegenüber transzendent denkt, zu vermitteln und beide zusammenzuschauen: Es kommt jeweils darauf an, auf welchen Aspekt man (im Sinne einer epiboulê) „zugreift“ – entsprechend ergeben sich philosophisch-theologische Unterschiede, die jedoch aus Dionysius’ Perspektive nicht unüberbrückbar, sondern miteinander vermittelbar sind. Oben wurde bereits erwähnt, dass in einem bestimmten Sinn die Seienden an Gott als dem Seinsquell qua ganzem partizipieren. Tatsächlich scheint Dionysius dabei der Sache nach auch Proklos’ subtile Differenzierung zwischen der Teilhabe am Ganzen und am Teil eines Prinzips vorauszusetzen:907 Denn wir sagen, dass die letzten [sc. Ordnungen] hinter dem universalen und transzendenten Vermögen (dynamis) der älteren [= sachlich früheren, prinzipienhafteren] Ordnungen zurückbleiben; denn an dem partikulären und [sc. für sie als Partizipierende in spezifischer Weise] proportionalen [sc. Vermögen] haben sie Anteil gemäß der einen, in Übereinstimmung mit allen und [sc. sie alle miteinander] verbindenden Gemeinschaft (CH 12; 42, 18–20).
Dionysius reflektiert hier zunächst den Unterschied zwischen universalen Wesen höherer Seins‑ und Prinzipienordnungen, die einen (seinsspezifisch-eidetischen) Sachgehalt in höchster Geeintheit umfassen und nichts als dieser selbst sind, und den niederen Wesen, welchen eine partikuläre, eingeschränkte Seinsweise zukommt: Letztere stellen, wie oben am Beispiel ‚Dreieck‘ gesehen,908 nur eine ausschnitthafte Verwirklichung einer Sache dar, aber eben eine solche, die mit dieser Sache als ihrer prinzipienhaften Ursache in einem bestimmten Zusammenhang steht. In diesem Sinn spricht Dionysius einmal von der universalen dynamis, gleich im Anschluss aber von der partikulären: Auch die sprachliche Ellipse (das Wort dynamis fällt im Griechischen hier nicht noch einmal) macht deutlich, dass es sich um dasselbe Vermögen handeln muss, welches auf höherer Ebene in universaler, auf niederer Weise jedoch nur in partikulärer Weise seinen Bestand hat. Es handelt sich also um eine Gemeinsamkeit, um dasselbe, allgemeine (universale) Wesen und einen selbigen Sachunterschied, welcher Ursache ist für die Möglichkeitsbedingung einer vereinzelt-instantiierten Existenzweise einer bestimmten Sache. Proklos hatte es mit philosophischer Prägnanz so auf den Punkt gebracht, dass eine Teilhabe am Ganzen einer Sache, an dem wesensspezifischen, selbigen und unteilbaren Unterschied, realisiert sein muss, wenn etwas wirklich Instanz von etwas Einheitlich-Bestimmtem ist. Bedenkt man diesen sachlichen Hintergrund, so scheint hinter den oben zitierten Worten von der Anteilhabe „gemäß der einen, in Übereinstimmung mit allen und [sc. sie alle miteinander] verbindenden Gemeinschaft“ die wesensbestimmende und insofern ‚ganz(heitlich)e‘ Gemeinsamkeit zwischen Prinzip und Instanz auf, während die partikuläre und proportionale Anteilhabe den Unterschied der auf S. dazu oben Kap. III.c S. o. Kap. II.5 b und III.c.
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einschränkend-teilhafte Weise realisierten Partizipation an diesem gemeinsamen Ganzen benennt, welche die Beziehung des Niederen in Relation zum Höheren charakterisiert. Prägnant interpretiert, enthalten Dionysius’ Ausführungen also dieselbe Differenzierung zwischen der Anteilhabe am Ganzen und am Teil eines Seinsprinzips. Wenn oben davon die Rede war, dass das Niedere am Höheren teilhabe, so muss in ergänzender Differenzierung zu diesem Grundtenor hinzugefügt werden, dass Dionysius – und auch hier besteht lediglich ein perspektivischer, nicht aber systematischer Unterschied zu Proklos – auch das Umgekehrte sagt, dass nämlich das Höhere am Niederen partizipiere.909 Damit wird nun nicht in paradoxer Weise zugleich das Gegenteil zu den obigen Ausführungen behauptet, sondern nur dasselbe in umgekehrter Blickrichtung unterschieden: Denn Dionysius meint, dass das Höhere die eingeschränkten, partikulären Seinsweisen und Vermögen des Niederen in prinzipienhafter Weise enthält.910 ‚Enthalten‘ bedeutet aber, dass in ihnen als Prinzipien mehr bzw. ein höheres Seinsvermögen besteht als nur eine partikuläre Seinsweise. Wenn Dionysius also sagt, das Höhere partizipiere am Niederen, so ist damit nicht eine einschränkende / eingeschränkte Teilhabe gemeint, wie sie für eine partikuläre Instanz charakteristisch ist, die an ihrem Prinzip partizipiert, sondern dass die partikuläre Seinsweise der Instanz unter anderem auch in der Seinsfülle des Prinzips mitenthalten ist. Die Teilhabe einer Instanz an ihrem Prinzip bedeutet dagegen immer eine Abhängigkeitsrelation911 des Prinzipiierten von seinem Prinzip, weil ersteres nicht ohne Letzteres sein kann, während dies umgekehrt möglich ist. b) Polytheismus im Dienst des Monotheismus? Der exklusive Gott und die Vielheit der an ihm Anteil Gewinnenden sowie die Basis eines interreligiösen Dialogs bei Dionysius Wie gezeigt, denkt Dionysius einerseits das christliche Homoousios, wie es etwa bei Augustinus912 greifbar ist, mit dem neuplatonischen Hyperousion913 zusammen: Gottes trinitarische Wesensidentität wird in platonischer Übersteigerung mit dem absoluten, überseienden hen identifiziert. Dabei nutzt Dionysius Proklos’ Partizipationstheorem914 und begründet die absolute Transzendenz Gottes mit dessen Unpartizipierbarkeit, welche jedoch durch die von Gott ausgehenden, Vgl. CH 11; 41, 11–13; ebenso 5; 25, 9–11; ferner 11; 41, 15; 12; 42, 13–14. Die höheren, universellen Wesen, insofern sie Prinzip einer Sache sind, umfassen immer auch die Vermögen der geringeren, partikuläreren Wesen, die von ihnen – als den höheren Wesen – instantiiert werden. Umgekehrt gilt dies nicht: Die partikulären Wesen verwirklichen nur eine bestimmte, gesonderte Seinsmöglichkeit der universellen Wesen (DN XII, 4; 225,20–226,6). 911 Vgl. Radke (2003: 223, mit Anm. 300 und 301). 912 S. o. Kap. IV.4 a–b. 913 S. o. Kap. II.5 c und Kap. III.d. 914 S. o. Kap. III.c. 909 910
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partizipierbaren Vermittlungsinstanzen („Vorsehungsmächte / -vermögen“915) ihre produktive Entfaltung in der Schöpfung der Seienden findet. Während Dionysius also einerseits eine direkte Partizipierbarkeit von dem trinitarischen Gott, insofern dieser für sich selbst genommen das Absolute ist, fern hält, unterscheidet sich seine Theologie in einem zentralen Punkt von der des Origenes, welcher Christus qua Gott-Logos sowohl selbst an der Gottheit Gott-Vaters als dessen erstes Abbild partizipieren lässt wie auch zu der partizipierfähigen Mittlerinstanz schlechthin für alle an Gott Partizipierenden macht.916 Obwohl Dionysius’ Theologie also in einem entscheidenden Aspekt von der origenischen einerseits differiert, eint beide Theologen andererseits ein wesentlicher Grundgedanke: Die Öffnung des exklusiv zu verstehenden absoluten, einen, trinitarischen Gottes in die Vielheit der an ihm Anteil Gewinnenden mittels eines in den Monotheismus integrierten oder doch wenigstens integrierbaren, diesem gleichwohl subordinierten Polytheismus: Finden wirst Du aber, dass die Theologie [d. h. die Heilige Schrift]917 die sowohl himmlischen als auch uns transzendierenden Wesen sowie die Menschen, welche bei uns am meisten Gottliebende und Heilige sind, auch ‚Götter‘ (theoi) nennt; und doch ist das thearchisch-gottesherrschaftliche918 Geheimnis (kryphiotês) auf überseiende Weise (hyper‑ ousiôs) allen gegenüber sowohl transzendent, als auch besitzt es jenseits [sc. von ihnen] seinen Grund, und nichts von den Seienden kann ihm auf herrlichste919 und universalvollgültige (holikôs) Weise ähnlich genannt werden. Indes, alles, was sich von den sowohl intellektual-noerischen920 wie auch rationalen [sc. Wesen] zur Einung (henôsis) mit ihm [d. h. mit Gott / Gottes Geheimnis], soweit möglich, ganz hingewendet hat und sich zu seinen göttlichen Erleuchtungen, soweit es erreichbar ist, unablässig emporstreckt, ist durch die nach Vermögen [sc. erfolgende] Gottesimitation (theomimêsia) – wenn es theologisch erlaubt ist (themis), so zu sprechen – auch der göttlichen Gleichnamigkeit (homônymia) gewürdigt (CH, 12; 43, 12–19).
Dionysius zögert nicht, jeglichem theologischen Missverständnis vorzubeugen: Die „Gleichnamigkeit“ mit Gott, d. h. die sich von Gott herleitende Bezeichnung ‚Götter‘, welche denjenigen Wesen zuerkannt wird, die Gott ganz und gar zugewandt sind und insofern eine „Gottesimitation“ erreichen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wesensmäßig und von Natur aus nur ein Gott ist. Dionysius spielt zwar allgemein auf Schriftpassagen an, die polytheistische Aspekte 915 S. o.
Kap. IV.5 a. S. o. Kap. IV.3 b. 917 Zu Dionysius’ von dem heute gebräuchlichen stark divergierenden Theologie-Verständnis vgl. Drews (2011: 106, Anm. 253): Die Heilige Schrift selbst ist für ihn Theologie. D. h. nicht erst die sekundär zur Bibel hinzutretende ‚Auslegung / Interpretation‘ verdient den Titel ‚Theologie‘, sondern primär ist die Schrift selbst die Theologie, was freilich eine philosophische Betrachtung der Bibel gerade nicht ausschließt. S. in gleicher Weise Eriugena, periph. III, 632 a; 56, 1 (zu Eriugena vgl. unten Kap. IV.7). 918 Zum Begriff thearchia und seiner Übersetzung vgl. Drews (2011: 28, Anm. 61). 919 Zur Übersetzung des Adverbs kyriôs s. o. Anm. 453. 920 Zum Begriff des Noerischen s. o. Anm. 322 und 349. 916
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zeigen,921 und sieht den Gebrauch der Bezeichnung ‚Götter‘ insofern theologisch gerechtfertigt. Der Duktus der Passage und vor allem die sofort erfolgende und viel ausführlicher ausfallende Begründung, weshalb es der Sache nach nur einen tatsächlichen Gott geben könne, weisen den polytheistischen Gedanken sofort in unmissverständliche Schranken. Wenn man daran denkt, wieviel Gewicht sowohl die biblische wie auch die neuplatonische Tradition auf die absolute Transzendenz des absoluten, einen Gottes legen, dann sind Dionysius’ Ausführungen sicher nicht nur ein Zugeständnis an eine christliche ‚Orthodoxie‘, sondern auch philosophisch ernst zu nehmen. Die Gottesimitation konzipiert Dionysius strikt neuplatonisch als intellektive Einung der intellektual bzw. rational begabten Wesen mit dem „Geheimnis Gottes“. Wenngleich gemäß Dionysius der Name ‚Gott‘ wesensmäßig nur dem christlichen, drei-einigen Gott vorbehalten ist und die „himmlischen und uns transzendierenden Wesen“ nur im uneigentlichen Sinne ‚Götter‘ genannt werden, insofern sie von dem einen Gott erleuchtet und zu ihm hingewendet sind, so eröffnet Dionysius’ Angelologie, d. h. die dreimal drei Engelsordnungen der von ihm explizierten Himmlischen Hierarchie,922 doch auf einer Gott selbst strikt untergeordneten Ebene die Möglichkeit, polytheistische Aspekte verwandelt in seine Theologie zu integrieren. Dies entspricht einerseits völlig der schöpferischen Entfaltung des absoluten, überseienden Einen, d. h. des allerhöchsten Gottes, in die Viel-Einheit des Seins und die Vielheit der Seienden bei den Neuplatonikern: Proklos etwa verwendet, wie gesehen,923 erhebliche philosophische Mühe darauf, bereits den Hervorgang des seienden Einen (hen on, als Inbegriff aller sich später in die Vielheit der Seienden entfaltenden Seins-Einheit) aus dem überseienden, absoluten Einen (hen hyperousion) mittels seiner Henadenlehre bruchlos zu erklären. ‚Die‘ Henaden sind selbst, wie oben gezeigt, noch keine Vielheit im eigentlichen Sinne, sondern ‚nur‘ die aus der Überfülle des überseienden, absolut transzendent-unpartizipierbaren Einen selbst hervorgestrahlte partizipierfähige, höchste Vermittlungsstufe, welche die produktive Entfaltung des überseienden Einen erst ermöglichen. Während Proklos jedoch nicht zögert, mit den Henaden die Bezeichnung ‚Götter‘ im Plural zu assoziieren und so den Polytheismus im vollgültigen Sinne einer Götter-Vielheit dem absoluten Einen als dessen naturgemäße Entfaltung unterzuordnen,924 scheint Dionysius andererseits – und hier beweist er seine christliche Identität – jegliche Vielheit himmlischer Wesen auf die Stufe der Engel zu verlegen, welche dagegen bei den paganen Platonikern im Rahmen der zwischen Göttern und Menschen vermittelnd tätigen daimonischen Wesen Dazu s. o. Kap. IV.2.3. einen kurzen, schematischen Überblick der einzelnen Ordnungen mit weiteren Literaturverweisen vgl. Drews (2011: 10 f.). 923 S. o. Kap. III.e. 924 S. o. Kap. III.g. 921
922 Für
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unterhalb der Ebene der vielen Götter anzusiedeln wäre.925 So wird zwar aus dem Polytheismus ein Poly-Angeloismus, aus den Henaden werden Engel,926 jedoch bleibt im theologischen System des Dionysius grundsätzlich eine wie auch immer geartete Vielheit göttlich-engelhafter Wesen ohne Weiteres nicht nur integrierbar, sondern sogar fest verankert: Dies ermöglicht die völlige Anschlussfähigkeit an den paganen, vermeintlich ‚polytheistischen‘ Platonismus und bietet – ähnlich wie bei Origenes und auch Augustinus – im Kontext eines interreligiösen Gesprächs zugleich eine philosophisch begründete Dialogfähigkeit.927 Wenn Origenes sich scheinbar weniger scheut, davon zu sprechen, dass ‚viele Götter‘ aufgrund ihrer Anteilhabe an Christus denkbar erscheinen, so betont er doch unmissverständlich, dass die vielen Götter nur als sekundäre Abbild-Götter einzustufen sind.928 In grundsätzlicher Ähnlichkeit hatte auch Augustinus bestritten, dass die sog. Götter ihr Gott-Sein aus sich selbst beziehen könnten (im Unterschied zur pagan-platonischen Auffassung). Solange dies gewissermaßen ‚klar‘ sei, müsse man sich nicht über bloße Worte streiten, und die Rede von vielen (uneigentlichen) ‚Göttern‘ wäre unproblematisch.929 In gleicher Weise unterstreicht Dionysius: Wenn es viele Götter gibt, dann nur aufgrund der Tatsache, dass sie ihr Gott-Sein aus der Erleuchtung durch den einen Gott beziehen, also in sekundärer Weise ‚Götter‘, im Grunde aber Engel sind. Die vielen Engel haben bei Dionysius erkennbarerweise die Funktion, auch die Vielheit der Menschen innerhalb bestimmter Gruppen bzw. Völker zu einen: Deshalb hat die Theologie [d. h. die Heilige Schrift] die uns gemäße, zum Heiligen hinführende Prinzipienordnung (hierarchia930) Engeln zugeteilt, indem sie Michael931 zum [sc. engelhaften] Fürsten (archôn) über das jüdische Volk (laos) benannte und andere [sc. Engel zu Fürsten] über andere Völker (ethnê). Denn ‚gesetzt‘ hat der Höchste ‚die Grenzen der Völker gemäß der Zahl der Engel Gottes‘ (Dt 32, 8 [LXX]) (CH 9; 37, 13–16).
Bestimmten Völkern hat Gott also gemäß Dionysius auch bestimmte Engel zugeordnet. Diese Auffassung impliziert unmittelbar den kritischen Einwand, Grundsätzlich zur Rolle der daimones im Platonismus s. o. Kap. II.4.1. Vgl. die Rede von hai athanatoi tôn angelikôn henadôn zôai (DN VIII, 5; 202, 11). Zum Verhältnis von Proklos’ Henaden und Dionysius’ Engeln vgl. Bernard (1990: 106) und Wear / Dillon (2007: 73). 927 Dass gerade Dionysius noch heute als Vermittler zwischen polytheistischen Religionen und Christentum fungieren könnte, hat in seiner Amtszeit bereits Papst Benedikt XVI. in seiner „Öffentlichen Katechese über Dionysius Areopagita, gehalten am 14. 5. 2008 in Rom“ betont, die in Teilen als Anhang (24) abgedruckt ist bei Suchla (2008: 259–261). Benedikt streicht zu Recht Dionysius’ Ablehnung von Polemik in dessen siebtem Brief heraus (ibd., 260). 928 S. o. Kap. IV.3 b. Vgl. Thümmel (2011: 244) dazu, „daß für Origenes und seine Zeitgenossen sich zwischen Gott und der sichtbaren Welt nicht nur Christus befindet, sondern ein vielfach gestuftes Geisterreich.“ 929 S. o. Kap. IV.4 a. 930 Zum Begriff hierarchia in Abgrenzung zu modernen Missverständnissen und negativen Konnotationen vgl. Drews (2011: 80). 931 Vgl. Dan 10, 13+21. 925 926
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warum dann nicht alle Völker durch die sie beaufsichtigenden Engel zur Gotteserkenntnis geführt würden. Dionysius antwortet folgendermaßen: Wenn aber jemand sagen sollte: ‚Und warum wurde allein das Volk (laos) der Hebräer zu den thearchisch-gottesherrschaftlichen Erleuchtungen geführt?‘ Dann ist zu antworten, dass nicht die zielgerichteten Aufsichten der Engel zu beschuldigen sind für das Abirren der anderen Völker (ethnê)932 zu den nicht-seienden Göttern, sondern jene [sc. Völker] selbst, die durch ihre eigenen Neigungen von dem zielgerichteten Aufstieg (anagôgê) zum Göttlichen abgefallen sind durch Eigenliebe und Selbstgefälligkeit […]. Und weder nämlich haben wir ein determiniertes (ênankasmenê) Leben, noch werden wegen der Willensfreiheit (autexousiotês) derer, denen die göttliche Vorsehung gilt (pronooumenoi), die göttlichen Lichter der vorsehungshaften Erleuchtung geschwächt, sondern die [sc. im Verhältnis zum Göttlichen bzw. der göttlichen Vorsehung bestehende] Unähnlichkeit der intellektualen Augen macht die übervolle Lichtgabe der väterlichen Gutheit entweder gänzlich unpartizipierbar (amethekton) und gegenüber ihrer Widerständigkeit (antitypia) unmitteilbar oder ruft verschiedenartige – kleine oder große, dunkle oder helle – Partizipationsformen (metousiai) des einen und einfachen und immer sich auf dieselbe Weise verhaltenden und in Übereinfachheit transzendenten, quellhaften Lichtstrahls hervor (CH 9; 37,17–38,10).
Im Hinblick auf eine Dialogfähigkeit zwischen verschiedenen Religionen und Philosophien bewahrt Dionysius hier in eindrucksvoller Weise die Balance zwischen dem Erwählungsgedanken des jüdischen Volkes, wie er von der Hebräischen Bibel bzw. dem Alten Testament bezeugt wird,933 einerseits und dem Gerechtigkeitsaspekt Gottes andererseits. Weder ebnet Dionysius den Unterschied zwischen dem erwählten Volk Israel und den übrigen Völkern ein,934 noch sind in seiner Perspektive Letztere im Hinblick auf ihre Gotteserkenntnis von vornherein, d. h. ungerechterweise benachteiligt. Auf der Basis seiner Angelologie betrachtet Dionysius vielmehr die Erwählung Israels durch Gott im Einklang mit dessen Gerechtigkeit und steht so zugleich auf dem Boden neutestamentlicher Theologie, wenn z. B. der Apostel Paulus den Gedanken einer möglichen Ungerechtigkeit Gottes als absurd zurückweist.935 Die Annahme nämlich, dass dem Engel Michael die Aufsicht über das jüdische Volk obliege, trägt der spezi‑ fischen Erwählung Israels Rechnung, denn andere Völker seien anderen Engeln zugeteilt. D. h., die verschiedenen Völker finden gemäß Dionysius’ Theologie auch bei verschiedenen Engeln ihren Schutz, so dass in diesem Kontext eine differenzierte Erwählung denkbar erscheint und doch alle Völker grundsätzlich gleichermaßen an einer göttlichen Obhut936 teilhaben. Dieses Resultat darf im 932 Bei der Gegenüberstellung von laos vs. ethnos schwingen natürlich die Konnotationen des auserwählten Volks (laos) bzw. der heidnischen Völker (ethnê) mit. 933 Vgl. Dt 7, 6; 14, 2; 1 Kö 3, 8; Ps 65, 5; 132, 13; 135, 4; Hes 20, 5. 934 So aber Brons (1976: 59) in seiner Dionysius-Interpretation. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Brons s. Drews (2011: 276, Anm. 595). 935 Vgl. Rö 9, 14. 936 Diesbzgl. sei im Rahmen einer sich vorrangig platonischen Autoren widmenden Untersuchung an die berühmte Passage bei Platon, Phd. 62b3–4 erinnert. – Das Argument, den vielen Völkern seien spezifische Kulte und Engel zugeteilt, findet sich z. B. auch schon bei Sym-
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Sinne eines interreligiösen Dialogs als starkes Argument dafür gewertet werden, dass sowohl die eigene Religion ohne Abstriche vertreten wie auch den Religionen anderer Völker in theologisch sinnvoller Weise ein bestimmtes Eigenrecht zuerkannt werden sollte. Dieses Argument zielt der Sache nach in dieselbe Richtung wie das (später von Cusanus aufgegriffene) Argument des nicht-christlichen Mittelplatonikers Apuleius, dass den verschiedenen Kulten Respekt und Glaube (fides) entgegengebracht werden müsse.937 Indes läuft dieser Toleranzgedanke nicht auf ein religiöses Einerlei hinaus. Denn Dionysius’ Überzeugung, unterschiedliche Völker seien auch der Obhut unterschiedlicher Engel anvertraut, wahrt zwar den Aspekt der göttlichen Gerechtigkeit, trägt aber zugleich auch der Verschiedenheit von Menschen und Völkern Rechnung.938 Den verschiedenen Engeln in ihrer Aufsicht über verschiedene Völker sei es wiederum gemeinsam, ihre Schützlinge „zielgerichtet“, d. h. auf den einen wahren Gott hin zu orientieren. Würde christlich-platonischer Theologie ein deterministisches Weltbild zugrunde liegen, gemäß welchem die Menschen folglich nur Marionetten Gottes und seiner Engel wären, dann müssten Dionysius’ Ausführungen spätestens an diesem Punkt zum Scheitern verurteilt sein: Wenn alles an der Eigenart der verschiedenen Engeln hinge, warum sollten dann einige Völker oder Menschen nicht den Weg zu Gott finden? Dionysius weist jedoch explizit darauf hin, dass „wir“, d. h. die Menschen, „kein determiniertes Leben haben“. Innerhalb der göttlichen bzw. durch Engel vermittelten Obhut besteht ein echter, nicht nur scheinbarer Entscheidungsfreiraum,939 welchen Menschen so oder so nutzen können. Ein menschliches Marionettendasein wäre für Dionysius offenbar weder platonisch noch christlich zu rechtfertigen. Je nachdem, wie also der Freiraum der Kontingenz genutzt werde, könne es Verfehlungen940 bzw. ein „Abirren“ zu falschen, „nicht-seienden Göttern“ geben, und dies sei nicht auf die mangelhaft wahrgenommene Verantwortung der Engel zurückzuführen, sondern auf die den Menschen eigene Willens‑ und Handlungsfreiheit: Der Aufstieg zu Gott und zum Göttlichen ist dem Menschen in seiner Seele und letztlich in seinem Intellekt als ultimatives Ziel in Aussicht gestellt, weil Gott platonisch-christlich als das Gute in Person941 die Erfüllung allen seelischen Strebens ist. Verfehlt machus – also auf nicht-christlicher Seite – im Streit um den Altar der Victoria (vgl. Döpp 2009: 95 und Tränkle 2009: 167). 937 Apuleius, DDS 14 [148]. Zitiert oben am Ende von Kap. II.4.2 b. 938 Dies entspicht dem platonischen Grundsatz, Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. leg. 757 a). 939 Zum Freiheitsgedanken bei Dionysius vgl. Drews (2011: 118–131). 940 Zum Verfehlen des Guten, d. h. zur Wegbewegung vom Guten als genereller Ursache des Bösen, welches somit ontologisch-prinzipientheoretisch nicht primär sein kann, vgl. am Beispiel von Augustinus, Proklos, Apuleius und John Milton Drews (2009). 941 Vgl. Proklos, ETh 133 (s. o. Kap. III.e). Zur Gutheit Gottes im Platonismus s. o. Kap. II.2, III.c–e, im Christentum s. o. Kap. IV.3 b, IV.4 b.
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werde dieser Aufstieg durch „Eigenliebe und Selbstgefälligkeit“, mit welcher ein Mensch sich selbst verabsolutiert und den offenen Blick auf und für Gott verliert. Obwohl die Entscheidungsfreiheit (autexousiotês) also uneingeschränkt von Dionysius verteidigt wird, bedeutet dies umgekehrt gleichwohl nicht, dass eine Abkehr des Menschen von Gott und seinen Erleuchtungen diese „göttlichen Lichter“ ihrer Wirksamkeit berauben könnte: Das göttliche Licht bleibt Licht und kann nicht pervertiert werden. Wenn die Erleuchtung zum Guten ausbleibt, dann sei auch dies vielmehr auf eine Abkehr der Geschöpfe von Gottes Licht zurückzuführen. Wendet sich das Auge des Intellekts vom göttlichen Licht ab, wird es diesem unähnlich, so dass es dieses entweder gar nicht mehr zu schauen vermag und insofern bewirkt, dass Gottes Licht ihm unzugänglich, „unpartizipierbar“ wird, oder es kommt zu unterschiedlichen Spiegelungen dieses Lichts,942 welches selbst in transzendenter „Übereinfachheit“ unveränderlich verharrt. Nun könnte es vielleicht unterschwellig so scheinen, als ob „die anderen Völker“ (außer Israel) eben doch durch ihr Abirren grundsätzlich alle von Gottes Wahrheit getrennt seien. Gegen diesen Verdacht führt Dionysius seine eigene Herkunft sowie die des Melchisedek als Gegenargumente ins Feld: Denn weil ja den übrigen Völkern – aus welchen auch wir emporkamen zu dem allen bereitwillig und weit943 zur Anteilgabe (metadosis) geöffneten, sowohl unendlichen (apeiron) wie auch neidlos-überfließenden (aphthonon) Meer des thearchisch-gottesherrschaftlichen Lichtes – nicht irgendwelche fremden Götter vorstanden, sondern eines das herrschaftliche Prinzip (archê)944 aller [sc. Völker ist] und [sc. weil] zu diesem [sc. Prinzip] die Engel, welche über jedem Volk den Dienst der zum Heiligen hinführenden Prinzipienordnung versehen (hierarchountes), alle Nachfolgewilligen (hepomenoi) führten, [sc. deshalb] ist Melchisedek zu begreifen als Hohepriester (hierarchês), als ein dem Sein nach945 Gott-Liebendster (philotheôtatos), nicht von nicht-seienden [sc. Göttern], sondern des auf wahrhaftig-seiende Weise (ontôs)946 seienden höchsten Gottes. Und nicht einfach so nämlich haben die Gotteskundigen (theosophoi) Melchisedek nicht nur gott-liebend, 942 Vermutlich können diese gemäß Dionysius qualitativ unterschiedlich zu bewerten sein: Unterschiedliche Spiegelungen könnten z. B. partikulär-adäquat, partikulär-überzogen, partikulär-mangelhaft ausfallen. Ob man in diesem Kontext sachlich z. B. an Origenes’ Rede vom „distinguierten Fehler“ einiger Menschen bei ihrer kultischen Verehrung der Gestirngötter (in Jh. II, 3, 27; s. o. Kap. IV.3 b) denken darf? 943 Wegen der deutschen Syntax sind die beiden Adverbien hier zusammengezogen; im Griechischen ist grammatisch-formal nur hetoimôs Adverb, ana‑ adverbielles Präfix in ana‑ peptamenon. 944 Ich ergänze ‚herrschaftlich‘ in der Übersetzung, um anzudeuten, dass mit ‚Prinzip‘ bei Dionysius nie etwas Abstraktes (etwa im kantischen Sinne) gemeint ist, sondern ein lebendiges, göttliches Wesen. Außerdem klingt bereits hier mit dem Wort archê an, woraufhin der gesamte Satz zusteuert: auf die the-archia, d. h. Gott selbst als höchstes ursächliches Prinzip allen Seins und aller Seienden. 945 Aufgrund der im Folgenden nachdrücklich betonten Gegenüberstellung von Seiend vs. Nicht-Seiend scheint mir auch der Zusatz onta im Griechischen von Dionysius prägnant gewählt zu sein und wird deshalb in der Übersetzung nicht (wie sonst üblich bzw. möglich) unterschlagen. 946 Wahrheit geht nach griechischem Verständnis bereits seit Parmenides (s. o. Kap. II.1; vgl. Drews 2012 a) immer auf das, was wirklich und wahrhaft ist. Sein kommt aber nur vollgültig
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sondern auch Priester genannt, als um den Verständigen in aller Deutlichkeit947 erkennbar zu machen, dass er sich nicht nur selbst zu dem auf wahrhaftig-seiende Weise seienden Gott hingewendet hatte, außerdem aber als Hohepriester (hierarchês) auch anderen den Aufstieg zu dem wahrhaftigen und alleinigen gottesherrschaftlichen Prinzip (thearchia: d. h. zu Gott selbst) zeigte (CH 9; 38, 10–20).
Dionysius ist selbst als Grieche einer aus den sog. „Heidenvölkern“, d. h. einer von „den anderen“, und hat doch den Weg zu Gottes Licht gefunden. Dies erklärt er damit, dass den „übrigen Völkern“ eben keine wirklich anderen Götter „vorstanden“, sondern ein und derselbe Gott wie der des hebräischen Volkes. Damit geht Dionysius nun gleichsam umgekehrt den Weg von der Integration des Polytheismus bzw. Polyangeloismus in den Monotheismus zurück: Die Vielheit der Völker und der ihnen zugeordneten Engel wird zum einen bejaht und sogar stark gemacht, jedoch ist diese Vielheit nicht auf eine Pluralität mehrerer Götter im Vollsinn des Begriffs zurückzuführen. Dionysius argumentiert hier gleichsam mit den Platonikern gegen sie selbst: Auch ein Proklos würde nicht den monotheistischen Aspekt in Abrede stellen, dass selbstverständlich nur das Eine-Gute allerhöchster, einziger Gott sein kann. Dass es, ihm subordiniert, aber überhaupt keine Götter im Sinne aus sich selbst heraus bestehender Wesenheiten geben solle, würde Proklos z. B. zusammen mit Apuleius geradezu vehement bestreiten.948 In grundsätzlicher Ähnlichkeit mit Augustinus macht Dionysius den platonischen Primat des Einen vor dem Vielen949 gewissermaßen so stark, dass auf der höchsten Ebene der Theologie alle vielheitlichen Wesen nur als dimensional von Gott als dem überseienden Einen geschieden begriffen werden können. Ebenfalls in Übereinstimmung mit Augustins Position eignet den Engeln bei Dionysius daher kein Bestreben, für sich selbst kultische Verehrung zu beanspruchen,950 denn sie sind als Engel – d. h. als Boten bzw. Botschafter Gottes – bestrebt, alle „Folgewilligen“ zu dem einen Gott hinzuführen. Dass zu diesem selbigen Dienst trotzdem verschiedene Engel für verschiedene Völker notwendig sind, mag mit der unterschiedlichen Geeignetheit unterschiedlicher Kulturen für verschiedene Wege zu Gott hin zu begründen sein, obwohl Dionysius diesen epitêdeiotês-Gedanken, wie er bei Proklos omnipräsent ist,951 hier nicht eigens thematisiert. Einen weiteren Beleg dafür, dass die vielen Engel letztlich doch einen heiligen Dienst tun, sieht Dionysius in Melchisedek, der „Priester des El Eljon – des und in höchster Weise dem zu, was auch tatsächlich wahr ist. Beide Aspekte kommen in dem Adverb ontôs zum Ausdruck und werden deshalb im Deutschen als Hendiadyoin übersetzt. 947 enargôs und emphainein legen beide den Aspekt der deutlichen Einsichtigkeit nahe, deshalb der gesteigerte Ausdruck im Deutschen. 948 S. o. die Diskussion in Kap. IV.4 a sowie Kap. III.g zur Verteidigung und Zusammenschau mono‑ und polytheistischer Aspekte bei Proklos, ThP III, 3; 14, 4. 949 S. dazu Kap. III.c–d. 950 S. o. Kap. IV.4 a. 951 Vgl. z. B. Proklos, ETh 143 und dazu Drews (2009: 306).
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‚höchsten Gottes‘ “ war und Brot und Wein opfert, ohne jedoch „der besonderen Glaubensgeschichte Israels“ zuzugehören.952 Melchisedek ist gleichsam das Beispiel par excellence dafür, dass der einzig wahre Gott auch Menschen außerhalb Israels zu sich bekehren kann und bekehrt. Deshalb betont Dionysius auch noch einmal zusätzlich dessen Priester-Sein: Es wäre ja auch möglich gewesen, dass Gott durch einen seiner Engel Melchisedek einfach nur in dessen ‚Privatglauben‘ zu sich bekehrt hätte. Dies aber sei nicht der Fall, denn Melchisedek habe nicht nur selbst den einen wahren Gott auf höchste Weise geliebt (philotheôtatos), sondern als Hohepriester auch anderen Menschen den Weg zur „einzig wahren Thearchie“, d. h. zu Gott selbst, gewiesen. Mit den „anderen“ ist hier natürlich als eminentes Beispiel der Glaubensvater Israels selbst gemeint: Abraham, welcher Melchisedek begegnet.953 In Dionysius’ theologischem System ist es also möglich, dass verschiedene Völker und Menschen durch ebenfalls verschiedene Engel zu dem (in dieser Hinsicht) nicht-verschiedenen,954 wahren, drei-einigen Gott geführt werden. Gottes Erwählung und Gerechtigkeit wird so mit der Vielheit der Menschen und ihrer unterschiedlichen Wege in Einklang gebracht, weil die vielen, aber letztlich zum Einen hinführenden Engel die entscheidende ‚Scharnierfunktion‘ haben, die kulturell und religiös differenten Menschen doch zum selbigen Ziel als Erfüllung ihres Strebens nach dem Guten zu leiten. Dieses ‚System‘ darf jedoch nicht mechanistisch fehlinterpretiert werden: Es ist gemäß Dionysius nicht ausgemacht, dass alle Völker und Menschen so oder so den Weg zum einzig wahren Gott finden, denn es besteht durchaus real die Möglichkeit des „Abirrens“ und Verfehlens. Dionysius ist zwar der Auffassung, dass alle Menschen und Völker grundsätzlich die Chance haben, ihren Weg zu Gott zu gehen, gerade weil ihnen von Gott her engelhafte Führung zugedacht ist; ob diese Chance aber ergriffen wird, hängt davon ab, ob einzelne Menschen und ganze Völker (nach‑)folgewillig sind oder diese Gefolgschaft versagen. Aus christlicher Sicht kann eine kritische Rückfrage nicht unterbleiben: Im Unterschied vor allem zu Augustinus, aber auch schon zu Origenes955 scheint Dionysius’ System, soweit es hier ausschnitthaft analysiert werden konnte, weitestgehend ohne die Person Jesu Christi ‚auszukommen‘. Ist dies als Beleg für ein bloß vorgetäuschtes Christentum zu bewerten956 oder nur dem Kontext geschuldet, dass Dionysius in den oben erörterten Texten einerseits über polytheistische Aspekt im Christentum, andererseits über die Angelologie spricht? Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b:79–80). Gen 14, 18–20. Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 81). 954 Der Begriff des Nicht-Anderen als philosophischer Name für Gott geht auf Cusanus zurück (vgl. Cürsgen 2007 b: 93–126), wobei dieser auf Dionysius als „Gewährsmann“ zurückgreift (ibd., 117). 955 S. o. Kap. IV.4 a. 956 Vgl. die Kritik bei Brons (1975: 165–7) und dazu Drews (2011: 22, mit Anm. 39). 952 953
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Gerade in seiner Kirchlichen Hierarchie lassen sich Anzeichen dafür finden, dass Dionysius das Christentum nicht nur als ‚Tarnung‘ für seine neuplatonische Philosophie verwendet.957 In neuplatonischer Denkweise und Sprache erörtert Dionysius die Menschwerdung Gottes in Christus958 und dessen Selbstopferung für die Menschen: Christus sei zugleich Gott, Opfer und Opferaltar;959 in seinem Tod am Kreuz werde – Dionysius rekurriert nicht zufällig auf Paulus – der Tod getötet und verschlungen960 und so der für die auf Christus und „in seinen Tod Getauften“ aus der Macht des Todes herausführende Weg geebnet sowie die neue Geburt aus Gott (theogenesia) in der Taufe ermöglicht.961 Nimmt man diese Ausführungen ernst, so zeigt Dionysius eine spezifisch christliche Soteriologie; diese scheint für ihn nicht im Widerspruch zu einer theologischen Gnoseologie zu stehen, insofern die Hinführung zur Gotteserkenntnis für verschiedene Menschen und Völker auch auf verschiedenen Wegen durch Vermittlung der Engel geschieht: Die Engel gehen auf die unterschiedlichen Erkenntnisdispositionen der Völker ein und weisen ihnen, so sie folgewillig sind, den Weg zur Erkenntnis des einen wahren Gottes; diese Erkenntnis, weil sie Erkenntnis des drei-einigen Gottes ist,962 umfasst letztlich auch die Christologie bzw. christliche Soteriologie. Dionysius’ Angelologie, Gnoseologie und Soteriologie lassen sich also zu einem Panorama zusammenschauen. Diese Zusammenschau oder Überblendung zu einem Gesamtbild untermauert noch einmal, dass er den Namen Dionysius (Areopagita) als Chiffre für sein theologisches Programm gewählt hat, in welchem griechisch-neuplatonischer Geist und christliche Theologie gleichermaßen zusammenfließen und einander philosophisch und theologisch stützen und fruchtbar begegnen.963
6. Boethius: Teilhabe an dem Einen Gott – Polytheismus als mögliche Entfaltung des Monotheismus, christliche Trinitätstheologie und Gottes überseiende Substanz Anicius Manlius Severinus Boethius (ca. 480–524 n. Chr.) gilt nicht nur als „der bedeutendste lateinische Autor seiner Zeit“, sondern auch als „Lehrmeister des Mittelalters“,964 da er diesem in entscheidendem Maße griechische Philosophie Vgl. Drews (2011: 28–35). EH 3; 91, 8–20. 959 EH 4; 103, 2–18. 960 Vgl. 1 Kor 15, 54; Jes 25, 8. 961 EH 4; 102, 9–16, s. dazu Drews (2011: 33, 257). 962 Zur Trinitätstheologie bei Dionysius vgl. Drews (2011: 353–364). 963 S. o. Kap. IV.5 a. 964 Gruber (2011: 106). Vgl. auch das Kapitel „Boethius und der Aufstieg Europas“ in Fried (2008: 11–14). 957 958
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und Wissenschaft in lateinischer Übersetzung übermittelt hat965 – sozusagen gerade noch rechtzeitig, zählte er doch bereits „zu den wenigen Gelehrten des Westens, die damals noch hervorragende Griechischkenntnisse besaßen.“966 Sein berühmtestes Werk, die Consolatio Philosophiae, zeigt bekanntlich kaum christliche Inhalte,967 obwohl seine theologischen Traktate (z. B. De Trinitate, s. u.) Boethius klar als Christen ausweisen. Boethius hat die Consolatio968 im Angesicht des Todes verfasst:969 Ihm erscheint im Kerker der literarischen Darstellung nach die Philosophie leibhaftig und in Person und will ihn mittels ihrer Wahrheitserkenntnis von seiner seelischen Krankheit heilen.970 Das Lehrgespräch (welches sich teils zum Lehrvortrag entwickelt) kreist um die wesentlichen Themen platonischer Philosophie: Zu nennen sind vor allem die (nicht zuletzt von dem gefangenen Boethius zu leistende) Umwendung der Seele gemäß dem Höhlengleichnis in Platons Politeia,971 die Kosmologie des Timaios,972 der platonische Gottesbegriff gemäß Politeia und Parmenides (Gott als das Eine-Gute973), das Glückseligkeitsstreben der Seele und seine Erfüllung in Gott,974 die neuplatonische Erkenntnistheorie in Abgrenzung zur Stoa975 und die groß angelegte, philosophisch-theologische Differenzierung zwischen Zufall, Schicksal, Gottes Providenz und seinem allwissenden Vorherwissen als Basis einer neuplatonischen Theodizee.976 Im Kontext der Gotteserkenntnis und des beatitudo-Strebens der Seele ist auch die folgende, für das Thema Teilhabe-Ontologie, Mono‑ und Polytheismus einschlägige Passage zu verorten: Die platonische Unterscheidung von intelligibler 965 Vgl. Heilmann (2007) zu Boethius’ Vermittlung der neuplatonischen, philosophisch begründeten Musiktheorie als Teil des Quadriviums der artes liberales: Die von Nikomachos von Gerasa (2. Jh. n. Chr.) verfasste griechische Schrift zur Einführung in die besagte Musiktheorie ist verloren; Boethius hat sie übersetzt und so bis heute diese geistesgeschichtliche Quelle der Nachwelt überliefert und bewahrt (s. Heilmann ibd., 14). 966 Gruber (2011: 5). 967 Vgl. Gruber (2011: 99). Einige mögliche Anspielungen werden in der Forschung immer wieder diskutiert, vgl. Beierwaltes (1985: 334), Marenbon (2003: 154–9) und Moreschini (2014): „The Consolatio, in spite of its philosophy, is definitely the work of a Christian“ (139, ähnlich 143); „Actually, in Troncarelli’s view, worries about orthodoxy did not trouble the first readers of Boethius’ Consolatio, as they were less suspicious than our contemporaries and more tolerant, forbearing, and eclectic in matters concerning faith“ (ibd., 142). 968 Zur grundsätzlichen Interpretation des Werks vgl. den Heijer (2014). Überzeugend ist seine Abgrenzung gegen eine satirisch-ironische Lesarte der Consolatio (ibd., 452–5), wie sie etwa von Relihan (2007) vertreten wird: Diese ‚Interpretation‘ erscheint abwegig und basiert hauptsächlich auf e silentio-Argumenten. 969 Vgl. Gruber (2011: 53, 10). 970 cons. I, 1p. Den Therapie-Aspekt in der Consolatio hebt besonders Donato (2013) hervor. 971 cons. I, 2m; III, 1p, 5. 972 cons. III, 9m. Vgl. dazu Beierwaltes (1985: 319–336). 973 cons. III, 12p. 974 cons. IV, 2p, 2m und 3p. 975 cons. V, 4m–5p. 976 cons. Bücher IV + V. Vgl. oben Anm. 19.
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vs. materieller Welt und der Seele als zwischen beiden fungierender Mittlerinstanz muss hier nicht erneut thematisiert werden,977 auch nicht der Grundgedanke der Teilhabe sinnlich-wahrnehmbarer Dinge an sie formhaft-substantiell bestimmenden eidetisch-göttlichen Prinzipien.978 Der folgende Abschnitt, in welchem die Philosophie in Person spricht, knüpft sachlich unmittelbar an die Diskussionen an, wie sie von Origenes, Augustinus, Proklos und Dionysius her bekannt sind: Denn weil die Menschen durch Erlangung der Glückseligkeit (beatitudo) glückselig (beati) werden, Glückseligkeit aber die Gottheit selbst ist, ist offenkundig, dass sie durch Erlangung der Gottheit glückselig werden. Aber wie sie durch Erlangung der Gerechtigkeit gerecht, der Weisheit weise werden, so ist durch das analoge rationale Argument (ratio) notwendig, dass diejenigen, welche die Gottheit erlangt haben, Götter werden. Jeder Glückselige also ist ein Gott. Aber von Natur aus ist freilich ein [sc. Gott]; nichts aber hindert, dass durch Partizipation so viele [sc. Götter] wie möglich sind (cons. III, 10p, 23–25).979
Zunächst ist unverkennbar, dass (der Autor) Boethius hier die platonische Teilhabe-Ontologie voraussetzt: Glückseligkeit ist keine bloße Eigenschaft, die etwa einem Körperwesen (z. B. einem Menschen mit einem Gehirn) als solchem eignen kann oder nicht, sondern etwas in sich Bestimmtes, Geistig-Intelligibles: die Ursache dafür, dass Erkennendes (Seele) in seinem Erkenntnisstreben das erlangt, was es zur Erfüllung kommen lässt. Eine solche Erfüllung kann nur in einem umfassenden Guten bestehen, welches als absolutes Gutes selbst unvergänglich, durch seine Gutheit ganz bestimmt und nicht minder erkenntnisbegabt ist als das, was an ihm Anteil zu gewinnen vermag. Daher kann in der Consolatio die Philosophie in Person nach langen Anläufen die absolute Glückseligkeit mit Gott selbst identifizieren. Mit Proklos980 scheint Boethius zu verbinden, dass an der Spitze aller Wesen nur ein Einziger stehen kann – das absolute Eine, Gott selbst –, ihm untergeordnet aber viele Götter Bestand haben (können). Diese Übereinstimmung ist jedoch nur vordergründig, denn für Proklos sind z. B. die überseienden Henaden-Götter, insofern sie überhaupt schon mit dem Begriff der Vielheit, wie er Seiendem zukommt, charakterisiert werden dürfen,981 selbst keine Partizipierenden, sondern Partizipierte, genauer das vielfach partizipierbare Eine:
S. o. Kap. II.2. Zu Boethius vgl. Marenbon (2003: 80–81). Vgl. trin. 2; 171, 113–7. 979 Vgl. in ähnlicher Weise die Passagen cons. III, 12p, 32; IV, 3p, 10. Zum ParticipatioGedanken bei Boethius vgl. Moreschini (2014: 76–86); s. ibd., 85 zur oben zitierten Passage sowie zu cons. III, 11p, 8. 980 S. o. Kap. III.g. Zu Boethius’ Kenntnis von Proklos und seiner Schule vgl. Gruber (2011: 33). 981 S. o. Kap. III.e. 977 978
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[…] und nichts anderes ist jeder einzelne der Götter als das partizipiert werdende Eine (Proklos, in Parm. 1069, 6–8).
Der Sache nach ähneln Boethius’ Ausführungen, zumindest beim genaueren Hinsehen, doch eher den christlichen Positionen, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln abgeleitet werden konnten – und nicht zuletzt zeigt sich damit, dass offenbar auch in der Consolatio ein implizit-verdeckt christlicher (Neu‑)Platonismus vertreten wird. Denn dass allein die Anteilhabe an Gott die jeweils Partizipierenden zu abbildhaften Göttern im uneigentlichen Sinne macht, nicht aber wesensmäßig deifiziert, dieser Gedanke wurde in gleicher Weise sowohl von Dionysius982 wie auch von Augustinus vertreten: Letzterer983 hatte es auf den Punkt gebracht, dass kein Streit um Worte zu führen, sondern entscheidendes Kriterium einzig die Frage sei, ob man unter ‚Göttern‘ aus sich selbst heraus gute, ewige, selige Wesen verstehe. Dieses sei abzulehnen, da diese Götter – in Übereinstimmung mit pagan-platonischer Theologie – nicht ohne den einen, allerhöchsten Gott ihr Sein hätten und folglich – anders als etwa bei Proklos und auch schon Apuleius – nicht aus sich selbst heraus Götter sein könnten. (Aus Proklos’ Perspektive erscheinen die vielen Götter qua Partizipationsmittler des unpartizipierbaren, absoluten Einen sowohl als von diesem abhängig wie auch als aus sich selbst heraus Götter-Seiende, da sie unmittelbar von dem Einen hervorgehen und nicht im spezifischen Sinne an dem Einen nur partizipieren.984) Solange daher, so Augustinus, klar sei, dass die sog. ‚Götter‘ in Wahrheit keine Götter, sondern vielmehr Engel seien, bestünde kein theologisches Problem. Genau auf diesen Bahnen von Augustinus und Dionysius bewegt sich also auch Boethius, wenn er die Vielheit potentieller Götter mit der potentiell unbegrenzten Vielzahl der an der Glückseligkeit des einen, wahren Gottes Partizipierenden erklärt: Denn dieser Umstand mache die Partizipierenden nicht zu Göttern von Natur aus. Auch bei Boethius zeigt sich also eindeutig einerseits der monotheistische Zug im Sinne des christlich-platonischen Primats des Allerhöchsten, andererseits ein diesem klar subordinierter, ‚uneigentlicher‘ Polytheismus, insofern damit nur die Anteilhabe an der übervollen Güte des wahren einen Gottes gemeint ist. Trotzdem ist genau dieser Gedanke Voraussetzung dafür, sich polytheistischen Denkrichtungen und Religionen gegenüber offen zu zeigen und den Polytheismus potentiell in eine monotheistische Religion zu integrieren. Aus dieser Perspektive eines Boethius oder Dionysius braucht man gleichsam den Polytheismus nicht zu ‚fürchten‘, sondern kann ihm begründeterweise ein bestimmtes Eigenrecht einräumen; dass dieser aber nicht absolut gelten kann, weil Vielheit generell nicht ohne Voraussetzung der Einheit, Einheit aber 982 S. o.
Kap. IV.5 b. Kap. IV.4 a. Vgl. Augustinus, civ. XIV, 4; 11, 14–15. 984 S. o. Kap. III.g bzw. Kap. II.4.2 b (mit Anm. 190) zu Apuleius und die Gegenüberstellung von Apuleius / Proklos mit Origenes in Kap. IV.3 c und mit Augustinus in Kap. IV.4 a. 983 S. o.
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ohne Voraussetzung von Vielheit denkbar ist,985 bleibt dabei ebenso unberührt wie der übergeordnete Monotheismus. Auch für Origenes986 wurde gezeigt, dass eine potentielle Göttervielheit nur aus der Anteilhabe an dem christlichen einen, wahren Gott(‑Vater) resultieren kann. Anders als Boethius, Dionysius und Augustinus scheint Origenes weniger Schwierigkeiten zu haben, eine Vielheit von Göttern (im Unterschied zu Engeln) anzunehmen, obgleich auch er diese eindeutig als Abbild-Götter sekundärer Ordnung(en) versteht, denn sie könnten nur dadurch Götter sein, dass sie selbst an dem primären Abbild Gottes, nämlich Christus, Anteil gewönnen. Damit gerät, wie gesehen, bereits Christus qua erstem Abbild Gottes auf die Ebene der bloß Partizipierenden. Dieser theologische Zug, welcher mit dem (im Vergleich zu Origenes) späteren nizänischen Homoousios, d. h. mit der Wesensgleichheit der drei trinitarischen Personen, nicht vereinbar erscheint, trennt Origenes auch von Boethius, wie dessen Werk De Trinitate987 zeigt: Also [sc. sind988] Vater, Sohn, Heiliger Geist Einer, nicht drei Götter (trin. 1; 167, 41–42).
Damit weist Boethius zunächst das Missverständnis zurück, der christliche dreieine Gott sei ein Polytheismus dreier Götter. In einer ungleich schwierigeren Passage erklärt Boethius die Drei-Einheit Gottes: Daher, wenn ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ in Bezug auf etwas (ad aliquid) ausgesagt werden und in nichts anderem, wie gesagt, sich unterscheiden außer allein der Relation, die Relation aber nicht prädiziert wird in Bezug auf dieses [sc. die Substanz selbst], worüber sie [sc. die Relation] prädiziert wird – als ob (quasi) sie selbst [sc. die Relation] auch in Hinsicht der substanzhaften Sache (secundum rem) sei, über die gesprochen wird –, [sc. dann] wird sie [sc. die Relation] keine Verschiedenheit von substanzhaften Sachen (res) bewirken, über welche [sc. Verschiedenheit] sie ausgesagt wird, sondern, wenn sich sagen lässt, auf welche Weise man dieses, was kaum intellektiv begriffen werden konnte, interpretiert hat, [sc. wird sie Verschiedenheit bewirken] der Personen (trin. 5; 178,310–179,316).
Boethius greift hier den Aspekt auf, dass ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ Relationsbegriffe sind: Sie erläutern den Bezug auf etwas (ad aliquid), sind aber von diesem Etwas in dessen Substantialität bzw. Wesen zu unterscheiden. (Auch ein menschlicher Vater ist gemäß seiner wesentlichen Substanz als Geist-Seele-Leib-Wesen zunächst Mensch, Vater dagegen nur in Relation auf das Kind, dessen Erzeuger S. o. Kap. III.d. S. o. Kap. IV.3 b. 987 Boethius rekurriert in diesem Werk bekanntlich maßgeblich auf Augustins gleichnamiges, fünfzehn Bücher umfassendes opus magnum, wie Boethius selbst in der Vorrede eindeutig zum Ausdruck bringt (trin. 167, 30). Vgl. Bradshaw (2009: 109): „It is striking that Boethius, whose facility in Greek could have opened for him the entire world of patristic theology, mentions only the work of Augustine.“ Zu den „opuscula on the Trinity“ vgl. Moreschini (2014: 63–71). 988 Im Lateinischen kann die Copula fehlen, was besonders dann ein günstiges Stilmittel ist, wenn die grammatische Vielheit der drei trinitarischen Personen nicht den Blick auf die GottEinheit verstellen soll. 985 986
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er ist bzw. für welches er die Rolle des Vaters einnimmt). Die Relation tangiert also nicht die Substanz, „worüber“ die Relation ausgesagt wird, weil die Relation kategorial von Substanz verschieden ist. (Auch bei Menschen bezeichnen ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ die Relation, welche sie verbindet; ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ stellen jedoch zwei verschiedene Instanzen des Mensch-Seins, nicht aber die ‚Mensch-heit‘ im Sinne der einen Wesensbestimmung ‚Mensch‘989 dar und sind insofern zwei menschliche Wesen.) Nur weil die Relation also von Substanzhaftem ausgesagt wird, wird die Relation qua Relation nicht deshalb auch selbst zu etwas Substanzhaftem. Die Relation an sich, insofern sie einzig und allein Bezüglichkeit beinhaltet und meint, hat also keinen Einfluss auf die Substantialität, weil sie qua Relation selbst nichts Substanzhaftes ist (deshalb formuliert Boethius den hypothetischen quasi-Satz, der genau diese irrtümliche Verwechslung zum Ausdruck bringt, die philosophisch auszuschließen ist). Die Relation qua Bezüglichkeit steht also außerhalb der Kategorie der Substanz und bewirkt folglich auch keine Verschiedenheit in Bezug auf Substanz, sondern nur Verschiedenheit in Bezug auf das, was in relationaler Hinsicht – wie bei Vater und Sohn – unterschieden werden muss, also in Bezug auf Personen und das sie eigentümlich Verbindende, so wie allgemein ‚Vater‘ nicht ohne ‚Sohn‘ (bzw. ‚Kind‘) und ‚Sohn‘ nicht ohne ‚Vater‘ denkbar und möglich sind. (Auch bei Menschen unterscheiden sich die Begriffe ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ in ihrem sachlichen Gehalt streng genommen nicht in Bezug auf Substanz – sie sind beide ‚Mensch‘;990 im Unterschied zu Gott sind sie jedoch nicht nur in ihrem personalen Zueinander, in ihrer wechselseitigen relationalen Verwiesenheit, voneinander verschieden, sondern in einer davon zu unterscheidenden Hinsicht zwei ver‑ schiedene menschliche Individuen, weil sie qua ihrer spezifischen, geistig-seelischleiblichen Einheit jeweils für sich das ihnen anteilhaft gemeinsame Mensch-Sein auf unterschiedliche Weise verwirklichen:991 Daher sind sie zwei verschiedene Wesen / Substanzen – im Unterschied zu der dreifachen Personalität, aber einshaften Substanz Gottes.) Wesentlich für die klassische Trinitätstheologie, wie sie dogmatisch auf dem Homoousios, der Wesenseinheit Gottes, beruht, ist also grundsätzlich, dass Relation als Kategorie sich nicht notwendig auf verschiedene Substanzen, insofern sie Substanzen sind, bezieht, sondern innere Relation einer Substanz sein kann, insofern die Relation Ausdruck genau dieser Substanz, also ihres wesentlichen Seins ist:992 Vgl. trin. 4; 174, 203–7. Vgl. Marenbon (2003: 84) und Arlig (2009: 137–8). S. o. Kap. III.c sowie Anm. 229. 991 S. o. Kap. II.5 b und II.3. 992 trin. 6; 180, 345–7. Wenn Marenbon (2003: 86) eine Inkonsistenz („tension“) in Boethius’ Argumentation ausmachen will, so könnte der Fehler hier auch auf Seite des Interpreten liegen – dahingehend, dass er Relation substantial im Sinne von „things“ versteht: „There is number, threefoldness, in God, because relation entails there being more than one thing to be related.“ Es mag am englischen Sprachgebrauch liegen – aber Boethius versteht die Beziehung 989 990
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So also bewahrt die Substanz die Einheit, die Relation bringt nach Art des Vielen die Trinität hervor (trin. 6; 180, 339–340).
Dieselbe Theologie zeigt auch Boethius’ Traktat darüber, „ob Vater, Sohn und Heiliger Geist in substantialer Hinsicht über die Gottheit ausgesagt werden“ (Utrum Pater et Filius et Spiritus sanctus de Divinitate substantialiter praedicentur, kurz: Utrum Pater). Wenn Boethius gleich zu Beginn die Frage, ob der ‚Vater‘ Genannte Substanz sei, durchaus zulässt und bejaht,993 dann widerspricht er sich nicht selbst und auch nicht seiner oben schon skizzierten Trinitätstheologie: Denn gerade als Eingangsfrage kann sie nur bejaht werden, weil es schlicht unsinnig wäre, zu denken, dass ‚Vater‘ als relationaler Begriff völlig substanzlos, gleichsam ein ‚nichts‘ wäre. Auch als Relationsbegriff ist ‚Vater‘ daher nicht ‚wezwischen den drei trinitarischen Personen eben als strikt relational; d. h., Vater, Sohn und Heiliger Geist sind weder getrennte Substanzen noch „things“, sondern haben ihr nicht-substantiales ‚Sein‘ nur als innere Relation der einen Substanz Gottes. Deshalb kommt es zu keinem Widerspruch mit dem Satz: „The relationship between the divine persons is like that of the same to the same“ (ibd.), weil den Personen, insofern ihnen auf selbige Weise die eine Substanz Gottes inhäriert, in substantialer Hinsicht nur der Bezug des Selbigen zum Selbigen zukommt (s. u. Anm. 1000). – Arlig (2009: 149) verwendet mit „non-accidental relations“ einen m. E. der Sache nach ähnlichen Begriff wie ‚innere Relation‘: „The main difference between Divine relations and categorical relations is that the latter are accidents of enmattered substances. The Persons, on the other hand, are non-accidental relatives“ (ibd., 150), jedoch erachtet er die Selbigkeitsrelation nicht zwingend als „proper relation“ (diese ist jedoch grundsätzlich im Neuplatonismus nichts Besonderes, vgl. Proklos, ETh 171, 7–8; vgl. außerdem Drews 2009: 265, 267, Anm. 57). Arlig (2009: 150) erscheint das Trinitäts-Dogma mit dem der Inkarnation letztlich unvereinbar: „Recall that the Persons of the Trinity do not possess accidents. […] But one of the three Persons is Christ, who is an individual substanding thing of a rational nature. Substanding things can bear accidents, and certainly while Christ was on Earth he actually bore accidents. So, which claim is true? Can a Person bear accidents, or not?“ Der Widerspruch, den Arlig konstruiert, entsteht jedoch nur, wenn man, wie er es zuvor ausgedrückt hat, Christus qua inkarniertem Logos „einfriert“ (vgl.: „Adam, if he is to survive, must freeze“, ibd., 140): Dann nämlich müsste der drei-einige Gott immer schon die zweite göttliche Person, den Logos, als Inkarnierten implizieren. Dies scheint aber weder vom Dogma her der Fall zu sein, noch beinhaltet das Eintreten des Ewigen in die raum-zeitliche Welt etwas immer schon, ewig Bestehendes, sondern die Aussage, dass „der Logos Fleisch wurde“ (Jh 1, 14), dass also die göttliche Natur auf bestimmte Weise die menschliche annimmt, bedeutet eine geschichtliche Besonderheit, eine raum-zeitliche Partikularität. Dies gilt es zu bedenken, bevor ein Mix der beiden Dogmen zu Widersprüchlichem führt: Gemäß Boethius scheint der göttliche Logos qua trinitarischer Person zusammen mit Vater und Heiligem Geist die innere Relation der Liebe (s. u.) von Gottes einem, selbigen Wesen auszumachen; weder Gottes einshafte Substanz noch die innere Beziehung der drei trinitarischen Personen lassen Akzidentien zu; wenn der Logos gemäß der chalkedonensischen Zweinaturenlehre menschliches Wesen annimmt, kann dieses, insofern es wahrer Mensch ist, ohne Weiteres Träger von Akzidentien sein. Die beiden Dogmen beleuchten also ganz verschiedene Hinsichten; ihre Vermischung erzeugt dagegen zwangsläufig Widersprüche und ist erkenntnistheoretisch-methodisch gesehen zumindest eindeutig unplatonisch, insofern ‚Denken‘ platonisch im allgemeinsten Sinne Unterscheiden bestimmter Hinsichten ist (vgl. Schmitt 2003 a: 215–269; 298–300). Dass Boethius als Philosoph Platoniker ist, bedarf keiner Erörterung. 993 Utrum Pater 1; 182, 5–9.
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sensleer‘, d. h. unabhängig von der Substanz, zu welcher er gehört: Qua Dreiheit sind die drei trinitarischen Personen zwar formal Relationsbegriffe und inhaltlich Ausdruck der personalen, lebendigen Beziehung im Innern der einen Substanz Gottes. Aber dies kann natürlich nicht bedeuten, dass mit den drei Personen etwas von Substanz komplett Losgelöstes gemeint wäre, weshalb Boethius den drei trinitarischen Personen in diesem bestimmten Sinn auch Substanz zusprechen kann, ohne sachlich Widersprüchliches zu behaupten. Zusammengenommen ergeben Vater, Sohn und Heiliger Geist jedoch nicht drei Substanzen, ‚ergeben‘ genau genommen aber auch nicht (im Sinne einer Addition) eine Substanz, sondern sind eine Substanz.994 Gottes einshaftes Sein, seine eine Substanz lasse sich folglich auch nicht „trennen oder zerteilen“ und sei „nicht wie aus (Einzel‑)Teilen zu einem Einen zusammengefügt, sondern auf einfache Weise (simpliciter) eine [sc. Substanz].“995 Damit erteilt Boethius also allen Deutungsansätzen, welche in irgendeiner Weise nach der formalen Methode einer mathematischen Aufsummierung verfahren wollten, eine Absage: Der einzig angemessene Weg ist derjenige der höchsten philosophisch-metaphysischen Distinktion, wie sie inhaltlich im neuplatonischen Kontext dem höchsten Einen als absolutem Sein bzw. Über-Sein (s. u.) und im christlich-biblischen Zusammenhang dem einen Gott entspricht.996 Substanzhaft ausgesagt werde also über Gott alles, was allen drei Personen gemeinsam sei: Dies gelte für das Gott-Sein (im Sinne des einen Gottes), für Gottes Wahrheit-Sein (z. B. seien die drei Personen nicht drei Wahrheiten, sondern eine), sein Gutheit-, Unveränderlichkeit-, Gerechtigkeit‑ und Allmacht-Sein.997 Umgekehrt sei das über einzelne Personen der Gottheit Ausgesagte nicht substantial aufzufassen.998 So gelangt Boethius wie in De Trinitate zu dem Ergebnis, dass Gottes „Dreiheit in der [sc. relationalen] Vielheit der Personen, seine Einheit aber in der Einfachheit (simplicitas) der Substanz“ bestehe:999 Daher kommt es, dass weder ‚Vater‘ noch ‚Sohn‘ noch ‚Heiliger Geist‘ noch ‚Trinität‘ über Gott in substantialer Hinsicht ausgesagt werden, sondern, wie gesagt, gemäß der Relation (ad aliquid) (Utrum Pater 4; 184,59–185,61).
Utrum Pater 1; 182,9–183,11. Pater 1; 183, 11–13. 996 S. o. Kap. II.5 c, III.d, IV.2.3. – Wie Bradshaw (2009: 109) zu Recht betont, verzichtet Boethius auf negative Theologie: „Boethius attempts to demonstrate the coherence of Trinitarian doctrine on purely philosophical grounds, without reference to Scripture, and without the apophaticism or the careful attention to the limitations of language which had been characteristic of earlier authors“ (ibd., 115). 997 Analog betrifft dies auch Gottes Gerecht‑ und Groß-Sein qua seines Gott-Seins (vgl. trin. 4; 174); s. dazu oben (Kap. IV.4 b) die einschlägige Passage bei Augustinus, trin. V, 10, 11; 217,1–11, 12; 218,4. 998 Utrum Pater 1–2; 183, 18–33. 999 Utrum Pater 3; 184, 52–54. 994
995 Utrum
6. Boethius
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Der (Post‑)Moderne erscheint christliche Dogmatik zumeist suspekt. Man braucht indes nicht zu bestreiten, dass es in dogmatischer Hinsicht während der Geschichte des Christentums Auswüchse gegeben hat und gibt, welche diesen Argwohn verständlicherweise provozieren, um trotzdem die kritische Rückfrage zu stellen, ob es sich die (post‑)moderne Kritik, wenn sie immer schon wissen zu können meint, dass es sich bei allen dogmatischen Inhalten nur ‚um faulen Zauber‘ handelt, vielleicht hier und da etwas zu leicht macht. Exemplarisch sei hier mit Blick auf Boethius ein jüngerer Beitrag zu Boethius’ Trinitätstheologie zitiert. In seinem Resümee erwägt Bradshaw abschließend zwei Interpretationsmöglichkeiten von Boethius’ kleinem Traktat Utrum Pater: Presumably one should adopt whichever reading produces a valid argument. The trouble is that neither actually does so. On the first reading, if each of the three is a substance and the three taken together are a substance, how does it follow that ‘the one substance of the three’ (which must be taken […] as an ontological constituent) is indivisible? One can readily imagine three substances which together make up one substance, without the one substance being simple in the relevant sense. On the second reading, the initial premises of the argument turn out to be about quite different subjects: the first says that each of the three is substance (i. e., identical to its own essence), whereas the second says that the three taken together make up a substance. These premises do not yield the conclusion that the substance of the three […] is one and indivisible (Bradshaw 2009: 114–5).
Entsprechend der von ihm in Betracht gezogenen ‚Interpretationsmöglichkeiten‘, welche beide kein sinnvolles Resultat ergeben, scheint es sich also zwangsläufig um ein „misguided undertaking“ (Bradshaw ibd., 115) zu handeln. Sind aber beide „readings“ überhaupt in sich schlüssig und vor allem: Werden sie Boethius’ Ausführungen gerecht? Die erste Lesart besage, so Bradshaw, dass gemäß Boethius „jede der drei Personen Substanz“ und „identisch mit ihrem eigenen Wesen“ sei. Diese Interpretation bezieht sich vermutlich auf die oben diskutierte Eingangsfrage, bei welcher Boethius in einem bestimmten, noch klärungsbedürftigen Sinn den einzelnen trinitarischen Personen Substanz zuspricht, weil natürlich ‚Vater‘, ‚Sohn‘ oder ‚Heiliger Geist‘ nicht als bar jeglicher Substanz, d. h. als nicht-seiend bzw. ‚nichts‘ verstanden werden können. Sie stellen aber gemäß Boethius keine für sich abge‑ trennten Einzel-Substanzen dar, sondern ‚sind‘ genau die relationale Verbundenheit dreier Personen in und gemäß dem einen Wesen Gottes. Nur deshalb besteht für Boethius gar nicht das Problem, wie eine sich aus drei Einzel-Substanzen zusammensetzende Substanz „unteilbar“ sein könne, denn Vater, Sohn und Heiliger Geist sind streng genommen keine (Einzel‑)Substanzen. Bradshaw scheint die Beantwortung der Eingangsfrage misszuverstehen, weil er sie nicht konsequent im Kontext des darauf Folgenden bedenkt. Denn genau das Gegenteil von Bradshaws erster Lesart hatte sich Boethius zu zeigen bemüht: Gottes Wesen ist eines, die drei Personen sind gerade nicht drei verschiedene Götter, folglich haben sie qua Personen auch keine individuelle
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Substanz im Sinne eines ‚Einzelteils‘ von Gottes ‚Gesamt-Wesen‘. Vater, Sohn und Heiliger Geist ‚sind‘ also nicht verschiedene Substanzen, weil sie qua ihrer per‑ sonhaften Relationalität für Boethius überhaupt nicht in die Kategorie der Substanz fallen. Ihre Selbstidentität als Personen kann somit nicht substanzhaft begründet werden, sondern, wenn überhaupt, nur relational-personhaft:1000 Wäre Dies scheint letztlich auch die Antwort auf Bradshaws (2009: 112) folgenden, im Zusammenhang mit De Trinitate formulierten Einwand zu sein: Boethius „goes on to describe relation in the Trinity as ‘a relation of identicals’ (31). Such assertions heighten rather than alleviate the worry. Precisely how is it that a ‘relation of identicals’ is supposed to introduce plurality – and if it does not, in what sense are there three persons?“ Bradshaw verweist (ibd., 127, Anm. 20) auf Marenbon (2003: 86), welcher ebenfalls das Problem sehe, dass Boethius die Annahme, Relation bewirke Vielheit in Gott, nicht mit der Behauptung vereinbaren könne, dass diese Relation von der Art der Relation des Selbigen zum Selbigen sei. ‚Relation des Selbigen zum Selbigen‘ scheint mir gemäß Boethius’ trinitarischer Theologie in zweierlei, miteinander jedoch kompatiblen Hinsichten verstehbar zu sein: (1) in Bezug auf die Relation selbst der drei trinitarischen Personen zueinander, (2) in Bezug auf die Relation der drei trinitarischen Personen (insofern sie qua Personen ‚nur‘ Relata sind) zu der ihnen gemeinsamen, einshaften Substanz. Gemäß Hinsicht (1) ist die innere Relation der drei Personen zueinander gemeint: Nur gemäß dieser inneren Relation zueinander und qua Relata ‚sind‘ Vater, Sohn und Heiliger Geist jeweils eine ‚identische Person‘. D. h., die ‚Identität‘ des Vaters, die des Sohnes und die des Heiligen Geistes kann jedenfalls gemäß Boethius keine eigentümliche, substanzhafte Identität bedeuten (sonst wäre die Trinität eine Form des Polytheismus), sondern nur eine uneigentliche, weil strikt auf die Relation selbst der drei zueinander bezogene. Dies ist kein Widerspruch, weil im Hinblick auf ihr Relata-‚Sein‘ keine ‚Sonder-Substanz‘ für jede einzelne der drei Personen postuliert wird, sondern dieses Relata-Sein deshalb Substanz hat und ‚empfängt‘, weil der einen Substanz Gottes (qua Substanz im spezifischen-eigentümlichen Sinne) die Beziehung der drei Personen zueinander ontologisch direkt entspricht: Dem einen Wesen Gottes eignet es in spezifischer und substantieller Weise, dass es in sich als selbiges Wesen die innere Beziehung der drei Relata, d. h. der drei göttlichen Personen zueinander, ist: Allein deshalb kommt allen drei Personen nur ein und dieselbe Substanz zu, ihre ‚Identität als Personen‘ ist keine substantiale, sondern rein relationale und erzeugt entsprechend nur in relationaler Hinsicht Vielheit, nicht aber im Hinblick auf Substanz, womit sich Bradshaws oben zitierte Frage gemäß Boethius durchaus beantworten lässt. Damit ist zugleich auch Hinsicht (2) erklärt, insofern die Beziehung der drei Personen zueinander direkt an ihr eines substantiales Wesen als ein Gott gebunden ist. Es zeigt sich ferner, dass Bradshaws (2009: 112) abschließende Schlussfolgerung in beiden Teilen ihr Ziel verfehlt: „Thus it seems either that Boethius is wrong in holding that relations in the Trinity are merely external, or at least that he has failed to establish the case“. Die Relation der drei trinitarischen Personen zueinander ist gerade nicht äußerlich (s. o. Anm. 992), und Boethius’ Theologie ist gemäß dem oben beschriebenen Sinn in sich schlüssig: Gemäß Hinsicht (1) formuliert Boethius: Nam idem Pater qui Filius non est nec idem uterque qui Spiritus sanctus (trin. 6; 180, 341–3); gemäß Hinsicht (2): Idem tamen Deus est Pater et Filius et Spiritus sanctus, idem iustus idem bonus idem magnus idem omnia quae secundum se poterunt praedicari (trin. 6; 180, 343–5). – Vgl. grundsätzlich Ratzinger (1990: 444; Kursive Ratzinger): „According to Augustine and late patristic theology, the three persons that exist in God are in their nature relations. They are, therefore, not substances that stand next to each other, but they are real existing relations, and nothing besides. […] In God, person means relation. Relation, being related, is not something superadded to the person, but it is the person itself. In its nature, the person exists only as relation. Put more concretely, the first person does not generate in the sense that the act of generating a Son is added to the already complete person, but the person is the deed of generating, of giving itself, of streaming itself forth. The person is identical with this act of self-donation.“ Letzteres ist exakt das, was Boethius selbst formuliert: „Und nicht kann [sc. 1000
6. Boethius
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Selbstidentität strikt an Substanz gebunden, könnte tatsächlich eine solche nicht in Bezug auf jeweils eine einzelne der drei trinitarischen Personen bestehen, weshalb die klassische Trinitätstheologie von der Perichorese spricht, die „das Ineinandersein und die gegenseitige Durchdringung der göttlichen Personen zum Ausdruck bringt.“1001 Aus diesem Grund hatte Augustinus im Einklang mit 1 Jh 4, 8 b den christlichen Gott – durchaus wesensmäßig – als Liebe verstanden, die sich jedoch bereits in Gott relational-personal artikuliert: Die Liebe des einen Gottes ist als Heiliger Geist das Band zwischen Gott Vater und Gott Sohn und zeigt so die trinitarische Struktur des Liebenden (amans), des Geliebten (amatus) und der Liebe (amor) als innere und wesenseine bzw. ‑gleiche, dialogische Einheit.1002 Bradshaws erste Lesart von Utrum pater „that each of the three is substance (i. e., identical to its own essence)“ ist also von Boethius’ Argumentation denkbar weit entfernt1003 und verfehlt daher ihr Ziel, wie auch seine zweite: Auch hier will Bradshaw die dreifache Personalität des christlichen Gottes wieder mit der Kategorie der Substanz in Verbindung bringen, was aus denselben, schon genannten Gründen von vornherein als Boethius-Interpretation zum Scheitern verurteilt ist. Denn wenn Vater, Sohn und Heiliger Geist nicht im strengen Sinn Substanz sind, dann können sie auch nicht zusammengenommen, gleichsam ‚addiert‘ eine Substanz ergeben („make up a substance“). Die Frage der Substanz Gottes berührt gemäß Boethius einfach nicht die Frage seiner dreifachen Personalität, weil Substanz und Relation verschiedene Kategorien sind. Der Versuch, theologisch sinnvoll] gesagt werden, dass irgendetwas zu Gott hinzugekommen sei, auf dass er Vater geworden wäre; denn er hat nicht irgendwann angefangen, Vater zu sein – deshalb, weil die Hervorbringung (productio) des Sohnes ihm freilich substantial-wesensmäßig ist“ (trin. 5; 179, 318–321). Der Grundgedanke dieser Trinitätstheologie lässt sich bis zu Origenes (princ. I, 2, 2; 29, 4–5) zurückverfolgen, s. o. Kap. IV.3 a, Anm. 673. 1001 Von Stosch (2006: 56–57): „Gott ist Beziehung. Er ist dialogisches Geschehen, pulsierendes Leben, relational strukturierte Dynamik.“ Vgl. ferner Beierwaltes (1994: 214) zur „relationalen ‚Perichorese‘ “ bei Dionysius, dessen Trinitätstheologie wie die des Boethius ebenfalls dezidiert dem neuplatonisch-christlichen Kontext angehört und insofern vergleichbar ist. 1002 Vgl. Augustinus, trin. VIII, 10, 14; XV, 3, 5; 465, 67–70. S. o. Kap. IV.4 c. – Zu Gottes wesenseigener Dialogizität, welche sein inneres Beziehung-Sein im Fokus der Logos-Theologie und des Gesandt-Seins des Sohnes darstellt, s. Ratzinger (1990: 443–6): „[…] the point is that a word is essentially from someone else and toward someone else; word is existence that is completely path and openness“ (ibd., 446). Zum dialogischen Person-Begriff vgl. ferner oben Anm. 825. Zur „ ‚Rehabilitierung‘ der Relation“ speziell durch Augustinus vgl. Beierwaltes (1994: 259). 1003 Dies gilt jedenfalls für den Gebrauch des Begriffs substantia im Sinne von ‚Wesen‘ in trin. und Utrum pater. In c. Eut. 3; 214, 170–3 ff. diskutiert Boethius den Personenbegriff auf der Basis des griechischen Begriffs hypostasis, welcher lateinisch in wörtlicher Übertragung, aber in einem ganz anderen philosophisch-theologischen Sinn substantia genannt werden kann: So verstanden handelte es sich dann bei substantia nicht um ‚Wesen / Substanz‘, sondern um ‚Unterstand / Darunter-in-Stand-Setzung‘ eines Selbigen: Dann wäre substantia = hypostasis, aber in der theologischen Spezialbedeutung von hypostasis für jeweils Vater, Sohn und Heiligen Geist im Sinne von persona zu verstehen (c. Eut. 3; 218, 256–260). Vgl. Marenbon (2003: 73). Zu der verwirrenden lateinischen Terminologie vgl. bereits Augustinus, trin. V, 8–9.
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aus der Addition von Vater, Sohn und Heiligem Geist die eine Substanz Gottes ‚zu basteln‘, könnte gemäß Boethius’ philosophischer Theologie abwegiger nicht sein, weil Gottes Substanz explizit nicht „wie aus (Einzel‑)Teilen zu einem Einen zusammengefügt“ ist.1004 Gottes eines Wesen und seine dreifache Personalität können aber auch nicht unvereinbar und bezugslos nebeneinander stehen bleiben, insofern er ja gerade der eine Gott ist. Noch einmal fällt von Augustinus her Licht auf dieses Problem: Gott ist wesentlich, der Substanz nach Einer und Liebe. Insofern Liebe nur zwischen Personen denkbar ist, artikuliert sich genau diese Liebe als innere, wechselseitige Beziehung (Relation) der drei einander in dem einen Wesen der Liebe durchdringenden Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist. Von hier aus werden auch die beiden für sich selbst unterschiedenen Begriffe Einheit (Wesen) und Dreiheit (Relationalität) wiederum noch als innere Einheit erschlossen. Gottes eine Substanz als Liebe zeigt ihrer Einfachheit (simplicitas) entsprechend den ihr zutiefst gemäßen ‚inneren Ausdruck‘ in der Geeintheit der drei einander in Liebe verbundenen Personen: Vater, Sohn und Heiliger Geist sind also gerade nicht ohne Bezug zu dem einen, ihnen unterschiedslos gemeinsamen substanzhaften Sein, sondern sind als ‚unzerteilbare‘ Dreiheit unmittelbar dieses eine Sein der göttlichen Liebe. Nur deshalb konnte Boethius zu Beginn von Utrum Pater auch den drei Personen im unspezifisch-vorläufigen Sinne Substanz zusprechen, weil sie nicht losgelöst von der einen Substanz Gottes zu denken sind, auch wenn sie nicht als einzelne Personen jeweils eine Einzel-Substanz darstellen, die man dann auch noch ‚addieren‘ könnte. Dreiheit und Einheit, Relation und Wesen Gottes sind also nur für menschliches Denken zwei unterscheidbare Begriffe, die der Sache nach jedoch nicht ‚auseinander fallen‘, sondern vielmehr zusammengehören. Obwohl vermutlich niemand ernsthaft bestreiten wird, dass die Trinitätstheologie – wie Boethius es ja auch selbst ausspricht1005 – immer ein schwieriges Feld darstellt, besteht vielleicht doch hinreichend Grund, es sich mit diesem zentralen Dogma und seiner Interpretation – ähnlich wie mit Proklos’ Henadenlehre1006 – nicht zu leicht zu machen. Bradshaws (2009: 114–5) ‚Interpretation‘ könnte eher bedenklich stimmen, weil sie in ihrer Zuspitzung letztlich die wesentlichen Aspekte von Boethius’ Argumentation verfehlt und seinen Texten daher nicht zu ihrem Recht, nicht zur Aufdeckung ihrer inneren Konsistenz und ihres Anliegens verhilft. Vielleicht ist das implizite Überlegenheitsgefühl der (Post‑)Moderne gegenüber der Antike an dieser Stelle einmal mehr kritisch und fundamental zu hinterfragen.1007 Utrum Pater 1; 183, 12–13. zu Boethius, trin. 5; 178,310–179,316. 1006 S. o. Kap. III.b und III.e. 1007 Hier gilt möglicherweise, was Spaemann (2012: 164) für bestimmte (!) Teile moderner Wissenschaft diagnostiziert, dass nämlich bestimmte Probleme heutzutage „weit unter dem 1004
1005 S. o.
6. Boethius
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Bedenkt man ferner, dass Boethius Gottes Substanzhaftigkeit – also sein Wesen, welches biblisch-christlich gemäß Exodus 3, 14 mit dem absoluten Sein identifiziert wird1008 –, genau genommen gut neuplatonisch als überseiend bzw. Überwesentlichkeit bezeichnet,1009 weil Gott als absolutes Eines, wie schon bei Dionysius und Proklos gesehen, auch noch das Sein selbst transzendiert,1010 dann mag umso mehr erhellen, dass bei dem zwar didaktisch notwendigen, oben angedeuteten Vergleich zwischen Gottes und menschlicher Wesenhaftigkeit der Sache nach die verschiedenen (hyper‑)ontologischen bzw. prinzipienhaften Stufen, auf denen Gott und Mensch jeweils gleichsam ‚stehen‘, unbedingt in Rechnung gestellt werden müssen und Gott und Mensch daher natürlich nicht direkt vergleichbar sind. Gottes Wesen ist seine Überwesentlichkeit: Denn Substanz ist in Jenem nicht auf wahrhafte Weise Substanz, sondern jenseits der Substanz (ultra substantiam) (trin. 4; 173, 183–4).1011
Wie Dionysius1012 scheint Boethius die Wesensgleichheit der drei trinitarischen Personen philosophisch auf die Ebene des neuplatonischen Absoluten, d. h. des überseienden Einen im Sinne des höchsten Gottes zu transponieren und so als Überwesentlichkeit zu denken. Damit wäre der trinitarische Gottesbegriff tatsächlich als Drei-Einheit, d. h. auch als begriffliche Einheit der beiden Aspekte ‚Dreiheit‘ und ‚Einheit‘ zu Ende gedacht: (1) Denn das absolute Eine, insofern es gemäß Plotin und Proklos nur Eines und nicht zugleich auch schon Sein ist,1013 kann begrifflich dann nur als über‑ bzw. vorseiend verstanden werden. Insofern es als überseiendes Eines alle seiende Bestimmtheit überragt, ist es aber gerade nicht leer von Bestimmtheit, sondern überbestimmt, hebt die Zweiheit von ‚Eines und Sein‘ in sich selbst auf und ist doch zugleich Ursache und Prinzip des Seins und dessen schöpferischer EntNiveau von Diskussionen, die schon vor anderthalb Jahrtausenden […] stattgefunden haben“, erörtert würden. Vgl. in ähnlicher Weise Kreuzer (2007: 83–84). Zu Spaemanns positiver Würdigung der christlichen Trinitätslehre, insofern diese einen dialogischen Personbegriff in Gottes personalem Wesen zu verankern und Gott daher in einem umfassenden Sinne als Person zu denken vermag, s. o. Anm. 825. – Zu einer grundsätzlichen Revision von Moderne und Platonismus (unabhängig von Theologie und christlichem Trinitätsverständnis) vgl. Schmitt (2003 a). 1008 Vgl. trin. 2; 169, 81–83; trin. 2; 170, 92–94. – Vgl. o. Kap. IV.3 a (Origenes), IV.4 b (Augustinus), IV.5 a (Dionysius). 1009 Vgl. Marenbon (2003: 83–84) und Arlig (2009: 146, 149). 1010 S. o. Kap. IV.5 a, III.d–e. 1011 Zur Stelle vgl. Moreschini (2014: 69). S. auch trin. 4; 174, 194–5. 1012 S. o. Kap. IV.5 a. Vgl. Beierwaltes (1994: 217) zu Dionysius’ Trinitätstheologie: „Das relationale Ineinander-Sein der Drei auf die Einheit hin oder als Eines wahrt also das je Eigene, die Identität; die Selbstunterscheidung des je Eigenen aber betrifft und bestimmt im gegenseitig sich einenden Bezug zugleich das ganze Wesen der Gottheit.“ Zum „Eins-Sein Gottes, das durch Differenz und Relation bestimmt und bewegt ist,“ als „eine Einheit der Gegensätze“ (mit Verweis auf Dionysius, DN XIII, 2; 227, 18) vgl. ibd., 216. 1013 S. o. Kap. II.5 c und III.d.
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faltung.1014 Sein ‚Sein‘ ist Über-Sein, seine ‚Fülle‘ ist Überfülle: Mit Bernard1015 darf man ergänzen, seine Personalität als göttliches Über-Wesen bedeutet keinen Mangel an Personalität, sondern ist gesteigerte Überpersonalität. (2) Genau hier liegt nun der philosophische Anknüpfungspunkt für die christliche Offenbarung des einen Gottes in drei Personen: Von Natur aus, wesensmäßig kann Gott im christlich-biblischen Sinne nur ein Einziger sein,1016 wie es auch Boethius in der am Anfang des Kapitels zitierten Passage aus der Con‑ solatio eindeutig formuliert. Die christlich-theologische Rede von Vater, Sohn und Heiligem Geist als dem einen Gott lässt sich aber gerade im Sinne der gesteigerten Transpersonalität des neuplatonischen überseienden Einen interpretieren, wenigstens damit assoziieren. Insofern denkt Boethius wie auch Dionysius und in Ansätzen bereits Augustinus1017 Folgendes zusammen: (a) Gottes Wesensgleichheit (das Homoousios im Sinne der Gleichwesentlichkeit der drei trinitarischen Personen) mit dem neuplatonischen, überseienden Absoluten; (b) die neuplatonische Transpersonalität des überseienden Einen mit der dreifachen Personalität des einen, christlichen Gottes. Der transrationale Zugriff, wie er der höchsten Theologie vom Überseienden nur angemessen sein kann, wird dabei jedoch nicht zu einer irrationalen Schwärmerei oder einem ‚diffusen Gewölk‘, sondern basiert erkenntnistheoretisch und ontologisch-prinzipientheoretisch auf einem rationalen Fundament, wie Boethius’ strikt philosophisch vorgehende, nicht auf Autoritätsargumenten fußende Vorgehensweise zeigen will. Der von Boethius, Dionysius und auch Augustinus vertretene Anspruch bedeutet in methodischer Hinsicht, von der Ratio her Transrationales begrifflich zu erschließen, ohne dabei in Irrationalität abzugleiten. Der Fluchtpunkt des von ihr gleichsam selbst geleiteten1018 Selbstüberstiegs der Ratio besteht – zumindest aus dieser Perspektive – nicht nur in Gottes Überseiendheit und (Trans‑)Personalität, sondern zuletzt auch in dem (trans‑)relationalen Zueinander der drei trinitarischen Personen. Die von Boethius implizierte innere Einheit von Substanz und Relation wird besonders von Augustins Trinitätstheologie her verständlich, insofern Gott Liebe S. o. Kap. IV.5 b. Bernard (1990: 124–5, 180), s. o. Kap. III.g. 1016 S. o. Kap. IV.2.3. 1017 S. o. Kap. IV.4 b. 1018 Auch die ‚Leitung durch die Ratio‘ ist dabei nicht abstrakt zu verstehen, sondern kann letztlich nur das göttliche Licht selbst sein, welches den Menschen in seinem Erkenntnisstreben zu den höchsten Dingen hinleitet: In diesem Sinne erscheint – durchaus passend – in Boethius’ Consolatio die Philosophie in Person, in Augustins Soliloquia die Ratio in Person (vgl. Drews 2009: 1). Damit wird nicht bloß ein literarisch-mythologisches Gewand kreiert, sondern dem Umstand Rechnung getragen, dass Einsicht in göttliche Fragen nicht ohne göttliche Führung möglich ist – jedenfalls nach Ansicht dieser Autoren, vgl. in ähnlicher Weise die Eingangspassage von Proklos’ Parmenideskommentar. (Gegen ein Verständnis der Philosophie als göttliche Person wendet sich jedoch z. B. Marenbon [2003: 162]; in ähnlicher Weise versteht Fuhrer [2004: 72] die Ratio bei Augustinus als seine eigene Vernunft, anders Drews [2009: 1, 376–8]). 1014 1015
7. Eriugena
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ist (Jh 4, 8 b), die einerseits Gottes einshafte Substanz ausmacht, andererseits qua Liebe als innere Relation des Liebenden, Geliebten und der sie verbindenden Liebe in Gottes einem Wesen bereits artikuliert ist. Die Substanz entspricht der Relation, die Relation der Substanz, zu der sie wesensmäßig gehört: Das Wesen durchdringt die Beziehung der drei trinitarischen Personen, die Beziehung ist relationaler Ausdruck dieses Wesens.1019
7. Eriugena: Verkürzung des neuplatonischen Methexis-Systems, der prinzipientheoretische Primat des Guten und Gottes Überwesentlichkeit Johannes Scottus Eriugena (9. Jhd. n. Chr.) gilt als der „bedeutendste Dionysius Areopagita-Rezipient des frühen Mittelalters“.1020 Neben seiner im Auftrag Karls des Kahlen geleisteten neuen lateinischen Übersetzung des Corpus Dionysiacum1021 ist Eriugenas Dionysius-Rezeption1022 in unübersehbarer Weise in seinem Hauptwerk Periphyseon – De Divisione Naturae greifbar. Zugleich zeigt sich hier in systematischer wie wirkungsgeschichtlicher Hinsicht der große, durch Dionysius vermittelte Einfluss von Proklos’ Methexis-Theorem, wenn auch in stark abgewandelter Form – ein Umstand, der von der Forschung bisher kaum hinreichend oder gar kritisch thematisiert worden zu sein scheint.1023 Genauso 1019 Mit einer gewissen Spitzfindigkeit könnte man hier einwenden, dass dann doch Gott zweimal Liebe sei: einmal qua seiner Substanz, einmal insofern der Heilige Geist als Liebe das Band in der relationalen Beziehung zwischen Vater und Sohn darstellen soll. Dies erscheint indes von der theologischen Sache her gedacht nicht als Widerspruch, wenn man die beiden Hinsichten Substanz und Relation konsequent bedenkt; vielmehr könnte gerade die scheinbar doppelt angenommene Liebe in Gottes Wesen und dem Heiligen Geist als relationaler Person – scheinbar, weil es zwei verschiedene Hinsichten sind und dies insofern keine bloße Verdopplung darstellt – die Einheit von Substanz und Relation, also die innere Zusammengehörigkeit der beiden Hinsichten als Gottes Drei-einigkeit unterstreichen. 1020 Suchla (2008: 160). Vgl. Moran (1989: 116–120). 1021 Vgl. Suchla (2008: 78) 1022 Zu Dionysius s. o. Kap. IV.5. 1023 Zu Eriugenas Kenntnis und Abhängigkeit vom Neuplatonismus s. Beierwaltes (1994: 35–36), der jedoch, soweit ich sehe, in seinem Eriugena-Buch das Thema Partizipation ausspart: Ausnahme ist ibd., 290, dort jedoch geht es nicht um Eriugena, sondern – vielleicht bezeichnend – um Cusanus. Auch der große Band Eriugena and Creation, herausgegeben von Otten / Allen (2014), verzeichnet im Index kein Lemma ‚participation / methexis‘. Zum Partizipationsgedanken bei Eriugena vgl. allgemein Limberger (2015: 98–107) und Mooney (2009: 104–8), die jedoch beide die Partizipationsphilosophie nur allgemein im Hinblick auf die Gestuftheit des Seins aufgreifen und dann vor allem für das Thema der Theophanie stark machen. S. ferner O’Meara (1988: 106) und Moran (1989: 107), der jedoch keine partizipationslogischen Details bespricht, folglich auch nicht Eriugenas Umformung von Proklos’ Theorem. Die entscheidenden Differenzen zwischen Eriugena und Proklos werden verdeckt, wenn Moran (1989: 234, Anm. 23) ausführt: „Following Proclus and later Neoplatonism, Eriugena develops a fourfold division of participation: that which participates, that which is participated in, the relation
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IV. Christliche Theologie und Platonismus
wie Proklos und Dionysius hat Eriugena selbst nicht zuletzt auch die Philosophie und Theologie eines Nikolaus von Kues nachhaltig geprägt, auf den diese Untersuchung zusteuert.1024 Zur Relevanz des Methexis-Theorems bei Eriugena soll zunächst folgende Passage erörtert werden: Die Kette (series1025) der ursprungshaften Ursachen (primordiales causae) hat der kundige Erforscher der göttlichen Vorsehung (providentia), der Heilige Dionysius Areopagita, in seinem Buch über die göttlichen Namen (DN) sehr klar dargelegt. Denn von der höchsten Gutheit (bonitas), die an nichts partizipiert, weil sie ‚Gutheit durch sich selbst‘ (per-seipsam bonitas) ist, sei, so betont er, erstes Geschenk (donatio) und Partizipation [sc. diejenige] ‚Gutheit durch sich selbst‘, durch deren Partizipation alle möglichen Guten gut sind. Und deshalb wird es [= das erste Geschenk / die erste Partizipation] ‚Gutheit durch sich selbst‘ genannt, weil sie durch sich an dem ‚höchsten Guten durch sich selbst‘ partizipiert. Denn die übrigen Guten partizipieren nicht durch sich selbst an dem höchsten und wesensmäßigen Guten (summum et substantiale bonum), sondern durch diese, welche durch sich selbst die erste Partizipation an dem höchsten Guten ist. Und diese Regel wird bei allen ursprungshaften Ursachen ohne Ausnahme (uniformiter) beachtet, d. h. dass sie durch sich selbst die prinzipienhaften / primären (principales) Partizipationen an der Einen Ursache von allem sind, welche Gott ist (periph. III, 622 b–c; 7, 133–145).
In Eriugenas Ausführungen zeigt das proklisch-dionysische Methexis-System mit der grundsätzlichen Dreierdifferenzierung Unpartizipiertes-Partizipierbares-Partizipierendes seine unverkennbare, wenn auch modifizierte Präsenz. Gut neuplatonisch erscheint die angedeutet-implizierte Identifikation des absoluten Guten („die höchste Gutheit“) mit dem absoluten Einen1026 („die Eine Ursache von allem“), d. h. mit Gott.1027 Die göttliche Vorsehung entfalte sich aus Gottes Gutheit heraus über die „primordialen Ursachen“: Gott ist die Universalursache von allem, die höchste Gutheit, welche an nichts anderem, ihr Vorgeordnetem partizipiere, weil sie das Absolute schlechthin sei und ihr folglich nichts übergeordnet sein kann. Entsprechend ist sie „Gutheit durch sich selbst“. Eriugenas Verständnis der „Gutheit durch sich selbst“ korrespondiert partizipationstheoretisch der Sache nach mit Proklos’ und Dionysius’ Begriff des
of participation itself, and that which both participates and is participated in (630 a–631 a).“ S. ebenso Mooney (2009: 106). Proklos’ Theorem ist jedoch dreigliedrig (s. o. Kap. III.c) und beinhaltet als Prinzip aller der Sache nach immer schon sekundären Partizipation jeweils das Unpartizipierbare, welches bei Eriugena schlicht fehlt (s. das Folgende). 1024 Vgl. Suchla (2008: 163). Zu Cusanus s. u. Kap. V. 1025 Sheldon-Williams (1981: 33) übersetzt in seiner zweisprachigen Edition „order“. „Kette“ ergibt jedoch ebenfalls einen guten Sinn, denn die schöpferische Entfaltung des Einen vollzieht sich neuplatonisch in bestimmten Seins-Ketten (gr. seirai, lat. series), vgl. dazu Bernard (1990: 165–182). Dies könnte in Eriugenas Formulierung durchscheinen. 1026 S. etwa Proklos, ETh 13, 2–3, vgl. Drews (2009: 247). 1027 Zur Gutheit Gottes im Platonismus s. o. Kap. II.2, III.c–e, im Christentum s. o. Kap. IV.3 b, IV.4 b, IV.5 b.
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Unpartizipierbaren (im Hinblick auf das absolute Eine-Gute) – allerdings kommt genau dieser Begriff auffälligerweise bei Eriugena nicht vor. Sein Fehlen macht den Fortgang der Passage relativ schwer verständlich, denn Eriugena führt nun nach der transzendenten, mit Gott zu identifizierenden „Gutheit durch sich selbst“ sogleich einen zweiten Term ein, welcher ebenfalls „Gutheit durch sich selbst“, im Unterschied zu dem vorher genannten aber das „erste Geschenk und Partizipation“ der höchsten Gutheit sei. Dies ist einigermaßen verwirrend, da mit einer sprachlich identischen Begriffsbildung doch zwei verschiedene Sachen benannt und differenziert werden sollen: Einzige, aber entscheidende Differenz ist das Attribut „höchste“, durch welches die transzendente „Gutheit durch sich selbst“ von der durch sie instantiierten partizipierbaren Mitte unterscheidbar bleiben soll bzw. könnte.1028 Die zweite „Gutheit durch sich selbst“ als erstes Geschenk der ersten, transzendenten „Gutheit durch sich selbst“, d. h. als erstes Geschenk Gottes, nimmt nun exakt dieselbe Systemstelle des Partizipierbaren / metechomenon bei Proklos und Dionysius1029 ein, denn sie ist die partizipierfähige Mitte, an welcher alles partizipiert, was gut ist. Die Begründung dafür, warum der zweiten „Gutheit durch sich selbst“ eben dieser Name zukomme, ist nun, dass sie „durch sich an dem höchsten Guten selbst“ partizipiere. D. h., die zweite „Gutheit durch sich selbst“ zeichnet sich durch unmittelbare Partizipation an dem Allerhöchsten / Gott selbst aus. Die angesprochene begriffliche Unschärfe, insbesondere das Fehlen des Terms ‚Unpartizipierbares / amethekton‘, impliziert nun zwei Konsequenzen: Einerseits muss Eriugena dadurch, dass er auf den Term ‚Unpartizipierbares‘ verzichtet, den Begriff „Gutheit durch sich selbst“ gleich zweimal verwenden und unterschiedlich begründen bzw. füllen. Während die erste „Gutheit durch sich selbst“ darin besteht, dass sie an nichts anderem partizipiert, soll die zweite „Gutheit durch sich selbst“ diese genau dadurch sein, dass sie an der ersten „Gutheit durch sich selbst“ partizipiert. Das Durch-sich-selbst-Bestehen wird also in zwei konträren Hinsichten verstanden und erscheint daher philosophisch unsauber, zumindest nicht gerade leicht nachvollziehbar. Systematisch und historisch hat diese verwirrende Begriffsbestimmung möglicherweise ihre Ursache in Dionysius’ doppelter Unterscheidung zwischen z. B. dem unpartizipierbaren Selbst-Leben Gottes und derjenigen partizipierbaren Selbstverlebendigung, welche durch die aus Gott, dem Unpartizipierbaren (!), herausgesandten Vorsehungsvermögen gewirkt werden.1030 Während bei Dionysius der Term ‚Unpartizipierbares‘ sprachlich 1028 Zur Hervorhebung ist deshalb in der obigen Übersetzung das Adjektiv höchste kursiv gesetzt. 1029 S. o. Kap. III.c bzw. IV.5 a. 1030 Dionysius Areopagita, DN XI, 6; 222, 13–18 (zitiert oben in Kap. IV.5 a). Dionysius’ differenzierte Position bzgl. des transzendenten Selbst-Lebens Gottes und der partizipierbaren Selbstverlebendigung wird noch von Thomas von Aquin (s. u. Kap. IV.8) unverändert rezipiert
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greifbar ist und vor allem in philosophisch-systematischer Hinsicht für Widerspruchsfreiheit sorgt, scheint er bei Eriugena mit nicht geringen Konsequenzen zu verschwinden.1031 Andererseits beschreibt Eriugena bereits die Relation zwischen der partizipierfähigen Mitte (= der zweiten „Gutheit durch sich selbst“) zu dem Absoluten (= Gott als der ersten „Gutheit durch sich selbst“) als ein Partizipationsverhältnis. Dies ähnelt sachlich in gewisser Weise Origenes’ Verständnis von Christus als dem ersten Abbild Gottes, welcher zugleich an Gott(‑Vater) partizipiere, aber auch als partizipierfähige Mitte alle weitere Partizipation an Gott ermögliche.1032 Bei Eriugena soll also das Partizipierbare zugleich selbst Partizipierendes an dem quasi-Unpartizipierbaren sein: Dies führt zu einer philosophischen Diskrepanz, denn entweder ist das Unpartizipierbare unpartizipierbar oder eben nicht. Ist es aber beides, wird nicht zuletzt die Unterscheidung zwischen Transzendenz (= Unpartizipierbares) und Immanenz (= Partizipierbares) verunklart, und dies könnte zumindest in letzter Konsequenz zu einer – jedenfalls aus platonischer wie christlicher Perspektive – problematischen pantheistischen Theologie führen, in der Gott und Welt in eins fallen,1033 mit erheblichen Konsequenzen für die Theodizee.1034 und vertreten, s. te Velde (1995: 264–5). Bei Eriugena lässt sich eine zumindest begriffliche Unschärfe kaum bestreiten: Vgl. Beierwaltes (1994: 271–2) dazu, dass Gott gemäß Eriugena „durch sein In-Sein in allem Seienden aus diesem ‚herausgehoben‘ “ sei. 1031 Eriugenas einige Seiten später erfolgende Ausführungen zur Partizipationstheorie belegen deutlich, dass der Term ‚Unpartizipiertes‘ wegfällt, wenn er das höchste Prinzip, Gott selbst, als „Partizipiertes“ (!) beschreibt: „Alles, was ist, ist entweder Partizipierendes oder Partizipiertes oder Partizipation oder zugleich Partizipiertes und Partizipierendes. Allein nur Partizipiertes ist, welches an nichts ihm gegenüber Höheren partizipiert, was von dem höchsten und einzigen Prinzip von allem, welches Gott ist, auf zutreffende Weise (recte) begriffen wird“ (periph. III, 630 a; 18, 475–8). Zwar soll Gott sein Partizipiertwerden transzendieren; dies begründet Eriugena jedoch nicht mit seiner Unpartizipierbarkeit, sondern damit, dass das Partizipierte (!) seinem Partizipiertwerden vorausliege: Der philosophische Widerspruch, dass das Partizipierte als zugleich partizipiert und nicht partizipiert, weil der Partizipation vorausliegend, gedacht werden können soll, ist hier also in Kauf genommen (periph. III, 644 a; 38, 1044–6). 1032 S. o. Kap. IV.3 b. 1033 Vgl. Moran (1989: 84–89, 258, 266), O’Meara (1988: 112–3), Rohstock (2014: 178–9, 181, 184), Mooney (2009: 88, 167, 211), Limberger (2015: 57–58, 99) sowie Beierwaltes (1994: 103–5) zu der problematischen Stelle periph. III, 678 c; 85, 2443–4. Zur Verurteilung Eriugenas aufgrund des Pantheismus-Vorwurfs s. Suchla (2008: 160–3), den sie jedoch wie Beierwaltes (1985: 363) zu Unrecht erhoben sieht. Zur Verteidigung Eriugenas ließe sich auf Äußerungen verweisen, in welchen er den Abbildcharakter der Welt im Verhältnis zu Gott unterstreicht ([…] natura quae ad imaginem dei facta est, periph. III, 633 d; 23, 620–1). Philosophisch schlüssig entwickelt Rohstock (2014: 195) Eriugenas Transzendenz-Gedanken: „Das Absolute hingegen bezieht sich in negativer Form auf alles, sodass es mit ihnen nicht identisch und zugleich nicht von ihnen verschieden ist“ (ähnlich ibd., 179, 184). Wenn aber gilt: „Die absolute Verneinung setzt diejenigen Bestimmungen, die es von sich selbst negiert, als seine Kreaturen ‚nach außen‘ “ (ibd., 194), dann wäre in dieser Theologie eine Theodizee kaum noch möglich, denn Gott ist ja auch das Böse ‚nicht‘ – ein solcher Negationsbezug müsste dann zumindest wiederum ab‑ und
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In Proklos’ Konzeption des Methexis-Theorems trat dieser Widerspruch indes nicht auf,1035 weil bei ihm das Partizipierbare nicht (qua Partizipierbarem) bereits selbst Partizipierendes ist und weil auch das Unpartizipierbare nicht als etwas letztlich doch irgendwie Partizipierfähiges ausgegeben werden müsste: Vielmehr verdankt sich bei ihm das Partizipierbare – wie z. B. auf höchster Ebene die überseiende(n) Henade(n) – einem Hervorgestrahltwerden durch das Unpartizipierbare (das überseiende Eine). Anders formuliert: Aus der Überfülle des unpartizipierbaren Absoluten geht die partizipierbare Mitte hervor, denn Überfülle impliziert mehr als nur Fülle, nämlich das Herausstrahlen des göttlichen Lichtes, welches sich in dem (überzeitlichen) ‚Prozess‘1036 des Heraustretens doch nicht selbst verliert.1037 Wesentlich ist also, dass bei Proklos die Beziehung des Partizipierfähigen zum Unpartizipierbaren nicht in sich schon eine Partizipationsrelation darstellt.1038 Und genau dieser Umstand ermöglicht ausgegrenzt werden, um Gott nicht – unplatonisch und unchristlich – auch noch zur Ursache des Bösen schlechthin zu machen. 1034 Der Fluchtpunkt einer pantheistischen Identifikation von Gott und Welt liegt nicht nur im Materialismus, sondern auch im Scheitern der Theodizee: Wenn Gott das Gute, aber von der Welt als nicht-verschieden und als ihr gegenüber nicht-transzendent zu denken ist, dann hat die Welt insgesamt und im Einzelnen auch gut zu sein; folglich muss dann die Realität des Bösen als tatsächlich Schlechtes nivelliert, weginterpretiert und als ‚notwendig für das Gute‘ ausgegeben werden wie z. B. in der Stoa (s. o. Anm. 779). Gemäß den Interpretationen von O’Meara (1988: 147, 150) und Beierwaltes (1994: 142, unter Verweis auf periph. V, 35; 953 d) lassen sich bei Eriugena zumindest vergleichbare Tendenzen ausmachen. Wenn das, was „das Absolute nicht ist, […] aus ihm als Bestimmung ausgefaltet“ wird (Rohstock 2014: 180), warum sollten dann nicht gerade die Übel in der Welt als ‚Entfaltung Gottes‘ gewertet werden? Besteht das Göttliche hingegen positiv für sich selbst und als gegenüber der Welt transzendent, dann existiert realer Freiraum (Kontingenz), in welchem sich die Geschöpfe bzw. Seelen entfalten können – zum Guten hin oder eben auch weg vom Guten, ohne dass das Böse als etwas an sich doch Gutes ausgegeben und ‚wegerklärt‘ werden müsste. (Eine andere Frage ist freilich, ob die göttliche Providenz durch ihr Wirken des Guten auch noch aus dem tatsächlich Bösen wieder etwas irgendwie Gutes entstehen lassen kann, aber dies macht das Böse nicht im Nachhinein zu etwas an sich Gutem oder Notwendigem, vgl. Drews 2009: XI, 154–9, 357.) Andernorts verneint Beierwaltes (1994: 197) im platonischen Sinne für Eriugena, dass Gott Ursache des Bösen sein könnte: „Gott weiß nicht das Übel, da er es andernfalls durch sein constitutives Wissen im Sein der Dinge substantial gründen würde, er selbst aber ist nur Ursprung des Guten.“ Ob es andererseits aus platonisch-christlicher Sicht wirklich zutreffend sein kann, Gott das Wissen über das Schlechte abzusprechen, darf wiederum bezweifelt werden: Gerade ein Proklos bemüht sich, widerspruchsfrei zu zeigen, dass Gott zwar nicht Ursache des Bösen qua Bösem ist, er aber um das Böse als Depravation des Guten weiß, weil umgekehrt gerade dessen Nicht-Kenntnis ein tatsächlicher Mangel im Wissen Gottes wäre, s. Proklos, in Parm. 832,35–833, 18 (vgl. Drews 2009: 347–8). 1035 Obgleich es zum Teil in sich widersprüchliche Interpretationen gibt, s. o. Anm. 315. 1036 Zum Begriff ‚nicht-zeitlicher Prozess‘ vgl. Radke (2006: 143). Inhaltlich verwandt ist derjenige der „stehenden Bewegung“, welcher u. a. bei Augustinus, Dionysius, Eriugena und Cusanus vorkommt (s. Drews [2011: 223–4, Anm. 480]; Radke [2003: 620, 660]; Rohstock [2014: 142], Beierwaltes [1985: 79, 346, 354, 356], [1994: 235, 286, 305, 332]). 1037 Vgl. Halfwassen (2008 b: 205): „Wie das Licht in seiner Ausbreitung in sich bleibt, so geht die Einheit in ihrer Entfaltung nicht aus sich heraus.“ – Zu Gottes „überstrahlende[m] Licht“ bei Eriugena vgl. Beierwaltes (1994: 197). 1038 S. o. Kap. III.c.
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ihm, in theologischer Hinsicht die vielen, dem Einen untergeordneten Götter als Götter aus sich selbst heraus zu verstehen, obwohl sie vom Einen abhängig sind: Denn sie werden als Götter von dem Einen Gott hervorgestrahlt, ohne dass ihr Gott-Sein nur durch Teilhabe begründet wäre und somit nur in abgeleitet-sekundärer Weise bestehen würde1039 – der Vorwurf des Gegenteils war es, mit dem Augustinus die vielen paganen Götter ‚als falsche Götter entlarven‘ wollte.1040 Im Hinblick auf einen interreligiös-interphilosophischen Dialog und die Frage des Verhältnisses von Mono‑ und Polytheismus zeigt sich hier in voller Gänze die Relevanz und die unterschiedliche Art der Applikation des Methexis-Theorems. Zurück zu Eriugena: Der Term ‚Partizipierbares‘ wird, wie oben gesehen, von ihm zunächst in dem von Proklos und Dionysius bekannten Sinne verwendet, Gleiches gilt für den Term ‚Partizipierendes‘. Denn im Unterschied zu der partizipierfähigen Mitte (= der zweiten „Gutheit durch sich selbst“), welche direkt an Gott als dem Absoluten (= der ersten, höchsten „Gutheit durch sich selbst“) partizipiere, gewönnen alle übrigen Guten nur dadurch Anteil an Gottes Gutheit, indem sie an der partizipierfähigen Mitte (= der zweiten „Gutheit durch sich selbst“) partizipierten. Eriugena bemerkt abschließend, dass diese „Regel“ bei allen primordialen Ursachen beachtet werde: Denn erst in vielfacher Anwendung dieses Theorems erweist dieses seine philosophisch-theologische Tragweite, wie er im Folgenden ausführt, indem er platonisch Gutheit als ursächliches Prinzip des Seins, Sein als das des Lebens, Leben als das der Rationalität, Rationalität als das des Intellekts etc. aufzeigt. So gelangt er zu einer (kettenhaften) Stufung der primordialen Ursachen, in welcher nach der ‚Gutheit durch sich selbst‘ als zweite primordiale Ursache das ‚Sein durch sich selbst‘ seinen Platz hat, als dritte das ‚Leben durch sich selbst‘, als vierte ‚Ratio durch sich selbst‘, als fünfte ‚Intellekt durch sich selbst‘ etc.1041 Den Primat des Guten vor dem Sein übernimmt Eriugena nicht einfach aus Dionysius’ philosophischer Theologie, sondern begründet ihn auf bemerkenswerte Weise mit der Autorität der Heiligen Schrift, indem er darauf hinweist, was der erste Schöpfungsbericht der Genesis sagt und was er nicht sagt:
1039 S. o. Kap. III.e. Ebenso auch schon Apuleius, DDS 3 [123] (s. o. Kap. IV.2 b mit Anm. 190).
S. o. Kap. IV.4 a. periph. III, 622 c–623 c; 8,146–9,195. Zu den primordialen Ursachen als dem „erste[n] Seinsbereich, der im Hervorgang der Ur-Einheit in sich selbst geschaffen wird“, vgl. Beierwaltes (1994: 125; ferner 166, 197, 199, 218–9, 221, 225, 250–1, 276), Mainoldi (2014: 188–211), Mooney (2009: 85 ff.), Moran (1989: 262–8) sowie O’Meara (1988: 93–95, 104–7, 153–4): Gemäß Eriugenas Viererdifferenzierung in Bezug auf schöpferische Tätigkeit bzw. Geschaffen-Sein der universalen Natur (1. Ungeschaffenes Schaffendes, 2. Geschaffenes Schaffendes, 3. Geschaffenes Nicht-Schaffendes, 4. Ungeschaffenes Nicht-Schaffendes) gilt: „That which is created and creates, then, is understood only of the primordial causes of things“ (ibd., 94). Zu der besagten Viererdifferenzierung der Natur(en) vgl. Rohstock (2014: 133). 1040 1041
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Denn nicht durch Wesenhaftigkeit / Substanz ist die Gutheit begründet, sondern durch die Gutheit ist die Wesenhaftigkeit / Substanz begründet. Denn auch dies verkündet die Schrift sehr klar, die sagt: ‚Und es sah Gott alles, und siehe, alles [sc. war] sehr gut‘ (Gen 1, 31). Denn sie sagt nicht: Und es sah Gott alles, und siehe, sehr sind sie [= haben Substanz]. Denn welchen Wert hätte allein nur das Sein (esse), wenn das Gut-Sein genommen wäre? (periph. III, 627 d–628 a; 15, 384–389)
Im Vergleich mit Augustinus und dem oben erörterten Beispiel der von einzelnen großen Dingen partizipierten Größe im Unterschied zu Gottes transzendentem Großsein qua Gott1042 sei kurz erwähnt, dass auch Eriugena die Größe als primordiale Ursache neben Liebe, Frieden, Einheit und Vollkommenheit betrachtet: Denn durch diese ursprungshaften Ursachen steigen von der höchsten Ursache von allem alle, die an Größe, Liebe, Frieden, Einheit und an Vollkommenheit Partizipierende sind, herab (periph. III, 623 c; 9, 193–5).
Eriugena vertritt also in diesem Punkt eine ähnliche, christlich gewendete Partizipationstheorie wie Augustinus:1043 Von der höchsten Ursache (= Gott) her sind die primordialen Ursachen, d. h. die partizipierfähigen ‚Seinsformen in sich selbst‘ wie ‚Größe in sich selbst‘, ‚Liebe in sich selbst‘ etc.; durch Partizipation an diesen eidetischen Seinsformen „steigt“ von Gott her alles „herab“, was jeweils an einer (oder mehreren) Primordialursachen partizipiert und insofern Instanz von ‚groß‘, ‚Liebe‘ etc. ist. Denn Partizipation bedeute nicht die „Aufnahme eines [quantitativen] Teils“,1044 sondern die ordnungsgemäße „Verteilung der göttlichen (Seins‑)Gaben und Gnadengeschenke“.1045 Obgleich die philosophische Rede von den vielen Primordialursachen möglicherweise eine polytheistische Interpretation zulassen könnte – ein Proklos hatte in grundsätzlich vergleichbarer Weise ja auf diesem Wege den Polytheismus dem Monotheismus qua Entfaltung des Einen in die Vielheit der Seienden untergeordnet1046 –, schließt Eriugena diese Deutungsmöglichkeit als Christ natürlich aus: Selbst und durch sich selbst subsistieren ewig die ursprungshaften Ursachen von allen, die sind, auf einshafte und unveränderliche Weise in Gottes Wort / Logos (verbum dei), in welchem sie geschaffen sind, als ein und dasselbe, jenseits aller Ordnungen und jeder Zahl (periph. III, 626 b; 13, 319–322).1047 S. o. Kap. IV.4 b. Freilich gibt es andere Aspekte, welche Eriugena von Augustinus signifikant trennen: „He [sc. Eriugena] has taken the two forms, Creator and creature, which Augustine had held so firmly and completely separate and has united them into a single whole or totality, which he terms universitas“ (Moran 1989: 258). Zum Einfluss Augustins auf Eriugena s. ibd., 110–6. 1044 Vgl. ebenso Proklos, s. Kap. III.c. 1045 periph. III, 631 a; 19, 520–3. Zur besonderen Unterscheidung zwischen dationes und donationes bei Eriugena s. Sheldon-Williams (1981: 309, Anm. 6), O’Meara (1988: 142), Mooney (2009: 108) sowie periph. III, 631 b; 19, 10–11. 1046 S. o. Kap. III.g. 1047 Vgl. in ähnlicher Weise periph. III, 629 d. S. Beierwaltes (1994: 125) dazu, dass sich „im Akt des creativen Hervorgangs in ihm [sc. Gott] selbst nicht Vielheit im eigentlichen Sinne durch[setzt] (trotz der ‚Pluralität‘ der causae […]).“ S. ebenso Mainoldi (2014: 198, 208). 1042 1043
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Die Primordialursachen sind also gemäß Eriugena geeint in dem einen Logos selbst. Diese Konzeption erscheint der philosophischen Sache nach Plotins Verständnis des seienden Einen (hen on) bzw. des nous vergleichbar, welches / -er die Totalität des wahren Seins darstellt und alle intelligiblen Ideen in ihrer Gesamtheit als umfassende Einheit eint: Die philosophische Parallelität zwischen dem neuplatonischen seienden Einen und dem so verstandenen Logos Gottes im christlichen Kontext hatte sich bereits bei Origenes abgezeichnet.1048 Dass die primordialen Ursachen in Gottes Logos „geschaffen“ sind, erinnert ferner der Sache nach in christlich-theologischer Hinsicht an Origenes’ Theologie von der „geschaffenen Weisheit Gottes“ gemäß Sprüche 8, 221049 – im Unterschied etwa zu der ‚streng‘ dem nizänischen Homoousios folgenden Theologie Augustins von dem „ungeschaffenen Verbum Dei“.1050 Eriugena scheint hier eine nicht ganz eindeutige ‚Mittelposition‘ einzunehmen: Die primordialen Ursachen seien „geschaffen von dem Vater in seinem eingeborenen / ein-gezeugten (unigenitum) Wort, d. h. in seiner Weisheit (sapientia), „die Weisheit selbst aber sei nicht geschaffen (non facta), sondern gezeugt (genita) und Schöpferin (fact‑ rix).“1051 Andererseits sollen „alle Dinge in Gottes Wort nicht nur ewig, sondern auch das Wort selbst sein,“1052 was wiederum eine pantheistische Interpretation, 1048 Zu Plotin s. o. Kap. II.5 c, zu Origenes Kap. IV.3 b. – Zum Vergleich zwischen dem seienden Einen des Nous als alle intelligiblen Ideen umgreifende Totalität bei Plotin und den Primordialursachen bei Eriugena s. Beierwaltes (1994: 94, 98, 108). 1049 Zu Origenes s. o. Kap. IV.3 b, zum Verhältnis von Eriugena zu Origenes vgl. Jeauneau (2014) und Moran (1989: 107–8). – Zu Eriugenas Sapientia-Theologie vgl. Mainoldi (2014). S. ferner Beierwaltes (1994: 199): Gottes „Weisheit als Sich-selbst-Aussprechen des Vaters“ ist „Ort der Ideen“; zur Identität von „Verbum und Sapientia“ bei Eriugena s. ibd., 219, 225. 1050 Trotzdem versteht Eriugena Gottes Logos als „gleichewig und gleichwesentlich“, vgl. Beierwaltes (1994: 199) und O’Meara (1988: 173). Zu Eriugenas Christologie und dem Stellenwert Christi in seinem Denken s. Mooney (2009: 152–183). – Zu Augustinus vgl. civ. IX, 15; 388,24– 389,1 und s. o. Kap. IV.4 a mit Anm. 796. Vgl. ferner Tornau (2014: 198) zu Augustins (conf. XII, 15, 20) Interpretation, dass die geschaffene Weisheit nicht Gottes eigene, ihm gleichewige Weisheit bedeuten kann: Augustinus unterscheidet zwischen dem zeugenden Aussprechen des Logos-Sohnes durch Gott-Vater, dem Hören des Logos durch die Engel; dieses Hören bedeutet gemäß Tornau (2014: 200) „the angels’ contemplation of the created being’s eternal ratio […] contained in the divine Word“. D. h., auch Augustinus vermag zwischen ungeschaffenem Logos einerseits und dessen Ursächlichkeit (als Schöpfungsmittler) für die Schöpfung zu unterscheiden; der Logos umfasst die Vernunftgründe als Ursachen für das geschaffene Sein. Dabei wird jedoch nicht die Unterscheidung zwischen dem ungeschaffen-ewig-transzendenten Sein des Logos und dem geschaffen-immanenten Sein der Geschöpfe verwischt: „The existence of the creation qua creation (and not qua uncreated ratio) thus begins, not in the external world, but in the mind of the angels“ (Tornau 2014: 201). Anders als bei Eriugena muss Gott sich gemäß Augustinus nicht ‚selbst erschaffen‘ (s. u. Anm. 1058). 1051 periph. III, 635 b–c; 25, 679–685. Das in Gottes Wort / Weisheit Geschaffene sei zwar „ewig“, aber nicht „gleichewig“ (periph. III, 636 a; 26, 700–1). S. Mainoldi (2014: 203) und O’Meara (1988: 97–98, 107, 163). Zum Problem des (un‑)geschaffenen Wortes bei Eriugena vgl. Beierwaltes (1994: 125–6) und Rohstock (2014: 135, 142, 145). 1052 periph. III, 641 a; 34, 916–7; periph. III, 642 c; 36, 986–990.
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wie sie sich oben schon aus Eriugenas modifiziert-reduzierter Partizipationstheorie abzuzeichnen schien, zumindest begünstigen würde.1053 Den Widerspruch aufzulösen bemüht sich Eriugena, indem er sagt, dass „die Vernunftgründe (rationes)1054 aller Sachen ewig sind, solange sie in der Natur selbst des Wortes begriffen werden, welches übersubstantiell (superessentialis) ist.“1055 Es komme also darauf an, zu unterscheiden, ob die Vernunftgründe in Gottes Wort oder ihrer schöpferischen Entfaltung in der durch sie geschaffenen Welt betrachtet werden. Dies ist auf jeden Fall im Einklang mit Dionysius’ Metaphysik zu sehen:1056 Die entscheidende Begründung, welche bei Dionysius in der widerspruchsfreien Differenzierung zwischen unpartizipierten und partizipierten Ursachen gegeben ist, lässt Eriugena jedoch hier ebenso außen vor. Trotzdem zeigt sich auch in seiner Theologie die philosophisch begründete Transzendenz Gottes, wenn er im Einklang mit den Neuplatonikern Dionysius, Proklos und Boethius1057 auf Gottes Überwesentlichkeit (superessentialitas) und Überseiendheit zu sprechen kommt.1058 Insgesamt ergibt sich aus dieser kurzen Zusammenschau also ein vielschichtiges Bild: Einerseits greift Eriugena in erkennbarer Weise das von Dionysius bzw. Proklos etablierte Methexis-Theorem auf, verkürzt es aber in einem wesentlichen Punkt, wenn er den Term des Unpartizipierbaren aufgibt und in den des Par-
1053 S. o.
Anm. 1033. Zur Identifikation der primordialen Ursachen mit Gott vgl. Limberger (2015: 71–72). 1054 Zum Begriff vgl. oben Origenes, Kap. IV.3 a . 1055 periph. III, 642 a; 35, 957–8. 1056 Vgl. Dionysius Areopagita, DN XI, 6; 222, 13–18 (s. o. Kap. IV.5 a). 1057 S. o. Kap. IV.5 a, III.d–e, IV.6. 1058 Vgl. auch periph. III, 634 b; 24, 638–641; ferner 643 c; 37, 1032–3; 644 a; 38, 1049. Zum Überseienden bei Eriugena s. Limberger (2015: 167), Otten / Allen (2014: passim, s. Index S. 750), Rohstock (2014: 155–6, 160–2, 184, 188, 194–7), Moran (1989: 238) und Beierwaltes (1994: 189) zu Eriugenas Verständnis von Gott als „dem schlechthin Nicht-Gegensätzlichen, der über allem Gegensätzlichen Gegensätzliches als Einheit durch sein Übersein begründend umfaßt“. Mit Blick auf Eriugenas Trinitätstheologie (ibd., 218–261) weist Beierwaltes darauf hin, dass gemäß Eriugena „Gottes Einheit und Dreiheit eine ‚überwesentliche‘ und in ihrem Wesen ‚nicht aussprechbare‘, daß sie also ‚mehr als‘ Einheit und Dreiheit sei“ (ibd., 224; ebenso Rohstock [2014: 172]). In seinem „die Schwebe zwischen Dreiheit und Einheit halten“ (Beierwaltes 1994: 261) wollenden Trinitätsverständnis vereine Eriugena griechische und lateinische Theologie, d. h. Dionysius, Augustinus und Boethius (ibd., 225, 241, 255) und gelange dabei zu einem „differenzierten, relational-bewegten Begriff von Einheit“ der Trinität (ibd., 224; ähnlich 231, 257), s. ebenso Rohstock (2014: 145, 164). Die Relation der Personen zueinander sei „ein in sich differenziertes Beziehungsgeflecht“ (Beierwaltes 1994: 226, 233, 241, 254, 260, 281), das sich „in dem gegenseitigen totalen Ineinander der Drei“ zeige, jenseits addierbarer Zahlen (ibd., 226). Anders als z. B. Dionysius denke Eriugena jedoch die Trinität im Kontext der „absoluten Selbstkonstitution Gottes“ (ibd., 228, 258), gleichwohl ohne Subordinatianismus (ibd., 231) und ohne Vorher und Nachher (Beierwaltes 1985: 355). Zur Trinität und zum Überseienden bei Eriugena vgl. ferner O’Meara (1988: 84, 102, 111, 113). – Zur rein relationalen Dreiheit und einen Natur des drei-einigen Gottes s. o. besonders Kap. IV.6 (Boethius).
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tizipierbaren mitzuintegrieren versucht.1059 Dies führt nicht nur zu philosophischen Inkonsistenzen, sondern vor allem auch theologisch zu der Schwierigkeit, nicht mehr sauber zwischen Gott und Welt differenzieren zu können: Aus einer bestimmten Perspektive könnte Gott mit der von ihm geschaffenen, an ihm partizipierenden Welt identisch sein; ein solcher Pantheismus liefe in letzter Konsequenz – ohne dass Eriugena dies beabsichtigt oder selbst vertritt – auf die Frage hinaus, warum man überhaupt einen Gott postulieren sollte, wenn er nicht von der Welt unterscheidbar wäre, denn die Welt ließe sich dann als umfassender Inbegriff aller Wirklichkeit womöglich auch einfach ohne geistigintelligible Sphäre und ohne Gott, eben ausschließlich als ‚Welt‘ verstehen,1060 wobei dies jedenfalls aus platonisch-christlicher Sicht mit erheblichen philosophischen Widersprüchen verbunden wäre. Dass Eriugena dies nicht insinuiert, wird jedoch dann deutlich, wenn er von Dionysius (und Proklos) ausgerechnet den wohl schwierigsten philosophisch-theologischen Begriff, den der Überseiendheit Gottes, übernimmt und bewahrt. Unabhängig von diesen keineswegs unwesentlichen ‚theologischen Details‘ lässt sich als Vorausblick auf Cusanus1061 festhalten, dass die gemäß Eriugena im Verbum Dei zur nicht mehr zahlhaften Einheit transzendierte Vielheit der Primordialursachen1062 (ähnlich wie bei Proklos die überseienden Henaden1063) eine sachlich entscheidend wichtige Grundlage bietet für die in Cusanus’ De pace fidei durch das Verbum Dei selbst geleistete Mediation zwischen den verschiedenen Religionen: Wenn Gottes ewiger Logos die vielen Primordialursachen als Einheit umgreift, dann erscheint unter der Voraussetzung, dass sich in den Religionen trotz ihrer Verschiedenheit doch jeweils (mehr oder weniger starke) Funken des göttlichen Logos-Lichts zeigen (können), eine Vermittlung zwischen den Religionen durch den Logos selbst philosophisch begründet – obgleich dies aus menschlicher Perspektive wie bei Cusanus bestenfalls im Rahmen einer 1059 Beierwaltes (1994: 119) spricht zwar allgemein von Eriugenas „produktiv umformende[r] Rezeption der dionysischen Theologie“ und erwähnt kurz darauf auch den „Gedanken der ontologischen ‚participatio‘ “ (ebenso ibd., 137), ohne jedoch auf die entscheidenden Differenzen, die gerade im Hinblick auf die Rezeption und Reduktion des proklisch-dionysischen MethexisTheorems bestehen, einzugehen. 1060 Vgl. Beierwaltes (1994: 80–81) zu L. A. Feuerbach. – Möglicherweise scheint sich bereits bei Eriugena im Keim eine bestimmte Skepsis im Hinblick auf die Erkennbarkeit Gottes und des eigenen menschlichen Selbst anzukündigen: Wie Beierwaltes (ibd., 245) darstellt, gelangt die Seele gemäß Eriugena „nicht zu einer Erkenntnis des eigenen oder des göttlichen Wesens, sondern lediglich zur Erkenntnis des ‚Daß‘ […]“ (ähnlich ibd., 296–8). Vgl. ebenso Limberger (2015: 132, 193, 195–6), Mooney (2009: 64, 183), O’Meara (1988: 99, 126, 143–4), Moran (1989: 190). Zur Abgrenzung Eriugenas gegenüber dem modernen Idealismus vgl. Beierwaltes (1985: 353): „Dadurch unterscheidet sich Eriugena von der theosophischen und im Kontext des Idealismus möglichen Tendenz, Gott in und durch die Geschichte resultativ zu sich selbst kommen zu lassen, in der das Endliche zum Konstituens des Unendlichen erhoben würde.“ 1061 S. u. Kap. V. 1062 periph. III, 626 b; 13, 319–322 (s. o.). Vgl. O’Meara (1988: 106). 1063 S. o. Kap. III.e.
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fiktiven Rede erahnbar ist, denn allein Gott (bzw. sein Logos) vermag „Richter mitten unter den Göttern“ (Ps 82, 1 b) zu sein. Von hier aus könnte (trotz der möglicherweise aus nizänischer Perspektive motivierten Kritik) nicht zuletzt auch ein dezidiert positives Licht auf Origenes’ Christologie1064 fallen: Denn wenn gemäß Origenes Christus / der Logos erstes Abbild Gottes sowie universaler Vermittler des Göttlichen für alle anderen ‚Götter‘ ist, dann könnte es aus diesem Blickwinkel geradezu folgerichtig erscheinen, dass Cusanus den Logos als Vermittler / Richter zwischen den Religionen auftreten lässt.
8. Thomas von Aquin: Die den Menschen gemeinsame Anteilhabe an Rationalität als Basis interreligiöser Dialogfähigkeit, platonische und aristotelische Erkenntnistheorie, die Ideen in Gottes Intellekt und ihre Partizipierbarkeit Der Gedanke, dass im Letzten nur Gott selbst über die verschiedenen Menschen sowie ihre Glaubensrichtungen Richter und insofern auch „Herr der Seelen“ sein kann, lässt sich (zumindest der Sache nach) bereits in der christlichen Heiligen Schrift und z. B. bei Origenes finden.1065 Impliziert ist dabei, dass Gott selbst kein bloß abstraktes Prinzip, keine nur hypostasierte Moral, sondern selbst Wesen (oder eben Über-Wesen), lebendig, erkennend und auf bestimmte Weise tätig ist.1066 Wenn Gott gerade qua seinem Sohn, dem Logos, d. h. seinem Vernunft-Wort, die Welt erschaffen hat und dieses somit prinzipienhafter Quell der Rationalität und Vernunftbegabung in seinen Geschöpfen ist,1067 dann haben zumindest gemäß Origenes alle rational begabten Wesen in irgendeiner Weise Anteil an diesem Logos, d. h. an Christus selbst als Gottes Sohn.1068 Nicht erst Cusanus wird aus diesen Gründen Gottes Logos selbst als Richter zwischen den Religionen und ihren Vertretern (fiktiv) auftreten lassen: Der Keim dieses (aus christlicher Perspektive vielleicht sogar ‚genial‘ erscheinenden) Gedankens ist, wie gesehen, mindestens seit Origenes greifbar. Nicht zufällig setzt genau an diesem Punkt auch Thomas von Aquin (1225–1274)1069 in seiner S. o. Kap. IV.3 b. Herrschaft Gottes über die Seelen in der Bibel vgl. 1 Petr 2, 25 b. Impliziert scheint diese Herrschaft auch, wenn davon die Rede ist, dass Gott z. B. die Seele eines Menschen bei dessen Tod „herausziehen (Hi 27, 8) / fordern (Lk 12, 20)“ kann oder auch „erquickt“ (Ps 23, 3); entsprechend „sehnt“ bzw. „dürstet“ die Seele „nach Gott“ (Ps 42, 2–3). Vgl. außerdem Origenes zu Christus / Gottes Logos als „Vater der Seelen“: princ. IV, 3, 7; 750, 21–23. – Nicht ohne Weiteres in theologischer Hinsicht, aber doch der grundsätzlich gemeinten Sache nach vergleichbar erscheint die berühmte homerische Rede von Zeus als dem „Vater der Menschen“ (vgl. Anm. 275). 1066 Vgl. Thomas von Aquin, ScG I, 97–98. 1067 S. o. Kap. IV.3 a (Origenes); IV.4 c (Augustinus); IV.7 (Eriugena). 1068 S. o. Kap. IV.3 a. 1069 Zu Thomas’ Biografie (und seinem Werk) vgl. Kenny (1999: 11–56). 1064
1065 Zur
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Summa contra gentiles (ScG) im Hinblick auf die interreligiöse Auseinandersetzung z. B. mit den Muslimen an, wobei er aus spezifisch christlicher, aber auch aus allgemein-philosophischer Perspektive das Sein des Menschen als animal rationale et mortale1070 bestimmt: Unter allen Bemühungen der Menschen ist tatsächlich das Bemühen um Weisheit (sa‑ pientia) vollkommener, erhabener, nützlicher und lustvoller. […] Erhabener aber ist es, weil der Mensch dadurch in hervorragender Weise sich einer Ähnlichkeit mit Gott (ad divinam similitudinem) annähert, der ‚alles in Weisheit‘ (Ps 104, 24) geschaffen hat. […] Gegen die Irrtümer einzelner vorzugehen, ist aus zwei Gründen schwierig. […] Zweitens, weil bestimmte von ihnen, wie die Mohammedaner und die Heiden, nicht auf der Basis der Autorität irgendeiner Schrift mit uns übereinkommen, durch die sie widerlegt werden könnten, wie wir gegen die Juden mit dem Alten Testament argumentieren können, gegen die Häretiker mit dem Neuen [sc. Testament]. Diese aber lassen keines von beiden gelten (neutrum recipiunt). Deshalb ist es notwendig, auf die natürliche Vernunft (naturalis ratio) zu rekurrieren, der alle beizupflichten gezwungen sind. Diese ist gleichwohl in den göttlichen Dingen defizient (ScG I, 2; 4–6).1071
Wenngleich der Schluss dieser Passage die „natürliche Vernunft“ zwar in ihre Schranken weist – wie bei Eriugena kann der Mensch nach Thomas zwar erkennen, dass Gott ist, nicht aber sein ihm qua Gott eigentümliches, inneres Wesen einsehen1072 –, kann der Grundimpetus von Thomas’ Argumentation nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vernunftbegabung das Spezifikum des menschlichen Seins darstellt, welches ihn vor anderen sterblichen Lebewesen auszeichnet.1073 Gerade die Kultivierung der ratio bzw. des Intellekts ermöglicht 1070 S. o. Kap. II.5 b mit Anm. 223. Zu Thomas’ Auseinandersetzung mit dem Islam vgl. Burman (2014: XV–XVI). 1071 Vgl. zur Stelle Kenny (1999: 22). 1072 Vgl. Delgado (2012: 186), Imbach (1997: 19). – Zu Eriugena s. o. Kap. IV.7. Gemäß Thomas kann der Mensch kraft seiner ratio zwar auf rationale Weise erkennen, dass Gott ist, dass er einer ist, nicht aber dessen „ihm eigene Substanz“ (vgl. te Velde 1995: 120), da das menschliche Denken zu sehr an die (stark partikularisierenden) Sinneswahrnehmungen gebunden sei (ScG I, 3; 8); für die ratio sei auch unergründlich, inwiefern Gott einer und drei zugleich ist (ScG I, 3; 8). Erkenntnistheoretisch und theologisch entscheidend ist freilich, dass Thomas hier von der facultas humanae rationis spricht, also von der rational-diskursiven Unterscheidungsfähigkeit, wie sie epistemologisch und ontologisch spezifisch auf den Bereich der mathêmata Anwendung findet (vgl. dazu oben Kap. II.5 c und den Schluss von Kap. III.e): Mathematisch kann ‚1‘ nie gleich ‚3‘ sein (und umgekehrt). In einer zwar ebenfalls rational begründbaren und begründeten, die ratio im spezifischen Sinn dann jedoch übersteigenden Zusammenschau des Intellekts lässt sich dagegen mit Boethius (s. o. Kap. IV.6) schon zeigen, inwiefern z. B. die drei trinitarischen Personen als relationale Dreiheit Ausdruck des einen Wesens Gottes als Liebe und Einheit sein können: Auf der Erkenntnisebene des Intellekts werden in einem nicht mehr bloß rational ‚entweder-oder‘ unterscheidenden, sondern zwei einander sich ergänzende Hinsichten zusammenschauenden, intellektiven Erkenntnisakt dann doch göttliche Ein‑ und Dreiheit widerspruchsfrei zusammengedacht. Dazu, dass auch Thomas selbst bekanntlich in dieser trinitätstheologischen Tradition steht, vgl. te Velde (1995: 277). 1073 Zu dem berechtigten Einwand, ob geistig behinderten Menschen folglich dann gar ihr Menschsein im spezifischen Sinne abzusprechen wäre, und seiner Widerlegung s. o. Anm. 224.
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dem Menschen gemäß platonisch-aristotelischer Tradition eine Angleichung an Gott und bietet die höchste Lust,1074 welcher, wie Thomas unterstreicht, auch vom biblisch-christlichen Verständnis her die Welt „in Weisheit“, d. h. in seinem Logos, in und mittels göttlicher Vernunft geschaffen habe. Die rationale Begabung des Menschen ist für Thomas aber gerade deshalb entscheidend relevant, weil sie letztlich von allen Menschen unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer spezifischen Religion oder einer philosophischen Schule zugestanden werden kann: Deshalb verweist Thomas auf die Muslime, mit denen die Christen zwar keine Heilige Schrift (oder einen Teil davon) gemeinsam haben,1075 aber als Menschen die Vernunftbegabung teilen. Auch wenn Thomas dies nicht weiter ausführt, zeigt er hier doch einen wichtigen Ansatzpunkt für eine interreligiöse Auseinandersetzung auf, welcher, wie gesehen, z. B. schon von Origenes der Sache nach stark gemacht wurde.1076 Diese den Menschen qua Mensch gemeinsame Rationalität, genauer: die ihnen gemeinsame natürliche Vernunft erscheint also einerseits auch für Thomas die entscheidende Basis eines interreligiösen Dialogs zu sein. Andererseits verweist diese ins Feld geführte Brücke, welche die natürliche Vernunft zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen darstellen könnte, direkt auf das Thema der Partizipationsontologie zurück: Wenn unterschiedlichen Wesen etwas Selbiges (wenn auch auf wiederum unterschiedliche Weise bzw. in unterschiedlich ausgeprägter Form) gemeinsam ist, dann ist dies – jedenfalls aus platonischer Perspektive – letztlich nicht anders erklärbar denn als Partizipation an etwas (letztlich) Identischem. Was also führt Thomas, philosophisch vor allem durch
1074 Zur besonderen Nähe der rationalen Seele zu Gott vgl. Augustinus, div. qu. 46 (s. o. Kap. IV.4 c). Zum platonischen Begriff der homoiôsis theô (Platon, Tht. 176a8–b3) vgl. oben das Ende von Kap. IV.3 a. Zum Gedanken der höchsten Lust und „vollkommenen Glückseligkeit“ im bios theôrêtikos, d. h. im tätigen Vollzug des intellektiven Begreifens vgl. Aristoteles, EN 1177a12–17. 1075 Thomas’ Sichtweise erscheint zumindest auf den ersten Blick nachvollziehbar, insofern der Koran zunächst einmal eine andere Schrift ist als die Bibel, deren hebräischer Teil Grundlage von Judentum und Christentum ist. Man braucht jedoch nur etwas tiefer zu schauen, um zu erkennen, dass, „um wieder die Brücke des Gesprächs anzugeben, […] die Muslime keineswegs Altes oder Neues Testament generell ablehnen“ (Berger 2004: 512). D. h., Thomas’ Argument ist prima facie plausibel, sollte jedoch – gerade im 21. Jhd. – nicht absolut gesetzt werden. Sein Insistieren auf der gemeinsamen natürlichen Vernunft begründet indes – so oder so – eine grundsätzliche Dialogfähigkeit von Menschen jenseits aller religiösen Unterschiede. Ob sich Thomas indes „gegen eine auch in seiner Zeit vorhandene Tendenz, die philosophische Vernunft dem Offenbarungsglauben unterzuordnen“, wende (Schmitt 2016: 389), erscheint zweifelhaft, da er der Vernunft ja eine „Defizienz“ in theologicis bescheinigt (s. o.), obgleich die menschliche Vernunft Abbild, aber eben auch nur Abbild der göttlichen und nicht diese selbst ist. 1076 S. o. Kap. IV.3 a. Zu Thomas’ Vorbehalt, Glaubensartikel – die also über allgemeine, rational erschließbare Wahrheiten hinausgehen – gegenüber Ungläubigen rational beweisen zu wollen, vgl. Schick (2013: 271).
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Aristoteles geprägt,1077 selbst im Hinblick auf die platonische Partizipationsontologie aus? Plato hat nämlich angenommen, dass die Seinsformen (formae) der physischen Dinge (res naturales) ohne Materie subsistieren (subsistere) und diese folglich intelligibel sind: Denn deshalb ist etwas aktual intelligibel, weil es immateriell ist, und in dieser Weise bezeichnete er [sc. sie] als species oder Ideen. Durch Partizipation (participatio) an diesen, sagte er, werde auch die körperliche Materie geformt […]. Aber da Aristoteles nicht angenommen hat, dass die Seinsformen der physischen Dinge ohne Materie subsistieren (subsistere) – Seinsformen aber, die an einer Materie existieren (existentes) sind nicht aktual intelligibel –, folgte [sc. daraus], dass die Naturen bzw. Seinsformen der sinnlich-wahrnehmbaren Dinge (res sensibiles), welche wir intellekthaft begreifen (intelligimus), nicht aktual intelligibel wären (essent). Nichts aber wird von der Potenz in die Aktualität (in actum) geführt, außer durch etwas aktual Seiendes (aliquod ens actu): wie Sinneswahrnehmung (sensus) im (Wahrnehmungs‑)Akt geschieht durch ein Wahrnehmbares im (Wahrnehmungs‑)Akt. Es war also sachlich erforderlich (oportebat), ein bestimmtes Vermögen (virtus1078) auf der Seite des Intellekts anzunehmen, welches intelligible [sc. Formen] im Erkenntnisakt bewirkt durch Abstraktion der Ideen (species) von ihren materiellen [sc. Existenz‑]Bedingungen. Und dies ist die Notwendigkeit, einen aktual tätigen Intellekt (intellectus agens) anzunehmen (STh I, q. 79, a.3, resp.).1079
Diese der Summa Theologiae (STh) entnommene Passage, in welcher Thomas in einem allgemeinen Zugriff auf den platonischen Partizipationsgedanken rekurriert, bringt zweifellos erhebliche erkenntnistheoretische Voraussetzungen mit sich, die für ein angemessenes Verständnis des Textes zunächst geklärt werden müssten, was in diesem Rahmen jedoch in ausreichender Weise nicht zu leisten
In diesem Sinne stellt auch te Velde (1995: xi) in seinem eigens dem Partizipationsgedanken bei Thomas gewidmeten Buch fest: „It is at first sight quite remarkable that Thomas, whose philosophical approach to reality is guided, according to his own self-understanding, by basically Aristotelian principles, assigns to this Platonic idea of participation such a central place in his metaphysics of creation“. Zum Partizipationsgedanken bei Thomas vgl. auch Weier (1970: 144–164), allerdings mit der bei Weier grundsätzlich anzutreffenden Unterscheidung zwischen Sinn‑ und Seinsteilhabe (ibd., 163), die nicht unbedingt immer aus den Texten selbst abzuleiten ist (s. o. Anm. 2). 1078 Virtus steht als Standardbegriff für griech. dynamis (vgl. o. Anm. 677), wie er z. B. in den lateinischen Proklos-Übersetzungen Wilhelm von Moerbekes vorkommt. 1079 Vgl. zur Stelle Kenny (1999: 114–5), jedoch mit einer gänzlich anderen Übersetzung, welche zum Teil folgenreiche inhaltliche Weichenstellungen impliziert: Der Konjunktiv essent erscheint als Indikativ, wodurch an einem entscheidenden Punkt von einer sachlichen Behauptung statt einer möglichen, vielleicht nur hypothetischen Konsequenz die Rede ist. Sensus in actu wird bei Kenny als „Sinne“ statt als sinnlicher Wahrnehmungsakt wiedergegeben, damit gerät der Erkenntnisakt der Sinneswahrnehmung aus dem Blick und wird mit dem potentiellen Wahrnehmungsvermögen („die Sinne“) identifiziert: Dies impliziert eine gravierende erkenntnistheoretische Umdeutung des Textes. Zur Unterscheidung von Erkenntnisakt, potentiell Erkennbarem und potentiell Erkennendem nach aristotelischer Auffassung, die auch Thomas’ Verständnis zugrunde liegt, vgl. Bernard (1988: 133–159, speziell zu Thomas vor allem 103, Anm. 46; 157, Anm. 16). 1077
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ist.1080 Leicht erkennbar ist zunächst, dass Thomas in seinem knappen Rekurs auf Platon die entscheidende ontologisch-erkenntnistheoretische Differenz von intelligiblem und sinnlich-wahrnehmbarem Sein reflektiert.1081 Die das bestimmte Sein physischer Realien ausmachenden Prinzipien – wie z. B. das Eidos ‚Dreieck‘ als Prinzip des Dreieck-Seins für alle an ihm partizipierenden Einzeldreiecke1082 – seien selbst als eidetische Seinsformen der Materie transzendent und von sich selbst her etwas rein Intelligibles. Interessant ist nun, wie Thomas das Verhältnis zwischen Platon und Aristoteles darstellt: Aristoteles hätte sich gegen die besagte Position seines Lehrers gewendet. Sofort folgt hier jedoch der Einwand, dass eidetische Seinsformen, die an einer Materie realisiert vorlägen, nicht aktual intelligibel, d. h. in ihrer reinen Begreifbarkeit bestehende Sachgehalte sein können.1083 Dabei formuliert Thomas auch terminologisch präzise, dass solche Seinsformen, welche Aristoteles im Blick hat, „existieren“, also ein äußerliches, in die Materie „herausgetretenes“ Sein implizieren, während er zuvor die gemäß platonischer Position in ihrer reinen Intelligibilität und Immaterialität bestehenden Ideen nicht als ‚existierend‘, sondern als „subsistierend“ bezeichnet hatte.1084 Die unterschiedlichen Positionen eines Platon und eines Aristoteles scheinen also auch damit zusammenzuhängen, dass gemäß Thomas’ Darstellung beide aus einer unterschiedlichen Perspektive jeweils Verschiedenes fokussieren;1085 nicht umsonst hält Thomas immaterielle Subsistenz und materielle Existenz philosophisch adäquat auseinander. Wenn aber materialisierte Seinsformen aufgrund ihrer Materieverbundenheit nicht aktual intelligibel sein können, dann ist impliziert, dass das, was man an einem real existierenden Ding (wie einem partikulären Dreieck aus Holz) begreift, nicht aktual intelligibel wäre.1086 Wäre dies demzufolge nur potentiell intelligibel, dann müsste es, um aktual intelligibel zu werden, aus dieser seiner 1080 Vgl. aber Bernard (1988) zu Aristoteles, De anima unter ständiger Berücksichtigung auch von Thomas’ De anima-Kommentar (s. auch die vorhergehende Anm.). Die folgende Interpretation der gerade übersetzten Passage basiert maßgeblich auf der von Bernard geleisteten Neuinterpretation der aristotelischen Wahrnehmungslehre und ihrer Kommentierung in der Spätantike und bei Thomas. 1081 Vgl. o. Kap. II.1–3. 1082 S. o. Kap. II.5 b und III.c. 1083 Vgl. oben Kap. II.3. 1084 Damit soll jedoch nicht behauptet sein, dass diese terminologische Unterscheidung des letztlich sachlich-philosophischen Unterschieds immer in jedem Fall durchzuhalten ist. Vgl. die prägnante Fassung von Thomas’ Subsistenz-Begriff bei te Velde (1995: 201): „[…] subsistence expresses the unity of the essence with its being.“ 1085 „In Thomas’s solution the Aristotelian aspect of the immanent form on the one hand and the Platonic aspect of the transcendent form on the other hand are brought together in a synthesis“ (te Velde 1995: 26, ähnlich 58 f.. 129–133). 1086 Zum sachlichen Problem, dass gemäß Aristoteles die Sinneswahrnehmungen (auch wenn sie auf ein Allgemeines wie ‚rot‘ oder den Kammerton ‚a‘ zielen) immer an die an einer partikulären Materie verwirklichte Seinsform gebunden sind, während der Intellekt die Washeit einer solchen materiell verwirklichten Seinsform, d. h. die Sache, in seinem Erkenntnisakt
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Potentialiät durch irgendetwas in eine Aktualität überführt werden, welches aber selbst ein aktual Seiendes sein müsste. Als analoges Beispiel verweist Thomas auf die Sinneswahrnehmung: Denn auch bei der Sinneswahrnehmung müssen (nach aristotelischer Erkenntnistheorie) etwas potentiell Sehfähiges und potentiell Sichtbares im Wahrnehmungsakt eins und aktual aufeinander bezogen sein: Das wahrnehmende Sehen von etwas Rotem ist keine bloße Potentialität, sondern der tatsächliche Sehakt, in welchem etwas potentiell Sichtbares (‚Rotes‘) im Sehakt aus seiner Potentialität in sein aktuales Gesehenwerden überführt wird. Wie der Sehakt, d. h. das aktive Sehen, erst das potentiell Sichtbare auch zu einem aktual Gesehenen werden lässt, so sei es analog auch beim Intellekt: Wenn ein Intellekt etwas aktual Intelligibles erkennen soll, dann kann dieses nicht in dem materiellen Einzelding verhaftet bleiben, sonst wäre es kein aktual Intelligibles.1087 Die Tätigkeit, von einem Einzelding – wie von einem hölzernen Dreieck – das dieses spezifisch ausmachende Intelligible zu erfassen, muss also darin bestehen, dieses Spezifikum aus seiner Materiegebundenheit herauszulösen.1088 Der aktive, tätige Intellekt leistet genau dies, wenn er, wie Thomas formuliert, „intelligible [sc. Formen] im Erkenntnisakt bewirkt“,1089 also den an einer Materie partikulär vorliegenden begrifflichen Sachgehalt in seine reine Intelligibilität dadurch überführt, dass er das spezifische Wesen eines Dings aus dessen Materialität abstrahierend ‚herauserkennt‘. Wenn diese Interpretation Thomas’ Sicht insoweit zutreffend wiedergibt, dann könnten Aristoteles und Platon gemäß Thomas aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln letztlich dasselbe einkreisen: Aristoteles’ Einwand gegen abgetrennt subsistierende Ideen könnte, wie oben angedeutet,1090 auf Fehlinterpretationen der Ideenlehre Platons zielen, wenn z. B. ‚abstrakte‘, d. h. sachlich defizitäre Allgemeinbegriffe als intelligible Ideen ausgegeben würden (‚ein Mensch ist ein Zweibeiner mit weißer Hautfarbe‘), weil deren ‚Wahrheit‘ angeblich durch viele Einzelfälle belegt sei.1091 Dabei wird jedoch ein hen epi pollôn,1092 eine auf Vieles erfasst, ohne an den materiell realisierten Einzelfall gebunden zu sein, s. einschlägig Bernard (1988: 186–7). 1087 S. die vorhergehende Anm.. 1088 Vgl. Bernard (1988: 181, 199, 241). 1089 Inwieweit der menschliche intellectus agens das Intelligible – autark oder in Orientierung an dem ihm vorausliegenden intelligiblen Sachzusammenhang – hervorbringt, ist eine nicht zuletzt auch für die Cusanus-Interpretation entscheidende Frage (s. u. Kap. V. mit Anm. 1142). 1090 S. o. Kap. II.3 (mit Anm. 97). 1091 Aufschlussreich dafür, dass Aristoteles selbst Platon nicht pauschal, sondern bestimmte Fehlinterpretationen seiner Ideenlehre kritisieren könnte, erscheint in diesem Zusammenhang der folgende Hinweis von te Velde (1995: 58): „Thomas notes […] that Aristotle does not criticize Plato on the existence of a ‘separate good’ (bonum separatum) on which all good things depend, but only criticizes the view that this separate good is the common definition and the idea of all good things. Thomas agrees with this criticism.“ Der eigentliche Kritikpunkt aus aristotelischer Perspektive wäre also auch gemäß te Veldes Darstellung nicht die abgetrennte Transzendenz (eines absoluten Guten), sondern der potentielle Fehlschluss, dass ein einziger Begriff des Guten in generischer Allgemeinheit die Gutheit verschiedener bzw. aller Einzel-
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zwar zutreffende Qualität, mit dem substantiellen Eidos verwechselt: Menschen mit einer anderen Hautfarbe als ‚weiß‘ würden dann, wie nicht zuletzt rassistische Ideologien leider hinreichend zeigen, ‚einfach‘ nicht unter den Begriff ‚Mensch‘ fallen. Sucht man das spezifische Kriterium des Mensch-Seins jedoch nicht in äußerlichen Qualitäten, sondern im Bereich bestimmter menschlicher Vermögen, wie Thomas dies im Hinblick auf die natürliche Vernunft als Basis des Mensch-Seins tut (s. o.), entgeht man derartigen Fehlinterpretationen. Die Erkenntnisakte sowohl des sinnlichen Wahrnehmens wie auch des intellektiven Begreifens sind nach aristotelischer Erkenntnistheorie letztlich geistige Prozesse,1093 wobei das Begreifen dessen, was ein Einzelding (wie ein hölzernes Dreieck) spezifisch ausmacht, nicht ohne die Voraussetzung, dass dieses tatsächlich Begreifbare ein von sich selbst her Intelligibles sein kann, auszukommen scheint. Denn, so Thomas, die materieverbundenen Seinsformen wären sonst nicht aktual intelligibel, was bedeuten würde, dass sie ‚potentiell intelligibel‘ bleiben müssten und nicht aktual intellektiv eingesehen werden könnten. Ist aber die Möglichkeit grundsätzlich eingeräumt, dass der aktual tätige Intellekt im Akt seines intellektiven Begreifens ein potentiell Intelligibles in seine reine Intelligibilität überführt, also zu einem aktual Intelligiblem „macht“,1094 dann wäre – zumindest unter der güter ‚definieren‘ können soll. Solche sachlich unzulässigen Verallgemeinerungen attackiert jedoch auch schon Platon selbst, wenn er darauf verweist, dass doch verschiedene Menschen auch vieles Verschiedene für ‚gut‘ oder ‚schön‘ etc. hielten (s. o. Kap. II.2): Denn wenn man z. B. von Einzelnem – etwa einem Gemälde – dessen inhärente, bildliche Schönheit als Gradmesser für ‚das Schöne selbst‘ nähme, dann wären plötzlich alle Musikstücke nicht mehr schön, weil sie ja nichts Bildlich-Anschauliches böten. Ein wirklich konkret-allgemeiner Begriff des Guten (oder Schönen) müsste also sachlich so reichhaltig bestimmt sein, dass von ihm aus tatsächlich die verschiedenen guten (oder schönen) Dinge als gut (bzw. schön) erwiesen werden können: „The scheme of participation implies a transcendent principle which has some perfection in full identity with itself (per essentiam) and in relation to which the presence of that perfection in other things can be accounted for“ (te Velde 1995: 57–58). Ein solcher Begriff kann nicht im Sinne einer bloßen Verabsolutierung äußerer, unspezifischer Eigenschaften Tragfähigkeit erhalten (‚grün ist immer schön‘, ‚Menschen sind immer weiß‘), sondern nur dadurch, dass er tatsächlich einen begrifflichen, intelligiblen Sachgehalt (analog zur Definition des Dreiecks, s. Kap. II.5 b und III.c) in seiner konkreten Allgemeinheit einzukreisen versucht. Eine generisch-allgemeine ‚Definition des Guten‘ (‚die Arznei xy ist für alle Menschen immer gut‘) wäre dagegen zum Scheitern verurteilt, weil z. B. für verschiedene Menschen in verschiedenen Dispositionen jeweils unterschiedliche Dinge gut sind und sein können. S. auch oben Anm. 103. 1092 S. o. Kap. II.3. 1093 S. Bernard (1988: 181 ff.). 1094 Damit ist gleichwohl nicht gemeint, dass ein Intellekt gleichsam ‚in subjektiver Autarkie‘ bzw. ‚nach gusto‘ ein Intelligibles einfach irgendwie ‚entwirft‘ bzw. ‚konstruiert‘ (wie z. B. nach I. Kant die autarke Vorstellungskraft zugleich auch den „Begriff erzeugen“ soll: „Nun heißt ein Postulat in der Mathematik der praktische Satz, der nichts als die Synthesis enthält, wodurch wir einen Gegenstand uns zuerst geben, und dessen Begriff erzeugen, z. B. mit einer gegebenen Linie, aus einem gegebenen Punkt auf einer Ebene einen Zirkel zu beschreiben, und ein dergleichen Satz kann darum nicht bewiesen werden, weil das Verfahren, was er fordert, gerade das ist, wo‑ durch wir den Begriff von einer solchen Figur erst erzeugen“, Kant, KrV, B 287, Kursive FD; vgl. zur Problematik auch Drews 2011: 166–7, Anm. 367). Eine solche subjektivistische Zuspitzung
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Voraussetzung, dass es mehrere Repräsentanten eines begrifflichen Sachgehalts wie ‚Dreieck‘ geben kann, die in derselben Hinsicht jeweils Dreiecke sind – der Weg hin zu der platonischen Annahme, dass physische Einzeldinge an bestimmten, rein intelligiblen Seinsformen partizipieren, nicht mehr allzu weit, auch wenn Thomas dies hier so nicht explizit macht.1095 Denn das an einer Materie potentiell vorliegende, vom Intellekt erst durch Abstraktion von der materialisierten Form aktual intelligibel Werdende müsste ein in irgendeiner Weise immateriell Seiendes darstellen und ähnelt so in Bezug auf seinen ontologischen Status einer platonischen Idee, genauer: einer Idee, insofern sie als Seinsform partizipierbar ist für etwas sie Aufnehmendes oder aber sie Erkennendes. Im Hinblick auf das Verhältnis der Lehren Platons und Aristoteles’ zueinander,1096 zugleich auch hinsichtlich der Teilhabe-Problematik zeigt hier der von Thomas gebrauchte Begriff der communicatio bzw. des communicare – das „Gemeinsam-Haben“ – seine philosophische Tragweite: Thomas deutet an, dass das intellektive Vermögen (virtus1097), welches alle Menschen gemeinsam haben, trotzdem nicht in allen einzelnen Menschen ein der Zahl nach Selbiges sein, sich aber in allen von ein und demselben Prinzip ableiten müsse. Diese von den einzelnen Menschen geteilte Gemeinsamkeit (communicatio) zeige die „Einheit des abgetrennten Intellekts, welche Platon mit der Sonne vergleicht, nicht aber die Einheit des aktual tätigen Intellekts, den Aristoteles mit dem (Augen‑)Licht vergleicht“.1098 würde Thomas’ Erkenntnistheorie verfehlen: Gemeint ist ja, dass der aktuale Intellekt, wenn er ein aktual Intelligibles erzeugt, sich auf das potentiell erkennbare Intelligible bezieht, welches er aus dessen Materieverbundenheit ‚herauserkennt‘ bzw. ‚herauslöst‘ (intellectus agens causat universale abstrahendo a materia, STh I, q. 79, a. 5 ad 2; zum Begriff des ‚Herauslösens‘ einer Sachbestimmtheit im Erkenntnisakt vgl. Bernard 1988: 181, 199). D. h., gemäß dieser erkenntnistheoretischen Grundlegung ist der Intellekt in seinem Erkenntnisakt auf etwas bezogen, welches von sich selbst her bereits in irgendeiner Weise diese potentiell intellektiv erfassbare Sachhaltigkeit aufweist. Der Intellekt ist aber umgekehrt kein etwas bloß passiv Aufnehmendes, sondern – als intellectus agens! – natürlich aktiv tätig, damit das potentiell Intelligible zu einem aktual Intelligiblem werden kann. Das aktual Intelligible, so Thomas, existiert daher auch nicht (mehr) in der „Natur der Dinge, insoweit die Natur der sinnlich-wahrnehmbaren Dinge, die nicht außerhalb der Materie subsistieren“, gemeint ist, sondern hat seine Subsistenz in dem aktual begreifenden Intellekt: Ein bloß „potentieller Intellekt“ reicht daher zur erkenntnistheoretischen Erklärung, wie es zum Begreifen einer zwar an einer Materie realisierten, aber zunächst nur potentiell begreifbaren Sachbestimmung kommen kann, nicht aus, weil sonst potentiell intellektiv Begreifbares (Intelligibles) und potentiell Begreifendes (Intellekt) gleichsam nicht aktual zueinanderfänden (STh I, q. 79, a. 3, ad 3). 1095 An anderer Stelle erörtert Thomas jedoch, dass auch die Platoniker eben keine Ideen für generisch-abstrakte Allgemeinbegriffe eingeführt hätten, sondern nur für species, welche ohne Hinzufügung einer weiteren Differenz den Wesensunterschied einer Sache ausmachen (ScG I, 24; 102). Auch hier zeigt sich also, dass gemäß Thomas’ Exegese Platon und Aristoteles einander sachlich ähnlicher sein könnten, als der erste Blick suggerieren mag (s. auch das Folgende). 1096 Ein Anzeichen dafür, dass Thomas Platon und Aristoteles in gewissen Grenzen als miteinander kompatibel begreift (vgl. die vorhergehende Anm.), vgl. ScG I, 13; 46 und 50–54). 1097 S. o. Anm. 1078. 1098 STh I, q. 79, a. 5, ad 3.
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Thomas führt das den Menschen gemeinsame Vermögen des tätigen Intellekts, welcher etwas Intelligibles aktual erkennt, also auf eine den Menschen gemeinsame Ursache (principium) zurück, ohne dass deshalb dieses intellektive Vermögen in allen einzelnen Menschen „der Zahl nach identisch“ sein müsse: D. h., das Gemeinsamhaben (communicatio) des intellektiven Erkenntnisvermögens verbindet zwar die Menschen in ihrer Vielheit; ihnen kommt aber nicht in dem Sinne ein und derselbe Intellekt zu, als dass jeder einzelne Mensch auch jeweils dieselben intellektiven Erkenntnisakte vollziehe und Einsichten besitze – eine solche Konsequenz wäre absurd und stünde nicht zuletzt im Widerspruch zur alltäglichen Lebenserfahrung. Gemeint ist also, dass die Menschen in unterschiedlicher Weise von ihrem tätigen Intellekt Gebrauch machen und sich dabei nicht nur verschiedenen Erkenntnisbereichen zuwenden, sondern auch in gradueller Abstufung ihr Intellektvermögen mehr oder weniger gut entwickeln (können). Trotzdem sind die unterschiedlichen Menschen in ihrer Verschiedenheit insofern einander gleich, dass sie alle – wenn auch in differierender Form – über ein intellektives Vermögen verfügen. Wie eingangs dargelegt, führt Thomas ja gerade die aristotelische Bestimmung des Menschen als animal ra‑ tionale et mortale als Spezifikum des Mensch-Seins an und kann nur deshalb die allen Menschen gemeinsame natürliche Vernunftbegabung auch als Basis eines Dialogs zwischen Vertretern ganz unterschiedlicher Religionen einfordern. Mit der genauen Bestimmung von Gemeinsamem und Unterscheidendem nimmt Thomas hier eine Differenzierung vor, welche dem (neu‑)platonischem Partizipationsgedanken der Sache nach voll entspricht: Ein rechtwinkliges Dreieck ist nicht dasselbe wie ein gleichseitiges Dreieck, aber ‚Dreieck‘ sind beide in derselben Hinsicht gemäß demselben substantiellen Sachunterschied, indem beide eine ebene, geradlinige Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln sind. Ohne ‚Dreieck-‘ und ‚Mensch-Sein‘ auf dieselbe Stufe stellen zu wollen, gilt doch analog: Verschiedene Menschen erkennen nach Thomas kraft ihres intellektiven Erkenntnisvermögens Unterschiedliches, wenden aber doch dasselbe Erkenntnisvermögen an, wenn sie einen intelligiblen Sachgehalt begrifflich erschließen. Sie haben also an demselben Erkenntnisvermögen Anteil, wenngleich sie dieses ganz unterschiedlich gebrauchen können und wollen: Das Vermögen (virtus) in seiner Erkenntnispotenz ist qua (erster, grundsätzlicher) Potenz dasselbe, wird aber durch seine jeweils unterschiedliche Aktualisierung (intellectus agens) in dem jeweiligen Menschen zu etwas Verschiedenem. Die in den unterschiedlichen Aktualisierungen sich vervielfachenden Partizipationsweisen an demselben Intellektvermögen kommen bei Thomas dem gleich, was Proklos im Rahmen seines Methexis-Theorems als die vielen an einer Sache Partizipierenden von der jeweils partizipierten Sache selbst unterscheidet.1099 S. o. Kap. III.c.
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Betrachtet man ferner das intellektive Vermögen in seiner reinen, immateriellen Intelligibilität an und für sich selbst (= in abgetrennter Weise), so erscheint es als ein Eines, wie das Prinzip einer Sache jeweils für sich eines ist: Dies kommt der Bestimmung eines platonischen Eidos gleich, weshalb Thomas darauf verweist, Platon hätte den abgetrennten Intellekt in seiner Einheitlichkeit analog zur Sonne verstanden, welche sich im Kontext von Platons Sonnengleichnis1100 als das eine Prinzip des Lichtes, der Erleuchtung, der Erkennbarkeit und des Erkennens interpretieren lässt. Die „Einheit des abgetrennten Intellekts“1101 korrespondiert, so verstanden, prinzipientheoretisch mit der Stellung eines unpartizipierbaren, transzendenten Prinzips in Proklos’ Methexis-Theorem. Von hier aus deutet Thomas auch an, inwiefern die philosophischen Positionen Platons und Aristoteles’ miteinander vereinbar erscheinen könnten: Platon blickt auf das Prinzip des Intellekts in seiner Einheit als Ursache allen intellektiven Erkennens, auf das Intellektvermögen an sich, Aristoteles dagegen auf die Aktualisierung dieses Vermögens, welche sich jeweils unterschiedlich gestaltet, weil verschiedene intellektbegabte Wesen dieses Vermögen unterschiedlich entfalten und insofern auch auf differierende Weise an ihm partizipieren, so wie auch die Augen verschiedener Menschen Verschiedenes sehen. Trifft diese Interpretation zu, dann zeigt sich, dass (a) Thomas – insofern Augustinus1102 ähnlich – die neuplatonische Partizipationslogik der Sache nach anscheinend in Anschlag bringt, ohne sie hier eigens zu thematisieren oder im Einzelnen abzuleiten; dass (b) sich aus Thomas’ Darstellung ein Weg abzeichnet, auf dem die zunächst divergent wirkenden Positionen Platons und Aristoteles’ einander sinnvoll ergänzen könnten, wobei dieser Weg (c) auch kompatibel wäre mit der oben versuchten Interpretation, dass Aristoteles bei seiner Kritik an einer (falsch verstandenen) Ideenlehre und mit seinem eigenen Eidos-Verständnis vorrangig partizipierte, vereinzelte und materialisierte (enhyla) Eidê in den Blick nimmt.1103 Wird Thomas hier gleichsam ‚neuplatonisch überinterpretiert‘? Diesem Einwand widerspricht die Tatsache, dass sich Thomas, wie vor allem te Velde (1995) umfassend gezeigt hat, den platonischen Partizipationsgedanken, vermittelt durch Dionysius Areopagita, in unübersehbarer Weise zu eigen gemacht hat.1104 Auf einer Linie mit Augustinus und Boethius1105 versteht Thomas Gott als „das durch sich subsistierende Sein selbst“ (Deus est ipsum esse per se subsistens), während alle anderen Seienden an Gott als dem ihnen transzendenten Seinsprinzip Vgl. Platon, resp. 508 a ff. Zum Status des Abgetrennt-Seins bei Thomas s. te Velde (1995: 53–62); zur „hierarchy of separate forms (angels)“ s. auch ibd., 39, 82, 171. 1102 S. o. Kap. IV.4 b. 1103 S. o. Kap. II.3 und II.5 b (dort vor allem der Schluss). 1104 Zu Dionysius selbst s. o. Kap. IV.5 a, zu seinem Einfluss auf Thomas hinsichtlich der Partizipationsontologie s. te Velde (1995: 66, 92). 1105 S. o. Kap. IV.4.b und Kap. IV.6. 1100 1101
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partizipieren, insofern sie Seiende sind.1106 Dabei werden auch gemäß Thomas die eidetischen Seinsprinzipien (d. h. die platonischen Ideen) vom göttlichen Geist bzw. in der einen göttlichen Weisheit umfasst, worüber Augustinus sagt, dass er (Gottes Geist) viele Schätze umschließe.1107 Eben diese Seinsprinzipien sind die partizipierfähige(n) Mitte(n), welche zwischen Gottes Transzendenz als Schöpfer und den von ihm ins Sein gerufenen Geschöpfen vermitteln: Daher sind mehrere Ideen in dem göttlichen Intellekt (mens) [sc. entsprechend der Weise], wie sie von ihm erkannt (intellecta) sind. Das kann auf diese Weise eingesehen werden: [sc. Gott] selbst nämlich erkennt sein Wesen (essentia) vollkommen – weshalb er dieses auf jede Weise erkennt, in welcher es erkennbar ist. Es kann aber nicht nur so erkannt werden, insofern es [sc. Gottes Wesen] in sich selbst ist, sondern insofern es gemäß einer bestimmten Weise der Ähnlichkeit (similitudo) partizipierbar (participabilis) ist von den Geschöpfen. Ein jedes Geschöpf aber hat eine eigentümliche (propria) eidetische Form (species), insofern es auf eine bestimmte Weise an der Ähnlichkeit mit dem göttlichen Wesen partizipiert. So also, inwieweit Gott sein Wesen als so imitierbar von einem solchen Geschöpf erkennt, erkennt er es als den eigentümlichen Vernunftgrund1108 (ratio) und als die Idee (idea) dieses Geschöpfes […] (STh I, q. 15, a. 2, resp.).1109
Thomas’ Ausführungen sind der philosophischen Sache nach in gewisser Weise vergleichbar damit, dass gemäß Proklos das Eine „die Henaden und die Gutheiten der Götter differenziert“:1110 Wie bei Proklos der Allerhöchste / das überseiende Eine die Henaden als höchste partizipierfähige Einheitsgründe für die an ihnen jeweils partizipierenden Seienden differenziert, so bringt Gott bei Thomas die Vielheit seiner Geschöpfe hervor, indem sie in einer spezifischen Weise der Ähnlichkeit an seinem göttlichen Sein partizipieren, nämlich gemäß der dem jeweiligen Geschöpf eigentümlichen species und ratio, also gemäß der genau STh I, q. 44, a. 1, resp. Vgl. zur Stelle te Velde (1995: 125 f.). […] necesse est ponere in mente divina ideas (STh I, q. 15, a. 1, resp.). Vgl. Augustinus, civ. XI, 10 (s. o. Anm. 867). – Die Stellen aus der STh dürften Kennys (1980: 114) Interpretation widerlegen: „Eine platonische Idee, die universal, unerreichbar, unveränderlich und einmalig sei und in einem Ideenhimmel existiere, könne sehr wohl Gegenstand einer Verstandeseinsicht sein; aber nach Thomas’ eigener Theorie gibt es etwas derartiges wie platonische Ideen nicht. In gewisser Hinsicht, so Thomas, könne der Verstand nur Dinge einsehen, die er selbst erschaffen habe.“ Der Ideenhimmel ist gemäß Thomas’ christlicher Perspektive die mens Dei (wie bei Augustinus, div. qu. 46, s. o. Kap. IV.4 c und bei Origenes dem Logos tou Theou entsprechend, s. o. Kap. IV.3 a), welche die Ideen in geeinter Weise umfasst (insofern philosophisch vergleichbar dem seienden Einen Plotins, s. o. Kap. II.5 c): „For Thomas form is the principle of the providential order of creation. In his wisdom God organizes a multiplied but ordered likeness of his goodness through a diversity of forms“ (te Velde 1995: 227; ähnlich 277). Dazu, dass auch das „Schaffen“ (facere) der Intelligibilia durch den Verstand jedenfalls nicht als bloß subjektive Projektion einer autark agierenden Einbildungskraft missverstanden darf, sondern als das aktive Herauserkennen eines intelligiblen Sachgehalts, der gerade nicht erst vom menschlichen Verstand erzeugt oder entworfen wird, s. o. Anm. 1094. 1108 Zum Begriff ratio als „Vernunftgrund“ vgl. oben Kap. IV.3 a (Origenes), IV.4 c (Augustinus) und Kap. IV.7 (Eriugena). 1109 Zur Stelle s. te Velde (1995: 113–5). 1110 Proklos, ETh 133, 12–19; s. o. Kap. III.e. 1106 1107
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dieses Geschöpf wesentlich bestimmenden eidetischen Seinsform und dem entsprechenden Vernunftgrund. Der Schöpfungsakt ist also ontologisch beide Male grundsätzlich durch unterscheidendes Differenzieren der Seins‑ bzw. Einheitsgaben charakterisiert, wodurch einzelnes Seiendes jeweils einen bestimmten ‚Zug‘, gleichsam eine bestimmte Schattierung des göttlichen Schöpfer-Lichts reflektiert.1111 Mit der ‚partizipierbaren Ähnlichkeit‘ des göttlichen Wesens bringt Thomas das entscheidende Moment neuplatonischer Partizipationsontologie auf den Punkt:1112 Denn genau diese Partizipierbarkeit kann nur dann sinnvoll erscheinen, wenn einerseits Gottes Wesen nicht bereits von sich selbst her partizipierbar ist, sondern in unpartizipierbarer1113 Transzendenz verharrt und wenn andererseits bestimmte Geschöpfe die an der jeweiligen partizipierbaren Mitte aktual Partizipierenden sind. Die Entfaltung des einzigen göttlichen Wesens, insofern nur der christliche, drei-eine Gott Gott sein kann und es folglich keine „anderen Götter neben ihm“ gibt,1114 in die Vielheit vollzieht sich im Kontext christlicher Theologie naturgemäß nicht über vereinzelt-viele Götter, sondern die den vielen Geschöpfen korrespondierenden vielen Seinsprinzipien sind in „Gottes Geist“ als Einheit geeint. Dieser letzte Aspekt wäre im Sinne eines interreligiös-interphilosophischen Dialogs in einem bestimmten Verständnis auch für einen paganen Platoniker annehmbar wie z. B. Plotin, der den Gott Kronos als das seiende Eine denkt, welches die vielen (Ideen‑)Götter als geeinte Totalität in sich umschließt, oder auch für Apuleius, in dessen Roman die Göttin Isis ebenfalls die vielen Gottheiten in sich vereint:1115 Jedoch würde ein nicht-christlicher Platoniker die Vervielheitlichung des göttlichen Wirkens, wie es sich aus dem Einen heraus entfaltet, über sehr viel mehrere Zwischenstufen vermittelt betrachten, zu denen eben auch ein (wie auch immer sich im Einzelnen darstellender) Polytheismus unterhalb des monotheistischen Anspruchs des absoluten Einen gehörte.1116 1111 Wobei dies strikt auf die gute Anlage der Schöpfung zu beziehen ist, nicht auf Depravationen, welche Geschöpfe selbst verursachen können. Vgl.: „For instance, by understanding his essence as imitable under the aspect of life but not under that of knowledge, God conceives the proper idea of a plant“ (te Velde [1995: 114] mit Verweis auf ScG I, 54; 204). 1112 S. o. Kap. III.c. 1113 Zum Begriff des Unpartizipierbaren (incommunicatum / imparticipatum) bei Thomas s. das Folgende. Vgl. außerdem Weier (1970: 147); sowie te Velde (1995: 93–94, mit Anm. 3) unter Verweis auf in De Div. Nom. c.2, lect. 3, n. 158. 1114 Vgl. Ex 20, 3 (s. o. Kap. IV.2.3 a). – Thomas wendet sich natürlich dagegen, unterhalb Gottes als des absoluten Einen andere Götterwesen zuzulassen. Die neuplatonische ontologische Stufenhierarchie eines Dionysius Areopagita vermag er dennoch in sein System zu integrieren, indem er die Seinsstufen unterhalb Gottes (absolutes Sein) als dessen Geschöpfe interpretiert: Engel (reine Intellekte), Seelen (Menschen, Tiere, Pflanzen), materielle Körper: „The three levels of created reality are based on the difference in being, living, and understanding“ (te Velde 1995: 259). 1115 Vgl. Plotin, enn. V, 8 [31] (s. o. Kap. II.5 c) und Apuleius, met. XI, 5, 1 (s. o. Kap. II.4.2 b). 1116 Vgl. Proklos (s. o. Kap. III.e–g) und Augustinus, in Gegenüberstellung mit Auffassungen des nicht-christlichen Neuplatonismus (Kap. IV.4.a–b).
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Thomas’ philosophische Nähe zu Proklos’ Methexis-Theorem wird nicht zuletzt auch daran deutlich, dass er mit einer aus dem arabisch-islamischen Kulturkreis kommenden, dann ins Lateinische übersetzten Version (Liber de causis) von Proklos’ Elementatio Theologica vertraut war1117 und diese Schrift in der ihm vorliegenden Fassung auch kommentiert hat und dabei auf das Partizipationstheorem zu sprechen kommt: Gemäß platonischer Position muss jedes, das in Vielen gefunden wird, zu einem bestimmten Ersten zurückgeführt werden, welches durch sein Wesen / Substanz (essentia) Derartiges ist, von welchem her die anderen durch Partizipation Derartige genannt werden. Daher werden gemäß diesen [sc. Platonikern] die unbegrenzten Vermögen (virtutes) auf ein bestimmtes Erstes zurückgeführt, welches wesensmäßig (essentialiter) Unbegrenztheit an Vermögen (Infinitas virtutis) ist, nicht weil es ein in irgendeiner [sc. von ihm verschiedenen] subsistierenden Sache partizipiertes Vermögen wäre, sondern weil es ein durch sich selbst Subsistierendes ist (In librum de causis expositio, XVI, 318; 97/1).
Während in der zuvor erörterten Textpassage das Partizipationstheorem gleichsam seine konkrete Anwendung auf die eine, sich in vielen Menschen jedoch unterschiedlich aktualisierende Intellektbegabung fand, analysiert Thomas den Partizipationsgedanken hier in allgemeinerer Weise. Alle Vielheit ist platonisch nur als von Einheit prinzipiiert zu begreifen:1118 Jedes Viele zeigt sein Vielsein darin, dass verschiedene Einheiten zusammen diese seine Vielheit bilden; auch dieses Sein als bestimmte, für sich unterscheidbare Vielheit basiert darauf, dass diese Vielheit in ihrer Ganzheit eine Einheit darstellt. Thomas ist genau genommen an dieser Stelle jedoch schon einen Schritt weiter: Er meint das bestimmte Sein einer Sache (etwa ‚Dreieck‘), das sich in vielen (Dreiecks‑)Instanzen auf unterschiedliche Weise zeigen kann; gerade der Umstand, dass in Vielem etwas Einheitliches nachweisbar ist, weist darauf hin, dass hier Vieles an etwas ihm vorausliegenden Einheitlichen als Prinzip partizipiert.1119 Ein solches Prinzip ist kein nebulöses Postulat, sondern, wie sich am Beispiel ‚Dreieck‘ exemplarisch zeigen lässt, eine begreifbare, einsehbare (= intelligible) Bestimmtheit, deren Gültigkeit bei jedem euklidischen Dreieck nachweisbar ist. Diese Allgemeingültigkeit eines intelligiblen Prinzips, die auch noch dann besteht, wenn keinerlei Instanzen dieses Prinzips ‚vorhanden‘, d. h. äußerlich existent wären (weil in Bezug auf das Dreiecksbeispiel die Seele gleichsam nur den euklidischen Beweis von der Innenwinkelsumme eines Dreiecks intellektiv einsehen muss, um dessen 1117 Vgl. te Velde (1995: 3, 257). Der Einfluss von Proklos’ Elementatio während des Mittelalters sowohl im Islam als auch im Christentum ist nicht hoch genug einzuschätzen (vgl. Tanaseanu-Döbler 2013: 244; s. o. Kap. III.b) und zeigt zugleich, dass Proklos’ eigene Theologie eher einseitig – mit einer monotheistischen ‚Schlagseite‘ – benutzt und gegen Polytheismen ins Feld geführt wurde, obwohl Proklos ja gerade Poly‑ und Monotheismus in ein philosophischtheologisches System integriert (s. o. Kap. III.g). – Zum Liber de causis und seiner Rezeption bei Albert dem Großen s. Bächli-Hinz (2004). 1118 S. o. Kap. III.d. 1119 Vgl. te Velde (1995: 128–133).
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Gültigkeit gewahr zu werden), zeigt zum einen, dass das jeweilige Sachprinzip für sich selbst Bestand hat in reiner Intelligibilität, und zum anderen, dass die einzelnen Instanzen an dieser jeweiligen Sachbestimmtheit partizipieren und es so auf partikularisierte Weise verwirklichen.1120 Thomas wendet den Partizipationszusammenhang sodann auf die Frage unbegrenzter Vermögen1121 an: Wenn es viele unbegrenzte Vermögen (virtutes – dy‑ nameis) gibt, dann müsste es auch ein erstes, prinzipienhaftes unbegrenztes Vermögen im Intelligiblen geben, welches „durch sich selbst“ als unbegrenztes Vermögen seine Subsistenz, seinen Bestand hat. Wichtig ist für den hier anliegenden Zusammenhang, dass Thomas den Prinzipienstatus des ersten unbegrenzten Vermögens mit dessen Unpartizipierbarkeit verbindet. Denn wenn sich die unbegrenzten Vermögen in ihrem Sein als unbegrenzte Vermögen nur der Anteilhabe an einem unbegrenzten Vermögen verdankten, welches seinerseits nur an einem weiteren unbegrenzten Vermögen partizipierte, dann entstünde ein infiniter Regress: Es wäre nicht zu erklären, warum eine einzelne partizipierende Instanz ihrerseits qua Instanz Prinzip für alle anderen partizipierenden Instanzen sein sollte, insofern sich sowohl Prinzip als auch Instanzen beiderseits in derselben Hinsicht der Anteilhabe an etwas ihnen Vorausliegendem verdankten, da sich dieser scheinbare ‚Begründungszusammenhang‘ unendlich wiederholte, ohne dass ein tatsächliches Prinzip in den Blick kommen könnte. Denn Prinzip einer Sache kann nur sein, welches zuerst und für sich selbst genau diese Sache ist, ohne das bestimmte Sein als diese Sache einer ihm vorausliegenden Ursache zu schulden. Genau dieses Für-sich-selbst-Sein / Bestehen als Prinzip eines Seinsunterschieds (wie etwa ‚unbegrenztes Vermögen‘ oder ‚Dreieck‘) kommt neuplatonisch in dem Begriff des amethekton, des Unpartizipierbaren zum Ausdruck. Der obige Text stellt klar heraus, dass Thomas den philosophischen Sinn des unpartizipierbaren Prinzips genau trifft, auch wenn er diesen Begriff nicht wortwörtlich ausspricht, sondern umschreibt. Theologisch relevant ist dieser Befund nicht zuletzt z. B. im Vergleich mit Eriugena: Denn der Begriff des unpartizipierbaren Für-sich-selbst-Bestehens ist zugleich wesentliche Grundlage für die philosophische Begründung von Transzendenz, im Letzten also der Transzendenz Gottes selbst. Während bei Eriugena dieser Transzendenzgedanke zumindest in Teilen einer pantheistischen Interpretationsmöglichkeit zu weichen scheinen könnte,1122 scheint diese Tendenz (auch nur als Deutungsmöglichkeit) bei Thomas nicht gegeben zu sein, gerade weil er das Methexis-Theorem sachlich 1120 S. o. Kap. III.c. Vgl.: „The cause expresses itself in its effect, not as it is in itself, according to the identity of its essence, but as distinguished from itself; in each particular effect the universal cause of being expresses itself only insofar as its universal essence is imitable in a particular respect“ (te Velde 1995: 159). 1121 Vgl. oben das Kap. III.d zu apeiria (‚Nicht-Grenze‘) als dem Prinzip der Unbegrenztheit und Unendlichkeit, besonders auch des unbegrenzten Vermögens bei Proklos. 1122 S. o. Kap. IV.7.
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konsequent anwendet.1123 Ein philosophischer Grund dafür könnte nicht zuletzt darin bestehen, dass er den begrifflichen Gehalt des Terms ‚unpartizipierbar‘ der Sache nach präzise fasst und anwendet. Zumindest lassen sich seine Ausführungen über die neuplatonische Partizipationslehre, über die den Menschen gemeinsame, aber jeweils unterschiedlich aktualisierte natürliche Vernunft – als Basis auch eines interreligiösen Dialogs1124 – durchaus im philosophischen Einklang mit Proklos, Augustinus, Dionysius und Boethius lesen.1125
1123 Eine Thomas-Interpretation wie: „God can be said to be in a sense everything, namely as cause of everything“ (te Velde 1995: 127) zielt klar auf Gott als Ursache von allem, wodurch Gott für sich selbst strikt geschieden bleibt als transzendente Ursache und nicht in dem Verursachten pantheistisch aufgeht. Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Thomas sich gegen ein Konzept pantheistisch-deterministischer Theologie wendet, wie es (angeblich) z. B. gemäß einer bestimmten muslimischen Tradition vertreten worden sein soll (s. te Velde [1995: 161–2] zu den „Mutakallimun“: „According to this view God is thought to operate so immediately in nature that he takes over, as it were, the natural actions of things and produces their effects alone by his absolute power. […] What seems to be intended as praise of God’s omnipotence by attributing every action to God at the expense of the proper actions of natural things is in fact a way of derogating his power, as it is from the power of the cause that the effect has a power to operate by itself “). „Aquinas’s own approach in the question of how God operates in the operation of nature […] can be characterized by the participation formula ‘transcendence in the immanence’. […] God operates immanently in nature in such a way that he sets nature, so to speak, free in its own operation. The idea of participation allows Thomas to think about God as a cause which by its transcending immanence constitutes the causality of nature in its own order“ (te Velde 1995: 164). – Zur Differenzierung und zum Zusammendenken von göttlicher Transzendenz und dem immanenten göttlichen Wirken in der Schöpfung vgl. (mit Bezug auf Proklos) Drews (2009: 247–258, 283–299, 375). 1124 Im Hinblick auf Thomas’ ‚interreligiöses Potential‘ sollten vielleicht zwei Aspekte nicht unerwähnt bleiben, auf die Imbach (1997) hinweist: 1. Auch Thomas’ Äußerungen im Hinblick auf das Verhältnis der Christen zu den Juden sind leider nicht frei von antisemitischen Tendenzen (ibd., 10). 2. Im 14. Jhd. gab es in Italien unter den Anhängern des Maimonides „einen hebräischen Thomismus“ (ibd., 29). D. h., das sachliche philosophisch-theologische Potential auch eines Thomas ist und war interreligiös durchaus fruchtbar, während dies für politische Äußerungen und Standpunkte im Detail nicht gilt. Genau diese Spannung wird sich auch für Cusanus nachweisen lassen (s. das Folgende mit Anm. 1129). 1125 S. o. Proklos (Kap. III), Augustinus (IV.4.), Dionysius (IV.5), Boethius (IV.6).
V. Nikolaus von Kues: Die universale Anteilhabe an Gottes Logos als Quell der Rationalität und als verbindende Mitte im Dialog der Menschen und ihrer Religionen – Gott als Richter mitten unter den Göttern a) Vorbemerkung In Nikolaus von Kues’ (1401–1464) fiktivem interreligiösen Dialog De pace fi‑ dei – Über den Frieden im Glauben laufen, so die im Folgenden zu erweisende These des vorliegenden Buchs, letztlich alle Philosopheme und Theologoumena derjenigen Autoren zusammen, welche in den vorangegangenen Kapiteln behandelt wurden. Diese Vorbemerkung gilt jedoch nicht in ihrer Umkehrung: Es münden keineswegs nur die geistesgeschichtlichen Traditionen und Denkinhalte, die hier Erwähnung gefunden haben, in das Werk des Cusanus ein, sondern weit mehr: Autoren wie z. B. Meister Eckhart1126 (1260–1328) und Bonaventura (um 1221–1274), welche ebenso prägend für Cusanus waren, konnten in dem hier möglichen Rahmen nicht mehr eigens behandelt werden.1127 Historisch besehen liegt Cusanus (wie auch schon Eriugena und Thomas von Aquin) außerhalb des gängigen Spektrums eines Klassischen Philologen: Auch deshalb kann die Fülle der Forschungen zu Cusanus in diesem Kapitel keineswegs vollständig repräsentiert werden.1128 Das Hauptaugenmerk liegt also darauf, inwiefern die wichtigsten der oben erörterten Denkpotentiale in Cusanus aufscheinen und sich zu einem Panorama vereinen. Dem Skopos dieser Untersuchung entsprechend sei noch einmal betont, dass Cusanus im Folgenden als Denker, d. h. als Philosoph und Theologe, gewürdigt wird. Historisch zweifellos wichtige Handlungen und Entscheidungen, die der 1126 Zu Eckhart und Cusanus vgl. Speer (2012) und den von Schwaetzer / Vannier (2012) herausgegebenen Band, darin besonders Schwaetzer (2012 b). 1127 Vgl. Leinkauf (2006: 24–26) zu den wichtigsten Denkern, die für Cusanus prägend waren: u. a. Ambrosius von Mailand, Augustinus, Proklos, Boethius, Dionysius Areopagita, Eriugena, Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Bonaventura, Meister Eckhart, außerdem (neben den Neuplatonikern) Platon selbst, Aristoteles, Apuleius, das Corpus Hermeticum (Asclepius), Macrobius, Anselm von Canterbury, Ramon Llull. 1128 Gute Zusammenfassungen der Hauptlinien der (älteren) Cusanus-Forschung bieten Riedenauer (2007: 106–126) und Benz (1999: 37–98).
b) Das neuplatonische Methexis-Theorem bei Cusanus
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Kardinal vorgenommen hat, werden daher hier in der Regel nicht thematisiert. Dies bedeutet nicht, dass sie in Abrede gestellt oder marginalisiert werden dürfen – besonders dann nicht, wenn es dabei um verstörende Tatsachen geht.1129 Dennoch scheint es in einer Studie, welche die philosophisch-theologischen Konzeptionen selbst in ihrer gewissermaßen auch überzeitlich relevanten, des Nach-Denkens würdigen Allgemeinheit in den Blick nehmen will, legitim, die argumentativen Denkinhalte insofern von der Ereignisgeschichte weitgehend ‚abstrahiert‘ zu thematisieren. Für ein biografisches, historisches Gesamtbild des Cusanus1130 wäre indes eine andere Methode notwendig. b) Das neuplatonische Methexis-Theorem bei Cusanus Da die (neu‑)platonische Teilhabe-Ontologie die Basis aller vorangegangenen Erörterungen bildet, soll, bevor De pace fidei interpretiert wird, zunächst auch Cusanus auf eben diese Denkvoraussetzung hin befragt werden, die er in De coniecturis, den „Mutmaßungen“, ausführlich erläutert. Der Titel des Werks wird in dessen Prolog erklärt: Die „Präzision der [sc. absoluten] Wahrheit“ sei unerreichbar, folglich könne eine menschliche Aussage über das Wahre nur eine „Mutmaßung“ sein.1131 Hierin steht Cusanus auf einer Linie mit sowohl Eriugena wie auch Thomas von Aquin.7 1129 Zwar lässt sich Cusanus einerseits mit Berger (2004: 394) als der „größte Friedensphilosoph Europas bis hin zu Kant“ würdigen, der sich „im zerrissenen und zerstrittenen Europa des 15. Jahrhunderts […] um die Einheit von West und Ost, von Rom und Byzanz“ bemühte. S. in ähnlicher Weise Valkenberg (2014: 31) und Schavan (2012: 24). Vgl. Watanabe (2014: 10) zur Intention von De pace fidei als „peaceful and harmonious“; ebenso wertet Theruvathu (2012: 98) das Werk positiv als „Einladung zu einer Kultur des Dialogs zwischen Kulturen und Religionen“. Andererseits sollte jedoch nicht unterschlagen werden, dass Cusanus’ politisch judenfeindlich agiert hat: „Denn ich kann nicht verschweigen, daß Cusanus in der irdischen Welt die Juden rigoros-unfreundlich behandelt hat. […] Er ordnete an, daß sie an der Kleidung von weitem erkennbar sein müßten. Er verlangte einen gelben Kreis, eine Art Judenstern. Er verbot den Juden den ‚Wucher‘. Seine anti-jüdischen Anordnungen fanden in der Stadt Nürnberg Widerspruch; auch Bischöfe und zuletzt der Papst stellten sich nicht auf die Seite des Legaten in dieser Sache“ (Flasch 1998: 350). S. ebenso Hösle (2013: 233) und Gottlöber (2014: 198). Schmitz (2005: 188) pflichtet Flasch bei und verteidigt Cusanus zugleich: „Aus solchen Mängeln in der Durchführung allein läßt sich aber noch keineswegs zwingend auf die Verfehltheit der Grundkonzeption [sc. von De pace fidei] schließen.“ Ähnlich Riedenauer (2007: 431–4), der darauf verweist, dass Cusanus’ angebliche Unterstützung des 1464 geplanten Kreuzzugs „auf einer Verwechslung des Kardinals mit Nikolaus Fortiguerra“ (ibd., 450) beruhe. – Zur Judenfeindlichkeit in De pace fidei s. u. das Ende von Kap. V.c11 mit Anm. 1629, zur positiven Würdigung der Juden s. Kap. V.c15 (Schluss). 1130 S. dazu Woelki (2014) und Flasch (2007: 11–29). 1131 […] praecisionem veritatis inattingilem intuitus es, consequens est omnem humanam veri positivam assertionem esse coniecturam (coni. I, prol., 2). – Bereits Augustinus verwendet mit coniecturae denselben Begriff ([…] ut per coniecturas rerum visibilium ad intellegenda invisibilia niteretur, lib. arb. III, 30, 109). Bei dem Kirchenvater sind die Mutmaßungen jedoch auf die sichtbare, sinnlich-wahrnehmbare Welt bezogen und dienen als Mittel, um zum intellekthaften Begreifen der unsichtbaren, d. h. den Sinnen unzugänglichen Welt aufzusteigen; in entgegen-
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Für ‚postmoderne Ohren‘ klingt dieses ‚Programm‘ möglicherweise wie eine vielleicht willkommene Radikal-Vorabbeschneidung der menschlichen Vernunft und ihrer Befugnisse; eine solche Wertung wäre im Sinne von Cusanus’ Selbstverständnis indes vermutlich viel zu einseitig, denn sonst könnte er kaum so viel Kraft und intellektuelle Anstrengung für das Betreiben von Philosophie und Theologie aufbringen.1133 An späterer Stelle beschreibt er den Charakter menschlicher Mutmaßungen im Verhältnis zur absoluten Wahrheit – deren Sein für ihn im gravierenden Unterschied zur Postmoderne unumstößlich feststeht – genauer: Zwar könne man sich durchaus (!) der höchsten Wahrheit (Gottes) annähern, es wäre aber falsch zu meinen, man könne, auf sie zugehend, diese höchste Wahrheit im Erkenntnisakt einfach „ergreifen“, denn sie bleibe im Letzten unberührbar, wenngleich eine Annäherung möglich sei; als „positivkataphatische Behauptung“ partizipiere eine coniectura „in der Andersheit an der Wahrheit, wie sie [sc. von sich selbst her] ist.“1134 Damit hält Cusanus sowohl aus christlicher wie auch aus neuplatonischer Sicht die Waage zwischen Gottes enthobenener Transzendenz bzw. seiner Unpartizipierbarkeit einerseits und der Möglichkeit einer sich zumindest annähernden Gotteserkenntnis andererseits, insofern diese christlich auf die durch den Logos (d. h. durch das Wort als Sohn Gottes) vermittelte Erkennbarkeit Gottes bzw. neuplatonisch auf die partizipierfähigen Mitten des absoluten Einen (z. B. die überseienden Henaden bei Proklos1135) abzuzielen versucht.
gesetzter Richtung habe sich Gott selbst in Christus auf den Weg zu den Menschen gemacht, um ihnen entgegenzukommen. 1132 S. auch: apprehensio nostra respectu ipsius est defectus appropinquandi apprehensioni eius (doct. ign. I, 16, 44). Vgl. Reinhardt (2008: 47) und Beierwaltes (2007 b: 108). – Zu Eriugena s. o. Kap. IV.7, zu Thomas IV.8. Zur Eriugena-Rezeption bei Cusanus vgl. Beierwaltes (1994: 262–312). 1133 Analog ist auch die docta ignorantia für Cusanus kein Mangel: „Die Schau vollzieht sich in der ursprünglichen, vor und über allem teilenden Wissen liegenden Einheit von Schauendem, Geschautem und Schauen. Hier ist der Ort der wissenden Unwissenheit, die in der Schau ihr Nichtwissen erfährt. Das ist nicht negativ zu verstehen, sondern als eine unerhörte Belehrung. Insofern ist der Mensch, wenn er sein eigentliches Sein durch den Überstieg zu Gott und nicht mehr zum Bildhaften erreicht, für Cusanus wesentlich der Laie, idiota: nicht einer, dem es naiv an Kenntnissen mangelt, sondern der im Erreichen seines wahren Selbst das Wissen gegen das vertiefte Nichtwissen eintauscht“ (Gerl-Falkovitz [2012: 209] = [2008: 118]). S. ebenso Herbst (2013: 494). – Vgl. allgemein Spaemann (2012 a: 225) zu den Gefahren einer radikalen Beschneidung der Vernunft (s. o. Anm. 297 [Schluss]). 1134 coni. I, 11, 56–57. Vgl. zur letzteren Stelle Schwaetzer (2014: 40), der jedoch in seiner Interpretation Cusanus in die Nähe des Neukantianismus rückt. Zum ‚Projekt‘ der „Unendliche[n] Annäherung“ (ohne Skeptizismus) gemäß Cusanus vgl. Flasch (2007: 85–86). Dazu, dass in der Gotteserkenntnis im cusanischen Sinne Gottes „Unberührbares auf unberührende Weise berührt werde“ (attingitur inattingibile inattingibiliter, Idiota de sapientia I, 7), vgl. GerlFalkovitz (2012: 210). 1135 S. o. Kap. III.e–g.
b) Das neuplatonische Methexis-Theorem bei Cusanus
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Über den Partizipationsgedanken führt Cusanus Folgendes aus und beginnt dabei, neuplatonischer Methodik entsprechend, mit einem mathematischen Beispiel:1136 Wie nämlich jedes Seiende in seiner eigentümlichen Wesenheit (propria entitas) ist, wie es ist, [sc. so ist es] entsprechend in einer anderen Wesenheit auf andere Weise. Dies wirst du, wenn du aufmerksam bist, leicht erfassen. Der Kreis nämlich, insofern er ein Seiendes der Ratio (ens rationis) ist, wird in seiner eigenen rationalen Wesenheit, wie er ist, [sc. begreifend] berührt.1137 Wenn du nämlich die Figur erfasst, von deren Zentrum zur Peripherie alle Linien gleich sind, dann berührst du [sc. begreifend] in diesem rationalen Gehalt (in hac ratione) freilich den Kreis, insofern er ein Seiendes der Ratio ist, aber außerhalb dieses eigentümlichen rationalen Gehalts selbst, insofern er [sc. der Kreis] sinnlich-wahrnehmbar (sensibilis) ist, ist er wie in einem anderen, entsprechend ist er auch auf andere Weise. Nicht ist es also möglich, dass der Kreis, insofern er im rationalen Gehalt ist, außerhalb des rationalen Gehalts ist. Ein sinnlich-wahrnehmbarer Kreis also partizipiert in der Andersheit an der Einheit des rationalen Kreises. Deshalb verharrt jene [sc. rational-sachliche] 1136 Vgl. o. Proklos, Kap. III.c. – Zu Cusanus’ Partizipationsphilosophie vgl. Schwaetzer (2011), dessen Interpretation jedoch ambivalent erscheint: Zwar zeigt Schwaetzer in überzeugender Weise, dass Cusanus im berühmten „Spiegelgleichnis“ die „Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf “ wahrt und sich so dem „Vorwurf, dem Eckhart sich ausgesetzt sah“, entzieht (ibd., 148); ebenso bedenkenswert ist die dreifache Auslegbarkeit des non aliud (dazu s. u. Anm. 1496) im Sinne der drei Terme ‚Unpartizipierbares – Partizipiertes – Partizipierendes‘ von Proklos’ Methexis-Theorem (ibd., 153). Methodisch fragwürdig ist jedoch zunächst, ob man wirklich von einer statistischen Erhebung zum Vorkommen des Wortfeldes participatio ausgehen sollte (ibd., 137–9), weil sich bei Cusanus analog z. B. auch ohne Nennung des Begriffs coincidentia dessen inhaltlich-philosophische Tragweite belegen lässt, wie der Blick auf De pace fidei unten zeigen wird (s. u. Anm. 1194). Ebenso ist eine ‚Begründung‘, Cusanus’ Argumentation in De principio könne, weil er hierin in besonderer Weise Proklos folge, nicht als sein „eigenes Denken“ betrachtet werden (ibd., 138), wenig überzeugend: Hier wird implizit eine historistische Prämisse, dass man nach Subtraktion aller nachweisbaren Einflüsse auf einen ‚individuellen Wesenskern‘ schließen dürfe, überstrapaziert. Denn weshalb sollte Cusanus nicht gerade andere Denker (wie z. B. Proklos und Dionysius) maßgeblich für (und nicht gegen) sein eigenes Denken angesehen haben? Diese Prämisse gibt selbst zumindest kein Unterscheidungskriterium vor: Ob Person x Person y vielfach zitiert, sagt nichts darüber aus, ob x sich von y abgrenzen oder y anschließen will – formal-statistische Erhebungen sind für diesen Unterschied blind. Die implizite, argumentative Stoßrichtung von Schwaetzer, bei Cusanus würde sich eine neuzeitliche Aufwertung „der kreativen Autonomie des menschlichen Subjekts“ (ibd., 137) sowie eine „Aufwertung der Dunkelheit“ als „individualisierendes Moment“ abzeichnen (ibd., 141), erscheint diskussionsbedürftig – hier hat bereits Benz (1999: 411) Wesentliches geleistet: „Unsere Analyse des cusanischen Selbstverständnisses ist demgegenüber [sc. dem Gros der Forschungsmeinungen] zu dem Resultat gelangt, daß in Cusanus’ Denken die Abkünftigkeit alles Seins und Erkennens vom personalen Einen, die strenge Hinordnung von Mensch und Welt auf Jesus Christus […] sowie auf das allbegründende und ‑bestimmende Absolute durchgängig von prinzipientheoretischer Relevanz ist. Der Wert jeweiliger Individualität bemißt sich demnach nicht etwa an einer für Cusanus’ Denkweise charakteristischen, unter philosophiegeschichtlichem Blickwinkel erstmals auftretenden, optimistischen Weltzuwendung des Menschen, sondern am jeweils realisierten Grad der Teilhabe am Individualitätsgrund selbst“ (s. ferner ibd., 413–4). 1137 Zum erkenntnistheoretischen Verständnis von attingere (schon bei Augustinus) im Sinne von ‚geistig berühren, eine Sache im Erkenntnisakt erreichen / erfassen‘ vgl. Drews (2009: 70, Anm. 129).
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Präzision (praecisio), wie der Kreis ist, als nicht mitteilbar (incommunicabilis). Denn nur in der Andersheit wird [sc. der rationale Gehalt des Kreises] vervielfältigt (multiplicatur). Denn nicht lässt sich ein sinnlich-wahrnehmbarer Kreis aufzeigen, wo die Linien, vom Zentrum zur Peripherie gezogen, in präziser Weise gleich sind, ja bei allen lässt sich keine [sc. einzige], wie sie ist, als gleich einer anderen aufzeigen. Also ist ein Kreis, den man sehen kann, nicht so präzise, dass es nicht immer noch einen präziseren als ihn geben könnte. Und obgleich er [sc. der rationale Sachgehalt ‚Kreis‘], wie er ist, sich nicht auf andere Weise mitteilt als so, wie er ist, kann er doch in einem anderen nur auf andere Weise partizipiert werden. Nicht ist es [sc. das Seiende in seiner eigentümlichen Wesenheit] also, wie es ist, aufgrund eines eigenen Mangels unpartizipierbar (imparticipabile), sondern weil es in einem anderen, daher auch auf andere Weise partizipiert wird (coni. I, 11, 54).
Mathematische Entitäten sind nach platonischem Verständnis bekanntlich deshalb mathêmata („Lerngegenstände“), weil sich an ihnen etwas lernen (gr. manthanô) bzw. zeigen lässt, wenn es darum geht, wie Platon sagt, „die Seele vom Werdenden zum Seienden zu ziehen“.1138 Entsprechend legt auch Cusanus hier dar, dass das Wesen des Kreises, insofern er wirklich ausschließlich und in vollgültiger Weise ‚Kreis‘ ist, nur in seinem begrifflich erschließbaren Gehalt selbst bestehen kann. Cusanus benötigt nicht die präzisen Messgeräte moderner Technik, um einzusehen, dass ein sichtbarer Kreis nie in vollkommener Weise ‚Kreis‘ sein kann, weil ihm letztlich die sachliche Präzision mangelt, die nur im rationalen Begriff selbst ihr Sein besitzt.1139 Deshalb hat der Kreis – als Prinzip aller Kreise und insofern als erster (princeps) und universaler, einziger wahrer Kreis – sein ihm eigentümliches Wesen als ein ens rationis, als ein Seiendes der Ratio. Jeder sinnlich-wahrnehmbare Kreis zeigt sein anteilhaftes Kreis-Sein dagegen bereits in etwas anderem, etwa auf einem Blatt Papier, als Rad aus Holz etc.: Das begriffliche Sein des Kreises tritt dabei gleichsam aus seiner eigentümlichen Wesenheit als ens rationis heraus, insofern es an einer dieses Sein teilhaft, mehr oder weniger genau aufnehmenden Materie existent wird.1140 Gerade die Mathematik hat also (jedenfalls gemäß platonischer Mathematikphilosophie) die Kompetenz und zugleich die Möglichkeit, das Denken der Seele dadurch zu sich selbst kommen zu lassen, dass sie die Seinsunterschiede zwischen etwas an der Materie Werdendem (einem sichtbaren Kreis) einerseits und einem intelligiblen, ewigen Seinsprinzip (die begrifflich erschließbare Sache ‚Kreis‘) andererseits aufzeigt sowie die Bezogenheit materiell verwirklichter Strukturen auf ihre intelligiblen Prinzipien erkennbar werden lässt. Dabei geht es methodisch immer wieder zunächst darum, überhaupt das intelligible Sein durch Reflexion auf das jeweilige mathêma, den Lerngegenstand, konsequent zu erschließen. In einem vielleicht zunächst redundant wirkenden resp. 521d3–4. Vgl. Albertson (2012: 102). 1140 Vgl. die Reflexion des Beispiels ‚Dreieck‘ bei Plotin (s. o. Kap. II.5 b). 1138 Platon, 1139
b) Das neuplatonische Methexis-Theorem bei Cusanus
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Satz unterstreicht Cusanus, dass man die äußerliche Existenz eines (einzelnen) Kreises nie mit dem wahren Sein des Kreises verwechseln darf, um nicht den Blick auf das wahre Sein zu verlieren: „Nicht ist es also möglich, dass der Kreis, insofern er im rationalen Gehalt ist, außerhalb des rationalen Gehalts ist.“ D. h., so genau auch sichtbare Kreise jeweils als Kreis erscheinen mögen, so ändert dies doch nichts daran, dass der wahre Kreis in seinem rationalen Gehalt nicht das Sein als genau dieser Sachgehalt verlassen kann. Als er selbst „verharrt“ er daher „nicht mitteilbar“ für etwas anderes und ruht in seinem rational-begreifbaren Sein.1141 Damit beschreibt Cusanus exemplarisch prägnant das Sein eines von sich selbst her unpartizipierbaren Seinsprinzips,1142 wie es Proklos in seinem Methe1141 Dies wäre in einer mathematikphilosophischen Diskussion sowohl im Hinblick auf moderne, nicht-euklidische Geometrien zu betonen als auch auf Cusanus’ Verhältnis zu diesen: Allgemein lässt sich aus platonischer Perspektive zu den nicht-euklidischen Geometrien vielleicht sagen, dass diese die begrifflichen Bestimmungen euklidisch-geometrischer Entitäten nicht ohne Weiteres zu ‚widerlegen‘ scheinen: Wenn z. B. ein nicht-euklidischer Kreis nicht mehr dem euklidischen Kreis-Kriterium entspräche, weil er kraft einer Abbildungs‑ oder Projektionsoperation anders erscheint, dann könnte dies wohl auch in Cusanus’ Sinne nicht so interpretiert werden, dass damit die Gültigkeit euklidischer Geometrie entkräftet wäre. Denn wenn der begrifflich einsehbare Sachgehalt als in sich ruhendes ens rationis ernst genommen würde (vgl.: Est enim in se ut in suo vero esse, ber. 4, 5), dann müsste schlagartig klar sein, dass – auf welcher Geometriebasis auch immer – unterschiedlich hergestellte Instanzen des begrifflichen KreisSeins per se nicht die Wahrheit des einen, für sich selbst bestehenden begrifflichen Gehaltes des Prinzips ‚Kreis‘ in Abrede stellen können. Auch wenn also in keiner Weise von einem mathematischen Laien über nicht-euklidische Geometrien ‚geurteilt‘ werden sollte, wäre es doch die Frage, eine wie große mathematikphilosophische Schlagkraft diesen Geometriekonzeptionen zugestanden werden kann und ob ihr Realitätsbezug und Wahrheitsgehalt nicht womöglich ein ganz anderer (letztlich eher naturwissenschaftlich legitimierter, weil vom Kriterium der Applizierbarkeit auf die sinnlich-wahrnehmbare, empirische Welt motivierter) ist als der des begrifflich erschließbaren, intelligiblen Seins im platonischen Sinne (zum platonischen Mathematikverständnis vgl. auch Anm. 265 und 472). – Cusanus selbst scheint mir einerseits die euklidische Geometrie nicht nur vorauszusetzen, sondern auch als allgemein gültig anzuerkennen. Andererseits scheinen seine Spekulationen z. B. über das unendliche Dreieck, den unendlichen Kreis etc. in einer gewissen Nähe zu modernen Geometrien zu stehen: Wenn Cusanus z. B. darlegt, das unendliche Dreieck sei Linie, dann scheint er auf den ersten Blick klar über Euklid hinauszugehen: Beim genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch, dass er, soweit ich sehe, die euklidische Geometrie keineswegs als ‚überholt‘ erachtet oder sie widerlegen will. Denn folgt man Cusanus’ Gedankengang (doct. ign. I, 14), dann wird z. B. der Innenwinkelsummensatz des Dreiecks, welcher platonisch das spezifische Sein des Dreiecks definitionsweise festhält (womit jedoch noch nicht das intellektive Erfassen des Eidos vollzogen ist, vgl. Drews 2009: 251), gar nicht außer Kraft gesetzt: Wenn die drei Seiten und Winkel eines Dreiecks im Unendlichen (gemäß der cusanischen coincidentia oppositorum, vgl. doct. ign. I, 4, 12) zusammenfallen sollen, dann wäre der gleichsam an der unendlichen Linie ‚zurückbleibende Winkel‘ ja einem Halbkreis gleich, also der Summe von zwei rechten Winkeln. Das euklidische Kriterium für das ausgefaltete Dreieck-Sein bestünde also genau genommen sogar in Cusanus’ unendlichem Dreieck implicite, d. h. eingefaltet, fort! Platonisch-aristotelisch erscheint auch, dass Cusanus nicht annimmt, dass das aktual Unendliche existieren könnte. Zur mathematiktheoretischen Stellung von Cusanus’ Geometrie vgl. Hösle (2013: 264–5). 1142 Die hier erörterte Passage lässt sich von ihrem Duktus her m. E. ‚einwandfrei‘ proklischneuplatonisch interpretieren. Erwähnt werden muss hier, dass, wie die Forschung immer wieder hervorhebt, Cusanus „mathematical entities as creations of the human mind“ (Hösle 2013:
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xis-Theorem entfaltet hatte,1143 und gibt zugleich den wesentlichen Hinweis, dass die Unpartizipierbarkeit gerade nicht als Mangel missverstanden werden darf. Die Frage, wie das Unpartizipierbare dennoch – offensichtlicherweise – partizipierbar wird für eine es jeweils aufnehmende Materie, beantwortet Cusanus, indem er die Seinsweise des Intelligiblen genauer reflektiert und dabei zugleich auf die für seine Philosophie charakteristisch-grundlegenden Begriffe der „Ausfaltung“ (explicatio) und „Einfaltung“ (complicatio) zu sprechen kommt: Du merkst, dass du nämlich kein Intelligibles, wie es ist, intellekthaft begreifen (intelligere) kannst, wenn du deinen Intellekt eine bestimmte andere Sache sein lässt als das Intelligible selbst; denn das Intelligible selbst wird allein in seinem eigentümlichen Intellekt, als dessen Seiendes es besteht, wie es ist, intellekthaft begriffen, in allen anderen aber auf andere Weise. Nicht wird also irgendetwas [sc. begreifend] berührt, wie es ist, außer in seiner ihm eigentümlichen Wahrheit, durch die es ist [= Sein hat]. Im göttlichen Intellekt allein also, durch den jedes Sein besteht, wird die Wahrheit aller Sachgehalte (res), wie sie ist, berührt, in anderen Intellekten auf andere und vielfältige Weise. Und nicht kann das intellekthafte Begreifen (intellectus) einer Sache, wie sie ist, in etwas anderem berührt werden, ebenso kann der Kreis, wie er auf diesem sichtbaren Fußboden ist, woanders nur auf andere Weise entstehen. Die unentfaltbare Selbigkeit (identitas) wird also auf vielfältige (varie) und verschiedene (differenter) Weise in der Andersheit (alteritas) entfaltet (explicatur), und die Vielfältigkeit (varietas) selbst wird harmonisch (concordanter) in der Einheit der Selbigkeit 252) betrachtet habe (vgl. coni. I, 1, 5; ber. 6, 7 und ber. 33, 56). Dieser Befund erscheint beim genaueren Hinsehen jedoch einseitig: „in Cusanus there are passages stating that mathematical entities are not exclusively subjective, but proceed from the divine mind. […] We must distinguish between the number created by the divine and the number created by the finite mind – the latter is the properly mathematical number, the image of divine number […]. With this statement, the originality of Cusanus’s philosophy of mathematics seems to fade away, for Plato could have granted, too, that our mind creates images of the pre-existent mathematical entities“ (Hösle 2013: 269). Cusanus’ philosophische Originalität sollte kaum daran hängen, ob er sich von Platon gleichsam ‚emanzipiert‘ hätte, aber Hösle macht zumindest deutlich, inwieweit eine ausgewogene Cusanus-Interpretation mathematische Entitäten sowohl als Produkt des menschlichen Geistes wie auch zugleich als Abbild der göttlichen, d. h. rein intelligiblen ma‑ thematica werten sollte (Idiota de mente 6, 88, ebenso 95; s. dazu Rusconi 2012: 164–7). Wenn die menschliche Ratio rationale Abbilder des eigentlichen Intelligiblen erzeugt, dann tut sie dies eben nicht in bloßer Subjektivität und autark agierender Einbildungskraft, sondern ist bezogen auf einen ihr vorausliegenden Einheitsgrund. Gemäß dieser Interpretation stünde Cusanus (vgl. cribr. II, 16, 134) dann in einer Linie mit Thomas von Aquins Ausführungen über den intellectus agens (STh I, q. 79, a.3, resp., s. o. Kap. IV.8. mit Anm. 1094). S. auch die folgende Passage im Haupttext. Vgl. Ziebart (2008: 159). Wenn Horn (2007: 14) meint, Cusanus erweise sich „in der Frage nach Realität der Zahl als Platonist, was die Idealzahlen, und als Konstruktivist, was unser menschliches Zahlkonzept anlangt“, dann trägt er mit dem Konstruktivismus nicht nur eine postmoderne Theorie anachronistischerweise an Cusanus heran, sondern wird auch dem gerade skizzierten philosophischen Zusammenhang (s. Hösle) kaum gerecht: Die subjektive Erzeugung der abbildhaften mathematica orientiert sich gemäß Cusanus am vorausliegenden Göttlich-Intelligiblen, was mit Konstruktivismus im Sinne postmoderner Philosophie wenig zu tun haben dürfte. Vielmehr scheint es auch für Cusanus der Sache nach um den aristotelischen Unterschied zwischen einem (abstrakt-defizienten) post multa-Begriff und einem reichhaltigen, primären Allgemeinen zu gehen (s. o. Kap. II.3 mit Anm. 85, 80 und 102). 1143 S. o. Kap. III.c.
b) Das neuplatonische Methexis-Theorem bei Cusanus
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eingefaltet (complicatur). Das Sehen (visio) nämlich wird unter den vielfältigen Sehenden in verschiedener Weise partizipiert, und die Vielfältigkeit der sichtbaren Dinge wird in der Einheit des Sehens (visus) harmonisch eingefaltet, wie auch die Unterschiedlichkeit (diversitas) der Sehenden in der Einheit des absoluten Sehens harmonisch umfasst wird. Und weil der göttliche Geist (mens) die höchstgradig absolute Präzision von allem ist, kommt es, dass an ihm alle geschaffenen Geister in der Andersheit der Vielfältigkeit auf verschiedene Weise partizipieren, während jener unaussprechliche Geist selbst unpartizipierbar fortdauert und die Bedingung der Partizipierenden dies bewirkt. […] Eher also besteht all unsere [sc. menschliche] Intelligenz (intelligentia) aus der Partizipation an der göttlichen Aktualität in der Vielfältigkeit des Vermögens (in potentiali varietate).1144 Die Wahrheit selbst, wie sie ist, nämlich im (Erkenntnis‑)Akt begreifen zu können (posse intelligere), kommt den geschaffenen Geistwesen (mentes) so zu, wie es unserem Gott eigentümlich ist, jene Aktualität zu sein (actum illum esse), an welcher auf vielfältige Weise unter den geschaffenen Geistwesen selbst [sc. nur] gemäß dem Vermögen (in potentia) partizipiert wird. Je gottartiger (deiformior) also eine Intelligenz, desto näher ist ihr Vermögen der Aktualität; je dunkler sie aber sein mag, desto entfernter. Deshalb wird sie [sc. die Intelligenz] gemäß benachbartem, entferntem und entferntestem Vermögen auf vielfältige und verschiedene Weise partizipiert (coni. I, 11, 55–56).
Ihren Ausgangspunkt nimmt die Passage von der Voraussetzung, dass das Erkenntnisvermögen des Intellekts sich nur dann aktualisieren lässt, wenn es nicht leer ist, sondern konkret einen bestimmten intelligiblen Sachgehalt zu ergreifen sucht.1145 Die Begründung dafür, dass der Intellekt in seinem Erkenntnisakt mit einem erkannten intelligiblen Eidos auf bestimmte Weise Eines werden kann, besteht zunächst darin, dass der intelligible Sachgehalt auch selbst Intellekt ist: Das intelligible Sein des Kreises, des Dreiecks, der Gerechtigkeit, der Schönheit etc. besteht platonisch gerade nicht in einer im Vergleich zu sinnlichen Instanzen weniger sachhaltigen, bloß nachträglichen Abstraktion,1146 sondern ist von sich selbst her Intellekt, d. h. begreifendes Erkennen seiner eigenen Sachhaltigkeit. In diesem Sinne wird es nur „in seinem eigentümlichen Intellekt, als dessen Seiendes es besteht“, begriffen, denn sein Sein ist die ihm eigene Intellekterkenntnis seines Sachgehalts als ‚Kreis‘ oder ‚Dreieck‘ etc. Von dieser aus der konkreten Sachbestimmtheit als Intelligibles resultierenden Selbst-Erkenntnis des Intelligiblen leitet sich auch dessen Wahrheit her: Da im göttlichen Intellekt gewissermaßen das intelligible Eidos ‚Kreis‘ selbst intellektiv denkend ist, stiftet es auch seine Erkennbarkeit und zugleich den Wahrheitsgehalt als genau dieses Eidos. Damit ist das Kriterium der Wahrheit grundsätzlich im Intelligiblen verankert, nicht 1144 M. E. eine Enallage: nicht die Vielfältigkeit ist vermögend, sondern die Vermögen sind vielfältig, daher „Vielfältigkeit des Vermögens“. 1145 Schmitt (2003 a: 207 ff.) versteht diese erkenntnistheoretische Voraussetzung des Platonismus als „konkretes Denken“ (im Kontrast zu einem von sich selbst her leeren Denken, welches seine Inhalte nicht mehr aus eigener Reflexion auf das begriffliche Denken und das als intelligible Sacheinheit Denkbare selbst, sondern nur noch und ausschließlich in der Auswertung von Sinnesdaten bezieht, ibd., 136). 1146 Vgl. Flasch (2007: 84) dazu, dass für Cusanus „kein modern-empiristischer Abstraktionsbegriff “ gilt.
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aber in der empirisch-vergänglichen, sinnlich-wahrnehmbaren Welt, die zwar am Intelligiblen partizipiert, aber nie ‚Gradmesser‘ für dessen Wahrheitsgehalt sein kann (Cusanus hatte schon exemplarisch darauf verwiesen, dass z. B. jeder empirische Kreis nie präzise dem intelligiblen Kreis-Sein gerecht werden kann). Wer aber erkennt diese absolute Wahrheit der intelligiblen Ideen, die doch als sie selbst unpartizipierbar sein sollen? Nur der göttliche Intellekt selbst, lautet Cusanus’ Antwort, um sogleich anzuschließen, dass es „andere Intellekte“ gebe, welche diese Wahrheit zwar nicht auf absolute, dem Intelligiblen selbst voll entsprechende, aber „auf andere Weise“ berühren. Damit ist ein wesentlicher Punkt benannt: Cusanus scheint einerseits auf die aristotelische Lehre von der Einheit des erkennenden Intellekts mit dem erkannten Intelligiblen im Erkenntnisakt Bezug zu nehmen,1147 wobei das Intelligible selbst lebendig, erkennend und des‑ halb erkenntnisstiftend sein soll.1148 Andererseits wird aber der Abstand zwischen göttlichem und menschlichem Erkennen gewahrt: Dies entspricht nicht nur dem christlichen Verständnis, sondern auch der neuplatonischen Erkenntnistheorie eines Proklos, welcher begründet, dass der Intellekt im Akt mit dem Intelligiblen / Noetischen auf intellektuale / noerische Weise eins werde, sodass trotz der Einheit im Erkenntnisakt doch noch eine Quasi-Differenz erahnbar bleibt zwischen dem Intelligiblen selbst und dem es noerisch-intellektual ergreifenden Intellekt.1149 Sodann erklärt Cusanus in allgemeiner Weise, dass die Selbigkeit, d. h. das unpartizipierte Für-sich-Bestehen der intelligiblen Ideen dennoch seine Entfaltung findet. Dies ist kein Selbstwiderspruch, sondern Cusanus fügt präzise hinzu, dass die Selbigkeit in der Andersheit entfaltet wird. Damit ist nun der Sache nach die Vermittlung zwischen den von sich selbst her unpartizierbaren eidetischen Seinsprinzipien einerseits und den an diesen doch irgendwie partizipierenden Instanzen andererseits berührt: Die Selbigkeit kann natürlich selbst nicht zur Andersheit werden, sondern verharrt in ihrer Selbst-Identität. Aus der unentfaltbaren Selbigkeit geht aber offenbar etwas hervor – ohne dass, wie gesagt, die Selbigkeit sich verändern würde:1150 Ein solcher Hervorgang kann sich aus der Selbigkeit nur als Differenz zu dieser gestalten, weil das Hervorgehende durch sein Hervorgehen bereits eine Andersheit zum nicht-hervorgehenden Selbigen 1147 Vgl. Aristoteles, de an. 429a15–16 und 430a3–5, s. dazu Bernard (1988: 181 f.; 199, Anm. 44); sowie Aristoteles, metaph. 1052a29–31, s. dazu Pietsch (1992: 257). Zur Präsenz von Aristoteles in Cusanus’ Denken vgl. Ziebart (2008). 1148 Zur Lebendigkeit Gottes gemäß Aristoteles vgl. metaph. 1072b26–30. Dass den intelligiblen Ideen, wenn sie denn „heilig und ehrwürdig“ sein sollen, selbst Leben, rationales Denken zukommen müsse, deutet bereits Platon an (soph. 248e6–249a2). Zur Stelle und ihrer Interpretation bei Proklos und Plotin s. einschlägig Bernard (1990: 126–138). 1149 S. o. zu Proklos, in Parm. 932, 27–34 (Kap. III.c) und 1070, 9–11 (Anm. 322). 1150 Hier ist an Proklos’ Trias ‚Verharren (monê), Hervorgang (prohodos) und Rückwendung (epistrophê)‘ zu erinnern (s. o. Kap. III.f), ebenso wie an den neuplatonischen Begriff der göttlichen ‚Überfülle‘, aus der heraus ein nie versiegender Strom der ‚Seinsgaben‘ führt, ohne dass sich das Göttliche darin verlöre (zu Proklos s. o. Kap. III.d mit Anm. 342; zu Plotin s. o. Kap. II.5 c mit Anm. 238). Zur (Über‑)Fülle bei Cusanus: Abundantia vero uni convenit (doct. ign. I, 2, 5).
b) Das neuplatonische Methexis-Theorem bei Cusanus
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konstituiert. Daher spricht Cusanus davon, dass das, was in der Selbigkeit verharrt, in der Andersheit seine Entfaltung findet. Mit dieser Andersheit scheint zugleich das impliziert zu sein, was Proklos innerhalb seines Methexis-Theorems als partizipierfähige Mitte (metechomenon) beschreibt:1151 Die im Hervorgang konstituierte Andersheit begründet zugleich die Möglichkeit der vielfältigen Partizipation an dem Selbigen, da Vielfalt bereits Vieles, welches voneinander unterscheidbar ist, und somit Andersheit voraussetzt. Andersheit jedoch kann sich als relationale Differenz nur in Unterscheidung von der Selbigkeit entfalten: Selbigkeit ist also sachlich früher, liegt als Ermöglichungsursache jeglicher Andersheit eben dieser bereits voraus. Darin, dass Andersheit also vom Prinzip der Selbigkeit ontologisch abhängig ist, spiegelt sich der allgemeine Primat des Einen vor dem Vielen.1152 Die schon angeklungene neuplatonische Trias ‚Verharren (monê), Hervorgang (prohodos) und Rückwendung (epistrophê)‘ zeigt nun ihre volle Relevanz: Andersheit und Hervorgang bedingen einander wie umgekehrt Rückwendung und Selbigkeit. Im Hervorgang durch die Andersheit wird die in sich verharrende Selbigkeit in die Vielheit entfaltet (explicatio) und damit zugleich in die Möglichkeit der vielfältigen Partizipierbarkeit. In der Rückwendung des Entfalteten zur Einheit der Selbigkeit erfährt das Viele nicht nur die notwendige seinskonstituierende Einheit, sondern wird zugleich als Vieles letztlich wieder in die Einheit der Selbigkeit zurückgeführt und insofern eingefaltet (complicatio).1153 Da, wie gesehen, das Intelligible selbst nichts Abstrakt-Leeres, sondern erkennend und erkenntnisstiftend ist, Anteilhabe an ihm aber jeweils nur über die durch die Andersheit hindurch sich vollziehende Entfaltung des Eingefalteten entstehen kann, verwundert es nicht, dass Cusanus auch die Erkenntnisvermögen im Kontext des Partizipationstheorems erläutert: Sehfähig sind viele Wesen, aber auf unterschiedliche Weise, weil sie in gradueller Verschiedenheit am Vermögen des Sehens partizipieren. Dies erinnert sachlich z. B. an Ausführungen bei Origenes und Thomas von Aquin.1154 1151 S. o. Kap. III.c. Cürsgen (2007 a: 175, Anm. 482) spricht daher m. E. zu Recht von der Rezeption des dreigliedrigen Teilhabebegriffs bei Cusanus in coni. I, 11, 56. Zum Teilhabetheorem bei Cusanus vgl. auch Beierwaltes (1994: 290). 1152 Vgl. Cusanus’ Verständnis von dem (christlich als drei-einigen Gott gedachten) Allerhöchsten als Prinzip der Einheit, von dem auch alle Vielheit entströme (coni. I, 1, 6). Zu der in der (Neu‑)Platonismus-Forschung immer wieder aufgeworfenen Frage, warum das Eine qua Eines denn Prinzip von etwas Nicht-Einem sein könne, s. o. Anm. 342. – Zum Primat des Einen vor dem Vielen s. o. Proklos (Kap. III.d). 1153 Der deutsche Begriff des ‚Komplizierten‘ im Sinne von ‚schwierig‘ erinnert aus großer Ferne daran, dass das Komplizierte ursprünglich deshalb ‚kompliziert-schwierig‘ ist, weil es eine Fülle von Bestimmungsmomenten zugleich umfasst, die nicht auf Anhieb in ihrer einheitlichen Komplexion erfasst werden können. 1154 Vgl. Origenes, princ. IV, 4, 9; 361,16–362,5 (s. o. Kap. IV.3 a). Zu den in unterschiedlichen Aktualisierungen sich vervielfachenden Partizipationsweisen an demselben Intellektvermögen vgl. Thomas, STh I, q. 79, a. 5, ad 3 (s. o. Kap. IV.8. mit Anm. 1098).
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Dass „die Unterschiedlichkeit (diversitas) der Sehenden in der Einheit des absoluten Sehens harmonisch umfasst wird“, ließe sich theologisch im Vorausblick auf De pace fidei als das Umfasstsein der verschiedenen (auch religiösen) Perspektiven in der geeint-komplexiven, absoluten Perspektive Gottes interpretieren, abgesehen davon aber vielleicht auch mit der neutestamentlichen Verklärungsgeschichte aus Mt 17, 1–13 assoziieren:1155 Hier sehen die drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes zunächst, wie Jesus vor ihnen „verklärt“ wird; danach erscheinen ihnen neben Jesus auch Mose und Elia (explicatio), bevor sie nur noch Jesus allein sehen (complicatio). Nicht nur sehen die Jünger offenbar in einer ihnen gemeinsam zuteil werdenden Vision dasselbe; diese Schau ließe sich mit Cusanus’ Worten als Form eines absoluten Sehens begreifen, insofern Jesus und die beiden Propheten Mose und Elia in einer Raum und Zeit transzendierenden Vision geschaut werden, bevor diese – vielleicht vergleichbar mit einer Überblendung – in Jesus gleichsam ihrem ‚Einheitsfluchtpunkt‘ entgegengeht.1156 Der Charakter einer solchen Vision wird nicht zuletzt bei De pace fidei eine entscheidende Rolle spielen. Auch an dem göttlichen Geist / Intellekt wird entsprechend in graduell ganz verschiedener Weise Anteil gewonnen, wobei Gottes Geist unpartizipierbar er selbst bleibt und die Verschiedenheit der geschaffenen Geister durch die jeweils unterschiedlichen Weisen der Partizipation an ihm bedingt sind. Gottes Geist ist reine Aktualität, immer währendes Erkennen, während der menschliche Intellekt zunächst ein bloßes Vermögen ist, welches sich der Anteilhabe an Gottes aktualem Intellekt verdanke. Die Vielheitlichkeit menschlicher Intellekte resultiert aus den graduell verschiedenen Intellektvermögen: Je nach Ferne oder Nähe zu Gott ist das Vermögen des menschlichen Intellekts unterschiedlich (sowohl als Vermögen wie auch in seiner Aktualisierung1157). 1155 Vgl. u. Epilog, Kap. VII.2. – Dazu, dass gemäß Cusanus alle Perspektiven „insgesamt annähernd die Fülle der unendlichen Wahrheit antizipieren können“, vgl. Cürsgen (2007 b: 142); zum absoluten Sehen Gottes und zu Gottes Schau in dem doppelten Sinne, dass der Schauende Gott sieht und von Gott gesehen wird, vgl. Riedenauer (2007: 378) und Beierwaltes (1994: 283). Zum Problem des Verhältnisses zwischen partikulärem und absolutem Sehen s. u. Anm. 1170. Der Sache nach lässt sich der partikuläre Blick auf das Absolute in Analogie mit Proklos’ Differenzierung einer Teilhabe am Ganzen und am Teil, die bei den Instanzen einer Sache unterschieden werden müsse, parallelisieren (s. o. Kap. III.c): Ein partikuläres Dreieck ist nur ausschnitthaft Dreieck (z. B. als gleichseitiges oder rechtwinkliges), verwirklicht aber den spezifischen Unterschied des Dreieck-Seins auf ganzheitliche Weise (mehr oder weniger genau), insofern es eine geradlinige, ebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln ist. Das partikuläre Sehen von etwas Wahrem vermag analog etwas Wahres zu ergreifen, was nicht in derselben Hinsicht unwahr sein kann und insofern ‚ganz‘ wahr ist; trotzdem ergreift das partikuläre Sehen eben nicht die absolute Wahrheit schlechthin als Absolutes, sondern bestenfalls einen Teil von ihr. 1156 Vgl. auch Cusanus zu Christus als „dem Berg, den zu berühren mit der Natur unserer Tierhaftigkeit [= sinnenverhafteten Existenz] uns verwehrt ist“ (doct. ign. III, 11, 246). 1157 Zum intellectus agens vgl. o. Thomas von Aquin (Kap. IV.8) sowie Anm. 1142.
b) Das neuplatonische Methexis-Theorem bei Cusanus
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Dass Cusanus Proklos’ dreigliedriges Methexis-Theorem unverkürzt1158 rezipiert und sachlich voraussetzt, zeigt prägnant eine Stelle aus De beryllo:1159 […] Die [sc. absolute] Wahrheit teilt durch ihre Ähnlichkeit allen das Sein (esse) zu. […] Und achte darauf, dass die Wahrheit, die das ist, was [sc. im Sinne eidetischer Seinsbestimmtheit] sein kann, unpartizipierbar (imparticipabilis) ist, aber in ihrer Ähnlichkeit, die gemäß dem Mehr und Weniger aufgenommen werden (recipi) kann gemäß der Disposition des Aufnehmenden (recipiens), partizipierbar / mitteilbar (communicabilis) ist (ber. 16, 18).
Cusanus tangiert hier einen Grundgedanken des Platonismus, der bis zu Parmenides zurückreicht: Wahrheit und Sein implizieren einander. Umfassendes, unvermindertes Sein ist zugleich wahres Sein, weil es auf wahrhaftige, vollgültige Weise ist. Wahrheit ist aber nur Wahrheit, wenn sie Wahrheit von Seiendem ist (und nicht von Trug oder Scheinbar-Seiendem). Unumstößliche Wahrheit ist deshalb intelligible Wahrheit, weil sie Wahrheit des wahren Seins ist; wahres Sein ist genau diese seine Bestimmtheit und nichts anderes, diese volle Bestimmtheit des Seins aber begründet seine Intelligibilität, weshalb wahres Sein intelligibles Sein bedeutet. Im Intelligiblen koinzidieren somit Wahrheit und Sein. Schon für Parmenides ist die Erkenntnis des „unerschütterlichen Herzens der wohlüberzeugenden Wahrheit“ an den Erkenntnispfad geknüpft, welcher zu dem absolutem Sein (to eon) hinführt.1160 Entsprechend teilt gemäß Cusanus die absolute Wahrheit (Gottes) allen Seienden ihr spezifisches Sein zu. Dabei unterscheidet er in der obigen Passage explizit (a) das unpartizipierbare Prinzip (die absolute Wahrheit Gottes), (b) eine diesem Prinzip zwar ähnliche, aber im Unterschied zu ihm partizipierbare / mitteilbare Vermittlungsinstanz und (c) das Partizipierende selbst, welches die aus der Wahrheit herrührende Seinsbestimmung aufnimmt – in völliger Übereinstimmung mit Proklos’ Differenzierung zwischen dem (a) amethekton, (b) dem metechomenon und (c) dem metechon.1161 1158 Dies ist in Abgrenzung zu Eriugenas’ Rezeption des Methexis-Theorems zu betonen (s. o. Kap. IV.7). 1159 Auch die Schriften des Dionysius Areopagita (s. o. Kap. IV.5 a), der seinerseits Proklos’ Methexis-Theorem rezipiert, sind natürlich nicht zu unterschätzen in ihrem partizipationstheoretischen Einfluss auf Cusanus, vgl. ven. sap. 18, 52. 1160 Parmenides, frg. 1, 29 und frg. 2 (s. o. Kap. II.1). Zum Konnex von Wahrheit und Sein bei Cusanus vgl. ber. 4, 5. 1161 Proklos, ETh 24 (s. o. Kap. III.c). Möglicherweise lässt sich im Kontext von Cusanus’ geometriephilosophischer Spekulation auch etwas dem proklischen Gedanken von der Partizipation am Ganzen und am Teil eines Eidos (in Parm. 874, 11–16; s. o. Kap. III.c) zumindest Vergleichbares finden: Cusanus sagt, dass die unendliche Linie (als universales Prinzip von Linie überhaupt) in jeder partikulären Linie „ganz“ (tota) sei, weil jede partikuläre in ihr sei (doct. ign. I, 17, 50). Eine partikuläre Linie ist qua Einzellinie partizipationstheoretisch zwangsläufig eine Teilverwirklichung des universalen Prinzips ‚Linie‘ (analog zur Rede von dem rationalen, begrifflich fassbaren Kreis als Prinzip für jeden partikulären Kreis, s. o. coni. I, 11, 54). Insofern handelt es sich der Sache nach um eine instantiale Partizipation der partikulären Linie an dem
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Cusanus’ Darstellung des Partizipationstheorems und seine Terminologie erinnert dabei an Thomas von Aquin: Der Term ‚Partizipierbares‘ wird durch den Begriff des „Mitteilbaren“ (communicabilis) ausgedrückt, analog war bei Thomas im Kontext seines Partizipationsverständnisses von dem Gemeinsam-Haben (communicare) und der geteilten Gemeinsamkeit (communicatio) die Rede.1162 Thomas hatte ferner (wie Augustinus, Origenes1163 u. a. von den „Vernunftgründen des Seins“) von „mehreren Ideen im göttlichen Intellekt (mens)“ gesprochen, welche Gottes schöpferische Seinsprinzipien, die er in sich in geeinter Weise erschaut, darstellen: Während Gott selbst diese auf vollkommene Weise erkenne, partizipierten seine Geschöpfe an ihnen „gemäß einer bestimmten Weise der Ähnlichkeit (similitudo)“. Ein jedes Geschöpf aber habe eine eigentümliche (pro‑ pria) eidetische Form (species), insofern es auf eine bestimmte Weise an der Ähnlichkeit mit dem göttlichen Wesen partizipiere.1164 D. h., die Diskrepanz zwischen den in der göttlichen, unpartizipierbaren Wahrheit Gottes selbst enthaltenen Seinsprinzipien und den an diesen dennoch irgendwie partizipierenden Geschöpfen (die Wahrheit teilt allen Seienden ihr spezifisches Sein zu) wird sowohl bei Thomas wie auch bei Cusanus beide Male durch die partizipierbare „Ähnlichkeit“ überbrückt. Wie oben bereits deutlich wurde, impliziert das aus der unpartizipierbaren Selbigkeit Hervorgehende gemäß Cusanus immer schon „Andersheit“ bzw. Vielheitlichkeit: Genau dies scheint auch der philosophische Grund dafür zu sein, dass die Ähnlichkeit als partizipierfähige Mitte „gemäß dem Mehr und Weniger“ partizipierbar ist.1165 Die Ähnlichkeit ermöglicht qua Ähnlichkeit gerade die sich auf vielfältige Weise gestaltende Partizipation der Vielen an etwas Selbigem. Damit ist zugleich erklärt, warum die vielen Geschöpfe ungleich sein können: Die partizipierfähige Ähnlichkeit eröffnet von sich selbst her die vielheitliche Teilhabe gemäß einem Mehr oder Weniger, d. h. auf graduell unterschiedliche Weise in Abhängigkeit von der unterschiedlichen Aufnahmeuniversalen Prinzip ‚Linie‘ (vgl. ber. 19, 27). Wenn aber die unendliche Linie als Prinzip von Linie auf bestimmte Weise in jeder Linie „ganz gegenwärtig“ ist, könnte man dies der Sache nach als Partizipation der Instanz am Ganzen ihres Prinzips ‚Linie‘ interpretieren. Denn alle Rede davon, dass das Partikuläre qua seiner Partikularität jeweils hinter seinem universalen Prinzip zurückbleibe und sich insofern von ihm unterscheide, hat ja nur einen Sinn, wenn zugleich – aber in anderer Hinsicht – durch die Partizipation in der Andersheit hindurch das bestimmte Sein des Prinzips in seinen Instanzen trotzdem gegenwärtig bleibt, also in einer bestimmten Hinsicht das Prinzip auch „als ganzes“ in seinen partikulären Instanzen repräsentiert wird. Diesen Aspekt könnte man – mit aller Vorsicht – vielleicht aus der obigen Stelle philosophisch herauslesen (vgl. analog ber. 34, 58). Dazu, dass Cusanus mit Proklos’ Parmenideskommentar vertraut war, vgl. ber. 11, 12. Zu Cusanus „als Leser von Proklos“ s. D’Amico (2007), zu seiner Lektüre des Parmenideskommentars ibd., 57. 1162 S. o. Kap. IV.8, konkret z. B. die Stelle STh I, q. 79, a. 5, ad 3 (zitiert in Anm. 1098). 1163 S. o. Kap. IV.4 c. und IV.3 a 1164 Thomas von Aquin, STh I, q. 15, a. 2, resp. (zitiert in Kap. IV.8). 1165 Vgl. ber. 20, 28.
c) De pace fidei: Der interreligiöse Dialog im Angesicht Gottes
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fähigkeit / Disposition des jeweils ein bestimmtes Sein anteilhaft Empfangenden, aber auch eine aspektual verschiedene Partizipation, insofern aus der Seinsfülle eines Eidos (z. B. ‚Dreieck‘) unterschiedliche Aspekte / Teile partizipiert werden (z. B. ‚gleichseitiges Dreieck‘). Die Annäherung an das Sein von Gottes absoluter Wahrheit im Sinne einer möglichen Verähnlichung mit Gott (ad divinam similitudinem accedere) war gemäß Thomas gerade das, was den Menschen kraft seiner natürlichen Vernunft in spezifischer Weise als Menschen auszeichnet und zugleich die Basis eines interreligiösen Dialogs unterschiedlicher Religionsvertreter darstellen kann.1166 c) De pace fidei: Der interreligiöse Dialog im Angesicht Gottes 1. Anlage, Fiktionalität, Anlass und die Schau des Intellekts als ‚Ort‘ des Dialogs Nachdem das für diese Untersuchung zentrale Methexis-Theorem in der von Proklos geprägten Form bei Cusanus nachgewiesen wurde, soll darauf aufbauend nun der fiktive interreligiöse Dialog De pace fidei (pac.), „Über den Frieden des Glaubens“, interpretiert werden, in dem – so die These – alle interreligiösen und interphilosophischen Ansätze der bisher behandelten Autoren der Sache nach zusammenfließen: In diesem Sinne kann De pace fidei als eine zwar ‚fingierte‘, aber philosophisch begründete und insofern keineswegs beliebige Ausformung einer interreligiösen Annäherung auf der Basis platonisch-christlicher Philosophotheologie gelten.1167 Kennzeichnend für Cusanus’ interreligiöses Gespräch ist, dass es gewissermaßen im ‚Angesicht Gottes‘ stattfindet, zum großen Teil sogar aus einer göttlichen Perspektive heraus geführt wird. Diese Anlage ist vom (post‑)modernen Denken her leicht zu attackieren. So meint etwa Hösle mit Blick auf die interreligiösen Dialoge von Abaelard, Llull,1168 Cusanus und Bodin:
Thomas von Aquin, ScG I, 2; 4–6 (s. o. Kap. IV.8). In besonderer Weise würdigt Gerl-Falkovitz (2008: 109–110) das Werk als „einen groß gedachten, riskanten Ansatz: die Begründung religiöser Toleranz aus der Gewissheit der einen Wahrheit.“ Die Vernunft sei „eine das Wesen des Gegensatzes überholende, genauer: dessen zerstörerischen Widerspruch einigende Kraft“ (ibd., 111). „[sc. Die Rechtfertigung religiöser Vielfalt] anerkennt das Andere, den Anderen als Ausdruck der einen Wahrheit selbst: eine zutiefst christliche Grundlegung des Friedens. Sie begreift nämlich Frieden nicht als Indifferenz, sondern als Differenz auf dem Boden der umfassenden, einfachen Wahrheit. Cusanus zeigt, dass dieses Paradox tatsächlich christlich gedacht werden kann: Frieden, weil Unterschied der Religionen, weil Einheit Gottes“ (ibd., 123). 1168 Zu den historischen Vorläufern von Cusanus’ interreligiösem Dialog s. Riedenauer (2007: 129–157), zu Llulls Einfluss auf Cusanus vgl. Watanabe (2014: 13). Nikolaus setze „den Monotheismus nicht einfach voraus und bemüht sich um eine globale Sicht. […] Zudem erscheint der von Raimundus [sc. Llullus] als Ausgangsbedingung des Dialogs angesetzte Zweifel im Werk des Cusanus wesentlich stärker“ (Riedenauer 2007: 153). Zu Llull selbst vgl. z. B. Lohr (1997 b), Colomer (1997) und Euler (1997). 1166 1167
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Probably Cusanus’s dialogue is the most naïve in this respect – since the dialogue presents an absolute, divine authority that cannot be challenged without impiety (Hösle 2013: 231).1169
Aus einer bestimmten, platonischen Sicht erscheint die Anlage von De pace fidei jedoch nachvollziehbar. Zunächst ist klar, dass kein Autor – auch wenn er sich bemüht, eine Annäherung an eine ‚absolute Perspektive‘ zu wagen – schreiben und denken kann, ohne als Mensch eine bestimmte, d. h. immer schon partikuläre Perspektive einzunehmen.1170 Mit Proklos ließe sich aber vielleicht eine Methode begründen, aus einer partikulären Sicht heraus das Universal-Absolute zumindest doch einzukreisen: „das Universale in partikulärer Weise / Methode zu betrachten“ – to holon merikôs skopein.1171 D. h., für Cusanus kann und soll 1169 In ähnlicher Weise Riedenauer (2007: 82) und Hollmann (2014: 83), der meint, Cusanus dahingehend Naivität zu unterstellen, „that rational discourse could indeed achieve lasting religious peace […]. […] in our fragmented contemporary world, we have, no doubt, lost faith in the power of logical, dialectical thought as envisioned in De pace fidei.“ Vgl. jedoch im selben Band Alfsvåg (2014: 56, Anm. 32) dazu, dass es methodisch zweifelhaft ist, an Cusanus’ Argumentationen heranzugehen mit einem „lack of willingness and / or ability to engage with the central elements of Christian thought with anything even remotely close to the seriousness Cusanus brings to the question.“ Die Notwendigkeit und Möglichkeit einer sachlichen Auseinandersetzung mit Cusanus wird von Riedenauer (2007: 12) betont, der zugleich auf die „hermeneutische Selbstinterpretation religiösen Deutens“ hinweist, „die im Licht des fundamentalen ersten Bezugs als menschliches Antworten auf den Anspruch des Wahren gelten kann. Damit wird der Vollzug solchen entwerfenden Antwortens zentral. Dieses ist selbst ein Dialog mit dem ansprechenden Unaussprechlichen selbst […]“ (ibd., 473). Vor diesem Hintergrund, der jedenfalls bei Cusanus in Rechnung zu stellen ist, erscheint es der Sache nach geradezu unumgänglich, dass ein interreligiöser Dialog im religiösen Blick auf Gott gestaltet werden muss, der selbst Zentrum und in doppelter Weise „Anspruch“ des Dialogs ist – einmal im Sinne des Niveaus, zum anderen im Sinne des Ansprechens der Dialogteilnehmer. Für Cusanus ist der deus loquens noch nicht „gestrichen“ (vgl. pac. XVI, 59; 12–13, s. u. Kap. V. c16) – anders als „für den Geist der Aufklärung“ und seinen „historisch-anthropozentrische[n] Ansatz der Hermeneutik“ (Reiser 2007: 10). 1170 Auch dies wird in der Forschung kritisiert: „Das Fundamentalproblem von DPF ergibt sich aus dem Charakter des Textes als einer literarischen Fiktion mit einem klaren Argumentationsziel. Damit ist die gesamte Vorstellung eines interreligiösen Einigungsprozesses wiederum ein partikularer Entwurf, während erst ein realer Dialog mit realen Partnern die Tragfähigkeit eines Einheitskonzeptes erweisen könnte“ (Riedenauer 2007: 96); andererseits könnte der „Wunsch nach einem leichten Ausweg aus der perspektivischen Eingeschränktheit und hermeneutischen Zirkularität des menschlichen Orientierungsvermögens […] selbst naiv sein“ (ibd., 473). Levy / George-Tvrtkovič / Duclow (2014 b: 5) weisen darauf hin, dass für Cusanus „dialogue becomes less a matter of face-to-face conversation than a hermeneutical affair […].“ Als einen möglichen „Vorzug des Dialogs“ erachtet Riedenauer (2007: 96) dessen „visionäre[n] Charakter“: Gemäß dem von Cusanus in De visione Dei, praefatio den Mönchen anempfohlenen Experiment einer gemeinschaftlichen Ikonenbetrachtung weist er (ibd., 373–4) auf die „nicht aussagbare Beziehung des Einzelnen zum göttlichen Blick, die nicht objektivierbar ist“, hin. Im Unterschied zu De visione Dei argumentiere De pace fidei jedoch „auf der Ebene perspektivischer Differenz“ (ibd., 381): Das heißt hier geht es um die Vermittlung differenter Perspektiven in ihrem partikulären Verschiedensein, dort um die Erfahrung der Vereinigung differenter Perspektiven in dem absoluten Einheitsblick Gottes. 1171 Vgl. Proklos, in Tim II, 62, 1–3.
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seine platonisch-christliche Perspektive keineswegs geleugnet werden. Die Frage ist vielmehr, ob er aus ihr heraus – innerhalb der literarischen Fiktion vor dem genuin philosophischen Hintergrund eines möglichen Dialogs1172 – einen sinnvollen, begründeten Ausgriff auf das Absolute bzw. auf einen ‚geistigen Ort hin‘ entwerfen kann, der für unterschiedliche Religionen anschlussfähig, partizipier‑ bar sein und insofern einem friedlichen Miteinander verschiedener Geistestraditionen dienen könnte. Diese Frage ist methodisch im Hintergrund präsent zu halten, denn wie auch immer man De pace fidei letztlich bewerten mag – ob als vermessen, absurd oder vielleicht doch bedenkenswert: Vom Selbstverständnis des Autors und seines Textes her geht es bei dem Wagnis einer gleichsam absoluten Perspektive gerade nicht darum, göttliche Autorität in menschliche Hände zu nehmen, sie zu vereinnahmen, um möglichst viel Macht über vielleicht manipulierbare Menschen zu erlangen. Eine solche Perversion ist nicht Cusanus’ Anliegen: Denn bezeichnenderweise hat jeder Religionsvertreter im Dialog einen Engel als ‚göttlichen Begleiter‘ an seiner Seite – nicht nur der Christ, nicht nur der Platoniker. Cusanus lässt Gott gerade deshalb auftreten, um in der Fiktion bzw. in der Vision deutlich zu machen, dass ein menschliches Urteilen über die verschiedenen Religionen im letzten bestenfalls vorläufig-konjektural sein kann und im Sinne wahrer Religiosität an einem bestimmten Punkt auch von den verschiedenen Religionsvertretern an die ‚höchste Adresse delegiert‘ werden muss.1173 Die im ursprünglichen Sinne religiöse Verwiesenheit der Einzelreligionen auf Gott im Sinne des Allerhöchsten, Absoluten ist jedoch kein bloß vorkritisches, unaufgeklärtes Relikt, sondern führt eminenterweise in den interreligiösen Dialog 1172 Die Fiktionalität des Werks wird in der Forschung bisweilen als Manko kritisiert: „Die freie Subjektivität und hermeneutische Kompetenz der Vertreter anderer Kulturen und Religionen kann prinzipiell nicht vorweggenommen oder fingiert werden“ (Riedenauer 2007: 96). Gerade die Fiktionalität ist m. E. als Stärke zu interpretieren, denn es wäre doch gerade umgekehrt fraglich, einen einmal erreichten, historisch verifizierbaren Konsens für alle Zeiten festzuschreiben: Die Stärke des Arguments kann, wie nicht zuletzt die platonischen Dialoge zeigen, gerade im fiktiven Rahmen eines Werks und so auch von den Rezipienten erprobt werden. Bestünde diese Möglichkeit, argumentative Auseinandersetzungen zu fingieren, nicht, würde die Kreativität, Lösungen für schwierige Problemlagen zu suchen, ja schon im Keim erstickt. Der hier verwendete Möglichkeitsbegriff, insofern damit bestimmte und daher in argumentativ begründbarer Weise ‚denkbare‘, weil aus einem bestimmten, konkreten Denken erfolgende Aktualisierungen gemeint sind, wie sie sich in einem Dialog verschiedener Teilnehmer mit unterschiedlichen Prämissen ergeben können, hat gewisse grundsätzliche Gemeinsamkeiten mit dem Dichtungskonzept, welches Aristoteles vertritt, wenn er davon spricht, dass die Dichtung nicht auf historische Ereignisse abzielt, sondern darauf, „was sich ereignen könnte“ (hoia an genoito), wenn bestimmte Charaktere (mit einer entsprechend bestimmten Denkhaltung) reden und handeln. Vgl. Aristoteles, poet. 1451a36–b11; zur Stelle vgl. Radke (2006: 419) sowie Schmitt (2008 b: 13). 1173 Genau dieser Umstand scheint mir, wenn man ihn theologisch ernst nehmen will, entgegen dem ersten Anschein dann doch dagegen zu sprechen, die Anlage von De pace fidei mit einem „modern equivalent“ der „League of Nations or the United Nations“ zu parallelisieren (so Valkenberg 2014: 32).
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hinein, insofern diese Verwiesenheit ganz allgemein von verschiedenen Religionen gemeinsam geteilt wird.1174 In diesem Sinne entspricht Cusanus’ Anlage von De pace fidei dem Psalmwort: „Gott ist Richter mitten unter den Göttern“ (Ps 82, 1 b). Dabei wird zugleich deutlich, dass das Werk nicht in einem radikalen, modernen Sinn ‚fiktiv‘ oder ‚fiktional‘ sein will: Cusanus denkt, um mit Voltaire zu sprechen, nicht daran, ‚Gott erfinden zu müssen, falls es ihn nicht geben sollte‘.1175 Vielmehr kann er aus seiner theologisch-philosophisch begründeten Überzeugung, dass Gott als Schöpfer und als das Absolute ist, ihn auch in seinem Werk wie in einer Vision redend auftreten lassen. D. h., Cusanus käme sicher nicht auf die Idee, allein aus der produktiven Einbildungskraft reiner, menschlicher Subjektivität heraus Gott erfinden zu wollen, falls er nicht existiere; sondern umgekehrt, weil für ihn Gottes Sein (aus v. a. philosophischen Gründen) außer Frage steht, kann dieser auch in einer (fiktiven, literarisch gestalteten) Vision erscheinen. Das Werk beginnt mit einer Anspielung auf die Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Türken unter Sultan Mehmed II. und auf das damit zusammenhängende „grauenhafte Blutbad“:1176 Ein infolge dieser Ereignisse „vom Gotteseifer Entzündeter“, der diese Gegenden einst selbst gesehen habe, fleht „den Schöpfer aller Dinge“ an, dass er der Verfolgung von Menschen wegen ihrer Religion Einhalt gebieten möge. Der Grund der Verfolgung sind beim genaueren Hinsehen bereits an dieser Stelle nicht die Religionen, sondern die „unterschiedlichen Riten“, d. h. die verschiedene Ausprägung der religiös-kultischen Verehrung Gottes in den Religionen“.1177 Ein paar Tage später, „vielleicht infolge lang anhaltender Meditation“, wird diesem Mann eine Vision zuteil, die darauf hindeutet, dass einige wenige Weise, die in den verschiedensten religiösen Gepflogenheiten bewandert sind, in der Lage seien, „eine leicht herzustellende, bestimmte Übereinstimmung“ zu finden und so „einen ewigen Frieden in der Religion durch passende und wahre Vermittlung1178 zu etablieren.“1179 Danach 1174 Vgl. Riedenauer (2007: 477–8) zur „Präsupposition“ der Religionen, „auf eine göttliche Wirklichkeit bezogen zu sein, relativ auf das Absolute zu sein“. Diese Voraussetzung habe größeres Potential, allgemein „akzeptiert zu werden“, als „eine Deutung, die sich über die Religiosität der Religionen erhebt und bisweilen den Eindruck erwecken kann, sich damit selbst an die Stelle des überperspektivischen Absoluten stellen zu wollen.“ 1175 Vgl. Voltaire: „Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer“ (Épitre à l’auteur du livre des trois imposteurs, 1770). 1176 Zu den historischen Rahmenbedingungen von De pace fidei s. Gerl-Falkovitz (2008: 108–9, 120), Euler ([2012: 215–8], [2014: 20–21]), Gottlöber (2014: 195–6). 1177 pac. I, 1; 3, 3–8. 1178 Die Junktur convenienti ac veraci medio lässt sich neutral verstehen und ist von Cusanus vermutlich auch so gemeint – gerade auch dann, wenn man die „wahre Vermittlung“ aus christlicher Perspektive mit Christus / Gottes Wort assoziiert, der qua Gott und absoluter Wahrheit alle Partikularität und einseitige Parteilichkeit transzendiert (vor Gott „gilt kein Ansehen der Person“, Rö 2, 11). 1179 pac. I, 1; 3,8–4,5.
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habe der besagte Mann diese Vision für die Nachwelt aufgeschrieben.1180 Dass es sich dabei um Cusanus selbst handeln dürfte, scheint offensichtlich; dass er gleichwohl nicht von sich selbst spricht, unterstreicht zusätzlich die aller historischen Fixierbarkeit von vornherein entzogene Enthobenheit dieser Vision. Denn „entrückt“ war der Visionär „zu einer bestimmten Höhe des Intellekts“.1181 Damit verortet Cusanus das folgende ‚Geschehen‘ nun gerade nicht im Raum dichterischer Beliebigkeit, einer völlig autark agierenden, produktiven Einbildungskraft.1182 Vielmehr benennt er eine gemäß platonischem Wirklichkeitsverständnis ganz bestimmte erkenntnistheoretische und ontologische Ebene, auf der allein eine solche Schau philosophisch sinnvoll erscheinen kann: Wie oben immer wieder bei verschiedenen Platonikern1183 gesehen, sind Intellekt und Ratio ja gerade kein von sich selbst her leeres Behältnis,1184 welches nur durch an sie weitergeleitete Sinnesdaten zu eben deren Auswertung stimuliert und mit ‚Inhalten‘ gefüllt würde.1185 Vielmehr sind Sinneswahrnehmung, Vorstellung, pac. I, 1; 4, 5–7. est enim ad quandam intellectualem altitudinem […] (pac. I, 2; 4, 8). 1182 Wird die Deutung, Cusanus entwerfe in De pace fidei „Sinnbilder“, „nichts weiter als intellektuelle ‚Scheingebilde‘, Phantasieprodukte“ (Schwaetzer 2012: 61), Cusanus’ Selbstverständnis und seiner Erkenntnistheorie gerecht? Zwar zeigt Schwaetzer den Nutzen auf, die Perspektivität eines jeden Betrachters sowie dessen Wahrnehmung der Perspektive des jeweils anderen zu erkennen, so dass die gleiche „Dignität“ von beiden in den Blick gerate (ibd., 70–72, 77); ob es in Cusanus’ Sinne dabei jedoch nur um „intellektuelle Bilderfahrung von Wahrheit“ (ibd., 67) gehe und ob sich gleichsam als Extrakt aus De pace fidei „die Bildung intellektueller Bilder als Bildungsaufgabe eines Ich“ (ibd., 79) herauslesen lässt, dürfte angesichts der begrifflichen Argumentationsstrategie in De pace fidei, die rein intellekthaft, also nicht-bildlich sein will, angezweifelt werden. Zumindest ist es Cusanus nicht um eine „produktive Imagination“ im Sinne einer autark agierenden Vorstellungskraft zu tun, sondern um eine von der intelligiblen Sache geleitete Bildlichkeit: Ein tatsächliches aenigma ist für Cusanus eben aenigma veritatis, d. h. das aenigma ist selbstverständlich nicht die Wahrheit selbst, als aegnima der Wahrheit bleibt es aber rückbezogen auf die ihm gegenüber transzendente, nicht „figurierbare“ Wahrheit, und auch dieser Rückbezug selbst ist offenbar als Zusammenhang wissbar – sonst könnte Cusanus diese Ausführungen kaum vornehmen (ber. 6, 7). Der theologische Begriff des non aliud, des Nicht-Anderen (s. dazu unten Anm. 1496) lässt sich kaum als „Rätsel‑ Sinn‑ oder Gedankenbild“ (Schwaetzer [2013: 70], ähnlich Beierwaltes [2007 b: 109]) bezeichnen, erst recht nicht bildlich verstehen. Zu den für die Bewertung der Sinnlichkeit bei Cusanus zentralen Begriffen der „intellektualen Durchleuchtung“ des Sinnlichen und der Übersteigung des Sinnlichen durch den Intellekt vgl. Agosta (2013: 200–210). 1183 Vgl. Apuleius (Kap. II.4.2 a), Plotin (Kap. II.5 b), Proklos (Kap. III.c). 1184 S. o. zu coni. I, 11, 55–56 (Kap. V.b). Vgl. z. B. Boethius zur Widerlegung des durch Verabsolutierung von Sinneswahrnehmungen (sensus) und Vorstellungsvermögen (imaginatio) entstehenden Einwands, „der Begriff der ratio sei leer“ (inanem coneptionem esse rationis, cons. V, 5p, 6). 1185 Dies wäre z. B. ein kantianisches Wirklichkeitsverständnis: „Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gege‑ ben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis 1180
1181 Raptus
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rational-diskursives sowie intellektiv-begreifendes Erkennen ganz verschiedene Erkenntnisvermögen der Seele:1186 An einem gezeichneten Dreieck z. B. erkennt die Sinneswahrnehmung (genauer der Sehsinn) die Farbe und eine gewisse quantitative Ausdehnung der Seiten, die Vorstellung kann das gesehene Bild geistig repräsentieren, die Ratio unterscheidet das Gesehene als Dreieck, erkennt, ob es sich etwa um ein rechtwinkliges oder gleichseitiges etc. Dreieck handelt, kann den euklidischen Beweis für den Innenwinkelsummensatz anhand eines Einzeldreiecks vollziehen. Der Intellekt erfasst jedoch sowohl den sachlichen Einheitsgrund, das intelligible Eidos des Dreieck-Seins als rein begreifbare, über die Sinneswahrnehmung und Vorstellungskraft hinausgehende Entität: Denn insofern ausschließlich ‚Dreieck‘ und nicht zugleich auch anderes wie ‚Rechtwinkligkeit‘ oder eine bestimmte Farbe gedacht werden soll, muss etwas Bestimmtes all diesen Einzelfällen vorausliegen. Dies ist rein begrifflich erschließbar, indem mittels des euklidischen Beweises das spezifische Dreieck-Sein als geradlinig-ebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln aufgewiesen wird: Diese eidetische Bestimmung ist das umfassende Prinzip des Dreieck-Seins, weil sie für jedes euklidische Dreieck (in graduell mehr oder weniger ausgeprägter Vollendung1187) nachweisbar ist. Umfassend ist sie aber deshalb, weil sie der Unterscheidung einzelner Dreiecksarten (wie gleichseitiges, rechtwinkliges etc. Dreieck) vorausliegt: Diese eidetische Bestimmtheit ist nicht auf einen bestimmten Einzelfall von Dreieck eingeschränkt, sondern umfasst im Gegenteil als Prinzip alle diese Einzeldreieckarten in sich in eingefalteter Weise, ist also ein reichhaltiges, nicht abstrakt-leeres Allgemeines.1188 Dieses ist gleichwohl nur für den Intellekt fassbar: Bleibt die menschliche Seele auf einer der unteren Erkenntnisebenen (wie der Vorstellung) stehen, wird sie, wie Cusanus selbst, aber auch schon Boethius konsequent ausführt, meinen, dass es Intellekt und Intelligibles gar nicht gäbe, und alle Ausführungen darüber für lächerlich halten.1189 Aus platonischer Sicht bedeutete dies nichts Geringeres, als aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können. […] Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen“ (I. Kant, KrV, B 74–75). Zur Stelle in Kontradistinktion zur aristotelischen Erkenntnistheorie s. Bernard (1988: 221–233). Vgl. ferner Schmitt (2003 a: 207 ff.), dazu oben Anm. 1145. 1186 Vgl. Boethius, cons. V, 4m–5p zur (neu‑)platonischen Erkenntnistheorie in Abgrenzung zur Stoa. Zur Unterscheidung diskursiver Rationalität und komplexiver Intellekterkenntnis bei Cusanus s. Gerl-Falkovitz (2008: 110–1) sowie Nicolle (2012). 1187 S. o. Kap. V.b zu Cusanus, coni. I, 11, 54. 1188 Vgl. Euklid, elem. I, 32 sowie o. Kap. II.5 b und III.c. Zum reichhaltigen, „mehr seienden“ Allgemeinen bei Aristoteles s. o. Anm. 102. 1189 Vgl. Cusanus, ber. 1, 2; Boethius, cons. V, 5p, 5–12. Boethius reserviert zwar den Begriff intelligentia für Gott selbst, inkludiert aber in seinem ratio-Begriff, wie der Kontext zeigt, der Sache nach das (menschlich‑)intellekthafte Erkenntnisvermögen. – Zu Boethius s. o. Kap. IV.6.
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dass der Mensch seine höchste Potenz als animal rationale et mortale1190 letztlich verfehlen und ihm entsprechend die höchste für ihn zugängliche, intellekthaftintelligible Wirklichkeitsstufe verborgen bleiben würde: Wie Boethius exemplarisch in seiner neuplatonisch-allegorischen1191 Deutung des Mythos von Orpheus und Eurydike ausführt, verliere der Mensch sein praecipuum, seine mens, d. h. seinen Intellekt, wenn er sich nicht nach oben hin orientiere, sondern nach unten, in den Tartarus blicke – analog zu Orpheus, der seine Eurydike nicht aus dem Schattenreich zu entführen vermag, weil er den Blick zurückwendet und sie daher nicht ‚nach oben herausführen‘ kann.1192 Cusanus ist aber gerade der Meinung, dass es intellekthafte Erkenntnis gibt, dass eigentümliche, vollgültige Wahrheit nur im Intelligiblen herrscht und ist, dass folglich der Intellekt nicht von sich selbst her leer ist (und immer erst durch sinnlich erworbene Inhalte gefüllt werden müsste), sondern in seinem Bezug zum Intelligiblen seiende Bestimmtheit erlangt, dass ferner die absolute Wahrheit Gottes durch ihr umfassendes Sein allen Seienden deren spezifisches Sein in der Ähnlichkeit mit ihr, der Wahrheit, zuteilt.1193 Nur vor dem Hintergrund dieses komplexen Wirklichkeitshorizonts mit seinen verschiedenen Seins‑ und Erkenntnisstufen gewinnt der oben bereits zitierte Satz aus De pace fidei seine Prägnanz: „Entrückt“ war der Visionär „zu einer bestimmten Höhe des Intellekts“.1194 Das ‚Wo‘ dieser Wirklichkeit ist im Kontext platonischer Philosophie also gerade keine schwammige Realitätsferne, sondern liegt zwar jenseits topografischer Fixierbarkeit, aber in der ontologisch durchaus konkret fassbaren Wirklichkeit des Geistes, d. h. im Intelligiblen bzw. im reinen intellektiven Erkennen. In einer solchen Schau des entrückten Intellekts sind, vielleicht der oben schon kurz erwähnten Verklärungsgeschichte aus dem Neuen Testament grundsätzlich verwandt,1195 nicht nur die Grenzen von Raum und Zeit durchbrochen, sondern auch Lebende und Verstorbene vereint (vgl. Mt 22, 32 b), wie der Visionär im Folgenden beschreibt.
S. o. Kap. II.5 b (mit Anm. 223), IV.3 b, IV.4 c, IV.8. Zur Gegenüberstellung von platonischer und stoischer Allegorese, ihren theoretischen Grundlagen und ihrer praktischen Applikation in der Interpretation theologischer Texte s. Bernard (1990). 1192 Boethius, cons. III, 12m, 49–58. Zur Interpretation des Orpheus-Mythos bei Boethius vgl. Drews (2018). 1193 Vgl. coni. I, 11, 55–56 und ber. 16, 18 (s. o. Kap. V.b). 1194 Daher weist Schmitz (2005: 191–2) völlig zu Recht Flaschs ([1998: 380, 360], [2007: 22]) Kritik zurück, De pace fidei würde sich nirgends auf der Ebene der Intellektebene (und der damit verbundenen coincidentia oppositorum) bewegen. 1195 Mt 17 (s. o. Kap. V.b sowie unten den Epilog, Kap. VII.2). Vielleicht lässt sich in einem entsprechend allegorischen Sinne auch das „große Obergemach“ (Mk 14, 15), in welchem Jesus mit seinen Jüngern das Pascha zu feiern beabsichtigt, als ein Ort ‚geistiger Höhe‘ begreifen. 1190 1191
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2. Der Beginn der Unterredung, die Rede des Erzengels und die den verschiedenen Religionsgemeinschaften zugeteilten Engel Unter „Vorsitz des Allmächtigen“ beginnt „im Konzil der Erhabenen“ und in Anwesenheit derer, die „aus diesem Leben geschieden waren“, die Untersuchung.1196 Der „König des Himmels und der Erde“ sagt, traurig hätten ihm seine Boten die Seufzer der Unterdrückten überbracht, weil so viele der Religion wegen zu den Waffen greifen, andere Menschen entweder zur Leugnung ihres lang praktizierten Glaubens zwingen oder töten würden. Zahlreiche Boten künden von diesen Ereignissen: Seit Anbeginn der Welt sind sie vom König, also Gott, über die einzelnen Provinzen und Religionsgemeinschaften (sectae) eingesetzt worden, sie erscheinen nicht als Menschen, sondern als „intellekthafte Mächte“.1197 Diese intellectuales virtutes erinnern in doppelter Weise an Dionysius Areopagita: Zum einen erscheinen diese intellekthaften Mächte dadurch, dass sie bestimmten Regionen und Menschen einer bestimmten Religion zugeteilt sind, als fürsorgende Geistweisen und sind insofern den pronoêtikai dynameis, den Vorsehungsvermögen, die bei Dionysius aus dem „Selbst-Sein, Selbst-Leben und der Selbst-Gottheit“ Gottes als des unpartizierbaren, einen überseienden Prinzips hervorgehen, vergleichbar. Denn in ihrer Fürsorglichkeit stellen sie zugleich die aus Gottes unpartizipierbarer Transzendenz entsandten partizipierbaren Mitten für die Seienden dar.1198 Ebenso sind auch bei Cusanus die intellekthaften Mächte als partizipierbare Vermögen der göttlichen Vorsehung zu verstehen, da sie ja gerade nicht in Transzendenz verharren, sondern in ihrem Zugeteiltsein offenbar gebunden sind an bestimmte Seiende, denen ihre Fürsorge gilt. Zum anderen hatte speziell Dionysius den theologischen Gedanken geprägt, dass unterschiedlichen Völkern aufgrund ihrer Verschiedenheit auch unterschiedliche Engel zugeteilt seien, „welche über jedem Volk den Dienst der zum Heiligen hinführenden Prinzipienordnung versehen und alle Nachfolgewilligen führen“.1199 Dieselbe Funktion haben auch die speziellen Regionen und Religionsgemeinschaften vorstehenden intellekthaften Mächte bei Cusanus, wie später noch deutlicher zu erkennen sein wird: Denn so, wie im Folgenden von De pace fidei die eine wahre, intellekthafte Religion als in den verschiedenen Einzelreligionen vorausgesetzt und impliziert erwiesen werden soll,1200 haben auch bei Dionysius die jeweiligen, über ein bestimmtes Volk oder eine bestimmte pac. I, 2; 4, 8–10. pac. I, 2; 4, 10–19. 1198 Dionysius, DN XI, 6; 222, 13–18 (zitiert in Kap. IV.5 a). 1199 Dionysius, CH 9; 38, 10–20 (zitiert in Kap. IV.5 b). 1200 Vgl. Berger / Nord (2002: 14) sowie Hösle (2013: 241). – Cusanus’ Voraussetzung einer ‚intellekthaften Religion‘ hat etwa in Origenes dahingehend einen Verläufer, wenn dieser eine Auslegung entwirft, wie z. B. das Pascha ‚in Geist und Wahrheit‘, also intellektiv, gefeiert werden kann, und damit zugleich aufzeigt, warum sowohl die Feier des christlichen wie auch die des jüdischen Paschas ihre bleibende Berechtigung behält (s. Reiser 2007: 123–130). 1196 1197
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Menschengemeinschaft wachenden Engel die Funktion, die in der Andersheit entfaltete Vielfältigkeit der Menschen gemäß der in Einheit wieder eingefalteten Vielfältigkeit1201 zu ihrer Einheit in der Erkenntnis des einen, wahren Gottes zurückzuführen. Dieser Gedanke könnte leicht als gleichmacherische, ‚von oben verordnete‘ Einheitlichkeit missverstanden werden. Gemeint ist aber gerade das Umgekehrte: Die vielen Völker und Religionsgemeinschaften bekommen ja gemäß Cusanus und Dionysius gerade nicht dieselben oder auch nur gleichartige Engel zugeordnet, sondern verschiedene. D. h., die Verschiedenheit bleibt in einer bestimmten Hinsicht gewahrt, sie wird aber gleichsam ‚rückgebunden‘ an das von aller Vielheitlichkeit immer schon vorausgesetzte Prinzip der Einheit,1202 den einen wahren Gott. Denn in dem cusanisch-dionysisch geprägten theologischen System ist es möglich, dass verschiedene Völker und Menschen durch ebenfalls verschiedene Engel zu dem (in dieser Hinsicht) nicht-verschiedenen (nicht-anderen1203) drei-einigen Gott geführt werden. Gottes Erwählung und Gerechtigkeit wird so mit der Vielheit der Menschen und ihrer unterschiedlichen Wege in Einklang gebracht, weil die vielen, aber letztlich zum Einen hinführenden Engel die entscheidende ‚Scharnierfunktion‘ haben, die kulturell und religiös differenten Menschen doch zum selbigen Ziel als Erfüllung ihres Strebens nach dem Guten zu leiten. Ein „(Engel‑)Fürst“ (princeps), welcher später noch als „Erzengel“1204 bezeichnet werden wird, spricht nun stellvertretend für die vielen Boten: ‚Herr, König der universalen Wirklichkeit (universitas),1205 was hat jedes Geschöpf, was du ihm nicht gegeben hast?1206 Dass der aus dem Schlamm der Erde geformte Körper des Menschen durch dich vom rationalen Geist (spiritus rationalis) inspiriert werde, hat [sc. dir] gefallen, auf dass in ihm ein Abbild (ymago) widerscheine von deinem unaus S. o. (Kap. V.b), Cusanus, coni. I, 11, 55. Proklos, Kap. III.d. 1203 Vgl. Cusanus, De (li) non aliud (s. dazu unten Anm. 1496). 1204 pac. II, 7; 8, 2. 1205 Ich übersetze universitas absichtlich nicht mit dem sprachlich naheliegenden Begriff ‚Universum‘, weil dieser heutzutage vor allem naturwissenschaftlich geprägt ist: Man könnte also bei ‚Universum‘ an die ‚unendlichen Weiten des Weltalls‘ und dergleichen denken. Gemeint scheint aber bei Cusanus hier gerade auch die intelligibel-geistige Wirklichkeit als erster Teil der Schöpfung (vgl. die vermittelte Geistbegabung des Menschen in obiger Textstelle), die man gerade nicht mit dem modernen Begriff ‚Universum‘ in Verbindung bringen würde – auch nicht sollte, weil das Intelligible als es selbst gemäß platonischem Verständnis schlicht nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden eingeholt werden kann. Cusanus kann entsprechend sagen: Universale enim penitus absolutum deus est (doct. ign. II, 6, 125), ohne Gott pantheistisch im ‚Universum‘ aufgehen zu lassen. Vgl. zur Stelle Hoye (2007: 99). Wenn die Welt gemäß Cusanus als ‚Universum‘ aufgefasst wird, dann nur als das uni-versum, das ‚zum bzw. ins Eine(n) Gewendete‘: Das „Universum ist die Welt in ihrem Bezug auf das Eine […]. Die Welt als Universum zu denken (und auch zu sehen) heißt: den Aspekt an ihr zu sehen, der die Explikation unendlicher Vielheit und Varietät immer schon in sich einfaltet“ (Leinkauf 2006: 101). 1206 Vgl. 1 Kor 4, 7. 1201
1202 S. o.
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sprechlichen Gutvermögen (virtus).1207 […] Und obgleich jener intellektuale Geist (spiritus intellectualis), in Erde gesät, verschlungen im Schatten, das Licht und den Anfang seines Ursprungs nicht sieht, hast du mit demselben all diese Dinge miterschaffen, vermittels derer er, erregt durch die Bewunderung für die Dinge, die er durch die Sinneswahrnehmung [sc. erkennend] berührt,1208 einst die Augen des Geistes zu dir als Schöpfer aller Dinge emporheben und zu dir in höchster Liebe geeint werden und so schließlich Früchte tragend zu seinem Ursprung (ad ortum suum) zurückkehren kann‘ (pac. I, 3; 4,21–5,10).
Mit der Schöpfung des Menschen spricht der Engel dessen ‚Quasi-Doppelnatur‘ an: Gemäß dem zweiten Schöpfungsbericht der Genesis wird Adam in körperlich-leiblicher Hinsicht aus der Erde geformt, bevor er durch Gottes Geist zu einer nefesch chajjah, zu einer „lebendigen Seele“ wird.1209 Ohne hier einem pseudo-biblischen oder pseudo-platonischen Dualismus das Wort reden zu wollen,1210 wird in Cusanus’ Formulierung hier doch der grundlegende Unterschied zwischen körperlich-materieller Existenz und rational-intellektiver Wirklichkeit deutlich: Der Mensch hat an beidem gleichermaßen Anteil, zerfällt, platonisch besehen, aber nicht wie ein Zwitterwesen in zwei Teile, sondern die Seele fungiert gleichsam als Bindeglied zwischen Leib und Geist, da der Mensch nur als GeistSeele-Körper-Wesen seine menschliche Einheit besitzt.1211 Entscheidend ist, dass der rationale Geist auch bei Cusanus nicht – wie man (post‑)modern denken könnte – im Gegensatz, sondern gerade in besonderer Nähe zu Gott steht. Das Spezifikum der allgemeinen menschlichen Natur ist seine rationale Geistbegabung als Abbild Gottes,1212 welche, wie gesehen, bereits gemäß Thomas die Basis eines interreligiösen Dialogs begründete.1213 Die Selbsterkenntnis des Menschen beinhaltet platonisch, aber auch christlich, den Blick von den Geschöpfen der sinnlich-wahrnehmbaren Welt aus zu Gott selbst zu wenden – jedoch, wie bei Cusanus unmissverständlich deutlich wird, nicht aus Verachtung,1214 sondern aus Bewunderung für das Sinnliche: Diese Umwendung ist nicht nur das Ziel in Platons Höhlengleichnis, sondern auch in Origenes’ Prinzipien, Augustins Confessiones oder Boethius’ Consolatio.1215 Ist 1207 Virtus ist einerseits Standardbegriff für griech. dynamis („Vermögen“, s. o. Anm. 677 und 1078), zugleich klingt andererseits auch der Aspekt des Guten und Tugendhaften durch, welcher gerade für den christlichen Gott, der hier angeredet wird, passend erscheint, da er seine Schöpfung in guter Weise erschafft (vgl. Gen 1, 10.12.18 etc). 1208 S. o. Anm. 1137. 1209 Gen 2, 7. Zur Stelle vgl. oben Kap. IV.2.2 a mit dem dortigen Exkurs. 1210 S. auch dazu Kap. IV.2.2 a mit dem dortigen Exkurs. 1211 Zu Platons Grundlegung s. o. Kap. II.2. 1212 S. o. Kap. II.5 b (mit Anm. 223), IV.3 b, IV.4 c, IV.8. Zum menschlichen Intellekt als „Abbild des göttlichen“ bei Cusanus vgl. Reinhardt (2012: 174). 1213 Thomas von Aquin, ScG I, 2; 4–6 (s. o. Kap. IV.8). Zu Thomas’ Einfluss auf Cusanus vgl. Riedenauer (2007: 134). 1214 Vgl. dagegen die Verachtung des Körpers in der Stoa, etwa bei Mark Aurel (s. o. Anm. 566). 1215 Platon, resp. 514a ff.; Origenes, princ. IV, 4, 9; 361,16–362,5 (s. o. Kap. IV.3 a); Augustinus, conf. X, 6, 9; Boethius cons. I, 2m.
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dieses Ziel erreicht, besteht es auch bei Cusanus in der sich in Liebe ereignenden Einung mit Gott.1216 Wie der Engel jedoch dem Allerhöchsten selbst klagt, hätten aufgrund ihrer vielen Mühen und des großen Elends nur noch die wenigsten Menschen so viel Muße, dass sie die ihnen eigene willentliche Entscheidungsfreiheit nutzen, zur Selbsterkenntnis gelangen und Gott suchen könnten. (Cusanus sieht christlichplatonisch die Gotteserkenntnis gerade im Einklang mit der geschöpflichen Freiheit.1217) Zwar habe Gott seinem Volk – also Israel – „Seher, die Propheten genannt werden“, gesandt, die „in seinem Auftrag und Namen kultische Verehrung und Gesetze“ eingesetzt hätten und vom Volk so akzeptiert worden wären, als ob „du selbst, König der Könige, von Angesicht zu Angesicht zu ihnen gesprochen hättest – in dem Glauben, dass sie nicht diese [sc. Propheten], sondern dich selbst in ihnen hören.“ Verschiedenen Völkern habe Gott entsprechend auch verschiedene Propheten und Lehrer geschickt, manche zu der einen, manche zu einer anderen Zeit. In seiner irdischen Konstitution neige der Mensch nun aber dazu, lang gepflegte Gewohnheiten, die ihm „in die Natur übergegangen“ sind, „anstelle der Wahrheit zu verteidigen“. Daraus, so der Engel, resultierten „keine geringen Meinungsverschiedenheiten“, da „jede beliebige Gemeinschaft ihren Glauben dem jeweils anderen vorzieht.“1218 Der Schluss dieses Abschnitts rekurriert noch einmal auf das Grundanliegen von De pace fidei, dass zwischen kultisch-religiösen Traditionen und der religiöstheologischen, intelligiblen Substanz unterschieden werden muss – gerade deshalb, weil die Menschen dazu tendieren, genau diese Differenz zu übersehen. Die Stoßrichtung von Cusanus’ Schrift ist zutiefst platonisch geprägt: Kultische Handlungen und Riten können nie das Göttliche selbst in Reinform sein, sondern stellen bestenfalls dessen abbildhafte Spiegelung dar, wenn sie zur durchformten Materie für den göttlich-geistigen Inhalt werden und ganz von ihm her ihre Prägung erhalten und auf ihn insofern ‚direkt‘ bezogen sind. Genau um diesen Zusammenhang von kultischer Praxis und theologischer Wahrheit kreist die Kirchliche Hierarchie des Dionysius Areopagita1219 – Cusanus greift der Sache nach dieses Thema in De pace fidei auf.
1216 Vgl. Augustinus, div. qu. 46 (s. o. Kap. IV.3 c), mus. VI, 17, 56 (s. o. Anm. 436); Proklos, in Parm. 1048, 9–21 (s. o. Kap. III.e). 1217 Die Hervorhebung der Freiheit ist nicht nur ein „typisch rinascimentale[r] Gedanke“ (so Riedenauer 2007: 180), sondern spielt z. B. bei Dionysius Areopagita (vgl. CH 9; 37,17–38,10, s. o. Kap. IV.5 b) eine entscheidende Rolle (vgl. Drews 2011: 118–121), ebenso bei Proklos (vgl. Drews 2009: 305–367) und Augustinus, auch noch im Kontext seiner Gnadenlehre (ibd., 1–238) sowie bei Boethius, cons. V. Für die interreligiöse Frage ist die „Gewährung der Freiheit (libertas) zur religiösen Selbstbestimmung“ seit Tertullian und Laktanz „Kriterium der religiositas“ (Aris 2009: 187) 1218 pac. I, 4; 5,14–6,8. 1219 S. dazu Stock (2008) und Drews (2011).
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Vor allem aus der Perspektive theologischer Forschung wird mitunter sowohl bei Cusanus wie auch bei Dionysius mit einer gewissen Verwunderung oder auch Bestürzung zur Kenntnis genommen, dass beide Denker offenbar die Rolle der Propheten und der im Auftrage Gottes handelnden Engel nicht auf Israel als das erwählte Volk beschränkt sehen.1220 Dieser Umstand entspricht aber der bereits oben angesprochenen Theologie, wonach den unterschiedlichen Völkern und Religionsgemeinschaften korrespondierend auch verschiedene Engel zugeordnet sind. Damit wird die besondere Erwählung Israels gar nicht geleugnet, sonst könnte Cusanus z. B. nicht von Gottes eigenem („seinem“) Volk sprechen; es geht lediglich darum, dass deshalb trotzdem auch anderen Völkern Gottes Vorsehungswirken auf entsprechend andere Weise durch passende engelhafte Vermittlung zuteil geworden sein könnte. Gemäß dieser Theologie kennt Gott offenbar seine Geschöpfe sehr gut und reagiert entsprechend auf ihre besondere Geeignetheit1221 und Aufnahmefähigkeit, wobei auch der jeweilige Zeitpunkt einer Prophetenmission entscheidend ist.1222 Israel ist in der Engelrede zwar herausgehoben gegenüber den anderen Völkern, insofern das auserwählte Volk Gottes sowohl zuerst erwähnt wird wie auch den gesandten Propheten so starken Glauben schenkt, dass es Gott selbst durch sie zu hören meint. Es ist auf den ersten Blick nicht ganz klar, ob der Engel letzteren Aspekt eher positiv oder kritisch wertet: Zunächst wird zwar positiv unterstrichen, dass die Propheten ihre Mission erfolgreich absolviert hätten. Eventuell wäre dies aber auch möglich gewesen, wenn die Propheten einfach als Propheten „im Namen Gottes“ gehört worden wären?1223 Der Umstand, dass das Volk Israel ziemlich pauschal und nicht gerade besonders respektvoll als „ungebildet“ (rudis) bezeichnet wird, hat einen negativen Beigeschmack – vor allem, wenn man sich zudem an Cusanus’ eigene Politik gegenüber Juden erinnert.1224 Denkbar ist aber auch eine andere Motivation für die Worte des Engels, dass Israel erst durch Gottes Propheten in positiver Weise Belehrung erfahren habe 1220 Vgl. Berger / Nord (2002: 33, Anm. 6): „Die Titel ‚Propheten‘ und ‚Lehrer‘ gesteht der Cusaner den religiösen Führern aller Religionen zu.“ Während Berger diesen Umstand offenbar in neutraler Weise einfach als erklärungsbedürftig erachtet, sieht dagegen Brons (1976) in Dionysius’ Theologie eher eine Verfälschung der „Heilsgeschichte“, weil Dionysius philosophisch-metaphysisch argumentiert und die Zuwendung Gottes auch zu anderen Völkern als nur dem einen auserwählten Volk Israel für möglich erachtet (zur Auseinandersetzung mit Brons s. Drews 2011: 275–6, mit Anm. 593 und 595). 1221 Vgl.: ber. 3, 4. Zum neuplatonischen Terminus der Geeignetheit (epitêdeiotês) s. zu Proklos Kap. III.c, zu Dionysius Kap. IV.5 b. 1222 Sachlich vergleichbar erscheint in dieser Hinsicht die biblische Rede: „Als die Zeit erfüllt war“ (Lk 9, 51; Mk 1, 15). 1223 Vgl. cribr. I, 1, 22 sowie Monaco (2008: 23) zu der von Cusanus kritisieren „hybris di voler inchiodare Dio alle determinazioni proprie del logos umano: Reggi [sic!, gemeint vielleicht: leggi?] e culti, invece di essere assunti come verità contratte e congetturali, vengono considerati come una diretta manifestazione di Dio e della sua volontà, obliando che essi sono sempre il frutto di un’intermediazione umana.“ 1224 S. o. Kap. V.a mit Anm. 1129.
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so, wie auch die übrigen Völker auf die für sie geeigneten „Lehrer“ (magistri) angewesen sein dürften. Die unterschwellige Kritik des Engels, dass nicht zuletzt aus der jeweiligen Verabsolutierung von Prophetenworten als Gottesworten die Überhöhung der jeweils eigenen Religion und entsprechender Streit zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften resultiere, könnte vielmehr an Gott selbst gerichtet sein, der ja diese „Lehrer und Seher“ entsendet habe. Entsprechend wird der Engel sogleich fortfahren und Gott in dieser Lage selbst um Hilfe anrufen: ‚Komm also zur Hilfe, du, der du einzig es vermagst. Um deinetwillen nämlich, den sie allein verehren in alldem, was alle anzubeten scheinen, ist dieser Streit [sc. ausgebrochen]. Denn niemand erstrebt in alldem, was er zu erstreben scheint, etwas außer dem Guten, das du bist; noch sucht irgendjemand in allem intellektualen Durchlaufen etwas anderes als das Wahre, das du bist. Was sucht der Lebende außer zu leben? Was das Existierende außer zu sein? Du also, der du Geber des Lebens und des Seins bist, bist jener, der du in unterschiedlichen Riten (diversi ritus) auf verschiedene Weise (differenter) gesucht zu werden scheinst und unter unterschiedlichen Namen (diversa nomina) genannt wirst, weil du, wie du bist, für alle unerkannt und unaussprechlich bleibst‘ (pac. I, 5; 6, 9–17).
Mit den letzten Worten seines Appells an den Allerhöchsten spielt der Engel auf dessen Transzendenz und Unpartizipierbarkeit an: Gott selbst, „wie er ist,“ geht in seinem Sein nicht hervor, sondern bleibt, der er ist, und insofern unerkennbar und unaussprechlich.1225 Dieser theologische Aspekt ist oben philosophisch begründet worden am Beispiel des Kreises: Das Prinzip ‚Kreis‘ verharrt in seinem Kreis-Sein, „wie es ist“, als ens rationis, tritt nicht aus seinem Sein als rationalbegrifflich fassbares Eidos heraus; partizipierbar wird es erst im durch Andersheit sich entfaltenden Hervorgang einer partizipierbaren Mitte.1226 In analogem Sinne verharrt auch Gott von sich selbst her in seiner Unerkennbarkeit. Wie ebenfalls oben dargelegt wurde, teilt gemäß Cusanus die absolute Wahrheit den Seienden ihr spezifisches Sein mit.1227 Diese absolute Wahrheit ist Gott selbst bzw. sein ewiger Logos, der bereits von Origenes in Verbindung mit Ex 3, 14 als Quell des Seins und des Lebens verstanden wird.1228 Gemäß der späteren nizänischen Theologie ist die Wesenseinheit der drei trinitarischen Personen gerade darin verankert, dass z. B. bei Augustinus Gott selbst das absolute Sein ist,1229 auch wenn dieses in neuplatonischer Zuspitzung des Transzendenzgedankens etwa bei Dionysius und Boethius noch als über-substantiell bzw. 1225 Zur Stelle s. Resch (2014 b: 148). Vgl. Dionysius zu Gott als dem „Überunerkennbaren“ (hyperagnôston, MT I; 141, 3); zur „Wolke des Nichtwissens“ bei Dionysius vgl. Drews (2011: 71–79). Zur Unerkennbarkeit Gottes, wie er von sich selbst her ist und sich selbst erkennt, vgl. auch Eriugena (s. o. Kap. IV.7) sowie Thomas von Aquin (Kap. IV.8). 1226 coni. I, 11, 54–56 (s. o. Kap. V.b). 1227 ber. 16, 18 (s. o. Kap. V.b). 1228 Origenes, princ. I, 2, 4; 31, 5–9 (s. o. Kap. IV.3 a). 1229 S. o. Kap. IV.4 b.
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‚überseiendes Sein‘ gedacht wird.1230 In diesem Sinne ist Gott als das absolute (Über‑)Sein selbst Prinzip und Geber des Seins wie des Lebens,1231 aber auch biblisch der „Quell des Lebens“ (Ps 36, 10), von dem alle Seienden empfangen, was sie sind (1 Kor 4, 7). Zugleich ist Gott auch das wahre Gute, sowohl im christlichen Sinne1232 wie auch im platonischen Verständnis des Allerhöchsten als des absoluten EinenGuten z. B. bei Alkinoos und Proklos.1233 Als das Gute selbst ist Gott gemäß platonischer Willenstheorie1234 das ultimative, letztendlich einzig wahrhaft Erstrebenswerte. Für Cusanus koinzidieren die absolute Gutheit, Wahrheit, das absolute Sein und Leben in Gott selbst als dem Ziel alles kreatürlichen Strebens überhaupt. Genau deshalb ruft der Engel in seinem Appell den Allerhöchsten selbst zur Hilfe: Obwohl Gott dies nicht intendiert, geht doch aller Streit unter den Menschen letztlich um ihn selbst. Denn implizit – so die Grundintention von De pace fidei – müssen alle ernst zu nehmenden Religionen auf die absolute Wahrheit, das vollkommene Sein und Leben zielen. Da Gott selbst dies ist, erscheint die Forderung des Engels wie auch seine unterschwellige Verzweiflung als völlig verständlich. Abgesehen von den schon benannten philosophischen Konnotationen erinnert dieser Hilferuf in mehrfacher Hinsicht an Apuleius. Wie seine Marginalien belegen, war Cusanus mit Apuleius vertraut.1235 Nicht zuletzt ein wesentlicher Grundzug von De pace fidei hat in Apuleius einen Vorläufer: Dem Praktizieren „unterschiedlicher religiöser Kulte und den Gebeten vielfältiger Gottesdienste“ soll ein bestimmter, grundsätzlicher Respekt und Glaube (fides) entgegengebracht werden – ein Glaube, den Apuleius als nicht-christlicher Platoniker mit dem polytheistischen Aspekt platonischer Theologie begründet, dass nämlich jeweils unterschiedliche göttliche Wesen sich auch über entsprechend unterschiedliche kultische Verehrung freuen würden.1236 Cusanus’ implizite 1230 S. o. Kap. IV.5 a, IV.6. Zum Überseienden bzw. zur Überwesentlichkeit des Absoluten bei Cusanus vgl. Rohstock (2014: 102–111). 1231 S. o. Dionysius, DN XI, 6; 222, 13–18 (Kap. IV.5 a); vgl. bei Eriugena die Stufung der primordialen Ursachen Gutheit – Sein – Leben etc. (Kap. IV.7). 1232 Für den Primat des Guten bzw. Gottes Gutheit vgl. in der Bibel: Ps 25, 8.10; Ps 33, 5; Gen 50, 20; 2 Ch 5, 13 und 6, 41; Mt 19, 17; Mk 10, 18 [= Lk 18, 19]); 1 Pt 2, 3; Jak 1, 17 (im Zusammenhang mit Gottes Unwandelbarkeit, vgl. dazu auch Mal 3, 6 und 1 Sm 15, 29). Neben Gottes Gutheit wird – auf sie zurückführend, trotzdem von ihr unterschieden – die Gutheit der Schöpfung hervorgehoben: Gen 1, 31; Ps 139, 14; 1 Ti 4, 4. S. außerdem Platon, resp. 379b1, 379c4–7, 380b6–7, 617e5. 1233 Vgl. Alkinoos, did. 27, 2 (s. o. Kap. II.4.1) sowie Proklos, z. B. ETh 133, 12–19 (s. o. Kap. III.e). – Zum Zusammenhang von verum und bonum bei Cusanus in der oben übersetzten Passage vgl. Resch (2014 b: 147–8). 1234 Vgl. z. B. Apuleius, DP II, [236]; Augustinus, lib. arb. II, 26, 100–101; Proklos, De mal. II, 36; 75, 6–9. S. zu diesen Stellen Drews (2009: 471–2, 21–22, 320). 1235 Zumindest mit Apuleius’ philosophischen Werken (s. o. Kap. II.4.2 a). 1236 Apuleius, DDS 14 [148] (zitiert oben am Ende von Kap. II.4.2 b). – Valkenberg (2014) argumentiert, dass Cusanus’ in De pace fidei (I, 6; 7, 10–11; s. u. Anm. 1249) wie auch in der
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christliche Perspektive – bei allem Ausgreifen auf einen absoluten Gesamtblick kann es ein Mensch auch mit besten Absichten nicht vermeiden, bei einem solchen Versuch eine bestimmte Partikular-Perspektive einzunehmen1237 – wird daran erkennbar, dass er die vielen Kulte und Religionsgemeinschaften nicht durch einen übergeordneten Polytheismus rechtfertigt, sondern durch die im‑ plizit-verborgene Zielgerichtetheit aller Religionen auf Gott als das absolute Eine hin, wobei dieser Aspekt neben aller Christlichkeit auch ebenso platonisch gut begründet erscheint, insofern das Eine Prinzip aller Vielheitlichkeit ist, weil es von ihr vorausgesetzt wird.1238 Die besagten Gemeinsamkeiten der zuletzt übersetzten Passage aus De pace fidei mit Apuleius betreffen konkret auch das Gebet, mit welchem sich Lucius, noch in einen Eselskörper verwandelt, im elften und letzten Buch der Meta‑ morphosen an die ihm ebenfalls verborgene, namentlich unbekannte Himmelskönigin wendet: Wie bei dem Appell des Engels in De pace fidei handelt es sich einerseits um einen Hilferuf, andererseits wird auch hier eine Art ‚inklusive Theologie‘ in Anschlag gebracht. Lucius ruft die Himmelskönigin unter allen ihm bekannten Namen an. Damit legt Apuleius die Basis für eine Theologie, die hinter die einzelnen Namen und Kulte schaut, wie es auch für Cusanus’ De pace fidei charakteristisch ist. Während bei Cusanus der Engel Gott auffordert, selbst für den Religionsfrieden auf Erden zu sorgen, bittet Lucius bei Apuleius die Himmelskönigin darum, ihn von seinem Eseldasein zu erlösen oder aber sterben zu lassen: ‚Königin des Himmels – seist du die nährende Ceres, mütterliches Prinzip der Feldfrüchte […], seist du die himmlische Venus, die du am Anfang der Dinge die Verschiedenheit der Geschlechter durch Erzeugung des Amor vereint hast […], seist du Phoebus’ Schwester […], seist du, bei nächtlichem Geheul Schauder erregend, Proserpina […] – mit welchem Namen, durch welchen Ritus, bei welcher Gestalt es nun immer Götterrecht ist, dich anzurufen: du sei mir zur Hilfe in meinen nunmehr äußersten Nöten, du sichere mein zerbrochenes Glück, du gewähre Ruhe und Frieden von den grausamen durchlittenen Schicksalsschlägen! […]. Gib mich meinem Lucius zurück und, wenn mich eine bestimmte Gottheit, sollte ich sie beleidigt haben, mit unerbittlicher Strenge straft, dann sei zu sterben wenigstens erlaubt, wenn nicht erlaubt ist zu leben‘ (Apuleius, met. XI, 2).1239 Cribratio Alkorani präsente positive Würdigung der sich in vielen Kulten ausprägenden einen Religion letztlich auf islamischen Einfluss zurückgehe (besonders ibd., 35–36, 45). 1237 Zum Problem der Perspektivität menschlichen Erkennens auch dann, wenn wie in De pace fidei ein Ausgriff auf eine gleichsam absolute Über-Perspektive versucht wird, s. o. Kap. V. c1. Vgl. Euler (2012: 234): „Das Problem bei Cusanus ist […], dass seine Lösung letztlich als dogmatisches Konstrukt erscheinen kann (und meist auch so verstanden wird), obwohl er sich um eine anthropologisch-philosophische Begründung seiner Auffassung bemüht hat, die heute noch Beachtung verdient und zur weiteren Vertiefung anregt […].“ Cusanus’ „program could be described as ‘inclusion instead of exclusion’ – inclusion and pro-Christian interpretation instead of exclusion and condemnation“ (Euler 2014: 23). 1238 S. o. Kap. III.d. 1239 Zur Stelle s. Drews (2009: 538–9).
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Auch bei Apuleius geht es also nicht darum, die verschiedenen religiösen Kulte als irrelevant abzutun, sondern darum, dass Lucius sich an die von ihm erahnte höchste Gottheit wendet, die „unter welchem Namen und Ritus auch immer“ angemessen verehrt wird. Damit ist implizit die Differenz zwischen der wahren, geistig-begreifbaren Religion und den einzelnen Kulten thematisiert, um die es auch Cusanus geht. Bei Apuleius erfolgt eine diesem Bittgesuch exakt entsprechende Antwort der nun erscheinenden und sich auch namentlich zu erkennen gebenden Göttin: ‚Siehe, ich bin gegenwärtig, bewegt [sc. zur Offenbarung] durch deine, Lucius, Gebete, Mutter der Natur, Gebieterin über alle Elemente, prinzipienhafter Spross der Zeitalter, die Höchste der Gottheiten, Königin über die Totengeister, die Erste der Himmelsgötter, einshaftes Gesicht der Götter und Göttinnen […], deren einshafte Gottheit in vielheitlicher Gestalt, mit verschiedenem Ritus, vielfältigem Namen der ganze Erdkreis verehrt‘ (Apuleius, met. XI, 5, 1).1240
Im Folgenden sagt die Göttin Lucius nicht nur die erbetene Erlösung vom Eseldasein zu, sondern stellt sich auch mit den verschiedenen Namen vor, unter denen sie von verschiedenen Völkern jeweils angebetet und verehrt wird, ihr wahrer Name aber sei der ägyptische: Isis.1241 In ihrem „einshaften Gesicht“ (facies uniformis) vereint sie Götter und Göttinnen gleichermaßen: Isis inkludiert also die verschiedenen Gottheiten in sich selbst (wie Kronos als das seiende Eine die Götter bei Plotin1242), entsprechend wird implizit sie selbst in der kultischen Verehrung der Einzelgottheiten angebetet – die vielen Riten und Namen zielen auf Isis als der wahren Gottheit hinter den Einzelgottheiten.1243 Theologisch auffällig erscheint also das Konzept, dass bei Apuleius die wahre, einshafte Gottheit Isis (monotheistischer Aspekt) hinter ihren vielheitlichen Partikular-Manifestationen als viele verschiedene, einzelne Götter (polytheistischer Aspekt) steht und unter den entsprechend differierenden Namen und Kulten dieser vielen Götter als dieselbe Göttin verehrt wird. Es muss hier nicht spekuliert werden, ob Cusanus seinerseits darin von Apuleius beeinflusst worden sein könnte; erkennbar ist aber eine gewisse strukturähnliche Übereinstimmung zwischen Apuleius’ Isis-Theologie in den Metamorphosen und Cusanus’ Konzept der einen wahren Religion in ihren verschiedenen kultischen Manifestationen: Denn, so der Engel in seiner Rede aus De pace fidei, auch Gott der Allerhöchste werde „in unterschiedlichen Riten auf verschiedene Weise gesucht und unter unterschiedlichen Namen genannt.“1244 Zur Stelle s. Drews (2009: 551–7). Apuleius, met. XI, 5, 3. 1242 S. o. Kap. II.5 c. 1243 Zur Theologie um Isis und Osiris bei Apuleius s. Drews ([2015], [2009: 538–573]) sowie oben Kap. II.4.2 b. 1244 Zu diesem Aspekt, der sich auch in Cusanus’ Predigten zeigt, vgl. Reinhardt (2008: 47). Zur Übersetzung der Textstelle pac. I, 5; 6, 9–17 s. o. 1240 1241
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Im Folgenden bringt der Engel in seiner Rede noch einen philosophischen Grund dafür, dass Gottes Wesen für sich selbst genommen unerkennbar sei: Nicht nur sei er nichts von dem, was er geschaffen habe,1245 sondern es könne auch kein Verhältnis des Begrenzt-Endlichen (d. h. des Geschöpfes) zum Unbegrenzt-Unendlichen (Gottes) geben.1246 Diese Unerkennbarkeit von Gottes Wesen entspricht aber in sich wiederum nur einer Partikularperspektive auf das Absolute: Es wäre dem Absoluten wohl ebenfalls nicht angemessen, wenn es in seiner Unerkennbarkeit gefangen bliebe. Wie also das für sich selbst Unpartizipierbare sich über partizipierfähige Mitten bzw. Ähnlichkeiten partizipierfähig zeigt, so sollte es auch Gott möglich sein, sich zu zeigen, wenn er dies für nötig hielte. Genau daran erinnert ihn nun der Engel: Der Allmächtige könne sich doch zeigen, wem er wolle und, vor allem, in einer Weise, auf die er auch erfasst werden könne vom endlich-geschöpflichen Geist. Entsprechend möge er „sein Angesicht“ (facies) zeigen.1247 (Wäre es verfehlt, hier noch einmal an die facies uniformis der Isis bei Apuleius zu denken?) Dann würden die Völker gerettet sein, denn niemand würde sich von Gott entfernen, außer aus Unkenntnis.1248 Dann würden sie auch erkennen, dass es „nur eine Religion in der Unterschiedlichkeit der Riten“ (non est nisi religio una in rituum varietate) gebe. Diese Verschiedenheit der Riten könne wohl nicht beseitigt werden bzw. es wäre nicht von Vorteil, dies zu tun, da diese Unterschiedlichkeit die Frömmigkeit gerade steigern könnte. Trotzdem solle es möglichst, weil Gott nur einer sei, auch nur „eine Religion und einen gottesdienstlichen Kult“ geben.1249 Mit diesem Wunsch tut der Engel eine gewisse Unentschlossenheit kund: Einerseits wäre ein einheitlicher Gottesdienst wünschenswert, andererseits könnte aber gerade der (positive) Wetteifer in der Frömmigkeit durch eine (positiv verstandene) Buntheit der religiösen Verehrung vermehrt werden. Die Bitte, dass Gott sich gewissermaßen ‚unmissverständlich‘ den Menschen offenbaren möge, ist aus der eingangs beschriebenen Situation des Religionskriegs nicht nur verständlich: Argumentativ zielt sie – entsprechend der nicht zu verkennenden Perspektive des Autors von De pace fidei – natürlich auf ein unüberbietbares Offenbarungsereignis, wie es das Christentum bekennt und als Herzstück seines Glaubens versteht.
Dies erinnert an Augustinus, conf. X, 6, 9. pac. I, 5; 6,17–7,2. Vgl. Alfsvåg (2014: 51). 1247 pac. I, 5; 7, 2–5. 1248 Dies erinnert sachlich an das Dilemma Augustins zu Beginn der Confessiones: Wer werde Gott anrufen, ohne ihn zu kennen, oder werde Gott angerufen, auf dass er erkannt werde? (conf. I, 1, 1). 1249 pac. I, 5–6; 7, 6–15. Vgl. cribr. I, 3, 27. 1245 1246
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Abschließend bittet der Engel im Namen aller anderen den Herrn um Sanftmut1250 im Interesse der von ihm geschaffenen Menschheit, denn „dein Zorn ist fromme Milde (pietas) und deine Gerechtigkeit Erbarmen“.1251 Damit ist nicht nur der Doppelaspekt des christlichen Gottesbildes vorweggenommen: Gott ist gerecht und gnädig. Da der Autor von De pace fidei Cusanus heißt, erscheint diese prägnant-kühne Formulierung als ein Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum).1252 (Berechtigter) Zorn und Gerechtigkeit stehen 1250 Berger / Nord (2002: 37) übersetzen: „So bitten wir dich um Versöhnung“, und kommentieren diese Stelle folgendermaßen: „Im Neuen Testament beseitigt die Versöhnung (durch den Tod Jesu) die Feindschaft zwischen Gott und Mensch; hier bezieht sich die Versöhnung auf den Ausgleich verschiedener Lehren. Ein größerer Unterschied zum Neuen Testament ist kaum denkbar“ (ibd., Anm. 10). Ob an dieser Stelle die Bitte des Engels um Frieden als Gegensatz zum NT konstruiert werden sollte, erscheint mir fraglich: Die Bitte um Frieden bedarf zu allen Zeiten keiner Berechtigung. Es handelt sich um zwei verschiedene Versöhnungsaspekte: 1. Wie wird der (in Sünde befindliche) Mensch mit Gott als dem wahrhaft Gerechten und Richter versöhnt? Antwort aus christlicher Sicht: durch die in Tod und Auferstehung bewirkte Erlösungstat Jesu. 2. Wie kann innerweltliche Versöhnung unter Menschen unterschiedlicher Religion erreicht werden? Natürlich lässt sich leicht argumentieren, dass aus christlicher Perspektive (2) ultimativ ein Resultat von (1) sein muss. Es sollte aber auch möglich sein, (2) für sich selbst zu thematisieren. Dass Cusanus den Einwand von Berger nicht antizipiert haben sollte, ist zumindest fraglich, da im Folgenden ja auf die Mission Christi angespielt wird. – Cusanus thematisiert in seinem Werk durchaus die christliche Lehre von der Rechtfertigung des Menschen durch Gott / Christus aus dem Glauben heraus (doct. ign. III, 6, 220). Zu der am Kreuz gewirkten satisfactio und purgatio vgl. doct. ign. III, 6, 218. S. ferner u. Kap. V.c16. Berger selbst weist in diesem Sinne Flaschs Kritik zurück: „Kurt Flasch (1998) stellt fest, der Cusaner habe gerade diejenigen Elemente der Rechtfertigungslehre betont, die bei Luther und Kierkegaard fehlen und umgekehrt. Er meint damit wohl Vertrauen und Gehorsam. Der Cusaner betont statt dessen das intellektuelle Element. Aber im Blick auf die Schrift des Cusaners De annuntiatione gloriosissimae virginis Mariae devotus dialogus verschwinden die Differenzen jedenfalls gegenüber Luther. Mit Recht kann R. Weier (1971) beim Cusaner in diesem ‚Dialog‘ eine katholische Fassung des ‚simul iustus …‘ erkennen: ‚Wenn du deine Sünden als schmutzig und unrein empfindest, so ist es ein Zeichen, daß du würdig bist, daß ich dich besuche. Denn wem seine Sünden ekelhafter Schmutz sind, der ist gesund‘ “ (Berger / Nord 2002: 127, Anm. 82). Vgl. Alfsvåg (2014: 58): „Cusanus’s attempt at solving the problem of ritual diversity through the doctrine of justification through faith alone gives his reflections in this part of De pace fidei an almost Lutheran flavor.“ S. ebenso Hollmann (2014: 82). 1251 pac. I, 6; 7, 15–16. 1252 Vgl. Leinkauf (2006: 89–102) und doct. ign. I, 4, 12. Den Zusammenfall der Gegensätze, dass z. B. Kleines und Großes im Absoluten koinzidiere (ibd.), veranschaulicht Cusanus andernorts an einem geometrischen Beispiel (ber. 8,9–9,10): Im Vergleich zu einem spitzen Winkel kann ein immer noch spitzerer gefunden werden, bis er ultimativ mit einer geraden Linie zusammenfiele. Das Gleiche gilt aber auch für einen stumpfen Winkel, dessen Stumpfheit sich solange vergrößern ließe, bis er schließlich mit einer geraden Linie koinzidiere. Modern formuliert, könnte man vielleicht die gerade Linie als ‚Grenzwert‘ sowohl eines spitzen wie auch eines stumpfen Winkels bezeichnen (auch ein überstumpfer Winkel hätte seinen maximalen Grenzwert in einer Größe von 360°, würde dann wieder mit einer geraden Linie koinzidieren). Gemäß Cusanus wäre also die gerade Linie Prinzip aller Winkel, in ihr fallen die verschiedenen Winkelarten in ihrer Kleinheit (spitzer Winkel) und Großheit (stumpfer Winkel) zusammen. Da es aber unendlich viele spitze und stumpfe Winkel geben kann, kann das Prinzip selbst in seinem Erzeugungsvermögen (zum unbegrenzten Wirkvermögen bei Proklos s. o. Kap. III.d,
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nicht neben Milde und Barmherzigkeit und ‚rangeln‘ gleichsam um Vorherrschaft; vielmehr müssen geradezu diese für menschliches Begreifen zumeist auseinanderfallenden Dispositionen in dem einen Gott koinzidieren: Sie sind daher gemäß der Engelrede identisch.1253 Noch einmal zeigt sich hier, dass Flaschs (1998: 360) Urteil unbegründet ist: „In De pace fidei verzichtet Cusanus auf die Idee der Koinzidenz […].“1254 3. Die Antwort Gottes, der innere Mensch und die Initiative des Logos: eine Absolutsetzung der christlichen Perspektive im interreligiösen Dialog? Auf die Bitte des Erzengels reagiert der „König, der auf dem Thron saß“ (Off 21, 5) mit dem Hinweis, dass der Mensch „seiner willentlichen Entscheidungsfreiheit überlassen“ sei, mit der er ihn als zur Gemeinschaft fähig erschaffen habe.1255 Der Engel selbst hatte in seiner Rede bereits auf die Willensfreiheit, die den Menschen auszeichnet, verwiesen,1256 die grundsätzlich ein wesentliches Konstitutiv christlicher und platonischer Anthropologie darstellt:1257 Der Mensch ist keine Marionette, sondern mit seelischer Entscheidungsfreiheit ausgestattet, der Weltenlauf ist nicht stoisch durch einen ihr immanenten Weltenlogos prädeterminiert, sondern kontingent, in tatsächlicher Abhängigkeit auch davon, welchen Gebrauch die freien Geschöpfe von ihrem arbitrium machen. Nur weil dies so ist und die Freiheit offenbar ein so hohes Gut darstellt, kann der Allerhöchste auf diesen Umstand als Erklärung auch für Krieg als negative Folge verfehlter menschlicher Entscheidung verweisen. Verfehlte Entscheidungen menschlicherseits seien zugleich aber auch beeinflusst durch andere ‚finstere Akteure‘: Der „tierhafte und irdische Mensch“ werde durch den „Fürsten der Finsternis in Unwissenheit niedergehalten“ und wandle so „unter den Bedingungen des sinnlichen Lebens und nicht gemäß dem intellekthaften inneren Menschen“, wobei die geistig-intelligible Welt die eigentliche Heimat des Menschen sei.1258 Wenn der Allerhöchste hier gleichsam die sinnliche Welt als Herrschaftsgebiet des Teufels darstellt, dann könnte dies zunächst fast schon manichäisch anmuten: Sollte die sinnliche Welt, deren positive „Bewunderung“ (admiratio), wie der Engel zuvor erklärt hatte,1259 den bei Cusanus s. u. Kap. V.c4) „durch alles [sc. von ihm] Prinzipiierte nicht ausgeschöpft werden“ (ber. 9, 10). 1253 Dazu, dass Gottes Zorn nicht als menschliche Regung missverstanden werden dürfe, vgl. bereits Augustinus vera rel. 50, 99, 276–7. 1254 S. o. Anm. 1194 zu Schmitz’ (2005: 191–2) berechtigter Kritik an Flaschs Aussage. 1255 pac. II, 7; 8, 2–5. 1256 S. o. Kap. V.c2. 1257 S. o. Anm. 1217, ferner z. B. Origenes (s. o. Anm. 694) und Dionysius Areopagita (CH 9; 37,17–38,10, s. o. Kap. IV.5 b). Zur Hervorhebung der Freiheit in De pace fidei vgl. Riedenauer (2007: 100). 1258 pac. II, 7; 8, 5–9. 1259 pac. I, 3; 4,21–5,10 (s. o. Kap. V.c2).
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Menschen doch gerade über diese hinaus zur Gotteserkenntnis motivieren möge, tatsächlich ‚Teufelswerk‘ sein? Dies wäre ein Fehlschluss, da später die Sichtweise des Engels noch einmal explizit durch den göttlichen Logos selbst (d. h. Christus als Gottes Wort) bekräftigt wird.1260 Was sagt der in De pace fidei sprechende Gott dann aber hier? Kritikpunkt dürfte eine Verabsolutierung der sinnlich-wahrnehmbaren Realität unter völliger Ausblendung der geistig-intellekthaften Kapazität des inneren Menschen sein: Wie schon zuvor vom Engel in seiner Rede angedeutet, würden nur noch wenige Menschen auf Erden genug Muße haben, dass sie sich kraft ihrer Entscheidungsfreiheit um Selbst‑ und Gotteserkenntnis bemühen könnten.1261 Ist aber diese höchste Möglichkeit des Menschen gleichsam völlig abgeschnitten und vergessen, können sich die Menschen nur als „tierisch-irdische“ Wesen begreifen: Damit blicken sie nur noch ‚nach außen‘, der Weg nach innen bleibt verschlossen; in Selbstvergessenheit wissen sie nicht mehr um ihre intellekthafte Potenz und ihre Heimat im Intelligiblen, bei Gott. Auch hier zeigt sich gleichermaßen eine sowohl platonische wie christliche Stoßrichtung der Argumentation: Der „innere Mensch“ ist einerseits ein von Platon geprägter Begriff und meint innerhalb seiner Seelenlehre den rationalen Seelenteil (im Unterschied zum thymoeides, dem Zorn-, Mut‑ und Schamhaften, und zum epithymêtikon, dem Begehrvermögen1262). Als animal rationale et mortale1263 ist das schlussfolgernde und begreifende Denken Spezifikum des Menschen, welches ihn gegenüber anderen sterblichen Lebewesen auszeichnet. Andererseits ist der innere Mensch, wie oben erörtert, aber auch ein Begriff, den der Apostel Paulus christlich geprägt hat:1264 Denn wir wissen, dass der, welcher den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und mit euch gemeinsam aufstehen lassen wird. […] Daher werden wir nicht müde, sondern wenn auch unserer äußerer Mensch zugrunde geht, wird doch unser innerer [sc. Mensch] erneuert Tag für Tag (Paulus, 2 Kor 4, 14.16). 1260 pac. IV, 11–12; 12, 5–14. Nicht untypischerweise kommentiert Flasch (1998: 346) lakonisch-ironisch: „Das göttliche Wort korrigiert hier stillschweigend die dualistischen Töne, die Gott der Herr kurz zuvor angeschlagen hatte. Gott Vater hatte einen schroffen Kontrast von Sinnenwelt und Intellektualwelt gezeichnet. Er sah die Sinnenwelt als das Reich der Finsternis, in dem der Teufel herrscht. Ansonsten nimmt der Satan keinen besonders hervorgehobenen Raum in den Schriften des Cusanus ein.“ Letzteres ist sicher zutreffend, für den Gegensatz zwischen Gott Vater und seinem Logos bei Cusanus dürfte dies jedoch bezweifelt werden, wie z. B. die Entsendung des Logos zur Menschwerdung durch den Vater auf die Barmherzigkeit beider Personen zurückzuführen ist, nicht nur auf den Logos-Sohn, der Gott-Vater entsprechend auch als pater misericordiarum (pac. III, 8; 9, 16) anspricht. Die zuvor explizit genannte, positive admiratio der Sinneswelt als Stufe zur Gotteserkenntnis widerspricht der Interpretation, dass die Sinneswelt an sich ‚Teufelswerk‘ sein könnte. S. auch das Folgende. 1261 pac. I, 4; 5,14–6,8 (s. o. Kap. V.c2). 1262 Platon resp. 589a7–b1, s. o. Anm. 546. 1263 S. o. Kap. V.c1 mit Anm. 1190. 1264 Zur folgenden Stelle s. o. Kap. IV.2.2 a.
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Bei Paulus ist die Erneuerung des inneren Menschen gewissermaßen ein Vorgeschmack auf die Auferstehung am Ende der Zeiten.1265 Dieser Vorgeschmack ist gerade deshalb entscheidend, weil der äußere Mensch in der Vergänglichkeit seines irdischen Leibes ultimativ nur auf den Tod zugeht. Auch bei Paulus könnte also die Selbstvergessenheit, das Nichtwissen um den inneren Menschen wie bei Cusanus dazu führen, dass der Mensch sich selbst und auch Gott nicht mehr wirklich kennt und folglich somit den irdischen Tod als finalen Schlusspunkt seines menschlichen Seins interpretierte. Auch hier drohte die ‚eigentliche Heimat bei Gott‘, die aus Paulus’ Perspektive durch die „Auferstehung mit Jesus“ als dem bereits Auferstandenen erreicht wird, aus dem Blickfeld des Menschen zu geraten. Sowohl aus christlicher wie platonischer Begründung heraus führt eine Verabsolutierung der an sich guten sinnlich-materiellen Welt in eine Finsternis, in welcher, wie die Gottesfigur bei Cusanus sagt, der „Fürst der Finsternis“ den Menschen offenbar gern fest‑ und „niederhält“: Die Gefahr, die hier gemeint ist, resultiert aber nicht daraus, dass die materielle Realtiät an sich ‚schlecht‘ wäre, sondern besteht nur darin, dass ein auf sie einge‑ und beschränkter Blick den inneren Menschen und dessen ewiges Leben gar nicht mehr bemerkt.1266 Genau wegen dieser grundsätzlichen Gefahr, so führt der Allerhöchste im Fortgang seiner Rede aus, habe er „mit großem Bemühen und ebensolcher Sorgfalt durch verschiedene Propheten den vom Wege abgekommenen Menschen zurückgerufen. Und schließlich, da auch die Propheten selbst alle zusammen den Fürsten der Unwissenheit nicht hinreichend besiegen konnten, habe er seinen Logos (sein Wort, Verbum suum) gesandt, durch welchen er auch die Welt geschaffen habe“ (Jh 1, 1–31267).1268 Unverkennbar ist hier Cusanus’ christliche Perspektive, aus der heraus De pace fidei geschrieben ist, denn die Gottesrede spielt der Sache nach auf das Gleichnis Jesu „von den bösen Weingärtnern“ (Mt 21, 33–46) an: Diese töten nacheinander die Knechte des Herrn, welche den Ertrag des Weinbergs holen und zum Herrn bringen sollen. In erstaunlicher Wiederholung desselben – es werden immer neue Knechte entsandt, gleich den vielen Propheten bei Cusanus, die dem Menschen zur Selbst‑ und Gotteserkenntnis verhelfen sollen – kommt es dann letztlich doch dazu, dass der Herr seinen eigenen Sohn (entsprechend dem Logos Gottes) entsendet in der Annahme, dass die Weingärtner ihn verschonen würden (V. 37). Diese Gelegenheit kommt jenen gerade recht: Ist der rechtmäßige Erbe aus dem Weg geschafft, scheint der Weg frei, um selbst an das 1265 Zur Auferstehung und zum geistigen Auferstehungsleib bei Cusanus vgl. doct. ign. III, 7 und III, 12, 260. 1266 Nur in Relation zum ewigen Leben des inneren Menschen und um der Ausrichtung auf das zu erlangende ewige Heil willen ist das irdisch-sinnliche Leben geringzuschätzen, wie es später in der Gottesrede heißt (pac. II, 7; 9, 2–5). 1267 Zur Stelle vgl. Kap. IV.2.2 a mit Anm. 575. 1268 pac. II, 7; 8, 9–13.
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Erbe zu gelangen; also wird auch er getötet (V. 38–39) . Als Erzähler stellt Jesus nun die Frage, was der Herr des Weinbergs wohl tun werde? (V. 40) Die Episode endet mit dem berühmten Verweis auf Ps 118, 22–23, dass der verworfene Stein der Bauleute „zum Eckstein geworden“ sei, als „ein Wunder vom Herrn her“ (V. 42): Der verworfene Stein scheint der Sohn des Weinbergherren, implizit Jesus selbst zu sein; der Weinberg, das „Reich Gottes“, aber werde nun anderen gegeben werden (V. 43). Wie also ist diese ‚vorgeordnete christliche Perspektive‘ bei Cusanus zu bewerten, wo sie doch explizit Christologie, d. h. die für das Christentum spezifische Rolle Christi voraussetzt? Um diese Frage zu beantworten, sollte Folgendes kurz rekapituliert werden: Bevor es in De pace fidei zu einem interreligösen Dialog kommen kann, wird mit dem tobenden Religionskrieg nicht nur der Anlass für den Dialog benannt; der Visionär erfährt zudem, wie die Situation des Menschen – die Selbstvergessenheit im Blick auf den inneren Menschen – von göttlicher Seite eingeschätzt wird und welche Initiativen (‚Prophetenmission‘) es von Gott her bereits gab. Auf den drängenden Appell des Erzengels, Gott möge selbst handeln, erwidert dieser, dass er bereits „seinen eigenen Logos“ entsandt habe. Die innere Logik von De pace fidei besteht hier weitaus weniger darin, dass die christliche Perspektive ‚erwartungsgemäß‘ allgemein absolut gesetzt wird,1269 sondern zunächst darin, dass aus christlicher Perspektive das Argument nahe liegt, dass Gott bereits viel in die Wege geleitet habe, um den Menschen – freilich in der diesem eigenen und zu respektierenden Freiheit – ‚zum Guten zu bekehren‘ und aus der Finsternis seines Geistes, welche Ursache für alle Übel sei, zu befreien. Erst aus diesem Argument der Gottesinitiative heraus gewinnt die christliche Perspektive ihr Gewicht, da die Menschwerdung des Logos ein spezifisches Erlösungshandeln Gottes im Unterschied zu anderen Religionen darstellt. Wie der im eigentlichen Sinne interreligiöse Teil von De pace fidei zeigen wird, geht es im Sinne der Vision, wie eine von allen Einzel-Religionen letztlich vorausgesetzte, immer schon partizipierte Religion erahnt werden könnte, nicht vorrangig, sondern erst sekundär (in dem Petrus-Abschnitt) um die Menschwerdung an sich von Gottes Wort, primär dagegen um das (göttlich-geistig-intelligible) Sein dieses göttlichen Logos selbst qua Logos, wenn sich denn erweisen ließe, dass dieser letztlich als von allen Religionen vorausgesetzt gedacht werden kann bzw. an ihm partizipiert wird. Noch einmal gilt also von der Ebene des Autors her gesehen: Ein interreligiöser Dialog kann gemäß Cusanus nicht in Angriff genommen werden, indem die eigene Religion um einer abstrakten Neutralität1270 willen außer Kraft gesetzt 1269 Vgl. Kap. V.c1 und Anm. 1237. – Euler (1997: 85) weist zu Recht darauf hin, dass für Cusanus „nur die wirklich zentralen Glaubensinhalte des Christentums“ als „universal verbindlich gelten sollen.“ 1270 Dies ist freilich ein aus moderner Perspektive erwartbarer Kritikpunkt (s. Riedenauer 2007: 91). Eine religionsfreie ‚Neutralität‘ ist jedoch nicht in Cusanus’ Sinne und wäre als for-
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bzw. ausgeblendet wird. Die innere Logik von De pace fidei kann nur darin bestehen, aus der immer schon implizierten partikulären Perspektivität menschlichen Erkennens heraus einen Ausgriff auf eine übergeordnete Perspektive bzw. auf einen ‚geistigen Ort‘ hin zu versuchen, wo sich möglicherweise neben der eigenen, immer schon in Anspruch genommenen Sichtweise ebenso auch andere Perspektiven ‚versammeln‘, gleichsam an den ‚runden Tisch der intellektuellen Auseinandersetzung‘ bringen lassen. In diesem Sinne könnte De pace fidei vielleicht auch als Modell dafür dienen, wie methodisch ebenso aus anderen religiösen, philosophisch-theologischen Perspektiven und Traditionen heraus versucht werden könnte, einen Ausgriff auf einen ‚gemeinsamen geistigen Ort‘ zu unternehmen, der für mehrere, möglicherweise sogar alle Religionen einen Ort der gemeinsamen Teilhabe darstellt,1271 ohne dabei die spezifischen Perspektiven aufzugeben. Zurück zur Gottesrede: Der göttliche Logos habe in „seiner Entsendung die Menschlichkeit angenommen, um den belehrbaren Menschen mit freiem Willen1272 zu erleuchten, auf dass er sähe, dass er nicht gemäß dem äußeren, sondern dem inneren Menschen wandeln solle“, wenn er sich denn die „Süße“ der Unsterblichkeit erhoffte.1273 Die hier anklingende Christologie trägt johanneische Züge,1274 mit einer eher intellektualistischen Zuspitzung: Die Menschwerdung Christi und sein Tod am Kreuz dienen allein als ein „durch sein Blut“ gegebenes „Zeugnis für jene [sc. göttliche Wahrheit]“, welche ewige „Nahrung für den Intellekt“1275 und somit das ewige Leben ist. Denn die Wahrheit, welche den Intellekt speist, sei der Logos selbst, „in welchem alle [sc. Seienden] eingefaltet (complicantur) und durch den alle [sc. Seienden] ausgefaltet werden (explican‑ tur1276)“.1277 Ontologie und Gotteserkenntnis stehen hier eindeutig im Fokus, die Kreuzestheologie verblasst dagegen.1278 male Vorbedingung eines interreligiösen Dialogs für ihn wohl auch keine wirkliche Neutralität, weil diese ihrerseits eine areligiöse Perspektive bevorzugte. 1271 Vielleicht darf man in diesem Sinne auch einmal an das Wort Jesu im Neuen Testament denken: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ (Jh 14, 2). Vgl. auch Jh 10, 16. 1272 Grammatisch eigentlich Genitivus qualitatis. 1273 pac. II, 7; 8, 13–17. 1274 „Ich bin dazu geworden und dazu in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge: Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme“ (Jh 18, 37 b). Zur johanneischen Christologie in De pace fidei vgl. Hollmann (2014: 75). 1275 In Christus, dem Gott-Menschen, könne der Mensch die unsterbliche Nahrung der Wahrheit erlangen (pac. II, 7; 9, 10–11). Zur intelligiblen Speise vgl. auch doct. ign. III, 12, 258. 1276 Zu den cusanischen Begriffen der complicatio und explicatio s. coni. I, 11, 55–56 (s. Kap. V.b). Zum Verständnis des Logos als Inbegriff aller Vernunftgründe / primordialen Ursachen vgl. Origenes, princ. I, 2, 3; 30, 9–15 (s. o. Kap. IV.3 a), Augustinus, div. qu. 46 (Kap. IV.4 c), Eriugena, periph. III, 626 b; 13, 319–322 (Kap. IV.7), Thomas, STh I, q. 15, a. 2, resp. (Kap. IV.8.). 1277 pac. II, 7; 8,17–9,8. 1278 Vgl. Alfsvåg (2014: 54). – Zur Kreuzestheologie bei Cusanus s. aber oben Anm. 1250 und Lagarrique (2012: 183–4).
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Diese Christologie erinnert an Origenes, welcher ebenfalls die Auferstehung als Erleuchtung begreift, „auf dass wir in gotterfüllter Weise rationale Wesen (logikoi) werden“, indem Christus „unsere Irrationalität beseitigt und den [sc. darin bestehenden] Tod vernichtet, da er selbst Logos und Auferstehung (Jh 11, 25) ist“ (in Jh. I, 37, 267–8).1279 Die Erleuchtung erscheint hier letztlich als Anteilhabe an dem Logos, insofern er Logos und „Brot des Lebens“ (Jh 6, 35) im Sinne der Nahrung für den gottzugewandten Intellekt ist, während die Fleischwerdung des Logos allein dem „Zeugnis für die Wahrheit“ in der irdischen Welt dient. Damit ist zugleich ersichtlich, dass es bei Origenes und Cusanus um keine ‚kalte‘, rationalistische Vernunft, sondern um eine in der Gotterfülltheit ihr wahres Ziel erreichende Rationalität geht. Augustinus hatte dagegen der Fleischwerdung des Logos eine höhere Relevanz zugestanden: Zwar spricht auch der Kirchenvater von dem „ungeschaffenen Wort, durch das alles geschaffen wurde“ und „durch dessen Partizipation wir glückselig“ sind; zugleich macht er aber deutlich, dass der Logos nicht insofern er Logos, sondern nur insofern er auch Mensch geworden ist und am Menschsein partizipiert hat, der „Mittler“ ist, auf dass auch der Mensch an seiner Göttlichkeit partizipiere.1280 Die Menschwerdung Gottes soll gemäß Augustinus also in umgekehrter Richtung zur Gottwerdung des Menschen führen.1281 Damit ist noch nicht der Aspekt der Sühne bzw. Erlösung tangiert,1282 jedoch gewinnt das Mensch-Sein Christi hier an Bedeutung im Verhältnis zu seinem Sein als ewiger Logos. Die Gottesrede bei Cusanus endet mit dem einzigen als direkte Rede zu verstehenden Satz: „Und da dieses getan wurde, was gibt es, das hätte geschehen können und ist nicht geschehen?“1283 Darauf wendet sich der „Fleisch gewordene Logos, der die Herrschaft über alle Himmelsbewohner innehat,1284 stellvertretend für alle“ an den „Vater aller Barmherzigkeit“.1285 Gerade weil der „König der Könige“ von Anfang an beschlossen habe, dass der Mensch im Besitz seines freien Willen bleiben solle, seien innerhalb der unsteten sinnlich-wahrnehmbaren Welt auch die Meinungen, Mutmaßungen, Sprachen und Interpretationen in ständigem Fluss, so dass „die menschliche Natur einer häufigen Heimsuchung“ bedürfe, damit die Irrtümer bezüglich „deines Logos“ ausgeräumt würden und die Wahrheit dauerhaft erstrahle. Da diese Wahrheit (von sich selbst her) eine sei und „es unmöglich sei, dass sie nicht verstanden wird durch jeden freien Zur Stelle s. o. Kap. IV.3 b mit Anm. 725 und 726. Augustinus, civ. IX, 15; 388,24–389,1 (zur Stelle s. o. Kap. IV.4 a mit Anm. 796). 1281 Ähnliches gilt auch für das theologische Verständnis der theogenesia bei Dionysius Areopagita, s. Drews (2011: 257). 1282 Im Blick auf Augustinus s. dazu Drews (2009: 87, mit Anm. 170), mit weiteren Literaturhinweisen. – Zum Thema Sühne / Erlösung im NT s. o. Kap. IV.2.3 b. 1283 pac. II, 7; 9, 11–12. 1284 Zur Höherstellung Christi gegenüber den Engeln vgl. im NT Heb 1, 5–14. 1285 pac. III, 8; 9, 13–15. 1279 1280
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Intellekt, wird alle Unterschiedlichkeit zu einem orthodoxen Glauben geführt werden.“1286 Geht es hier noch um einen interreligiösen Dialog? Wie ist die scheinbar naive Annahme, die eine Wahrheit könne erkannt werden, zu bewerten? Vorweggenommen sei, dass am Ende des Werks die Vielfalt der Riten als bewahrenswert erachtet wird.1287 Das Argument, dass es, weil Gott nur einer sei, möglichst auch nur „eine Religion und einen gottesdienstlichen Kult“ geben solle, hatte bereits der Erzengel eingangs vorgebracht.1288 Aus den Worten des Logos ist zu entnehmen, dass die eine Wahrheit „von jedem freien Intellekt“ begriffen werden können soll: Beachtenswert ist erneut, dass göttlicherseits die prinzipielle Freiheit des Menschen unterstrichen und hochgeschätzt wird. Allerdings – so der Umkehrschluss – müsste ein solcher Intellekt in seinem Erkennen auch ‚frei genug‘, d. h. nicht mehr den Partikularitäten der Sinneswelt verhaftet sein, um diesen Erkenntnisakt vollziehen zu können: Bevor also überhaupt ein solcher Erkenntnisakt möglich erscheint, müsste gemäß Cusanus’ Darstellung die „Finsternis“, die aus der Verabsolutierung der an sich guten sinnlich-materiellen Welt resultiert, überwunden werden. Dies entspricht ganz der eingangs besprochenen Passage aus De coniecturis:1289 Je gottartiger also eine Intelligenz, desto näher ist ihr Vermögen der Aktualität; je dunkler sie aber sein mag, desto entfernter (coni. I, 11, 56).
Entscheidend in der Rede des Logos ist, dass überhaupt das Erfassen der ‚einen Wahrheit Gottes‘1290 an das Erkenntnisvermögen und die Erkenntnisstufe des Intellekts gekoppelt ist, der nach platonischer Erkenntnistheorie ja gerade eine Sache in ihrer komplexen Einheit begreift, z. B. das eine Eidos ‚Dreieck‘ als Inbegriff aller sonst auf den unteren Erkenntnisebenen wie Ratio, Imaginatio, Sinneswahrnehmung auseinanderfallenden Einzelmöglichkeiten, Dreieck zu sein.1291 Wenn hier also von der ‚einen Wahrheit Gottes‘ die Rede ist, dann ist damit natürlich, wie zuvor in der Gottesrede dargelegt, der Logos selbst gemeint, „in welchem alle [sc. Seienden] eingefaltet (complicantur) und durch den alle [sc. Seienden] ausgefaltet werden (explicantur)“.1292 D.h, diese Wahrheit Gottes bzw. des Logos ist pac. III, 8; 9,17–10,6. Vgl. zur Stelle Euler (2012: 234). pac. XIX, 67; 62, 5–8. Vgl. Euler (2012: 221). In seinem inklusiven Wahrheitsverständnis stellt Cusanus „das Christentum und die anderen Religionen nicht antithetisch gegenüber, sondern er betrachtet die Christusoffenbarung als Erfüllung, als Vollendung dessen, was alle Menschen und alle Religionen erstreben“ (Euler ibd., 223). S. ebenso Reinhardt (2008: 61): „Diese Christozentrik der Religionen schließt die anderen Religionen nicht aus, sondern ein […].“ Zur Christologie bei Cusanus s. Reinhardt (2014). 1288 pac. I, 5; 7, 11–15. S. o. Kap. V.c2. 1289 S. o. Kap. V.b. 1290 S. o. Kap. V.b zu ber. 16, 18. 1291 S. o. Kap. V.c1. Analog wählt Cusanus das Beispiel des einen Kreises als ens rationis, welches Prinzip aller Kreise ist (coni. I, 11, 54; s. o. Kap. V.b). 1292 S. o. Anm. 1277. 1286 1287
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in ihrer Einheitlichkeit gerade nicht partikulär, sondern umfasst im Gegenteil die Vielheit der Seienden komplexiv-eingefaltet in sich, insofern sie die eidetischen Ursachen aller Seienden in sich umgreift. Damit wird erneut erkennbar, dass es in De pace fidei nicht um die Vereinzelung einer singulären Wahrheit geht, die dann nachträglich-fälschlicherweise als universal ausgegeben würde, sondern um die eine, komplexive Wahrheit auf der Ebene des Intelligiblen: Diese nur für den Intellekt im platonischen Sinne erfassbare eine Wahrheit birgt gerade die Fülle des Seins in sich und hat deshalb universalen, d. h. „eins-gewendeten“ Charakter. Denn da, wie bei Proklos gesehen,1293 alle Vielheit auf Einheit als ihrem Prinzip basiert, können auch die vielen eidetisch-intelligiblen Sachbestimmtheiten nicht ohne einen ihnen vorausliegenden intelligiblen Einheitsgrund sein. Alle diese philosophischen Voraussetzungen sind bei Cusanus impliziert: Aus einer vorschnellen Lektüre, welche diese Implikationen übersieht, könnte leicht der Schluss gezogen werden, dass der „Fleisch gewordene Logos“ in seiner Replik einfach die eine christliche Religion zur Orthodoxie erheben wolle (sofern diese denn überhaupt kultisch-rituell als eine einzige bezeichnet werden könnte). Dies mag aber bestenfalls insofern zutreffend sein, als diese eine Religion eben gemäß Cusanus nur auf der Seinsebene des Intelligiblen bzw. auf der Erkenntnisebene des Intellekts im platonischen Sinne zu verorten wäre – das Thema der kultischrituellen Verehrung im Einzelnen wäre auf einer ganz anderen, niedrigeren und vielheitlicheren Ebene zu verhandeln, wie das Ende von De pace fidei zeigen wird. Insofern aber gemäß Cusanus die intelligible, eine Wahrheit Gottes den Seienden ihr Sein zuteilt (ber. 16, 18), ist sie Universalursache für alle Seienden. Nur von dieser philosophischen Voraussetzung her kann auch der Grundimpetus von De pace fidei plausibel erscheinen, dass diese eine Wahrheit in allen Religionen irgendwie schon vorausgesetzt und impliziert sein müsste. Um diesen Nachweis geht es primär; sekundär ergibt sich aus der Logik von De pace fidei, dass der eine Logos diese umfassende Wahrheit ist, also das Christentum, insofern es von dem einen Logos Gottes handelt, einen besonderen Zugang zu eben diesem Logos hat. Aber dies bedeutet, wie im Folgenden zu erörtern sein wird, innerhalb der Logik von De pace fidei eben zugleich auch, dass die übrigen Religionen, insofern sie wahrhaftige Religionen sind,1294 ebenfalls diesen Logos in irgend1293 S. o.
Kap. III.d. Die Frage, welche Religionen wahrhaftig sind, ist naturgemäß keineswegs leicht zu entscheiden. In einer Untersuchung, die den Titel „Gott ist Richter unter den Göttern“ trägt, könnte die erste Antwort auf diese Frage darin bestehen, dass eine letztgültige Entscheidung dem Menschen kaum obliegen mag. Dies dürfte auch in Cusanus’ Sinne sein, da er ja den Dialog über die wahre, intellekthafte Religion im Angesicht des göttlichen Logos stattfinden lässt. In einem zweiten Zugriff lässt sich gerade aus Cusanus’ Perspektive aber vielleicht doch ein grundsätzliches Kriterium dafür finden, inwieweit verschiedene Religionen trotz ihrer Unterschiede (etwa im Hinblick auf den Weg der Erlösung) in zumindest grundsätzlicher Weise als ‚wahrhaftig‘ gelten könnten: Dieses Kriterium besteht gemäß dem theologischen Argument von De pace fidei offensichtlich darin, dass die zum Dialog eingeladenen verschiedenen Religionsvertreter alle die 1294
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einer Weise kennen bzw. Gottes rein intelligible Wahrheit voraussetzen und an ihr partizipieren.1295 Dieser Grundgedanke ist der Sache nach nicht zuletzt der Überzeugung des Kirchenvaters Augustinus verwandt, dass es die eine „wahre Religion zu allen Zeiten“ gegeben habe,1296 weil sie, so würde Cusanus begründen, in allen wahren Einzel-Religionen in irgendeiner Form, mehr oder weniger präsent ist und von ihnen partizipiert wird. Zugleich steht De pace fidei mit einer sowohl für die innerchristlichen wie auch für die außerchristlichen Perspektiven entscheidend relevanten theologischen Aussage des Neuen Testaments im Einklang: In seinem Römerbrief spricht der Apostel Paulus davon, dass Gottes unsichtbares Wesen generell – d. h. unabhängig von einer Religionszugehörigkeit – seit Beginn der Schöpfung geschaut werden kann als geistig-intellekthaft Erkennbares:1297
Weisheit (sapientia) Gottes gemeinsam bekennen, welche als ontologisch-kreativer Urgrund der Schöpfung verstanden wird (s. die folgenden Teilkapitel). Die Weisheit Gottes anzuerkennen, d. h. die absolute Weisheit als Seiendes und Ursache der Seienden zu begreifen, impliziert zugleich das Anerkennen von Gottes Würde und letztlich auch seiner wesensmäßigen Gutheit (pac. I, 5; 6, 12): Absolute Weisheit ist das Gegenteil alles Mangelhaften sowie Boshaften, da Weise-Sein impliziert, das Gute für sich und im Hinblick auf andere unterscheiden zu können. So könnte speziell der platonische Gottesbegriff (vgl. Platon, resp. 379 b–c), wonach Gott nur als gut und als Ursache von Gutem zu verstehen ist, in dieser schwierigen Frage als theologisches Sachkriterium dienen. Dass die Gutheit Gottes und, allgemein-philosophisch besehen, der Begriff des Guten auch heute als unhintergehbares Kriterium zu gelten hat, betonen Spaemann (2012 a: 10) und Siebenrock (2008: 219, 222), der zugleich darauf hinweist, dass „am Ende des Mittelalters […] diese sittliche [sc. ontologisch gute] Bestimmtheit der göttlichen Allmacht aufgehoben“ wird, z. B. bei Duns Scotus und Martin Luther: Zu Recht stellt Siebenrock (ibd., 223) die Frage: „Ist Gottes Wille wirklich so? Bleibt die Allmacht im Kontext der Willkür?“, und stellt die Hypothese auf: „Die Kritik an und der Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Diskurs begründen sich direkt oder indirekt mit dieser ‚Willkürvorstellung‘ der göttlichen Allmacht.“ Mit Kierkegaard verweist Siebenrock (ibd., 224–5) darauf, dass „allein die Allmacht […] sich zurücknehmen“, sich selbst beschränken, „entäußern“ kann (ibd., 227, unter Verweis auf Phl 2). Eine vom Kriterium des Guten geleitete Allmacht (wie bei Augustinus, ibd., 222) zeigt sich als „ ‚Sein-zu‘, ja ‚Sein-für‘ “ und nicht als bloße „Durchsetzungsfähigkeit“ (ibd., 226): „Die wahrhaft göttliche Allmacht ist kein Superlativ unserer infralapsarischen Machterfahrung, sondern steht zu dieser quer“ (ibd., 227). – Zur Frage der wahrhaftigen Religionen vgl. Riedenauer (2007: 403): „Die Riten müssen mehr sein als nur Ausdrucksformen der partikularen religiones, sectae oder leges, sie müssen vielmehr als Ausdruck eines Glaubens im für den endlichen Geistvollzug konstitutiven Sinn und als Explikationen der einen Religion verstanden werden können.“ 1295 Vgl.: Nulla umquam natio fuit, quae deum non coleret et quem maximum absolute non crederet (doct. ign. I, 7, 18). Zur universalen und exklusiven Christologie in De pace fidei vgl. Hollmann (2014: 69, 76, 78–79): „The concordantia [sc. between religions] is in and through Christ, the Wisdom of God“; diese Christologie zeige zudem „a Dionysian, cataphatic (universalist) side“ (ibd., 80). Vgl. Schick (2013: 282) dazu, dass bei Cusanus „die christliche Religion mit der Voraussetzung aller Religionen nicht zusammenfällt, sondern sie nur am explizitesten voraussetzt.“ Der besondere Zugang zu dem göttlichen Logos im Christentum durch dessen Inkarnation ist u. a. schon bei Origenes greifbar (s. o. Kap. IV.3 b). 1296 S. o. Kap. IV.4 a (mit Anm. 792). 1297 Zur Stelle s. o. Kap. IV.2.2 a.
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Denn seine [sc. Gottes] Unsichtbarkeit (ta ahorata) wird von der Gründung des Kosmos an anhand der Schöpfungen [sc. Gottes] geschaut als etwas geistig-intellekthaft Erkennbares (nooumena), die Ewigkeit sowohl seiner vermögenden Macht (dynamis) als auch seiner Gottheit (theiotês) (Rö 1, 20).
Zurück zu Cusanus. Die Anregung des „Fleisch gewordenen Logos“, dass die eine Wahrheit von jedem freien Intellekt verstanden werden könne und sich von hier aus (auf der Ebene des Intellekts!) ein „orthodoxer Glaube“ etablieren ließe, findet die Zustimmung des Königs der Könige. Die den verschiedenen Völkern und Sprachen zugeteilten Engel1298 werden aufgefordert, dass sie jeweils einen „recht Kundigen“ zum „Fleisch gewordenen Wort“ schicken sollen. Diese Weisen erscheinen darauf und sind ebenso wie auch der Visionär, der als intendierter Autor De pace fidei aufschreibt, „in Ekstase entrückt“.1299 Der Logos begrüßt die zu ihm Entrückten und vergewissert ihnen, dass „der Herr, der König des Himmels und der Erde, das Seufzen gehört hat der Ermordeten und Gefesselten und Geknechteten,1300 die Leid erfahren wegen der Verschiedenheit ihrer Religionen“.1301 Was nun folgt, ist eine zeitlos gültige Verurteilung von Gewalt im Namen Gottes und ihrer vermeintlichen Motivation: ‚Und weil alle, die diese Verfolgung [sc. um der Religion willen] entweder betreiben oder erleiden, aus keinem anderen Grund dazu bewegt werden, außer weil sie glauben, so ihrem Heil zu nützen und ihrem Schöpfer zu gefallen, hat sich also der Herr seines Volks erbarmt und ist einverstanden, alle Unterschiedlichkeit der Religionen durch einen gemeinsamen Konsens aller Menschen einvernehmlich auf die eine, in höherer Weise unverletzliche zurückzuführen. Diese Last des Dienstes überträgt er euch als ausgewählten Männern, wobei er euch aus seiner Ratsversammlung assistierende und helfende Engel-Geister zuteilt, die euch beschützen und leiten mögen. Als geeignetsten Ort für dieses [sc. Vorhaben] bestimmt er Jerusalem‘ (pac. III, 9; 10, 14–22).
Damit kritisiert der „Fleisch gewordene Logos“ jegliche Rechtfertigungsstrategie für Religionsverfolgungen: Es sei ein Irrglaube, zu meinen, Gott oder aber dem eigenen Seelenheil damit zu nützen; dieser verheerende Irrglaube dient Gott nicht, sondern erscheint (positiv wie negativ konnotiert) nur erbarmungswürdig. Erstaunlicherweise werden aber nicht nur die Betreiber von Religionsverfolgungen zurechtgewiesen: Auch die Meinung, durch vorsätzlich-gezielt märtyrerhaftes Erleiden von Verfolgung Gott zu gefallen, wird abgewiesen. Die eine, höhere Religion zu finden, die von allen einzelnen Religionen vorausgesetzt scheint, wird den weisen Vertretern überlassen (noch einmal zeigt sich, S. o. Kap. V.c2. Zum Intelligiblen bzw. Intellekt als ‚Ort‘ der Vision s. o. Kap. V.c1 (pac. I, 2; 4, 8). Vgl. in grundsätzlich ähnlicher Weise: „Ich war im Geiste“ (Off 1, 10), zum Bezug von pneuma und nous / intellectus s. o. Anm. 588. 1300 Vgl. Ex 2, 23–25 dazu, dass Gott „das Wehklagen“ der Menschen „erhört“. 1301 pac. III, 9; 10, 7–14. 1298 1299
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dass die Entscheidungsfreiheit des Menschen offenbar nicht angetastet werden darf) – allerdings nicht ohne engelhaften Beistand. Dass jeder Religionsvertreter einen solchen Engel zur Seite gestellt bekommt,1302 spricht dafür, dass alle Religionen irgendwie vor Gott repräsentiert und von ihm auch gehört werden.1303 Nur Jerusalem – mit seiner alle drei abrahamitischen Religionen vereinenden Geschichte – kann als Ort für dieses Unternehmen passend erscheinen; gemeint sein dürfte Jerusalem aber nicht nur als geografisch fixierbarer, sondern als geistiger Ort:1304 Die Männer sind, wie erwähnt, „in Ekstase entrückt“, zu derselben „geistig-intellektualen Höhe“ wie der lauschende Visionär – offenbar ist dieser Geisteszustand allein das Tor zu dem Jerusalem, wo sich der interreligiöse Dialog von De pace fidei ereignen kann. 4. Der Beginn des interreligiösen Dialogs im Angesicht von Gottes Logos – der Grieche: Gottes eine Weisheit, Proklos’ Metaphysik und Partizipationstheorem sowie die Elastizität des aristotelischen Möglichkeitsbegriffs Als erstes darf der Älteste der Weisen, ein Grieche, vorsprechen, wobei er zunächst (im Namen aller) ein lobpreisendes Gebet an Gott richtet.1305 Die Praxis, vor einem philosophischen Diskurs zu beten, hat christlich wie platonisch Tradition.1306 Dass der Grieche zuerst sprechen darf, mag die Altertümlichkeit der griechischen Philosophie – wenn man z. B. an den Vorsokratiker Parmenides aus Elea zurückdenkt1307 – symbolisch unterstreichen. Wie Paulus im ersten Korintherbrief ausführt, sind es gerade die Griechen, „die Weisheit suchen.“1308 Da es zunächst um die zuvor schon in der Rede des „Fleisch gewordenen Logos“ angeschnittene Frage der „einen Wahrheit“ gehen wird, erscheint auch von der Thematik her der Grieche für diese Frage wie prädestiniert.1309 Diese Angelologie geht auf Dionysius Areopagita zurück (s. o. Kap. V.c2). Der Respekt vor anderen Religionen, auch wenn diese „nicht gut“ anmuten sollten, entspricht einem ebenfalls bereits bei Dionysius Areopagita belegten Ethos (epist. 6, 1–2). Vgl. Ranff (2013: 47). – Für Cusanus sind die „nichtchristlichen Religionen […] also nicht einfach menschliche Erfindungen oder Teufelswerk, wie die meisten Zeitgenossen des Cusanus, viele scholastische Theologen und auch Reformatoren wie Martin Luther annahmen. Alle Religionen fußen auf der gemeinsamen Menschennatur“ (Euler [2012: 220]; ähnlich ders. [2014 b: 75]). „Gott sorgt demnach für alle Regionen und Religionen gleichermaßen […]“ (Riedenauer 2007: 175). Vgl. ebenso Berger (2004: 512). 1304 Vgl. Euler (2012: 227–8) und Hollmann (2014: 79). 1305 pac. IV, 10; 11, 2–4. 1306 Zu Augustinus, lib. arb. s. Drews (2009: 31–36). Vgl. auch den Beginn von Proklos’ Parmenideskommentar: „Ich bete zu allen Göttern und allen [sc. Göttinnen], dass sie meinen Intellekt leiten zu der anliegenden Schau“ (in Parm. 617, 1–3). 1307 S. o. Kap. II.1. Natürlich würde diese Altertümlichkeit historisch besehen z. B. vom Alter der ägyptischen oder indischen Kultur überboten. 1308 1 Kor 1, 22 b. 1309 pac. III, 8; 10, 4 (s. o. Kap. V.c3). – Die „Zusammensetzung des Weisenrates […] verdankt sich […] wohl dem Bestreben des Cusanus, gewisse Differenzierungen verschiedener Glaubensrichtungen anzudeuten: innerchristliche Denominationen wie Hussiten, Nestorianer, Ortho1302
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In seinem Gebet bittet er im Namen aller um Unterweisung, wie denn die Vielheit der Religionen einvernehmlich „durch uns [sc. hier versammelte Menschen]“ zu einer Einheit geführt werden könne. Realistischerweise bezweifelt er, dass irgendein Volk „durch unsere Überredungskunst“ einen anderen Glauben „akzeptieren“ werde, als den, welchen es bislang bis aufs Blut verteidige.1310 Darauf antwortet der Logos im Sinne der Grundintention von De pace fidei, dass die Versammelten „keinen anderen Glauben, sondern denselben einzigen überall vorausgesetzt finden“ werden. Die hier anwesenden Weisen seien doch „Philosophen bzw. Liebhaber der Weisheit“. Nicht nur der Grieche, sondern alle Anwesenden bekennen, dass sie nicht an dem Sein der Weisheit zweifelten.1311 Der Logos fügte hinzu: ‚Es kann nur eine Weisheit sein. Denn wenn es möglich wäre, dass viele Weisheiten sind, wäre es notwendig, dass jene von der einen her sind. Denn vor aller Vielheitlichkeit ist die Einheit‘ (pac. IV, 11; 11, 19–21).
Damit setzt der Logos in Person die Diskussion auf höchster metaphysischontologisch-prinzipientheoretischer Ebene in platonischem Gewand und mit ‚argumentativer Lichtgeschwindigkeit‘ fort: Ist das Sein der Weisheit, d. h. das intelligibel-eidetische Sein als Inhalt der Weisheit, zugestanden und die Weisheit somit als konkrete Fülle eidetischen Seins1312 erwiesen, dann gilt von der allgemeinen Prämisse her, die Proklos detailliert erläutert,1313 dass Vielheit immer schon Einheit voraussetzt, nicht aber umgekehrt Einheit Vielheit (Einheit also Prinzip von Vielheit ist), dass sich (potentiell) viele Weisheiten von einem Prinzip der Weisheit ontologisch herleiten müssen. Ist auch dies zugestanden, dann ist erwiesen, dass das Prinzip von Weisheit eines ist, also die höchste und erste Weisheit als Prinzip aller potentiellen Weisheiten in sich selbst eine sein muss. Wesentlich ist dabei, dass die Rede von der „einen Weisheit“ eben nicht meint, dass eine Singularität einfach verabsolutiert würde (nach dem Motto: Goethe und Schiller sind deutsche Dichter, also sind die Deutschen ein Volk von lauter Dichtern). Gemeint ist vielmehr, dass jede Vielheit sowohl als ganze wie auch in ihren Einzelteilen bereits Einheit voraussetzt: Es ist unmöglich, eine Vielheit aus Einheiten ohne das vorausliegende Prinzip der Einheit zu denken, weil jede Vielheit in ihrem Sein als genau diese Vielheit in ihrer Ganzheit eine bestimmte Einheit ist und weil jedes einzelne Element bzw. Moment einer solchen Vielheit doxe und Monophysiten (Bohemus, Caldaeus, Graecus, Armenus) sowie auch innerislamisch Sunniten und Schiiten (Arabs – Persa – Turkus, die Rolle des Tartaren ist zweifelhaft). […] Gleichzeitig könnte die Wahl nationaler Bezeichnungen darauf hindeuten, daß sich Nikolaus der kulturellen Einbettung jeder Glaubensrichtung bewußt wird“ (Riedenauer 2007: 98–99). Berger / Nord (2002: 125, Anm. 80) vermuten in dem „Tartarus“ einen Mongolen. 1310 pac. IV, 10; 11, 5–10. 1311 pac. IV, 10; 11, 11–18. Zur Stelle vgl. Reinhardt (2008: 46) und Resch (2014 b: 176). 1312 Zum platonischen Eidos-Begriff s. o. die Kapitel II.2–III. – Zu Cusanus’ Weisheitsbegriff(en) vgl. Yamaki (2008: 11–13); zur „mannigfaltigen“ Partizipation an der einen göttlichen Weisheit „in der Welt“ ibd., 16. 1313 S. o. Kap. III.d.
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nur in Form einer bestimmten Einheit es selbst zu sein vermag. Das Eine ist also das Prinzip für komplexe wie auch für partikulär-singuläre Einheit. Wenn daher Weisheiten bestehen als partikulär-kontrakte Formen von Weisheit, dann sind sie gemäß Cusanus Teil einer sie komplexiv umschließenden, vorausliegenden Einheit, wie analog auch das intelligible Eidos ‚Dreieck‘ das vorausliegende, die Totalität der Möglichkeiten, Dreieck zu sein, umfassende Einheitsprinzip ist, von dem alle Einzeldreiecke, insofern sie Instanzen dieses eidetischen Seins sind, abhängen.1314 Die so verstandene, komplexive eine Weisheit ist Weisheit genau deshalb, weil sie sich auf das wahre Sein aller in Einheit umfassten eidetischen Sachbestimmtheiten bezieht bzw. mit ihr identisch ist. Der Sache nach entspricht die Weisheit in diesem Sinne dem seienden Einen bei Plotin,1315 dem Prinzip ‚Sein‘ bei Proklos1316 bzw. dem göttlichen Logos als „Inbegriff aller Vernunftgründe des Seins“ im Sinne der oben behandelten christlichen Autoren.1317 Der integrative, im Dialog verbindende Zug des auf den ersten Blick schroff wirkenden Arguments des Logos besteht also gerade darin, dass möglicherweise viele verschiedene rationale Weisheiten auf der höheren Ebene des intelligiblen Seins, welches nicht mehr die Ratio, sondern nur der Intellekt bzw. die göttliche Intelligenz in einem komplexiven Einheitsblick zu erschauen vermag, in einem Einheitsprinzip der Weisheit zusammenfallen im Sinne der cusanischen coincidentia oppositorum.1318 Die vielen Religionen, insofern sie wahrhaftige 1314 S. o.
Kap. V.c1 sowie II.5 b und III.c. Kap. II.5 c. 1316 S. o. Kap. III.d 1317 S. o. Anm. 1276. Cusanus selbst versteht andernorts den Logos als „Inbegriff aller Vernunftgründe des Seins“ so, dass der Logos im absoluten Sinne eine eidetische Form ist und die Vielheit der verschiedenen eidetischen Formen nur bestehe, insofern sie kontrakte, partikuläre Formen sind (doct. ign. II, 9, 148–9). 1318 Vgl. doct. ign. I, 4, 12 (s. o. Anm. 1252 und 1141). Riedenauer (2007: 357–8) unterstreicht zu Recht: De pace fidei „konsequent auf der überrationalen Ebene zu lesen, erlaubt, das Mißverständnis, er wolle eine Universalreligion als Patentlösung für alle einrichten, zu vermeiden.“ D. h., die von allen Religionen implizit, ohne sie zu wissen, vorausgesetzte Weisheit und Wahrheit ist als rein intelligible jeglicher Tendenz, eine Einzel-Wahrheit oder Einzel-Religion innerhalb der irdischen Realität zu verabsolutieren, entzogen: Die göttliche, rein (oder auch über‑)intelligible Wahrheit kann nur intellektual geschaut werden (vgl. Anm. 322) und verbleibt auf der Ebene des entrückten, absoluten Intellekts (s. o. Kap. V.c1). Bezeichnend ist dabei jedoch ferner, dass das Werk mit einer „Eintracht im Himmel der Ratio“ bzw. „einer Eintracht der Ratio im Himmel“ (in caelo rationis concordia, pac. XIX, 68; 62, 19; s. u. Kap. V.c20) schließt. Über dieses Ende ist viel spekuliert worden (Flasch [1998: 380]; Berger / Nord [2002: 149, Anm. 94]; Riedenauer [2007: 89, 155, 358]): Flaschs (ibd.) Interpretation, Cusanus habe „selbst ausgesprochen, daß die Diskussionen seiner Friedensschrift sich auf die ratio-Ebene beschränken, ohne die koinzidentale intellectus-Reflexion zu erreichen“, wurde m. E. zu Recht von Schmitz (2005: 191) widersprochen, weil in der Anlage des Werks ja gerade die von Riedenauer aufgezeigte transrationale Dimension deutlich erkennbar ist. Wäre also nicht vielleicht zu interpretieren, dass sich De pace fidei sehr wohl und gerade auf die intellektuale Eintracht im Intelligiblen bezieht und von daher auch motiviert ist, dass aber gerade die Eintracht, mit welcher die Religionsver1315 S. o.
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Religionen sind und in irgendeiner erkennbaren Form Weisheit ‚transportieren‘, könnten aus dieser prinzipientheoretischen Perspektive als Teil der einen, komplexiven Weisheit Gottes verstanden werden. Dies ist zumindest der erste, in sich schon höchst voraussetzungsreiche Zugriff, den der Logos zum Erweis der einen wahren, in allen Einzelreligionen implizit vorausgesetzten Religion vorschlägt; ob er deshalb für alle x-beliebigen Religionen tatsächlich tragbar und gültig wäre, ist damit gleichwohl nicht entschieden. Nicht unwichtig erscheint indes, dass bereits der Kirchenvater Augustinus in seinem Frühwerk in ähnlicher Weise wie Cusanus erwägt, dass in dem einen „Licht der Weisheit“ (lux ipsa sapientiae) die vielen Seelen möglicherweise Unterschiedliches, ja so viele Weisheiten sehen könnten, wie es auch Seelen gebe.1319 Auch hier ist also der platonische Gedanke von der einen Weisheit als umfassendes Prinzip einzelner Weisheiten, die je nach Erkenntnisbegabung und ‑haltung von verschiedenen rationalen Seelen erfasst werden können, greifbar. Auf die inhaltsschwere Antwort des Logos erwidert der Grieche: ‚Niemand von uns bezweifelt, dass eine Weisheit ist, die wir alle lieben und deretwegen wir Philosophen genannt werden; durch Partizipation an ihr sind viele Weise, wobei die Weisheit selbst einfach und ungeteilt in sich verharrt‘ (pac. IV, 11; 12, 1–4).
Mit dieser Zustimmung konzediert der griechische Weise gewissermaßen die entscheidende Prämisse, auf welcher De pace fidei insgesamt aufruht. Ebenso entscheidend ist, sich an dieser Stelle zunächst zu vergegenwärtigen, dass Cusanus ein fiktives Werk schreibt, welches aber, wie oben dargelegt,1320 als seinen ‚Ort‘ die platonisch verstandene Wirklichkeit der intelligiblen Ideen bzw. die geistige Wirklichkeit des christlichen Gottes1321 hat. Dieser ontologisch-epistemologisch begründete Rahmen ist zu bedenken, um die Qualität der Zustimmung des Griechen genau zu bestimmen: Es kann also gar nicht darum gehen, ob ein empirisch benennbarer Grieche mit einem entsprechend philosophischen Hintergrund tatsächlich diese Antwort gegeben hat oder doch zwangsläufig geben müsste. Einer solchen Fragehaltung würde Cusanus vielleicht entgegnen, dass sie nach einem kontingenten, nicht vorhersagbaren Geschehen fragte, um welches es ihm gar nicht geht. Entscheidend ist vielmehr, dass ein platonisch denkender Grieche sein d’accord geben könnte, denn die Möglichkeit, dass er dies täte, ist sachlich konkret begründet. In Bezug auf diesen Möglichkeitsbegriff erscheint treter wieder zu ihren Völkern entlassen werden, eine rationale sein muss, insofern das Intelligible nie in Reinform, sondern bestenfalls auf rationale Weise im Irdischen entfaltet werden kann? 1319 Augustinus, lib. arb. II, 106–109 (s. o. Kap. IV.4 a, mit Anm. 792). Zu dem ‚international-multiethnischen‘ Konsens in Bezug auf Gott als Schöpfer und Quell der Weisheit sowie Erkenntnis bei Augustinus, civ. VIII, 9 als Vorläufer für Cusanus’ Konzeption, viele Weise aus unterschiedlichen Ländern und Geistestraditionen vor dem Hintergrund der gemeinsam angenommenen und intendierten Weisheit Gottes zu vereinen, s. Piaia (2008: 40). 1320 S. o. Kap. V.c1. 1321 Vgl. Rö 1, 20; Jh 4, 24; 1 Jh 5, 6 b (s. o. Kap. IV.2.2 a mit Anm. 588).
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De pace fidei somit in einer gewissen Nähe zu Aristoteles’ Dichtungskonzeption zu stehen, insofern Dichtung auf ein bestimmtes Mögliches, „was sich so ereignen könnte“,1322 zielt, nicht aber – wie die Geschichtsschreibung – auf ein tatsächlich geschehenes Faktum rekurriert. Diese vielleicht etwas subtil wirkende Unterscheidung zwischen ‚könnte so antworten‘ einerseits und ‚müsste auf jeden Fall so antworten bzw. geantwortet haben‘ andererseits hat deshalb so viel Gewicht, eben weil es um einen inter‑ religiösen Dialog geht. Wie im Folgenden auch für die weiteren Responsoren in De pace fidei, gilt hier exemplarisch für den griechischen Weisen, dass ein solcher Grieche so reagieren könnte: Die Kautel, dass damit aber nicht gesagt ist, dass er dies auch tun müsse, stellt nicht nur eine bestimmte Elastizität1323 her, sondern befreit auch von einer ideologischen Vereinnahmung, welche besonders für ein interreligiöses Gespräch gefährlich werden könnte. Ob Cusanus dieser Interpretation selbst zugestimmt hätte, muss vielleicht im Sinne des gerade genannten aristotelischen Möglichkeitsbegriffs ebenso wenig entschieden werden; sein Werk lässt sich indes so interpretieren, weil es fiktiv angelegt ist und bleibt und seine konkrete Wirklichkeit nur vom intelligiblen Zusammenhang her und aus dem werkimmanenten argumentativen Duktus bezieht. Wie oben bereits im Prolog angedeutet, zeigt sich hier also ganz konkret die Stärke speziell der fik‑ tionalen Anlage von De pace fidei.1324 Was aber antwortet der Grieche nun? Die eine Weisheit, deren philosophischen Hintergrund, wie gesehen, Proklos’ platonische Einheitsmetaphysik bildet, könne niemand bestreiten, der sich ernsthaft als ‚Philosoph‘, als Weisheitsliebender bezeichnet. Auch hier gilt wieder: Diese Zustimmung erscheint platonisch plausibel, sie kann aber nicht ideologisch verordnet werden, sondern ihre Zustimmungsfähigkeit liegt im Argument der konkreten, oben skizzierten Einheits‑ und Vielheitsmetaphysik. Dass aber, wie der Grieche freimütig bekennt, „wir alle“ die Weisheit lieben, ist nun ein leicht verständlicher, durchaus plausibler Umstand, wenn man daran denkt, dass nur die besonders Weisen aus allen Nationen zur Lösung der schwierigen Aufgabe geladen sind, die eine Religion in den vielen Religionen aufzuspüren.1325 Bestünde keine Weisheit, könnte es hoia an genoito (Aristoteles, poet. 1451a36–38). S. o. Anm. 1172. Zum Begriff s. o. Anm. 232. 1324 S. o. Kap. I.1. Gemäß der hier vertretenen Interpretation handelt es sich dabei tatsächlich um eine Stärke und nicht eine Schwäche von De pace fidei. Anders jedoch Hösle (2013: 230): „Abelard’s and Cusanus’s dialogues pretend to represent dreams or visions within which dialogues occurred; the ontological status of the dialogue partners is thus, according to the literary text itself, somehow deficient.“ 1325 Es darf bezweifelt werden, dass die Weisen im Sinne einer bevorzugten „intellektuellen Elite“ und somit als „nicht autorisierte Vertreter ihrer Religionsgemeinschaften“ (Riedenauer 2007: 92) zu verstehen sind. Cusanus geht es kaum um die Bevorzugung einer Minderheit, sondern, wenn man den Rahmen von De pace fidei ernst nehmen will, darum, zunächst die dafür besonders geeigneten Menschen zu einer intellektualen Einheitserkenntnis zu führen; von diesem Wissen aus könnten die Weisen ihre Gemeinschaften dann anleiten, beraten etc. D. h., 1322 1323
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auch keine ‚Weisheits-Liebhaber‘, keine Philosophen im Wortsinn geben, die sie zu ergründen suchen, und ihr Bemühen liefe ins Leere. Auch diese Implikation erscheint wiederum nur dann plausibel, wenn zuvor überhaupt intelligibles Sein zugestanden, d. h. wenn das eidetische Sein grundsätzlich erkannt ist.1326 Entsprechend bedarf die Lektüre von De pace fidei einer umfangreichen Klärung der sachlich-philosophischen Voraussetzungen des Werks, die zu leisten in den vorangegangenen Kapiteln dieses Buchs versucht wurde. Ist aber intelligibles Sein als Bedingung der Möglichkeit von Weisheit und Wahrheit1327 sowie die Prinzipienhaftigkeit des Einen gegenüber allem Vielen konzediert, dann ist auch der Rückschluss auf „die eine Weisheit“1328 nur konsequent. Die vielen Weisen als Weisheitsliebhaber begründen somit schon ein ontologisch-prinzipientheoretisches Abhängigkeitsverhältnis der vielen Weisen im Verhältnis zu der einen Weisheit. Genau dies erläutert der Grieche mit dem (neu‑)platonischen Partizipationsgedanken: Damit zeigt sich nun auch expressis verbis die Relevanz des Partizipationstheorems für den interreligiösen Dialog.1329 Denn wenn die unterschiedlichen Religionsvertreter bei Cusanus qua ihres Status als Weise und Philosophen doch gemeinsamerweise an der einen Weisheit partizipieren, dann ist hier der partizipationslogische Konnex von verbindender Einheit (Teilhabe an einem Selbigen) und gleichzeitiger Verschiedenheit (die Teilhabenden sind untereinander verschieden) gegeben, den Cusanus andernorts mit der Teilhabe an einem Selbigen in der Andersheit begründet.1330 Dabei „verharrt“ die Weisheit selbst als Prinzip aller Weisheit(en) und Weisen in transzendenter Einfachheit und Ungeteiltheit. Genau damit ist nun die entscheidende Voraussetzung etabliert, auf welcher De pace fidei insgesamt aufruht: Denn sobald die eine Weisheit als Quell der Weisheit für alle Weisen aufgezeigt und akzeptiert ist, führt ein direkter Weg von dieser prinzipienhaften sapientia Gottes als implizitem Urgrund aller wahrhafdiese sog. „Elite“ ist gerade nicht die einzig ‚zum Heil berufene Minderheit‘, sondern hätte den Auftrag, in ihrem jeweiligen politischen Verbund integrativ-moderierend zu wirken, gerade weil die Wahrscheinlichkeit, „die meisten Menschen mit seinem [sc. Cusanus’] Verständnis zu überfordern“ (ibd., 458), sehr hoch ist. 1326 S. dazu. Kap. II.5 b und III.c–d. 1327 S. o. Kap. V.b. 1328 Dupré (1967: 719) übersetzen: „Keiner von uns zweifelt daran, daß es nur eine Weisheit ist […].“ Das „nur“ erscheint gegenüber dem lateinischen Original (pac. IV, 11; 12, 1–2) ‚nur‘ eine winzige Ergänzung, könnte aber das Missverständnis begünstigen, als ob eine singuläre Weisheit keine anderen Weisheiten dulde. Gemeint ist ja aber gerade, dass die eine Weisheit inklusives Prinzip der vielen Weisheiten und Weisen ist. Für einen interreligiösen Dialog erscheint diese philologische Nuance nicht unerheblich. Ähnliches gilt für Duprés (ibd.) Übersetzung von unam esse simplicissimam sapientiam (pac. IV, 11; 12, 5–6): „[…] daß die einfachste Weisheit eine einzige sei“. Mit „einzige“ erscheint die komplexive Einheit der absoluten Weisheit möglicherweise wie eine bloße Singularität, als wenn etwas Partikuläres zum Absoluten erhoben würde. Dies wäre aber gerade das Gegenteil zu Cusanus’ Argumentation. 1329 Vgl. Riedenauer (2007: 93). – Zum Partizipationstheorem bei Cusanus s. o. Kap. V.b. 1330 S. o. Kap. V.b zu coni. I, 11, 54–56.
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tigen Religionen zu der einen in allen wahrhaftigen Religionen vorausgesetzten, wahren Religion. Diese Seite des Arguments stellt die platonisch-ontologisch begründete Dialogfähigkeit von De pace fidei dar. Die zweite Seite dieser ‚Medaille‘ ist zugleich, dass diese eine Weisheit Gottes gemäß christlicher Perspektive Gottes Logos im Sinne der zweiten trinitarischen Person, d. h. Christus ist. Damit erscheint die christliche Religion zwar privilegiert; nicht übersehen werden sollte aber zugleich, dass gemäß Cusanus – prinzipiell ähnlich wie bei Origenes1331 – die nicht-christlichen Religionen auf eine bestimmte, verborgene Weise Christus kennen, also aus Cusanus’ christlicher Perspektive gerade nicht grundsätzlich ausgenommen oder ausgegrenzt sind vom Wahrheitsanspruch der christlichen Religion. Dies mag vereinnahmend wirken, entspricht aber gemäß der inneren Logik des Werks der christlich-soteriologischen Dialogfähigkeit von De pace fidei.1332 Für Cusanus wäre ein interreligiöser Dialog offensichtlich in einem luftleeren, areligiösen Raum gar nicht möglich: Sonst würde er den Dialog von De pace fidei nicht im Angesicht Gottes und seines Logos stattfinden lassen. Nimmt man diese Anlage des Werks ernst, dann ist Cusanus’ eigene religiös-philosophische Perspektive zwar nicht zu verkennen; es geht ihm offenbar jedoch gerade darum, aus dieser konkreten religiösen Perspektive heraus eine bestimmte Dialogfähigkeit hin zu anderen Religionen zu begründen.1333 Interreligiöser Dialog kann für Cusanus also nicht bedeuten, die eigene Religion um des Dialoges willen außen vor zu lassen,1334 sondern in und mit ihr Wege des Dialogs zu suchen und zu bestrei1331 S. o.
Kap. IV.3 a und b. Vgl. Schick (2013: 281): „Bei Cusanus […] ist nicht so sehr die christliche Religion, als vielmehr der christliche Logos selbst der aller rituellen Vielfalt zu Grunde liegende Vernunftgrund. Gerade der trinitarisch verfasste Gott, die Inkarnation des Wortes Gottes, der Kreuzestod und die Auferstehung sind es, die die Vielfalt der Riten erst verständlich und im Gegensatz zur Religionskonzeption der Aufklärung zugleich positiv bewertbar machen: als je unterschiedliche Brechungen, in denen sich das Absolute dem Endlichen offenbart. Erst die spekulative Durchdringung der eigenen Religion auf ihren eigenen Vernunftgrund hin erlaubt es Cusanus, die anderen Religionen als partielle Offenbarungen dieser Wahrheit zu deuten.“ Eine solche Deutung ruht freilich wiederum der Sache nach maßgeblich auf dem Partizipationstheorem auf, gemäß welchem „partielle Offenbarungen“ überhaupt als in einem Verhältnis zu einer absoluten Wahrheit stehend verstanden werden können. Dazu, dass Cusanus „die Vernünftigkeit der Glaubensinhalte zum Kriterium der Interpretation einer Heiligen Schrift“ mache und nicht Autoritätsargumente oder eine Autorintention, s. ibd., 282–3. 1333 S. o. Kap. V.c1. Daher zielt Hösles (2013: 231–2) Kritik – so ‚plausibel‘ sie aus (post‑)moderner Perspektive erscheinen mag – wohl doch am Selbstverständnis von De pace fidei vorbei: „[…] the naïveté consists far more in the fact that the frame of his dialogue already presupposes the truth of Christianity – even if in the course of the dialogue he tries to give rational arguments for the Christian position.“ 1334 Dies erscheint durchaus als ein nicht unwesentlicher Unterschied zu bestimmten modernen Konzeptionen des interreligiösen Dialogs, etwa bei John Hick (vgl. von Stosch [2006: 313–320] und Valkenberg [2014: 31]), wenngleich Hick zumindest der Sache nach noch entfernt auf den (platonischen) Primat des Einen vor dem Vielen als Prinzip seines pluralistischen Religionsverständnisses zurückzugreifen scheint: „Hicks pluralistische Hypothese besteht also 1332
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ten. Dieses Vorgehen könnte – möglicherweise – auch exemplarischen Charakter für andere Religionsvertreter haben, die aus ihrer Perspektive einen dialogischen Ausgriff auf für sie fremde Religionen versuchen könnten.1335 Perspektivität zu bewahren und Dialog zu wagen, sind zumindest zwei wesentliche Koordinaten für eine platonisch-christlich begründete interreligiöse Verständigung, wie sie Cusanus vor‑ und auch schon Origenes in gewisser Weise vorwegnimmt. Dabei geht es, postmodern formuliert, nicht um die ‚Machbarkeit einer neuen Religion‘, denn gerade das grundsätzliche Bewahren der eigenen Perspektive, von der aus‑ gehend fremde Perspektiven erwogen, auf ihre Anschlussfähigkeit oder auch fruchtbare Bereicherung und Erweiterung des eigenen Blickwinkels hin befragt werden, steht dem Entwerfen einer ‚neuen Religion‘ oder eines ‚Religionscocktails‘ entgegen.1336 Der Logos resümiert die Eintracht, mit der alle Weisen die „eine, einfachste Weisheit“ bekennen, „deren Vermögen unaussprechlich sei“.1337 Auch hier erscheint die Metaphysik eines Proklos präsent: Die Seinsfülle der intelligiblen Ideen ist so groß, dass Partizipationsweisen immer nur Teilverwirklichungen, ‚Brechungen‘ dieser Seinsfülle darstellen können.1338 Bei Proklos selbst steht zwischen dem Bereich des (intelligiblen) Seins und der Seienden einerseits und dem unpartizipierbaren, absoluten Einen (hen) andererseits das partizipierbare Eine (Grenze, peras), welches sich in überzeitlicher Weise durch die unbegrenzte Zweiheit (Nicht-Grenze, apeiria) hindurch als Vielheit der Henaden entlädt: Dem Prinzip Nicht-Grenze (apeiria) kommt dabei zu, das unendlich-unbegrenzte Urvermögen schlechthin zu sein, welches sich im Bereich des Seins, d. h. in der vermögenden Seinsfülle der Seienden als partizipierte Unbegrenztheit spiegelt.1339 Die Differenzierung zwischen über‑ bzw. vorseienden und im Kern in der Behauptung, dass das Wirkliche an sich ein einziges ist, das aber von den verschiedenen religiösen Traditionen authentisch auf verschiedene Weise erfahren wird“ (von Stosch 2006: 316). Zum Problem, dass dieser Ansatz „alle Religionen als gleichberechtigt erscheinen lässt“ und daher ihren spezifischen Wahrheitsanspruch zu beschneiden droht, s. ibd., 318–320. 1335 Vgl. in dieser Hinsicht Riedenauer (2007: 502) zu dem Erfordernis, „anderen Interpretationen analoge inklusive Deutungen zuzugestehen. Auf der vom Perspektivismus eröffneten Metaebene widerspricht dies nicht dem eigenen Wahrheitsanspruch, es nimmt vielmehr auch den Anderen ernst als partikular universalisierendes Vernunftwesen, der in seinem Horizont je seine Perspektive zu erweitern und positiv zu relativieren versucht […].“ 1336 Vgl. Berger / Nord (2002: 17): Cusanus wolle „keine konkrete Universalreligion, kein Esperanto des Glaubens, etablieren. […] Der Cusaner will um des notwendigen Friedens willen das Gemeinsame vertiefen.“ Vgl. Schick (2013: 274): „Dieser Grundgehalt [sc. der einen Religion] ist nun keine neue Einheitsreligion, sondern die Präsupposition aller Religionen […].“ 1337 pac. IV, 11; 12, 5–6. 1338 Proklos, in Parm. 859, 7–22 (s. o. Kap. III.c). 1339 S. o. Kap. III.d. Vgl. Cusanus’ Dionysius‑ und Proklos-Referat über die Prinzipien primum [sc. unum], finis / finitum und infinitas / infinitum (vgl. D’Amico 2007: 39) und das aus ihnen gemischte Seiende, wobei Cusanus dem Einen noch das Nicht-Andere vorausliegen lässt (ven. sap. 21, 59; ebenso 29, 88). Zum Begriff des Nicht-Anderen s. u. Anm. 1496.
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seienden Prinzipien fällt bei Cusanus gemäß der christlichen Identifizierung des absoluten Seins mit Gott selbst zwar gleichsam zusammen, beschneidet aber nicht das grundsätzliche Argument dieser neuplatonischen Metaphysik, das sich im paganen wie christlichen Gewand zu zeigen vermag: Boethius und Dionysius Areopagita hatten gleichermaßen das christliche Verständnis Gottes als des absoluten Seins mit dessen pagan-neuplatonischer Überbietung auf das überseiende Eine hin (im Sinne des absoluten, höchsten Gottes) als kompatibilisierbar angesehen, beide Interpretationen und Theologien als miteinander vermittelbar betrachtet.1340 Das unermessliche Vermögen der „einen, einfachsten Weisheit“ zeige sich, so der Logos weiter, in der Schöpfung: Der Sehsinn (und analog jeder andere Sinn) erkenne in Rückwendung auf die sichtbaren Dinge, dass diese aus dem Vermögen der Weisheit hervorgegangen seien.1341 Damit wird nicht nur die sichtbare Schöpfung in ihrer prinzipiell guten Anlage unterstrichen,1342 sondern auch eine Analogie zur absoluten Wahrheit entworfen, welche den Seienden ihr spezifisches Sein zuteile:1343 Beide, absolute Weisheit und Wahrheit, erscheinen bei Cusanus identisch und als Gott zugehörig. Der griechische Weise bestätigt die Schönheit der physischen Schöpfung, des harmonisch gefügten menschlichen Körpers und darüber hinausgehend die Schönheit des rationalen Geistes (spiritus rationalis) als Werke der (absoluten) Weisheit.1344 Dieser rationale Geist des Menschen sei „gleichsam ein kleines Zeichen der Weisheit, in welchem über alles hinaus wie in einem nahen Abbild die ewige Weisheit widerstrahlt, wie die Wahrheit in ihrer benachbarten Ähnlichkeit!“1345 Der Mensch ist Abbild von Gottes Weisheit und Wahrheit, wie es im ersten Schöpfungsbericht heißt (Gen 1, 271346); seine natürliche rationale Begabung war, wie erwähnt, bereits gemäß Thomas von Aquin die wesentliche Basis der grundsätzlichen Verständigungsmöglichkeit über Religionsgrenzen hinweg.1347 Als Abbild von Gottes absoluter Weisheit gewinnt der Mensch an dieser Anteil über eine „benachbarte Ähnlichkeit“, die sowohl bei Cusanus wie auch schon bei Thomas von Aquin sowie Augustinus als grundsätzlicher Modus geschöpflicher Partizipation an der für sich selbst unpartizierbaren göttlichen Wahrheit und Weisheit erschien.1348
1340 S. o. Kap. IV.6 und IV.5 a. Vgl. Cusanus’ Dionysius-Referat über das „supersubstantiale“ in ven. sap. 18, 52. 1341 pac. IV. 11; 12, 7–11. 1342 S. o. Kap. V.c3. 1343 S. o. Kap. V.b zu ber. 16, 18. 1344 pac. IV, 12; 12, 14–20. 1345 pac. IV, 12; 12,20–13,2. 1346 Zur Stelle vgl. Origenes’ Deutung (s. o. Kap. IV.3 b). 1347 S. o. Kap. IV.8. 1348 Zu Augustinus, div. qu. 46 s. o. Kap. IV.4 c, zu Thomas Kap. IV.8, zu Cusanus Kap. V.b und V.c2.
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Das eigentlich Wunderbare sei aber, so der Grieche weiter, dass dieser „Widerschein der Weisheit“ sich durch die „Hinwendung / Bekehrung“ (conversio) des rationalen Geistes mehr und mehr der Wahrheit annähere1349 und so der „wahren Weisheit gleichartiger“ werde, obwohl „die absolute Weisheit nie, wie sie ist, in einem anderen [sc. sie Erkennenden] berührbar1350 sei.1351 Damit gibt der Grieche die aus De coniecturis bekannte Erkenntnistheorie und Ontologie sachlich und wörtlich wieder:1352 Die absolute Weisheit bzw. Wahrheit verharrt unpartizipierbar und uneinholbar so, wie sie ist. Der geschaffene Intellekt vermag sich jedoch immer mehr ihr anzunähern, auch wenn er das Absolute, wie es von sich selbst her ist, im Letzten nicht einfach ‚ergreifen‘ oder erkennend ‚berühren‘ kann. Dies hat bei Cusanus aber weder Skeptizismus1353 noch Vergeblichkeit der Erkenntnisbemühungen zur Folge, da auch eine Annäherung an das letztlich als es selbst Uneinholbare in positiver Weise eine Nähe zu Gott (wie dem Licht, von dessen Licht alle Beschienenen zehren1354) ermöglicht. Von dieser Annäherung nährt sich der menschliche Intellekt als seiner „intellektualen Speise“,1355 weil ihm diese von der ewigen, absoluten Weisheit, welche in ihrem unendlichen Vermögen „unausschöpflich“ ist, geschenkt wird.1356 5. Der Italer: Der Dialog der Weisen mit der von ihnen vorausgesetzten göttlichen Weisheit Der Logos lobt die Antwort des Griechen im Hinblick auf das Anliegen, die eine, in allen Religionen implizierte Religion zu ergründen: Die versammelten Weisen setzen gemeinsam ein Eines voraus, das sie „Weisheit“ nennen. Die sich anschließende Frage ist, ob diese Weisheit alles enthalte, was „gesagt werden kann“.1357 Als zweiter Weise, der in den Dialog mit dem göttlichen Logos tritt, antwortet der Italer, dass kein Wort außerhalb der Weisheit sei. Damit ist indes keine x-beliebige sprachliche Rede, sondern das Wort des „höchsten Weisen“ 1349 Das lateinische Verb accedit fällt im gleichen inhaltlichen Zusammenhang der Annäherung des menschlichen Geistes an Gottes Weisheit / Wahrheit nicht nur bei Cusanus (coni. I, 11, 56; s. o. Anm. 1134), sondern auch schon bei Thomas von Aquin, ScG I, 2; 4–6 (s. o. Kap. IV.8). 1350 Zu attingo / attingibilis im erkenntnistheoretischen Kontext vgl. Anm. 1137. 1351 pac. IV, 12; 13, 2–6. 1352 S. o. Kap. V.b zu coni. I, 11, 54–56. 1353 Eine Art Skeptizismus könnte z. B. dann resultieren, wenn eine sinnvolle Differenzierung zwischen Gott und Welt nicht mehr möglich erschiene, Welt und Gott also als letztlich identisch erachtet würden (Pantheismus), somit auch eine Theodizee (jedenfalls im platonischen Sinne, s. o. Kap. III.g sowie Anm. 779, s. u. Kap. VI.2) nicht mehr durchführbar wäre. Zu diesen potentiellen Konsequenzen im Rahmen bestimmter Schwierigkeiten bei der Eriugena-Interpretation s. o. Kap. IV.8 (mit Anm. 1033 und 1034). Zur Widerlegung des Pantheismusvorwurfs gegenüber Cusanus vgl. Rohstock (2014: 99 f.). 1354 Vgl. oben Anm. 1037. 1355 Vgl. pac. II, 7; 9, 10–11 (s. o. Kap. V.c3 mit Anm. 1275). 1356 pac. IV, 12; 13, 6–8. 1357 pac. IV, 12; 13, 9–12.
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gemeint, welches „in der Weisheit“ sei, und in dem „Wort die Weisheit“. Denn alles werde „von der unbegrenzten Weisheit umfasst“.1358 Wie schon oben angedeutet, wird die christlich-platonische Stoßrichtung hier erneut explizit: Die immer schon vorausgesetzte eine Weisheit als komplexiver Inbegriff alles Weisen, aller Inhalte von Weisheit ist platonisch die Gesamtheit der intelligiblen Ideen, die Totalität des seienden Einen, des Nous in Plotins Sinne bzw. christlich die in Gottes Logos / Geist / Intellekt geeinte Seinsfülle z. B. gemäß Origenes, Augustinus oder Thomas von Aquin.1359 Insofern führt der Aufweis der implizit von allen Weisen vorausgesetzten, komplexiven einen Weisheit über den Primat des Einen vor dem Vielen nicht nur zur geeinten Wirklichkeit der intelligiblen Ideen, sondern auch zur zweiten trinitarischen Person des christlichen, dreieinen Gottes. Dies hat für die Anlage von De pace fidei zwei wichtige Konsequenzen. Erstens wird hier erkennbar, warum der interreligiöse Dialog in Cusanus’ Sinne nur im Angesicht des göttlichen Logos selbst Gestalt gewinnen kann: So vereinnahmend dies wiederum auf den ersten Blick wirken mag – nimmt man den argumentativen Duktus ernst, wird die eine, komplexive Weisheit Gottes von allen Weisen in allen Religionen vorausgesetzt. Von dieser Prämisse her, dass alle also in irgendeiner Hinsicht an ihr partizipieren, muss sich das Denken der Weisen geradezu dieser immer schon implizierten Weisheit selbst zuwenden, um Denken von Weisheit zu sein und so Anteil an Weisheit zu gewinnen. Aus dieser Perspektive ist es dann sogar logisch, dass sich der Dialog der Weisen vor der göttlichen Weisheit als ihrem intendierten Gegenüber gestalten muss bzw. müsste. Dies scheint zumindest der philosophische Grund dafür zu sein, warum Cusanus De pace fidei als Dialog der Weisen mit der Weisheit selbst entwirft – auch hier wird erneut erkennbar, warum ein solches heikles Unternehmen, wenn überhaupt, dann nur innerhalb eines fiktionalen Rahmens angegangen werden kann. Zweitens – und dies muss im Blick auf den nur zu verständlichen, potentiellen Fundamentaleinwand gegenüber Cusanus nochmals wiederholt werden – ist dieser ganze Ansatz von Cusanus’ interreligiösem Dialog ‚vereinnahmend‘ nur in jenem Sinn, dass alle Weisen als Vertreter unterschiedlicher, aber wahrhaftiger Religionen ‚einvernehmlich‘ die eine inklusiv-komplexive intelligible Weisheit voraussetzen oder voraussetzen könnten gemäß dem oben dargelegten aristotelischen Möglichkeitsbegriff:1360 Denn auch dies gehört zur Anlage von De pace fidei dazu, dass alle Religionsvertreter vor den göttlichen Logos treten, also einen Zugang zu ihm gewinnen können, weil sie diesen (zumindest auf verborgene 1358 pac.
V, 13; 13, 14–17.
1359 S. o. zu Plotin (Kap. II.5 c), zu Origenes (Kap. IV.3 a), Augustinus (Kap. IV.4 c), zu Thomas
(Kap. IV.8). 1360 S. o. Kap. V.c1 und V.c4.
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Weise) immer schon implizit voraussetzen, insofern von Gottes Weisheit die Rede ist. Die ‚Vereinnahmung‘ – um diesen widersprüchlichen Begriff noch einmal bewusst zu gebrauchen – durch die absolute Weisheit und den Logos als ihr Inbegriff kann also von ‚oben her‘ überhaupt nur dann ‚funktionieren‘, wenn sie ‚von unten her‘, also von den Religionen und ihren Vertretern, selbst bereits in irgendeiner Weise impliziert ist und auf eine anschlussfähige Grundlage trifft, die eben gemäß De pace fidei in der gemeinsam vorausgesetzten Weisheit besteht. Hier zeigt nicht zuletzt der neuplatonische Gedanke der ‚Geeignetheit‘ seine sachliche Tragweite.1361 Der Logos in Person fragt sodann präzisierend nach, ob ein Unterschied bestehe, wenn der eine sagt, alles sei in Weisheit, der andere, alles im Wort / Logos geschaffen. Dies sei lediglich ein Unterschied in der Ausdrucksweise, jedoch nicht dem Sinn nach1362 – womit der Autor Cusanus seinen Konsens mit den oben genannten christlichen Autoritäten zu erkennen gibt.1363 Auf die schwierige Frage, ob die göttliche Weisheit selbst Gott oder wie gemäß Sprüche 8, 22 Geschöpf sei,1364 erwidert der Italer salomonisch: ‚Da Gott, der Schöpfer, alles in Weisheit erschafft, ist er selbst notwendigerweise die Weisheit der geschaffenen Weisheit. Denn vor jeglichem Geschöpf ist die Weisheit, durch welche jedes Geschaffene das ist, was es ist‘ (pac. V, 14; 14, 3–5).
Seine Antwort ist somit anschlussfähig an beide Interpretationen: Wenn Origenes die Weisheit gemäß Sprüche 8, 22 insofern als „Geschöpf “ begreifen kann, als sie in sich die (eidetischen) Vernunftgründe für die Geschöpfe enthält und sich daher auf Geschaffenes bezieht und in dieser Hinsicht als „Geschöpf “ verstehen lässt;1365 wenn gemäß Eriugena die primordialen Ursachen „von dem Vater in seinem eingeborenen / ein-gezeugten (unigenitum) Wort, d. h. in seiner Weisheit (sapientia) geschaffen“ sind, die Weisheit selbst aber nicht geschaffen (non facta), sondern gezeugt (genita) und Schöpferin (factrix)“ ist;1366 wenn gemäß Augustinus die göttliche Weisheit, der Logos selbst, nur als ungeschaffen zu denken ist in Unterscheidung zu aller davon abgeleiteten Weisheit in den Geschöpfen,1367 dann lassen sich mit der Antwort des Italers alle diese Deutungen differenziert zusammenschauen. Die ungeschaffene Weisheit ist allein Gottes, sie ist selbst Gott und Prinzip aller geschaffenen Weisheit und somit 1361 Zum neuplatonischen Terminus der Geeignetheit (epitêdeiotês) s. zu Proklos Kap. III.c, zu Dionysius Kap. IV.5 b. 1362 pac. V, 13; 13, 18–21. 1363 Neben den in Anm. 1359 angeführten Autoren ist hier auch Eriugena (s. Kap. IV.7) zu nennen. 1364 Vgl. die Diskussion bei Origenes (s. o. Kap. IV.3 a+b) und Eriugena, periph. III, 626 b; 13, 319–322 (s. o. Kap. IV.7). 1365 Origenes, princ. I, 2; 30, 6–9. 1366 Eriugena, periph. III, 635 b–c; 25, 679–685 (s. o. Kap. IV.7 mit Anm. 1051). 1367 S. o. Kap. IV.4 a sowie Anm. 1050.
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als Schöpfungsmittler1368 zu betrachten. Das Prinzip geht dem Prinzipiierten sachlich voraus wie das Unpartizipierte dem Partizipierten.1369 In dieser Hinsicht antwortet daher auch der Logos in Person auf den Italer, dass die Weisheit Gottes, um die es im Dialog ja primär geht, ewig und vor allem „Initiierten und Geschaffenen“, folglich „Prinzip“ sei.1370 Damit ist der Rückbezug gegeben zum Prolog des Johannesevangeliums: „Im Anfang / Prinzip war das Wort / der Logos.“1371 Denn die absolute Weisheit sei „der eine, einfache, ewige Gott, der prinzipienhafte Anfang (principium) von allem.“1372 Das wichtige Ergebnis der Befragung des Italers besteht also darin, dass der Rückschluss von der von allen Weisen in allen Religionen vorausgesetzten, einshaft-komplexiven Weisheit zu dem einen Gott gelingt, wobei erneut der Primat des Einen vor dem Vielen1373 den prinzipiellen Vorrang des absoluten Einen im Sinne des allerhöchsten Gottes philosophisch etabliert. Wie oben bereits erörtert,1374 argumentiert der Autor Cusanus auch hier aus der christlichen Perspektive heraus, um etwas für nicht-christliche Religionen Anschlussfähiges aufzudecken: Die eigene Religion und Theologie wird nicht suspendiert, aber doch so gewendet, dass sie möglicherweise für andere Sichtweisen annehmbar erscheinen könnte. Dies ist wenigstens Cusanus’ Anliegen und Ziel. Aus dem Befund, dass die von allen Weisen der verschiedenen Religionen vorausgesetzte Weisheit Gottes letztlich der Grund ist, weshalb der interreligiöse Dialog von De pace fidei im Gespräch mit der göttlichen Weisheit bzw. mit Christus als Gottes Logos selbst zu führen ist, ergibt sich für die innerchristliche Perspektive ein theologischer Bezug zu Paulus, welcher davon spricht, dass die Gotteserkenntnis sich „im Angesicht Christi“ ereigne:1375 Denn Gott, der sprach: ‚Aus der Finsternis soll Licht hervorstrahlen‘ (Gen 1, 3), ließ in unseren Herzen [sc. sein Licht] hervorstrahlen zur Erleuchtung, auf dass Gottes herrlicher Ruhm (doxa) im Angesicht Christi erkannt werde. Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit das Übermaß der vermögenden Macht sei Gottes und nicht aus uns (Paulus, 2 Kor 4, 6–7).
Aus innerchristlicher Sicht ereignet sich in Christus die ultimative Gottesoffenbarung, d. h. in ihm wird Gotteserkenntnis in eminenter Weise möglich: In Christus tritt der göttliche Logos selbst als Mensch in die Gegenwart der Menschen. Wenn gemäß Cusanus die verschiedenen Religionsvertreter darin einig Zum biblischen Kontext des Begriffs vgl. o. Kap. IV.2.3 b. S. o. Kap. V.b. 1370 pac. V, 14; 14, 6–10. 1371 Jh 1, 1. – Zur Stelle im Zusammenhang mit Origenes’ Exegese s. o. Kap. IV.3 b. 1372 ‚Est igitur sapientia Deus unus, simplex, aeternus, principium omnium‘ (pac. V, 14; 15, 21–22). 1373 S. o. Kap. III.d. 1374 S. o. Kap. V.c3. 1375 Zur folgenden Stelle s. o. Kap. IV.2.2 a. 1368 1369
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sind, dass Gottes Weisheit ist und kein sachlicher Unterschied zwischen ihr und dem Logos („Wort“) Gottes besteht und dass das zwischen verschiedenen Religionsvertretern vermittelnde Gespräch in dieser Logos-Weisheit ein gemeinsames Zentrum hat und folglich in der Orientierung auf Gottes Logos-Weisheit hin Gestalt gewinnt, so könnte dies – aus innerchristlicher Sicht – als eine Art Paradebeispiel dafür gelten, wie sich im Angesicht des Logos bzw. Christi nicht nur Gotteserkenntnis überhaupt, sondern auch zwischen verschiedenen Religionen vermittelnde Gotteserkenntnis ereignen könnte.1376 Auch hier wirkt der fiktive Rahmen wieder insofern entlastend, als es sich um eine Möglichkeit, nicht aber um eine ‚zwangsläufige‘ Reaktion handelt: Die Fiktion stellt eine Möglichkeit in Aussicht, die nicht verordnet, sondern bestenfalls in freier Erkenntnis ergriffen werden kann. 6. Der Araber: Gottes Weisheit und Gottesbegriff; der Polytheismus und sein Einheitsgrund Als dritter Gesprächspartner des Logos ergreift der Araber das Wort als Vertreter der arabischen Philosophie und des Islams.1377 Er erklärt, dass alle „Menschen 1376 Zum
dichtungstheoretischen Möglichkeitsbegriff nach Aristoteles s. o. Kap. V.c1 und V.c4. – Vgl. Riedenauer (2007: 486): „Letztlich strebt Cusanus immer nach dem maximum. DPF will zu einem Dialog der Transzendenzerfahrung führen (mithilfe des Präsuppositionsprinzips) – und so eigentlich zu einem Hören auf das Sprechen des Absoluten.“ 1377 Zu Cusanus’ „great interest in Islam, even early in his career“ s. Watanabe (2014: 9) sowie Euler (2014: 20–21). „Cusanus recommended that, in the Qur’an, one should pay attention only to the teachings that are more agreeable to the Christian gospel and harmonious with the writings of the New and Old Testaments“ (Watanabe [2014: 15], vgl. cribr. I, 6, 41): Dies gelte auch angesichts kritisch-polemischer Passagen in der Cribratio Alkorani, denn auch dort finde sich Cusanus’ Theologie der Liebe (ibd., 18). Zu Cusanus’ Cribratio als einem „dialogic work“ vgl. Levy / George-Tvrtkovič / Duclow (2014 b: 5) und als „peaceful approach to the problem of religious pluralism“ vgl. Alfsvåg (2014: 63). Zum Problem, ob Cusanus mit dieser Methode dem Koran nicht jegliches Eigenrecht von vornherein nehme, vgl. unten Anm. 1536. Euler (2014 b: 85) geht erstaunlicherweise so weit zu sagen: „Wenn man [sc. heute, im 21. Jhd.] wirklich Islamtheologie betreiben will, also ein reflektiertes christliches Verständnis der Religion der Muslime (über die reine religionsphänomenologische Deskription hinaus) anstrebt, dann muss man auch christliche Maßstäbe an den Islam anlegen, da es für die christliche Theologie keine anderen Maßstäbe gibt.“ Während es methodisch sicher nicht ‚verboten‘ sein darf, auch christliche Maßstäbe an eine andere Religion heranzutragen, sollte es heutzutage vielleicht doch auch um eine Offenheit in der Frage ultimativer (Interpretations‑)Maßstäbe gehen: Euler verkürzt dagegen diese Offenheit mittels eines hermeneutischen Zirkels. Muss ein christliches Verständnis anderer Religionen in sich derart gefangen bleiben, dass es andere Theologien gar nicht erst als andere verstehen kann? Cusanus versucht zumindest etwas anderes: Er bleibt nicht bei der prima facie-Ablehnung der Trinität durch Muslime und Juden stehen (was er nach christlich-theologischem Maßstab tun könnte), sondern versucht z. B., den Grund dieser Ablehnung zu verstehen. Nach Abschluss dieses Verfahrens gelangt er zwar zu einer Synthese der verschiedenen Perspektiven; auch dies wäre jedoch kaum möglich, wenn er nicht zunächst – und sei es nur hypothetisch – die christliche Perspektive auszublenden bereit wäre. Nicht zuletzt relativiert Cusanus, wie die Forschung immer wieder unterstreicht (Riedenauer [2007: 440–1]; Flasch [1998: 359] und Riedenauer [2007: 479]), ja (angeblich) die christliche Trinitätslehre, so dass in dieser Hinsicht jedenfalls eine Vorordnung ‚christlicher Maßstäbe‘ durchaus fraglich
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von Natur aus nach Weisheit streben“, denn die Weisheit sei „das Leben des Intellekts“, der sich nur von „der Wahrheit, dem Wort des Lebens bzw. dem intellektualen Brot der Weisheit“ nähren könne.1378 Diese Zustimmung leitet sich aus dem allgemeinen Vorrang der natürlichen Vernunft des Menschen ab, die schon Thomas von Aquin als verbindende Mitte zwischen verschiedenen Religionsvertretern, explizit im Hinblick auf die Muslime deklariert hatte.1379 Der Logos erwidert darauf, dass es gemäß der einen, von allen vorausgesetzten absoluten Weisheit, die Gott ist, folglich eine Religion für alle „im Intellekt Starken“ gebe.1380 Dass der Araber bei Cusanus diese Voraussetzung leicht zu akzeptieren vermag, erscheint plausibel, da Allah im Koran als weise gilt und folglich Weisheit besitzt.1381 Zugleich ist mit der Erkenntnisebene des Intellekts eine ganz spezifische Wirklichkeitsebene angesprochen, die dem Zustand des Entrücktseins entspricht, von dem am Anfang des Werks die Rede war:1382 Das Intelligible bzw. das eidetische Sein1383 im platonischen Verständnis bzw. der Logos / die Weisheit Gottes als Inbegriff des intelligiblen Seins kann nur für einen aufgeweckten, „starken“ Intellekt erkennbar werden; ist dieses Erkenntnisvermögen nicht zur Entfaltung gekommen, bleibt diese höchste Wirklichkeit unbemerkt. Im Sinne der cusanischen coincidentia oppositorum1384 fallen jedoch im Intelligiblen die auf den niedrigeren Erkenntnis‑ und Wirklichkeitsebenen auftretenden Unterschiede zusammen, insofern sie in komplexiver Einheit aufgehoben sind. Nur vor diesem Hintergrund kann der Logos in Person begründeterweise sagen, dass es für die „im Intellekt Starken“, insofern sie sich auf die göttlich-intelligible Wirklichkeit und Wahrheit beziehen, eine Religion gebe, in welcher alle wahrhaftigen Religionen in ihrem intellekthaften Gehalt komplexiv geeint erscheinen und entsprechend koinzidieren sollen.1385 Überraschenderweise erklärt der Araber nun, dass der Logos, sein Dialogpartner („du“), als Gottes Wort diese (absolute) Weisheit sei.1386 Dies ist für einen erscheint. Denn schon diese Selbst-Relativierung zeigt ja, dass es die christlichen Maßstäbe, im Vergleich zu denen nach Euler „keine anderen“ denkbar erscheinen sollen, vielleicht gar nicht (zwingend), jedenfalls nicht unreflektierterweise immer schon gibt. 1378 pac. VI, 16; 15, 7–11. 1379 Thomas von Aquin, ScG I, 2; 4–6 (s. o. Kap. IV.8). 1380 Verbum: ‚Una est igitur religio et cultus omnium intellectu vigentium, quae in omni diver‑ sitate rituum praesupponitur‘ (pac. VI, 16; 15, 12–17). 1381 Vgl.: Allah ist „der Mächtige, der Weise“ (al-ʿazizu, al-chakimu, Sure 31, 9); Allah ist „allwissend und weise“ (ʿaliman chakiman, Sure 33, 1). Vgl. cribr. II, 17, 148. – Dazu, dass im weiteren Verlauf von De pace fidei bei genauerer Differenzierung die Unterscheidung zwischen Haben und Sein in Gott freilich koinzidiert, s. pac. IX, 26; 27, 9–10 (s. u. Kap. V.c9) und Resch (2014 b: 175). 1382 S. o. Kap. V.c1. 1383 S. dazu. Kap. II.5 b und III.c–d. 1384 S. o. Anm. 1252. 1385 Auch dies spricht wiederum nicht dafür, dass Cusanus seine coincidentia-Lehre in De pace fidei außen vor gelassen habe (s. o. Anm. 1194). 1386 ‚Tu es sapientia, quia Verbum Dei‘ (pac. VI, 17; 15, 18).
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Muslim eine denkbar unwahrscheinliche Reaktion, da Allah gemäß dem Koran nicht „zeugt“,1387 der göttliche Logos gemäß christlich-nizänischem Verständnis ja aber als in Wesenseinheit von Gott Vater gezeugt begriffen wird.1388 Aus der Perspektive von De pace fidei erscheint diese Diskrepanz merkwürdigerweise hier gar nicht erwähnenswert: Erklärbar ist dies zunächst vielleicht dadurch, dass der Schluss von Gottes Weise-Sein zu seinem Weisheit-Haben als so selbstverständlich anmutet, dass hier kein Problem bestehen sollte. Vielleicht ist das Thema der Trinitätstheologie aus der Perspektive des Arabers auch als in der sich anschließenden Frage nach dem Polytheismus subsumiert zu betrachten – allerdings legt sein Bekenntnis zum christlichen Logos als der Weisheit Gottes dies nicht unbedingt nahe. Es wirkt verblüffenderweise so, als ob der Muslim hier ‚kein Problem‘ mit dem christlichen Gott-Logos hat. Lässt sich dies von Cusanus her in irgendeiner Weise plausibilisieren? Möglicherweise könnte hier ein starkes Verständnis des Homoousios, d. h. der Wesenseinheit der drei trinitarischen Personen des christlichen Gottes,1389 im Hintergrund stehen, weshalb der zu erwartende Einwand des Arabers gegen die Göttlichkeit des Wortes ausbleibt: Ist Gott wirklich Einer – in Cusanus’ Verständnis die absolute Wahrheit, die allen Seienden das Sein zuteilt1390 – und besteht folglich im Sinne des Homoousios, wie es z. B. Augustinus und Boethius verstehen, kein ontologischer, streng das Sein bzw. Wesen Gottes betreffender Unterschied zwischen den drei trinitarischen Personen, sondern bezieht sich diese Personenhaftigkeit strikt auf die Ausprägung des einen Wesens des liebenden Gottes in einer inneren Relation,1391 so dass sich das Wesen dieser göttlichen Liebe eben in dieser inneren Dreier-Relationalität prinzipienhaft-ursprünglich ausdrückt, dann könnte gerade das Homoousios den christlichen Gottesbegriff in 1387 Vgl.: „Er [sc. Allah] hat nicht gezeugt, und er ist nicht gezeugt worden“ (lam jalid walam julad, Sure 112, 3). 1388 Zur ewigen Erzeugung (generatio, productio) des Sohnes durch den Vater vgl. Origenes (s. o. Kap. IV.3 a mit Anm. 673–675) sowie Boethius (Anm. 1000). 1389 Zum Begriff homoousios vgl. Origenes (Kap. IV.3 b), Augustinus (IV.4), Dionysius (IV.5 a), Boethius (IV.6) und s. u. Kap. V.c8. Die Wesenseinheit Gottes bringt Cusanus nicht zuletzt in seinem Begriff des Nicht-Anderen (s. u. Anm. 1496) zum Ausdruck: Der Nicht-Andere ist nichts anderes als der Nicht-Andere, hat folglich auch kein ‚anderes Wesen‘ (vgl. Resch 2014: 97). Resch (ibd., 99, 102) deutet ebenfalls den Gedanken an, dass gerade das ‚dogmatische‘ Homoousios gemäß Cusanus zur Überwindung trinitätstheologischer Differenzen zwischen Christentum und Islam beitragen könnte. 1390 S. o. Kap. V.b. 1391 Die innergöttliche Liebe als das Wesen des einen Gottes, in welcher der Liebende dem Liebenswürdigen durch das Lieben verbunden sind, das innere Wesen Gottes also seine innertrinitarische Beziehung bzw. Relation zeigt (zum Ternar amans – amatus – amor vgl. Augustinus, vgl. trin. VIII, 10, 14; XV, 3, 5; 465, 67–70, s. o. Kap. IV.4.c sowie Boethius, s. Kap. IV.6), wird im weiteren Verlauf von De pace fidei noch explizit angesprochen ([…] vides quomodo amare nectit amantem amabili, pac. VIII, 22; 23, 4–5; außerdem X, 28; 30, 1–2). Vgl. Flasch (1998: 354). S. u. Kap. V.c8.
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ontologischer Hinsicht als unbezweifelbar monotheistisch erweisen helfen. Obgleich der Begriff homoousios sich der systematischen Entwicklung der Trinitätstheologie verdankt, könnte er aus dieser Perspektive geeignet erscheinen, die We‑ sens-Einheit und somit das wesentliche Einer-Sein Gottes theologisch sozusagen ‚dogmatisch unverrückbar‘ festzuschreiben, da die Dreiheit der trinitarischen Personen (nach Augustinus und Boethius) keine wesentliche, sondern eine rein relationale ‚ist‘. Gerade die konkrete und scharfe Bestimmung der theologischen Begriffe Wesen, Einheit, Relation und Dreiheit vermag, so betrachtet, zu einer interreligiösen Verständigung beizutragen. Gemäß dieser Perspektive könnte – auch hier wieder gemäß einem aristotelischen Möglichkeitsbegriff von Fiktionalität – also die Diskussion darüber, inwiefern Gottes Weisheits-Logos selbst Gott ist, als ‚nahezu geklärt‘ erscheinen: Das christliche Verständnis des drei-einen Gottes, welcher wesensmäßig einer und nur der inneren Relation seines Wesens nach drei Personen ist, könnte sich möglicherweise mit der Zustimmung des Arabers vereinbaren lassen, dass Allah, insofern er weise ist, selbst auch diese Weisheit ist, die wiederum aus christlicher Sicht als das Wort Gottes und zweite trinitarische Person verstanden und geglaubt wird. Träfe diese Interpretation zu, dann könnten sich in der gemeinten Sache ‚Gott ist weise / besitzt Weisheit‘ gemäß Cusanus der monotheistische Gottesbegriff des Islams1392 und der monotheistische Gottesbegriff des Christentums in Bezug auf das eine Wesen Gottes berühren, und der Unterschied beider Religionen beträfe im Hinblick auf den Gottesbegriff zwar immer noch das Spezifikum der christlichen Trinität, die jedoch in konkret-philosophischer Hinsicht nicht das Wesen Gottes, sondern dessen rein innerrelationale trinitarische Ausprägung tangierte. Das scharfe Durchdringen der Begrifflichkeiten könnte möglicherweise sogar auch in diesem Kontext zu einer coincidentia oppositorum1393 in Cusanus’ Sinne führen. Mit diesem Erklärungsversuch für den Kontext von De pace fidei soll indes in keinster Weise insinuiert sein, dass dieses große theologische Feld der Trinitätstheologie, auf welchem Christentum und Islam strikt voneinander getrennt erscheinen, sich ‚einfach so nebenbei‘ in einem Konsens auflösen ließe. Die ‚Übersetzbarkeit‘ von verschiedenen Religionen kann nicht erreicht werden, indem die Spezifika der einen oder der anderen Religion einfach stillschweigend aufgelöst oder gar geopfert würden.1394 Hier ging es zunächst tatsächlich nur um den Versuch einer Erklärung dafür, weshalb der Araber bei Cusanus diese wichtige Vgl.: Allah ist „einer“ (ʾachadun, Sure 112, 1). S. o. Anm. 1252. 1394 Dazu, dass der Begriff der ‚Übersetzbarkeit‘ von Religionen nicht unkritisch gebraucht werden sollte, s. o. Kap. I.2 b. Eben dieser Terminus wird auch in der Cusanus-Forschung, etwa von Schwaetzer (2012: 61, 79), verwendet – dort aber nicht im Sinne der potentiellen Übersetzbarkeit verschiedener Religionen ineinander, sondern „im Sinne der Übersetzbarkeit des Religiösen in das Kulturelle“, um die es Cusanus freilich (ebenfalls) nicht gehe. 1392 1393
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theologische Front erstaunlicherweise gar nicht eröffnet – dies werden erst seine Nachredner tun. Eine einfachere Erklärung dafür könnte sich auf rein literarischer Ebene anbieten: Die ganze Anlage von De pace fidei – die göttliche Weisheit wird von allen Religionsvertretern anerkannt, nicht zuletzt deshalb kann der Dialog im Angesicht von Gottes Weisheits-Logos stattfinden, in dessen intellekthafter Höhe und Entrückung die verbindende Einheit gegenüber den Unterschieden der Religionen dominiert – macht den eigentlich zu erwartenden Einwand des Arabers fast schon unmöglich: Im Angesicht von Gottes Weisheits-Logos lässt sich dessen Gottheit schwerlich bestreiten. Dies ist jedoch nur der literarischen Anlage geschuldet und kann kein theologisches Sachargument sein (es wäre eine petitio principii): Die Weisheit Gottes anzuerkennen, ist nicht gleichbedeutend damit, diese auch christlich-trinitarisch durchzudeklinieren. Diesbezüglich zeichnet sich eine Parallele zu Origenes ab: Insofern die Menschen jeweils animal rationale et mortale sind,1395 verdanken sie ihre rationale Begabung der Anteilhabe an der Erstursache der Rationalität, welche für Origenes die Weisheit bzw. der Logos Gottes selbst, d. h. Christus als zweite trinitarische Person1396 ist. Oben konnte gezeigt werden, dass gemäß Origenes’ Sichtweise Christus in einem bestimmten Sinn von den rational begabten Wesen gar nicht geleugnet werden kann. Dass trotzdem nicht alle rationalen Wesen sich im spezifisch theologischen Sinne zu Christus bekennen, erklärt Origenes damit, dass dies Gabe des Heiligen Geistes sei, welche die rationalen Wesen nicht schon qua ihrer rationalen Geistbegabung, qua ihrer Potenz besitzen, vielmehr müsse der Heilige Geist erst hinzukommen und sie zu dieser Erkenntnis führen.1397 Zurück zu Cusanus. Wie schon kurz angedeutet, betrifft die Rückfrage des Arabers an den Logos also nicht die Trinitätslehre, sondern die Frage des Polytheismus: Wie können die Polytheisten mit den Philosophen in Bezug auf den einen Gott übereinkommen?1398 Mit dieser Frage werden zwei wesentliche Koordinaten benannt: Zum einen erscheint der Polytheismus aus der Perspektive des Korans als verwerflicher Götzendienst,1399 insofern wirkt der Einwand des Arabers völlig plausibel. Zum anderen legt der Araber bei Cusanus auch mit dieser Frage von vornherein die Verständnisebene der Philosophen als Messlatte an: So wird erneut der intellekthafte Zugriff unterstrichen, welcher bereits zu Beginn des Werks als einzig zielführender zugrunde gelegt wurde.1400 Zum Begriff bei Aristoteles s. o. Anm. 223. Dass Origenes’ Trinitätsverständnis gemäß hier vertretener Auffassung mit Blick auf den Subordinatianismus von dem nizänischen differiert (s. o. Kap. IV.3 b), ist an dieser Stelle für den obigen Zusammenhang nicht ausschlaggebend. 1397 S. o. Kap. IV.3 a. 1398 pac: VI, 17; 15, 18–19. 1399 Vgl. Suren 2, 96, 105; 6, 79; 12, 106–8; 21, 98–99. 1400 S. o. Kap. V.c1. 1395 1396
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Seiner Frage fügt der Araber schon den ersten Teil der Antwort hinzu: Die Philosophen hätten zu allen Zeiten den Polytheismus immer nur so verstehen können, dass den vielen Göttern zumindest ein Gott vorsteht, der allein „Prinzip“ für das Gott-Sein der anderen sei – in Überbietung der arithmetischen Analogie zu der Zahl ‚1‘,1401 von der sich alle anderen Zahlen als ihrem Prinzip ableiten.1402 Hier zeigt sich erneut der nach platonischer Auffassung universal (für Mathematik, Ontologie und Theologie) gültige Primat des Einen vor dem Vielen1403 als entscheidendes Argument, mit welchem der Araber seine Frage bereits selbst beantwortet. Dass ein Gott den vielen Göttern als Prinzip vorstehen muss, ist platonischer Konsens, auch über Religionsgrenzen hinweg: Apuleius spricht von einem Gott als Vater der Götter,1404 Proklos von dem absoluten überseienden Einen und der diesem untergeordneten Vielheit der Götter, wobei die beiden paganen Platoniker den vielen Göttern dennoch das Gott-Sein aus sich selbst heraus (und nicht erst aus Partizipation) zuerkennen;1405 in der Bibel belegt Psalm 82, 1 b, dass der eine wahre Gott „Richter mitten unter den Göttern“ ist,1406 innerhalb des Christentums entwirft Origenes eine Theologie, gemäß welcher der eine Gott Vater Jesu Christi, des Logos-Sohnes, ist, der wiederum Prinzip der Göttlichkeit aller weiteren sekundären, potentiell vielen Götter sei,1407 während Augustinus sich lapidar damit einverstanden erklärt, die vielen Götter der Heiden ‚Götter‘ zu nennen, solange klar sei, dass diese ihre Göttlichkeit nicht aus sich selbst, sondern von dem einen wahren Gott her hätten, so dass sie der Sache nach eben keine Götter, sondern nur Engel oder Dämonen sein könnten.1408 Ähnliches gilt für Dionysius, der jedoch die vielen Engel-Götter als den verschiedenen Völkern zugeteilt begreift, damit sie die vielen wieder zur Erkenntnis des einen wahren Gottes führen, also einen Polytheismus im Dienst des Monotheismus entwirft.1409 Boethius nimmt die Möglichkeit vieler sekundärer Götter als Partizipanten an dem einen Gott an, der einzig von Natur aus, wesensmäßig Gott ist.1410 Wenngleich also zwischen christlichen und paganen Platonikern schon ein Unterschied in der theologischen Auffassung auszumachen ist, dass die vielen Götter sich gemäß ersteren nur der Anteilhabe an dem allerhöchsten einen Gott verdanken, während die vielen Götter im paganen Verständnis durchaus als 1401 Zu mathematisch-theologischen Analogien gemäß platonischem Verständnis vgl. o. das Ende von Kap. III.e. 1402 pac. VI, 17; 16, 1–5. Vgl. in ähnlicher Weise ven. sap. 21, 63. 1403 S. o. Kap. III.d. 1404 S. o. Kap. II.4.2 b. 1405 S. o. Kap. III.e–g. 1406 S. o. Kap. IV.2.3 a. 1407 S. o. Kap. IV.3 b. 1408 S. o. Kap. IV.4 a. 1409 S. o. Kap. IV.5 b, zur Rezeption bei Cusanus s. Kap. V.c2. 1410 S. o. Kap. IV.6.
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Götter aus sich selbst heraus verstanden werden, die nicht selbst an dem einen Allerhöchsten partizipieren, sondern gerade die partizipierfähige Vermittlungsinstanz für die Vergöttlichung potentieller Partizipanten darstellen, so besteht doch ein Konsens dahingehend, dass alle vielen Götter – ob ihnen nun ein reales oder lediglich hypothetisches Sein zuerkannt wird – nur als von dem einen allerhöchsten Gott hervorgegangen bzw. prinzipiiert zu begreifen sind. Genau dieser Konsens spiegelt sich in der Frage des Arabers an den Logos in Person bei Cusanus. Der Logos fügt der bereits vom Araber vorweggenommenen Antwort die ontologisch-prinzipientheoretische Begründung hinzu: Die Polytheisten hätten die „Gottheit vorausgesetzt“, an der von allen Göttern partizipiert werde.1411 So erweist sich der Begriff der Teilhabe erneut explizit auch bei Cusanus als Schlüssel des interreligiösen Dialogs, beglaubigt aus der göttlichen Perspektive des Logos.1412 Wer von vielen Göttern spreche, spreche (zumindest implizit) auch von dem einen, wahren Gott als dem vorausliegenden Prinzip aller Götter, wie auch die Annahme vieler Heiliger den einen Heiligen als Prinzip voraussetze, durch dessen Partizipation alle anderen heilig seien.1413 Damit argumentiert der Logos bei Cusanus in genau derselben Weise wie die Philosophie in Person bei Boethius: Von Natur aus, wesensmäßig ist nur ein Gott; aber durch Partizipation könnte es so viele sekundäre Götter geben wie möglich.1414 Die von dem Logos in Person betonte ontologisch-prinzipientheoretische Unmöglichkeit, jeder einzelne einer potentiellen Göttervielheit könne „Prinzip und Schöpfer des (Götter‑)Universums“ sein,1415 ist erneut eine Implikation des Primats des Einen vor dem Vielen: Kein Vieles kann ohne einen ihm vorausliegenden Einheitsgrund sein oder gedacht werden.1416 Die Reflexion auf den Einheitsgrund in aller Vielheit1417 führte Proklos dazu, über dem Bereich des wahrhaften Seins, d. h. über den intelligiblen Ideen (wie ‚Schönheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Dreieck‘) deren wahre Einheitsgründe in den überseienden Henaden-Göttern zu suchen, die letztlich nichts anderes als das vielfach partizipierte / partizipierbare Eine in Abgrenzung zu dem unpartizipierbaren überseienden Einen als dem allerhöchsten Gott sind: Aus der überseienden Fülle des absoluten Einen geht gemäß Proklos ein partizipierfähiges zweites Eines (peras) hervor; als das ‚zweite Eine nach dem Einen‘ etabliert dieses die spannungsvolle Ur-Zweiheit von peras (‚Grenze‘) und apeiria (‚Nicht-Grenze‘); aus dem Zusammenwirken dieser „unbestimmten Zweiheit“ (ahoristos dyas) entfaltet sich die Henade peras, durch pac. VI, 17; 16, 6–8. Vgl. zuvor schon die Rede des Griechen (s. o. Kap. V.c4). 1413 pac. VI, 17; 16, 10–13. 1414 Vgl. Boethius, cons. III, 10p, 23–25 (s. o. Kap. IV.6). 1415 pac. VI, 17; 16, 13–15. 1416 S. o. Kap. III.d. 1417 Vgl. Proklos, ETh 6 (Kap. III.e). 1411 1412
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apeiria hindurch in vielfache Partizipierbarkeit überführt, als Henadenvielheit, insofern die vielfach partizipierte(n) Henade(n) die Vielheit des Seins und der Seienden konstituiert / en.1418 Die überseiende(n) Henade(n) ist / sind somit nicht von sich selbst her schon Vielheit, sondern die vom absoluten überseienden Einen ausgestrahlten Einheitsgründe für das Sein und die Seienden, insofern Henaden das Sein und die Seienden als entfaltete Vielheit für sich unterscheidbarer, seiender Einheiten prinzipiieren. Ist das wahre Sein und sind die wahrhaft Seienden also ganz von Einheit durchdrungene und gehaltene Vielheiten, so erscheint das Prinzip ‚Sein‘ selbst als erstes Seiendes überhaupt (wenngleich abhängig von dem absoluten, überseienden Einen) als Viel-Einheit seiender Götter: Dieser Aspekt fand (freilich ohne die spezifisch proklische Lehre von den Henaden als Vermittlungsstufe zwischen dem Einen und dem Bereich des Seins) seine theologische Konkretisierung z. B. schon in Plotins Rede von dem seienden Einen als Totalität der Ideen, welches Plotin mit dem Gott Kronos, der seine Kinder (= die Ideengötter) in sich verschlungen umfasst, identifiziert.1419 Analoges hatte zuvor schon Apuleius vorweggenommen, wenn Isis sich in seinem Roman als das „einartige Angesicht“ vorstellt, welches die vielen Götter in sich vereine.1420 Sowohl bei Apuleius wie auch bei Plotin ist jeweils der Einheitsgrund, welcher den vielen Göttern prinzipienhaft vorausliegt, theologisch in den Götterpersonen Kronos bzw. Isis eindeutig erkennbar. Die philosophische Theologie aller dieser Denker schwingt mit, wenn der Logos in Person bei Cusanus unterstreicht, dass die Polytheismen zumindest nicht in Abrede stellen könnten, dass ein Gott Prinzip der angenommenen vielen Götter sein muss und nicht jeder einzelne der vielen Götter jeweils Erstursache der Göttervielheit sein kann: Denn wenn ihnen allen in gemeinsamer Weise das Gott-Sein zukommt, dann ist dieses Gemeinsame etwas Einheitliches, das sich in einer Vielheit auf verschiedene Weise zeigt, zuvor aber als Prinzip der von ihm prinzipiierten, abhängigen Vielheit für sich unterscheidbar Bestand haben muss. Der Araber stimmt zu: Es wäre ein Selbstwiderspruch, viele Erst-Prinzipien zu postulieren, denn ein Prinzip kann nicht zugleich und in derselben Hinsicht Prinzipiiertes sein, außerdem liege prinzipientheoretisch-ontologisch die Einheit aller Vielheit voraus.1421 Der Logos stellt daraufhin fest, wenn alle Polytheisten berücksichtigten, was sie selbst voraussetzen,1422 nämlich die eine Gottheit als 1418 S. o. Proklos (Kap. III.d–e), besonders in Kap. III.e die Stellen ThP III, 24; 84, 4–9; in Parm. 1066, 22–24; 1068,34–1069,23. 1419 S. o. Kap. II.5 c. 1420 S. o. Kap. II.4.2 b. 1421 pac. VI, 17; 16, 16–20. 1422 Hier zeigt sich wieder die Grundstoßrichtung von De pace fidei: der Erweis der einen, intellekthaften Religion, insofern sie von allen wahrhaftigen Religionen implizit vorausgesetzt wird (s. o. Kap. V.c4 mit Anm. 1311 und 1312).
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Ursache aller Wesen bzw. Götter, und wenn sie rationalerweise „implizit in allen, die sie Götter nennen, diese Gottheit selbst verehren,“ sei der Streit gelöst.1423 Das Problem des Polytheismus angesichts der eindeutigen platonischen, christlichen und islamischen Position, dass nur der allerhöchste Gott im primären und unüberbietbaren Sinne Gott sein kann, wird also zurückgeführt auf eben diese Vorrangstellung des einen Gottes: Dies scheint zu genügen; die vielen anderen Götter müssen nicht grundsätzlich in Abrede gestellt oder attackiert werden, es reicht aus, den Polytheismus philosophisch als ein dem heno‑ bzw. monotheistischen Anspruch des einen, wahren Gottes untergeordnetes Phänomen zu erweisen. Dies ist der Sache nach die Position, wie sie z. B. bereits von Augustinus, Dionysius und Boethius vertreten wurde. Ähnlich wie oben im Gespräch mit dem Italer nicht entscheidend war, ob es eine geschaffene Weisheit gebe, wenn nur klar ist, dass die göttliche Weisheit selbst ungeschaffen ist,1424 ist auch hier das theologische Argument auf die Frage zugespitzt, wie es um die Verehrung des einzigen, allerhöchsten Gottes bestellt ist: Wird er implizit angenommen und verehrt, scheinen alle ihm untergeordneten Götter-Wesen im Blick auf das Ausgangsproblem des Arabers nahezu vernachlässigbar. Doch ganz so einfach ist dies für den Muslim nicht, und wenn Cusanus ihn zuvor verblüffenderweise ohne Probleme den göttlichen Logos in Person als Weisheit Gottes akzeptieren ließ, so scheint es doch für den Autor von De pace fidei zu sprechen, dass der Araber als Vertreter des Islams nun nicht ohne Weiteres die Verehrung anderer, vieler Götter, auch wenn sie Allah untergeordnet wären, einfach hinnehmen kann: Denn Allah ist gemäß dem Koran „einer“.1425 So stellt der Araber fest, dass die implizite Verehrung des einen Gottes kaum ein großes Problem sein dürfte, aber die kultische Verehrung der vielen Götter „abzuschaffen“ (tollere), sei gewiss schwierig, weil die Menschen durch Verehrung dieser Götter sich Erlösung und Heil (salvatio) erhofften.1426 Geht es hier also noch um die eine intellekthafte Religion und um Dialog oder doch eher schon um die Durchsetzung der eigenen Religion auf Kosten der anderen? Dieser Punkt ist in mehrfacher Hinsicht ein theologischer ‚Knackpunkt‘: Erstens entspricht es der Haltung des Islams, keine anderen Götter außer Allah zu akzeptieren, daher ist der Erfolg der gerade erreichten Argumentation aus Sicht des Arabers nur ein bedingter, theoretischer, denn letztlich müsste es aus Sicht des Arabers wohl darum gehen, die Polytheisten auch tatsächlich von der Verehrung des einen wahren Gottes Allah zu überzeugen. Dies jedoch wird, zweitens, wie der Araber selbst sagt, in der Praxis kaum zu erzielen sein, weil die Polytheisten sich aus ihren polytheistischen Kulten die salvatio erhofften. Und damit ist es nun gerade der Araber, welcher implizit-unbewusst auf ein speziVI, 18; 16,23–17,4. Vgl. auch ven. sap. 21, 63. Kap. V.c5. 1425 S. o. Anm. 1392. 1426 pac. VI, 18; 17, 5–8. 1423 pac. 1424 S. o.
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fisch christliches Theologoumenon hinweist: Denn das Heil der Christen wird durch Christus, dem Fleisch gewordenen Logos, bewirkt, welchen der Araber immerhin schon als Weisheit Gottes akzeptiert hatte. Als Autor leitet Cusanus hier nicht ungeschickt zu einem entscheidenden Punkt christlicher Theologie über: Gerade der Araber, der die Polytheisten von der Verehrung des einen wahren Gottes überzeugen will, bringt hier eine Argumentation ins Rollen, die ihn letztlich selbst zu einer für ihn neuen Position führen würde. Cusanus’ implizite christlich-platonische Perspektive, die gemäß dem argumentativen Duktus von De pace fidei gerade nicht auszublenden ist, wird also hier erneut unmissverständlich erkennbar. Handelt es sich also dieses Mal um eine christliche Vereinnahmung? Oder könnte man Cusanus als Autor bei wohlwollender Lektüre erneut konzedieren, dass er aus seiner christlich-platonischen Perspektive heraus einen Ausgriff auf andere Religionen versucht?1427 Der Logos in Person nimmt das Thema der Soteriologie zumindest recht behutsam in Angriff: Bei entsprechender Unterweisung würde wohl auch ein viele Götter verehrendes Volk die Erlösung eher bei dem suchen, der „das Sein gegeben hat“ und „unendlich-unbegrenzte Erlösung ist“, als in jenen, die „aus sich selbst nichts haben“, sondern nur an der Erlösungsgabe des wahren Erlösers Anteil gewinnen.1428 Auch bei der Erlösung gelte also der Primat des Einen vor dem Vielen: Die vielen, partikulären Erlöser scheinen ihr Erlösungswirken nur von dem einen wahren Erlöser in sekundärer Partizipation zu gewinnen. Dieser eine wahre Erlöser kann nur der „Geber des Seins“ sein, also der höchste Gott selbst bzw., in Anlehung an De beryllo, die absolute, göttliche Wahrheit selbst, die allen Seienden ihr spezifisches Sein zuteilt.1429 Diese aber ist gemäß Cusanus letztlich der göttliche Logos, also Christus, obgleich dies im Text hier nicht explizit ausgeführt, sondern bestenfalls angedeutet wird. Die vielen Erlöser, welche an dem einen wahren Erlöser partizipierten, seien, so der Logos weiter, vielmehr heilige Menschen, die durch ihr entsprechendes nachahmungswürdiges Leben als Fürsprecher verehrt würden.1430 Solange alle kultische Verehrung dem einen Gott allein gegeben würde, stünde diese Verehrung nicht im Widerspruch zu der „einzigen [sc. intellekthaften] Religion“. Auf diese Weise könnten Polytheisten leicht zu besänftigen sein1431 – und könnten vermutlich als Teil der einen wahren, intellekthaften Religion, die nur den allerhöchsten, einen wahren Gott verehrt, begriffen werden. Die christliche Soteriologie wird hier also gar nicht explizit tangiert, indes führt der Logos in Person die katholische Lehre der Heiligenverehrung, aber nicht ‑anbetung ins Feld. Strukturell ähnelt dieses Argument der Indienstnahme des Polytheismus bzw. S. o. Kap. V.c1, V.c3–5. VI, 18; 17, 9–12. 1429 ber. 16, 18 (s. o. Kap. V.b). 1430 pac. VI, 18; 17, 12–17. 1431 pac. VI, 18; 17, 17–19. 1427
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Polyangeloismus durch den Monotheismus bei Dionysius Areopagita, welcher die vielen Engel als den vielen Völkern zugeordnete Geleiter zur Erkenntnis und Verehrung des einen wahren Gottes in sein theologisches System integriert hatte, dessen Relevanz für De pace fidei schon zuvor beobachtet werden konnte.1432 Der Polytheismus wird vom Logos also auf die Heiligenverehrung reduziert, die wiederum als in den Dienst der kultischen Anbetung des einen wahren Gottes integrierbar erscheint, welchen der Araber angemahnt hatte. Für Cusanus ist das katholische Modell der Heiligenverehrung das entscheidende Argument, um dem dezidiert monotheistischen Anspruch des muslimischen Weisen Genüge zu tun und trotzdem einer polytheistischen Religion ihr gewisses Recht zu belassen. Dies scheint strukturell zwar in großer Entfernung auch noch der proklischen Lösung für das Verhältnis von Mono‑ und Polytheismus zu entsprechen,1433 jedoch ist das polytheistische Element aus Proklos’ Metaphysik bei Cusanus deutlich um sein metaphysisches Gewicht gebracht: Es geht nicht mehr um die subtile Ausfaltung des überseienden Einen über die Henadengötter, sondern nur noch um die Verehrung heiliger Menschen. Eine größere Differenz als die zwischen überseienden Henaden und menschlichen Heiligen erscheint kaum vorstellbar. Der Grundtenor, dass es wesensmäßig von Natur aus nur einen wahren Gott gebe, durch Teilhabe an diesem, wie Boethius ausführt, aber andere Wesen auf sekundäre Weise vergöttlicht und in diesem Sinne zu ‚Heiligen‘ werden können, lässt sich nicht zuletzt mit dem biblischen Wort Jesu in Verbindung bringen, welches die Vergöttlichung derjenigen, „zu denen das Wort (logos) Gottes“ kommt, anspricht:1434 Es antwortete ihnen Jesus: Ist es nicht in eurer Tora (eurem Gesetz, nomos) geschrieben: ‚Ich habe gesagt: Ihr seid Götter‘ (Ps 82, 6)? Wenn er jene Götter nannte, zu denen das Wort Gottes kam – und die Schrift kann nicht verletzt werden –, wie sagt ihr zu dem, welchen der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: ‚Du sprichst blasphemisch‘, weil ich sagte: ‚Ich bin Sohn Gottes‘? (Jh 10, 34–36)
7. Der Inder: Götterbilder und Trinität Wenn schon die Heiligenverehrung als polytheistisches Element tolerierbar erscheint, wie verhält es sich dann mit der Verehrung von Statuen und Götterbildern? Diese Frage wirft der Weise aus Indien als nächstes auf. Die Antwort des Logos lautet in grundsätzlich-struktureller Ähnlichkeit zur Behandlung des Polytheismusproblems, dass „Abbilder (ymagines), welche das zur Erkenntnis bringen, was für die wahre Verehrung des einen Gottes zugestanden wird, nicht zu verdammen“ seien. Sobald sie aber davon wegführten, als ob „etwas von der Gottheit in den Steinen selbst sei oder einer Statue verbunden werde“, sollten 1432 Zu
Dionysius s. o. Kap. IV.5 b, zu Cusanus Kap. V.c2. S. o. Kap. III.g. 1434 Vgl. zur Stelle oben Kap. IV.2.3 b sowie Cusanus, cribr. I, 10, 54. 1433
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diese, weil sie im Widerspruch zur Wahrheit stünden, „zu Recht zerbrochen werden“.1435 Diese Aufforderung zum Ikonoklasmus aus dem Munde des Logos erscheint harsch,1436 enthält aber zugleich ein Element und Kriterium der Toleranz in sich: Solange nicht ein Stück Materie zum Gott erhoben wird, sondern man bei der Verehrung von Götterbildern auf das Geistig-Intelligible blickt, welches der wahren Religion des einen Gottes entspricht, können auch Götterbilder und Statuen akzeptiert werden. Die Antwort des Logos zielt gewissermaßen darauf hin, dass man das Richtige denken soll bei der Verehrung von Abbildern, also ihr Paradeigma, dessen Abbilder sie sind, erkennen können muss. Auf den Einwand, dass die Gläubigen immerhin mit der Verehrung der Bilder auch die Kraft der Orakel verbinden, entgegnet der Logos in ‚aufgeklärter‘ Weise, dass diese Orakelsprüche zumeist von den Priestern selbst „fabriziert“ würden und nur deshalb zweideutigen Charakter zeigten, damit zumindest eine der beiden Deutungsmöglichkeiten sich als wahr herausstellen und so die ‚Weissagung‘ glaubhaft erscheinen könne.1437 Ferner seien die weissagenden Götter vielmehr der „böse Geist, der Feind des menschlichen Heils von Anfang an“, weshalb „heute“ (d. h. in christlicher Zeit) die Statuen zwar noch Münder hätten, aber nicht mehr sprechen würden.1438 Der Inder äußert sodann die Hoffnung, dass seine Landsleute aufgrund ihrer Weisheit – mögen sie auch auf ihre Weise die Abbilder verehren – zu einer friedlichen Einigung in Bezug auf die Verehrung des einen Gottes kommen mögen. Ein sehr großes Problem stelle aber der trinitarische Gottesbegriff dar, denn die Trinität könne nicht ohne Dreiheit verstanden werden.1439 Damit verweist der Inder auf ein Problem, das bisher nur implizit seine Präsenz zeigte: Der Logos als die göttliche Weisheit in Person war von allen Weisen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, akzeptiert worden – explizit und ohne Einwände auch von dem Araber als Vertreter des Islams.1440 Oben wurde bereits erörtert, dass diese Zustimmung des Arabers im Grunde trinitarische Implikationen berührt. Bei Cusanus ist es nun der Inder, welcher von dem gerade – zumindest unter den Weisen! – erreichten Konsens über den einen Gott und die polytheistischen Kultpraktiken auf dieses Problem direkt aufmerksam macht. Auch hier gilt erneut: Cusanus’ christlich-platonische Perspektive ist unverkenn pac. VII, 19; 18, 2–7. Diese Radikalität mag gerade deshalb erstaunen, weil sie immerhin aus göttlichem Munde kommt. Innerhalb des christlichen Kontextes ließe sich mit der Vertreibung der Händler, die aus dem Tempel Gottes eine „Räuberhöhle“ machen, durch Jesus jedoch auf etwas grundsätzlich Vergleichbares schon in der Bibel verweisen (Mt 21, 12–13/Jer 7, 11). 1437 pac. VII, 19; 18,10–19,1. 1438 pac. VII, 20; 19, 5–10. 1439 pac. VII, 20; 19,17–20,3. 1440 Vgl. pac. IV, 10; 11, 16–18 (s. o. Kap. Vc.4); pac. V, 15; 14, 21–26 (s. o. Kap. V.c5); pac. VI, 17; 15, 18 (s. o. Kap. V.c6). 1435 1436
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bar; bereits zu Beginn von De pace fidei hatte der göttliche, „Fleisch gewordene Logos“ von Gott Vater das Wort übernommen und die Initiative zum interreligiösen Dialog der weisen Männer als Vertreter ihrer Religionen ergriffen.1441 Wenngleich der Dialog also im Angesicht des christlichen Gottes stattfindet, so haben doch alle Religionsvertreter, insofern sie die Weisheit Gottes voraussetzen und bekennen, einen Zugang zu diesem göttlichen Logos, ja haben sogar einen Engel als Beistand an ihrer Seite:1442 Der christliche Gott wird von Cusanus zwar vorausgesetzt, zugleich wird aber auch begründet, warum dieser Gott universell als von allen wahrhaftigen Religionen impliziert betrachtet werden und warum zumindest eine Anschlussfähigkeit in den konkreten Religionen auf diesen einen Gott hin bestehen kann. Es geht nicht nur pro forma, sondern der theologischen Sache nach gemäß der inneren Logik von De pace fidei um einen Ausgriff aus einer konkreten Religion heraus auf andere Religionen hin.1443 1441 S. o.
Kap. V.c3. S. o. Kap. V.c1–3. 1443 Hier lässt sich methodisch wie inhaltlich vermutlich ein spezifischer Unterschied zum religiösen Toleranzgebot der späteren Aufklärung erkennen, etwa im Vergleich mit Gotthold Ephraim Lessings Nathan (1779) und dessen berühmter Version der Ringparabel (Nathan III, 7): Denn obgleich das Toleranzgebot an sich nicht hoch genug zu würdigen und auch bereits in Cusanus’ De pace fidei zu erkennen ist, würde Cusanus nicht so weit gehen, zu denken, dass die eine wahre Religion nicht mehr wissbar bzw. für sich unterscheidbar wäre, wenngleich diese auch für ihn nicht mit einem einzelnen religiösen Kult, sondern letztlich nur mit der intellekthaft durchdrungenen, in allen Einzelreligionen vorausgesetzten intelligiblen Religion identifizierbar wäre (s. Kap. V.c1–2). Dazu ist freilich der Aufweis nötig, warum überhaupt ein rein intelligibler Wirklichkeitsbereich im platonischen Sinne bestehen soll (s. Kap. Vb). Bei Lessing ist indes erkennbar, dass es von vornherein um die Frage geht, ob eine Einzelreligion – Judentum, Christentum, Islam – entsprechend den drei einander völlig gleich aussehenden Ringen die einzig wahre sein könne: Nur der Ur-Ring von diesen dreien hätte der einzig wahre, nur die Ur-Religion von diesen dreien die einzig wahre sein können, aber welcher Ring dies ist und ob Judentum oder Christentum oder Islam die wahre Religion ist, diese Frage sei nicht mehr zu entscheiden. Obwohl es bei Lessing ja ein Akt der unterschiedslosen Liebe des Vaters zu seinen drei Söhnen ist, dass er ihnen allen dreien den wahren Ring vermachen will, führt genau dieser Umstand zum unlösbaren Streitpunkt: Es kann aus dieser Perspektive eben grundsätzlich nur ein einzelner Ring, eine Einzelreligion der bzw. die wahre gewesen sein. Da es also um ein Entweder-Oder unter den Einzelreligionen ginge, wäre dies, wie der Richter abschließend durchaus berechtigt feststellt, eine „Tyrannei“, die der Vater wohl „nicht länger / In seinem Hause dulden wollen“ würde (Nathan III, 7, V. 2036–7). Die „Tyrannei“ bestünde aber genau darin, eine einzelne Religion zur universalen erheben zu wollen. Dies wäre auch aus platonischer Perspektive philosophisch unmöglich, weil eine Einzelinstanz einer Sache nie die Sache, das intelligible Eidos selbst sein kann: Partikulardreiecke z. B. sind eben immer nur – und auf verschiedene Weise! – ausschnitthaft Dreieck, nicht aber das alle Dreiecksmöglichkeiten umgreifende intelligible Eidos ‚Dreieck‘ selbst (s. o. Kap. II.5 b und III.c). Bei Cusanus hingegen ist die intellektive Religion von vornherein der Partikularität einer Einzelreligion enthoben. Bei Lessing jedoch ergibt sich aus der Anlage der Ringparabel nicht zuletzt das Problem, ob die Analogie zwischen Ringen und Religionen eigentlich plausibel erscheinen kann: Dass es einander drei völlig gleichartige Ringe gibt, erscheint ohne Weiteres vorstellbar – aber kann dies analog auch für Religionen gelten? Modern formuliert: Sind alle Religionen ohne Weiteres ineinander übersetzbar (s. o. Kap. I.2 b)? Anders als Cusanus entwirft Lessing die Gleichartigkeit der Religionen gerade nicht aus dem Wahrheitsanspruch einer konkreten Religion, auch 1442
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Dieser Ausgriff war zu Anfang relativ leicht zu erreichen: Die Voraussetzung, dass Gott in Weisheit die Welt erschaffen habe, folglich also weise ist bzw. über nicht aus dem Wahrheitsanspruch einer übergeordneten, von den Einzelreligionen vorausgesetzten und einsehbaren, intelligiblen Religion heraus, sondern begründet die Gleichartigkeit der drei abrahamitischen Religionen eigentlich nur mit der Aporie, dass man nicht mehr wissen könne, welches die wahre sei. Dies sei letztlich ein historisches Problem, da alle Religionen „auf Geschichte gründen“: Anders als bei Cusanus geht es also nicht mehr um Metaphysik und philosophische Argumentation, sondern um Geschichtswissenschaft und Überlieferung: Diese Verschiebung des Erkenntnisinteresses sowie des Wahrheitskriteriums führt zwangsläufig zu dem Problem, wie man über Lessings berühmten „garstigen breiten Graben“ (vgl. Reiser [2007: 214], Euler [2012: 226]) des geschichtlichen Abstands zwischen ‚uns‘ und der auf der Ebene der Imagination bzw. Einbildungskraft als uneinholbar fern vorgestellten Vergangenheit springen können soll. Geschichte aber „muß doch wohl auf Treu / Und Glauben angenommen werden? – Nicht? – / Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?“ (Nathan III, 7, V. 1977–80) Mit dieser Aporie des „Offenbarungspositivismus“ (Euler 2012: 235) ist der radikale Verzicht auf den Wahrheitsanspruch (vgl. Euler 2012: 226, 229–230, 232) verbunden, der höchstens noch in der ethischen Praxis der Liebe bestehen kann (vgl. Euler 2012: 231) und in der rein subjektiven Vorstellung: „Mein Rat ist aber der: ihr nehmt / Die Sache völlig, wie sie liegt. Hat von / Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: / So glaube jeder sicher seinen Ring / Den echten“ (Nathan III, 7, V. 2031–5). Obgleich auch Cusanus den Wetteifer der Religionen und Kulte positiv bewertet und der Wert einer tätigen Liebe ohnehin als unkritisierbar gelten sollte, ergibt sich hinsichtlich der argumentativen Begründung von religiöser Toleranz hier doch ein ganz unterschiedlicher Ansatz: Dem aporetischen Wahrheitsverzicht jeglicher Religion (und einem damit wohl unumgänglichen Agnostizismus: „Die Ringe wirken nur zurück? und nicht / Nach außen? Jeder liebt sich selber nur / Am meisten? – O so seid ihr alle drei / Betrogene Betrüger! Eure Ringe / Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring / Vermutlich ging verloren. Den Verlust / Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater / Die drei für einen machen“, Nathan III, 7, V. 2021–2028) bei Lessing steht die positive Wahrheitssuche und ihre platonische Zentrierung im Intelligiblen – die gerade für alle Religionen anschlussfähig sein soll – bei Cusanus gegenüber. Bei Cusanus kommt es daher zu einem echten Ausgriff aus einer konkreten Einzelreligion heraus auf die als wahr angenommene, intellekthafte Religion hin, welcher zugleich Ausgriff auch auf andere Einzelreligionen hin ist, insofern diese ebenfalls Zugang zu dieser intellekthaften Religion haben können, ja sie sogar gemäß Cusanus implizieren. „An Lessings Ringparabel ist die Frage zu stellen, ob man tatsächlich einem religiösen Weg zu folgen vermag, wenn man nicht intellektuell redlich davon überzeugt sein kann, in ihm auch die Wahrheit zu finden“ (Euler 2012: 233). „Und als Frucht dieses generationenalten, alles vergiftenden Streitens trägt die Toleranz Lessings doch eine Narbe: die Narbe des Kompromisses. Für den so bitter benötigten Religionsfrieden wird der Begriff der Wahrheit dem Begreifen entzogen, der Vernunft verwehrt“ (Gerl-Falkovitz 2008: 107); „Letztlich heißt Lessings Lösung: Der Mensch ist nicht wahrheitsfähig, deswegen tolerant. Cusanus dagegen hatte den Anspruch der Wahrheit behalten […]. So heißt hier die Lösung: Der Mensch ist sehr wohl wahrheitsfähig und deswegen tolerant. Denn er trifft auf die Wahrheit auch in ihren Verkleidungen, ja Verdunklungen und muss deren wahren Kern achten“ (ibd., 123). – Unabhängig davon, wie man den von Cusanus in De pace fidei vorgelegten Entwurf letztlich bewerten mag, scheint doch eine Gegenüberstellung der verschiedenen Ansätze von Cusanus und Lessing geboten und kann zumindest verstehen helfen, welche Vorzüge oder auch Nachteile jeder der beiden Ansätze implizieren mag. Im Sinne beider Autoren erscheint es vielleicht angebracht, mit einer gewissen Behutsamkeit hier kein ‚abschließendes Urteil‘ fällen zu wollen, denn beide beabsichtigen ja – und dies kann nur unterstützenswert sein –, dem Frieden der Religionen zu dienen, und delegieren (wie dem Verfasser dieses Buchs scheinen will) in kluger Weise ein solches absolutes Urteil an eine höhere Instanz: Cusanus an Gott bzw. Gottes Logos, Lessing an den „Richter“, welcher ebenfalls eine
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absolute Weisheit verfügen muss, stellt ein konkretes Theologoumenon dar, welches breiter Zustimmung fähig ist. Der trinitarische Gottesbegriff ist naturgemäß ein exklusives Spezifikum des Christentums. Darauf zielt denn auch der Einwand des Inders ab: Wenn der Polytheismus im Sinne der wahren, intellekthaften Religion nur dann zu halten ist, insoweit die eine wahre Gottheit in den Göttern verehrt wird,1444 inwiefern lässt sich mit eben diesem, durch den allgemeinen Primat der Einheit vor der Vielheit begründeten monotheistischen Anspruch der philosophischen Religion ein trinitarischer Gottesbegriff vereinbaren? Denn „wenn Dreiheit (trinitas) in der göttlichen Natur ist, wird auch Vielheit (plura‑ litas) in der Gottheit sein“; zuvor war ja aber gerade gezeigt worden, dass es nur „eine absolute Gottheit“ geben und dass Vielheit nur in den an dieser Gottheit Partizipierenden sein könne, die eben nicht auf absolute Weise Gott, sondern Götter nur durch Teilhabe seien.1445 Der Logos in Person relativiert zunächst die Trinitätstheologie: Als Schöpfer sei Gott sowohl drei als auch einer, als unendlich-unbegrenzter sei er jedoch weder drei noch einer oder irgendetwas von dem, was sich sagen lässt.1446 Die Namen, die Gott zugeschrieben würden, seien von den Geschöpfen genommen, er selbst aber sei unaussprechlich und jenseits alles Benennbaren. Im geschaffenen Universum gebe es Vielheit von Teilen, Ungleichheit und Trennung.1447 In einem Umkehrschluss, indem er darauf reflektiert, wodurch Vielheit, Ungleichheit und Trennung jeweils prinzipiiert werden und was die ontologischen Bedingungen ihrer Möglichkeit sind, entwickelt der Logos die ersten Ansätze einer philosophisch begründeten Trinitätstheologie: Da Prinzip aller Vielheit Einheit sei,1448 sei die ewige Einheit (unitas) Erst-Prinzip aller Vielheit; Ungleichheit aber sei Abfall bzw. Abweichung von der Gleichheit der Einheit, so dass vor aller Ungleichheit die ewige Gleichheit (aequalitas) sei; vor aller Unterscheidung sei aber Zusammenhalt stiftende Verknüpfung (connexio) von Einheit und Gleichheit, so dass Trennung und Unterscheidung als Abfall bzw. Abweichung von der Zusammenhalt stiftenden Verknüpfung gelten müssten, diese Verknüpfung aber ewig sei.1449 Mehrere Ewige könne es jedoch nicht geben.1450 Daher werde in göttlicherseits autorisierte Person zu sein scheint (bevor ein weiserer kommen wird, Nathan III, 7, V. 2052); beide Autoren entsprechen, so besehen, dem Motto des Psalmisten (82, 1 b), dass letztlich nur „Gott Richter unter den Göttern“ (und Religionen) sein kann. – Zu Lessing und Cusanus vgl. außerdem Schmitz (2005). Zur „Lehre von den drei Betrügern“ als Vorläufer der späteren „ins Positive“ gewendeten Ringparabel vgl. Reinhardt (2008: 56). 1444 pac. VI, 18; 17, 1–4 (s. o. Kap. V.c6). 1445 pac. VII, 20; 20, 4–8. 1446 Vgl. in ähnlicher Weise doct. ign. I, 26, 88, vgl. zur Stelle Knoch (2012: 31). 1447 pac. VII, 21; 20, 9–15. 1448 S. o. Kap. III.d. 1449 pac. VII, 21; 20,16–21,7. 1450 Dies wurde bereits zuvor abgeleitet: ‚Non est autem possibile plures esse aeternitates, quia ante omnem pluralitatem est unitas‘ (pac. V, 15; 14, 18–19).
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ein und derselben Ewigkeit „Einheit, Gleichheit der Einheit und die Vereinigung (unio) bzw. Zusammenhalt stiftende Verknüpfung von sowohl Einheit und Gleichheit gefunden.“1451 Somit sei das höchst einartige Prinzip des Universums ein-dreiig (unitrinum), weil das Entfaltet-Prinzipiierte – d. h. das, was Vielheit, Ungleichheit und Trennung zeigt – im transzendenten Prinzip eingefaltet sein müsse. Da jedes Prinzipiierte aber eine solche „Dreier-Unterscheidung in der Einheit des Wesens“ zeige, müsse auch „das höchst einfache Prinzip aller Dinge dreifach und einfach sein.“1452 Die Argumentation des Logos nimmt also auch hier nicht auf Aspekte theologischer Offenbarung Bezug, sondern ruht auf rein ontologisch-prinzipientheoretischen Beweisführungen auf und zeigt nicht zuletzt deutliche Ähnlichkeiten mit Cusanus’ Schrift De coniecturis:1453 Der drei-einige Gott wird implizit qua Einheit mit Gott Vater, qua Gleichheit mit Gott Sohn, qua vereinigender Verknüpfung mit Gott Heiligem Geist parallelisiert, da aus diesen drei in Gottes Wesenseinheit eingefalteten Seinsprinzipien die ontologischen Erstbedingungen der Möglichkeit für geschöpfliches Sein ausgefaltet werden, insofern die Geschöpfe charakterisiert sind durch Vielheitlichkeit, die auf Einheit basiert, durch Ungleichheit, die ihr Sein als Abweichung von der Gleichheit empfängt, und durch Trennung, welche erst durch Abweichung von vereinigender Verknüpfung prinzipiiert wird. Die Relation der drei-einigen, in Einheit eingefalteten (com‑ plicata) Prinzipien zu ihren ausgefalteten (explicata) Prinzipiaten erweist sich damit nicht zuletzt einmal mehr als Form der Partizipation der Geschöpfe an dem Wirken des ihnen transzendenten, drei-einigen Gottes. Nicht zuletzt scheint hier die Abbild-Lehre des Dionysius Areopagita von den ‚ähnlichen Unähnlichkeiten‘ auf:1454 Die Vielheit, die nicht ohne Einheitlichkeit in ihrem Ganzen sowie in ihren Teilen sein kann, verweist auf ihr Prinzip der Einheit, die Unähnlichkeit auf das Prinzip der Ähnlichkeit, die Trennung auf das der vereinigenden Verknüpfung. Die Prinzipiate sind ihren Prinzipien zwar unähnlich, zeigen aber in ihrer ontologischen Abhängigkeit von diesen immer noch eine (wenn auch noch so schwer erkennbare) Ähnlichkeit. Die drei Prinzipien sind qua Prinzipien jedoch alle Ausdruck von Einheit, weshalb der Logos bei Cusanus sie in einem ersten philosophischen Zugriff auf das Trinitätsverständnis als ein, dreieiniges Prinzip bezeichnen kann. Damit ist jedoch zunächst nur ein Anfang in der Trinitätstheologie gemacht.
pac. VII, 21; 21, 8–10. pac. VII, 21; 21, 10–14. Vgl. zur Stelle Resch (2014 b: 162). 1453 S. o. Anm. 1152. – Zum obigen Zusammenhang in De pace fidei vgl. Flasch (1998: 355–6). 1454 Vgl. Drews (2011: 110 mit Anm. 257). Zu der grundsätzlichen Frage der Forschung, warum gemäß platonischer Prinzipienontologie das Eine qua Eines denn Prinzip von etwas Nicht-Einem sein könne, s.o Anm. 342. 1451 1452
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8. Der Chaldäer: Intellectus trinitatis – die Koinzidenz der Dreiheit und Einheit in Gottes einem Allvermögen. Ein Vergleich mit Proklos’ Henadenlehre, die Kritik des Korans an den ‚Teilhabern Gottes‘ und das Homoousios Wie der Chaldäer sogleich einwendet, sind diese trinitätstheologischen Ausführungen schwer zu begreifen, besonders für das „gemeine Volk“. Denn der Logos in Person sage ja wohl, dass der dreieinige Gott nicht drei Götter sei, „sondern einer, welcher einer ist als drei. Willst du also sagen, dass der Eine selbst drei ist im Vermögen?“1455 Daraufhin führt der Logos näher aus, dass Gott das absolute Vermögen (vis, vir‑ tus1456), weil allvermögend bzw. allmächtig1457 sei. Gemäß dem Primat des Einen vor dem Vielen gebe es nur ein absolutes Vermögen – Gottes Wesen –, welches qua Vermögen, also in seiner mächtigen Ausstrahlung, dreifach zu nennen sei. Damit sei nichts anderes gemeint als Gottes Dreifaltigkeit. Gottes Vermögendheit sei indes nicht zu verwechseln mit unaktualisierter Potentialität,1458 sondern in sich immer schon Aktualität (realitas).1459 Aus dem einen absoluten, vermögenden Wesen Gottes entfalte sich in trinitarischer Weise erstens die Einheit (unitas) als einendes respektive Wesen (essentia) stiftendes Vermögen (denn Eines und Sein seien austauschbar), zweitens die Gleichheit (aequalitas) als das Maß und (ausgewogene) Gleichheit verleihende und formende Vermögen (insofern etwas nicht mehr oder nicht weniger sei als das, was es ist, sei es auf gleichartige Weise; ohne diese seinem Wesen entsprechende innere Gleichheit verlöre es sein Wesen), drittens das Vermögen der Zusammenhalt stiftenden Verknüpfung (connexio), insofern dieses den Aspekt der Einheit in verbindender Hinsicht expliziere.1460 pac. VIII, 22; 21, 16–19. Zum Begriff virtus s. o. Anm. 1207. 1457 Zur Vermeidung des Missverständnisses von ‚(All‑)Macht‘ im Sinne von bloßer ‚Kraftmeierei‘ s. o. Anm. 536. – Zum Begriff „Allvermögen“ bei Plotin s. o. Kap. II.5 c. 1458 Zum Begriff der absoluten, immer schon aktualen Potenz als einem philosophischen Gottesbegriff s. Cusanus’ Werk Über das Können-Ist – De possest, dazu Beierwaltes (1994: 276) und Cürsgen (2007 b: 73, 108). Vgl. in grundsätzlich vergleichbarer Weise bereits Origenes zu Christus als „Gottes Vermögen“ (dynamis theou), an dem alles Vermögende qua VermögendSeiendem partizipiere (in Jh I, 33, 224). 1459 Dupré (1967: 733) übersetzen realitas mit „Wirklichkeit“. Sosehr dies philologisch nahe zu liegen scheint, sosehr regt es – ohne präzisierenden Zusatz – doch ein möglicherweise folgenreiches Missverständnis an: Neuzeitlich-modern verstanden, bedeutet ‚Wirklichkeit‘ die äußere, empirisch erforschbare, sinnlich-wahrnehmbare Realität. Für Platoniker – und dies gilt auch noch für Cusanus – ist aber der actus purus Gottes, d. h. Gottes nie nachlassendes, immer währendes Erkennen und das daraus erfolgende Wirken, ja gerade nicht etwas Sinnlich-Wahrnehmbares, empirisch Beobachtbares, sondern etwas rein Begreifbares, Intelligibles. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, übersetze ich realitas mit ‚Aktualität‘ im Sinne des sich immer vollziehenden und immer schon vollzogenen Aktes göttlichen Erkennens und Wirkens. – Zu der enormen Differenz zwischen einem materialistischen Wirklichkeitsbegriff als äußerer „Zustand“ und dem platonisch-aristotelischen Akt‑ bzw. energeia-Begriff, der das spezifische Sein bzw. „Werk“ (ergon) einer begreifbaren Sache umfasst, s. Schmitt (2011: 136). 1460 pac. VIII, 22; 22,1–23,1. 1455 1456
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Der Grundgedanke ist hier also, dass der absoluten, wesentlichen Einheit Gottes das absolute Schöpfervermögen inhäriert. Insofern dieses in Hinsicht auf Gottes einfaches Wesen als ein Gott betrachtet wird, lässt es sich auch als ein absolutes Vermögen verstehen. Die Vermögendheit bzw. Allmächtigkeit, die gerade aus der einshaften Urpotenz Gottes herrührt – welche in sich selbst immer schon aktual realisiert ist, jedoch im Hinblick auf ihre Entfaltung in der Schöpfung, d. h. nach außen hin, ‚Potenz‘ ist –, zielt aber auf ein produktives Herausgehen aus sich selbst im Sinne des neuplatonischen Begriffs der ‚überfließenden Überfülle‘.1461 Diese produktive Entfaltung kann nur aus der Einheit heraus erfolgen und impliziert so ein ‚Ausströmen‘ der inneren Einheit Gottes in (positiv verstandene) Vielheitlichkeit, ohne dass dabei eine pantheistische Theologie gemeint wäre und ohne dass Gott dabei seine Transzendenz und Unpartizipierbarkeit verlöre, denn Überfülle verliert sich auch im Ausströmen nicht selbst. Insoweit entspricht der argumentative Duktus des Logos in Person bei Cusanus im Grunde der neuplatonischen Metaphysik eines Proklos. Dieser hatte mittels seiner Lehre von den überseienden Henaden gerade die entscheidende Schnittstelle zwischen dem absoluten Einen als höchstem Gott und dem absoluten ‚Sein‘ als erstem Prinzipiat eingekreist: Das absolute Eine kann qua Einem nicht partizipierbar sein, sonst wäre seine Einfachheit bereits nicht mehr absolut einshaft. Alles Seiende basiert aber auf dem Prinzip der Einheitlichkeit: Verschiedene Dreiecke sind z. B. nur dann alle jeweils Instanz von ‚Dreieck‘, wenn eine einshafte Bestimmung auszumachen ist, welche Dreieck nicht als gleichseitiges oder rechtwinkliges (etc.) Dreieck, sondern ausschließlich als ‚Dreieck‘ einkreist. Diese war definitionsweise darin zu finden, dass eine geradlinige, ebene Figur mit der Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln zu sein, nur als ‚Dreieck‘ möglich ist. Denn diese einheitliche Bestimmung liegt sowohl allen Einzeldreiecken als ihr Prinzip zugrunde, da sie in jedem partikulären Dreieck im platonisch-euklidischen Sinne realisiert ist. Diese einheitliche Bestimmung liegt den Partikulardreiecken zugleich aber auch als Prinzip voraus, denn sie umfasst mehr Dreieckhaltigkeit als jedes Partikulardreieck, weil sie alle möglichen Dreiecksarten in sich komplexiv umschließt.1462 Sie übersteigt somit die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung und Vorstellung, sie ist nur von dem reinen begreifenden Denken (Intellekt, nous) als in sich selbst bestehende, intelligible Sache zu begreifen und ist in diesem Sinne ein Eidos. Die intelligiblen Ideen wie ‚Dreieck‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Schönheit‘1463 basieren aber, wie Proklos zeigen will, in ihrer jeweiligen einshaften eidetischen Bestimmtheit jeweils implizit auf einem Einheitsgrund, der auch die Einheit des intellekthaften Erkennens und der intelligiblen Einheitlichkeit noch überragt, weil er aus dem absoluten, überseienden Einen 1461 S. o.
Anm. 238 sowie Kap. III.d–g, mit Anm. 342. S. o. Kap. III.c. Zu Aristoteles, APo 24 s. o. Anm. 102. 1463 Zum Beispiel der Schönheit s. o. Kap. II.2. II.3, II.5 c, III.c, IV.4 c, IV.5 a. 1462
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herrührt: Diesen Einheitsgrund macht Proklos in den überseienden Henaden als Ursache für die Einheitlichkeit auch eidetischer Bestimmtheit aus.1464 Denn wenn das absolute Eine in höchstmöglicher Einshaftigkeit nur als überseiend und unpartizipierbar zu ‚über-denken‘ ist, dann müsste eine Vermittlungsstufe der reinen Einheitlichkeit zwischen diesem absoluten Einen und den auf Einheit basierenden Seienden bestehen. Genau diese Vermittlung leisten die sog. überseienden Henaden, weil sie wie das absolute Eine selbst zwar ebenfalls dem Bereich des Seins vorausliegen und insofern vor‑ bzw. überseiend ‚sind‘, aber das Eine in die Partizipierbarkeit und Entfaltung ins Seiende hin überführen, ohne dass jenes absolute Eine deshalb selbst seine Einheitlichkeit verlöre. Das erste Seiende ist das Prinzip ‚Sein‘, welches als das erste über die henadische Vermittlung an dem absoluten Einen Partizipierende konstituiert wird. Oben wurde versucht zu zeigen, inwiefern bei Proklos die Henaden selbst, weil überseiend, noch keine Vielheit sein können, sondern die ultimative Schnittstelle der Entfaltung des absoluten Einen in die Vielheit darstellen: dadurch dass sie auf vielfache Weise partizipierbar sind und partizipiert werden.1465 In den Henaden kommt die Überfülle und Allvermögendheit des absoluten Einen also zur produktiven Entfaltung – gemäß Proklos. Cusanus – wie die obige Stelle erneut zeigt – nimmt indes keinen Unterschied zwischen absoluter und deshalb überseiender Einheit einerseits und absolutem Sein andererseits an, sondern hält beides gemäß dem christlichen Verständnis Gottes als des absoluten Seins1466 für konvertible, austauschbare Begriffe.1467 Im Hinblick auf die Entfaltung der absoluten Einheit – entweder seiend oder überseiend – in die Vielheit sind aber diese beiden platonischen Philosophotheologien nicht nur verwandt und vergleichbar, sondern zeigen in der Sache eine strukturelle Übereinstimmung und auch insofern ‚Einheit‘. Denn Proklos’ Henaden vermitteln überseiende, über-begreifbare Einheit produktiv an das Prinzip ‚Sein‘ und die Seienden, sie sind gerade und nur in dieser Vermittlungstätigkeit und Partizipierbarkeit von dem absolut transzendenten Einen unterscheidbar; ebenso ist die trinitarische Entfaltung des einen Wesens des im christlichen Sinne einen wahren Gottes über die Bestimmungen der Einheit, Gleichheit und Verknüpfung bei Cusanus ein Versuch, die übervolle Potenz des einen Wesens Gottes in ihrer Ausstrahlungskraft ins (geschaffene) Seiende hinein philosophisch zu durchdringen, indem dieses Einheitswirken von den primären, Proklos, ETh 6 (s. o. Kap. III.e). S. o. Kap. III.e–g. 1466 S. o. Kap. IV.3 a und IV.4 b mit Anm. 823 sowie Kap. V.c4. 1467 pac. VIII, 22; 22,1–23,1. Dazu, dass z. B. Dionysius Areopagita und Boethius einen christlichen Gottesbegriff entwickeln, der in gewisser Weise Gott sowohl als überseiend wie auch als seiend (im Hinblick auf seine schöpferische Entfaltung im Seienden) umgreift, s. o. Kap. IV.5 a und IV.6. Jedoch nehme auch Cusanus bisweilen eine solche Differenzierung „zwischen einem transzendenten und einem seinskoordinierten Einen“ vor (Cürsgen 2007 b: 54–55). Vgl. D’Amico (2007: 50). 1464 1465
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aus der absoluten Einheit ableitbaren begrifflichen Bestimmungen erklärt wird: Seiendes ist nur durch wesentliche Einheit das, was es ist; Seiendes ist gleich mit sich selbst, insofern es sein Wesen in einheitlicher Weise verwirklicht und dieses nicht durch Abweichung von diesem gefährdet oder verliert;1468 Seiendes ist in sich und miteinander verknüpft nur dadurch, dass verbindende Einheit es eint und seinen Zusammenhalt herstellt. Verbindende Einheit, Gleichheit mit sich selbst, einshaftes Wesen sind aber allesamt jeweils Aspekte, die aus dem absoluten Einen selbst herrühren und gemäß Cusanus zu diesem gehören1469 und insofern als drei Hinsichten gelten können, die in dem Einen zusammenfallen bzw. koinzidieren, insofern dieses absoluterweise, d. h. in übersteigerter Form, das alle diese Hinsichten einende Eine ist.1470 Damit zeigt der Logos in Person bei Cusanus das dreifaltige Vermögen des einen Wesens des einen Gottes auf. Auch für diese Explikation der christlichen Trinitätstheologie gilt jedoch, dass sie letztlich noch von den Geschöpfen und ihren Konstitutionsbedingungen her entworfen scheint:1471 Den Geschöpfen kommt Einheit zu, die aber zugleich auch immer schon geeinte Vielheit ist, ebenso Gleichheit, die aber immer schon graduell von der absoluten Gleichheit abweicht, sowie Trennung als Gegensatz zur Zusammenhalt stiftenden Verknüpfung.1472 D. h., die Geschöpfe sind in gradueller Abstufung1473 und Abweichung durch Einheitlichkeit (in Abweichung: relative Vielheitlichkeit), Gleichheit (in Abweichung: relative Ungleichheit), Zusammenhalt (in Abweichung: relative Trennung) wesentlich charakterisiert, wobei diese Abstufungen selbst nur als Abweichungen von den jeweiligen Einheitsprinzipien Einheit-Gleichheit-Verbundenheit bestimmt werden können und insofern als graduelle Abstufungen diese Prinzipien voraussetzen und auf sie zurückbezogen sind. Es stellt sich theologisch-philosophisch also die Frage, ob und inwiefern ein trinitarischer Gottesbegriff ableitbar wäre, der nicht ausschließlich von den nach 1468 Zum
Begriff der Selbstgleichheit vgl. Leinkauf (2006: 169). pac. VIII, 22; 23, 10–13. 1470 Diese prinzipienontologischen Ableitungen finden sich bereits – ohne die Sache betreffende „major shifts“ – in doct. ign. I, 7 (vgl. Alfsvåg 2014: 52, 60), wobei dort der Nachweis, dass Einheit, Gleichheit, verbindende Verknüpfung gleichrangige Implikate des Einen sind, genauer geführt wird: Die Andersheit als das ‚Anders-Sein in abgrenzender Relation zu etwas‘ setzt Zweiheit voraus, ist somit später als Einheit; dies gilt analog für die Ungleichheit, die vom einheitlichen Maß der Gleichheit entweder durch Zuviel oder Zuwenig abweicht und insofern ebenfalls ‚Anders-Sein in abgrenzender Relation zu etwas‘ voraussetzt; die Zweiheit ist also Ursache von Trennung, Verknüpfung ist aber deren Gegenteil und Implikat der Einheit und somit sachlich früher als Zweiheit – früher als Zweiheit kann aber nur die Einheit sein, wodurch die Drei-Einheit von Einheit – Gleichheit – Verknüpfung in der Einheit selbst erwiesen ist, insofern alle drei Bestimmungen früher als Zweiheit und somit Einheit bzw. Aspekte der Einheit sind. Vgl. außerdem coni. I, 11, 54–56 (s. o. Kap. V.b) sowie cribr. II, 7, 105. 1471 S. pac. VII, 21; 20, 10–11. Vgl. Flasch (1998: 353). 1472 S. o. Kap. V.c7. 1473 Dies berührt nicht zuletzt den Grundgedanken von Platons ontologischem Komparativ (s. o. Anm. 334). 1469
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außen hin, auf das Hervorbringen der Geschöpfe zielenden Entfaltungen dieses absoluten Vermögens Gottes her motiviert ist. Hier bietet vor allem der johanneische Gottesbegriff des Neuen Testaments einen entscheidenden Schlüssel, welcher in prominenter Weise von Augustinus in seiner Trinitätstheologie aufgegriffen und z. B. von Boethius rezipiert wurde:1474 „Gott ist Liebe.“1475 Wie oben im Zusammenhang mit Boethius detaillierter diskutiert wurde, ist genau dieser theologische Satz auch philosophisch geeignet, die beiden auf der Ebene des bloß rationalen Denkens auseinanderfallenden Begriffe ‚drei‘ und ‚einer‘ auf einer höheren, intellektiv-henotischen Ebene als innere Einheit zu erweisen: Denn Gottes einheitliches Wesen als Liebe erscheint in seiner inneren, dreifaltigen Relation, d. h. in der liebenden Beziehung der trinitarischen Personen Gott Vater (Liebender), Gott Sohn (Geliebter) und Gott Heiligem Geist (Liebe) zueinander, als reine Aktualität eben dieses einen wesentlichen Liebe-Seins, so dass die innere Entsprechung zwischen (a) der Relation der drei Personen zueinander und (b) dem einen Wesen ein und denselben Gott als drei-einig, d. h. als drei und einer erweisen kann gerade aufgrund seiner einen Wesensbestimmung als liebender Gott. Kurz gesagt, scheint der Gedanke, dass Gottes eines Wesen als Liebe sich bereits intern – vor aller schöpfungstheologischen Relevanz – in der relational geeinten Liebe (Heiliger Geist) des Liebenden (Gott Vater) und des Geliebten (Gott Sohn) ausprägt, dafür geeignet zu sein, auf transrationale Weise den Widerspruch zwischen drei und einer aufzuheben bzw. koinzidieren zu lassen, ohne dass dabei der Anspruch der Rationalität und des begründeten Arguments geopfert würde. Denn erst das rationale Durchdenken und intellektive Erfassen (a) des Primats der Einheit vor der Vielheit (deshalb kann das höchste Wesen nur Einer sein),1476 (b) der Koinzidenz sowohl von Einheit und Gutheit (der eine Gott ist zugleich wesentlich gut1477) wie auch (c) der Koinzidenz von absoluter Gutheit und Liebe, schließlich (d) der inneren Entsprechung zwischen dem Liebe-Sein (wesentliche Einheit) und dem in Liebe Aufeinanderbezogensein liebender Personen (relationale Dreiheit) vermag überhaupt die transrationale Zusammenschau all dieser Aspekte in einem Einheitsblick vorzubereiten und zu ermöglichen. Transrationalität in diesem Sinne ist keine Irrationalität oder Schwärmerei, sondern eine übersteigerte und somit gerade keine verworfene Rationalität.
S. o. Kap. IV.4 c und IV.6. 1 Jh 4, 16 b. Vgl. o. Anm. 875. 1476 S. o. Kap. III.d. 1477 ‚Nam nemo appetit in omni eo quod appetere videtur nisi bonum, quod tu es‘ (pac. I, 5; 6, 11–12; s. o. Kap. V.c2). – Dazu, dass Gott gemäß Platon nur gut sein kann und alles Seiende, insofern es sein wahres Wesen verwirklicht, gut ist und auf einheitlicher Gutheit basiert, s. o. Kap. II.2, II.4.1, II.4.2 b sowie Anm. 1232 und 1294. 1474 1475
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Genau auf diesen Kontext augustinisch-boethianischer Trinitätstheologie spielt im Folgenden von De pace fidei der Logos in Person an, wobei er den Bezug zum Vorhergehenden herstellt: ‚Daher ruft [sc. Gottes] Allvermögen (omnipotentia) in dem Vermögen (virtus1478) der Einung (unitas) aus dem Nicht-Sein, auf dass, was nicht war, aufnahmefähig (capax) für das Sein selbst werde; und in dem Vermögen der Gleichheit formt es; und in dem Vermögen der Zusammenhalt stiftenden Verknüpfung verbindet es, wie du im Wesen der Liebe (essentia amoris) siehst, auf welche Weise das Lieben (amare) den Liebenden (amans) dem Liebenswürdigen (amabilis) verbindet‘ (pac. VIII, 22; 23, 1–5).
Cusanus rekurriert hier also auf den von Augustinus her bekannten Ternar amans – amatus – amor, wobei nicht ganz eindeutig ist, ob der Logos in Person diesen Ternar tatsächlich auf das eine Wesen Gottes bezieht oder ‚nur‘ auf das Wirken des Heiligen Geistes, insofern dieser „Zusammenhalt stiftende Verknüpfung“ ist: Letzteres scheint die Syntax und der Kontext nahe zu legen, erstere Interpretationsmöglichkeit scheint aber zumindest durch den eindeutigen Hinweis auf das Wesen (essentia) der Liebe nicht unmöglich. Im Folgenden wird der Konnex der trinitarischen Bestimmungen in seiner Ursächlichkeit am Beispiel der Erschaffung des Menschen kurz expliziert, wobei der Logos ableitet, dass Gleichheit aus Einheit entspringe (oriri), aus Einheit und Gleichheit aber Liebe bzw. Verknüpfung hervorgingen, denn „Einheit sei nicht von Gleichheit und Gleichheit nicht von Einheit trennbar.“1479 Zusammenhalt stiftende Verknüpfung respektive Liebe verhalte sich so, dass, wenn Einheit gesetzt sei, auch Gleichheit, und wenn Einheit und Gleichheit gesetzt seien, auch Liebe bzw. Verknüpfung gesetzt sei. Wenn aber Gleichheit nur als Gleichheit von Einheit, und verbindende Verknüpfung nur als auf Einheit und Gleichheit bezogen gefunden werde, verbindende Verknüpfung aber in Einheit und Gleichheit, Gleichheit in Einheit, und Einheit in Gleichheit, und Einheit und Gleichheit in verbindender Verknüpfung sei, dann sei offenbar, dass in der Trinität keine wesensmäßige Unterscheidung (essentialis distinctio) sei. Weil alle drei ineinander sind und sich durchdringen,1480 bestehe die Unterscheidung der drei nicht in Bezug auf Wesen, sondern allein in der Relation.1481 Damit bewegen sich die Ausführungen des Logos bei Cusanus letztlich in philosophischer Entsprechung zum Nizänum: Die Gleichheit (der Sohn) wird aus der Einheit (dem Vater) gezeugt, aus beiden geht (gemäß dem katholischen filio‑ que) die Liebe (Heiliger Geist) hervor. Jedoch bleibt diese trinitarische Analogie im rein philosophischen Kontext, auf die Personalität der Trinität wird indes Zur Übersetzung von virtus s. o. Anm. 1207. VIII, 22; 23, 5–15. Vgl. cribr. II, 6,102–7,106 und Resch (2014 b: 165). 1480 Vgl. Knoch (2012: 30). – Zum Begriff der ‚Perichorese‘ s. o. Anm. 1001, speziell im Hinblick auf Cusanus vgl. Resch (2014 b: 328). 1481 pac. VIII, 22–23; 23, 15–24, 6. 1478
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nicht verwiesen.1482 Dass die Trinität überhaupt mit scheinbar abstrakten Begriffen in eins gesetzt wird, ist in den theologisch-philosophischen Explikationen der göttlichen Einheit innerhalb der christlichen Tradition nicht unüblich: Der Sohn, Christus als Logos, ist bereits biblisch das „Abbild“ Gottes, „in welchem“ dieser alles geschaffen habe;1483 während sich gemäß Origenes’ Auslegung dabei eine Subordination des Sohnes unter den Vater ergibt, so dass der Sohn nur in abgeleiteter Weise Gott ist,1484 begreift Augustinus Christus als „Ähnlichkeit des Vaters“, ohne dass der Sohn nur durch sekundäre Teilhabe an Gott-Vater göttlich wäre,1485 vielmehr kommt allen drei trinitarischen Personen (gemäß dem Homoousios) ein einziges Wesen zu, dessen innere Beziehung sich in den Personen Vater, Sohn, Heiliger Geist ausdrückt. Diese theologisch-philosophische Tradition steht bei Cusanus also sowohl historisch wie auch vor allem systematisch im Hintergrund, weshalb er den Sohn im philosophischen Sinne einfach mit der prinzipienhaften Gleichheit in eins setzen kann, die aus der Einheit des Vaters entsteht (oriri) und „untrennbar“ von dieser ist, beide aber sind in der aus beiden hervorgehenden vereinigenden Verknüpfung des Heiligen Geistes geeint. Mit dieser prinzipienhaften Gleichheit ist also kein abstrakt-leeres Ebenbild der Ur-Einheit gemeint, sondern in der Gleichheit des Sohnes mit dem Vater tritt dessen Seinsfülle als Logos, als Inbegriff der schöpferischen Vernunft hervor; in dem Sohn-Logos, dem göttlichen ‚Vernunft-Wort‘, bestehen die Seins‑ und Vernunftgründe der Schöpfung, die ‚Primordialursachen‘, in vorausgehender und noch eingefalteter Weise, weshalb der Sohn ‚Schöpfungsmittler‘1486 ist: „Alles hat in ihm Bestand, und er ist vor allem“, und „durch ihn ist alles geschaffen“, wie der Kolosserbrief es formuliert. Dies aber heißt für Cusanus: Die Schöpfung wird durch den Logos geschaffen, indem die in ihm eingefalteten Seins‑ und Vernunftgründe zur Entfaltung in die Seienden geführt werden.1487 1482 Vgl. Flasch (1998: 359). – Dazu, dass gerade im Rahmen platonischer wie christlicher Theologie der Aspekt der Personalität wesentlich ist, s. o. Kap. II.5 c, III.g, IV.4 b, IV.6. – Zum filioque bei Cusanus s. pac. X, 28; 30, 2–4 (Kap. V.c10) und Resch (2014 b: 330). 1483 Kol 1, 15–17. 1484 S. o. Kap. IV.3 b. – Schwaetzer (2011: 148) weist für Cusanus’ De filiatione darauf hin, dass der Logos hier als einziger, vollkommener Spiegel Gott-Vaters zu begreifen sei. Dies scheint Origenes’ Theologie durchaus verwandt zu sein. Dennoch muss ein solches Spiegel-Gleichnis nicht subordinatianistisch, sondern kann auch als innertrinitarischer Spiegel – im Einklang mit der nizänischen Wesensgleichheit – verstanden werden. Schwaetzer (ibd., 149) betont, dass „die Differenz zwischen Gott und Mensch“ bei Cusanus klar gewahrt bleibe. Zur aequalitas des Sohnes vgl. Schwaetzer (2012: 72–73): „Die Wahrnehmung des Anderen als eines Bruders ist die Wahrnehmung der Gleichheit und damit die Wahrnehmung dessen, der Menschsein als IchSein begründet und die Du-Erfahrung ermöglicht, die Wahrnehmung des Christus.“ 1485 S. o. Kap. IV.4 a mit Anm. 807. 1486 Vgl. Kap. IV.2.3 b. 1487 Zur Präsenz des Kolosserbriefs in Cusanus’ Denken s. Reinhardt (2014: 65, 67–68). Reinhardt (ibd., 68–69) macht zudem darauf aufmerksam, dass „Cusanus die einzigartige Gottebenbildlichkeit Christi nicht im exklusiven Sinn versteht“, wie schon „die Bezeichnung ‚Erstgeborener der Schöpfung‘ “ (Kol 1, 15) nahe lege. Damit ergibt sich eine sachliche Ähnlichkeit
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Es gehe daher bei der göttlichen Trinität nicht um zahlhaft-wesentliche Verschiedenheit,1488 also auch nicht um drei Götter, wie der Logos bei Cusanus in Übereinstimmung mit Augustinus und Boethius ausführt:1489 ‚Deshalb ist die Trinität in Gott nicht zusammengesetzt (composita) oder vielheitlich (pluralis) oder zahlhaft (numeralis), sondern ist einfachste Einheit. Die also Gott als einen glauben, werden nicht in Abrede stellen (negabunt), dass er selbst dreifaltig (trinus) ist, wenn sie intellektiv begreifen (intelligunt), dass jene Trinität sich nicht von der einfachsten Einheit unterscheidet, sondern diese selbst sei, so dass, wenn nicht jene Trinität selbst in der Einheit wäre, [sc. auch] das zur Erschaffung des Universalen und Einzelnen allvermögende (omnipotens) [sc. Gottes‑]Prinzip selbst nicht wäre‘ (pac. VIII, 23, 24, 9–15).
Mit diesem Schlusssatz verweist der Logos in Person noch einmal auf seinen schon gegenüber dem Inder ins Feld geführten Ausgangspunkt, dass sich die Trinität als Name Gottes schöpfungstheologisch-ontologischen Implikationen verdanke.1490 Wenn, wie oben ausgeführt, alles geschaffene Seiende in graduell unterschiedlicher Weise durch Einheit, Gleichheit und Verknüpfung bzw. Liebe prinzipiiert werde, prinzipienhafte Einheit, Gleichheit und Verknüpfung aber einander durchdringen, dann ist Gott als das die Seienden hervorbringende Prinzip diese Drei-Einheit selbst. Anders gesagt: Ohne die drei Bestimmungsmomente, die einander implizieren, wäre Gott nicht zugleich auch Schöpfer, nicht allvermögend, um die Seienden zu schaffen. Die wechselseitige Implikation dieser drei Momente erweist sie als innere Einheit, als wesentliche Einheit, deren innere Relation dreifaltig ist. Daher handelt es sich bei dem christlichen drei-einigen Gott nicht um ein Kompositum aus distinkten, abzählbaren Teilen,1491 welcher somit auch nicht mit Vielheit im Sinne wesentlicher, das Sein selbst betreffender Zahlhaftigkeit in Verbindung zu bringen ist. Das relationale Ineinander von Einheit, Gleichheit und Verknüpfung bzw. Liebe ist gemäß der Argumentation des Logos in wesentlicher Hinsicht vielmehr Gottes allvermögendes Eins-Sein: Die Einheit Gottes ist keine leere oder abstrakte, sondern allvermögende Einheit, deren gleichsam ‚pulsierende‘ Dynamik in der wechselseitigen Durchdringung der drei philosophisch fassbaren Momente Einheit, Gleichheit und Verknüpfung bzw. Liebe besteht. zu Boethius’ inklusiver Theologie, dass zwar von Natur aus ein Gott sei, aber durch (sekundäre) Partizipation so viele wie möglich ‚Götter‘ sein könnten (Boethius, cons. III, 10p, 23–25; s. o. Kap. IV.6). Zur doppelten Ebenbildlichkeit Christi mit Gott(‑Vater) – „die der menschlichen Seele Jesu und die ewige, innertrinitarische Gottebenbildlichkeit“ – gemäß Origenes und zu dessen Rezeption durch Cusanus s. Reinhardt (ibd., 70). – Zum Logos als Inbegriff der Vernunftgründe der Schöpfung s. o. Anm. 1276 sowie Kap. V.b und V.c3–5. 1488 ‚Numeralis autem distinctio est essentialis‘ (pac. VIII, 23; 24, 6–7). 1489 Zur Trinitätstheologie bei Augustinus s. o. Kap. IV.4 b, bei Boethius Kap. IV.6. Vgl. außerdem Cusanus, cribr. I, 9, 49–52; 11,56–12,59; 15, 66; 18, 76; II, 3, 95–96; 10, 111. 1490 S. o. Kap. V.c7. 1491 Von Augustinus übernimmt Cusanus den Gedanken, dass man, wenn man die Trinität abzuzählen versuche, die Wahrheit verfehle (‚Dum incipis numerare trinitatem, exis veritatem‘, doct. ign. I, 19, 57).
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In dieser Weise – und nur gemäß diesem Verständnis – vermag der Logos bei Cusanus tatsächlich zu behaupten, dass diejenigen, die an Gott als den einen glauben (d. h. Monotheisten im weitesten Sinne), seine Dreifaltigkeit „nicht in Abrede stellen werden“: Denn gemäß dem gerade erläuterten Trinitätsverständnis ist Gott einer und allvermögend / allmächtig – im völligen Einklang mit einem monotheistischen Gottesbegriff; die Implikationen des in seiner schöpferischen Seinsfülle als prägnant zu denkenden, einen allerhöchsten Prinzips erweisen dieses jedoch dreifaltig in seiner Einheit, ohne dass mehrere göttliche Wesen angenommen würden. Gemäß dem Duktus und Selbstverständnis von De pace fidei steht eine so begriffene Trinität nicht im Widerspruch zum Glauben an den einen, wahren Gott. Der Logos bei Cusanus formuliert allerdings in hintergründig-treffender Weise: „wenn sie intellektiv begreifen (intelligunt)“. D. h., auch hier zeigt der für die fiktionale Anlage des Werks schon des Öfteren in Anschlag gebrachte aristotelische Möglichkeitsbegriff 1492 seine Tragweite: Nur unter der (kontingenten) Bedingung, dass die Trinität in diesem Sinne verstanden wird, wird sie als monotheistischer Gottesglaube erscheinen. Und dieses Verstehen ist nicht zufällig gemäß der lateinischen Begrifflichkeit wieder einmal an das Erkenntnisvermögen des Intellekts gekoppelt – entsprechend der Entrückung des den Dialog hörenden und aufschreibenden (intendierten) Autors:1493 Wird diese Erkenntnisebene des reinen, transrational zusammenschauenden Begreifens, wird die coincidentia oppositorum1494 im Intelligiblen jedoch nicht erreicht, dann würden die auf der im Vergleich zum Intellekt niedrigeren Ebene der Ratio bestehenden Unterschiede (‚drei ist nicht eins‘) wieder den Blick auf dieses intellekthafte Trinitätsverständnis, wie es der Logos bei Cusanus entwirft, verstellen. Ein (schöpferisches) Vermögen, so der Logos weiter, sei umso mächtiger (for‑ tior), je geeinter es sei, je geeinter (unitior) aber, desto einfacher (simplicior): Da Gottes Wesen allvermögend sei, sei es das „einfachste und dreifaltige“, denn ohne Dreiheit (trinitas) wäre es nicht „das einfachste, mächtigste und allvermögende Prinzip“.1495 Damit führt der Logos in Person letztlich nichts anderes als die coincidentia oppositorum der Aspekte Einheit und Dreiheit im Hinblick auf das christliche Gottesverständnis durch: Die Allvermögendheit ist umso stärker, je geeinter und einfacher sie ist – analog zum komplexiv-umfassenden, gesteigerten Sein eines Eidos im platonischen Sinne gegenüber seinen partikulären Instanzen (das Eidos ‚Dreieck‘ ist mehr Dreieck als jedes einzelne Dreieck, weil es als rein S. o. Kap. V.c1 und V.c4. S. o. Kap. V.c1. 1494 S. o. Kap. V.b und Anm. 1252. 1495 ‚Virtus quanto unitior, tanto fortior; quanto autem unitior, tanto simplicior. […] Unde cum essentia divina sit omnipotens, est simplicissima et trina. Sine enim trinitate non foret principium simplicissimum, fortissimum et omnipotens‘ (pac. VIII, 23; 24, 15–19). Vgl. Rohstock (2014: 67) zur Koinzidenz von Einheit und Dreiheit. 1492 1493
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intelligibles Wesen alle Dreiecksmöglichkeiten in sich geeint umfasst). Die Allvermögendheit ist aber gerade das Gegenteil von partikulärer Vereinzelung und reduzierter, eingeschränkter Simplizität: Die schöpferische Seinsfülle des allvermögenden Gottes zeigt sich in der Einheit der drei von dieser prägnanten Einheit wechselseitig implizierten Einheitsmomente Einheit – Gleichheit – liebende Verknüpfung. Die Dreiheit zeigt so Gottes prägnant-pulsierende Allvermögendheit, die jedoch wiederum nur als Einheit ihre absolute Mächtigkeit ist. Im Begriff der Allvermögendheit koinzidieren daher Einheit und Dreiheit, weshalb der eine Gott zugleich dreifaltig sei.1496 Obwohl auch hier offensichtlich aus der christlichen Perspektive heraus argumentiert wird und der Dialogcharakter des Werks beinahe verschwunden zu sein scheint, haben die Ausführungen des Logos doch das Ziel, einerseits zu beweisen, weshalb das Christentum tatsächlich eine monotheistische Religion ist, und andererseits, weshalb das Christentum anschlussfähig erscheinen könnte für nicht-christliche monotheistische Religionen, insofern mit der Trinität nichts behauptet werde, was im Widerspruch zu einer monotheistischen Gottesauffassung stehe. Auch hier gilt: Cusanus’ De pace fidei argumentiert aus 1496 Die Koinzidenz von Einheit und Dreiheit entwickelt Cusanus in aller Konsequenz negativ-theologischen Denkens mit seinem Gottesbegriff des Nicht-Anderen in der Schrift De (li) non aliud. S. dazu die philosophisch-theologisch überzeugende Studie von Rohstock (2014), der sich z. B. gegen eine bloß affirmative Translation des Begriffs des Nicht-Anderen wendet: „Überführt man die doppelte Negation ‚non aliud‘ einfach in eine reine Affirmation, korrumpiert man sie als Gottesbegriff. Vor diesem Hintergrund kann die eckhartsche Deutung der doppelten Negation als reine Affirmation nicht auf Cusanus appliziert werden. Denn das Nicht-Andere bleibt unhintergehbar reine Negation“ (ibd., 61, ähnlich 191). Mit anderen Worten: Ein nur mathematisch-rationaler Ansatz, gemäß welchem ein zweifaches ‚Minus‘ notwendig dasselbe wie ‚Plus‘ ist, bleibt hier unzureichend. Dabei steht nicht die mathematische Gültigkeit an sich in Frage; die mathematische Rationalität bleibt jedoch gegenüber den (trans‑)intellektiv-henologischen Anforderungen der höchsten Theologie unzureichend und hinter diesen zurück. Das Nicht-Andere ist die Negation der Andersheit selbst, es ist also weder ‚etwas Anderes‘, noch ist es gegenüber Andersartigen selbst anders, ohne wiederum mit solchem Anderen selbig / identisch zu sein, denn dann wäre es ja in identischer Weise mit Anderen selbst auch ‚Anderes‘ und nicht ‚Nicht-Anderes‘: Entsprechend ist das ‚Nicht-Andere‘ nicht anders gegenüber Anderem und auch nicht anders gegenüber Nicht-Anderem. Durch die Verneinung des Anderen ist es als Nicht-Anderes vielmehr herausgehoben aus der polaren Opposition von ‚identisch-different‘ und so als philosophischer Gottesbegriff Ausdruck von Gottes Transzendenz, wobei dieser Gottesbegriff nicht zuletzt einen dezidiert trinitarischen Sinn entfaltet (Rohstock [ibd., 192–3], Resch [2014 b: 329]): Da das Nicht-Andere nichts Anderes als das Nicht-Andere ist, inhäriert ihm, um mit Rohstock zu sprechen, ein ‚absoluter negativer Selbstbezug‘, bei welchem letztlich Einheit in Dreiheit und Dreiheit in Einheit koinzidieren, dies aber ist z. B. anschlussfähig an die Trinitätstheologie eines Boethius (s. o. Kap. IV.6). Vgl. ebenso Cürsgen (2007 b: 96–103, 127), zur „ ‚Selbstununterschiedenheit‘ der Trinität“ ibd., 101. Warum jedoch „das non aliud jedes Faktum zur ursprünglichen Notwendigkeit, zur negativ gefaßten Unmöglichkeit, anders (möglich) zu sein bzw. anders sein zu können […]“ machen soll (Cürsgen ibd., 112), erscheint fragwürdig und mutet eher wie ein stoisch gefärbter Fatalismus an. – Zum non-aliud vgl. ven. sap. 14, 40; s. ferner cribr. II, 8, 107. Zur Selbstdefinition Gottes, d. h. zur Selbstbegründung seines Wesens vgl. Beierwaltes (1994: 277).
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christlich-platonischem Blickwinkel, womit freilich nicht ausgeschlossen ist, dass ein jüdischer oder buddhistischer Autor ein Werk gleichen Namens aus seiner religiösen Perspektive entwerfen könnte. Entscheidend ist der Grundansatz, dass aus einer konkreten Religion und Sichtweise ein Ausgriff auf jeweils Fremdes versucht wird. Cusanus führt diese Methode exemplarisch durch – auf diese Beispielhaftigkeit, welche andere Perspektiven nicht ausschließt, kommt es an.1497 Nach diesen langen Ausführungen des Logos erwidert der Chaldäer, dass wohl niemand eine „von diesem intellekthaften Verständnis (intellectus)“ abweichende Meinung werde vertreten können.1498 Gemeint ist damit die besagte „intellekthafte Höhe“, zu welcher die Weisen entrückt sind,1499 auf welcher allein die Koinzidenz von Einheit und Dreiheit in dem gerade dargelegten Sinn aufscheint: Auf dieser erkenntnistheoretisch-ontologischen Höhe ist wie in einer transzendenten Vision die Drei-Einheit erahnbar;1500 wer an ihr Anteil gewinnt, so muss man wohl die Entgegnung des Chaldäers interpretieren, sollte ‚keinen weiteren Klärungsbedarf ‘ mehr haben. Wäre ein solches intellekthaftes Trinitätsverständnis tatsächlich anschlussfähig an die nicht-trinitarischen monotheistischen Religionen, dann wäre das Ziel des Logos von De pace fidei angesichts einer exponierten Hürde erreicht: Wenn auf der Ebene des reinen Intellekts die verschiedenen Weisen als Vertreter ihrer jeweiligen Religion die in ihren Einzelreligionen vorausgesetzte, eine intellekthafte Religion erblicken könnten, dann wäre dies mit Blick auf das spezifisch christliche Trinitätsdogma bereits dann ein ‚Erfolg‘, insofern dieser christlich-trinitarische Gottesbegriff von den Vertretern nicht-trinitarischer, aber monotheistischer Religionen nicht mehr als Affront gegen einen ‚reinen‘ Monotheismus verstanden werden könnte. Wie aus den Worten des Chaldäers sogleich deutlich wird, stehen diesem ‚Könnte‘ aber innerhalb der irdischen Realität gewichtige Hindernisse entgegen, denn dass Gott einen Sohn und Teilhaber in der Gottheit habe, sei den Arabern und vielen anderen ein Dorn im Auge.1501 Wie oben bereits im Abschnitt des Arabers erläutert, kann Allah gemäß dem Koran nicht gezeugt haben, also auch keinen Sohn besitzen,1502 außerdem gilt es im Islam als Blasphemie, Allah einen 1497 Zum Dialog aus muslimischen Perspektiven vgl. Levy / George-Tvrtkovič / Duclow (2014 b: 6) sowie die Beiträge im selben Band von Afsaruddin (2014), Keating (2014), Albertini (2014) und Dobie (2014). 1498 pac. VIII, 23; 24, 20–21. 1499 S. o. Kap. V.c3 mit Anm. 1299 und 1301. 1500 Im christlichen Kontext darf hier noch einmal an die Verklärungsgeschichte im Neuen Testament erinnert werden, bei der die Jünger zunächst den verklärten Jesus mit Mose und Eliah sprechen hören und sehen, dann aber nur Jesus allein (Mt 17, 1–13; vgl. o. Kap. V.b und s. u. Epilog, Kap. VII.2). Ohne hier missverständlicherweise eine ‚neue Trinität‘ ausmachen zu wollen, geht es doch um den Aspekt, dass Einheit und Dreiheit gleichsam ‚interchangieren‘. 1501 pac. VIII, 23; 24, 21–22. 1502 S. o. Kap. V.c6 mit Anm. 1387. Gegen die Trinitätslehre vgl. Sure 4, 171.
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‚Teilhaber hinzuzugesellen‘ – im Arabischen bedeutet sogar dasselbe Wort ‚Gott einen Partner beigesellen‘ zugleich ‚Götzendiener / Polytheist sein‘.1503 Von den in diesem Buch diskutierten Perspektiven wären in dieser Hin‑ sicht mindestens zwei im Rahmen eines interreligiösen Dialogs zu bedenken: (1) Origenes lässt Christus als Sohn und Abbild Gottes tatsächlich an dem einen Gott(‑Vater) partizipieren, wobei der Sohn dann dem Vater subordiniert erscheint.1504 Aus der Perspektive des Korans könnte – negativ bewertet – die Teilhabe des Sohnes an Gott (und potentiell weiterer sekundärer Götter) der Kritikpunkt par excellence sein. Ließe sich umgekehrt aber nicht möglicher‑ weise die Exklusivität des Gott-Seins, welche Origenes Gott(‑Vater) zuschreibt, gemäß der Kritik des Islams dahingehend positiv bewerten, dass es nur einen wahren Gott gibt? (2) Die z. B. von dem Kirchenvater Augustinus und Boethius vertretene Theo‑ logie der Wesenseinheit Gottes spricht den drei trinitarischen Personen gemäß dem nizänischen Homoousios ein Wesen zu: Die Kritik aus der Perspektive des Korans dürfte hier vorrangig den drei göttlichen Personen gelten. Nimmt man aber die Trinitätstheologie eines Augustinus oder Boethius ernst,1505 dann sind die drei trinitarischen Personen ja gerade keine ‚drei Götter‘, sondern die innere Relation des einen liebenden und wesentlich Liebe seienden Gottes. Denn das Homoousios zielt darauf ab, dass es sich um keine Subordination der drei göttlichen Personen handelt, also auch nicht um sekundäre Partizipation von Gott Sohn und Heiligem Geist an Gott Vater. Könnte, so verstanden, nicht gerade die Perspektive des Homoousios, die Cusanus, wie gesehen, teilt, die wesentliche Einheit Gottes unterstreichen und den Einwand, Gott Teilhaber bzw. Partizipationen beizugesellen, entkräften? Denn besonders Augustinus erhebt ja das wahre Gott-Sein als unpartizipiertes hervor und spricht den vielen Göttern der Polytheisten deshalb das wahre Gott-Sein ab, weil dieses seiner Auffassung nach höchstens durch sekundäre Teilhabe an dem einen wahren Gott erlangt sein könne. (Eine andere theologische Konstellation ent‑ steht freilich, wenn die vielen Götter nicht durch Teilhabe, sondern aus sich selbst heraus Götter sind, wie z. B. gemäß Apuleius und Proklos, wobei auch hier der monotheistische Anspruch des einen allerhöchsten Gottes gewahrt bleibt.1506) Die im Koran enthaltene Kritik an potentiellen Teilhabern Gottes 1503 Das Verbum scharika bedeutet im 4. Stamm (kausativ) „teilnehmen lassen, beigesellen, Götzendiener sein“. Vgl.: Der Dienst gilt Allah allein, ohne dass „wir ihm etwas beigesellen / einen Teilhaber zugesellen“ (walā nuschrika, Sure 3, 63/64); gegen die Anbetung von „euren Teilhabern“ (schurakāʾukumu) vgl. Sure 6, 22. 1504 S. o. Kap. IV.3 b. 1505 S. o. Kap. IV.4 und IV.6. 1506 In dieser Sichtweise erscheinen die vielen Götter zwar als Ausstrahlungen des einen absoluten Gottes, sind aber dennoch aus sich heraus und nicht erst durch Anteilhabe an Jenem Götter, sondern agieren vielmehr als Vermittler und bewirken selbst erst die Möglichkeit, dass
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wäre für Augustinus der Sache nach vermutlich durchaus akzeptabel, weil er selbst die paganen Götter aufgrund der Tatsache, dass ihnen das Gott-Sein nur durch Teilhabe zukommen könne, als irrelevant degradiert: Der Unterschied zur Perspektive des Korans besteht hier darin, dass für den Kirchenvater nicht die Teilhabe an sich problematisch ist, sondern dass die sekundäre Partizipation potentieller vieler Götter an dem einen Gott diese vielen Götter insofern ‚ent‑ larvt‘, weil sie nicht aus sich selbst heraus Götter sein können, sondern eben nur durch Teilhabe. Anders gesagt: Augustinus braucht den Gedanken der Teilhabe nicht zu fürchten, sondern verwendet ihn gerade als Argument gegen die vielen Götter.1507 Vom Resultat her besehen ist dies der grundsätzlichen Stoßrichtung der im Koran formulierten Kritik nicht unähnlich. Denn die Teilhabe an Gott wird zum Kriterium einer jedenfalls nicht primären, nicht-wahren Göttlichkeit: Wenn aber das Homoousios genau diesen Gedanken der bloß sekundären Par‑ tizipation der zweiten und dritten trinitarischen Person an Gott abweist, ihn als theologisch abwegig erweist, dann würde aus zumindest nizänisch-christlicher Sicht mit der Trinitätstheologie alles andere als ‚Teilhaberei‘ behauptet, sondern gerade das Eins-Sein des wahren Gottes ‚dogmatisch‘ unterstrichen – nicht trotz, sondern durch die Trinitätstheologie. Der Logos bei Cusanus hatte gerade diese Theologie der Einheit Gottes mit Hilfe trinitarischer Überlegungen philosophisch darzulegen versucht. Auf den berechtigten Einwand des Chaldäers entgegnet er entsprechend, dass die Ein‑ heit zwar Vater, die Gleichheit Sohn und die vereinigende Verknüpfung Heiliger Geist genannt werde, diese Begriffe aber nicht „eigentümlich“ seien, obwohl sie die Trinität „passend“ benennen.1508 Damit scheint die Priorität der Begriffe zu‑ nächst vertauscht: Während gerade die personalen Bezeichnungen Vater-Sohn(im Vergleich zu ihnen) niedrig stehendere Wesen am Göttlichen Anteil gewinnen und so überhaupt ins Sein treten können: Bei Proklos etwa partizipieren die überseienden Henaden‑ götter nicht an dem absoluten Einen, sondern sind selbst die partizipierbare(n) Mitte(n), an welcher / n dann die Seienden partizipieren (s. o. Kap. III.e, III.g). Zu Apuleius s. o. Kap. II.4.2 b (mit Anm. 190) bzw. Kap. III.g, zur Gegenüberstellung von Apuleius / Proklos mit Origenes s. Kap. IV.3 c sowie die Diskussion bei Augustinus in Kap. IV.4 a. – Dazu, dass gemäß De pace fidei kein Polytheismus ohne den einen allerhöchsten Gott zu denken ist, s. o. V.c6. 1507 S. o. Kap. IV.4 a. In ähnlicher Weise gebraucht Cusanus in cribr. II, 11, 112–4 genau dasselbe Argument gegen die muslimische Trinitätskritik. Wenn der Koran aus der Person Gottes heraus im Plural spreche („Wir haben offenbart […]“, ʾauchainā, Sure 42, 52) und den „Geist der Heiligkeit“ von Gott unterscheide (Sure 16, 102), dann bestünde gerade die Gefahr eines Polytheismus, bzw. Gott würde ein „Teilhaber zugesellt“ – eine Möglichkeit, die der Koran ja aber gerade attackiert (s. o. Anm. 1503). Cusanus kritisiert daher in der Cribratio, dass der Koran – obwohl er doch bestreite, dass Gottes Logos Gottes Sohn ist, um Gott keinen Teilhaber zuzugesellen – gerade dadurch genau dies bewirke: Ist der Logos nicht wesentlich Gott, so könne er, wenn er von Gott ausgesendet wird, nur an diesem sekundär teilhaben. Diese theologischen Unwägbarkeiten umgeht jedoch das nizänische Homoousios: Ohne sekundäre Partizipation an Gott und ohne einen Polytheismus einzuführen, sind die göttlichen Personen wesensgleich, also ein einziger Gott. 1508 pac. VIII, 24; 25, 1–3.
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Geist primär anmuten sollten,1509 unterstreicht der Logos bei Cusanus eindeutig den Vorrang der philosophischen Termini Einheit-Gleichheit-Verknüpfung. Dies entspricht freilich Cusanus’ prinzipientheoretisch-ontologischem, nahezu ausschließlich philosophisch argumentierendem Ansatz und lässt sich leicht kritisieren.1510 Für Cusanus ist aber der oben etablierte Koinzidenzgedanke von Dreiheit und Einheit in Gott von primärer Relevanz, weil sich damit das Zugleich von wesentlicher Einheit und relationaler Dreiheit – nicht zuletzt, wie oben gesehen, durch den Begriff der Allvermögendheit – erweisen lässt. Diese Koinzidenz der Gegensätze ist aber nur auf philosophischem Wege erreichbar; insofern erscheint der überraschende Vorrang der philosophischen Begrifflichkeiten vor den theologischen zumindest argumentativ und vom Duktus des Werks her begründet. Die Missverständlichkeit der personalen Begriffe VaterSohn-Geist ist für das argumentative Ziel des Logos anscheinend zu groß: Bei ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ mag zu sehr die menschliche Konnotation mitschwingen, dass hiermit jeweils verschiedene Wesen, quasi drei Götter gemeint sein könnten, obgleich die Trinität ja gemäß dem Logos bei Cusanus in augustinisch-boethianischer Tradition rein relational und nicht wesensmäßig zu denken ist. Ein solches Missverständnis würde dann sogar verständlicherweise den Widerstand und Polytheismusvorwurf seitens der „Araber“, d. h. bei Cusanus der Muslime, hervorrufen, auch wenn er der Sache nach gemäß Cusanus’ Trinitätsverständnis ins Leere läuft. Einheit-Gleichheit-Verknüpfung als wechselseitig ineinander verschränkte Implikate der allvermögenden Einheit Gottes scheinen für Cusanus diesem Missverständnis wohl besser vorzubeugen und bringen die begriffliche Einheit philosophisch prägnanter zum Ausdruck.1511
1509 Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass die Drei-Personalität Gottes für Cusanus bedeutungslos wäre: „[…] Cusanus entwickelt aus dem personalen biblischen Gott eine Metaphysik des Absoluten als eines Geistig-Ichhaften, worin die Ureinheit immer schon eine vermittelte und vollzogene, eine Dreieinheit ist“ (Gerl-Falkovitz 2012: 199). Unverständlich bleibt jedoch, warum Gerl-Falkovitz „Substanz“ als „leere Einheit“ (ibd.) bezeichnet, was einem platonischaristotelischen Verständnis kaum entsprechen und auch für Cusanus nicht zutreffen dürfte (vgl. seine Ausführungen zur rationalen Substanz des Kreises in coni. I, 11, 54, s. o. Kap. V.b). Ebenso wenig überzeugend ist die Interpretation, das „antike und mittelalterliche Denken“ ziele „auf ein Denken von Sein in statischer Ruhe“ (Gerl-Falkovitz, ibd., 199–200). Das wahrhafte Sein im platonischen Sinn ‚ruht‘ ja nur in dem Sinn, dass ihm nichts mangelt, was es zu seiner Vervollkommnung erst noch erlangen müsste (im Unterschied zum Werdenden; vgl. Platon, symp. 206a3–b7); das wahrhafte, intelligible Sein ist gemäß Platon jedoch voller Leben, Dynamik (soph. 248e6–249a2; s. o. Anm. 1148), die es freilich im inneren Einklang mit sich selbst – und nur insofern ‚in Ruhe‘ – besitzt. Zumindest der platonische Seinsbegriff ist nicht statisch-leer, sondern das intelligible Sein ist im Sinne einer koinzidal ruhenden Bewegung dynamischpulsierendes Sein, wenngleich ohne werdende Veränderung. 1510 Vgl. Flasch (1998: 359). Riedenauer (2007: 479) sieht hierin eine „erstaunlich starke Relativierung christlicher Dogmatik.“ 1511 Vgl. pac. VIII, 24; 25, 8–9 sowie Resch (2014 b: 169).
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9. Der Jude: Die monotheistische Trinitätstheologie und die berechtigte Kritik der Juden und Muslime – differente religiöse Wahrheitsansprüche, die eine Wahrheit Gottes und die (nicht-notwendige) ‚Übersetzbarkeit‘ der Religionen Nachdem der Logos in der Weise Augustins auch den trinitarischen Abbildcharakter der menschlichen Seele erläutert hat,1512 gibt der jüdische Weise seine Zustimmung zu diesen Ausführungen. Wie ein Prophet offenbart habe,1513 könne Gott, der doch anderen die Fruchtbarkeit gegeben habe, selbst nicht unfruchtbar sein.1514 Damit wird auch von dem jüdischen Weisen noch einmal bekräftigt, dass die vorher vom Logos in philosophischen Begriffen entfaltete Theologie Gott keineswegs zu einem leeren Abstraktum degradiert: Denn die Argumentation des Logos zielte darauf ab, Gottes produktive Seinsfülle mit Hilfe der Trinitätstheologie als die zur Erschaffung der vielen Seienden allvermögende Einheit zu beschreiben, wobei die relationale Verschränkung von Vater, Sohn und Heiligem Geist ineinander als Einheit eben diese prägnante, schöpferische Allvermögendheit erahnen ließ. Nach der Einschätzung des jüdischen Weisen lehnten die Juden zwar die Trinität ab, weil sie sie als Vielheit (pluralitas) verstanden hätten, würden sich jedoch beruhigen, sobald sie intellektiv einsähen (intellecto), dass die Trinität die „einfachste Fruchtbarkeit“ sei.1515 Auch hier ist wiederum entscheidend, dass eine mögliche Annäherung zwischen der christlichen Trinitätstheologie und nicht-trinitarischen, monotheistischen Religionen – hier also dem Judentum – erstens an eine Bedingung geknüpft ist („wenn“ oder „sobald eingesehen ist“) und zweitens diese Erkenntnis auf einer gemäß platonischer Epistemologie ganz bestimmten Erkenntnisebene, dem Intellekt, angesiedelt sein muss, welcher vordergründige, scheinbare Unvereinbarkeiten auf ihre Sachhaltigkeit hin durchschaut, vermeintliche Widersprüche enttarnt und zusammenschauen kann.1516 Denn wenn tatsächlich die Trinität im christlichen Sinne keine drei Götter, also keine substantielle Vielheit meint, sondern die innere relationale Dynamik des einen, allerhöchsten Gottes, so bestünde zumindest nicht mehr das Missverständnis, dass es sich bei der pac. VIII, 24; 25,11–26,2. Vgl.: „Sollte ich, der gebären lässt, etwa [sc. den Mutterschoß] verschließen?, spricht dein Gott“ (Jes 66, 9 b). Zur Stelle s. auch cribr. II, 8, 108. 1514 pac. IX, 25; 26, 5–8. 1515 pac. IX, 25; 26, 8–10. Vgl. cribr. II, 4, 97–5,100. – Resch (2014 b: 170) weist zu Recht darauf hin, dass Cusanus den Begriff ‚Fruchtbarkeit‘ im Hinblick auf Gott als rein geistige Fruchtbarkeit versteht – im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch, gemäß welchem das Wort „stark biologisch konnotiert“ sei. 1516 Zur Anwendung dieser Methode – das genaue Durchdringen gegensätzlicher Positionen und Meinungen als Basis einer Zusammenschau dieser Gegensätzlichkeiten – vgl. auch De apice theoriae 14–15: Cusanus unterscheidet die jeweilige Hinsicht einer Position genau, d. h. er achtet exakt darauf, was eine jede Position ‚im Blick hat‘, worauf sie hin-sieht, um so zu eruieren, ob sich die verschiedenen Hinsichten miteinander vereinbaren lassen in einer coincidentia oppositorum. Vgl. Gerl-Falkovitz (2008: 113): „Dabei hebt die Hinsicht nicht den Charakter der Wahrheit auf.“ 1512 1513
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Trinität um eine polytheistische Spielart handelte. Solange jedoch ein solches Verständnis unerreicht bleibt, erscheint auch eine entsprechende Annäherung unerreichbar. Die Worte des jüdischen Weisen wirken insofern plausibel, wenn er die zu erwartende Ablehnung der Trinität durch die Juden klar anspricht, aber die konkrete Möglichkeit einer interreligiösen Verständigung in Aussicht stellt: Im Sinne des für De pace fidei schon oft in Anschlag gebrachten aristotelischen Möglichkeitsbegriffs1517 ist damit gleichwohl nicht behauptet, dass nun alle Juden den Trinitätsglauben auch selbst in christlicher Ausprägung ‚für sich annehmen müssten‘, sondern nur, dass das entscheidende Verständnishindernis, den christlichen Glauben als monotheistischen anzuerkennen, intellektiv über‑ wunden werden kann. Denn der bisher innerhalb von De pace fidei im Dialog der Weisen mit dem göttlichen Logos erreichte Konsens mit Blick auf die in allen Einzelreligionen implizit vorausgesetzte intellekthafte Religion besteht wesentlich darin, dass alle Religionen – ob polytheistisch, monotheistisch, monotheistisch-trinitarisch – den einen wahren Gott als allerhöchstes (Über‑)Wesen bekennen und seine Weisheit anerkennen.1518 Genau diesem Konsens steht auch die christliche Trinitätslehre in dem dargelegten Verständnis nicht im Wege. Der Logos bekräftigt noch einmal den gerade erzielten Konsens im intellekthaften Durchdringen dessen, was mit der christlichen Trinitätslehre eigentlich gemeint sei. Seine Argumentation wendet sich jedoch sogleich wieder den „Arabern“, d. h. den Muslimen, zu: Begreife man die göttliche Trinität als Ausdruck der einen, unendlichen Fruchtbarkeit,1519 sei klar, dass die Trinitätslehre den Polytheismus gerade negiere und dass keine verschiedenen Götter zur Erschaffung der Welt nötig seien.1520 Denn die Einheit Gottes in der relationalen Dreiheit befreie davon, gleichsam additiv anzunehmen,1521 Gott habe Wesen (essentia) und Seele (anima) und „Logos“ (= Rationalität bzw. vernunfthaftes Wort, ver‑ bum) und Geist (spiritus), da ‚Seele‘ im Hinblick auf Gott nur als „Vernunft“ (ratio) oder „Wort“ (verbum) verstanden werden könne, welches jedoch nach dem bisher erreichten Konsens Gott selbst ist, ebenso wie der Geist Gottes nichts außer der Liebe sei, die Gott selbst ist. ‚Haben‘ im spezifischen Sinne komme Gott nämlich nicht zu, vielmehr sei „Haben in Gott Sein“.1522 Gemäß dem Logos hat Gott also nicht additiv dieses und jenes, sondern ist wesentlich alle diese Bestimmungen in Einheit: Ein Vorteil der Trinitätslehre ist S. o. Kap. V.c1 und V.c4. Vgl. v. a. Kap. V.c4–6. 1519 Zu Gottes Unbegrenzt‑ und Unendlichkeit vgl. oben Kap. V.c2, Vc.4–6. – Zu apeiria als unbegrenzter Allvermögendheit bei Proklos s. o. Kap. III.d, zum unbegrenzten Vermögen des Gottes, der gemäß Plotin mit dem seienden Einen identifiziert werden darf, s. enn. V, 8 [31], 9, 14–27 (Kap. II.5 c). 1520 pac. IX, 26; 26, 11–17. 1521 Dieses Problem adressiert bereits Thomas von Aquin (ScG I, 24; 100) im Hinblick auf die islamische Lehre (der Mutakallimun, vgl. te Velde [1995: 161–2], s. o. Anm. 1123). 1522 pac. IX, 26; 26,17–27,10. 1517 1518
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demnach, dass sie aufgrund des Homoousios, der wesentlichen Einheit Gottes in relationaler Dreiheit, verschiedene Bestimmungen, welche Gott sinnvollerweise zugesprochen werden können, als ineinander verschränkt und insofern als Einheit begreifen kann. Es wäre nicht sinnvoll, zu meinen, Gott habe kein Wesen oder sei unbelebt, insofern kann er als Wesen und als beseelt vorgestellt werden; unsinnig wäre es, Gott als unvernünftig zu denken, also kommt ihm Rationalität zu etc. Bei einer bloßen Addition käme man so im Sinne einer kataphatischen, positiv-affirmativen Theologie1523 leicht zu dem Ergebnis, dass die Vielheit der Bestimmungen, die gemäß menschlichem Verständnis auseinanderfallen, der substantiellen Einheit Gottes widerspräche. Die Einheit ist aber gemäß platonischem Verständnis immer Prinzip und Ursache von Vielheit; in den monotheistischen Religionen findet sich dieser Primat im Glauben an den einen Gott theologisch artikuliert. Wie aber das absolute Eine z. B. von Proklos und Plotin nicht als abstrakt-leer bzw. weniger seins‑ und bestimmungshaltig, sondern als mehr‑ bzw. über-seiend erwiesen wird, so wäre es analog theologisch unsinnig, sozusagen ‚im Dienste eines reinen Monotheismus‘ Gott die oben genannten Bestimmungen abzusprechen, die deshalb nur im Sinne einer Übersteigerung verstanden werden sollten: Gott hat nicht zusätzlich zu seinem Wesen Seele, Rationalität und Geist, sondern ist diese Bestimmungen aufgrund seines einen Wesens.1524 Versteht man die philosophische Trinitätslehre des Logos bei Cusanus positivwohlwollend, dann besteht ihre Stärke darin, dass sie drei wesentliche Aspekte prinzipienhaft-produktiver Einheit zusammenschaut. So wie gemäß Proklos absoluter Einheit absolute, unbegrenzte Vermögendheit (apeiria) zukommt,1525 eignet der ‚trinitarischen Fruchtbarkeit‘ des einen Gottes bei Cusanus, dass diese absolute, produktiv-dynamische Einheit Gottes eine innere, dreifaltige Ineinanderverschränkung genau dieses Wesens als dynamischer Einheit aufweist: Das absolute Eine als Prinzip von gegliederter Einheit und somit Vielheit entfaltet sein Einheitswirken mittels des Prinzips der Gleichheit als Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Einheiten mit sich selbst und untereinander gleich sein können; relationale Verbundenheit in und zwischen Einheiten verdankt sich dem Prinzip der liebenden Verknüpfung, welche ihrerseits – ebenso wie die Gleichheit – nichts anderes ist als das immer schon aktuale Wirken von Einheit, weshalb alle drei Aspekte dem absoluten Einen zugehören – jedoch nicht als additive Vielheit, sondern als innere Relation und Ineinanderverschränkung des einen absoluten Einen. Einheit – Gleichheit – liebende Verknüpfung sind 1523 Zu den Begriffen kata‑ bzw. apophatisch und ihrer theologischen Methodik im Neuplatonismus, besonders bei Dionysius Areopagita, vgl. Drews (2011: 71–79). 1524 Vgl. Augustinus: Gott ist nicht groß, weil er – wie die Geschöpfe – an der Idee der Großheit partizipierte, sondern ist diese seine Großheit aufgrund seines einen Wesens qua Gott (Kap. IV.4 b). 1525 S. o. Anm. 1519.
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in diesem Sinne gleichermaßen und unzerteilbar das absolute Eine: Wie oben dargelegt,1526 ist auch die Gleichheit des Sohnes mit dem Vater nicht abstrakt-leer zu verstehen, sondern als göttliche Vernunft des Einen, in welcher als innerrelationaler Spiegelung des Vaters die Seinsgründe der Schöpfung geeint-eingefaltet aufscheinen und komplexiv umfasst sind. So verstanden schaut die Trinitätslehre in De pace fidei innergöttliche Liebe, Einung, Vernunft in übersteigerter Weise als das allvermögende Eine in relationaler Dreiheit zusammen. Damit wird nicht nur ein Polytheismus vermieden, sondern auch eine Diskrepanz, die zwischen vielheitlichen Bestimmungen, die Gott additiv zugesprochen werden können, und dessen absoluter Einheit bestehen würde: Einheit – Gleichheit – Liebe sind gemäß Cusanus nichts anderes als das absolute Eine in seiner inneren produktiven, unendlichen Dynamik, bevor diese nach außen hin in der Schöpfung ihre Entfaltung findet. Die beiden Aspekte der Allvermögendheit und des Geist-Seins Gottes, so der Logos in Person weiter, würden auch seitens des arabischen Weisen nicht bestritten; da sie aber trinitarisch ihre konkrete, nicht-leere Entfaltung finden,1527 könne es sein, dass die meisten Araber „jene Trinität“ nicht bemerkten, obwohl sie sie eigentlich doch bekennten.1528 Ebenso würden auch die Juden in den prophetischen Schriften1529 finden, dass die Himmel durch Gottes Logos geschaffen worden seien.1530 Auch bei diesen Ausführungen des Logos scheint es sich vordergründig wieder um eine christliche Vereinnahmung zu handeln, jedoch wird Muslimen und Juden zugleich auch explizit etwas zugute gehalten: Denn in der Weise, wie Araber und Juden die Trinität ablehnten, müsse sie mit Sicherheit von allen (!) abgelehnt werden.1531 Bei wohlwollender Lektüre ist dies kein Vorwurf, sondern Anerkennung der Tatsache, dass sowohl Judentum wie auch Islam aus einer bestimmten Perspektive sogar berechtigterweise die Trinität ablehnen, mit ihrer Kritik also gewissermaßen eine wichtige Grenze um das Trinitätsmysterium ziehen, deren Überschreitung auch im christlichen Sinne nicht adäquat und nicht mehr tolerierbar wäre. Diese zu Recht zurückgewiesene Trinitätslehre betrifft jedoch nicht die gemäß De pace fidei eigentlich angemessene, wahre und
S. o. Kap. V.c8. Vgl. Flasch (1998: 358). 1528 Vgl. Euler (2014: 24). 1529 Gemeint ist hier ein Psalmzitat in seinem offenbar prophetisch verstandenen Charakter: „Durch das Wort des HERRN (JHWH) sind die Himmel geschaffen“ (Ps 33, 6). – Zum schöpfungstheologischen Aspekt, dass die Welt durch das Wort bzw. das ‚Sprechen‘ Gottes geschaffen sei, vgl. im islamischen Kontext Sure 2, 117. 1530 pac. IX, 26; 27,10–28,1. Vgl. auch cribr. II, 11, 112–4. 1531 ‚Modo autem quo negant Arabes et Iudaei trinitatem, certe ab omnibus negari debet; […]‘ (pac. IX, 26; 28,1–2). 1526 1527
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intellekthafte Trinitätstheologie,1532 sondern deren Zerrbild, insofern unter der Trinität drei Götter verstanden würden.1533 Methodisch wird im Blick auf den interreligiösen Dialog an dieser Stelle deutlich, dass das sich im Hineindenken vollziehende Betreten eines Gedankengebäudes1534 zum einen sowohl für eigene wie auch fremde Meinungen und Verständnisarten gilt und zum anderen auch vor vermeintlichen Fehlurteilen nicht Halt machen sollte: Denn wie Cusanus hier zeigt, lässt sich nicht nur die christliche Trinitätslehre bei entsprechend ‚intellekthaftem Durchdringen‘ als eindeutig monotheistisch erweisen, sondern auch ihre Ablehnung durch nicht-trinitarische, monotheistische Religionen immerhin nachvollziehen.1535 Dabei entsteht jedoch gerade kein Einerlei, als ob gleichsam ‚allen in gleicher Weise Recht gegeben‘ würde, so dass man am Ende überhaupt nicht mehr wissen könne, was eigentlich zutreffend sei; das genaue Begreifen, was und warum eine jede Religion jeweils so denkt, wie sie es tut, kann vielmehr zu einem konkreten Verständnis und Einfühlen in die jeweils fremde und eigene Denkungsart führen. Dieses genaue Begreifen, welches Cusanus mit dem im platonischen Sinne intellekthaften Zugriff meint, zeigt also auf, inwiefern nach menschlichem Verständnis zunächst konträre und unvereinbare Positionen möglicherweise doch miteinander vermittelbar sind. Wenn genau durchschaut worden ist, warum etwa die christliche Rede von den drei Personen Gottes nicht polytheistisch drei Götter meint, dass die Ablehnung der christlichen Trinitätstheologie in anderen Religionen jedoch entscheidend, aber auch nachvollziehbarerweise ein solches Missverständnis attackiert, dann erweist das Durchdenken dieser Positionen auf ihre Gründe hin jede von ihnen als verstehbar: Denn wenn es Muslimen und Juden darum geht, den einen Gott nicht zu vielen Göttern zu machen, treffen sie auch aus christlicher Sicht etwas Richtiges, und ihr Wahrheitsanspruch sollte jedenfalls in dieser Hinsicht auch für einen Christen zumindest plausibel sein und behält insofern auch seine Berechtigung. Wenn die christliche Position gemäß De pace fidei besagt, dass die Trinität Gottes Allvermögendheit unterstreicht und ihn als lebendiges, dynamisches Wesen zeigt, dessen substantielle Einheit unbestritten ist, dessen Wesen als liebender Gott aber in sich selbst eine innerrelationale Beziehung als inneres Korrelat dieses Wesens hat, dann 1532 Diese allein wäre, so der Logos bei Cusanus, für alle annehmbar: ‚[…]; sed modo quo veritas trinitatis supra explicatur, ab omnibus de necessitate amplectetur‘ (pac. IX, 26; 28, 2–4). 1533 Vgl. Euler (2014: 23), ferner Resch (2014: 102): „Nevertheless, Cusa still shares the Muslim concern about God’s unity. […] But also, contemporary interreligious dialogue could be reminded that both Christianity and Islam entail an alethic dimension.“ S. ebenso Resch (2014 b: 175) dazu, dass es Cusanus „m. E. wesentlich besser als Raimundus [sc. Lullus] und Johannes [sc. von Segovia] gelingt, diesen Vorwurf [sc. des Tritheismus] zu entkräften“ (ibd., 326). 1534 Vgl. o. Kap. I.2 a. 1535 Cusanus (vgl. cribr. I, 14, 63–64; 17, 74) hält Andersgläubigen, wenn ihre Perspektive und Position rational nachvollziehbar ist, grundsätzlich zugute, dass sie „wrong because of good motives“ (Euler 2014: 25) sein könnten.
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werden die berechtigten Einwände gegen ein polytheistisches Missverständnis keineswegs nur entkräftet, sondern zunächst einmal gewürdigt. Wenn sich von diesem Aspekt her erweisen lässt, dass Nikolaus tatsächliche Kritikpunkte etwa des Korans ernst genommen hat und diesen sogar ein bestimmtes Eigenrecht einräumt, dann könnte das Urteil, De pace fidei ziele einfach auf die Bekehrung der Muslime zum Christentum, wenigstens nicht mehr pauschal aufrecht erhalten werden, da Cusanus offenbar doch zumindest bemüht ist, den Kern der Trinitätskritik im Koran gerade von dem muslimischen Selbstverständnis her zu ergründen und erst dann auch christlich zu integrieren.1536 Wenn es für das Alltagsdenken auch eine Selbstverständlichkeit oder gar Banalität sein mag, dass wahre Aussagen nie miteinander in Widerspruch stehen, einander nie ausschließen können, so ist dies für jemanden, der in platonischparmenideischen Bahnen denkt, keineswegs eine bloße Gegebenheit, die ‚nun einmal so ist‘, sondern verdankt sich letzten Endes der ontologischen Bedingtheit der Wahrheit durch Einheit:1537 Alles Wahre, wie in eminenter Weise die 1536 Dagegen kritisiert etwa Hagemann (1976: 181): „Um eine interpretatio coranica hat er [sc. Cusanus] sich nicht gekümmert. Somit gewinnt er noch nicht den nötigen Respekt vor der Glaubensursprünglichkeit und ‑originalität des Islams.“ Natürlich legt Cusanus seine christlich-platonische Perspektive auch gegenüber Muslimen nicht ab und zielt insofern – wenn möglich – letzten Endes auf ihre Zustimmung zur intellekthaft durchdrungenen Religion, wie sie vom göttlichen Logos in De pace fidei entfaltet wird. Cusanus versucht zwar, „seinem religionsphilosophisch reformulierten Christentum die höchste Integrationsleistung zuzusprechen […]. Wer dies nicht mitvollziehen wird, mit dem kann durchaus auf einer vorgelagerten Ebene eine Einigung erzielt werden“ (Riedenauer 2007: 484). Es entspricht Cusanus’ allgemeinem Selbstverständnis, dass ein interreligiöser Dialog nicht auf einer vermeintlich ‚neutralen‘, d. h. atheistischen Basis zu führen und daher auch nicht von den Dialogteilnehmern zu verlangen ist, dass sie ihre Perpektive nicht verteidigen und möglichst stark machen, jedoch im friedlichen und argumentativen Rahmen. Entsprechend müssen die Religionsvertreter um einen möglichen Konsens aus ihren Perspektiven heraus ringen und dies (ultimativ) auch vor Gott tun und verantworten; dabei ist jedoch wesentlich, dass die freie Entscheidung jedes Menschen gewürdigt und gewahrt bleibt (s. o. Kap. V.c.2–3). Eine (post‑)moderne Sicht, dass alle – im Sinne einer allgemeinen ‚Subtraktionsverordnung‘ – möglichst viele Abstriche von ihren religiös-theologischen Positionen zu machen hätten, um einen Religionsfrieden zu erreichen, ist einfach nicht Cusanus’ ‚Projekt‘. Wenn sich jedoch in seinem Sinne eine gemeinsame Basis finden lässt, von der aus z. B. sowohl die Trinitätskritik des Korans wie auch die christliche Trinitätslehre plausibel erscheinen könnten, ohne dass dies mit argumentativ-philosophischen Widersprüchen erkauft wäre, dann erschiene dies als kein geringes Resultat: Cusanus’ Methode könnte sich dann grundsätzlich sogar als gangbar und berechtigt erweisen. Zu beachten ist jedoch auch hier, dass die Eintracht auf intellekthafter Ebene das tiefe gegenseitige Durchdringen jeweils fremder Positionen voraussetzt, also gerade nicht durch politische Beschlüsse ‚von oben‘ dekretiert werden kann und methodisch das Gegenteil einer ‚theologischen Subtraktion‘ bedeutet. Vgl. Riedenauer (2007: 429): Nikolaus „propagiert keine über den partikularen Traditionen und heiligen Schriften thronende Vernunftreligion, sondern wendet sich ihnen hermeneutisch-kritisch zu. Das erfordert auch seine perspektivische Erkenntnistheorie. Die realistische Anerkennung der eigenen Eingeschränktheit legitimiert den Versuch, andere Ansichten zu integrieren, also inklusiv statt exklusiv zu argumentieren.“ 1537 Parmenides leitet diesen Konnex aus dem wahren Sein in seiner Einshaftigkeit ab (s. o. Kap. II.1).
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intelligiblen Ideen und Seinsprinzipien, ist durch Einheit prinzipiiert. Für die innere Logik von De pace fidei bedeutet dies: Die hier am interreligiösen Dialog partizipierenden Weisen setzen zunächst die eine Weisheit Gottes gemeinsam voraus;1538 insofern Gottes (über‑)intelligible Weisheit, Wahrheit und Vernunft identisch und die geladenen Weisen Vertreter wahrhaftiger, ernst zu nehmender Religionen sind, müsste sich dann zeigen lassen, dass sich in ihren Religionen zwar verschiedene Partizipationen, An-Teile an der einen, von sich selbst her den Einzelreligionen gegenüber jedoch transzendenten Wahrheit finden lassen, dass diese Teil-Wahrheiten aber im Blick auf die absolute Wahrheit Gottes miteinander vermittelbar sind und nicht im Gegensatz zueinander stehen können. Dies bedeutet für Cusanus und auch von der Sache her freilich nicht, dass deshalb alle drei abrahamitischen Religionen ineinander ‚übersetzbar‘ wären, auch nicht, dass sie überhaupt ineinander übersetzt werden sollten oder müssten.1539 Es bestünde aber die begründete Möglichkeit, dass nach einem intellekthaften Durchdringen des Eigenen wie Fremden und im gemeinsamen Glauben z. B. an die Einheit und Weisheit Gottes auch eine verborgene Einheit zwischen den Religionen aufscheint, die in dem Anspruch der monotheistischen Religionen – nämlich dem einen wahren Gott – ihre Ursache und ihr Ziel hat. Wenn dies zu hoch gegriffen erscheint, dann könnte zumindest das sich wechselseitig bessere Verstehen begründeterweise zunehmen – nicht ohne, sondern mit theologischphilosophischen Argumenten. Mit Cusanus und unter dem Vorbehalt, dass ein Ausgriff auf das Fremde aus einer christlich-platonischen Perspektive heraus versucht wird, ließe sich der methodisch abgesicherte und argumentativ begründete interreligiöse Dialog unter dem Aspekt des wechselseitigen Verstehens vielleicht sogar als ein entferntes Abbild der ineinander verschränkten, sich gegenseitig relational durchdringenden drei trinitarischen Personen des einen christlichen Gottes betrachten.1540
1538 S. o. Kap. V.c4–5. Vgl. auch Cusanus’ Rede von der Wahrheit Gottes, die allen Seienden ihr Sein zuteilt (ber. 16, 18; s. o. Kap. V.b). 1539 Vgl. o. Kap. I.2 b. 1540 In diese Richtung – dass die Hermeneutik des gegenseitigen Durchdringens als Basis des Verstehens des jeweils Fremden methodisch-theologisch bei Cusanus durch die Trinitätslehre vorgegeben und abgesichert sein könnte – gehen grundsätzlich m. E. auch die Ausführungen von Riedenauer (2007: 440): „Die vorfindliche Vielfalt [sc. der Religionen] kann er [sc. Nikolaus] so noch einmal neu deuten: Alle Verschiedenheit und Andersheit der Seienden ist begründet, vorentworfen im ‚Prozeß‘, im zeitfreien Hervorgehen der aequalitas aus der unitas. In jener absoluten Relationalität ist complicative jede reale Differenz vor-ausgesetzt, mit-entworfen“; ebenso: „Deshalb sieht er im trinitarischen Denken, d. h. in seinem philosophischen Verständnis des christlichen Dogmas, jene integrative Stärke, die sich in verschiedenen seiner Schriften als Anspruch meldet: sowohl als Basis für die Einordnung diverser philosophischer Traditionen, als auch für die Einordnung anderer Religionen“ (ibd., 443). – Zum trinitarischen Begriff der aequalitas s. o. Kap. V.c8.
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10. Der Skythe und der Franzose: Die Brücke zwischen polytheistischen Religionen und der christlichen Trinitätstheologie Mit dem letzten Abschnitt hat der Logos in Person seine Rede und Argumentation innerhalb von De pace fidei nahezu beendet. Der skythische Weise erklärt nun, dass die im Hinblick auf ihre allvermögende, schöpferische Fruchtbarkeit verstandene Trinität von allen „Götterverehrern“ implizit angebetet wird. Einige Weise bezeichneten Gott als den Schöpfer beiderlei Geschlechts und als Liebe. Andere würden im Sinne einer Emanationslehre behaupten, „der hocherhabene Gott“ lasse aus sich heraus Intellekt bzw. Rationalität hervorgehen, und würden diesen „Gott von Gott“ nennen und als Schöpfergott glauben.1541 Letztere Denkweise erscheint einerseits pagan-platonisch: Der Intellekt ist etwa bei Plotin die Totalität der intelligiblen Ideen, die (erste) Entfaltung des überseienden absoluten Einen ins Sein der intelligiblen Ideen.1542 Bei Platon selbst schaut der Demiurg – der Schöpfergott der materiellen Welt – auf die ihm vorausliegenden intelligiblen, paradeigmatischen Ideen und erschafft die sinnlich-wahrnehmbare Welt als Abbild des intelligiblen Kosmos.1543 Insofern andererseits der göttliche Intellekt „Gott von Gott“ sei, legt der Skythe jedoch bereits eine christologischtrinitarische Interpretation zugrunde im deutlichen Anklang an das nizänische Glaubensbekenntnis („Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“).1544 Wesentlich für alle diese Ausdeutungsmöglichkeiten – ob platonisch oder / und christlich – ist der Hinweis, dass jedes Geschöpf seine (intelligible) Ursache und seinen Vernunftgrund (ratio) habe, „warum es dieses und nicht jenes“ sei. Die „eine unbegrenzt-unendliche ratio aller Sachen“ aber sei Gott selbst.1545 Damit lassen sich gemäß der Darstellung des Skythen die vorher genannten schöpfungstheologischen Annahmen als in der schöpferischen Drei-Einigkeit koinzidierend zusammenschauen, weil gemäß der von der Wesenseinheit Gottes her verstandenen Trinitätstheologie Gottes Vernunft / Intellekt bzw. Logos kein von ihm zu unterscheidendes, ihm subordiniertes Wesen ist, sondern die Bewegung von der Einheit des Vaters zum Logos-Sohn innerhalb des einen Wesens Gottes als innertrinitarische Beziehung bzw. Relation gedacht wird, weshalb der Logos respektive der göttliche Intellekt als Inbegriff der Vernunftgründe
pac. X, 27; 28, 6–12. S. o. Kap. II.5 c. 1543 S. o. Kap. II.2. Zu der nicht einfach zu klärenden Stellung des Demiurgen zwischen Nous und Weltseele im späteren Neuplatonismus s. o. Anm. 257. 1544 Zur Präsenz der den Konzilen des 4. und 5. Jhds. verpflichteten Christologie in De pace fidei vgl. Hollmann (2014: 84). 1545 pac. X, 27; 28, 12–14. Zur Interrelation von Einheit und Unbegrenztheit / Unendlichkeit bei Cusanus vgl. Alfsvåg (2014: 51). 1541 1542
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auch Gott selbst sei.1546 Im Kontext der oben entwickelten Argumentation1547 ließe sich hinzufügen, dass für Cusanus im Grunde nichts dagegen spricht, eine subordinierte Intellekt-Hypostase anzunehmen, wenn diese als ‚geschaffene Weisheit‘ verstanden würde; Gott selbst als das allerhöchste (Über‑)Wesen kann aber gemäß De pace fidei nicht als ohne Vernunft, Liebe, Allvermögendheit etc. gedacht werden, weshalb die christliche Trinitätstheologie diese Bestimmungen als in Gott, d. h. dem Allerhöchsten, qua innertrinitarischer Relation geeint begreift. Die ratio, welche „logos seu verbum“, also das göttliche Vernunftwort sei, „emaniere“, so der Skythe weiter, aus dem Hervorbringenden: Wenn der Allvermögende den Logos hervorbringe, würde das, was im Logos eingefaltet vorliege (complicantur),1548 auch aktual geschaffen; wenn die Allmacht spreche: ‚Es werde Licht‘, würde das im Logos eingefaltete Licht auch aktual existieren.1549 Gemeint ist hier also nicht die im plotinischen Sinne erste Entfaltung des verborgenen Einen in den intelligiblen Kosmos der Intellekt-Hypostase, sondern gewissermaßen die zweite Entfaltung des in der Totalität des Intellekts bzw. Logos bestehenden intelligiblen Kosmos in die sinnliche Wahrnehmbarkeit: Im Vergleich zu Letzterer sind die Ideen im Logos noch eingefaltet, wie es in der Rede des Skythen heißt; im plotinischen Sinne ließe sich indes die Totalität der intelligiblen Ideen im Intellekt bereits als erste Entfaltung des überseienden Einen begreifen. An dritter Ordnung gehe der „Geist der Verknüpfung“ (spiritus connexionis) hervor, der alles zum (absoluten) Einen hin verbinde. Denn die Weisen hätten die „Weltseele“ bzw. den Geist, der alles verknüpft, angenommen, durch den jedes Geschöpf seine Partizipation an der Ordnung habe, auf dass es ein Teil des Universalen und zum Einen hin verbunden sei.1550 Gemäß der Emanationstheorie steht die Weltseele – etwa bei Plotin – an dritter Stelle, also unterhalb des absoluten Einen und auch des Intellekts als der Totalität der Ideen. Es sei jedoch, so der Skythe, notwendig, dass dieser Geist „selbst Prinzip im (ersten) Prinzip“ sei: Die Liebe nämlich verknüpfe, diese Liebe (amor oder caritas1551) aber sei Gott selbst.1552 Gottes Wesen als Liebe und seine innere Beziehung als trinitarischer Gott in der Einheit der Relation von Vater, Sohn und Heiligem Geist erweist also den Geist der Liebe bzw. die Weltseele nicht als untergeordneten ‚dritten‘ Gott 1546 Zum Verständnis des Logos als Inbegriff aller Vernunftgründe im christlichen Platonismus und dazu, dass der Logos im absoluten Sinne bei Cusanus eine absolute eidetische Form ist vgl. Anm. 1317. 1547 S. o. Kap. V.c5. 1548 Zur Einfaltung aller Vernunftgründe des Seins im Logos gemäß Cusanus s. o. Kap. V.c3. 1549 pac. X, 27; 28,14–29,4. 1550 pac. X, 27; 29, 6–10. 1551 Zum Wechsel von amor – dilectio / caritas vgl. bereits im NT Jh 21, 15–17. 1552 pac. X, 27; 29, 10–12.
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im Sinne einer polytheistisch-subordinierten Entfaltung, sondern gemäß der innertrinitarischen Einheit als Gott selbst.1553 Die Argumentation des Skythen zeigt hier insgesamt, warum einerseits die etwa im paganen Platonismus vertretene Entfaltung des absoluten Einen in die Vielheit vieler subordinierter göttlicher Wesen als in sich berechtigt sowie nachvollziehbar erscheint und warum sie andererseits als polytheistische Religion, wie der Skythe eingangs gesagt hatte, trotzdem anschlussfähig für die monotheistischen Religionen sein kann: Dies leistet gerade die zuvor entfaltete Trinitätstheologie, insofern die vielen Götter gewissermaßen auf Aspekte der innertrinitarischen Relation hin gedeutet werden können, ohne die wesentliche Einheit Gottes zu gefährden. Damit wird kein Polytheismus nachträglich in die Trinität ‚importiert‘, sondern gleichsam die Aufgabe und Funktion der vielen Götter (etwa Intellekt‑ oder Seelenprinzip zu sein) als bereits in dem allerhöchsten Einen selbst zentriert und eingefaltet gedacht. Letztlich steht dies auf der Linie der Argumentationen eines Origenes, Augustinus, Dionysius und auch Proklos: Origenes hatte die Denkfigur entwickelt, dass der Logos-Sohn nicht nur die eidetischen Seinsgründe der Schöpfung in sich enthält, sondern auch allen potentiellen Göttern bzw. göttlichen Wesen ihr Gott-Sein durch Partizipation vermitteln kann.1554 Das impliziert, dass die vielen Götter ihr Gott-Sein von dem einen allerhöchsten, wahren Gott beziehen: Dieser Bezug aber stellt eine Verbindungslinie zwischen dem einen Gott und den vielen Göttern her, weshalb Letztere sich auch auf ihn hin interpretieren lassen. Proklos hatte in grundsätzlicher Ähnlichkeit die überseienden Henaden als das vielfach partizipierbare Eine, d. h. als erste Entfaltung des absoluten, überseienden Einen betrachtet.1555 Partizipationstheoretisch liegt hier eine entscheidende Differenz vor: Während die Henaden bei Proklos die partizipierfähige Mitte zwischen dem unpartizipierbaren Einen und den an ihnen partizipierenden (und damit erst ins Sein gerufenen) Seienden darstellen, denkt Origenes den Sohn-Logos selbst als an Gott (dem Vater) Partizipierenden (sowie dann auch von anderen Partizipierten), womit Gott-Sohn selbst bereits nur in sekundärer Weise als Partizipant Gott wäre. Wenn aber Gott Vater und Gott Sohn gemäß der biblischen Offenbarung eins sind1556 und der Sohn in gleicher Weise wahrer Gott ist, liegt hier ein theologisches Problem vor, welches das nizänische Homoousios beseitigt, insofern es Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist als wesensgleich begreift. Diese Position wird u. a. von Augustinus geteilt:1557 Der Sohn partizipiert nicht an Gott Vater, sondern ist selbigen Wesens mit ihm. Trotzdem bleibt auch für pac. X, 27; 29, 12–14. Zur Frage der Weltseele s. doct. ign. II, 9 und Benz (1999: 175–188). Kap. IV.3 b. 1555 S. o. Kap. III.e. 1556 Jh 10, 30 (s. o. Kap. IV.2.2 b). 1557 S. o. Kap. IV.4 a. 1553
1554 S. o.
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den Kirchenvater die von Origenes vertretene Denkfigur erhalten, dass die vielen Götter (wenn es sie gibt) bzw. Engel nur von dem einen wahren Gott her ihr göttliches bzw. engelhaftes Wesen haben, also nur in sekundärer Weise durch Partizipation und nicht aus sich selbst heraus ‚Götter‘ sein können. Dies ist zunächst zwar als Widerlegung des Polytheismus gemeint; positiv verstanden eröffnet es aber aus christlicher Perspektive auch die Möglichkeit, nicht nur die Götter als Engel zu verstehen (wie dies z. B. auch Dionysius Areopagita tut1558), sondern die Götter als Partizipanten an dem Sein des einen wahren Gottes zu sehen und über diese Bezugslinie, wie der Skythe bei Cusanus nahe legt, in dem Kult der vielen Götter implizit den einen wahren Gott verehrt zu finden. Erneut ließe sich über das Partizipationstheorem eine interreligiöse Verständigung argumentativ begründen, zumindest aber aus monotheistischer Perspektive eine grundsätzlich positive Würdigung polytheistischer Kulte erreichen. Aus spezifisch christlicher Sicht eröffnet die Trinitätstheologie in besonderer Weise die Möglichkeit, die im Polytheismus vereinzelten Aspekte in dem einen Wesen des allerhöchsten, wahren Gottes trinitarisch verschränkt und geeint zu sehen: Das schöpferische Prinzip der Liebe ist nicht erst die in der geschaffenen Welt wirkende Weltseele als eine über viele Stufen erfolgte Ausfaltung des Einen, analog der Intellekt keine erst sekundär aus dem Einen emanierende, ihm subordinierte Hypostase im plotinischen Sinne. Dabei stellt aus Cusanus’ Sicht ein solches Ausfaltungs‑ und Emanationsmodell vermutlich nicht einmal ein ‚Hindernis‘ dar, welches ‚unbedingt zu beseitigen‘ wäre.1559 Vielmehr geht es im christlichen Sinne darum, alle diese Ausfaltungen im Bereich des Seins von dem einen wahren Gott her, der zugleich Schöpfergott ist, und auf ihn hin zu begreifen: Die Liebe der Weltseele, die intelligiblen Seinsgründe sind nicht erst sekundäre Produkte / Emanationen des absoluten Einen, sondern zuvor bereits in Gott selbst ‚zentriert‘ und in geeinter Einfaltung (complicatio) ‚enthalten‘, insofern die innertrinitarische Relation ‚Einheit / Vater – Intellekt / Logos-Sohn – Liebe / HeiligerGeist‘ die innere ewige Bewegung in dem einen Wesen Gottes ist, aus der heraus auch die einzelnen, subordinierten Wesen als geschaffener Intellekt oder geschaffene Weltseele verstanden werden könnten. Auch die im paganen (Neu‑)Platonismus aufgezeigte Entfaltung des absoluten Einen in den Bereich des Seins, des Intellekts, der Seele erscheint insofern kom S. o. Kap. IV.5 b. Vgl. Benz (1999: 188): „Wenn davon ausgegangen wird, daß eine (eventuell auch für Cusanus akzeptable) Weltseele als ‚forma universalis‘ alle ‚formae‘ komplikativ in sich enthält, eine Aktuierung der Weltseele nur ‚contracte‘ stattfinden kann, so daß sie selbst in jedem ‚individuum‘ dessen jeweilige ‚forma contracta‘ ist, während die prinzipielle göttliche Form-, Wirk‑ und Zielursächlichkeit bewahrt bleiben soll, so kommt die cusanische Konzeption des Universums als ‚unum maximum contractum‘ der platonischen ‚anima mundi‘ durchaus nahe (vgl. De docta ign. II 9, n. 150 […]), zumal auch nach cusanischem Urteil im kreatürlich-abbildhaften ‚Kontrakt‘-Seienden ein ‚esse diminutum‘, ein allein im Verhältnis zum urbildlichen, umfassenden Maximal-Sein vermindertes Eigen-Sein des Individuellen vorliegen soll.“ 1558 1559
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patibel mit einer christlichen Trinitätslehre in diesem cusanischen Sinne, weil sie den allerhöchsten Gott als einshafte Ursache und Schöpfer all dieser Seienden begreift. Dies dürfte – systematisch betrachtet – letztlich auch der Grund dafür sein, weshalb ein Dionysius Areopagita kein Problem darin sieht, den allerhöchsten Gott nicht nur zugleich als Einheit und Dreiheit zu verstehen, sondern sogar mit dem absoluten überseienden Einen eines Proklos zu identifizieren, die Trinität also nicht nur als spätere Entfaltung im Bereich des intelligiblen Seins, sondern als das überseiende Eine selbst zu begreifen: Analog zeigt Cusanus in aller Konsequenz negativ-theologischen Denkens mit der philosophischen Explikation seines Drei-Einheitsbegriffs des Nicht-Anderen dessen Primat noch vor der reinen, nicht-trinitarischen Einheit auf.1560 Entscheidend ist also bei den hier resümierten christlichen Denkperspektiven, dass es immer jeweils um den allerhöchsten und insofern einzig wahren Gott geht1561 und darum, sein absolutes, schöpferisches (Über‑)Wesen philosophisch einzukreisen, um so zu einer möglichst konsistenten und zugleich dialogfähigen Theologie zu gelangen. Einzig und allein aus einer solchen Perspektive kann der Skythe abschließend behaupten, dass aus christlicher Sicht die Polytheisten in ihrer Verehrung der vielen Götter im Grunde den drei-einigen Gott meinen und intendieren: ‚So lässt sich klar ersehen, dass alle Weisen etwas Bestimmtes von der Trinität in der Einheit berührt haben. Und deshalb werden sie, wenn sie diese Auslegung vernommen haben, welche wir vernommen haben, sich freuen und ihren Lobpreis kundtun‘ (pac. X, 27; 29, 14–16).
Erneut ist die christlich-platonische Perspektive in De pace fidei unverkennbar, ebenso auch der Ausgriff aus ihr heraus auf andere religiöse und philosophische Sichtweisen hin und die damit aufgezeigte Brücke zu einem gegenseitigen Verständnis, wobei die Möglichkeit der unterschiedlichen Teilhabe an demselben eine entscheidende Rolle spielt: Der Partizipationsgedanke lässt ein Panorama aus unterschiedlichsten Mosaiksteinen denkbar erscheinen, solange diese sich auf intellekthafter Ebene zu einer bestimmten Einheit zusammenschauen lassen. Der Franzose fügt sodann hinzu, dass er unter den Gelehrten von dem Argument gehört habe, dass die Ewigkeit entweder ungezeugt oder gezeugt oder weder ungezeugt noch gezeugt sei. Dabei entspreche die ungezeugte Ewigkeit dem allmächtigen Vater, die gezeugte Ewigkeit dem Logos-Sohn und die weder ungezeugte noch gezeugte Ewigkeit der Liebe bzw. dem Heiligen Geist, da er von beiden ausgehe und, da nicht der Vater, weder ungezeugt sei noch, da nicht 1560 Unitas enim, etsi ipsam li non aliud praecedat […] (ven. sap. 21, 59). Zum Begriff des Nicht-Anderen s. o. Anm. 1496. Zu Dionysius s. o. Kap. IV.5 a. 1561 Vgl. Benz (1999: 188) zu Cusanus: „[…] ‚absolute‘ kann es daher nur die ‚una infinita indistincta ratio, forma formarum‘ geben, die sämtliche ‚rationes‘ auf adäquate Weise in ihrer Einheit einfaltet, so daß ‚maximum‘ und ‚minimum‘ aller einzelnen Wesensgründe in ihr koinzidieren.“
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der Sohn, gezeugt.1562 Damit findet auch an dieser Stelle von De pace fidei noch einmal1563 die nizänische Lehre mit dem berühmten filioque – der Geist geht nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohn hervor – ihre Bestätigung. Weil Gott die Ewigkeit selbst ist,1564 ist er gemäß seiner inneren Beziehung als Vater, Sohn und Heiliger Geist qua Vater die ungezeugte, qua Sohn die gezeugte und qua Heiligem Geist die weder ungezeugte noch gezeugte Ewigkeit in einshafter Weise, weil er nicht drei, sondern ein Wesen ist. Entsprechend sei auch die Ewigkeit wesentlich eine, aber dreifaltig und einfachst, ebenso die eine Gottheit dreifaltig, das eine Wesen dreifaltig, das eine Leben [sc. Gottes] dreifaltig, die eine Macht dreifaltig, das eine Vermögen dreifaltig. Was, so der Franzose weiter, früher dunkel gewesen, sei nun, soweit es jetzt möglich sei, „heller als Licht“.1565 Es bleibe jedoch die Frage zu klären, ob die Fleischwerdung des Logos zur Erlösung aller geschehen sei oder nicht. Der Logos in Person übergibt daraufhin das Wort an den Apostel Petrus, der nun in die Mitte der Weisen tritt.1566 11. Der Perser und Petrus: Die Inkarnation des Logos, die chalkedonensische Zweinaturenlehre und die maximale Einung von Gott und Mensch in Jesus Christus Flasch (1998: 363) moniert, dass Petrus, „der Fischer vom See Genezareth“, bei Cusanus als „gewitzter Dialektiker“ auftritt und „nie mit der Bibel argumentiert“. Wie kann das sein, gibt es dafür eine Erklärung? Es wäre zu simpel, hier nur auf den fiktionalen Charakter des Werks zu verweisen – Cusanus habe es eben einfach in subjektiver, dichterischer Freiheit so entworfen, Punkt. Denn welchen sachlichen Grund könnte es dafür geben? Die Antwort muss vermutlich in der ‚intellekthaften Verortung‘1567 von De pace fidei gesucht werden: Auf der Ebene der schauenden, zu Gott entrückten Intellekte, d. h. im Bereich des platonisch verstandenen Intelligiblen, sind eben auch die ‚Argumente‘ – denn die literarisch-sprachliche Abbildung einer solchen Ekstase kann auf diskursive Argumentation nicht verzichten1568 – dialektischer Art, intellektualer Prägung. So wie der Fischer zum Menschenfischer werden kann,1569 scheint für Cusanus pac. X, 28; 29,18–30,4. S. o. Kap. V.c8. 1564 S. o. Kap. V.c7 mit Anm. 1449 und 1450. 1565 pac. X, 28; 30, 4–8. 1566 pac. X, 28; 30, 8–15. Vgl. Riedenauer (2007: 411): „Der Wechsel der führenden Rolle vom Allmächtigen über das ewige Wort zu Petrus und Paulus im Verlauf des Dialogs scheint die Ordnung von der una religio über die religiones hin zu rituellen Explikationen und kulturellen Formen nachzuzeichnen […].“ 1567 S. o. Kap. V.c1. 1568 „Es zeigt sich das systematische Problem, das in DPF eingebaut ist: Das Religionsgespräch als ein Diskurs vollzieht sich auf der Verstandesebene, sein Inhalt ist aber letztlich auf Vernunftebene (im cusanischen Sinne) angesiedelt“ (Riedenauer 2007: 486). 1569 Mt 4, 19. 1562 1563
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der Apostel auch zum Dialektiker werden zu können: Es handelt sich jeweils um eine Verschiebung des Bezugsrahmens, in welchem entweder ‚gefischt‘ oder ‚apostolisch argumentiert‘ wird. Die Inkarnationstheologie schließt sich aus der Perspektive von De pace fidei an die Logos‑ und Trinitätstheologie an: Argumentiert wird gewissermaßen ‚von oben‘ – nicht von der Christologie zur Trinitätslehre, sondern umgekehrt. Entsprechend fängt Petrus bei dem Einwand an, Gottes Wort sei nicht Gott, denn dieser sei schon zuvor erörtert worden:1570 Zu Beginn des Dialogs hatten die versammelten Weisen die eine Weisheit als Inbegriff aller Weisheit konzediert, an der sie alle qua ihrer menschlichen Weisheit partizipieren; dies bedeutet zugleich, dass die Weisen, um weise zu sein, sich nicht anders als zu dieser einen Weisheit hinwenden, ‚bekehren‘ können. Wenn Gott alles in Weisheit geschaffen habe, dann könne die Weisheit nur Gott selbst sein.1571 Das „Wort“ (verbum), so Petrus weiter, sei aber „Vernunft“ (ratio), denn dies sei im griechischen Begriff logos („Vernunftwort“) mitumfasst. Als Schöpfer aller rational begabten Seelen und Geister habe Gott selbst Vernunft, und diese sei nichts anderes als Gott selbst, denn Haben und Sein koinzidiere in ihm. Gott umfasse alles in sich; als Geber eidetischer Bestimmtheit (formator) sei er die Idee aller Ideen (forma formarum).1572 Der Logos als „unbegrenzt-unendliche Ursache und Maß“ aller möglichen Geschöpfe aber sei Gott. Wer also den Fleisch bzw. Mensch gewordenen Logos konzediere, müsse auch den Menschen, welchen er als Gottes Logos bezeichne, als Gott bekennen.1573 Den entscheidenden Einwand, der hierauf in einem echten Dialog geradezu erfolgen muss, bringt der Perser vor: Wie könne der unveränderliche Gott nichtGott, sondern Mensch werden, der Schöpfer Geschöpf, das Unbegrenzt-Unendliche begrenzt-endlich, das Ewige zeitlich? Das würden die Weisen mit Ausnahme „weniger Europäer“ beinahe unisono für unmöglich halten.1574 Gemäß dem bereits bekannten, sachlichen Prozedere in De pace fidei räumt Petrus zunächst ein Homologoumenon, etwas gemeinsam Zugestandenes als Basis für die nachfolgende Erörterung der Differenzen ein: Diese Methode hatte nicht zuletzt eine Brücke zwischen der christlichen Trinitätslehre und der Ablehnung der Trinitätstheologie im Islam aufgezeigt.1575 In gleicher Weise gesteht nun Petrus zu, dass das Ewige tatsächlich nicht zeitlich sein könne.1576
pac. XI, 29; 30, 17–20. S. o. Kap. V.c4–6. 1572 Gemäß Cusanus besteht die Vielheit der verschiedenen eidetischen Formen nur, insofern sie kontrakte, partikuläre Formen sind (doct. ign. II, 9, 148–9), s. o. Anm. 1317. 1573 pac. XI, 29; 30,20–31,9. 1574 pac. XI, 30; 31, 10–15. 1575 S. o. Kap. V.c9. 1576 pac. XI, 30; 32, 1–2. 1570 1571
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Der Grund für diese Differenzierung, die Petrus vornimmt, lässt sich der Sache nach letztlich mit der platonisch-aristotelischen Unterscheidung zwischen einem Kompositum (syntheton) und seinen ‚Konstituenten‘ (der eidetischen Form und der durch sie geformten Materie) in Verbindung bringen:1577 Ein Mensch (Sokrates) ist Mensch, insofern das allgemeine Mensch-Sein (als rational begabtes, sterbliches Wesen) in ihm als dieser bestimmte, einzelne Mensch dadurch ins Sein tritt, dass seine Seele als Prinzip des eidetischen Seins genau dieses Menschen (Sokrates) in eine bestimmte Materie eintritt und er so als geistigseelisch-körperliche Einheit existiert:1578 Sokrates ist also nicht das allgemeine Mensch-Sein, sondern verwirklicht dieses Mensch-Sein auf spezifische Weise als der Mensch Sokrates.1579 Die geistig-seelisch-körperliche Einheit ist zwar tatsächlich Einheit, aber zusammengesetzte Einheit, ein Syntheton: Der sinnlichwahrnehmbare, materielle Körper ist genau dieser Körper nicht ohne das ihn belebende und letztlich in seiner so-beschaffenen Strukturiertheit bestimmende Formprinzip der Seele. Löst sich dieses Syntheton im Tod auf, verliert dieser Körper nicht nur seine Lebendigkeit, sondern auch seine Bestimmtheit als menschlicher Körper und vergeht in unbestimmtere Materie: Der tote Körper zeigt zunächst noch seine ehemalige Formung als menschlicher Körper, ist aber nicht mehr Mensch im Sinne des Syntheton, sondern nur noch die vormals durch Seele belebte Materie, welche ohne die Seele als ‚leibliche Hülle‘ zurückbleibt. Somit hört also auch das Syntheton im Tod als solches auf zu existieren, denn insofern dieser bestimmte Mensch (Sokrates) eine geistig-seelisch-körperliche Einheit ist, ist nicht nur sein Körper, sondern auch diese geistig-seelisch-körperliche Einheit als zusammengesetzte Einheit der Vergänglichkeit unterworfen, während das eidetische Formprinzip der Seele (einschließlich des Intellekts) auf geistige Weise fortbesteht. Wesentlich ist dieser Ontologie, dass sie also nicht nur die seinsgebende, eidetische Form von der durch sie geformten Materie, sondern drittens auch das entstehende Syntheton, insofern es eine Einheit aus Form und Materie darstellt, von den beiden ‚Konstituenten‘ Form und Materie unterscheidet: Der bestimmte Mensch Sokrates ist nicht einfach dasselbe wie die Konstituenten ‚Seele und materieller Körper‘ für sich genommen, sondern verdankt sich als dieser Mensch genau dieser neu entstehenden Einheit, in welche die Seele mit der Materie eintritt und erst so – d. h. dadurch – dieses geistig-seelisch-körperliche Syntheton formt. Sterblich ist also nicht nur der Körper, sondern auch das Syntheton, insofern es Einheit von Geist, Seele und Körper ist. Dies 1577 S. o. Kap. II.3 und vgl. Thiel (2004: 82–87). – Zur Präsenz der aristotelischen SubstanzKompositum-Akzidens-Lehre bei Cusanus vgl. z. B. doct. ign. II, 3, 110. 1578 Vgl. Bernard (1990: 137–8) zum Eidos als Ursache von Personalität und Individualität im Neuplatonismus. 1579 Vgl. doct. ign. II, 9, 147.
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schließt in (neu‑)platonischer Hinsicht jedoch nicht aus, dass die Seele neben dem materiellen, sinnlich-wahrnehmbaren Körper möglicherweise noch eine andere Form der Leiblichkeit als ihr zugehörig besitzt; auch die christliche Lehre der leiblichen Auferstehung im Sinne einer verwandelten Leiblichkeit dürfte gleichsam ‚auf einem anderen Blatt‘ stehen,1580 weil die hier verhandelte Anthropologie den Menschen eben im Hinblick auf seine Sterblichkeit, d. h. unter dem maßgeblichen Aspekt betrachtet, dass dieser ein animal rationale et mortale ist.1581 Im Hinblick auf das christliche Verständnis der Menschwerdung des ewigen Logos kann diese platonisch-aristotelische Anthropologie insofern aufschlussreich sein, als eben nicht behauptet wird, dass der Logos als ewiger Gott einfach ein Mensch und somit selbst etwas Zeitlich-Vergängliches wird, sondern eine bestimmte Verbindung eingeht mit einem Menschen. Gemäß der chalkedonensischen Christologie, dass die beiden Naturen Gott und Mensch in Jesus Christus eine „unvermischte und ungetrennte“ Einheit eingehen, wird somit auch nicht behauptet, dass gleichsam der göttliche Logos an die Stelle des menschlichen Geistes oder der Seele trete, sondern dass das volle Mensch-Sein – und im platonischen Sinne umfasst dies eben Geist-Seele-Körper gleichermaßen – mit dem Sein des Logos verbunden ist. Diese Einheit kann in begrifflicher Analogie (!) zwar auch als eine besondere Art ‚Syntheton‘ im aristotelischen Sinne aufgefasst werden, jedoch als ein gänzlich anderes Syntheton denn das eines bestimmten Menschen: Während ein bestimmter Mensch genau diese Einheit aus GeistSeele-Körper ist, geht es bei der Menschwerdung Gottes im christlichen Verständnis darum, wie Gottheit und Menschheit sich verbinden, also der ewige Logos in einen Menschen als dessen geistig-seelisch-körperliche Einheit eingeht und gewissermaßen ein neues, außerhalb herkömmlicher Kategorien stehendes Syntheton darstellt.1582 Der ‚Vorteil‘ einer in dieser Weise versuchten begrifflichen Analyse besteht einzig darin, dass unterscheidbar bleibt, inwiefern der Ewige zeitlich, inwiefern Gott Mensch wird: Der ewige Logos bleibt qua Logos ewig; ‚nur‘ in der neuen Einheit von Gott und Mensch, d. h. in einer anderen, neuen Hinsicht tritt er in die Zeitlichkeit ein. Ebenso ‚wird‘ der Logos selbst qua Logos nicht entgöttlicht und vermenschlicht, sondern bleibt Gott; ‚nur‘ insofern eine nicht-ahnbare Einheit zwischen ihm und dem Menschen Jesus von Nazareth besteht, also gewissermaßen ein unvermischtes und ungetrenntes Syntheton aus
S. o. Kap. II.2.2 a mit Anm. 597. S. o. Kap. II.5 b mit Anm. 223. 1582 Dazu, dass Jesus Christus aus chalekonensischer Perspektive außerhalb ‚herkömmlicher Kategorien‘ steht, vgl. Drews (2011: 32, Anm. 70). Trotzdem wird, genau besehen, auch hier der platonische Grundsatz, Gott und Mensch mischen sich nicht (Platon, symp. 203a1–2), nicht wirklich verletzt: Die unvermischte Einheit von Gott und Mensch in Christus bringt dies zum Ausdruck, die ungetrennte Einheit der beiden Naturen ist dagegen das eigentlich Neue. 1580 1581
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beiden entsteht, ‚wird‘ der Logos Mensch. Die Menschwerdung des Logos bezieht sich also in diesem Sinne auf das Syntheton, auf die neue Vereinigung von Gottheit und Menschheit in Jesus Christus, nicht auf eine Destruktion Gottes qua ewigem Gott. Es geht also nicht um eine Entgöttlichung des Logos, sondern im chalkedonensischen Sinne um eine Vereinigung der beiden Naturen: des ewigen Logos Gottes mit dem der Zeitlichkeit unterliegenden geistig-seelischkörperlichen Menschen. Im Hinblick auf die „unvermischte und ungetrennte“ Vereinigung der beiden Naturen lässt sich dann, so verstanden, sagen, dass Jesus Christus ‚Mensch gewordener Gott‘ ist, insofern dieser Mensch in seiner Ein‑ heit mit dem Logos Gott wird und insofern der Logos in der Einheit mit diesem Menschen selbst menschlich wird, ohne dass beide Naturen ihr Selbstsein als Gott respektive Mensch verlören. Aus der chalkedonensischen Perspektive ist in Jesus Christus der Mensch in seiner geistig-seelisch-körperlichen Einheit ganz in Gott gegründet. Diese oder zumindest ähnliche Differenzierungen scheinen hinter den Worten des Petrus bei Cusanus zu stehen – und machen die Lektüre von De pace fidei so schwierig, weil bereits eineinhalb Zeilen enorm viel an philosophisch-theologischen Voraussetzungen transportieren und implizieren. Petrus führt also aus, dass auch er mit der Inkarnationstheologie nicht behaupte, dass das Ewige qua Ewigem zeitlich würde. Zugleich sollten jedoch auch die Muslime auf der Basis des Korans, welcher besage, dass Christus das Wort Gottes sei,1583 diesen auch als Gott bekennen. Der Perser entgegnet darauf in zu erwartender Weise, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus als „Wort und Geist Gottes“ (Verbum et Spiritus Dei) nicht bedeuten könne, dass er selbst Gott war, da Gott keinen Teilhaber habe. Auch wenn Jesus also die unübertroffene Höhe des Wortes und Geistes Gottes besaß, müsse eine Vielheit der Götter vermieden werden, weshalb Jesus als der Gott am nächsten Stehende gleichwohl nicht (wesensmäßig) Gott sei.1584 Damit springt die Diskussion zurück auf die Trinitätslehre: Der Logos in Person hatte zuvor erläutert, dass diesbezüglich die konsequent bedachte Partizipationslehre gerade zeige, dass das Verhältnis der drei göttlichen Personen zueinander eben nicht durch Teilhabe begründet, sondern außerhalb der Partizipationsontologie zu begreifen sei. Gott habe ein einziges Wesen, das nur in rein innerrelationaler Hinsicht als dreifaltig zu verstehen sei.1585 Im Sinne eines echten Dialogs greift Petrus zunächst wiederum auf ein Homo‑ logoumenon zurück: Die menschliche Natur Christi werde doch von niemandem bestritten, und diese sei, weil menschlich, eben nicht göttlich.1586 In seiner Ähnlichkeit mit anderen Menschen sei Christus nicht anders denn als Mensch zu Sure 4, 171. XI, 30; 32, 2–10. 1585 S. o. Kap. V.c8–9. 1586 pac. XI, 31; 32, 14. 1583 Vgl. 1584 pac.
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begreifen, wie auch der Perser ohne Weiteres einräumt. Die chalkedonensische Zweinaturenlehre erlaubt also zunächst, die Position des Persers durchaus ernst zu nehmen und ihr eine tatsächliche Gültigkeit zuzugestehen – in ähnlicher Weise, wie zuvor die islamische Kritik an einer Trinitätstheologie im Sinne einer Drei-Götter-Lehre auch aus christlicher Sicht als berechtigt erschien.1587 Insofern die menschliche Natur in Christus „vollkommenst“ war, gemäß der er „wahrer Mensch und sterblich“ war, sei Christus jedoch Mensch und nicht Gottes Logos gewesen. Was, so die Frage des Petrus, sei also die Aussage (des Islams), wenn Christus als „Wort Gottes“ bezeichnet werde?1588 Der Perser erwidert, es sei die „Gnade“1589 gemeint, die Jesus erlangt habe, dass Gott in ihn „sein Wort gelegt“ habe.1590 Dies, so darauf Petrus, gelte doch aber für alle Propheten, die alle „Boten von Gottes Wort“ gewesen wären. Der Perser sieht den Unterschied zwischen den anderen Propheten und Jesus darin, dass Christus „der größte aller Propheten“ sei und deshalb „Wort Gottes“ genannt werde.1591 Im Folgenden wird erörtert, inwiefern verschiedene Botschafter die eine Botschaft eines Königs transportieren können. Petrus kommt dabei auf den wesentlichen Unterschied zwischen bloßen Sendschreiben und dem Erben des Königs zu sprechen. Während Sendschreiben ihrer Natur nach Papier seien, sei in dem Erben des Königs das „lebendige, freie und unbegrenzte Wort“ gegenwärtig:1592 ‚Ist nicht im eigentümlichen Sinne Erbe das Wort und nicht ein Botschafter bzw. Gesandter oder ein Buchstabe bzw. Sendschreiben? Und sind nicht alle Worte der Botschafter und Sendschreiben im Wort des Erben eingefaltet (complicantur)? Und obgleich der Erbe des Reichs nicht der Vater, sondern der Sohn ist, ist er doch nicht fremd gegenüber der königlichen Natur, wegen dieser Gleichheit (aequalitas) ist er der Erbe‘ (pac. XI, 33; 33,24–34,2).
Damit spielt Petrus erstens implizit auf Jesu Gleichnis von den „bösen Weingärtnern“ (Mt 21, 33–46) an, welches schon eingangs in der Rede Gott-Vaters anklang:1593 In diesem Gleichnis kommt als letztes der Sohn des Weinbergbesitzers als dessen Erbe und wird von den Weingärtnern umgebracht, damit sie sein Erbe ergreifen können (V. 38) – so wie analog Christus als Sohn Gottes nach den Propheten des Alten Bundes erscheint. Dieser Subtext ist hier bei Cusanus präsent, geht es doch in diesem Kapitel speziell um die Erörterung der Christologie und die Rolle des Sohnes. Daher dürfte Flasch (1998: 363) mit seiner Kritik, Petrus argumentiere „nie mit der Bibel“, zu weit gegangen sein. Zweitens ist das Wort Gottes im oben bereits erörterten Sinne als der Logos S. o. Kap. V.c9. pac. XI, 31; 32, 19–23. 1589 Zur „Gnade“ im Koran vgl. Sure 5, 110 (niʿmat). 1590 ‚Non naturam sed gratiam, scilicet ipsum hanc gratiam excelsam assecutum quod in eo Deus posuit Verbum suum‘ (pac. XI, 32; 33, 1–2). 1591 pac. XI, 32; 33, 4–8. 1592 pac. XI, 33; 33, 20–21. Vgl. cribr. I, alius prologus, 15. 1593 S. o. Kap. V.c3. 1587 1588
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schlechthin nicht nur prinzipienhafte Ursache aller Seienden,1594 sondern auch Quell aller Prophetenworte, insofern diese in ihm als ihrem Prinzip eingefaltet sind. Drittens besteht in Analogie zur menschlichen Beziehung zwischen Vater und Sohn kein Unterschied zwischen beiden in Bezug auf ihre Wesensnatur. Vielmehr ist gerade die natürliche Wesensgleichheit der Grund dafür, dass der Sohn als Erbe die königliche Vollmacht besitzt. Von der rein menschlichen Analogie führt der cusanische Petrus die Argumentation hier wieder zurück zu der vorher behandelten Trinitätstheologie, gemäß welcher Christus als Sohn die absolute „Gleichheit“ ist.1595 Dem tatsächlichen Dialogcharakter in diesem Kapitel des Werks entsprechend, entgegnet der Perser, dass Vater und Sohn gleichwohl zwei seien, und die Muslime deshalb Gott keinen Sohn zugeben können. Petrus lobt ihn für seine Kritik an dem Gleichnis, die sich jedoch mit Blick auf das Vorausgesetzte entkräften lasse: Im Einklang mit der bereits zuvor geleisteten Zurückweisung der Auffassung, die christliche Trinität sei zahlhaft zu verstehen, und mit der Explikation der Dreifaltigkeit als einshafter Allvermögendheit1596 verweist Petrus nun darauf, dass die königliche Macht im Vater und im Sohn ein und dieselbe sei, im Vater als dem Ungezeugten und im Sohn als dem Gezeugten bzw. lebendigen Wort des Vaters:1597 ‚Es sei also [sc. folgendermaßen], dass die derartige königliche, absolute Macht ungezeugt und gezeugt sei und dass die derartige ungezeugte [sc. Macht] selbst einen von der Wesensnatur her Fremden zur Gemeinschaft der Nachfolge mit dieser wesensgleichen (connaturalis) gezeugten [sc. Macht] rufe, auf dass die fremde Natur in der Einheit mit der eigentümlichen [sc. Natur, der das Reich wesentlich zugehört] zugleich und ungeteilt das Reich besitze. Vereinigen sich [sc. dabei] nicht die natürliche Nachfolge und die gnadenhafte und adoptive in der einen Erbschaft?‘ (pac. XI, 34; 34, 13–18)
Wenn also die Macht des Königs und seines Sohnes, die sich in beiden zeige, ein und dieselbe ist, dann ermöglicht dies gemäß den Ausführungen des cusanischen Petrus nicht nur, wie schon gesehen, im Sinne der Trinitätstheologie die drei Personen Gottes mit dessen einem Wesen (analog zu der einen Macht bzw. Allvermögendheit) zusammenzudenken. Denn mit Blick auf die Christologie wird hier zugleich der entscheidende Punkt der chalkedonensischen Zweinaturenlehre vorbereitet: Die ungezeugte Macht des Königs ruft eine im Vergleich zu ihr gänzlich andere Wesensnatur in die Gemeinschaft mit der gezeugten, dem König wesensgleichen Macht des Sohnes – in der Absicht, den rechtmäßigen Erben in die Nachfolgegemeinschaft mit einer anderen Wesensnatur zu stellen, also das Erbe des Reichs nicht nur auf den rechtmäßig-natürlichen Erben zu 1594 pac.
II, 7; 8,17–9,8. Kap. V.c7–8. 1596 pac. VIII, 23, 24, 9–15 (s. o. Kap. V.c8). 1597 pac. XI, 34; 34, 3–11. Vgl. cribr. I, 10, 55; 18, 76. 1595 S. o.
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beschränken. In dieser Gemeinschaft kommen zwei unterschiedliche Naturen zusammen: Sie müssen gewissermaßen zusammenkommen, damit die Gemeinschaft der beiden überhaupt möglich wird. Gemeint ist dabei die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch: Cusanus verweist nicht auf ein durch Erbsünde o.ä. gestörtes Verhältnis zwischen Gott und Mensch, sondern nur auf den Wesensunterschied von Gott und Mensch, der zu überbrücken ist. Damit der Mensch zu Gott kommen kann, ist gleichsam diese Kluft zu überwinden. Die Initiative dazu geht bezeichnenderweise von dem ungezeugten Vater aus, der die fremde Natur (d. h. die Menschennatur) in die gemeinschaftliche Nachfolge mit der ihm wesensgleichen Macht ruft, so dass also die Menschennatur nicht nur der königlich-göttlichen Macht Folge leistet, sondern dies in direkter Gemeinschaft mit ihr tut. Dies wiederum bedeute nicht nur eine Vereinigung der beiden Naturen in dieser Gemeinschaft, sondern auch ein Zugleich von natürlich-wesensmäßiger Nachfolge einerseits und gnadenhafter Nachfolge durch Adoption: Die gezeugte Macht (des Sohnes) ist ja als königlich-absolute Macht bereits wesensgleich mit der ungezeugten Macht des Königs, so dass diese Wesensgleichheit als „natürliche Nachfolge“ bezeichnet werden kann (wobei der Begriff ‚Nachfolge‘ auf der Gleichnisebene den Aspekt der Zeitlichkeit importiert, welcher der theologischen Sache nach freilich nicht gemeint sein kann1598). Verbindet sich aber der Sohn als rechtmäßiger und ‚natürlicher‘ Erbe des Vaters aufgrund dessen Willens mit einer anderen Natur, um diese an seinem Reich teilhaben zu lassen (Partizipation!), dann wird diese andere Natur (des Menschen) bei der gemeinschaftlichen Vereinigung der beiden Naturen gleichsam adoptiert.1599 Besonders in diesem Kapitel von De pace fidei lässt sich bei wohlwollender Lektüre festhalten, dass der cusanische Petrus im besten Sinne eine Koinzidenz seiner eigenen wie auch der Perspektive des Persers anstrebt und damit im Sinne eines echten Dialogs eine interreligiöse Brücke zu errichten versucht.1600 Während der Perser die Vorstellung des Korans (4, 171) vertritt, dass Christus „Gesandter und Wort“ Gottes, aber nicht dessen Sohn sein könne, und diese Sicht damit begründet, dass Christus nur durch Erlangung der Gnade Gottes Wort geworden sein könne, will Petrus gerade zeigen, dass die nicht-polytheistische, keinen Teilhaber-Gott implizierende christliche Trinitätslehre der Zur Ewigkeit Gottes s. o. Kap. V.c10. Vgl. cribr. I, 19, 77–78; III, 20, 233. Bereits Origenes weist die Lehre, Christus könne qua Logos und Gott-Sohn die Göttlichkeit nur durch Adoption erlangt haben, zurück (s. o. Kap. IV.3 a). Dies hindert Origenes gleichwohl nicht, die Göttlichkeit des Sohnes durch abbildhafte Teilhabe zu erklären (s. o. Kap. IV.3 b). Auch zwischen Partizipationsontologie und Adoption muss also entsprechend differenziert werden. 1600 „Die philosophische Christologie von De pace fidei […] ist Ausdruck seines Koinzidenzdenkens und insofern ist die Idee des Gott-Menschen im Rahmen des cusanischen Denkens unverzichtbar“ (Riedenauer 2007: 463). 1598 1599
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Wesensgleichheit und ‑einheit Gottes sich mit der Adoption des Menschen Jesus zusammendenken lässt. Als Autor versucht Cusanus dabei nicht zuletzt, verschiedene Christologien zusammenzuschauen und so einseitige Häresien zu vermeiden wie z. B. den Adoptianismus (Jesus wird erst nachträglich, sekundär zum Gottessohn adoptiert) und den Doketismus (als wahrer Gott ist Jesus kein wahrer, sondern nur scheinbarerweise Mensch).1601 Von einem verbindenden Zentrum her kann in positiver Weise die unterschiedliche Teilhabe an diesem aufgezeigt werden, so dass der Zusammenfall der perspektivischen Gegensätze aufgrund der gemeinsamen Partizipation und der Zielgerichtetheit auf dieses Zentrum hin begründet ist und auch in der intellekthaften Zusammenschau erreicht werden kann.1602 Gemäß Petrus besteht also kein sachlicher Widerspruch zwischen adoptio und filiatio, wenngleich die Adoption sachlich die Sohnschaft voraussetze, weil die Adoption in der natürlichen Nachfolge gründen müsse.1603 Daher sei es auch notwendig, dass es sich nicht einerseits um einen Adoptivnachfolger und andererseits einen natürlichen Nachfolger, also zwei verschiedene handle: Weil die Adoption letztlich die natürliche Nachfolge voraussetze und in ihr gründe, werde die Einheit beider auch in der einen Person des Nachfolgers zentriert sein, wenngleich Adoption und natürliche Nachfolge wesensmäßig verschieden seien.1604 Entsprechend seien in Christus die menschliche und die göttliche Natur „in derselben Hypostase“ geeint – nicht, dass die menschliche Natur in die göttliche übergehe, sondern so an ihr anhafte, dass ihre Personhaftigkeit „nicht getrennt“ in der menschlichen, „sondern in der göttlichen Natur“ zentriert sei; all dies mit dem „Ziel, dass die menschliche Natur, zur Nachfolge des ewigen Lebens mit der göttlichen [sc. Natur] berufen, in der göttlichen selbst die Unsterblichkeit erlangen könne.“1605 Denn die Unsterblichkeit kann nur von Gott selbst her geschenkt werden – sie ist gemäß dem cusanischen Petrus offenbar kein Automatismus.1606 In dem Gott-Menschen Jesus Christus ereigne sich so die Erfüllung des menschlichen Strebens nach Unsterblichkeit und Glückseligkeit.1607 Zu diesen Häresien vgl. die knapp-prägnanten Ausführungen bei von Stosch (2006: 142). Vgl. Riedenauer (2007: 440–1, 488). 1603 pac. XI, 35; 34, 20–24. 1604 pac. XI, 35; 34,24–35,2. 1605 pac. XI, 35; 35, 2–10. Vgl. zur Stelle Flasch (1998: 363), s. außerdem cribr. III, 19, 229–231. 1606 Zur Frage, ob Unsterblichkeit im Christentum und Platonismus ein gegebenes Faktum oder eine erst vermittelte, zu empfangende Gabe sei, s. o. Kap. IV.2.2 a. 1607 Vgl. Euler (2012: 221–2): „Der Mensch hat Leben, also erstrebt er ein vollkommenes, vernünftiges und mängelfreies Leben. Der Mensch besitzt die Fähigkeit zur Erkenntnis, also kommt sein Erkenntnisdrang nicht zur Ruhe, bis er nicht alles Erkennbare erfasst. Der Mensch strebt nach dem, was gut ist, also ruht er nicht, bis er nicht jedwedes Gut erlangt. Dieses unendliche Streben wohnt dem Menschen von seiner Natur her inne und kann deshalb nicht vergeblich sein. Es erfüllt sich in dem, der Gott und Mensch zugleich ist.“ S. ebenso Riedenauer (2007: 85) und Alfsvåg (2014: 56): „[…] insofar as humans have a hope of immortality, they in fact all presuppose the possibility of a union between the divine and human, since only through par1601
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Im Folgenden bittet der Perser Petrus um ein weiteres „intelligibles Beispiel“ zur Erläuterung der vorhergehenden Ausführungen. Petrus rekurriert noch einmal auf das Eingangsargument des Logos, die (absolute) Weisheit, die ja von allen Weisen als seiend zugestanden worden war:1608 Alle menschliche Weisheit habe ihr Sein (durch Teilhabe) von der einen, durch sich selbst bestehenden Weisheit, welche Gott selbst sei. Die menschliche Weisheit differiere jedoch in gradueller Hinsicht, so dass eine jeweils größere Weisheit stärker an die absolute, göttliche Weisheit heranreiche, obgleich ein Mensch immer noch weiser werden könne, ohne doch Gottes Weisheit selbst zu erreichen, da zwischen der partikulär-eingeschränkten, „kontrakten“ Weisheit des Menschen und der absoluten, unbegrenzten Gottes immer ein „unendlicher Abstand“ bestehen bleibe.1609 Wenn aber ein Wesen einen solchen Intellekt habe, dass es keinen größeren geben könne, dann sei dieser mit der absoluten, von sich selbst her bestehenden Weisheit so sehr geeint, dass jene Einung nicht größer sein könnte.1610 Während es zunächst widersprüchlich erscheint, dass die absolute göttliche Weisheit gleichsam als Grenzwert aller Weisheit uneinholbar ist, aber trotzdem ein Mensch genau diesen Grenzwert erreichen können soll, besteht dieser Widerspruch beim genaueren Hinsehen nicht: Der menschliche Intellekt bleibt an sich hinter der göttlichen Weisheit zurück. Wenn genau dieser unendliche Abstand dennoch überbrückt werden können soll, dann kann das von den hier in Anschlag gebrachten Voraussetzungen nur dadurch möglich sein, dass eine Einung zwischen göttlicher und menschlicher Natur erreicht wird: Genau diese Einung aber ist theologisch in dem chalkedonensischen Dogma der in Jesus Christus ungetrennt und unvermischt bestehenden zwei Naturen, der göttlichen und der menschlichen, formuliert. Entsprechend fragt Petrus, ob nicht jener Intellekt „im Vermögen (virtus) der geeinten, maximalen Weisheit das göttliche Vermögen erlangt“ habe und ob „in einem Menschen, der einen solchen Intellekt besitzt, nicht die menschlich-intellekthafte Natur unvermittelt mit der göttlichen Natur bzw. ewigen Weisheit, dem Logos oder der allvermögenden Kunstfertigkeit geeint“ sei.1611 Der Perser stimmt den Ausführungen zwar zu, weist aber erneut darauf hin, dass diese Einung sich der Gnade verdanke. Petrus erwidert, dass die Einung der niederen mit der göttlichen Natur, wenn sie größer nicht sein könnte, dann auch in personaler Einheit bestehe. „Denn solange die geringere Natur nicht in die personal-hypostatische Einheit der höheren emporgehoben“ sei, könnte sie ticipation in divinity can humans be carried across the divide of death. […] Hence, Christology is the fulfillment of the hope of all religions, not their rejection.“ 1608 S. o. Kap. V.c4–5. 1609 pac. XII, 36; 35,11–36,9. – Zur Annäherung an das dennoch von sich selbst her letztlich Uneinholbare Gottes s. o. Kap. V.b und vgl. Flasch (1998: 364). 1610 pac. XII, 37; 36, 13–17. 1611 pac. XII, 37; 36, 17–21. Vgl. cribr. III, 19, 231.
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[sc. die Einung] noch größer sein. Wenn also die Einung maximal sei, subsistiere die niedere Natur in der höheren, indem sie dieser anhafte.1612 Und diese Einung bestehe in der Tat nicht „durch Natur, sondern Gnade“. Die maximale, nicht zu übertreffende Gnade differiere jedoch nicht von der Natur, sondern sei ebenfalls mit dieser geeint.1613 Wenn also auch die Einung der menschlichen mit der göttlichen Natur durch Gnade erfolge, terminiere jene Gnade, da sie nicht größer sein könne, unmittelbar in der [sc. göttlichen] Natur.1614 Im genauen Durchdringen dieser philosophisch-theologischen Problematik will Petrus dem Perser also einerseits mit Blick auf den Gnadenaspekt beipflichten, um ihn andererseits dahin zu führen, die Gnade bei der Einung der menschlichen und göttlichen Natur in Christus im Einklang mit seiner Theo-Ontologie zu sehen – so wie Petrus zuvor der Lehre von der Adoption der menschlichen durch die göttliche Natur zwar ihre systematische Berechtigung zuerkannt hatte, jedoch diese Sicht als zu einseitig-partikulär und als in ontologischer Hinsicht ergänzungsbedürftig erwiesen hatte. Da die göttliche Gnade von der göttlichen Natur ausgehen muss, kann es in der absoluten Einung der menschlichen mit 1612 Der
Begriff des Anhaftens eröffnet verschiedene Assoziationsmöglichkeiten: Gemäß dem christlichen Hintergrund lässt sich an das Umkleidetwerden des Vergänglichen mit dem Unvergänglichen gemäß Paulus, 1 Kor 15, 53–54 denken (s. o. Kap. IV.2.2 a, mit Anm. 615), im neuplatonischen Kontext an das Partizipieren der Seienden an dem absoluten, überseienden und von sich selbst her unpartizipierbaren Einen, welches bei Proklos gemäß seiner Partizipationstheorie über die partizipierfähigen Henaden vermittelt wird, die ihrerseits an dem Einen „anhaften“, aber von den Seienden partizipiert werden (ETh 162, 29–30, s. o. Kap. III.e; ETh 137, 31–6, s. o. Kap. III.f). 1613 Vgl. Reinhardt (2014: 70) und Benz (1999: 228): „3. Als solchermaßen geforderte ‚complicatio omnium‘ müßte das die ‚contractio‘ überschreitende ‚supra-contractum‘ auf engste Weise im Kontakt mit allem Endlich-Seiendem stehen, möglichst optimal die Ganzheit des ‚genus contractionis‘ repräsentieren, in sich bündeln, konzentrieren, was allein die innerhalb des Universums am meisten in der Mitte stehende, ‚natura sensibilis et intelligibilis‘ im Sinne eines Mikrokosmos in sich einfaltende Wesenheit des Menschen vermag. 4. Da die ‚natura humana‘ als solche in die Endlich‑ und Zeitlichkeit gebannt bleibt und die im Bereich des ‚finitum‘ höchste Stufe der ‚intelligentia‘ von sich allein aus schlechthin nicht übersteigen kann, ist sie fundamental auf ein Erhoben‑ und Angenommenwerden seitens eines ontologisch höher als alles Begrenzte stehenden Prinzips, das nur das unendliche ‚maximum absolutum‘ selbst sein kann, angewiesen. 5. Das göttliche Erheben und Annehmen der ‚natura humana‘ ist, insofern das Mensch-Sein jeweils nur in einzelhafter ‚contractio‘ aktualisierbar ist, nur bei einem einzigen realen Menschen möglich, der im Aufstieg zu Gott mit diesem so eins werden muß, daß er – unter Wahrung seines ‚menschlich-eingebundenen‘ Wesens (er ist ‚so Mensch, daß er auch Gott ist, und so Gott, daß er auch Mensch ist‘) – in hypostatischer Einung die ‚entitas universalis contracta‘ wird. 6. Aufgrund seiner ‚unio‘ mit dem ‚maximum absolutum‘ und seiner im endlichen Bereich maximalen ‚mittleren Natur‘ können allein in diesem konkreten, einzigartigen wahren Menschen alle individuellen Kreaturen (sowie das Universum als ganzes) als in ihrer Mitte, Größt‑ und Kleinstheit zugleich ihr Maß, Prinzip und Ziel, ihre Vollkommenheit und Ruhe finden. Bedingung für eine individual-menschliche Erfüllung ist, daß Christus als ‚principium et finis contractionis‘ erkannt, und – über die philosophische Deduktion hinausgehend – im Glauben auch anerkannt wird.“ 1614 pac. XII, 37–38; 36,22–37,8.
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der göttlichen Natur auch keinen Unterschied zwischen einer Einung durch Gnade und einer wesensmäßigen Einung durch die Natur geben – dies stünde im Widerspruch zur maximalen Einung, um die es gerade geht. Es spricht vielleicht für den Dialogcharakter an dieser Stelle, dass der Perser dem Apostel seine Zustimmung – sogar im Zustand des entrückten Intellekts – hier nicht gibt: Der Mensch Christus könne nicht mehr-Gott genannt werden als irgendein Heiliger, selbst wenn er der Heiligste sei.1615 Während der Logos zuvor die allgemeinen, prinzipienontologischen Implikationen des Seins der Weisheit / des Logos, das Verhältnis von Mono‑ und Polytheismus, die Trinität und ihre Kritik im Islam und Judentum mit höherer Überzeugungskraft gegenüber seinen Dialogpartnern erörtern konnte, erscheint besonders die Menschwerdung Gottes als ein christliches Spezifikum, das folglich auch nur schwer von nicht-christlichen Religionsvertretern zu akzeptieren ist. Dabei handelt es sich thematisch eigentlich gerade um eine – aus christlicher Perspektive – dem Menschen besonders nahe kommende Theologie, die vermutlich deshalb auch von einem Menschen – Petrus – und nicht vom Logos selbst vorgetragen wird. Petrus macht seinen Dialogpartner in einem neuen Anlauf darauf aufmerksam, dass „allein in Christus jene höchste Höhe, die höher nicht sein“ könne, die höchste Gnade und Heiligkeit bestehe.1616 Die maximale Einung und Koinzidenz von Gott und Mensch sei ihrerseits nicht vielfach realisierbar, sondern als dieses Maximum einfach und singulär:1617 Die absolute, maximale Einung von Gott und Mensch kann somit nur eine sein, andernfalls könnte sie übertroffen werden und wäre nicht mehr die größtmögliche; daher erscheint der Einwand des Persers, Christus stehe auf gleicher Stufe wie die Propheten, philosophisch unbegründet. Petrus verweist ihn nicht zuletzt darauf, dass auch die „Araber Christus als den allein Höchsten in dieser und der zukünftigen Welt sowie als Wort Gottes bezeichnen“ würden1618 (denn dies hatte der Perser zuvor schon selbst formuliert, als er Jesus als „größten aller Propheten“ und als „Wort Gottes“ bezeichnet hatte1619). Nichts anderes bringe die Zweinaturenlehre im Sinne der höchsten Einung von Gott und Mensch in Christus zum Ausdruck: Wenn Christus der Höchste und zugleich Mensch ist, dann ist er auch Gott, weil er sonst nicht der pac. XII, 38; 37, 9–12. XII, 39; 37, 13–23. 1617 Vgl. cribr. I, prologus, 8 und III, 9, 187. Im Hinblick auf Cusanus’ Christologie in doct. ign. III, 3 vgl. Leinkauf (2006: 197–8) zur „Verbindung von ‚entitas absoluta‘ und ‚entitas contracta‘ “, die „nur in einem gleichsam absolut-singulären Individuum zustande kommen“ kann, „das dann, neben der theologisch-heilsgeschichtlichen, eine eminent ontologische Funktion erhält: ‚durch ihn, der das eingeschränkte Größte ist, würde alles vom absolut Größten in das Kontrakt-Sein hervorgehen und, durch die Vermittlung desselben, ins Absolute wieder zurückkehren, wie durch das Prinzip der Emanation und das Ziel der Rückführung‘ (doct. ign. III, 3, 199).“ Vgl. auch Knoch (2012: 32) sowie Euler (2014 b: 77). 1618 pac. XII, 39; 37, 23–28. Vgl. pac. XI, 30; 32, 2–10. 1619 S. o. Anm. 1591. Vgl. cribr. I, 15, 67. 1615
1616 pac.
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Höchste sein könnte.1620 Denn das absolute Größte ist, weil es prinzipienhafte, d. h. unübertroffene und primäre Großheit ist, mit dem höchsten Wesen, also Gott, identisch – wie nicht zuletzt bereits Augustinus im Hinblick auf das Gott wesenseigene Groß-Sein, welches aller partizipierten, sekundären Großheit im Bereich der Geschöpfe immer schon vorausliege, ausführt.1621 Hierauf nun gibt der Perser vorsichtig zu erkennen, dass zu einem solchen Verständnis und Glauben wohl auch die Araber „führbar“ (ducibiles) seien. Auch dies ist wiederum im Modus der Möglichkeit formuliert, nicht als zwingende Notwendigkeit. Zur Erläuterung, wie die menschliche der göttlichen Natur anhaften könnte, gibt Petrus das Beispiel vom Magneten und Eisen: Wie die natürliche Schwere des Eisens durch dessen Anhaftung an dem Magneten aufgehoben sei, so hafte auch die menschliche Natur in Christus der göttlichen an. Dies sei aber nur möglich, weil das Eisen in seinem Wesen dem Magneten verwandt sei – analog die menschliche Geistnatur der göttlichen, von der sie ihr Sein habe.1622 Abschließend spielt Petrus darauf an, dass gemäß dem Koran Jesus Tote auferweckt und aus Lehm Vögel geschaffen habe.1623 Der Koran wird also als heilige Schrift durchaus ernst genommen, um so die Anschlussfähigkeit der ‚christlichen Christologie‘ für die Muslime aufzuzeigen. Der Perser pflichtet Petrus
1620 Vgl.
Flasch (1998: 364) und Euler (2014 b: 77). Kap. IV.4 b. – Zum absolut Größten als Gottesbegriff und ‑beweis bei Cusanus vgl. Álvarez-Gómez (2012: 44), der im Hinblick auf Cusanus’ Gottesbeweis darauf hinweist: „Vom Endlichen und Begrenzten zu sprechen hat keinen Sinn, solange man nicht das Unendliche und Größte in Betracht zieht, das, als Maß alles anderen, es als endlich erscheinen lässt.“ Álvarez-Gómez argumentiert für die Verbindung eines apriorischen und aposteriorischen Gottesbeweises bei Cusanus: „Denke ich das Größte, so denke ich zugleich, wenigstens implizit, dessen Sein, denn das schlechthin Größte – das maximum simpliciter – stellt die äußerste Grenze alles anderen dar, das tatsächlich existiert oder zu existieren vermag. Dieser Beweis ist a priori, sofern der Begriff des Größten dessen Sein miteinschließt. Der Beweis ist zugleich a posteriori, denn alles, was nicht das Größte ist, ist ‚endlich und begrenzt‘, und als solches kann ohne das Sein des Größten nichts sein“ (ibd., 57). Dazu, dass absolute Großheit und Einheit koinzidieren, weil sonst mehrere ‚absolut Größte‘ angenommen werden müssten, was unmöglich ist, weil sie somit nicht das absolut Größte wären, sondern als mehrere bereits die gemeinsame Teilhabe an der absoluten Großheit voraussetzten, die ihnen wiederum vorausliegen würde, vgl. ibd., 50. Der Gottesbeweis über den Begriff der absoluten Großheit führt so letztlich wieder zum ontologisch-prinzipientheoretischen Primat des Einen vor dem Vielen zurück (s. o. zu Proklos Kap. III.d). Genau diesen Beweisschritt sieht Schmitz (2005: 188) nicht von der kantianischen Kritik an ‚dem‘ ontologischen Gottesbeweis berührt. 1622 pac. XII, 39–40; 38,3–38,20. Vgl. Euler (2014 b: 77–78) sowie cribr. III, 21, 237. 1623 Sure 5, 110. Vgl. Euler (2014: 24). Die Koranstelle geht vermutlich auf das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas, Kap. 2 zurück (s. Ceming / Werlitz 2004: 95–96). Bereits das „vorislamische arabische Christentum war geprägt durch a) eine große Fülle von Agrapha (ungeschriebenen Jesusworten) mit stark asketischem Charakter, b) durch eine reiche Überlieferung aus christlichen Apokryphen (ganz besonders aus dem Kindheitsevangelium nach Thomas) […]“ (Berger 2004: 510). 1621 S. o.
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bei, deutet aber an, dass es sehr viel schwieriger sein dürfte, die Juden zu diesem Glauben zu bewegen.1624 Petrus verweist darauf, die Juden hätten „all jenes über Christus in ihren Schriften“ – insofern die hebräische Bibel als auf Christus hinblickende Prophezeiung verstanden werden kann –, würden dies aber nicht begreifen, weil sie in ihrem Verständnis dem Literalsinn verhaftet blieben.1625 Diese christliche Kritik an der (angeblichen) jüdischen Schriftauslegung geht bis auf Origenes zurück, der diesen Vorwurf zwar nicht allgemein gegenüber ‚den‘ Juden, sondern nur gegenüber den „Starrsinnigen und Unverständigen“ unter ihnen erhebt – womit jedoch die Fragwürdigkeit einer solchen Kritik nicht wirklich gemindert wird, schon gar nicht deren verheerende Folgen. Jedenfalls ist auch Origenes der Auffassung, dass die Ablehnung Christi auf jüdischer Seite von einer Schriftdeutung herrühre, welche die sinnlich-wahrnehmbare Verifikation suche, nicht aber die rein geistig-intelligible Wirklichkeit erkenne:1626 Wie schon der Apostel schreibt, sei jedoch durch Jesus der „Schleier“ von der Schrift des Alten Bundes genommen worden.1627 Innerhalb von De pace fidei sind die abschließenden vier Zeilen des Kapitels wohl nicht anders denn als Tiefpunkt des Werks zu begreifen: Cusanus lässt Petrus (!) tatsächlich sagen, dass die „Resistenz der Juden“1628 die Einheit [sc. im Glauben] deshalb nicht gefährde, weil sie ja nur „wenige“ seien und „nicht die ganze Welt mit Waffen werden aufwühlen können“.1629 Die Forschung hat an dieser Stelle zu Recht vielfach Anstoß genommen:1630 Wie kann dieses despektierliche, plötzlich rein militärische ‚Argument‘ im Himmel der intellekthaften Entrückung aufkommen?
pac. XII, 41; 38,22–39,11. pac. XII, 41; 39, 12–13. 1626 Origenes, princ. IV, 2, 1; 306,3–307,3. Andererseits ist Origenes jedoch der Auffassung, dass z. B. die Feier des jüdischen Paschafestes nicht von der des christlichen verdrängt wird, sondern unabhängig davon ihre bleibende Berechtigung für die Juden behält (s. Reiser 2007: 123–130), zeigt damit in seiner Theologie also einen integrativ-dialogfähigen Ansatz gegenüber der jüdischen Religion (s. o. Anm. 1200). 1627 Vgl. Paulus, 2 Kor 3, 14 und darauf aufruhend Origenes, princ. IV, 1, 6; 302, 7–10. 1628 Riedenauer (2007: 431) bemerkt zu Recht: „offenbar zählt sich der Fischer vom See Genesareth nicht mehr dazu.“ 1629 pac. XII, 41; 39, 13–15. 1630 Vgl. Alfsvåg (2014: 56, Anm. 34): „Cusanus employs here a strangely pragmatic argument that differs substantially from the otherwise very principled discussion in the rest of the book; one may therefore […] speak of a certain ‚anti-Jewish bias‘ at work here.“ Ebenso Riedenauer (2007: 432). S. ferner Flasch (1998: 349–350): „Das Judentum ist noch nicht erwähnt worden. Es war Cusanus 1453 weniger wichtig, und er sagt auch, warum. Die Juden sind nicht so zahlreich wie die Araber. Sie leisten Widerstand gegen christliche Bekehrungsversuche, aber ihre resistentia bildet nicht wie das Vordringen des Islam eine akute Gefahr. […] Cusanus konnte sich vorstellen, daß künftig in einer erneuerten Christenheit alle die Beschneidung übernähmen.“ Zur Judenfeindlichkeit bei Cusanus s. o. Kap. V.a mit Anm. 1129, zur positiven Würdigung der Juden s. Kap. V.c15 (Schluss). 1624 1625
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12. Der Syrer und Petrus: Auferstehungstheologie auf der Basis chalkedonen‑ sischer Christologie: Christus als Erlöser der natura humana, als Erfüllung des Glückseligkeitsstrebens und der Religionen Der syrische Weise bittet Petrus nun, zu erklären, wie „die für jede Religionsgemeinschaft (secta) vorausgesetzte Eintracht [sc. im Glauben] in diesem Glaubensartikel“ zu erreichen sei.1631 Mit „diesem Glaubensartikel“ scheint zunächst allgemein die Christologie gemeint zu sein, um die es zuletzt ging, spezifisch für das Folgende ist die Frage der Auferstehung. Petrus beginnt wieder mit einem breit, über die Grenzen des christlichen Glaubens hinaus akzeptablen Homolo‑ goumenon, dass doch „Gott allein ewig und unsterblich“ sei. Die Zustimmung des Syrers lässt nicht auf sich warten: Wie für De pace fidei charakteristisch, basiert sie auf einem philosophischen Argument, denn alles außer Gott sei „Prinzipiiertes“, habe also eine prinzipienhafte Ursache und ein seiner Natur gemäßes Ziel.1632 Gott ist deshalb kein Prinzipiiertes, weil er als Allerhöchster sich keiner ihm vorausliegenden Ursache verdankt, sondern selbst universales Prinzip ist – im Wortsinn, weil er als das absolute Eine das ist, woraufhin die Prinzipiate „eins-gewendet“ sind: Die Einheit des Seins und der Seienden verweist auf dieses absolute Eine, dessen trinitarische Dynamik und Zeugungsmacht zuvor bereits aufgezeigt wurde.1633 Petrus verweist dann darauf, dass es einen Konsens der abrahamitischen Religionen im Hinblick auf die Auferstehung des Menschen nach dessen zeitlichem Tod gebe, was der Syrer bestätigt.1634 Daraus kann Petrus schlussfolgern: ‚Es bekennen also alle, die auf diese Weise [sc. glauben] (omnes tales), dass die menschliche Natur mit der göttlichen und unsterblichen vereint werden muss. Denn wie sonst sollte die menschliche Natur zur Unsterblichkeit übergehen (transiret), wenn sie derselben nicht in untrennbarer Einheit anhaftete?‘ (pac. XIII, 42; 40, 9–12)
Die Argumentation geht also von der wesensmäßig einzig Gott zukommenden Unsterblichkeit über den in den monotheistischen Religionen präsenten Glauben an die Auferstehung des Menschen zu der Konklusion über, dass Letztere nur darin gründen kann, dass Gott und Mensch sich vereinen. Damit rekurriert Petrus implizit nicht nur auf die gerade zuvor erörterte chalkedonensische Zweinaturenlehre mit ihrer koinzidalen Einheit von (a) wesensmäßiger Einung des Sohnes mit dem Vater im Heiligen Geist und (b) der Adoption der menschlichen Natur durch die göttliche in dem Menschen Jesus Christus.1635 Zugleich stehen seine Ausführungen partizipationstheoretisch im Einklang mit denen eines Boethius: pac. XIII, 42; 39, 17–19. XIII, 42; 39,20–40,3. 1633 S. o. Kap. V.c8. 1634 pac. XIII, 42; 40, 4–8. 1635 S. o. Kap. V.c11. 1631
1632 pac.
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Jeder Glückselige also ist ein Gott. Aber von Natur aus ist freilich ein [sc. Gott]; nichts aber hindert, dass durch Partizipation so viele [sc. Götter] wie möglich sind (Boethius, cons. III, 10p, 23–25).
Denn, auch wenn bei Boethius gar nicht von der Auferstehung die Rede, ja für die Consolatio nicht einmal ein eindeutig christlicher Bezugsrahmen nachweisbar ist,1636 so erscheint doch die philosophische Ontologie, gemäß welcher dem Menschen Glückseligkeit respektive die Auferstehung zuteil werde, auf den ersten Blick grundsätzlich verwandt: Die wahre, umfassende, absolute Glückseligkeit kann nur in Gott selbst Bestand haben, ebenso wie die Unsterblichkeit. Von Natur aus ist daher nur Gott allein glückselig und unsterblich. Durch Partizipation an Gottes Glückseligkeit jedoch, so Boethius, könne es so viele Glückselige bzw. „Götter“ geben, wie nur denkbar, insofern sie eben nicht von Natur aus Gott seien, sondern durch sekundäre Anteilhabe vergöttlicht würden. Im Unterschied zu Boethius’ in der Consolatio, wie gesagt, nicht spezifisch christlichem Argumentationsgang führt der cusanische Petrus im Hinblick auf die Frage der Auferstehung keine allgemeine Partizipationsontologie ins Feld, die gleichsam für alle Menschen unterschiedslos gelte, sondern zielt spezifisch christlich auf die Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur in Jesus Christus ab: Die Auferstehung nach dem Tode ist keine ‚von selbst immer schon gegebene Tatsache‘,1637 sondern verdankt sich gemäß Cusanus der in Christus erst zu realisierenden „unteilbaren Einung“ der göttlichen mit der menschlichen Natur. Eine in diesem Sinne begründete Auferstehungshoffnung besteht somit nur in und durch Jesus Christus, in welchem die unendliche Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Natur in der maximal-singulären Einung überwunden sei.1638 Der cusanische Petrus verfolgt auch hier die für De pace fidei charakteristische philosophische Begründung aller theologischen Inhalte. Er argumentiert, um Flaschs Urteil bewusst umzuinterpretieren, nicht als „Fischer vom“ – oder besser: am – „See Genezareth“,1639 sondern innerhalb der intellektiven Ekstase von De pace fidei als ‚fischender Dialektiker‘, um jedoch auf diesem Weg des ‚entrückten Denkens‘ vom Resultat her genau dorthin zu gelangen, was im Neuen Testament auch der Apostel Paulus über die Auferstehungshoffnung der Christus-Gläubigen darlegt: Auferstehung gibt es für den (historischen) Paulus1640 nur in, mit und durch Christus selbst.1641 Nicht die Möglichkeit einer allgemeinen Anteilhabe des Menschen an Gottes Unsterblichkeit, sondern der spezifisch in dem Mensch gewordenen Gott Jesus Christus realisierte „Übergang“ (transitus) der menschlichen in die göttliche Natur eröffnet dann die Partizipa S. o. Kap. IV.6. Vgl. Kap. IV.2.2 a. 1638 S. o. Kap. V.c11. S. ferner cribr. III, 19, 231. 1639 Flasch (1998: 363), s. o. Kap. V.c11. 1640 In Unterscheidung zu dem bei Cusanus später auftretenden Paulus. 1641 Vgl. Paulus, 2 Kor 4, 1 Kor 15 (s. o. Kap. IV.2.2 a). 1636 1637
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tion der Christus-Gläubigen an Christus und seiner Auferstehung. Aus dieser Perspektive besteht somit auch wieder eine Parallele zur Partizipationstheologie eines Origenes: Auch wenn die historisch späteren (nizänisch-chalkedonensischen) Dogmen keineswegs einfach in den Alexandriner hineingelesen werden sollten, ist doch auch für ihn alle Teilhabe an Gott nur als durch Christus vermittelt zu denken.1642 Genau in diese Richtung treibt der cusanische Petrus – nachdem der Syrer noch kurz seine Zustimmung zu der allgemeinen Voraussetzung, dass sich beide Naturen zur Herstellung der Auferstehung verbinden müssten, gegeben hatte – seine Argumentation nun weiter und will die interreligiöse Verständigung dadurch erreichen, dass die seiner Ansicht nach allgemein in den abrahamitischen Religionen präsente Auferstehungshoffnung sich nur von der Christologie her philosophisch begreifen und fundieren lasse. Der Ausgriff auf die nichtchristlichen Religionen erfolgt immer wieder aus der platonisch-christlichen Perspektive heraus: christlich, weil die Auferstehung das zentrale christliche Theologoumenon schlechthin ist, platonisch, weil der allgemeine ontologischprinzipientheoretische Rahmen (geistige – materielle Wirklichkeit, der Primat des Einen vor dem Vielen) auch hier seine unterschwellige Tragweite zeigt. Wenn, so Petrus, also die wenigstens den drei monotheistischen Religionen gemeinsame Auferstehungshoffnung in der Einheit der göttlichen mit der menschlichen Natur ihre Voraussetzung habe, dann müsse doch die menschliche Natur in einem bestimmten Menschen „auf prinzipienhaft-erste Weise“ (prioriter) auch tatsächlich mit der göttlichen Natur geeint sein. Und dieses sei in dem, welcher „das Gesicht aller Völker und der höchste Messias und Christus ist“, erfolgt, wie Araber und Juden bezeugen würden.1643 Damit rekurriert Petrus auf die Bezeichnung Christi als des „größten“ Propheten, welche der Perser als Vertreter des Islams zuvor vorgenommen hatte:1644 Diese maximale Unübertroffenheit hatte Petrus daraufhin als nur der göttlichen Natur zukommend aufgezeigt und so die in Christus realisierte Einung der menschlichen und der göttlichen Natur abgeleitet.1645 Auffallend und nicht anders denn als Vereinnahmung zu werten ist die Tatsache, dass die Juden einfach den Muslimen ‚eingemeindet‘ werden. Zwar hatte Petrus vorher noch erklärt, dass die Juden alles über Christus auch in ihren Schriften hätten, insofern das Alte Testament auf Christus hin interpretiert werden könne, und wiederholt dies kurz darauf noch einmal.1646 Der ‚Beweis‘, welcher ja auf Christus als dem größten Propheten fußen soll, erscheint jedoch eindeutig von der Aussage des Persers in De pace fidei her motiviert. S. o. Kap. IV.3 b. XIII, 43; 40, 14–17. 1644 pac. XI, 32; 33, 4–8 (s. o. Anm. 1591 und 1617). 1645 S. o. Kap. V.c11. 1646 S. o. Anm. 1625 und pac. XIII, 44; 41, 4–7. 1642
1643 pac.
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Wie die Forschung gezeigt hat, verdankt sich der Christus-Titel „Gesicht aller Völker“ (facies omnium gentium) einer falschen lateinischen Übersetzung einer Koran-Stelle.1647 Unabhängig davon ergibt sich jedoch auch eine Reminiszenz an die Selbstvorstellung der Göttin Isis im Roman des Apuleius: Isis sagt von sich, dass sie als die deorum dearumque facies uniformis, also in ihrem „einartigen Angesicht“, die vielen Götter als eine Gottheit (numen unicum) vereine.1648 Ohne dass hier – obgleich nicht auszuschließen – ein direkter historischer Einfluss von Apuleius auf Cusanus postuliert werden müsste, ist doch der philosophischtheologische Aspekt, dass Isis bei Apuleius eine inkludierende Gottheit ist und sich dieses gerade in ihrer facies aller Götter zeige, mit der facies Christi bei Cusanus vergleichbar: Christus vereine in seinem Angesicht zwar nicht die Götter, aber alle Völker. Es geht also bei beiden Autoren in unterschiedlicher Weise und vor allem in ganz verschiedenen religiösen Kontexten doch um die Gemeinsamkeit, dass sich auf einem Antlitz die Vielheit mehrerer Wesen (Menschen bzw. Götter) spiegelt: Dies ist bei dem Mittelplatoniker Apuleius entscheidend für einen den Polytheismus inkludierenden Monotheismus, bei Cusanus zeigt sich Christus als die vielen Menschen vereinender Gott-Mensch; bei beiden erweist der platonische, prinzipientheoretische Primat des Einen vor den Vielen seine philosophische Relevanz dafür, dass überhaupt sinnvollerweise eine Vielheit auf ein ihr vorausliegendes Prinzip (Götter auf eine Gottheit; Menschen auf einen Menschen) bezogen werden kann. Im Folgenden führt Petrus seine Schlussfolgerung zu Ende: Christus, der „nach Meinung aller“ Gott am nächsten sei, werde jener sein, der die menschliche Natur, die von allen Menschen gemeinsam geteilt werde,1649 mit der Natur Gottes vereine. Nur deshalb sei er auch der „Erlöser und Mittler“1650 aller, weil er die den einzelnen, unterschiedlichen Menschen dennoch gemeinsame Menschennatur in sich aufnimmt und so zur Auferstehung von den Toten führe.1651 Partizipationstheoretisch wird also auch hier noch einmal deutlich: Nur weil die Menschen trotz ihrer Verschiedenheit an einer ihnen gemeinsamen natura humana partizipieren, die sie freilich auf unterschiedliche Weise realisieren,1652 vermögen sie in Christus, der als universaler Mittler diese Menschennatur in sich aufnimmt und mit der göttlichen vereint, auch an seiner Auferstehung zu partizipieren und werden so vom Tod erlöst.
1647 Vgl. Euler (2014: 24) sowie Berger / Nord (2002: 105, Anm. 65) mit dem Hinweis auf Suren 19, 21 und 21, 91. Vgl. auch cribr. I, 19, 77–79 unter Verweis auf Ps 45, 3. 1648 S. o. Kap. II.4.2 b und II.5 c. 1649 S. o. Kap. V.c11. 1650 Dazu, dass die Mittlerfunktion Christi bei Cusanus nicht auf die soteriologische Dimension beschränkt ist, sondern auch die allgemein-ontologische Hinsicht umfasst, s. o. Anm. 1616. 1651 pac. XIII, 43; 40, 17–22. Vgl. cribr. II, 17, 145–148. 1652 S. o. Kap. II.5 b mit Anm. 223 und Kap. V.c11.
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Der Syrer lässt daraufhin erkennen, dass er Petrus’ Argumentation zumindest nachvollziehbar findet, fragt aber nach der Vereinbarkeit dieser Christologie mit den Auffassungen anderer Religionsgemeinschaften. Petrus gibt zur Antwort, dass sich die Reinigungsriten (purgationes) der verschiedenen Religionen doch nur im Sinne des Strebens der Seelen nach ewigem Leben sowie nach der Angleichung an jenes Leben begreifen ließen, und dass auch das Streben nach Glückseligkeit (beatitudo) genau dieses Ziel verfolge, da diese letztlich nur in Gott als Quell des Lebens gründen könne. Der obige Vergleich mit Boethius’ Ausführungen über die Anteilhabe aller Glückseligen an Gott ist also, wie hier deutlich wird, durchaus in Cusanus’ Sinne: Auferstehung kann nur als die Erfüllung des Glückseligkeitsstrebens gedacht werden, wenn beide sachlich miteinander zusammenhängen. Die Menschen, so Petrus weiter, wollten in ihrer eigenen Natur die Glückseligkeit erlangen, nichts anderes als Mensch sein. Damit ergibt sich einerseits ein Rückbezug zur Rede des Engels am Anfang von De pace fidei: Alle Geschöpfe, alle Seienden wollen ‚einfach nur‘ das sein, was sie ihrem Wesen nach sind.1653 Andererseits stehen genau diese Ausführungen in einer Diskrepanz zu einem Jesus-Wort aus dem Neuen Testament, wonach die Menschen in der Auferstehung „wie die Engel im Himmel“ sein würden – welches zudem noch in einem der folgenden Kapitel zitiert wird.1654 Für den Zusammenhang von De pace fidei ist hier jedoch von vordergründiger Relevanz, dass der sterbliche Mensch durch Christus die Erfüllung seines auf Gottes ewiges Sein zielenden Glückseligkeitsstrebens erlangen kann, Gottheit und Menschheit sich also in Christus gemäß der Zweinaturenlehre verbinden und der Mensch durch Christus als den „Mittler und Weg“ (mediator et via)1655 gleichsam ‚adoptierter Miterbe‘ in Gottes Reich werden kann, wie Petrus im vorangehenden Kapitel erläutert hatte.1656 Dabei ist zunächst zweitrangig, inwiefern ein verwandelter Auferstehungsleib1657 einer wie auch immer gearteten Engelnatur vergleichbar oder ähnlich sein könnte. Mit dem Ziel der ewigen Glückseligkeit setzten, so Petrus, alle Religionen die Realisierung dieses Zustandes voraus; genau diese Realisierung ereigne sich aber in bzw. durch Christus und seine Auferstehung von den Toten, so dass alle Religionen – gemäß der Grundthese von De pace fidei – letztlich implizit Christus voraussetzen und auf ihn hin ‚finalisiert‘ gedacht werden können.1658 Abschließend stimmt der Syrer Petrus zu und greift noch einmal den in der Gottesrede am Anfang des Werks erläuterten Gedanken auf, dass Gottes ewige Weisheit und Wahrheit Nahrung des Intellekts sei.1659 Wie pac. I, 5; 6, 9–17 (s. o. Kap. V.c2). Mt 22, 30; pac. XV, 50; 47, 9–11. 1655 Vgl. Jh 14, 6 (s. o. Kap. IV.2.2 a). 1656 S. o. Kap. V.c11 und vgl. cribr. II, 16, 138 und III, 9, 187. 1657 S. dazu Kap. IV.2.2 a. 1658 Vgl. o. Anm. 1607. 1659 S. o. Kap. V.c3 mit Anm. 1277. 1653 1654
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Christus als ewiger Logos also die menschlichen Intellekte nähre, so ziele seine Auferstehung von den Toten als Gott-Mensch auf die ultimative Vereinigung des Menschen mit Gott und auf die Erfüllung des Glückseligkeitsstrebens in Gott. Auf den Einwand, dass die Juden das Kommen des Messias doch erst noch erwarten würden, antwortet Petrus, es genüge, dass die Araber, Christen und alle Märtyrer aus den Worten der Propheten und aus den Werken Christi heraus bezeugten, dass der Messias bereits gekommen sei.1660 Im Rahmen eines interreligiösen Dialogs philosophischer Ausprägung ist es nicht unerheblich, dass sich mit dem Aspekt der Einung von Gott und Mensch in Christus und der letztlich durch ihn vermittelten, möglichen Einung aller Menschen mit Gott die christliche Auferstehungstheologie so, wie Cusanus sie durchdenkt, in gewisser Weise mit der neuplatonischen henôsis als Ziel intellektiv-mystischer Anstrengung berührt.1661 Im Hinblick auf das Ziel besteht eine gewisse Parallelität zwischen beiden Theologien, jedoch erscheint der Weg dorthin gänzlich verschieden: Geht es dem Neuplatonismus um die Schau bzw. darüber hinaus um die mystische Einung des menschlichen Intellekts bzw. des menschlichen Einen mit dem göttlichen, überseienden Einen, vollzieht sich im Erlösungshandeln Christi (jedenfalls nach cusanischer Auffassung) die absolute Einung eines Menschen mit Gott, wodurch zugleich die allgemeine, von allen Einzelmenschen geteilte menschliche Natur Eingang in Gottes Wesen und Reich findet, so dass durch Christus dann auch alle Menschen in diese Erlösungstat und Auferstehung einbezogen werden können.1662 Einung mit Gott bleibt so nicht nur den intellektiv Begabten vorbehalten, ja es geht über den Aspekt der reinen Einung hinaus zugleich um Erlösung, insofern Christus der salvator et media‑ tor omnium ist: Einung und Erlösung geschehen hier somit nicht nur als ein den Einzelnen betreffendes, sozusagen punktuelles mystisches Maximalereignis (ohne dass dies deshalb diskreditiert werden sollte oder müsste), sondern wird als ein tatsächlich die allgemeine Ontologie betreffender Sprung realisiert. Dabei wird die ‚alte‘, platonische Ontologie, wonach sich Gott und Mensch nicht mischen,1663 keineswegs einfach überworfen, sondern vorausgesetzt und nur vor diesem präsupponierten Hintergrund dann auch überboten, indem die verschiedenen naturae von Gott und Mensch durch Christus in eine neue Einung überführt und insofern transzendiert werden.
pac. XIII, 43–45; 40,23–42,18. Zum Begriff henôsis bei Proklos und Dionysius s. o. Kap. III.d–e bzw. IV.5 b. 1662 Dies steht im Einklang mit der neutestamentlichen, paulinischen Auferstehungstheologie (vgl. 1 Kor 15, 20–21). – Zum Begriff der „absoluten Einung“ bei Cusanus, welche er mit dem Heiligen Geist identifiziert, vgl. doct. ign. III, 12, 262. 1663 S. o. Kap. IV.2.3 b und Kap. V.c11 mit Anm. 1582. 1660 1661
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13. Der Spanier und Petrus: Das Warum der Jungfrauengeburt Der spanische Weise gibt Petrus daraufhin das Stichwort, dass es doch über den Messias, von dem die meisten glaubten, er sei bereits gekommen, einen weiteren Streitpunkt gebe: Christen und Araber würden seine Geburt aus der Jungfrau Maria bekennen, während alle anderen dies für unmöglich hielten.1664 Interessanterweise folgt die Erörterung dieses Glaubensartikels erst nach denen der Trinität, der Inkarnation und der Auferstehung und erscheint von vergleichsweise nachrangiger Relevanz. Das Argument, welches der cusanische Petrus sofort anführt, fußt jedoch auf den vorangehenden Erörterungen: Wenn in Jesus Christus die maximale Vollkommenheit der menschlichen Natur realisiert sei, welche aufgrund dieser Vollendung zugleich mit Gottes Sein koinzidiere,1665 dann könne diese Vollkommenheit ihm nicht von einem nur menschlichen Vater zukommen, welcher hinter der äußersten Vollendung zurückbleibe, die nur von Gott selbst herrühren könne.1666 Daher sei „der Höchste“ durch das göttliche Vermögen (virtus) im Jungfrauenschoß empfangen worden, in der Jungfrau Maria hätten sich die „höchste Fruchtbarkeit“ mit der Jungfräulichkeit vereint: Christus habe in Gott den ‚Vater aller Väterlichkeit‘ zum Vater und die unbefleckte Mutter zur Mutter: Da Gott als ‚Vater aller Väterlichkeit‘ das maximale Vater-Sein darstellt und Maria qua Jungfrau die mütterliche Potenz in äußerster Reinheit, vereinigen sich bei der Zeugung des Gott-Menschen Jesus Christus so (in positiver Wertung) das maximale Vater‑ und Mutter-Sein, wie es der Koinzidenz von Gott und Mensch in Christus gemäß Cusanus entspricht.1667 14. Der Türke und Petrus: Das Mysterium des Kreuzestodes und die Glückseligkeit Der türkische Weise gibt ferner zu bedenken, dass einige glaubten, Christus sei „durch die Juden getötet worden“, während andere dies bestritten.1668 Damit spielt der Türke auf die im Koran formulierte Kritik an, dass Christus nicht von Menschen getötet worden sein könne, weil dies unmöglich sei – vielmehr sei Christus entrückt und ein anderer an seiner Stelle gekreuzigt worden, so dass es nur den Anschein gehabt hätte, er sei wirklich gekreuzigt worden.1669 1664 pac. XIV, 46; 43, 2–5. – Zur Jungfrauengeburt Marias im Koran vgl. Sure 3, 47; 19, 16–33; 21, 91. 1665 S. o. Kap. V.c11. 1666 pac. XIV, 46; 43, 7–12. 1667 pac. XIV, 46; 43,12–44,3. Zur „höchsten Fruchtbarkeit“ der Trinität s. o. Kap. V.c9. 1668 pac. XIV, 47; 44, 4–6. 1669 Vgl. Euler (2014: 25): „[…] Cusanus was well aware that it [sc. the Qur’an] categorically denies the crucifixion of Christ (Sura 4, 157), though he realized the denial is meant to do Jesus honor (‘ad reverentiam’). This aspect is of crucial importance for his argumentation. Cusanus
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Petrus erwidert darauf, dass die Vertreter dieser Meinung „das Mysterium des Todes“ nicht kennen würden: Sie glaubten, Christus könne den Antichristen nur besiegen, wenn er nicht gestorben sei, sondern lebe und „im Fleische“ wiederkomme. Entscheidend ist das Motiv für die Leugnung des Kreuzestodes: Solche Menschen, die einen anderen umbrächten, hätten keine Macht über Christus haben können – es geht nicht um das bloße Bestreiten eines Faktums, sondern um eine Ehrerweisung für Christus, dass er nicht gestorben sei. Dagegen stehe jedoch das vielfache Zeugnis der Geschichte und die Predigt der Apostel, die für „die Wahrheit gestorben“ seien, ebenso hätten die Propheten den schmachvollen Tod vorausgesagt.1670 Christus selbst jedoch sei vom Vater gesandt worden, um das „Evangelium des Himmelreichs“ zu verkünden1671 und dies „mit seinem Blut“ zu bezeugen.1672 Im Vergleich zum Himmelreich sei das Leben in dieser Welt, welches von allen so hartnäckig geliebt werde, für nichts zu erachten. Wie schon eingangs in der Gottesrede geht es hier nicht um eine kategorische Verachtung des irdisch-sinnlichen Lebens, sondern um die angemessene Perspektive und Gewichtung:1673 Die gut erschaffene materielle Welt kann schließlich zum Auslöser für die Gotteserkenntnis werden; wird sie jedoch für sich selbst als Realität schlechthin ver‑ absolutiert, versinkt die Seele gleichsam in ihr und wird für Gottes unsichtbare Wirklichkeit blind. In Relation zum ewigen Leben im Reich Gottes verblasst das Irdische, wird quasi belanglos; dies heißt jedoch nicht, dass ihm überhaupt kein Wert zugestanden werden dürfe, denn schließlich handelt es sich nach christlichem Verständnis bei der materiellen Welt um Gottes Schöpfung. Jenes Leben im Himmelreich sei jedoch „die Wahrheit“, und „für diese Wahrheit“ – schließlich ist der Logos selbst zugleich die absolute Wahrheit und Weisheit1674 – habe Christus sein irdisches Leben hingegeben, um das „Evangelium des Himmelreichs auf vollkommene Weise“ zu verkünden und „die Welt von ihrer Unwissenheit“ zu befreien.1675
ardently seeks to show that the ‘mors turpissima crucis’ (the ignominious death on the cross) only harmed Christ’s honor at a first glance because the Muslims believe that such a death is not worthy of a true prophet. […] Furthermore, this shows that by taking a closer look at the ‘the gloria crucis, ’ or the glory of the cross, Muslims will come to acknowledge and respect it too. […] the Muslims are doubtlessly wrong in denying the death of Jesus on the cross, but – and here the notion of inclusion becomes obvious – they are wrong because of good motives, because they want to pay honor to Jesus of Nazareth. Thus, Nicholas believes that their mistake can be reversed.“ S. außerdem Alfsvåg (2014: 57) und Euler (2014 b: 79). 1670 Vgl. Jes 53. 1671 Vgl. z. B. Mt 3, 2; 5, 3; 8, 11 etc. 1672 pac. XIV, 47; 44, 7–21. Vgl. ebenso cribr. II, 13, 123. 1673 S. o. Kap. V.c3 und vgl. cribr. II, 16, 137. 1674 S. o. Kap. V.c4. 1675 pac. XIV, 47; 45, 2–6.
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Bis hierhin könnte es erneut1676 so scheinen, als wenn die Kreuzestheologie ganz in der Sapientia-Theologie aufgehen würde. Selbst wenn es so wäre, bliebe das Urteil Flaschs (1998: 367) kaum zutreffend: Die Kreuzigung hat in dieser neuen Vernunftreligion die Aufgabe moralischer Belehrung; sie lehrt, das sinnliche Leben für nichts zu erachten; sie befreit den Menschen von der Unwissenheit (ignorantia), in der sie das sinnliche Leben dem geistigen vorziehen.
Denn es geht Cusanus mit Sicherheit nicht um bloße Moral: Dass das „Himmelreich“, das Reich Gottes, wichtiger als die sinnenfällige Welt ist, verdankt sich in De pace fidei nicht einer moralischen Behauptung, sondern einer Reflexion auf die Ontologie. Das intelligible Sein der Wahrheit und Weisheit Gottes ist schöpferische Ursache aller Seienden, aller Schöpfung und steht daher dem Sein nach höher als die materiellen Spiegelungen des Intelligiblen.1677 Weder eine Verkürzung auf Moral noch eine Beschränkung des Kreuzestodes auf ein Zeugnis für die Wahrheit werden den Ausführungen des cusanischen Petrus gerecht: Christus gibt sich als „Opfer für die Vielen“ (sacrificium pro multis) und „zur Erlösung für die Vielen“ (in redemptionem pro multis) hin, damit den Menschen „der Glaube an die Erlösung“ (fides salvationis), die „Hoffnung, die Erlösung zu erlangen“, und „die Liebe1678 durch die Erfüllung der Gebote“ zuteil werde.1679 Im Blick auf die Kritik des Islams ist für Petrus jedoch entscheidend, dass der „schmachvollste Kreuzestod“ Jesu zugleich eine verborgene Erhöhung darstelle:1680 Würden „die Araber“ auf die „Frucht des Todes Christi“ achten und darauf, dass es für Christus „nichts Ruhmvolleres“ hätte geben können, als „um der Wahrheit und des Gehorsams willen zu sterben“, dann würden sie Christus nicht den „Ruhm des Kreuzes entziehen“, durch den er verdient habe, „der Höchste zu sein und erhöht zu werden im Ruhm1681 des Vaters“.1682 Petrus will also die zwar gut gemeinten, aber sachlich doch unzutreffenden Motive des Korans entkräften: Die Motivation, Christus in Ehrerbietung die Schmach des Kreuzes ersparen zu wollen, ist nicht nur bereits biblisch von dem (historischen) Petrus gewissermaßen vorweggenommen worden;1683 sie verkennt auch, dass sich hinter dem Skandalon des Kreuzes der Ruhm, der aus dem Zeugnis für die absolute Wahrheit resultiert, verbirgt. Dieser Ruhm bedeutet wiederum keinen bloß vordergründigen ‚Ehr-Geiz‘, sondern den Quell der Erlösung „für 1676 S. o.
Kap. V.c3. Vgl. das Kreis-Beispiel in coni. I, 11 (s. Kap. V.b). 1678 Zur Trias Glaube – Hoffnung – Liebe s. bekanntlich 1 Kor 13, 13. 1679 pac. XIV, 47; 45, 5–13. Vgl. cribr. III, 232, 20. 1680 pac. XIV, 47; 45, 8–9. Vgl. ebenso cribr. II, 13, 123–4: Der Koran habe den Tod Christi deshalb verschwiegen, weil die „Araber“ dies nur als Erniedrigung (und nicht zugleich auch als Erhöhung) verstanden hätten. 1681 Schon gemäß Paulus spiegelt sich im Angesicht Christi der Ruhm des Vaters (2 Kor 4, 6–7; s. o. Kap. IV.2.2 a). 1682 pac. XIV, 48; 45, 13–19. 1683 Mt 16, 21–23. 1677
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die Vielen“, die Befreiung vom Tod und die Erlangung des ewigen Lebens: Der Tod wird nicht als solcher glorifiziert, sondern durch die Wahrheit selbst (qua Fleisch gewordenem Logos) und durch das irdische Zeugnis für die Wahrheit im freiwilligen Tod Christi überwunden, so dass am Ende die Auferstehung als „Frucht des Kreuzestodes“ steht.1684 All dies ist gemeint, wenn Petrus zuvor sagte, dass diejenigen, welche den Kreuzestod Christi für unehrenhaft hielten und deshalb negierten, das „Mysterium des Todes“ nicht durchschauten: Biblisch gesprochen geht es letztlich darum, dass, wer sich selbst freiwillig erniedrigt, erhöht wird.1685 Die Verkündigung dieses implikationsreichen Evangeliums, so Petrus weiter, hätte nicht vollkommener sein können; ohne Tod und Auferstehung jedoch bliebe sie immer unvollkommen:1686 Daher steht es im Einklang mit der maximalen Vollkommenheit des Gott-Menschen Jesus Christus, dass er als unüberbietbares1687 Zeugnis für das Evangelium der (absoluten) Wahrheit und in Entsprechung mit ihr den Tod erleidet und diesen in der Auferstehung besiegt. Abschließend stellt Petrus fest, dass das „Reich der Himmel“ vor der Ankunft Christi als solches „allen unbekannt“ gewesen sei: Gemeint ist damit, dass ohne die Vereinigung der menschlichen mit der göttlichen Natur kein Zugang für den Menschen zu Gottes Reich möglich wäre; der einzelne Mensch müsse jedoch dem Weg Christi folgen, um „das Reich dieser Welt durch den Tod abzulegen“ und so in das Himmelreich einzutreten. Dabei geht es um nichts Geringeres, als dass im Tod die „Sterblichkeit, d. h. die Möglichkeit des Sterbens“ abgelegt werde.1688 Im Sterben wird der Tod selbst getötet:1689 Analog zur Theologie eines Augustinus, gemäß welcher der auferstandene Mensch sündigen nicht mehr kön‑ nen werde, die Möglichkeit der Sünde also überwunden, ‚getötet‘ sei,1690 spricht der cusanische Petrus davon, dass die Möglichkeit des Sterbens selbst sterbe. Der Fokus bei Cusanus liegt mit deutlichem Akzent auf der ontologischen Ebene: Sein, Sterben und Auferstehung stehen im Vordergrund, das Thema Sünde bleibt im Grunde außen vor.1691 Im Sinne der ontischen Herstellung des Zugangs zum Reich Gottes durch die Verbindung der menschlichen mit der göttlichen Natur in dem Gott-Menschen Jesus Christus öffne sich, so Petrus, die Tür zum Himmelreich: Alle, welche die absolute Glückseligkeit in Gott für erreichbar hielten, würden daher implizit und der Sache nach Christus als gestorbenen, auferstandenen und in den Him pac. XIV, 48; 45, 19–22. S. außerdem Kap. V.c12. Mt 23, 12 b. 1686 pac. XIV, 48; 46, 3–5. 1687 Vgl. die Übersetzung von Berger / Nord (2002: 117). 1688 pac. XIV, 49; 46, 8–19. 1689 S. o. Kap. IV.5 b mit Anm. 960. 1690 Vgl. Drews (2009: 9 mit Anm. 18; 226 mit Anm. 518). 1691 Vgl. Flasch (1998: 368). Dennoch spart Cusanus das Thema Sünde und Satisfaktion nicht generell aus, wie aus anderen Werken deutlich wird, vgl. cribr. II, 17, 141–4. 1684 1685
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mel aufgefahrenen Erlöser voraussetzen.1692 Wird das Streben nach ultimativer Glückseligkeit allgemein von allen Religionen konstatiert, wird es als zielfähig und in maximaler Weise realisierbar gedacht, dann müsste dieses Maximum in einem ultimativ Glückseligen als aktuale Erfüllung dieser Glückseligkeit realisiert sein.1693 Unter diesen Voraussetzungen begreift Cusanus Christus als universalen Erlöser für Christen wie für Nicht-Christen1694 und als Teil der einen von allen Religionen vorausgesetzten, intellekthaften Religion. Petrus legt die Christologie somit sowohl ex‑ wie auch inklusiv aus:1695 exklusiv, insofern nur Christus tatsächlich den Zugang zum Himmelreich unter Berücksichtigung der ontologischen Implikationen eröffne; inklusiv, insofern die anderen Religionen, welche das Streben nach Glückseligkeit betonten, gerade nicht von Christus ausgeschlossen sind oder in Konkurrenz zu ihm gedacht werden müssen, sondern implizit auf ihn hin orientiert gedacht werden können.1696 Diese Perspektive ist und bleibt eine christliche; sie bleibt dabei aber anschlussfähig für andere Religionen. Zumindest eröffnet sie für die christliche Perspektive selbst eine philosophisch-theologisch begründete – und nicht nur moralisch postulierte – Toleranz gegenüber nicht-christlichen Religionen. 15. Der Deutsche und Petrus: Worauf zielt die Glückseligkeit? Die Verheißung irdischer und himmlischer Güter in den monotheistischen Religionen Der Deutsche erklärt hierauf, dies sei ja alles gut und schön, aber in den verschiedenen Religionen seien doch verschiedenartige Güter verheißen: den Juden (angeblich) nur zeitliche und sinnliche Güter, den Arabern nur fleischliche, aber (immerhin) ewige Güter, das Evangelium dagegen verheiße den Christen die angeliformitas,1697 die Engelgleichheit, welche nichts Fleischliches an sich habe. Petrus reagiert lapidar: Was ließe sich denn in dieser Welt erdenken, wonach das Verlangen nicht schwinde, sondern kontinuierlich wachse? Der Deutsche stimmt ihm zu, dass nur die intellektualen Güter nicht vergehen – im Einklang mit dem am Anfang des Dialogs erzielten Grundkonsens, dass Gottes ewige Weisheit, d. h. der Logos selbst, die ewige Nahrung aller Intellekte sei.1698 Während die sinnlichen Genüsse wie z. B. Essen zwar manchmal Lust bereiteten, aber keinesfalls immer, sei das Wissen, Begreifen und die Schau der Wahrheit immer lustvoll, pac. XIV, 49; 46,27–47,3. S. o. Kap. V.c11. 1694 Vgl. das Jesus-Wort: „Und ich habe andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch jene muss ich führen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde werden, ein Hirte“ (Jh 10, 16). 1695 S. o. Anm. 1295. 1696 S. o. Kap. V.c12. 1697 Zuvor war jedoch davon die Rede, dass der Mensch seine Glückseligkeit nur als Mensch erstrebe (s. o. Kap. V.c12). 1698 S. o. Kap. V.c4. 1692 1693
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ja die Lust daran wachse sogar mit dem Alter.1699 Der Gang der Argumentation steht im Einklang mit Cusanus’ allgemeiner Konzeption der Gotteserkenntnis: Zwar könne der Mensch in seinem Erkenntnisstreben nie die Unendlichkeit Gottes erfassen, die alle Erkenntnis immer schon überrage; jedoch führt dies für Cusanus in keine skeptische Aporie, nicht in die Verzweiflung an einer angeblichen Vergeblichkeit allen menschlichen Mühens, denn das Sich-Annähern an Gottes ewige Wahrheit sei dem Menschen möglich, und genau davon nähre sich sein Intellekt.1700 Im Folgenden will der cusanische Petrus zeigen, inwiefern fleischliche Genüsse kaum als ewige Verheißungen taugen können: Nicht alle würden sich an Strömen von Wein und Honig ergötzen, nicht alle wären über verheißene Jungfrauen glücklich. Flasch (1998: 369) kommentiert dies folgendermaßen: „Offenbar senkt der heilige Petrus für seinen deutschen Gesprächspartner das argumentative Niveau.“ Gerade aus der Perspektive des 21. Jhds. erscheint die ‚Begründung‘, im Koran würden schwarze Jungfrauen verheißen, die doch kein Deutscher haben wolle, rassistisch und vor allem bar jeglichen argumentativen Gewichts. Bei sehr wohlwollender Interpretation ließe sich dieses ‚Argument‘ mit Flasch dahingehend einordnen, dass sich Petrus hier vielleicht nur auf das Argumentationsniveau seines Gesprächspartners einlässt. Zumindest erscheint das ‚Beweisziel‘ weniger grobschlächtig: Die sinnlichen Freuden, die im Koran verheißen sind, seien gleichnishaft, also allegorisch zu verstehen.1701 Der Koran wolle damit zum Ausdruck bringen, dass das ewige Leben nach dem Tod die Erfüllung aller Sehnsüchte sein werde, und bediene sich entsprechender Bilder, die auch das „ungebildete Volk“ nachvollziehen könne.1702 Petrus fügt hinzu, dass der Autor des Korans vermutlich das Volk vom Götzendienst (ydolatria) abhalten wolle1703 und „das Evangelium nicht verdammt, sondern gelobt“ und so zu verstehen gegeben habe, dass die im christlichen Evangelium verheißene Glückseligkeit keineswegs geringer als das sinnlich-körperliche Glück sei. Genau dies hätten auch die Weisen unter den Muslimen wie z. B. Avicenna gewusst.1704 Daher sei es nicht schwierig, eine Eintracht unter den Religionsgemeinschaften zu erzielen.1705 Avicenna ist für den cusanischen Petrus ein Gewährsmann, dass die intellekthafte Religion als Voraussetzung aller Einzel-Religionen gelten kann, da er als Angehöriger des Islams die sinnlichen Verheißungen geistig verstehe und interpretiere: Petrus bemüht sich somit, aus
pac. XV, 50; 47,5–48,5. S. o. Kap. V.b. 1701 Vgl. Alfsvåg (2014: 57). 1702 pac. XV, 51; 48,6–49,11. Vgl. cribr. II, 18, 150. 1703 Vgl. o. Kap. V.c7. 1704 Vgl. Flasch (1998: 369) und vgl. cribr. II, 18, 153. 1705 pac. XV, 52; 49, 11–20. 1699 1700
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der muslimischen Tradition heraus zu zeigen, warum der Islam der Sache nach letztlich nichts anderes als das Christentum hinsichtlich der Erfüllung aller Sehnsüchte im ewigen Leben behaupte. Als ein prominenter Vertreter aus der großen Tradition arabisch-muslimischer Philosophie ist Avicenna zudem ein exponiertes Beispiel dafür, weshalb der interreligiöse Dialog in De pace fidei nur von den Weisen als Vertreter ihrer Völker und Religionen geführt wird. Das Kapitel endet mit einer relativ wohlwollenden Bemerkung über die Juden: Wenn die Juden wirklich nur irdisch-zeitliche Güter erstrebten, dann würden sie, so Petrus, kaum für ihren Glauben mit ihrem Leben bezahlen.1706 Dies sei oft geschehen, wodurch deutlich werde, dass die Juden keineswegs das irdische Leben über alles stellten. Mit der letzten Bemerkung des Petrus erscheinen sie dann jedoch geradezu (avant la lettre) ‚protestantisch eingemeindet‘: Die Glückseligkeit erstrebten die Juden nicht aus den Werken des Gesetzes, sondern aus dem Glauben, welcher Christus voraussetze.1707 16. Der Tatar und Paulus: Die Rechtfertigung aus dem Glauben als Überwindung kultischer Differenzen, Christus als Quell des Heils und der Glückseligkeit, die Toleranz gegenüber verschiedenen Riten und die Beschneidung Als nächstes spricht der Tatar vor: Vieles ihm bis dato Unbekannte habe er vernommen; die Tataren seien viele, einfache (simplices) Leute, die zwar den einen Gott verehrten, aber über die Vielheit der Religionsformen verwundert seien und Bräuche wie Beschneidung, Taufe oder das Tragen von Brandmalen belächelten. In dieser Hinsicht wie auch in Bezug auf die diversen Heiratsvorschriften (Monogamie, Polygamie, Haupt‑ und Nebenfrauen), die verschiedenen Opferkulte – insbesondere die (wohl kannibalisch missdeutete) Eucharistiefeier, bei der die Christen das verzehrten, was sie doch verehrten – könne doch überhaupt keine Eintracht möglich sein; vielmehr würde Diversität Trennung und Feindschaft, Hass und Krieg erzeugen.1708 Im Auftrag des göttlichen Logos übernimmt nun Paulus, der „Lehrer der Völker / Heiden“ (gentes), die Rolle des Antwortenden und knüpft an die letzten, protestantisch anmutenden Worte seines Vorgängers im Amte an, dass „die Erlösung und das Heil (salvatio) der Seele nicht aus den Werken, sondern aus dem Glauben heraus gewährt“ werde. Denn Abraham, „der Vater im Glauben“ von Christen, Muslimen und Juden habe „Gott geglaubt, und dies ist ihm zur 1706 Der Märtyrertod ist jedoch im Kontext von De pace fidei sicher kein Gut an sich: Nicht ohne Grund wurde das gezielte Martyrium eingangs kritisiert (s. o. Kap. V.c3). Das von außen erzwungene Sterben für den Glauben kann deshalb trotzdem eine positive Bewertung finden, weil der Sterbende nicht aus eigenem Vorsatz, sondern aufgrund eines für ihn nicht abwendbaren Zwangs sein Leben aufzugeben bereit ist. 1707 pac. XV, 53; 50, 3–12. 1708 pac. XVI, 54; 50,14–51,9.
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Gerechtigkeit angerechnet worden“, wie der cusanische Paulus im Sinne des historischen Apostels und seines Römerbriefs darlegt; die „Seele des Gerechten“ werde „das ewige Leben erben“.1709 Dadurch, dass Paulus bei Cusanus in einem erkennbaren Einklang mit der Theologie des historischen Apostels argumentiert, wirkt die Figur des Paulus in De pace fidei glaubhaft: Gemäß der Anlage des Werks sollen im Zustand der Entrückung zu Gott hin ja sogar Lebende wie Verstorbene gleichermaßen gegenwärtig sein.1710 Mit der Thematik von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott aus dem Glauben1711 hebt Paulus die Diskussion wieder auf ein höheres theologisches Niveau und weist die spöttelnd-verwunderte, aber immerhin doch nachvollziehbare Skepsis des tatarischen Weisen zugleich zurück, indem er ihr das Fundament entzieht: Die „Varietäten“ ritueller Gebräuche stünden angesichts der Rechtfertigung aus dem Glauben einer Eintracht unter den Religionen nicht im Wege, denn als „sinnliche Zeichen der Glaubenswahrheit“ seien sie der Veränderung unterworfen, nicht aber das Bezeichnete selbst.1712 Zum einen zeigt hier der (platonisch interpretierbare) Bezug zwischen einer intelligiblen Sache und ihren abbild-zeichenhaften, partikulär-anteilhaften Spiegelungen im Bereich der sinnlich-wahrnehmbaren Realität seine Relevanz: Wie die Eidê ‚Kreis‘, ‚Dreieck‘,1713 ‚Gerechtigkeit‘ etc. jeweils immer umfassender und mehr Kreis, Dreieck bzw. gerecht sind, als dies einzelne Repräsentanten dieser Sachgehalte zu sein vermögen, so sind die zeichenhaften religiösen Gebräuche nicht als die Sache selbst, auf die sie zielen, zu missdeuten oder fälschlicherweise zu verabsolutieren. Dies entspricht auch dem Grundansatz von De pace fidei, dass viele interreligiöse Konflikte darin ihre Ursache hätten, dass die Menschen altehrwürdige Gewohnheiten mit der Wahrheit verwechselten.1714 Zum anderen lässt sich gerade die christliche Lehre von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott aufgrund des Glaubens erstens als ein rein geistigintelligibler Vorgang begreifen, welcher genau dieser Partikularität religiöser 1709 Vgl. Gen 15, 6; Rö 3,21–4,25; Gal 3, 6; Jak 2, 23; Hebr 11, 8–19; Ps 37, 29. – Zu Abraham als Vater im Glauben der drei großen monotheistischen Religionen vgl. im Koran, Sure 16, 123: „Folge dem Glauben (millata) Abrahams.“ 1710 S. o. Kap. V.c1–2 (pac. I, 2; 4, 9). 1711 Die Forschung ist im Hinblick auf die Ähnlichkeit dieser Ausführungen mit Luther geteilter Meinung (vgl. Flasch [1998: 370–1] und Berger / Nord [2002: 127, Anm. 82], s. o. Anm. 1250). Ohne Luther in Cusanus importieren zu wollen, scheint mir, dass der Grundansatz – die Rechtfertigung des Menschen vor Gott aus dem Glauben und nicht aus den Werken – hier durchaus in einer Linie mit dem reformatorischen Anliegen gesehen werden kann. 1712 pac. XVI, 55; 51,12–52,2. Zu Abraham als „Glaubensvater“ bei Cusanus vgl. auch cribr. III, 13, 204 sowie die schroffe Ablehnung der „Araber“ als ‚fleischliche Nachkommen Ismaels‘, wobei ihnen die Nachfolge Abrahams im Geiste durch den Glauben freistehe, s. cribr. III, 14, 209. 1713 Zu den geometrischen Beispielen im Rahmen der neuplatonischen Ideenlehre s. o. Kap. II.5 b, III.c und V.b. 1714 S. o. Kap. V.c2.
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Traditionen enthoben ist. Zweitens ist damit eine theologische Grundfrage angesprochen: Wie und wodurch kann der Mensch zu Gott gelangen – durch religiöse Gewohnheiten und Traditionen oder durch etwas rein Geistiges, das wirklich als von Gott herkommend und zu ihm hinführend begriffen werden kann? Ginge es allein um erstere, dann wären erneut die Gewohnheiten überinterpretiert und mit der Wahrheit Gottes verwechselt, und die Differenzen zwischen den verschiedenen Menschen und den verschiedenen Religionen würden nur umso stärker hervorbrechen. Wird mit der christlichen Rechtfertigungslehre aber etwas Geistig-Theologisches, also wirklich Gott Betreffendes eingekreist, dann könnten die Menschen unabhängig von ihren diversen Gewohnheiten in diesem Punkt einander gleich erscheinen, weil ihr Verhältnis zu Gott in einer ausschließlich geistigen Dimension zu verhandeln wäre – rein intellekthaft, gemäß einer von allen Einzelreligionen implizierten geistigen Voraussetzung: Denn die vielen, unterschiedlichen religiösen Vorschriften können gemäß Cusanus nur dann als wahrhaft religiös gelten, wenn sie nicht für sich selbst stehende Praxeis bzw. ‚rein performative Akte‘ sind, sondern Gott bzw. das Göttliche tangieren sollen. Sind die verschiedenen Traditionen aber Ausdruck des einen, sich gleichwohl unterschiedlich ausgestaltenden Bemühens, sich Gott anzunähern, könnten sie positiv gewürdigt werden – gerade auch dann, wenn ein solches Bemühen der Selbstrechtfertigung des Menschen als sachlich letztlich unangemessen und erst von einer vorausliegenden, gnadenhaften Rechtfertigung des Menschen durch Gott als sinnvoll erwiesen würde: Religiöse Gewohnheiten würden dann nicht mehr aus dem Anspruch heraus gepflegt, dass der Mensch sich selbst zu Gott emporarbeite, sondern wären als Folge bzw. dankbare Antwort des Menschen auf Gottes rechtfertigendes Handeln zu verstehen. Die Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch Gott selbst könnte in diesem Sinne sogar religiöse Divergenzen überbrücken helfen und zu einer coincidentia oppositorum hinführen – all dies jedoch nur dann, wenn der Ausgriff aus der christlich-biblischen Theologie heraus für andere Religionen annehmbar sein könnte. Der tatarische Weise fordert den Apostel nun auf, zu erklären, wie aus dem Glauben die Erlösung bzw. das Heil komme. Die Voraussetzung, von welcher der cusanische Paulus ausgeht, lautet, dass dem „allvermögenden und wahrhaftigen Gott“ doch geglaubt werden müsse, wenn er Bestimmtes aus seiner „Freigebigkeit (liberalitas) und Gnade (gratia)“ heraus verheiße. Damit rekurriert er auf die bereits zuvor hergeleitete Allvermögendheit1715 des trinitarischen Gottes und dessen Gnade, die sich (im Einklang mit dem göttlichen Sein) in der Menschwerdung und Vereinigung der göttlichen mit der menschlichen Natur in Jesus Christus gezeigt hatte.1716 Wenn Gott allvermögend und gnadenvoll ist, dann, S. o. Kap. V.c8–9. S. o. Kap. V.c11.
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so erwidert der Tatar, könne keiner, der ihm glaube, getäuscht werden. Ebenso könne die Rechtfertigung, wenn sie aus Gnade erfolge, nicht durch Werke verdient worden sein, da sie sonst etwas den Verdiensten Geschuldetes und nicht Gnade wäre. Für diese Antwort lobt ihn der Apostel: Voraussetzung, um die Verheißung und Rechtfertigung „im Angesicht Gottes“ zu erlangen, sei der vertrauende Glaube (fides) an Gott und darauf, dass „der Logos (verbum) Gottes geschehe“.1717 Während gemäß dem Johannesevangelium1718 sowie Origenes1719 derjenige, zu dem Gottes Logos kommt, gleichsam „vergöttlicht“ wird, steht für den cusanischen Paulus das „Geschehen des Logos“ im Kontext der gnadenhaften Rechtfertigung des Menschen im Angesicht Gottes. Die wichtige gnadentheologische Frage, die den Kirchenvater Augustinus zeit seines Lebens bewegte, ob der Glaube dem Empfangen der Gnade vorausgeht oder selbst bereits eine Wirkung, ein Geschenk der Gnade ist,1720 wird von Paulus und dem Tataren bei Cusanus nur kurz gestreift: Gott habe Abraham gerechtfertigt, auf dass er die Verheißung erlange; hätte aber Abraham Gott nicht geglaubt, hätte er weder die Rechtfertigung noch die Verheißung erlangt.1721 Auch gemäß Cusanus müssen Gott und Mensch also auf eine bestimmte Weise zusammenkommen: Ohne dass der Mensch als Geschöpf Gottes ihm gegenüber ein glaubendes ‚Nicht-Nein‘1722 spricht bzw. sich nicht-ablehnend verhält, bleibt er von Gott getrennt – weder eine Verheißung könnte sich so erfüllen noch eine Rechtfertigung vor Gott ereignen. Mit dem Begriff der Verheißung kreist der cusanische Paulus ein aktives Moment auf Seiten Gottes ein, das sich mit Berger als „ ‚prädestinatianisches Element‘ “ verstehen lässt: „Die Verheißung Gottes ist jedenfalls ein Akzeptieren seitens Gottes, das lange vor dem Ja des Glaubens liegt.“1723 pac. XVI, 55; 52, 3–17. S. o. Kap. IV.2.3 b. 1719 S. o. Kap. IV.3 b. 1720 Augustinus selbst scheint (jedenfalls im Spätwerk) eine sehr differenziert-diffizile gnadentheologische Position eingenommen zu haben. Entgegen anders lautender Interpretationen (z. B. Flaschs) verschwindet bei Augustinus die menschliche Willensfreiheit angesichts der göttlichen Gnade nicht: Kurz zusammengefasst, erlangt der Mensch seine ultimative Freiheit im Sinne des Befreitwerdens durch Gottes Gnade; er kann sich gleichsam von der Gnade führen lassen, sich entscheiden, sich ihr (im Sinne eines Nicht-Neins) nicht zu widersetzen, und wird auch dabei bereits von Gottes Gnade geführt; er kann aber auch Gottes Gnade ausschlagen, also das Geschenk der Gnade zurückweisen; trotzdem verliert Gott gemäß Augustinus nicht seine Souveränität, sondern kann durch unterschiedliche Intensität den Menschen zu sich rufen oder auch dem Menschen den Freiraum einräumen, sich nicht von ihm leiten zu lassen – wie Gott dabei handelt, bleibt dem Menschen nach Augustinus naturgemäß nicht einsehbar. Zu diesen sehr komplexen, zumeist trotz aller angestrebten begrifflichen Schärfe für Missverständnisse anfälligen Zusammenhängen und der Auseinandersetzung mit z. B. Flaschs Interpretation s. Drews (2009: 167–238). 1721 pac. XVI, 56; 52,18–53,3. 1722 Zum Begriff ‚Nicht-Nein‘ vgl. Drews (2009: 104–114). 1723 Berger / Nord (2002: 129, Anm. 83–84). 1717 1718
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Auf Nachfrage des Tataren fasst Paulus nun die Abrahamsgeschichte1724 zusammen: von der Verheißung des Nachkommen, in welchem alle Völker gesegnet sein sollten, über die Geburt Isaaks durch Sarah, als sie aufgrund ihres hohen Alters eigentlich nicht mehr hätte schwanger werden und gebären können, bis zu der von Gott gestellten Probe, dass Abraham Isaak als den Träger der Verheißung opfern solle; Abraham sei Gott gegenüber gehorsam gewesen und habe trotzdem auf die Verheißung über den Tod des Sohnes hinaus vertraut. Aufgrund eines solchen großen Glaubens sei Abraham von Gott gerechtfertigt und die Verheißung durch den (bzw. dem geretteten) Isaak erfüllt worden, wobei Paulus den verheißenen Nachkommen nicht mit Isaak selbst, sondern mit Christus identifiziert, der über Isaak von Abraham her abstamme und durch den – gemäß dem Galaterbrief des historischen Paulus1725 – „alle Völker / Heiden den göttlichen Segen“ empfangen würden.1726 Aufgrund dieser paulinischen Argumentation erscheint Cusanus’ Paulusfigur somit erneut in glaubhafter Weise deckungsgleich mit dem historischen Apostel. Der verheißene Segen, so Paulus weiter, sei die Glückseligkeit des ewigen Lebens, die bereits zuvor erörtert worden war.1727 Die erstaunte Nachfrage des Tataren, ob Paulus sagen wolle, dass Gott in Christus den Menschen den Segen ewiger Glückseligkeit versprochen habe, bekräftigt dieser erwartungsgemäß: Deshalb sei es notwendig, Gott so wie Abraham zu glauben, „um so die Verheißung mit Abraham in dessen Nachkommen, Christus Jesus, zu erlangen“; diese Verheißung sei „der göttliche Segen, welcher jedes Gut in sich einfalte“.1728 An dieser Stelle greift nun also auch der cusanische Paulus auf die platonische Ontologie der Ein‑ bzw. Ausfaltung (complicatio – explicatio) zurück.1729 Verständlicherweise fragt der Tatar nun zurück, wie „das intellekthafte Begreifen dieser [sc. Theologie] den einfachen Tataren“ möglich sein soll. Paulus erwidert, dass, wie zuvor vernommen, nicht nur die Christen, sondern auch die Araber Christus als „den Höchsten von allen“ und als „Angesicht aller Völker“1730 bekennen würden – im Sinne der maximalen Einung und Koinzidenz von Gott und Mensch.1731 Wenn folglich „in einem Nachkommen der Segen für alle Völker“ liegen solle, könne dies nur Christus sein,1732 weil er als „Angesicht aller Völker“ die vielen Nationen vereint und zugleich der Allerhöchste ist. Im Verlauf von De pace fidei werden „die Araber“, d. h. die Muslime, somit immer mehr zu Verbündeten und entscheidend wichtigen, interreligiösen Zeu Vgl. Gen 12–22. Vgl. Gal 3, 8–14 unter Rückbezug auf Gen 12, 3 b. 1726 pac. XVI, 57; 53, 4–18. 1727 S. o. Kap. V.c14–15 1728 pac. XVI, 57; 53, 20–28. Vgl. cribr. III, 13, 206–8. 1729 S. o. Kap. V.b, V.c3 und V.c10. 1730 S. o. Kap. V.c12. 1731 S. o. Kap. V.c11–14. 1732 pac. XVI, 58; 54, 4–11. 1724 1725
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gen im Hinblick auf Christus bzw. die Christologie: Dies ist von außen betrachtet erstaunlich. Von der inneren Logik des Werks, in welchem nach vielen Kapiteln ja bereits in wichtigen Fragen z. B. zwischen Christen und Muslimen ein Konsens erzielt worden sein soll, erscheint dies jedoch folgerichtig: Wenn möglicherweise (im Sinne des aristotelischen, dichtungstheoretischen Möglichkeitsbegriffs1733) allgemein akzeptiert ist, dass Christus qua Höchstem überhaupt auch die größtmögliche Einung von Gott und Mensch ist, dann bestünde auch die Möglichkeit zu einem breiten christologischen Konsens. Daher stützt der cusanische Paulus sich hier nicht weniger auf das Zeugnis der Christen als auf das der Muslime – so wie es zuvor im Kontext von De pace fidei philosophisch-theologisch entfaltet wurde. Wenn der Tatar nun erneut nach einem beweiskräftigen Zeichen fragt, führt Paulus – man beachte die Reihenfolge – das „Zeugnis der Araber und Christen“ an, dass „der Geist, welcher Tote lebendig mache, der Geist Christi“ sei:1734 Denn zuvor war nicht nur die Auferstehung Christi,1735 sondern mit der Sure 5, 110 auch ein Schriftzeugnis des Korans erörtert worden, gemäß welchem Christus Tote lebendig gemacht habe.1736 Der Koran wird zwar unübersehbar aus christlicher Perspektive interpretiert,1737 jedoch nehmen ihn die Apostel Petrus und Paulus bei Cusanus als heilige Schrift der Muslime durchaus ernst. In dem Geist Christi, welcher Tote wieder lebendig macht, so Paulus weiter, wohne „die Fülle (plenitudo = plêrôma)1738 der Gottheit und Gnade“, von welcher alle Erlösungsbedürftigen „die Gnade der Erlösung / des Heils“ empfängen. Damit wird auf die Wesenseinheit der trinitarischen Personen rekurriert, insofern Christus die Gottheit und Gnade selbst ist in dem einen Wesen der Gottheit (zusammen mit Gott Vater und Gott Heiligem Geist).1739 Für den Diskurs mit dem Tataren zeigt diese (implizit präsente) Theo-Ontologie hier ihr soteriologisches Gewicht: Da in Christus als Auferstandenem und Tote Auferweckendem Gott selbst und seine Gnade gegenwärtig ist, vermag der tatarische Weise nun auch zu erkennen, warum der Glaube an diesen Christus „heilsnotwendig“ ist, weil „ohne ihn niemand erlöst“ bzw. zum Heil geführt werde. Genügt aber der Glaube allein?1740 Im Einklang mit seinem Eingangsargument, dass das Heil / die Erlösung nicht durch Werke, sondern durch den Glauben gewährt werde,1741 bekräftigt Paulus auch jetzt noch einmal, dass es ohne Glauben unmöglich sei, Gott zu gefallen. Der Glaube sei aber – und dies markiert einen Unterschied zur späteren pro S. o. Kap. V.c4. pac. XVI, 58; 54, 12–14. 1735 S. o. Kap. V.c12. 1736 S. o. Kap. V.c11. 1737 Vgl. o. Anm. 1377. 1738 Vgl. Jh 1, 16; Rö 15, 29. 1739 S. o. Kap. V.c6, V.c8–9. 1740 pac. XVI, 58; 54, 17–23. 1741 pac. XVI, 55; 51, 12–13 (s. o. Anm. 1712). 1733 1734
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testantisch-lutherischen Zuspitzung – nicht etwas rein Innerliches, sondern müsse inhaltlich (eidetisch) „geformter Glaube“ (fides formata) sein, der ohne Aktualisierung nach außen hin, „ohne Werke tot“ sei.1742 Damit rekurriert der cusanische Paulus auf den Jakobusbrief (den Luther bekanntlich als „stroherne Epistel“ bezeichnen sollte1743) und setzt eine Theologie voraus, die sich im Grunde wortwörtlich bereits bei Thomas von Aquin findet.1744 Bei Cusanus gehört also beides zusammen: Das Spezifikum des Christentums, dass die Rechtfertigung des Menschen vor Gott und das Erlangen der Verheißung durch den Glauben geschenkt werde – denn nur auf dieser Basis konnte Paulus eingangs die diversen religiösen Praxeis für sich selbst genommen relativieren – und dass dieser Glaube nicht leer sein kann, weshalb sekundär dann auch den verschiedenen religiöskultischen Formen wieder ein bestimmtes Eigenrecht zuerkannt wird. Die Rechtfertigung vor und der Zugang zu Gott durch den von Abraham herkommenden Glauben und die ihm gegebene Verheißung, welche auf Jesus Christus als „den Größten“ (im Sinne der maximalen, unüberbietbaren Einheit von Gott und Mensch) sowie als Erlöser zielt, verlagert die Substanz von Religion erneut auf die geistige Ebene, in Cusanus’ Sinne auf Gott selbst als (Schöpfer‑)Geist und als die absolute Wahrheit1745 und entzieht so einer ‚schädlichen‘, von Gott selbst wegführenden Verabsolutierung von religiösen Gewohnheiten ihre Basis, die zu Trennung und Feindschaft zwischen den Religionen führen würde. Trotz dieser primären Relativierung äußerlicher Religiosität wird diese gleichwohl nicht einfach entsorgt, sondern kann sekundär als Ausdruck einer fides formata per opera / per caritatem positiv wieder eingeholt werden. Entscheidend bleibt aber, dass Werke und kultische Observanz in ihrer Diversität nicht das Zentrum einer in Cusanus’ Sinne intellekthaft begriffenen Religion darstellen können und dass somit das Trennende zwischen den Religionen nicht ‚die Oberhand‘ gewinnt, wenn der Glaube als implizite Voraussetzung aller Religionen die entscheidende religiöse Substanz bildet, die dann auch ihren praktischen Ausdruck in den Werken findet – vorausgesetzt, der zuvor unternommene Aufweis kann allgemeine Zustimmung finden, dass dieser Glaube derjenige ist, welcher von Abraham herrührt und bereits von diesem ausgehend immer schon auf Christus zielt. Auf die Frage, welche Werke gemeint seien, antwortet Paulus allgemein: das Halten von Gottes Geboten. Denn ein Glaube daran, dass Gott Gott ist – ein Glaube, der also Gott im Sinne einer persönlichen Glaubensbeziehung1746 ernst nimmt – könne seine Gebote nicht ignorieren. In der Reaktion des Tataren scheinen nun die zuvor argumentativ eigentlich schon gebannten Divergenzen erneut pac. XVI, 58; 54,24–55,1. Luther, Vorrede zum Neuen Testament (in: Das Evangelium nach Matthäus). 1744 Vgl. Jak 2, 26, Gal 5, 6 b sowie Thomas von Aquin, STh III, q. 49, a. 1, ad quint. 1745 S. o. Kap. V.b, V.c2–9. 1746 Zum Terminus vgl. Kap. IV.3 a. 1742
1743 Martin
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hervorzubrechen: Die Juden würden doch behaupten, ihre Gebote durch Mose erhalten zu haben, die Araber durch Mohammed, die Christen durch Jesus, und andere Völker würden andere Propheten verehren. Wie der historische Apostel argumentiert auch der cusanische Paulus hier im Sinne einer naturrechtlichen Ethik:1747 ‚Die göttlichen Gebote sind äußerst konzis, allen sehr bekannt und allen möglichen Völkern gemeinsam. Ja, das Licht, welches uns jene [sc. Gebote] zeigt, ist der rationalen Seele miterschaffen. Denn in uns spricht Gott, dass wir ihn selbst lieben mögen, von dem wir das Sein empfangen, und dass wir einem anderen nur dieses tun, von dem wir wollten, dass es uns geschehe (Lk 6, 31). Die Liebe (dilectio) ist also die Vollendung von Gottes Gesetz, und alle Gesetze beziehen sich auf sie zurück‘ (pac. XVI, 59; 10–15).
Wie in der Rede des Erzengels zu Beginn des Werks steht auch hier der Abbildcharakter des menschlichen Geistes im Verhältnis zu Gottes Schöpfergeist im Hintergrund:1748 Weil die menschliche Vernunft Abbild von Gottes Intellekt ist, kann der cusanische Paulus hier begründeterweise argumentieren, dass „Gott in uns spricht“.1749 In der menschlichen rationalen Seele spiegelt sich das Licht Gottes, so dass die menschliche Ratio in diesem Licht Gottes Gebote zu sehen und zu erkennen vermag: Vielleicht ist es nicht unerheblich, dass gemäß dem cusanischen Paulus die göttlichen Gebote nicht einfach der menschlichen Seele ‚vorgegeben‘ oder ‚einprogrammiert‘ sind, sondern dass der Seele diese Gebote durch ein inneres Licht gezeigt werden. Die Freiheit des Menschen ist, wie eingangs unterstrichen, fundamentale Bedingung des Menschseins,1750 daher kann es auch hier nicht um ein marionettenhaftes Gesteuertwerden der menschlichen Seele durch Gottes Gebote gehen. Das Licht ist der menschlichen Seele mitgegeben, in diesem Licht werden Gottes Gebote sichtbar für die Seele – vorausgesetzt, sie wendet sich dem Licht zu und nicht von ihm ab, erkennt die Gebote und handelt nach ihnen. Dieser Erkenntnisprozess und das daraus resultierende Handeln obliegt der Seele in ihrem freiheitlichen Geschaffensein. Er ist aber gemäß Cusanus nicht abstrakt-neuzeitlich zu verstehen bzw. eine rein subjektive Leistung: In dem Licht, durch welches die Gebote für die sich ihm zuwendende Seele aufscheinen, spricht Gott, so dass es in der Seele zu einem Dialog mit Gott kommen kann – ganz im Sinne auch des Dialogs der entrückten Weisen mit Gottes Logos im ersten Teil von De pace fidei oder auch im Sinne des Dialogs des gefangenen Boethius mit der ihm erscheinenden Philosophie in der Consolatio bzw. des Dialogs der Ratio mit Augustinus in dessen Soliloquiae.1751 Nicht zuletzt hatte auch der historische Paulus die Offenbarung Gottes in Christus als Lichtereignis verstanden: Im Angesicht Christi geht das Licht auf, welches Gottes Vgl. Paulus, Rö 2, 14–15 und Flasch (1998: 370). I, 3; 4,21–5,10 (s. o. Kap. V.c2). 1749 Zum theologischen Kriterium des deus loquens vgl. Anm. 1169. 1750 S. o. Kap. V.c2. 1751 Zu Boethius und Augustinus s. o. Anm. 1018. 1747
1748 pac.
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herrlichen Ruhm ausstrahlt und ausbreitet; erkannt wird dies von einem Herzen, das selbst von Gott erleuchtet wird (2 Kor 4, 6–7).1752 Auf die Worte des cusanischen Paulus gibt der Tatar seine Zustimmung: Der „Glaube und das Gesetz der Liebe“ werde sicher von seinen Landsleuten akzeptiert.1753 Im Sinne der Logik von De pace fidei erreicht das intellekthafte Durchdringen der theologischen Inhalte hier erneut sein Ziel: Die trennenden kultischen Traditionen werden überwunden durch die spezifisch christliche Rechtfertigungslehre, die, weil sie die persönliche Beziehung des Glaubenden zu dem einen wahren Gott betrifft, nicht nur etwas rein Geistiges ist, sondern als solches zugleich stärker auf den Kern aller praktisch-religiösen Bemühungen, nämlich auf Gott selbst in seinem rein geistigen Wesen zielt. Dem Glauben sowohl als ‚Charakter‘ der Beziehung des Glaubenden zu Gott wie auch im Sinne des aktiven Vertrauens auf Gottes Verheißungen, die entsprechend der vorausgegangenen Argumentation in dem Gott-Menschen1754 Jesus als erfüllt interpretiert werden können, kommt somit ein ungleich größeres Gewicht zu als aller praktisch-rituellen Observanz, weil in diesem glaubenden Vertrauen gemäß christlicher Auffassung, wie sie Paulus bei Cusanus erörtert, der Versuch, mit Gott selbst in Beziehung zu treten, in der Rechtfertigung des Glaubenden vor Gott durch den Glaubensakt selbst sein Ziel findet – in Entsprechung zu Abraham als dem Vater eines solchen Glaubens. Für den interreligiösen Dialog bedeutet dies, dass diese Beziehung zu Gott für alle Glauben-Wollenden möglich ist: Die Rechtfertigungslehre als exklusives Spezifikum des Christentums hat der Sache nach – im Einklang mit der cusanischen Christologie1755 – dann doch ein inklusives Ziel, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal, weil die Rechtfertigung des Menschen vor Gott potentiell niemanden ausschließt; zweitens weil die verschiedenen kultischen Praxeis unterschiedlicher Religionen von der geistig-intellekthaften Ebene des Glaubens im Sinne der konkreten Beziehung des Glaubenden zu Gott1756 her positiv gewürdigt werden können. Dabei ereignet sich eine positive Rückbindung der zunächst trennend wirkenden Verschiedenheit religiöser Kulte, weil diese nun als auf ein ihnen gemeinsames Zentrum hin bezogen gedacht werden können. Der Glaube Abrahams kann so gemäß Cusanus eine tatsächlich inklusiv-integrierende Wirkung für die unterschiedlichen Religionen entfalten. Insofern der christliche Gott, wie gerade von der Trinitätstheologie her erkennbar wird, wesentlich Liebe ist,1757 erscheint das jesuanische Doppelgebot Zur Stelle s. o. Kap. IV.2.2 a. pac. XVI, 60; 55, 16–17. 1754 S. o. Kap. V.c11–14. 1755 S. o. Anm. 1295 und Kap. V.c14. 1756 Voraussetzung dabei ist natürlich, dass die geistige Wirklichkeitsdimension und somit ultimativ auch Gott nicht auf eine leere, moralische Abstraktion reduziert oder ‚nur metaphorisch‘ interpretiert wird. Zum Problem rein ‚metaphorischer Theologie‘ vgl. o. Anm. 533. 1757 S. o. Kap. V.c6–9. 1752 1753
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der Liebe1758 als Anker aller Ethik und Richtschnur für die kultische Ausprägung von Religion auch systematisch-argumentativ und ontologisch abgesichert: Die Liebe allgemein, aber auch speziell im Sinne der Liebe Christi bzw. Gottes ist so die „Vollendung des Gesetzes“ – analog dazu, dass auch Christus von sich sagt, er sei nicht gekommen, um das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfüllen.1759 Genau mit diesem Argument der universalen Liebe sowie mit der sog. ‚goldenen Regel‘1760 vermag der cusanische Paulus den Tataren zu einer Zustimmung zu bewegen. Im geistig-intellekthaften Durchdringen dieser Theologoumena scheint so die eine, gemäß der Logik von De pace fidei von allen Religionen implizierte geistige Religion auf.1761 Diese Möglichkeit der Konkordanz, welche auf höchster, intellekthafter Ebene als erreichbar zu erahnen ist, steht jedoch auf einem anderen Blatt als die Frage, wie eine solche Eintracht innerweltlich umgesetzt und als Fundament interreligiösen (und politischen) Friedens dienen kann: Daher bringt der tatarische Weise noch einmal seinen Zweifel zum Ausdruck, ob die Tataren – trotz möglicher Akzeptanz des Glaubens und des Gesetzes der Liebe – auch bezüglich der Riten zu einer Einigung kommen könnten, denn die Beschneidung würden sie verlachen. Paulus entgegnet im Geiste des historischen Apostels, dass „in Christus“1762 bzw. hinsichtlich der „Wahrheit des Heils / der Erlösung“ das Empfangen der Beschneidung nicht relevant sei.1763 Dies entspricht dem Duktus der vorangegangenen Argumentation: Die Wahrheit Gottes ist eine geistige, die Beziehung des Gläubigen zu Gott ist dem Wesen nach geistiger Natur, daher kann auch die „Wahrheit des Heils“ nicht an der äußeren Beschneidung hängen. Dennoch würden viele – wie Abraham und Christus! – die Beschneidung empfangen, was keineswegs ‚verdammenswürdig‘ sei; entscheidend falle jedoch der Glaube ins Gewicht, aus dem heraus ein Mensch gerechtfertigt werde. Die Beschneidung sei somit kein „heilsnotwendiges Sakrament“. Nachdem der cusanische Paulus also die theologische Position klar umrissen hat, kommt er abschließend auf den Ausgangspunkt von De pace fidei zurück: die politischen Verfolgungen und Kriege um der Religion willen,1764 die es einzudämmen gilt. In dieser Hinsicht sei die Entscheidung darüber, wie mit der Tradition der Beschneidung weiter zu verfahren sei, nicht leicht: Wenn der Großteil der Welt unbeschnitten bleibe, dann sei auf den Aspekt zu achten, dass sie eben nicht heilsrelevant sei – von dieser Voraussetzung ausgehend sollte sich die Minderheit der Menschen, welche die Beschneidung befürworte, der Mehrheit, mit der Vgl. Mt 22, 37–40. Mt 5, 17. Vgl. zur Stelle Cusanus, cribr. III, 2, 162; 11, 195 sowie cribr. I, 5, 36 mit dem Verweis auf den Koran, Sure 5, 46. 1760 Vgl. Lk 6, 31. 1761 S. o. Kap. V.c4 mit Anm. 1311. 1762 Paulus, Gal 5, 6. Vgl. Alfsvåg (2014: 58). 1763 pac. XVI, 60; 55,17–56,1. 1764 S. o. Kap. V.c1. 1758 1759
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sie auf der übergeordneten Ebene des Glaubens vereint sei (!), anpassen – „um des Friedens willen“! Für den Frieden sei es aber ebenso annehmbar, wenn sich die Mehrheit der Minderheit anpasste und die Beschneidung empfinge: Wenn nämlich die anderen Völker von den Christen den Glauben (an Christus und im Sinne der Rechtfertigung vor Gott) übernähmen, wäre es für die Festigung des Friedens sinnvoll, wenn die Christen umgekehrt von ihnen die Beschneidung annähmen. Aufgrund der Schwierigkeit im Hinblick auf die „Praxis“ – es geht in De pace fidei eben vorrangig ‚nur‘ um die geistige Dimension religiösen Glaubens – sollte daher der Friede über „den Glauben und das Gesetz der Liebe“ gestärkt werden, „der Ritus“ (als Oberbegriff für die Riten in ihrer Verschiedenheit) sei „zu tolerieren“.1765 Drei Aspekte scheinen hier abschließend hervorhebenswert: Erstens spricht der cusanische Paulus in aller Deutlichkeit davon, dass die anderen „Völker“ (auch hier zu interpretieren als andere Religionsgemeinschaften) von den Christen den Glauben übernehmen würden bzw. sollten. Dies erscheint aus (post‑)moderner Perspektive für einen interreligiösen Dialog wie eine ‚Bankrotterklärung‘ – wird doch damit auf den ersten Blick scheinbar jegliches Toleranzgebot verletzt. Es lohnt sich aber, auch hier genauer hinzuschauen: Es gilt auch hier noch einmal daran zu erinnern, dass es für Cusanus undenkbar wäre, um des Dialoges willen gleichsam alle religiös-theologischen Positionen vorab außer Kraft zu setzen; für ihn kann es nur den Ausgriff aus konkreter Religiosität heraus geben:1766 Für ihn als Autor vollzieht sich ein solcher Ausgriff aus der christlichen Perspektive (mit platonischem ‚Unterbau‘); mit dieser Methode ist er aber gleichwohl durchaus in der Lage, z. B. die ablehnende Haltung von Muslimen und Juden gegenüber einer bestimmten Spielart von Trinitätstheologie positiv zu würdigen und in seine christliche Perspektive zu integrieren.1767 Cusanus’ Ziel ist also, zu einer religiösen Einigung auf dem Wege einer begrifflich-scharf, aber ethisch-friedlich geführten theologischen Auseinandersetzung zu gelangen. Da die christliche Rechtfertigungslehre im Sinne des Glaubens als Weg zu Gott hin zwar ein exklusives Spezifikum ist, aber eine inklusive Stoßrichtung hat, welche zur Überwindung der Differenzen auf der Ebene kultischer Praxeis und Traditionen führen kann, deshalb vermag der cusanische Paulus hier davon zu sprechen, dass die anderen „Völker“ den „Glauben“ der Christen annehmen mögen – auf rein intellektiver Ebene, nicht im Sinne einer Abschaffung der Religionen in ihren kultischen Besonderheiten: Denn am Ende des Werks wird die Vielfalt der Riten als bewahrenswert eingestuft.1768 Nicht übersehen werden sollte dabei zudem, dass er die Christen ebensfalls zu einem Zugeständnis gegenüber Juden und 1765 pac.
XVI, 60; 56, 1–19. Kap. V.c1–4, V.c7–8 sowie Anm. 1536. 1767 S. o. Kap. V.c9. 1768 pac. XIX, 67; 62, 5–8. Vgl. oben Anm. 1287. 1766 S. o.
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Muslimen bewegen will, nämlich die Beschneidung zu tolerieren oder sogar zu übernehmen.1769 Zweitens: Riedenauer (2007: 407) macht darauf aufmerksam, dass an dieser Stelle das einzige Mal innerhalb von De pace fidei das Verb tolerare vorkomme. Dies erscheint bedeutsam angesichts der kurz zuvor fallenden Rede von der Übernahme des christlichen Glaubens: Toleranz ist für Cusanus weder ein Ersatz für eine theologische Auseinandersetzung – dieser ist sein Werk De pace fidei vor allem gewidmet, und zwar auf einer ganz bestimmten, vermutlich höchstmöglichen Erkenntnisebene: der des platonisch verstandenen Intellekts.1770 Noch ist Toleranz gemäß Cusanus einfach ‚zu verordnen‘ oder zu postulieren, sondern muss argumentativ begründet werden: In De pace fidei wird diese Toleranz auf der Ebene des Ritus gefordert, weil argumentativ begründet wurde, dass in kultischen Gewohnheiten zu unterschiedlichen Zeiten und Orten immer mit einer unvermeidlichen Vielheitlichkeit zu rechnen ist, die angesichts einer hinsichtlich der intellekthaften Religion erreichbaren, die praktisch-religiösen Unterschiede überbrückenden oder wenigstens ausgleichenden Eintracht jedoch auch nicht wirklich problematisch erscheint. Denn diese Gewohnheiten seien gerade nicht mit der Wahrheit Gottes zu verwechseln:1771 Ist diese Differenzierung einsichtig, dann folgt das ethische Gebot der Toleranz gegenüber verschiedenen Kulten aus dieser Einsicht und hat ein sachliches Fundament. Wenn ‚Wahrheit‘ im absoluten Sinne nur die intelligible Wahrheit Gottes sein kann, welche alle Philosophen einmütig als seiend bekennen,1772 dann ist auch klar, dass diese Wahrheit nie mit Waffen‑ und Kriegsgewalt errungen,1773 sondern bestens geistig eingesehen, argumentativ erschlossen werden kann. Dies ist das ‚Projekt‘ von De pace fidei – seine Bewertung mag aus den verschiedensten Gründen divergent ausfallen, aber das Grundbemühen ist eines, das aufgrund theoretischer Überlegungen zu Toleranz in durchaus praktischer Hinsicht anleiten will, wie speziell am Ende des Kapitels XVI greifbar wird. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass es vielleicht gerade auch der Beispielcharakter ist, welcher De pace fidei für (post‑)moderne Rezipienten grundsätzlich attraktiv machen könnte: Ein Ausgriff aus einer konkreten religiös-theologischen Tradition heraus, welcher anderen, fremden Religionen und Positionen ihr eigenes Argument zuerkennt und prüft, inwiefern sich hinter vordergründigen Diskrepanzen möglicherweise eine hintergründige Vereinbarkeit aufzeigen lassen könnte, ist sicherlich nicht nur aus christlicher Perspektive möglich.1774
Vgl. Flasch (1998: 350). S. o. Kap. V.c1. 1771 S. o. Kap. V.c2. 1772 S. o. Kap. V.c4–5. 1773 Vgl. Sacharja 4, 6. 1774 S. o. Kap. V.c4 und V.c8. 1769 1770
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Drittens zeigt das Beispiel der Beschneidung konkret, wie gemäß Cusanus ein argumentativ scharf, aber friedlich geführter interreligiöser Dialog seiner Auffassung nach zu einem theoretischen und praktischen Ziel führen kann: Das Durchdringen der christlichen Rechtfertigungslehre führt den Tataren dazu, die geistige Dimension von Religion – im Sinne der personalen Beziehung eines Gläubigen zu dem einen Gott – als den praktischen Kulthandlungen vorgeordnet zu betrachten. Dabei geht es keineswegs ‚nur‘ um eine Privilegierung der christlichen Perspektive, sondern zunächst darum, argumentativ einen Punkt zu erschließen, der für verschiedene Religionsvertreter gemeinsam anschlussfähig und partizipierbar sein könnte und der vor allem davor bewahrt, religiöse Gewohnheiten entweder als ‚die Wahrheit selbst‘ zu verabsolutieren oder aber zu belächeln. Von diesem gemeinsamen Zentrum ist dann ein positiver Weg zur geistigen und praktischen Aneignung der Vielheit der Riten und Kulte möglich, auf welchem diese selbst sinnvoll und begründet erscheinen können. Damit ist aber nichts Geringeres geleistet, als dass verschiedene Religionsvertreter auf‑ grund theoretisch-theologischer Argumente zur Toleranz in praktischer Hinsicht bewegt werden können. Dieser Weg mit seinem theoretischen und praktischen Nutzen wurde im Hinblick auf die Beschneidung schon lange vor Cusanus eingeschlagen: Bereits Origenes spricht von der Beschneidung im äußerlich-rituellen und im geistig-intelligiblen Sinne und kann aufgrund der Differenzierung zwischen äußerlichem Ritus und Gottes intelligibler Wahrheit beides in Relation zueinander setzen:1775 Sowohl Paulus wie auch Petrus, in der äußerlichen Sichtbarkeit (en phanerô) früher Juden und Beschnittene, haben später auch im verborgenen Inneren (en tô kryptô) solche zu sein von Jesus empfangen (Origenes, in Jh. I, 7, 41).
Die rituelle Beschneidung nach jüdischem Gesetz wird hier aus christlicher Sicht gerade nicht verworfen, sondern ernst genommen und in Christus selbst als dem Mensch gewordenen Gott-Logos zentriert. Durch den Ritus der Beschneidung stehen die Beschnittenen äußerlich in der jüdischen Tradition – gemeinsam mit dem Menschen Jesus Christus. Entscheidender ist trotzdem die geistige Beziehung des Menschen zu Gott selbst und zu seinem Logos, welcher gemäß Origenes und Cusanus Christus (als zweite trinitarische Person) ist: Origenes kann diese geistige Beziehung der Gläubigen zu Christus als „im Verborgenen“, d. h. geistig empfangene Beschneidung ausdeuten – analog zu der Vorordnung der christlichen Rechtfertigungslehre vor die verschiedenen Kulte, welche Paulus bei Cusanus veranschlagt, um so die Vielheit der Kulte als Trennung zu 1775 Zur Origenes-Stelle s. o. Kap. IV.3 c. Zu Cusanus selbst vgl.: „Daher haben die Gläubigen ihre Existenz (exsistunt), [sc. insofern sie] in ihm selbst [sc. Christus] beschnitten, in ihm selbst getauft, in ihm selbst gestorben, in ihm selbst von neuem durch die Auferstehung lebendig gemacht, in ihm selbst mit Gott geeint und verherrlicht sind“ (doct. ign. III, 6, 219; s. ferner cribr. III, 16, 216). S. außerdem Paulus, Rö 15, 8 zu „Christus als Diener der Beschneidung [= der Juden] um der Wahrheit Gottes willen.“
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überwinden, aber als Ausdruck wahrer Religion zu würdigen und daher auch zu tolerieren. Philosophisch steht dabei die parmenideisch-platonische Grundunterscheidung1776 zwischen materiell-sinnlicher Realitiät und geistig-intelligibler Wirklichkeit im Hintergrund und zeigt ihre theologische Relevanz – ebenso wie die platonische Partizipationsontologie, insofern alle Menschen qua ihrer rationalen Begabung an dem einen Logos Gottes partizipieren (können).1777 17. Der Armenier und Paulus: Die Taufe – „Bekenntnis des Glaubens im sakramentalen Zeichen“ Nachdem die Notwendigkeit unterstrichen wurde, unterschiedliche Riten, da sie nicht heilsnotwendig seien, zu tolerieren, fragt der armenische Weise, wie es denn um den Ritus der Taufe stehe, die doch von den Christen als „(heils)notwendiges Sakrament“ erachtet würde. Die Taufe, so Paulus, sei das „Sakrament des Glaubens“, insofern dieser in dem gerade zuvor skizzierten Sinne verstanden werde. Wer die „Rechtfertigung in Christus Jesus zu erlangen“ glaube, glaube auch durch ihn die „Vergebung der Sünden“ zu empfangen. Genau diese Reinigung werde durch die Taufwaschung zeichenhaft vollzogen. Während oben davon die Rede war, dass die Zeichen an sich gegenüber dem durch sie Bezeichneten zweitrangig seien,1778 hebt der cusanische Paulus nun die enge Bezogenheit des Taufritus auf die intelligible Sache hervor,1779 die erneut unmittelbar die Beziehung des Glaubenden zu Gott und dem Gott-Menschen Jesus Christus betrifft. Die Vergebung der Sünden berührt die seelisch-geistige Dimension, sie ist an sich unsichtbar und bedarf schon im Neuen Testament eines sichtbaren Zeichens, um beglaubigt zu werden: Seine göttliche Vollmacht zur Sündenvergebung (seelisch-geistige Dimension) demonstriert Jesus gegenüber den Schriftgelehrten durch die physische Heilung eines Gelähmten.1780 Im Taufritus werde das Abwaschen der Sünden von der Seele durch die körperliche Taufwaschung abgebildet: Deshalb sei, so der cusanische Paulus, „die Taufe nichts anderes als das Bekenntnis jenes Glaubens im sakramentalen Zeichen“.1781 Die enge Bezogenheit des Ritus auf die seelisch-geistige, primäre Dimension des Glaubens zeigt sich darin, dass der Taufritus ohne den vorausgesetzten Glau S. o. Kap. II.1 und II.2. Vgl. o. Kap. IV.3 a. 1778 S. o. Kap. IV.c.16 mit Anm. 1712. 1779 Der christlich-platonische Grundansatz, dass die Riten auf das sich in ihnen spiegelnde Intelligible bezogen gedacht werden müssen und von dorther ihre kultische Sachhaltigkeit und Berechtigung beziehen, ist vor allem von Dionysius Areopagita in seiner Kirchlichen Hierarchie konsequent verfolgt und theologisch umgesetzt worden, besonders für die drei von Dionysius erörterten Hauptsakramente Taufe – Eucharistie – Ölweihe (s. Drews 2011): Das Bezeichnete steht nach platonischem Verständnis nie für sich selbst, ist in seiner bloßen Performativität nicht autark, sondern verweist durch diese auf das gemeinte Intelligible und bezieht von dorther als sinnliche Handlung seine ‚Aufwertung‘ über den einzelnen ‚performativen Akt‘ hinaus. 1780 Mk 2 (s. o. Kap. IV.2.2 b). 1781 pac. XVII, 61; 56,21–57,5. 1776 1777
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ben sonst im Grunde bedeutungslos, sein Warum unerklärlich wäre: In diesem Sinne kann die Taufe dann tatsächlich als „Sakrament des Glaubens“ begriffen werden, weil sie nicht Ausdruck einer auf unterschiedliche Weise ausgestaltbaren, allgemeinen Gottesverehrung ist, sondern unvermittelt auf die Glaubensbeziehung des Täuflings zu Gott im Sinne der Rechtfertigung des Glaubenden durch eben diese Glaubensbeziehung verweist und sowohl den Aspekt der Beziehung wie auch den der Rechtfertigung des Menschen durch Gott sinnlich abbildet und kultisch als Sakrament vollzieht. Abschließend führt Paulus an, dass kultische Waschungen allgemein in verschiedenen Religionen, z. B. bei „Hebräern und Arabern“ üblich seien, weshalb es „nicht schwierig“ sein sollte, die von Christus eingesetzte Taufe anzunehmen und zu empfangen (recipere). Das Sakrament sei, so der Armenier, also „heilsnotwendig“. Dem Duktus von De pace fidei würde es gleichwohl widersprechen, die intelligible Substanz des Glaubens, welche ja gerade intellekthaft durchdrungen und eingesehen werden soll, nun doch total an den äußerlich-sinnlichen Vollzug eines Sakraments zu binden. Entsprechend antwortet Paulus, dass der Glaube für die Erwachsenen notwendig sei und dass sie das Heil auch ohne das Taufsakrament erlangen würden, wenn für sie keine Gelegenheit bestünde, dieses zu empfangen. Wer aber wahrhaft gläubig sei, werde dies auch zeigen wollen „durch das Sakrament der Wiedergeburt“ (per regenerationis sacramentum). Auch gegen die Kindertaufe spreche nichts: Dieser Ritus sei schließlich leichter [sc. zu ertragen und umzusetzen] als die Beschneidung (der Jungen) nach acht Lebenstagen.1782 Dies ist freilich ein rein pragmatisches Argument: Den Aspekt, dass die Taufpaten den Glauben für das Kind stellvertretend bekennen,1783 lässt der cusanische Paulus außen vor. 18. Der Böhme und Paulus: Die Eucharistie – geistige Speise ewigen Lebens in sinnlicher Gestalt Der böhmische Weise wendet nun ein, dass eine Einigkeit bei den Opferriten kaum erreichbar sein dürfte: Die Christen würden nicht auf die Eucharistie verzichten, nur um die anderen Religionsvertreter zu beschwichtigen, „weil dieses Opfer von Christus eingesetzt“ sei. Umgekehrt würden die übrigen Völker, welche einen solchen Opferkult nicht kennten, diese Art des Kultes nicht annehmen, zumal sie es für „Wahnsinn“ (insania) erachteten, zu glauben, dass Brot in das Fleisch Christi und Wein in Blut verwandelt werden könne, und hinterher diese Sakramente zu verschlingen.1784 Damit wiederholt der Böhme noch einmal die bereits zuvor durch den Tataren vorgebrachte Kritik an der Eucharistie.1785 pac. XVII, 61–62; 57,7–58,2.
1782
1783 Vgl. Augustinus, lib. arb. III, 227 und Dionysius Areopagita, EH 7 b; 130, 13 f. (s. zu beiden
Passagen Drews 2011: 345 f. mit Anm. 783). 1784 pac. XVIII, 63; 58, 4–12. 1785 pac. XVI, 54; 51, 2–6 (s. o. Kap. V.c16).
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Diesem Einwand begegnet Paulus, indem er den zu Anfang des Dialogs zugrunde gelegten Gedanken, dass Christus qua Gottes Logos und Weisheit die Nahrung des menschlichen Intellekts sei,1786 entsprechend dem jetzt erreichten Argumentationsstand noch einmal neu entfaltet: ‚Dieses Sakrament der Eucharistie bildet nichts anderes ab, als dass wir aus Gnade in Christus Jesus die Erquickung des ewigen Lebens erlangen werden, so wie wir in dieser Welt durch Brot und Wein erquickt werden. Wenn wir also Christus als Speise des Geistes glauben, dann empfangen wir ihn unter den Gestalten, welche den Körper nähren‘ (pac. XVIII, 63; 58, 12–17).
Während zu Beginn des Werks im Rahmen einer allgemeinen, philosophischplatonischen Argumentation das Intelligible bzw. das eidetische Sein als Bezugspunkt und Nahrung des Intellekts, der solche Sachgehalte zu erfassen vermag, erwiesen und im christlichen Kontext der Logos Gottes als Inbegriff dieser intelligiblen Seinsgründe aufgezeigt wurde, steht an dieser Stelle nun die im Dialog zuvor entwickelte Christologie im Hintergrund von Paulus’ Ausführungen: Gottes Logos ist zugleich der in Jesus Christus Mensch gewordene Logos im Sinne der maximalen Einheit und Koinzidenz der menschlichen mit der göttlichen Natur.1787 Als dieser Gott-Mensch eröffnet Jesus Christus für die Menschen – und allgemein für die menschliche Natur – den Zugang zu Gott selbst, indem das menschlich-sterbliche Sein in Gottes Unsterblichkeit aufgenommen wird. In dieser gott-menschlichen Einheit überwindet er durch die Auferstehung die Sterblichkeit und führt so das allgemeine menschliche Glückseligkeitsstreben zum Ziel des ewigen Lebens:1788 Dadurch ist Christus zugleich als der Abraham verheißene Nachkomme erwiesen, in welchem alle Völker gesegnet sein sollen. Abraham war sein Glaube als Rechtfertigung vor Gott angerechnet worden, so dass er (im Glauben) diese Verheißung erlangen konnte. In Christus als dem ihm verheißenen Nachkommen „geschieht“, so der cusanische Paulus, „der Logos“ im Sinne der Rechtfertigung aus dem Glauben an die in Christus verbürgte Gnade: Verheißung und Rechtfertigung koinzidieren in Christus, in dem Verheißenen wird die Gnade der Rechtfertigung empfangen. Da in Christus als Auferstandenem Gott selbst und seine Gnade gegenwärtig ist, ist er der Urheber des Heils, „ohne den niemand erlöst“ bzw. zum Heil geführt werden könne.1789 Alle diese Zusammenhänge sind wie in einem Brennglas in den Worten des Paulus zusammengefasst: „dass wir aus Gnade in Christus Jesus die Erquickung des ewigen Lebens erlangen werden“. Christus ist qua Logos immer schon die Speise des Intellekts, als Fleisch gewordener Logos überwindet er den Tod, ist die verheißene Gnade und Rechtfertigung für die Menschen und so der Segen 1786 S. o.
Kap. V.c3 mit Anm. 1277. Kap. V.c11–12. 1788 S. o. Kap. V.c14. 1789 S. o. Kap. V.c16. 1787 S. o.
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der Völker:1790 Nur vor diesem komplexen Hintergrund ist und schenkt er die „Erquickung des ewigen Lebens“. Zugänglich wird diese Christologie in ihrer Komplexität für Cusanus nur im intellekthaften Durchdringen, im geistigen ‚Durchkauen‘ dieser Glaubensinhalte, indem diese in ihrer inneren Einheit philosophisch reflektiert und so als intelligible Nahrung vom Intellekt durchschaut und ‚aufgesogen‘, ‚gegessen und getrunken‘ werden. Die kultische Eucharistiefeier ist somit kein Kannibalismus, sondern sichtbarer Ausdruck, sinnliche Spiegelung dieser von sich selbst her intelligiblen Zusammenhänge: Es sei zu hoffen, so Paulus, dass „alle gläubigen Menschen jene Speise durch den Glauben [sc. schon] in dieser Welt kosten wollten, die in Wahrheit Nahrung unseres Lebens in der anderen Welt sein wird.“1791 Die Eucharistiefeier ist also wie ein sinnlicher Vorgeschmack auf „die Erquickung im ewigen Leben“. Zunächst erklärt der cusanische Paulus die Eucharistie also konsequent von ihrem geistigen Verständnis her und als sinnliche Analogie zu dieser geistigen Dimension. Der Böhme fragt zu Recht noch einmal nach, wie es mit der Wandlung der Gaben in den Leib Christi, also mit der Transsubstantiation, stehe. Paulus rekurriert noch einmal auf die Erlösungstheologie: In Christus Jesus würden „wir aus dem Elend dieser Welt hinübergetragen bis zur Sohnschaft Gottes und zum Besitz ewigen Lebens, denn Gott ist nichts unmöglich“. Mit dem letzten Teilsatz spielt Paulus einerseits auf ein Schriftwort an,1792 andererseits der Sache nach auf das unendliche Allvermögen des drei-einigen Gottes.1793 Das Empfangen des ewigen Lebens ist für den Menschen kein Automatismus, kein selbstverständlicher ‚Lauf der Welt‘, sondern hat Geschenkcharakter:1794 Dieses Geschenk wird bewerkstelligt, ontisch ermöglicht durch die Menschwerdung des göttlichen Logos in Jesus Christus, da sich in ihm die menschliche mit der göttlichen Natur verbindet und so das Reich Gottes von dem rechtmäßigen „Erben“, dem Logos, auf die Menschen ‚ausgedehnt‘ wird.1795 Dies ist damit gemeint, dass die Christus-Gläubigen durch Christus „hinübergetragen“ würden „zur Sohnschaft Gottes und zum Besitz ewigen Lebens“. Dies Hinübergetragenwerden der menschlichen Natur in die göttliche ist die wahre Transsubstantiation, welche die Eucharistie abbildet und kultisch vorbereitet: Wer daran glaubt und dies erhofft, wird, so Paulus, ebenso wenig daran zweifeln, dass „Gottes Logos gemäß der Einsetzung Christi“ auch das Brot in Fleisch verwandeln kann, zumal „die Natur dies in den Lebewesen“ bewirke. Wenn „wir als Erdensöhne Adams1796 in Christus Vgl. cribr. II, 16, 139. pac. XVIII, 63; 59, 3–5. 1792 Mt 19, 26. 1793 S. o. Kap. V.c8. 1794 S. o. Kap. IV.2.2 a und V.c11. 1795 S. o. Kap. V.c11. 1796 S. o. Kap. V.c2. 1790 1791
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Jesus durch Gottes Logos hinübergetragen / verwandelt (transferamur) werden zu Söhnen des unsterblichen Gottes“ und „dann sein werden wie Jesus, der Logos Gottes des Vaters“, so sei auch gemäß der eucharistischen Transsubstantiation zu glauben, dass der Logos, welcher als Inbegriff der Seinsgründe1797 Brot Brot, Wein Wein, Fleisch Fleisch und Blut Blut sein lasse und Speise in den Gespeisten umwandle, Brot in Fleisch und Wein in Blut wandeln könne.1798 Das ultimative Ziel der Transsubstantiation ist also entgegen dem ersten Anschein nicht die äußerliche Wandlung, dass Brot und Wein wundersamerweise in Leib und Blut Christi verwandelt werden, sondern dass die Gläubigen, welche das eucharistische Mahl empfangen, in die Gemeinschaft Christi hineingenommen und in umgekehrter Verwandlungsrichtung letztlich zu Söhnen bzw. Kindern Gottes werden: Diese geistige Transsubstantiation vollzieht sich in reziproker Analogie zur Menschwerdung des Logos vom Leiblichen her zum Geistigen, d. h. zu Gottes Logos qua Logos hin. Prägnant zum Ausdruck kommt dies in Augustins Confessiones, wenn er beschreibt, wie er die Stimme Gottes zu hören glaubt: ‚Ich bin die Speise der Erwachsenen [sc. im Glauben1799]: Wachse, und du wirst mich essen. Aber nicht wirst du mich in dich wandeln wie die Speise deines Fleisches, sondern du wirst in mich gewandelt werden‘ (Augustinus, conf. VII, 10, 16).
Dieses geistige Transsubstantiationsverständnis ist aber auch außerhalb des christlichen Kontextes im platonischen Sinne anschlussfähig. So formuliert z. B. Plotin:1800 Wenn wir teilhaben an wahrem Wissen, so sind wir jenes [sc. Intelligible], nicht indem wir es in uns empfangen, sondern indem wir in jenem sind (Plotin, enn. VI, 5, [23] 7, 4–6).
Wie der am wahren Wissen Partizipierende in das Intelligible hineingenommen wird, so wird – mutatis mutandis – im christlichen Kontext bei Augustinus und Cusanus analog der an Christus Anteil Gewinnende in ihn hineinverwandelt. Diese Transsubstantiation zielt auf eine geistige Verwandlung, welche aber die leibliche Dimension des Menschen miteinschließt: Deshalb, so darf man ergänzen, erfolgt in umgekehrter Richtung die Menschwerdung Gottes, auf dass der Mensch zu Gott1801 bzw. ein an Gott unmittelbar Partizipierender1802 werden kann. Zurück zu De pace fidei. Der böhmische Weise erachtet die Verwandlung der Substanz als schwer begreiflich. Überraschenderweise entgegnet der cusanische Paulus, dass es „durch den Glauben“ sehr leicht verständlich sei. Diese S. o. Kap. V.b und V.c3–5 sowie Anm. 1317. pac. XVIII, 64; 59, 6–23. vgl. auch cribr. III, 16, 219. 1799 Vgl. 1 Kor 3, 2. 1800 Zur Stelle vgl. Alt (2005: 91). 1801 Vgl. Jh 10, 34–36 (s. o. Kap. IV.2.3 b) sowie den Begriff der theogenesia bei Dionysius Areopagita (s. dazu Drews 2011: 143 mit Anm. 322). 1802 Vgl. Boethius, cons. III, 10p, 23–25 (s. o. Kap. IV.6 und V.c12). 1797 1798
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fideistische Reaktion wird ergänzt durch den Hinweis, dass „allein der Geist (mens)“ dies begreifend berühren könne,1803 „der allein die Substanz schaut, dass sie ist, nicht was sie ist.“ Die erkenntnistheoretische, skeptisch anmutende Einschränkung, dass der menschliche Intellekt die Substanz nur in ihrem ‚dass sie ist‘-Sein erfassen könne, nicht aber ihr Wesen, ist bereits von Eriugena und Thomas von Aquin her bekannt, wird dadurch aber nicht einsichtiger:1804 Die Unterscheidung von Substanz gegenüber einem allgemeinen, unspezifizierten Sein ist ja in sich selbst nur sinnvoll, wenn das jeweilige Seiende etwas Bestimmtes, also substantiell Bestimmbares ist.1805 Jedenfalls, so der cusanische Paulus ganz aristotelisch,1806 liege die Substanz allen Akzidentien voraus, sei weder Qualität noch Quantität. Die eigentliche Transsubstantiation des Brotes in Fleisch beträfe jedoch die Substanz1807 und sei etwas rein Geistiges, das „von allem sinnlich Berührbaren weit entfernt“ sei. Das Fleisch würde daher auch nicht im quantitativen Sinne mehr oder der Zahl nach Vieles, sondern bleibe die eine Substanz des Fleisches, in welche die des Brotes verwandelt werde, auch wenn das Brot an verschiedenen Orten gereicht und viele Brote im kultischen Vollzug des Opfers gebraucht würden.1808 Das Entscheidende an dieser Argumentation ist noch einmal, dass die Transsubstantiation der eucharistischen Gaben auf „geistig-spirituelle“ Weise zu verstehen sei: Nur weil es um das eine geistige Brot des Fleisch gewordenen Logos gehe, kann Paulus bei Cusanus berechtigterweise feststellen, dass der im eucharistischen Mahl empfangene Leib Christi nicht zunähme oder viele Leiber würde. Letztlich ist das Argument der Sache nach ein platonisches: Der geistig aufzufassende Leib Christi ist einer, wird aber an verschiedenen Orten für Viele partizipierbar, ohne seine einheitliche Substanz als ein geistiger Leib zu verlieren. Das philosophische Argument liegt mutatis mutandis bei Plotin vor, wenn er erörtert, inwiefern das eine Eidos des Feuers respektive des Dreiecks immer eines bleibe, in seinen Instanzen aber ein Vieles und dadurch verortbar werde, ja als Partizipiertes Örter erzeuge.1809 Damit wird Plotin keineswegs als Christ eingemeindet oder gar zu einem Kronzeugen des Transsubstantiationsmysteriums umfunktioniert. Entscheidend ist vielmehr der Bezug einer intelligibeleidetischen Substanz zu ihren materiellen Instanzen. In Bezug auf das Beispiel ‚Feuer‘ wäre zudem bedenkenswert, inwiefern „der Funke, der einen Stoff zum
Zur erkenntnistheoretischen Dimension von attingere s. o. Kap. V.b mit Anm. 1134 und
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S. o. Kap. IV.7 mit Anm. 1060 und Kap. IV.8. Vgl. auch Flasch (1998: 372). 1806 Zu Aristoteles vgl. Thiel (2004: 79–124). 1807 Vgl. Berger / Nord (2002: 143, Anm. 91). 1808 pac. XVIII, 65; 59,24–60,10. 1809 S. o. Kap. II.5 b. 1804 1805
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Entflammen bringt, unmittelbar und dann mittelbar den Stoff in eine andere Substanz, nämlich Feuer verwandelt.“1810 Für einen Cusanus erscheint es einigermaßen erstaunlich, dass er die Rede von der Wandlung der Substanz (Brot in Fleisch, Wein in Blut Christi) letztendlich gar nicht zu erklären versucht: Denn gerade von seiner Inkarnationstheologie her, dass in Jesus Christus die menschliche mit der göttlichen Natur in maximaler Einheit und Koinzidenz vereinigt sei,1811 würde sich die Vereinigung der Natur des Brotes und des Weines mit der Natur des Fleisch gewordenen Logos als eine Perspektive anbieten, in welcher die Koinzidenz der Natur der materiellen Gaben mit derjenigen des (geistigen) Leibes Christi im eucharistischen Mahl analogisiert werden könnte. Dann beträfe die eigentliche Wandlung der leibhaftigen Gaben ihr geistiges Durchdrungensein durch den Fleisch gewordenen Logos – „gemäß der Einsetzung Christi“, wie der cusanische Paulus nicht ohne Grund im Sinne einer theologischen Absicherung betont.1812 Freilich würde diese Perspektive letztlich nichts anderes zum Ausdruck bringen als das, was Cusanus Paulus auch wirklich aussprechen lässt: dass die Wandlung eine rein „geistig-spirituelle“ sei. Der Böhme bekundet nun, dass ihm die Lehre des Paulus „äußerst willkommen“ sei, da es sich bei der Eucharistie um das „Sakrament der Speisung mit ewigem Leben“ handle, durch welche „wir die Erbschaft der Söhne Gottes in Jesus Christus, dem Gottessohn, erlangen“; dafür sei das Eucharistiesakrament ein „Gleichnis“ und werde „nur durch den Geist / Intellekt erkennend berührt“ und „im Glauben gekostet und erfasst“.1813 Hier wird somit noch einmal deutlich, dass es dem Autor Cusanus vor allem um die geistig-intellekthaft-spirituelle Dimension der Eucharistie geht: Der Akzent liegt gemäß dem Grundanliegen von De pace fidei auf dem geistigen Durchdringen theologischer Zusammenhänge; ein lediglich äußerlich bleibendes Mirakel im Sinne einer bestaunenswerten Attraktion kann nicht im Fokus intellekthaften Begreifens im cusanischen Sinne stehen. Was aber, wenn diese „arcana“ nicht erfasst werden? Die „Ungebildeten“ könnten davor zurückschrecken, dies zu glauben und dieses „so große Sakrament“ überhaupt zu empfangen. Entsprechend seiner Argumentation in den vorangegangenen Kapiteln von der Rechtfertigung durch den Glauben1814 und von dem Primat des Bezeichneten vor den Zeichen1815 verweist Paulus auch jetzt darauf, dass das Sakrament hinsichtlich seiner „sinnlich-wahrnehmbaren Zeichen“ nicht derart notwendig sei, dass das Heil von ihm abhänge – entscheidend sei der Thiel (2004: 92). S. o. Kap. V.c11. 1812 S. o. mit Anm. 1798. 1813 pac. XVIII, 65; 60, 11–16. 1814 S. o. Kap. V.c16–17. 1815 S. o. Kap. V.c16. 1810 1811
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Glaube. Vielleicht erklärt sich von hier aus, warum Paulus zuvor etwas lapidar sagen konnte, dass das Mysterium der Transsubstantiation „im Glauben sehr leicht“ erfasst werden könne:1816 Denn wenn im prägnanten Sinne „Glaube“ hier bedeutet, dass dieser sich auf die geistig-intellekthaft-spirituelle Dimension, das geistige Erfassen der rein intelligiblen Zusammenhänge bezieht, welche der böhmische Weise gerade zuvor noch einmal resümierend zusammengefasst hatte, dann geht es – jedenfalls primär – weder um die sinnlichen Zeichen an sich noch um ein in ihnen sich (angeblich) vollziehendes äußerliches Wunder. Zum Heil, so Paulus, genüge es, „zu glauben und so die Speise des Lebens zu essen“. Daher gebe es auch keine gesetzliche Vorschrift über die „Austeilung, ob, wem (!) und wie oft es dem Volk zu geben“ sei. Angesichts der großen Abendmahlsstreitigkeiten im Laufe der Geschichte,1817 die bis heute die Konfessionen trennen, mutet es erstaunlich an, dass der cusanische Paulus keine Regelung für notwendig erachtet, wer das Sakrament empfängt; trotzdem wird damit keiner Beliebigkeit das Wort geredet, da der Glaube als entscheidendes Kriterium – auch für das Empfangen des Sakraments – vorgeordnet bleibt: Wie der historische Apostel lobt auch der cusanische Paulus die „Demut“ eines Gläubigen, wenn dieser sich „für unwürdig erachtet zum Tisch des höchsten Königs hinzuzutreten“.1818 Ganz in Übereinstimmung mit dem Grundanliegen des Werks verweist Paulus auch jetzt bei der Eucharistie darauf, dass Riten und Bräuche je nach Gutdünken der Kirchenführer unter den jeweiligen Zeitumständen in den unterschiedlichen Regionen verschieden sein können (und sollen), aber gerade deswegen (!) „der Friede im Glauben unversehrt andauern“ möge.1819 Das geistige Begreifen ist auch in diesem Punkt ausschlaggebend – es bleibt nicht abstrakt, weil es um glaubendes, in die Beziehung des Glaubenden zu Gott eingebundenes Begreifen geht. Das salva semper fide – „insofern der Glaube immer bewahrt bleibt“ – entspricht so dem Kriterium der geistigen Religion, welche sich gemäß Cusanus als in allen Religionen vorausgesetzt finde. Der Optimismus der cusanischen Religionsverständigung ist darin verankert, dass sich hinter den divergenten Einzelreligionen bei höchster, in seinem Sinne „intellekthafter“ Anstrengung ein verborgener Kern freilegen lässt, welcher für alle Religionen anschlussfähig sein soll: Für Cusanus ist Christus die Vollendung und Erfüllung aller religiösen Bemühungen, die Verwirklichung der menschlichen Sehnsucht, umfassende Glückseligkeit in Gottes wesentlicher Gutheit und Liebe zu finden.1820
pac. XVIII, 65; 60, 1. zusammengefasst in Denzler / Andresen (1993: 36–37). 1818 Vgl. Paulus, 1 Kor 11, 27–29. 1819 pac. XVIII, 65–66; 60,16–61,9. 1820 S. o. Anm. 1607. 1816
1817 Prägnant
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19. Der Engländer und Paulus: Die berechtigte Vielfalt der Riten und die Einheit intellekthaften Glaubens – Basis des Friedens und der Barmherzigkeit. Zusammenfassung Als letzter Weiser fragt der Engländer, was in Bezug auf die anderen Sakramente wie Ehe, Ordinationen, Firmung (confirmatio) und letzte Ölung gelte. Paulus antwortet in barmherziger, aber auch pragmatischer Weise, dass man vor allem der „Schwachheit der Menschen“ entgegenkommen müsse, soweit dies nicht „dem ewigen Heil“ zuwiderlaufe. Eine „exakte Konformität“ in allen Belangen würde den Frieden geradezu gefährden.1821 „Zu hoffen“ sei eine Einigung bezüglich der Ehe, da in „allen Völkern die Ehe vom Gesetz der Natur“ eingeführt sei, so dass „ein Mann eine wahre Ehefrau“ habe. Wie schon zuvor argumentiert Paulus auf der Basis einer naturrechtlichen Ethik.1822 Auch das Priestertum sei in jeder Religion verbreitet. In diesen Punkten sei eine Einigung leichter möglich, und es werde sich zeigen, dass die „christliche Religion“ auch nach dem Urteil der anderen in beiden Sakramenten eine „besonders lobenswerte Reinheit“ bewahre. Der Engländer fragt noch einmal nach, wie es mit Fasten, kirchlichen Ämtern, der Abstinenz von bestimmten Speisen und Getränken sowie mit Gebetsformen stehe.1823 Gemäß der Grundüberzeugung von De pace fidei – „eine Religion in der Vielheit der Riten“1824 – votiert Paulus auch hier für Freizügigkeit in den religiösen Bräuchen und rituellen Zeremonien, sofern sich keine „Konformität“ erreichen lasse, „solange nur der Glaube und der Friede bewahrt bleiben“. Möglicherweise werde die „Frömmigkeit (devotio) sogar durch eine bestimmte Vielfalt gesteigert“, wenn jedes Volk versuchen werde, das andere in religiöser Mühe und Sorgfalt zu übertreffen und so ein „größeres Verdienst bei Gott sowie Lob in der Welt“ zu erlangen.1825 Das Entgegenkommen in ethisch-moralischen Belangen steht in einer gewissen Übereinstimmung mit den Worten des historischen Paulus: Er sei „allen alles geworden“, um möglichst viele „zu retten“; ferner bestehe das „Reich Gottes nicht in Essen und Trinken“, „sondern in Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist“.1826 Am Ende von De pace fidei wird die Vielheit der Riten noch einmal ausdrücklich gewürdigt: Dies steht nicht im Widerspruch zu dem vorrangigen Bemühen im Verlauf des Dialogs, in der Zusammenkunft der „in intellektualer Höhe entrückten“1827 Weisen möglichst viele Theologoumena durch philosophische Reflexion zu klären und eine Einheit auch dort anzustreben, wo sie auf pac. XIX, 67; 61, 13–15. S. o. Kap. V.c16. 1823 pac. XIX, 67; 61,11–62,2. 1824 pac. I, 6; 7, 10–11 (s. o. Kap. V.c2). 1825 pac. XIX, 67; 62, 3–8. 1826 Paulus, 1 Kor 9, 22 b; Rö 14, 17. 1827 S. o. Kap. V.c1 mit Anm. 1181. 1821 1822
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den ersten Blick nahezu unmöglich erscheint, wie z. B. bei der Frage der Trinität und des Kreuzestodes Jesu, die beide für das Christentum zentral sind, aber im Koran abgelehnt werden.1828 Denn die philosophisch-platonische Voraussetzung, dass, wie bei Proklos gesehen, Vielheit immer auf Einheit basiert, an ihr partizipiert und diese als ihr Prinzip hat, umgekehrt aber Einheit ohne Vielheit sein kann,1829 wendet der cusanische Paulus in seinem Abschlussplädoyer noch einmal sachadäquat an, denn es kann in der sinnlich-irdischen Welt, in welcher auch die Riten als kultische Einzelhandlungen immer schon beheimatet sind, keine umfassende Einheit geben, obwohl diese Riten auf den einen wahren Gott bezogen gedacht werden sollen bzw. können: Die irdisch-materielle, sinnlich-wahrnehmbare Welt ist immer schon durch Vielheit und somit Verschiedenheit geprägt; diese Vielheit verdankt sich jedoch der Vereinzelung von Einheit, die trotzdem Prinzip auch einer solchen ‚zersplitterten‘ Vielheit ist; wahre Einheitlichkeit kann es innerhalb der materiellen Realität nie in Reinform geben. Tatsächliche Sacheinheit ist aber philosophisch über den Erweis des bestimmten intelligiblen Seins, das nur in seiner begreifbaren Prinzipienhaftigkeit besteht, erschließbar: Das Eidos ‚Dreieck‘ ist sogar mehr Dreieck als jedes Einzeldreieck, da es in sich die vielfältigen Möglichkeiten des Dreieckseins komplexiv-geeint umfasst;1830 Analoges gilt für die Eidê ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Schönheit‘1831 etc. An der Spitze dieses wahren, rein geistigen Seins steht in philosophisch-theologischer Hinsicht das Eine oder, wie schon Plotin präzisierend formuliert, der Eine als personaler höchster Gott (Uranos), unter ihm das seiende Eine als Inbegriff und Totalität der Ideen.1832 Im christlichen Platonismus erscheint diese Metaphysik in transformierter Weise, insofern es zwar auch nur einen höchsten wahren Gott geben kann, dieser in seiner wesentlichen Einheit aber gemäß einer inneren, rein relationalen Hinsicht drei Personen ist, deren eine als Logos Gottes die eidetischen Prinzipien für alle geschaffenen Seienden in sich umfasst (wobei diese Abgrenzung bereits missverständlich ist, insofern der Logos nicht substanzhaft-abgetrennt, sondern nur relational ‚für sich‘ besteht).1833 Diese Metaphysik ist keineswegs weltfremd, sondern steckt zumindest in De pace fidei den Rahmen des interreligiösen Dialogs für grundsätzlich wahrheitsfähige1834 Dialogteilnehmer ab: Wahre Einheit herrscht, platonisch gesprochen, im Intelligiblen, religiös formuliert, in dem einen wahren Gott selbst und einem auf ihn hin orientierten Glauben. Daher zielt De pace fidei auf ein intellekthaftes S. o. Kap. V.c8–9 bzw. Kap. V.c14. S. o. Kap. III.c–d und Kap. V.c4. 1830 S. o. Kap. II.5 b, III.c, V.b. 1831 S. o. Kap. II.2, II.3, II.5 c, IV.4 c, IV.5 a, V.c4. 1832 S. o. Kap. II.5 c. 1833 S. o. Kap. IV.4, IV.5 a, IV.6, V.c7–10. 1834 Zum Begriff der ‚Wahrheitsfähigkeit‘ s. o. Kap. I.2 b sowie Anm. 1443. 1828 1829
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Durchdringen theologischer Fragen, um so einen philosophisch reflektierten Glauben zu erreichen (die Frage der unvermeidlichen Perspektivität – die im Falle von Cusanus eindeutig christlich-platonisch ist – wurde oben hinreichend erörtert1835). Ein solcher durch innere Einheit charakterisierter intellekthafter Glaube steht – und dies darf wohl als eine der Stärken von De pace fidei gewürdigt werden – jedoch nicht im Widerspruch dazu, dass es eine Vielfalt an Riten geben kann und darf, weil diese als kultische Handlungen nichts rein Geistiges sein können, sondern instanzhafte Ausprägungen des Geistigen sind. Man darf also mit Cusanus Einheit respektive Vielheit gleichsam nicht an der falschen Stelle suchen oder einfordern: Denn eine rituelle Vielheit könnte, so der cusanische Paulus, gerade zu einer besonderen Einheit in der religiösen Sorgfalt und Bemühung führen, weil ein solches Wetteifern unter verschiedenen Völkern den geistig-intellekthaften Ausgriff auf Gott und das Göttliche in besonderer Weise stimuliert, ja als auseinandertretende Vielheitlichkeit auf die komplexe, das Viele in sich einende Einheit Gottes verweist, welcher zwar alle Vielheitlichkeit transzendiert, ihre positiven vielheitlichen Momente jedoch in Einheit integriert, wie dies besonders in der Trinitätstheologie von der Drei-Einheit Gottes deutlich wird. Denn eine rigoros, per Dekret verordnete Einheitlichkeit für den praktischen Kult könnte ebenso wie auch ein Gewohnheit mit Wahrheit verwechselnder1836 Traditionalismus umgekehrt sogar eine lebendige Religiosität ersticken. Auch von hier aus wird also deutlich: Die Vielfalt der Riten steht in Bezug und nicht im Gegensatz zur einheitlichen Substanz geistig-intellekthaft reflektierter Religion, vielmehr gilt auch hier, dass die Vielheit an der ihr vorausliegenden intelligiblen Einheit partizipiert. Der platonische Partizipationsgedanke bleibt so der zentrale Schlüssel für einen interreligiösen Dialog im Sinne der hier behandelten Autoren. Für Cusanus jedenfalls gehören rituelle Vielfalt und geistige Einheit begründeterweise zusammen, die Vielfalt der Riten vermag sogar das Erreichen geistiger Einheit zu begünstigen und einen Weg von der trennenden Vielheit zur friedensstiftenden Einheit zu weisen, wenn die unterschiedlichen Religionen als von einer verborgenen, nur mit großer geistiger Anstrengung zu erreichenden bzw. erahnbaren Einheit gehalten begriffen werden können. 20. Epilog: Das Studium der Religionsgeschichte und der in allen Religionen vorausgesetzte eine Gott – Rückkehr der Argumentation zu ihrem Prinzip Nachdem der eigentliche Gesprächsteil von De pace fidei mit dem Schlusswort des cusanischen Paulus beendet ist, werden Bücher hervorgeholt.1837 Wie zu Beginn des Werks1838 könnte hierin eine Anspielung auf die Offenbarung des Johannes (20, 12) vorliegen: Auch dort sind die Verstorbenen wieder gegen1835 S. o.
Kap. V.c passim. Kap. V.c2, V.c16. 1837 pac. XIX, 68; 62, 9–10. 1838 S. o. Kap. V.c3 zur Anspielung auf Off 21, 5. 1836 S. o.
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wärtig – genauso wie in der intellekthaften Entrückung von De pace fidei1839 –, und „Bücher“ (wenngleich anderer Art) „werden geöffnet“. Zumindest stellt sich analog zur Vision des Johannes die Frage, was für eine Art Bücher in der intellekthaften Ekstase von De pace fidei eigentlich geöffnet werden können. Vielleicht handelt es sich schon hier um einen vorbereiteten Übergang von der Ekstase zurück in die irdische Realität: Denn die „zahlreichen Bücher“, von denen hier die Rede ist, handeln von „den religiösen Bräuchen der Alten“. D. h., es geht jetzt schon nicht mehr um die intellekthafte Entrückung, welche für das Ergründen und Durchdringen der einen, von allen Einzelreligionen vorausgesetzten Religion1840 notwendig war, sondern um die irdischen Riten in ihrer von Paulus zuvor gerade noch einmal explizit gewürdigten Vielheitlichkeit.1841 Entsprechend werden „die in jeder Sprache besten“ Autoren bemüht: für die Römer Varro, für die Griechen Eusebius sowie viele andere (ohne namentliche Nennung). Wie Flasch (1998: 373) zu Recht unterstrichen hat, geschieht hier nichts anderes, als dass die „Weisen aller Völker […] sich gemeinsam an das Studium der Religionsgeschichte“ machen. Als Resultat dieser Erörterungen findet die Grundthese von De pace fidei ihre Bestätigung:1842 Die „Unterschiedlichkeit“ zwischen den Religionen besteht weitaus „mehr in den Riten als in der kultischen Verehrung des einen Gottes, den von Anfang an alle vorausgesetzt und in allen Kulten verehrt“ hätten, auch wenn diese Tatsache von der Schlichtheit der Menschen, verführt durch die „feindliche Macht des Fürsten der Finsternis“, oft nicht bemerkt worden sei.1843 Auch hier ergibt sich ein Rückbezug zur Rede Gottes am Anfang des Werks, der beklagte, dass durch den Teufel viele Menschen in der sinnlichen Welt gefangen gehalten würden und so sich selbst – im Sinne des inneren Menschen – gar nicht mehr kennen, nicht mehr ihm gemäß leben und nicht zur Gotteserkenntnis gelangen würden:1844 Diese finsteren geistigen Mächte verhindern bzw. erschweren es gerade, das Verbindende zwischen den Religionen in den Blick zu nehmen, welches keineswegs ohne Bezug zu den sinnlichen Riten ist, aber ihnen doch wesentlich – gemäß dem intelligiblen Sein – immer schon vorausliegt und diese Verschiedenheit transzendiert. Beachtenswert erscheint, dass ganz am Ende von De pace fidei noch einmal in aller Einfachheit, ohne systematisch-dogmatische Spezialfragen zu tangieren, von der „Verehrung des einen [sc. wahren] Gottes“ gesprochen wird, die sich in allen Religionen finde: Wie zu Beginn der Aufweis der einen göttlichen Weisheit als Prinzip aller Einzelweisheiten (gemäß dem platonischen Primat des Einen vor dem Vielen) genügte, um einen ersten, allgemeinen Konsens zwischen den S. o. Kap. V.c1–2 (pac. I, 2; 4, 9). S. o. Kap. V.c4 mit Anm. 1311. 1841 S. o. Kap. V.c19. 1842 S. o. Kap. V.c3. 1843 pac. XIX, 68; 62, 10–18. 1844 S. o. Kap. V.c3. 1839 1840
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Weisen als Vertretern ihrer jeweiligen Religionen zu erzielen,1845 so stehen auch am Ende nicht die Fragen des Polytheismus, der Trinität, der ontologischen Stellung des Weisheits-Logos usw., ja auch nicht die Kritik an diesen Theologoumena mehr im Vordergrund. Dies heißt vermutlich nicht, dass diese Fragen eben letztlich für Cusanus doch weniger wichtig wären; es zeigt aber, dass nach der im Sinne der inneren Logik von De pace fidei erreichten, intellekthaften Überwindung trennender theologischer Streitpunkte die gedankliche Bewegung wieder zu ihrem Ausgangspunkt, zu ihrem Prinzip zurückkehrt – durchaus entsprechend der neuplatonisch verstandenen Seinskonstitution gemäß der Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr (monê – prohodos – epistrophê).1846 Für die praktische Dimension des interreligiösen Dialogs bei Cusanus bedeutet dies nichts Geringeres, als dass angesichts der in geistig-intellekthafter Konkordanz nun gemeinsam möglichen Verehrung des einen Gottes die Verschiedenheit der Religionen jetzt positiv als Ausdruck genau dieser Verehrung gesehen werden kann – und nicht mehr als Grund trennender Zwietracht und kriegerischer Auseinandersetzungen. De pace fidei eröffnet diese Möglichkeit im Sinne des aristotelischen dichtungstheoretischen Möglichkeitsbegriffs:1847 Ob diese Möglichkeit auch in der geschichtlichen Wirklichkeit realisiert wird oder werden kann, ist eine Frage, die außerhalb des Skopos dieses Werks steht; als fiktionaler Dialog will De pace fidei diese Möglichkeit jedoch in ihrer realen, weil philosophischtheologisch begründeten Denkbarkeit aufzeigen – sie besteht freilich nur, wenn es auch eine tatsächlich, für sich selbst bestehende intelligible Wirklichkeit über die sinnlich-materielle Realität hinaus gibt.1848 Das Werk schließt mit der „Eintracht der Religionen im Himmel der Ratio“.1849 Über diesen Satz ist viel spekuliert worden: Dass, wie Flasch gemeint hat, Cusanus hier seine eigene Lehre von der coincidentia oppositorum auf der Ebene des Intellekts außen vor gelassen haben sollte,1850 erscheint für einen Denker wie Cusanus wenig wahrscheinlich, zumal eingangs von einer altitudo intellectualis die Rede war.1851 Wahrscheinlicher ist, dass sich De pace fidei sehr wohl und gerade auf die intellektuale Eintracht im Intelligiblen bezieht und von daher auch motiviert ist, dass aber speziell die Eintracht, mit welcher die Religionsvertreter nun wieder zu ihren Völkern entlassen werden, eine der komplexiven Intellekterkenntnis untergeordnete, rational-diskursive Erkenntnis sein muss, insofern das Intelligible nie in Reinform, sondern bestenfalls auf rational-zergliederte Weise im Irdischen entfaltet werden kann. Dies stünde zumindest auch im Ein S. o. Kap. V.c4–5. Vgl. dazu Kap. III.f, V.b (mit Anm. 1150). 1847 S. besonders Kap. V.c1 und V.c4. 1848 S. o. Kap. I.2 b, II.2 und III.c. 1849 pac. XIX, 68; 62, 19–20. 1850 S. o. Anm. 1318, mit Diskussion der Übersetzungsvarianten von in caelo rationis con‑ cordia. 1851 S. o. Kap. V.c1 mit Anm. 1181. 1845 1846
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klang mit dem zuvor bereits eingeleiteten Übergang von der ‚intellekthaften Ekstase‘ zum religionsgeschichtlichen Studium der innerweltlichen Riten: Die Entrückung ist nun zu Ende, die Ebene des reinen, transzendenten Intellekts muss wieder verlassen werden – analog zum Ende von Platons Höhlengleichnis, als der Befreite, welcher das wahre Licht gesehen hat, wieder in die Höhle zurückkehren soll, um die Mitgefangenen, wenn möglich, zu befreien.1852 Die Weisen werden also vom „König der Könige“ wieder zur Rückkehr in ihre irdische Heimat aufgefordert, um die „Völker zur Einheit der wahren (Gottes‑)Verehrung zu führen“; auch hier stehen ihnen „dienende Geister“ zur Seite – wie schon in der ekstatischen Entrückung der Weisen im Dialog mit dem Logos, Petrus und Paulus.1853 Danach sollen sie sich in Jerusalem versammeln: Wie zu Beginn von De pace fidei der Schauplatz des Dialogs Jerusalem war, der hier als geistiger Ort interpretiert wurde,1854 geht der Weg der Weisen nun analog auch im Irdischen nach Jerusalem, „gleichsam zum gemeinsamen Zentrum“. Dort sollen sie „in aller Namen den einen Glauben annehmen und darauf den ewigen Frieden sichern, auf dass in Frieden der Schöpfer aller gelobt werde, gepriesen in Ewigkeit – Amen.“1855
1852 Platon, resp. 516 e–517 a und s. dazu Halfwassen (2008 a: 42). Zum Höhlengleichnis vgl. auch oben Kap. IV.4 c, IV.6, V.c2. 1853 S. o. Kap. V.c3. 1854 S. o. Kap. V.c3. 1855 pac. XIX, 68; 62,20–63,5.
VI. Antik-mittelalterliche Positionen und modernes Denken: Was bleibt? Mono‑ und Polytheismus, Rationalität, Religion, Wahrheitsfähigkeit und Theodizee im Kontext des interreligiösen Dialogs 1. Rationalität, Gottesbezug, Wahrheitsfähigkeit und Wahrheitsansprücheals Kriterien eines interreligiösen Dialogs cusanisch-platonischer Prägung – undenkbar im 21. Jhd.? G. E. Lessing, J. Assmann und S. Keshavjee Das dem vorliegenden Buch vorangestellte Zitat ist einer konkreten Heiligen Schrift entnommen – der des Judentums, welches bekanntlich zugleich die Basis des Christentums darstellt: „Gott ist Richter mitten unter den Göttern“ (Ps 82, 1 b). Es setzt jedoch nicht nur eine (oder zwei) konkrete Religion(en) voraus, sondern lenkt den Blick auf die vielleicht allgemeinste theologische Prämisse von Religion: Als Ausdruck eines Glaubens an Gott respektive an Götter oder das Absolute lässt sich Religion gemäß dem Psalmzitat schwerlich unter Ausblendung der Gottesfrage verhandeln.1856 Nikolaus von Kues trägt dieser Prämisse innerhalb des visionsartigen Entwurfs von De pace fidei Rechnung, wenn die Religionsvertreter in intellekthafter Entrückung in den Dialog mit Gottes Vernunft, dem Logos, eintreten.1857 Damit sind von vornherein mindestens zwei Unterschiede markiert, welche dieses Konzept eines interreligiösen Dialogs von dem im 21. Jhd. n. Chr. wohl vorherrschenden Modus des interreligiösen Gesprächs unterscheiden: (1) De pace fidei setzt eine ganz bestimmte, argumentativ begründete Erkenntnisebene voraus – die des platonisch verstandenen Intellekts, welcher nicht mystische Schwärmerei meint, sondern das diskursiv-rationale Denken aufgreift und auf dessen Prinzip hin überschreitet. D. h., rationales Denken wird hier keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern in gesteigerter Weise fortgesetzt. (2) Interreligiöser Dialog muss als religiöser Dialog in irgendeiner Form vor Gott bzw. Göttern geführt werden können, und zwar in rational verantwortbarer Weise. S. o. Kap. I.1; IV.2.3 a. S. o. Kap. V.c1.
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VI. Antik-mittelalterliche Positionen und modernes Denken
Beide Kriterien könnten in ihrem Anspruch kaum höher liegen. Ob sie letztlich einlösbar sind, sollte, wenn überhaupt, sicher nicht von vornherein entschieden werden. Es lohnt sich indes, von vornherein diese Kriterien von Cusanus her zu fokussieren, um so das Spezifische seines Ansatzes zu würdigen – gerade angesichts des Befundes, dass der postmoderne interreligiöse Dialog einen zumeist ganz anderen Charakter zeigt und viel stärker auf pragmatische und politische Fragen ausgerichtet ist,1858 welche, im Sinne cusanischer Terminologie, bestenfalls die Riten und ihre Ausübung betreffen, nicht aber ihren religiösen Kern bzw. ihre geistige Substanz. Genau um diese ist es Cusanus aber zu tun: Setzen nicht alle Religionen in irgendeiner Form eine für sich bestehende geistige Wirklichkeit voraus? Ist die Kritik an der christlichen Trinitätstheologie im Islam und Judentum nicht (zumindest in bestimmter Hinsicht) berechtigt und nachvollziehbar? Ist das Christentum nicht trotzdem eine klar monotheistische Religion? Ist jemand Polytheist, kann er dann den Primat des Einen vor dem Vielen tatsächlich in Abrede stellen? Hat der auf den ersten Blick exklusiv wirkende soteriologische Anspruch des Christentums nicht dennoch ein inklusives Ziel? Es wäre zweifellos naiv, ja vermutlich sogar fahrlässig und wohl auch von Cusanus’ Selbstverständnis her ein Missverständnis, zu glauben, dass sich durch die bloße Lektüre von De pace fidei gleichsam ‚alle‘ interreligiösen Fragen und Spannungen lösen ließen: Die Lektüre des Textes an sich ist nicht dasselbe wie das intellekthafte Durchdringen seines Sachgehaltes, genau darauf aber kommt es Cusanus an. Und dies bedeutet zugleich, dass es nicht darum gehen kann, ob De pace fidei gewissermaßen alle entscheidenden Fragen abhandelt (dafür bleibt auch dieses Werk zwangsläufig zu partikulär); vielmehr geht es für Cusanus darum, dass das menschliche Denken auf Fährten und zu Perspektiven gelangt, auf deren Bahnen sich ein geistiges Durchdringen religionsphilosophischer Fragen und als dessen Folge dann auch fruchtbare zwischenmenschliche Diskurse ereignen können. Das (Durch‑)Denken bleibt so immer unhintergehbare Aufgabe, die jedem einzelnen Menschen im Rahmen des ihm Möglichen obliegt und letztlich nur von ihm selbst eingelöst werden kann.1859 Weder die Lektüre allein würde dem eigentlichen Ziel dieses Werks somit gerecht noch ein unreflektiertes 1858 So wurde beispielsweise in der Wochenzeitung Die ZEIT (Ausgabe vom 14. 7. 2016, S. 7) nach zehn Jahren „Deutsche Islamkonferenz“ (DIK) eine eher nüchterne Bilanz gezogen, weil inzwischen, so der Artikel, kaum noch Fragen wie das Verhältnis von „Männern und Frauen, Islam und Demokratie, Säkularismus und Laizismus, Terrorismus und Islamophobie“ thematisiert würden, sondern „nur noch“ Aspekte wie „Wohlfahrt, Altenpflege und muslimische Bestattungen“. Ob diese Darstellung in ihrem Urteil über die DIK, deren grundsätzlicher Impetus für einen interreligiös-interkulturellen Dialog wohl kaum hoch genug zu würdigen ist, gerechtfertigt ist, sei hier dahingestellt; interessant mag aber sein, dass zumindest die Themen, welche früher und heute (angeblich) auf den Tagesordnungen standen bzw. stehen, in jedem Fall ganz andere sind als diejenigen, welche Cusanus in De pace fidei für vorrangig erachtet. 1859 In De pace fidei ist es immerhin Gott selbst, der darauf hinweist, dass vielen Menschen die Möglichkeit einer solchen geistigen Aktivität verwehrt sei (s. o. Kap. V.c3).
1. Rationalität, Gottesbezug, Wahrheitsfähigkeit und Wahrheitsansprüche
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D’accord mit seinen Positionen – denn dann würde nur der Pfad der parmenideisch-platonischen doxa, der bloßen Meinung, beschritten, nicht aber der Weg des geistigen Durchdringens, welcher gemäß dieser Tradition allein so etwas wie Wahrheitserkenntnis ermöglicht.1860 Meinungen sind dabei nicht an sich verwerflich, sondern unabdingbarer Möglichkeitsraum menschlicher Interaktion: Ihre sachliche Stichhaltigkeit beziehen sie bekanntlich aus ihrer argumentativen Begründung; auch Wahrheit kann jedoch auf dem Markt der Meinungen wiederum zur bloßen Meinung herabsinken, wenn der argumentative Bezugsrahmen nicht mitdurchdacht wird.1861 Zur allgemeinen gegenwärtig-postmodernen Situation gehört oft das (vermeintlich) aufgeklärte Abwinken, wenn in irgendeiner Form so etwas wie Wahrheitsansprüche erhoben und geltend gemacht werden: Der Glaube, dass Menschen wahrheitsfähig sein könnten, erscheint angesichts der Erfahrungen von 1860 S. o.
Kap. II.1 und II.2. Vgl. in dieser Hinsicht Hannah Arendt (2016: 45). Arendts Kritik an Platons vermeintlicher „Tyrannei der Wahrheit“ (ibd., 44) verfehlt jedoch ihr Ziel: Es gehört gerade zur Grundeinsicht platonischen Denkens, dass die sinnlich-wahrnehmbare Welt vielheitlich ist, also z. B. viele Menschen zu Recht auch sehr unterschiedliche Dinge als schön empfinden. Die Frage, ob sich in den vielen Manifestationen von Schönheit auf rein intelligibler, nicht-dinglicher, nicht-gegenständlicher Ebene ein gemeinsamer Einheitsgrund des Schönen im Sinne einer platonischen Idee aufzeigen lässt (s. o. Kap. II.2), widerspricht der Pluralität schöner Dinge in keiner Weise: Ein solcher intelligibler Einheitsgrund verhilft vielmehr dazu, auch eine fremde Schönheitsauffassung verstehen zu lernen, wenn man z. B. erkennt, warum jemand anders etwas als schön empfindet und was genau er daran als schön begreift, obwohl man selbst dies vielleicht zunächst gar nicht als schön erachtet. Denn beurteilt man diesen Befund auf rein dinglich-gegenständlicher Ebene, dann stehen ja nur die konträren Meinungen entgegen: ‚Dies ist schön!‘ und ‚Dies ist hässlich!‘. Vermittelbar sind beide dann nicht mehr, vielmehr kann diese Diskrepanz zu erhitzten Auseinandersetzungen bis hin zu totalitären Dogmatismen führen. Für einen Platoniker ist indes klar, dass kein einzelner Gegenstand Gradmesser des Schönen sein kann, dass aber auch nicht einfach generalisierend Behauptungen getroffen werden können, ob Gegenstand x schön ist oder nicht; vielmehr ist ein Gegenstand dann schön, wenn ihn jemand begründeterweise als schön empfindet, also nicht nur ein Geschmacksurteil gegen ein anderes steht, sondern expliziert werden kann, was genau im Einzelfall als schön empfunden wurde. Ein solches Geschmacksurteil kann nicht verabsolutiert, muss auch gar nicht geteilt, kann aber dann immerhin – bei wohlwollendem Hinhören – nachvollzogen und geprüft werden: Wenn z. B. die behauptete Schönheit von Orgel und Gitarre in einem Musikstück gar nicht hörbar ist, weil es sich in Wahrheit um ein Stück für zehn Schlagzeuger handelt, ist ein solches Fake-Urteil schnell entlarvt. Offenbart sich ein vermeintlich im ‚seriösen‘ Sinne Schönes als Karikatur, ist es vielleicht zwar nicht im vorgeblichen Sinne ‚schön‘, aber gerade eine besonders gelungene Karikatur – man denke nur an das berühmte Stück „Hurz!“ von Hape Kerkeling. Die Unterscheidung zwischen intelligibler Sache und dinglicher Instanz begründet jedenfalls platonisch keine Tyrannei der Wahrheit, sondern liefert gerade einen Maßstab für Toleranz, ohne einer Beliebigkeit der Meinungen das Wort zu reden, aber auch ohne diesen Meinungen umgekehrt ihre Berechtigung streitig zu machen. Ein solcher Befund hinsichtlich des platonischen Denkens ließe sich dann sogar – entgegen ihrer Intention – auch mit Arendts Position vereinbaren: „Das politische Element der Freundschaft liegt darin, dass in einem wahrhaftigen Dialog jeder der Freunde die Wahrheit begreifen kann, die in der Meinung des anderen liegt. Der Freund […] erkennt, auf welche besondere Weise die gemeinsame Welt dem anderen erscheint, der als Person ihm selbst immer ungleich und verschieden bleibt“ (Arendt ibd., 53). 1861
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VI. Antik-mittelalterliche Positionen und modernes Denken
diktatorischer Usurpation im 20. Jhd. (verständlicherweise) wie eine Illusion – ist ‚Wahrheit‘ nicht im Grunde nur eine beliebige Ausübung von Deutungsmacht? Aber nicht erst im 20. Jhd. ist die Wahrheitsfähigkeit des Menschen fragwürdig geworden. In einem Klassiker der Aufklärung aus dem Jahre 1779, Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise,1862 ist es gerade der Verzicht auf die (angebliche) „Tyrannei“ des Wahrheitsanspruchs (Nathan III, 7, V. 2036), welcher den Frieden zwischen den Religionen garantieren, ja erst ermöglichen soll: Keiner der drei Ringe sei der „echte“, ebenso wenig eine bestimmte Religion die „echte“, wobei das Kriterium der ‚Echtheit‘ einzig in dem Primat historischer Ursprünglichkeit verankert sein können soll: „Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? / Geschrieben oder überliefert! – Und / Geschichte muß doch wohl allein auf Treu / Und Glauben angenommen werden“ (ibd., V. 1975–8). Bei Cusanus erwächst die Wahrheit einer Religion dagegen weder aus ihrer bloßen historischen Verortbarkeit (als vermeintlichem Garanten von ‚ursprünglicher Echtheit‘) noch aus dem Glauben an etwas immer schon in der Vergangenheit Liegendes, sondern aus der argumentativ begründeten, intelligiblen Einsehbarkeit ihrer Inhalte. Dies kann durchaus als eine Stärke betrachtet werden, da hier jede Religion – unabhängig davon, ob sie älter oder jünger ist – auf ihre geistige Substanz hin zu durchleuchten ist, bevor sie bewertet werden kann: Es ist diese Intelligibilität von Religion, welche es in De pace fidei erst ermöglicht, dass alle Religionsvertreter einen Zugang zum Logos, zum Quell der Vernunft in Gott selbst, haben und sowohl mit dem Logos wie auch untereinander in Dialog treten können, ohne dass sie ihre verschiedenen Wahrheitsansprüche auszublenden hätten.1863 In Lessings Nathan bleibt dagegen nur der radikale Wahrheitsverzicht übrig, so dass jeder Mensch – in reiner Subjektivität – zwar noch ‚seine Wahrheit‘ für sich behaupten mag,1864 die verschiedenen Wahrheitsansprüche aber ganz grundsätzlich nicht mehr miteinander vermittelbar sein sollen bzw. dürfen. In einer Linie mit Lessing stehen nicht zuletzt auch die Thesen des Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann, welcher den angeblich von Parmenides’ Unter S. o. Anm. 1443. S. o. Kap. V.c3, V.c5. 1864 „So glaube jeder sicher seinen Ring / Den echten“ (Lessing, Nathan III, 7, V. 2034–5). – Aus der Perspektive des Christentums analysiert in diesem Sinne Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 132): „Die philosophische Grundlage des Christentums ist durch das ‚Ende der Metaphysik‘ problematisch geworden, seine historischen Grundlagen stehen infolge der modernen historischen Methoden im Zwielicht. So liegt es auch von daher nahe, die christlichen Inhalte ins Symbolische zurückzunehmen, ihnen keine höhere Wahrheit zuzusprechen als den Mythen der Religionsgeschichte – sie als Weise der religiösen Erfahrung anzusehen, die sich demütig neben andere zu stellen hätte. In diesem Sinn kann man dann – wie es scheint – fortfahren, ein Christ zu bleiben; man bedient sich weiterhin der Ausdrucksformen des Christentums, deren Anspruch freilich von Grund auf verändert ist: Was als Wahrheit verpflichtende Kraft und verlässige Verheißung für den Menschen gewesen war, wird nun zu einer kulturellen Ausdrucksform des allgemeinen religiösen Empfindens, die uns durch die Zufälle unserer europäischen Herkunft nahegelegt ist.“ 1862 1863
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scheidung zwischen Sein und Nicht-Sein herrührenden „Denkzwang“ von wahr und falsch (als griechisches Äquivalent der Mosaischen Unterscheidung) für den Keim aller Ausgrenzung erachtet.1865 Für Cusanus ist dagegen das Kriterium von wahr und falsch gerade der Weg, um Widersprüche genauer lokalisieren und dann auch miteinander vermitteln zu können: In besonderer Weise kann Cusanus z. B. zeigen, dass die Kritik an der christlichen Trinitätstheologie aus der Perspektive von Judentum und Islam durchaus berechtigt ist, insofern damit eine Drei-Götter-Lehre attackiert wird; ebenso wahr ist aber auch, dass die klassische Trinitätstheologie mit ihrer Unterscheidung des einen Wesens Gottes und seiner innerrelationalen Dreifaltigkeit gar keine Drei-Götter-Lehre entwirft.1866 Beide Theologien sind somit zwar unterschiedlich, kreisen aber beide trotzdem einen allgemein bedenkenswerten und argumentativ stimmigen Aspekt ein, der mit dem jeweils anderen letztlich gar nicht kollidieren muss. Dies einzusehen, ist für Cusanus ausschließlich auf dem parmenideisch-platonischen „Wahrheitspfad“ und nur unter großer gedanklicher Anstrengung möglich – es ergibt sich aber auf diesem Weg durchaus kein geringes Resultat, welches zudem theologische Wahrheitsansprüche nicht negiert, sondern vielmehr ernst nimmt. Zu Recht stellt Riedenauer fest: Assmanns Kontrastierung eines kosmo‑ und eines monotheistischen Ansatzes erlaubt also, der überlegenen Integrationskraft des cusanischen Denkens inne zu werden und an ihr Verkürzungen zu ermessen, die in heutigen Lösungsvorschlägen enthalten sind. Auch für Assmann ist das Ziel interreligiöse Verständigung und interkulturelle Versöhntheit. Der Weg dorthin, den er empfiehlt, ist eine Rücknahme der ‚mosaischen Unterscheidung‘ von wahr und falsch in religiösen Fragen. […] Dagegen spricht: 1. Religionen können sich nicht begreifen als ‚Als-ob-Religion‘, als heilsame Fiktion. Menschen können darauf nicht ihr Leben […] gründen (Riedenauer 2007: 473).1867
Dass die radikale Ausgrenzung des Wahrheitsanspruchs im 21. Jhd. kaum noch als Königsweg für ein interreligiöses Miteinander dienen dürfte, zeichnet sich mittlerweile bereits hier und da ab. Das Gleiche gilt aber auch für das andere Extrem, wenn jeder Repräsentant einer bestimmten Religion und Kultur beharrlich auf genau diese pocht und sie rigoros gegen alle Hinterfragungen abschirmt – etwa durch das bloße Behaupten ‚der Tradition‘. Traditionalismus im Stile von: ‚Das ist eben so, war schon immer so, und hat auch so zu bleiben, weil es immer Assmann (2003: 23–25), s. o. den Schluss von Kap. II.1. S. o. Kap. V.c8–9. 1867 Vgl. allgemein Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 180): „Die Wahrheitsfrage ist unausweichlich. Sie ist dem Menschen notwendig und betrifft gerade die Letztentscheidungen seines Daseins: Gibt es Gott? Gibt es die Wahrheit? Gibt es das Gute? Die Mosaische Unterscheidung ist auch die Sokratische Unterscheidung, so könnten wir sagen. An dieser Stelle wird der innere Grund und die innere Notwendigkeit für die historische Begegnung von Bibel und Hellas sichtbar. Was beide miteinander verbindet, ist eben die an die Religion gestellte Frage nach der Wahrheit und nach dem Guten als solchen […].“ 1865 1866
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so war‘, führt gerade nicht zum Dialog.1868 Bei Cusanus findet sich nicht umsonst die wichtige Unterscheidung zwischen Wahrheit und Gewohnheit, welche beide nicht miteinander verwechselt werden dürfen.1869 Die Wahrheitsansprüche selbst werden in De pace fidei sowohl ernst genommen wie auch zur Disposition und Diskussion gestellt. Die politische Tragweite derartiger Überlegungen ist heute angesichts (vorgeblich) religiös motivierter terroristischer Gewalt mit Händen zu greifen: In De pace fidei wird derartiges bereits in unmissverständlicher Weise als PseudoReligiosität kritisiert.1870 Von Cusanus her bleibt es jedoch fraglich, ob der Ansatz, ausschließlich das reine Tolerieren des jeweils Fremden einzufordern, ohne dies auch tiefgründig verstehen und durchdringen zu wollen, wirklich eine langfristige Friedenssicherung unter den Religionen zu erreichen vermag: Die Vermeidung religiöser ‚Reizthemen‘ bzw. das Bestreben, „euren, meinen und deren Gott“ besser „beiseite zu lassen“, weil es „in diesem Spiel keine Sieger“, sondern „nur Verletzte“ gebe, wie es der renommierte Journalist Josef Joffe in der ZEIT noch im Angesicht der Pariser Terror-Attentate auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ gefordert hat,1871 mag vordergründig im Sinne einer Krisenintervention und allgemeinen Beruhigung eines entfesselten Fanatismus zwar angemessen erscheinen. Die sachliche Auseinandersetzung kann aber so weder ersetzt, noch sollte sie ‚tabuisiert‘ werden: Nicht zufällig zitiert Ulrich Greiner in derselben Ausgabe1872 die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, dass die „ ‚Geistlichkeit des Islams‘ “ die „Gewaltfrage theologisch klären“ müsse und die Christen „ ‚noch mehr und selbstbewusst‘ “ über ihr Christentum sprechen und dieses vertreten sollten.1873 All dies ist unter Ausblendung der Gottesfrage und religiöser Wahrheitsansprüche kaum möglich. Der von Cusanus repräsentierte Ansatz zielt somit nicht einseitig auf ein bloßes Nebeneinanderher-Existieren unterschiedlicher Kulturen und Religionen unter Absehung bzw. Ausblendung ihrer Inhalte: Vielmehr kann tatsächliche Toleranz in seinem Sinne nur gelingen, wenn die gemeinsame Anstrengung unternommen wird, das jeweils Eigene zur Disposition zu stellen und einer sachlichen, 1868 Vgl. Spaemann (2012 a: 64) dazu, dass etwa in der Theologie Thomas von Aquins nicht zuerst die persönlich-individuelle „Erfahrung“ als Gradmesser zählt, sondern das sachliche Argument an sich. 1869 S. o. Kap. V.c2, V.c16 und V.c19. 1870 S. o. Kap. V.c3. 1871 DIE ZEIT, 22. 1. 2015 (S. 1). 1872 DIE ZEIT, 22. 1. 2015 (S. 52). 1873 In ähnlicher Weise hatte dies – um nur ein Beispiel zu nennen – 2004 schon der Theologe Klaus Berger, gerade auch im Hinblick auf den Islam, eingefordert und auf die Frage ‚Müssen wir Angst haben vor dem Islam?‘ seine Antwort so formuliert: „Nein, dann nicht, wenn wir mutiger zu unserem Glauben stehen […] und wenn wir mutig unsere Frömmigkeit auch zeigen. […] Die aufgeklärte Verdünnung christlichen Glaubens in Tateinheit mit westlichem Imperialismus ist jedenfalls am wenigsten geeignet, auf eine Basis der Verständigung zu kommen. Davor graut dem Islam – mit Recht“ (Berger 2004: 515–6).
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argumentativen Diskussion auszusetzen. Einer solchen, das gesellschaftliche Zusammenleben unmittelbar tangierenden Aufgabe wird sich jedoch, wie auch schon in De pace fidei anklingt,1874 keineswegs jeder einzelne Mensch widmen können – die unterschiedlichen Interessenlagen, Begabungen und die daraus resultierende gesellschaftlich organisierte Arbeitsteilung lassen das letztlich gar nicht zu. Umso wichtiger erscheint es daher, dass die Gesellschaft als ganze ein Interesse daran hat, dass Geisteswissenschaftler wie Philosophen, Philologen und Theologen genau diese Arbeit in der und für die Gesellschaft übernehmen. Bei wohlwollender, die vielschichtigen Argumentationen und Prämissen würdigender Lektüre mag De pace fidei einen beispielhaften Weg weisen, den abzuschreiten – sowie zu überschreiten – sich auch im 21. Jhd. n. Chr. lohnen könnte. Dabei geht es nicht darum, die historischen Rahmenbedingungen des Werks außer Acht zu lassen; wenn sich in ihm jedoch sachlich-argumentativ grundsätzlich bedenkenswerte Pfade auffinden lassen, dann weisen diese – gerade im Interesse eines interreligiösen Gesprächs – über ihren historischen Ort zugleich hinaus.1875 In diesem Sinne wollte die vorliegende Studie sowohl die eigenen Voraussetzungen der hier behandelten Autoren erörtern als auch zugleich antik-mittelalterliches Denken gleichsam ‚auf grundsätzliche Augenhöhe‘ mit (post‑)modernen Ansätzen und Fragen treten lassen. Ob dies gelungen ist, muss die / der Leser(in) entscheiden. Dass jedoch speziell der Grundansatz von De pace fidei auch im 21. Jhd. nicht per se unmöglich ist, muss hier vielleicht gar nicht mehr ‚theoretisch erwiesen‘ werden. In seinem fiktionalen Roman Der König, der Weise und der Narr: Der große Wettstreit der Religionen unternimmt der Theologe und Religionswissenschaftler Shafique Keshavjee (2000)1876 etwas durchaus Vergleichbares:1877 Wie in Cusanus’ De pace fidei werden „die ehrwürdigen Oberhäupter aller Religionen eingeladen“, um „ihren Glauben vorzustellen“ (Der König, 25). Wie bei Cusanus der intendierte Autor von De pace fidei lediglich als Empfänger der Vision, die er aufschreibt, eingespiegelt ist, wird auch der intendierte Autor in Der König nur als „Berichterstatter“ in einer Fußnote am Ende des Romans (244–5, Anm. 1) benannt – in beiden Werken darf der intendierte Autor mit dem realen, extradiegetischen Autor identifiziert werden. Anlass für diesen Konvent in Der König ist jedoch keine intellekthafte, visionsartige Entrückung wie bei Cusanus, sondern das Problem, dass ein König nicht weiß, welche Religion er seinem Land geben soll. Zwar ist auch dieses Land in gewisser Weise ‚entrückt‘, weil scheinbar „fern“ und abge-
S. o. Kap. V.c2. Kap. I.2 a (mit Anm. 2). 1876 Französisches Original: Le Roi, le Sage et le Bouffon (Keshavjee 1998). 1877 Für den sachlichen Vergleich ist es zweitrangig, ob Keshavjee hier – was nahe liegen würde – durch Cusanus direkt beeinflusst worden ist oder nicht. 1874
1875 S. o.
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schieden von den „Probleme[n] der übrigen Welt“ (Der König, 13). Das Setting der Handlung ist jedoch klar postmodern:1878 Einen besonderen Stellenwert hatte hingegen der Sport, der sich hervorragend dazu eignete, überschüssige Energie und potenzielle Aggressionen zu kanalisieren. Mehr als alles andere hielt er das Land zusammen. Die großen Ideologien der Rechten, der Linken, der Grünen oder Roten weckten niemandes Interesse mehr. In einer mehr und mehr vernetzten und zugleich immer stärker individualisierten Welt war die Bildung einer eigenen Weltanschauung zur Privatangelegenheit geworden. Seit vielen Jahren mussten immer mehr Kirchen schließen […]. […] Wozu sollte man sich mit trübseligen Leuten an einem ungemütlichen Ort treffen und sich einem ebenso unverständlichen wie langweiligen Wortschwall aussetzen? […] So waren zahlreiche religiöse Gebäude zu Museen oder Schwimmbädern umgewandelt worden (Der König, 18).
Durchaus in einer gewissen Analogie zur intellekthaften Vision in De pace fidei werden bei Keshavjee dem König und seinen Untergebenen, dem Narren und dem Weisen, durch „eine Art geistiges Wesen“ simultan Träume zuteil (Der König, 19).1879 Allen dreien wird in einer geheimen Botschaft, die auf „Gott“ zurückgehe, bedeutet, dass sie und das Volk sterben müssten (20–21). Die postmoderne Ausblendung religiös-philosophischer Sinnfragen wird somit kritisiert. Über eine direkte Anspielung an Friedrich Nietzsches „Wir haben ihn [sc. Gott] getötet“1880 (23) gelangt der König schließlich zu der Einsicht: ‚Ich habe ihnen [sc. meinem Volk] Arbeit und Freizeit gegeben, Brot und Spiele. Vielleicht aber fehlt meinem Volk ein tieferer Sinn, nach dem es sein Leben ausrichten kann. Mein Volk braucht eine Religion!‘ (Der König, 24).
Der große Wettstreit der Religionen – durchaus ähnlich der positiven Bewertung des Wetteifers unter den Religionen am Ende von De pace fidei1881 – beginnt also, wobei letztendlich nicht die „Oberhäupter“ der Religionen geladen werden, sondern ein jeweils „relativ junge[r] Vertreter“. Als Berater des Königs empfiehlt der Narr zudem, neben den Religionsvertretern auch einen Atheisten sprechen zu lassen (26). Eine unterschwellige Kritik am Atheismus, weil der Atheist vom Narren gefordert wird, scheint nicht intendiert, denn der Narr hat innerhalb des Romans einfach die Aufgabe, das Prozedere jeweils durch gegenläufige Tendenzen zu bereichern. Freilich markiert die Tatsache, dass auch ein Atheist am Wettstreit der Religionen teilnimmt, einen entscheidenden Unterschied zu Cusanus’ De pace fidei: Während für Cusanus die Voraussetzung der einen göttlichen Weisheit durch die einzelnen Weisen immer schon eine theistische Prämisse 1878 Im Verlauf des Werks wird z. B. auch auf das Zweite Vatikanische Konzil rekurriert sowie Kritik an christlichen Antijudaismen, etwa bei Gregor von Nyssa und Martin Luther, geübt (Der König, 178–180). 1879 Dies erinnert an die simultane Erscheinung der Isis gegenüber Lucius und ihrem Priester in Apuleius, met. XI, 27, 8 (vgl. Drews 2009: 615). 1880 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft III, 125 (Der tolle Mensch). 1881 S. o. Kap. V.c19.
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ist,1882 trägt Keshavjee im postmodernen Kontext aus guten Gründen der Inklusion auch einer atheistischen Perspektive im Wettstreit der Religionen Rechnung. Obwohl sich also der Ansatz von De pace fidei, dass sich Vertreter verschiedener Religionen zu einem Dialog versammeln, auch in Keshavjees Der König wiederfindet, bestehen in der Ausführung der Details durchaus Differenzen, welche aber beide Werke keineswegs grundlegend voneinander trennen: Bei Cusanus treten die Weisen in Entrückung vor Gott selbst bzw. seinen Logos, wohingegen der Wettstreit bei Keshavjee in einem irdischen Land stattfindet. Während bei Cusanus die intellekthaft-philosophische Ebene fast durchgehend als einzig angemessener Zugang erscheint und entsprechend dominiert, ist der Konvent bei Keshavjee vom Charakter her lockerer, wird zum Teil durch (auch dramatische) Zwischenfälle unterbrochen, zudem gibt es nach jedem Vortrag eines der Vertreter eine „Konfrontation“ und Diskussion mit den Teilnehmern, in welchen Rückfragen und Antworten ausgetauscht werden.1883 Wie bei Cusanus „verkörpern“ auch bei Keshavjee die Weisen „die Weisheit dieser Welt in ihrer ganzen Vielfalt“ (Der König, 91884). Neben dem König, dem Narren und dem Weisen gibt es jedoch zudem eine Jury und ein Publikum, die bei dem „Wettstreit“ zugegen sind (z. B. 186, 234). Anders als bei Cusanus liegt der Fokus bei Keshavjee außerdem nicht vorrangig auf dem Dialog zwischen Christentum und Islam, sondern Judentum, Hinduismus und (im Unterschied zu Cusanus vor 1882 S. o.
Kap. V.c4–6. z. B. die Kritik des Buddhisten an der jüdischen Vorstellung, dass Gott alles lenke (Der König, 171): „ ‚Wenn ich den Judaismus richtig verstanden habe, aus dem die christliche und die muslimische Religion hervorgegangen sind, hat Gott die Welt geschaffen, und seine Schöpfung ist gut. Der Buddha hingegen stand der Vorstellung ablehnend gegenüber, ein guter Schöpfer sei die Basis des Universums. Erstens weil eine grundlegende menschliche Erfahrung darin besteht, dass die Welt nicht gut ist, sondern im Gegenteil voll von oft frustrierenden Beziehungen, und zweitens, weil die Postulierung eines Gottes, der sagt: ‚ICH BIN‘, der Erfahrung der Vergänglichkeit aller Dinge widerspricht‘ “ (Der König, 184). Während die Position, dass vieles in der Welt gerade nicht zum Guten stehe, der Sache nach in gewisser Weise an Platon erinnert, welcher Gott bereits eindeutig von der Ursächlichkeit für Übel entlastet (resp. 379 c; s. o. Anm. 63), erscheint der buddhistische Umkehrschluss, dass es folglich keinen Schöpfergott gebe, theologisch natürlich nicht zwingend: Wie bereits bei Platon oder im Christentum muss dem Schöpfergott nicht das Übel in der Welt angelastet werden, insofern dieses durch willentliche, nicht-notwendige Abkehr geschaffener Seelen von Gott als dem absoluten Guten erklärt werden kann. Damit wäre nicht nur die Theodizee philosophisch einlösbar (s. o. Kap. III.g, IV.3 b mit Anm. 779 sowie unten Kap. VI.2), sondern auch die Schlussfolgerung vom Theodizeeproblem hin zur Negation des Schöpfergottes selbst nicht mehr zwingend. Der transzendente Schöpfergott im jüdischen, christlichen und platonischen Kontext wäre naturgemäß nicht der Vergänglichkeit unterworfen. Damit soll hier nicht die buddhistische Perspektive ‚widerlegt‘, sondern nur angedeutet werden, dass die sich aus buddhistischer Sicht plausiblerweise ergebenden Rückfragen aus der Perspektive monotheistischer Religionen durchaus beantwortet werden können. Entsprechend verwahrt sich der Jude bei Keshavjee gegen die Vorstellung eines „unabwendbare[n] Schicksal[s]“ (Der König, 185). 1884 Ähnlich die Bezeichnung „Streiter für ewige Weisheit“ am Ende des Romans (Der König, 245). 1883 So
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allem) Buddhismus sind in gleicher Weise repräsentiert. Wie oben angedeutet, sollte De pace fidei grundsätzlich in seinem Beispielcharakter gewürdigt werden, welcher gerade nicht ausschließt, dass eine cusanus-ähnliche Perspektive in vergleichbaren interreligiösen Dialogen durch andere Sichtweisen – besonders aus anderen Religionen heraus, die Cusanus noch nicht in angemessener Weise berücksichtigen konnte – ergänzt wird:1885 In diesem Sinne kann Keshavjees Der König als ein Werk verstanden werden, welches den Grundansatz von De pace fidei der Sache nach aufgreift und ihn auf neue Weise weiterführt. Während „der Inder“ bei Cusanus aus moderner Perspektive eher ‚unterbelichtet‘ wirkt und allein den Hinduismus zu repräsentieren scheint, führt der Buddhist bei Keshavjee aus: ‚Man sollte nicht nur seine eigene Religion ehren, die Religionen anderer dagegen verdammen, sondern man sollte die Religionen anderer ebenfalls ehren. Indem man so handelt, trägt man zur Erhöhung seiner eigenen Religion bei und erweist denen anderer einen Dienst‘ (Der König, 65).
Cusanus durchaus vergleichbar ist bei Keshavjee die Toleranz gegenüber den Riten, wenn die geistige Religion bewahrt bleibt:1886 ‚Zahlreiche buddhistische Intellektuelle verachten die volkstümliche Form der Religiosität […]. Der Unterschied zwischen dieser Form der Glaubensausübung und der wahren Lehre des Buddha ist derselbe wie zwischen dem Heiligenkult mancher Katholiken und der Botschaft der Evangelien. Doch soll man solche Praktiken ganz verbieten? Der Buddhismus tendiert eher dazu, sich den verschiedenen Mentalitäten anzupassen, was auch erklärt, warum es so viele buddhistische Glaubensrichtungen gibt‘ (Der König, 75).
Wie bei Cusanus erst das neuplatonische Partizipationstheorem die eigentliche sachliche Voraussetzung dafür bietet, dass verschiedene Religionen trotz ihrer Differenzen an einer ihnen vorausliegenden intellekthaften Religion partizipieren und insofern positiv als Ausdrucksformen dieser Religion gewertet werden können,1887 führt der Buddhist bei Keshavjee zumindest implizit etwas Analoges an, ohne freilich die Partizipationsontologie als Voraussetzung zu benennen (welche möglicherweise nicht ohne Weiteres mit der buddhistischen Lehre vom Nicht-Selbst, anâtman, vereinbar wäre1888): S. o. Kap. V.c4, V.c8 und V.c16. Kap. V.c18–19 sowie Kap. V.c6 (zu der im Folgenden angesprochenen katholischen Heiligenverehrung). 1887 S. o. Kap. V.c4. 1888 Dies hängt ganz von der Interpretation ab, ob es gemäß buddhistischer Auffassung überhaupt ewige (partizipierbare) Seinsprinzipien in irgendeiner Form gibt oder nicht. In Keshavjees Der König, 107 führt der buddhistische Vertreter aus: „ ‚Ganz so einfach ist es nicht‘, stellte Rahula gleich darauf richtig. ‚Wenn die Buddhisten sagen, ‚nichts ist von Dauer‘, oder ‚alles ist vergänglich‘, kann dies zwei Dinge bedeuten. Entweder ist mit ‚alles‘ ‚alles Wahrnehmbare‘ gemeint und es existiert daher ein dauerhaftes Nichtwahrnehmbares außerhalb von ‚allem‘. Oder ‚alles‘ bedeutet wirklich ALLES, auch Gott, die Gottheiten und das Selbst der Hindus. In diesem Fall ist die einzige dauerhafte Wahrheit die der Vergänglichkeit von ALLEM.‘ “ Vgl. Dalai Lama (1996: 1885
1886 S. o.
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‚Noch grundsätzlicher kann er [sc. Buddha] als geistiger Zustand oder auch als die wahre Natur jedes Wesens bezeichnet werden, als das, was wir Buddhaschaft nennen. Der Buddha ist also kein ‚Wesen‘ außerhalb von uns selbst. Unsere wahre Identität ist wie die seine, unbeständig und ohne Selbst. […]. Und Ma-tsu Tao-i, einer der bedeutendsten Zen-Meister Chinas, sagte: ‚Jeder von uns muss unmissverständlich begreifen, dass sein Geist Buddha ist, das heißt, dass sein Geist der Geist des Buddha ist … […] Es gibt keinen Buddha, sondern den Geist; es gibt keinen Geist außer Buddha […]‘ ‘ (Der König, 76–77).
Wenn der Buddhist bei Keshavjee hier die Auffassung zitiert, dass jeder Mensch qua seines Geistes „Buddha“ sein könne, dann scheint zumindest – trotz der Lehre vom Nicht-Selbst – impliziert, dass die Partizipation an einem Selbigen, dem Geist Buddhas, möglich ist. Dies wäre neuplatonisch anschlussfähig, wie umgekehrt auch die Betonung des Nicht-Selbst und der Unbeständigkeit möglicherweise neuplatonisch dahingehend interpretierbar wäre, dass die aktuale Partizipation an etwas Geistigem – also das aktual partizipierte Intelligible – sich im jeweils Partizipierenden nur auf gebrochene, unterschiedliche Weise und insofern einen Aspekt der ‚Nicht-Selbigkeit / Leerheit‘ zeigt.1889 Ebenfalls vergleichbar mit De pace fidei1890 erscheint die Tatsache, dass religiöse Einigkeit „an sich ein löblicher Gedanke“ sei, „aber nicht um jeden Preis“ (Der König, 86). Die Eintracht der Religionen lässt sich auch bei Keshavjee nicht durch Verabsolutierung partikulärer Religionen und Perspektiven erreichen. So weist der Scheich als Vertreter des Islams auf zwei verschiedene Interpretationsweisen hin – die eine bediene sich gleichsam einer Schere, die andere einer Nadel: ‚Es gibt zwei Kräfte auf der Welt‘, fuhr der Scheich bereits fort, ‚eine trennende und eine vereinende Kraft. Die wahre Religion ist die, die sich der Nadel zum Zusammenfügen bedient. Leider lesen jedoch zahlreiche Muslime den Koran, die rezitierte Offenbarung, die Sunna […] sowie die Scharia, die Pflichtenlehre und das religiöse Recht des Islams, nicht mit einer Nadel, sondern mit der Schere. […] Doch schon einer der ersten Christen, der Apostel Paulus hat gesagt: Das Wort allein tötet, der Geist erweckt es zum Leben1891‘ (Der König, 141–2).
70): „[…] nur das subtilste Bewußtsein setzt sich bis zur Buddhaschaft fort. Diese subtile Ebene dauert seit anfangsloser Zeit an und wird auch für immer weiterbestehen. Wenn wir sterben, lösen sich unsere gröberen Bewußtseinsebenen auf. An unserem letzten Tag, zum Zeitpunkt des Todes ist das letzte Bewußtsein, das sich manifestiert, der subtilste Geist des Klaren Lichts; dieses Bewußtsein ist es, das die Verbindung zum nächsten Leben hält. So kann man sagen, daß die subtilen Aggregate notwendigerweise kontinuierlich über die Zeit hinweg existieren.“ Und ferner: „Die Weisheit, die die Leerheit direkt erkennt, untergräbt die Unwissenheit, welche eine inhärente Existenz wahrnimmt, und das Auslöschen dieser Unwissenheit in der Sphäre der endgültigen Realität heißt Befreiung“ (ibd., 92). 1889 S. o. zu Proklos, Kap. III.c und III.e. – Dazu, dass möglicherweise auch im Buddhismus die Differenzierung zwischen Sinnlich-Wahrnehmbarem und Intelligiblem relevant ist, s. Anm. 1888. 1890 S. o. Kap. V.c19. 1891 Paulus, 2 Kor 3, 6 b.
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Die Eintracht der Religionen liegt also auch gemäß Keshavjee wie schon bei Cusanus in einer Art verborgenen wahren Religion, welche die partikulären Einzelreligionen eint, wie eine Nadel Zerrissenes wieder ‚zusammennähen‘ kann.1892 Dieser Ansatz und Erkenntnismodus zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit der cusanischen coincidentia oppositorum auf der Ebene des Intellekts.1893 Wie nach Cusanus wird auch bei Keshavjee der Widerspruch zwischen christlicher Trinitätslehre und deren Kritik im Islam dadurch aufgelöst, dass Letztere berechtigterweise einen Tritheismus attackiere, wie der Vertreter des Christentums ausführt: ‚Als Christ kann ich ohne weiteres anerkennen, dass Mohammed von Gott gesandt wurde, um den Polytheismus seiner Zeit wie auch die Häresien der damaligen Christen zu bekämpfen.1894 Zur Zeit Mohammeds waren zahlreiche Christen regelrechte ‚Tritheisten‘; sie glaubten an Gott als eine Art Familie, bestehend aus drei göttlichen Wesen: Gottvater, der mit der Mutter Maria Gottes Sohn sexuell gezeugt habe. Eine solche ‚Trinität‘ ist natürlich völlig inakzeptabel und muss mit aller Macht bekämpft werden. Der Koran verdammt sie zu Recht‘ (Der König, 145–6).
Angesprochen darauf, ob die Christen nicht etwas wie „1 + 1 + 1 = 1“ behaupteten, erwidert der Christ bei Keshavjee in sachlich vergleichbarer Weise wie der cusanische Logos und wie Augustinus und Boethius in ihrer Trinitätslehre, gemäß welcher Gott wesentlich Liebe ist und dieses Wesen sich innerrelational in dem Liebenden (Vater), Geliebten (Sohn) und der Liebe (Heiliger Geist) ausprägt:1895 ‚Wenn wir schon auf Zahlenangaben zurückgreifen müssten, um von der Dreieinigkeit zu sprechen, dann würden wir mit Sicherheit nichts Derartiges behaupten, und schon gar nicht ⅓ + ⅓ + ⅓ = 1! Nein, dann schon eher 1 × 1 = 1! Gottvater, die erste ‚1‘, ist die ursprüngliche und unsichtbare Quelle1896 aller Dinge und als solche entzieht er sich unserer Erkenntnis. Gottsohn, die zweite ‚1‘, ist sein Abbild, seine Reflexion, seine Veräußerlichung, sein ‚Porträt‘. Der Heilige Geist, die dritte ‚1‘, ist der Hauch der Liebe, der sie vereint und danach strebt, die Menschheit in diese Gemeinschaft mit einzubeziehen‘ (Der König, 146).
Auch das Bestreiten des Kreuzestodes Christi im Koran wird von dem Vertreter des Christentums in grundsätzlich vergleichbarer Weise wie vom cusanischen Petrus1897 dahingehend interpretiert, dass die Vgl. auch Keshavjee, Der König, 21 + 237. S. o. Anm. 1252 und 1141. 1894 Vgl. Cusanus (Kap. V.c6). 1895 Zu Boethius und der modernen, an seiner Trinitätstheologie vorbeizielenden Kritik, die drei trinitarischen Personen würden zusammenaddiert eine Substanz ergeben, s. o. Kap. IV.6. Zu Augustinus s. o. Kap. IV.4 c. 1896 Vgl. Dionysius zu Gott-Vater als „Quell der Gottheit“ (s. o. Anm. 905). 1897 S. o. Kap. V.c14. Die Vergleichbarkeit des theologischen Arguments bei Cusanus und Keshavjee gründet jedoch weniger in dem Aspekt, dass die Kritik des Korans sich speziell an Juden richte, sondern vielmehr auf der Frage, warum der schmachvolle Kreuzestod aus theologischen 1892 1893
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‚zitierte Koranstelle [sc. 4, 157–8] nicht wirklich den Tod Jesu [sc. negiert]. Sie richtet sich nicht an die Christen, sondern an bestimmte Juden aus der Zeit Jesu, die glaubten, dem Wirken Gottes durch Christus ein Ende setzen zu können, indem sie ihn kreuzigten. Gott soll daher gesagt haben – und zwar gegen die jüdische Überzeugung –, dass Jesus weder getötet noch gekreuzigt worden sei, da er den Tod und die Kreuzigung überwunden habe und von Gott emporgehoben worden, das heißt auferstanden sei!‘ (Der König, 148)
Bevor dieser theologische Streitpunkt speziell erörtert werden kann, erscheint es angebracht, folgende Prämissen noch einmal präsent zu halten: Bei Keshavjee und Cusanus liegt der Schwerpunkt auf dem möglichst genauen Verstehen des jeweils Anderen, Fremden: Dies kann, wie oben erörtert,1898 nur gelingen, wenn Wahrheitsansprüche geltend gemacht werden dürfen und nicht methodisch immer schon ausgeschlossen bzw. umfahren werden. Dieser Weg ist (selbstverständlich) beschwerlich, weil er verlangt, das Eigene – zumindest hypothetisch und auf Zeit – auszublenden, zurück‑ und zur Disposition zu stellen: Unter der Prämisse, dass alle Religionen Wahrheitsansprüche erheben, teilen sie im Keim etwas Gemeinsames; daher ist es die göttliche Weisheit / Wahrheit, welche der cusanische Logos in De pace fidei als erste gemeinsame Voraussetzung aller Religionsvertreter ins Feld führt, zu der sich alle Weisen trotz ihrer verschiedenen Religionen gemeinsam bereits bekennen können.1899 Unbeschadet ihrer verschiedenen historischen Kontexte können sowohl Cusanus wie auch Keshavjee zeigen, dass es sich lohnt, darauf zu achten, was genau eine bestimmte Religion in ihrem Wahrheitsanspruch intendiert: Wenn ein solcher Wahrheitsanspruch gerechtfertigt ist, müssten einzelne Wahrheiten miteinander vereinbar sein, da Wahres letztlich nie miteinander inkompatibel sein kann. Dies ist nicht nur eine erfahrbare Tatsache, sondern verdankt sich – neuplatonisch gedacht – dem Umstand, dass (intelligible) Wahrheit eine Manifestation des absoluten Einen, d. h. des höchsten Gottes ist.1900 Mit Proklos darf man hier an dessen komplexe Henadenlehre denken:1901 Das absolute, überseiende und überintelligible Eine (hen) verharrt transzendent und unpartizipiert, aus seiner Überfülle aber gehen die ebenfalls noch von sich selbst her überseienden Henaden hervor, welche partizipierbar sind und so das absolute, intelligible und wahre Sein sowie letztlich den gesamten Bereich der Seienden hervorbringen. Intelligibles, wahres Sein und somit Wahrheit verdankt sich gemäß Proklos allGründen für Christus als unangemessen empfunden und daher negiert werden könnte: Nicht die Adressaten der Kritik, sondern der sachliche Kritikpunkt ist letztlich entscheidend. Dies ist nicht unerheblich, weil sonst sehr schnell die Gefahr drohte, dass sich ein meinungshafter Reflex gegen ‚die Juden‘ verselbständigte und ein ‚allgemeiner Antijudaismus‘ aufkeimte. Nicht umsonst formuliert der Autor Keshavjee hier mit Bedacht „an bestimmte Juden“ und nicht generalisierend ‚an die Juden‘. 1898 S. den Anfang dieses Kap. VI.1. 1899 S. o. Kap. V.c4. 1900 Vgl. Drews (2012 a: 396, Anm. 20) sowie oben Kap. III.d und Anm. 946. 1901 S. o. Kap. III.e.
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VI. Antik-mittelalterliche Positionen und modernes Denken
gemein dem Wirken der Henaden: Werden unterschiedliche religiöse Wahrheitsansprüche nicht mehr meinungshaft, sondern auf ihren intelligiblen Kern hin durchleuchtet und würden so tatsächlich miteinander kompatibel, dann könnte diese Kompatibilität intelligibler Wahrheiten als Zeichen letzten Endes henadisch vermittelter Einheit verstanden werden. Aber auch diese Perspektive wäre bei allem Ausgriff auf das Absolute eine bestimmte, die eines Proklos – und auch in diesem Punkt sollte im Rahmen eines interreligiösen Dialogs zumindest die Tür für andere Perspektiven offen gehalten werden. Ein Abgleiten in theologische Beliebigkeit ist aus einer solchen, von Proklos her geprägten Perspektive insofern unmöglich, als Wahrheitsansprüche durch innere argumentative Konsistenz und Begründbarkeit untermauert sein müssen. Zurück zu den unterschiedlichen theologischen Aussagen über Christus im Islam und Christentum. Zunächst, prima facie, mag zwar der Kreuzestod Christi für einen Muslim genauso schwer tolerierbar sein wie die Kritik des Korans am Kreuzestod Christi für einen Christen, jedoch: Obwohl es schlicht unmöglich ist, beide Positionen zugleich zu vertreten bzw. zu ‚glauben‘, lässt sich doch aus jeder der beiden Perspektiven heraus die jeweils andere insofern nachvollziehen, als beide etwas theologisch Sinnvolles erkennen und gegen Missverständnisse und Fehldeutungen verteidigen wollen: Der Christ sieht auf das Erlösungshandeln des Mensch gewordenen Gottes in Christus, welcher den Tod erleidet, um ihn in der Auferstehung zu besiegen; der Muslim auf Gottes Ehre, insofern dieser von sich selbst her unsterblich ist und nicht von Menschen einfach getötet werden kann.1902 Als einen theologischen ‚Obersatz‘ wird dies auch ein Christ kaum bestreiten wollen: Die entscheidende theologische Systemstelle, an der ‚sich die Geister scheiden‘, dürfte im genauen Verständnis der Menschwerdung Gottes liegen – in Jesus Christus stirbt und aufersteht nicht Gott schlechthin, sondern der Mensch gewordene Gott, wie der cusanische Petrus in De pace fidei detailliert ausführt.1903 Der interreligiöse Gewinn wäre dann nicht gering, wenn erahnbar wird, dass der eigene religiös-theologische Wahrheitsanspruch möglicherweise gar nicht durch den jeweils Anderen in absoluter Weise negiert wird, sondern die Position des Anderen ‚lediglich‘ einen Aspekt einkreist, welcher nach scharfer begrifflicher Differenzierung zumindest versteh‑ und nachvollziehbar wird, ohne dass deshalb irgendjemand intellektuell gezwungen wäre, sein Credo – und den damit verbundenen Wahrheitsanspruch – aufzugeben. Möglicherweise ließen sich die Wahrheitsansprüche aber weiten und öffnen, so dass auch Verständnis für das jeweils andere Credo entwickelt werden könnte. Dies dürfte aber nur dann möglich sein, wenn präzise erkannt und begriffen ist, auf welchen theologischen Aspekt genau das jeweils Fremde in seinem Wahrheitsanspruch eigentlich ab S. o. Kap. V.c14 zu Cusanus. S. o. Kap. V.c11.
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zielt und welche anderen Aspekte vielleicht gar nicht davon berührt werden. In diesem Sinne bemüht sich der cusanische Petrus zu zeigen, dass die von muslimischer Seite bestehende Sorge, der Kreuzestod Christi könnte die Ehre Gottes verletzen, von der christlichen Theologie gar nicht außer Acht gelassen wird, da die Überwindung des Todes in der Auferstehung in besonderer, gleichsam ‚unüberbietbarer‘ Weise die Ehre und Lebensmacht Gottes unterstreicht und „eine verborgene Erhöhung“ darstellt.1904 Islam und Christentum verbindet und trennt eine jeweils verschiedene Sicht auf die Person Jesu Christi: In De pace fidei interpretiert der cusanische Petrus die Position seines muslimischen Dialogpartners, dass Christus der „größte der Propheten“ sei, dahingehend, dass diese maximale Größe nur aus der maximalen Einheit von Gott und Mensch im Sinne der chalkedonensischen Zweinaturenlehre herrühren könne.1905 Man kann dies als christlich vereinnahmend kritisieren; trotzdem bleibt zu bedenken, dass einerseits niemand ohne eine bestimmte Perspektive wird argumentieren können und dass andererseits (zumindest aus christlicher Sicht) diese Interpretation eine positive Annäherung an den Islam zu ermöglichen vermag. Bezeichnenderweise verteidigt der Christ in Keshavjees Der König gegenüber einem Einwand des Hindus die Einzigartigkeit Christi mit einem Argument, das bei Cusanus der Annäherung von Christentum und Islam dienen soll: ‚Jeder von uns wurde, genau wie Jesus Christus, nach dem Abbild Gottes erschaffen (Gen 1, 26). Doch was uns andererseits von Jesus, dem ‚Ebenbild des unsichtbaren Gottes‘ (Kol 1, 15) unterscheidet, ist unser Grad an Transparenz. Ein klein wenig vom Kind Gottes, ja sogar vom Messias – wörtlich die Salbung Gottes eines bestimmten Werkes – steckt in jedem Wesen. Doch Jesus ist der, der die größte Transparenz, die maximale Empfänglichkeit für das Wirken des Heiligen Geistes gezeigt hat‘ (Der König, 220–1; Kursive Keshavjee).
Für Cusanus ist es der von allen Weisen trotz ihrer verschiedenen Religionen konzedierte Glaube an die Weisheit Gottes, welche einerseits die Religionen verbindet und andererseits einen spezifischen christlichen Zugang zum Logos Gottes, d. h. zu Christus als der zweiten trinitarischen Person, eröffnet.1906 Qua Gott beinhaltet der Logos die intelligiblen Vernunftgründe der Schöpfung:1907 Bereits Origenes denkt Gottes Logos als Quell aller Vernunft, auch der menschlichen; insofern könne der Logos von den vernunftbegabten Wesen letztlich gar nicht in Abrede gestellt werden, das spezifisch christliche Bekenntnis zu dem Logos als dem Christus, Herrn und Erlöser sei jedoch Gabe des Heiligen Geistes.1908 S. o. Kap. V.c14. S. o. Kap. V.c12. 1906 S. o. Kap. V.c4. 1907 Zum Logos als Inbegriff der Vernunftgründe der Schöpfung s. o. Anm. 1276 sowie Kap. V.b und V.c3–5. 1908 S. o. Kap. IV.3 a. 1904 1905
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Somit gibt es für Origenes einerseits eine universelle Partizipation an Christus, insofern alle vernunftbegabten Wesen, und nicht zuletzt der Mensch als animal rationale et mortale,1909 an dem einen Logos Gottes immer schon partizipieren – nur deshalb können auch bei Cusanus alle Religionsvertreter (und nicht nur Christen) in den Dialog mit dem Logos treten, weil sie ihn implizit immer schon voraussetzen und zumindest auf verborgene Weise kennen:1910 Im doppelten Sinne gestaltet sich der interreligiöse Dialog in De pace fidei auf ‚logoshafte Weise‘: einmal allgemein auf rationaler Ebene, außerdem in Gegenwart von und vor Gottes Logos in Person. Andererseits ist gemäß Origenes das Bekenntnis zu Christus als dem Heiland eine spezielle Partizipation an Gottes Heiligem Geist. Diese Logos-Christologie ist somit universell-inklusiv und spezifisch-exklusiv zugleich, gleichwohl in verschiedenen Hinsichten und ohne sachlichen Widerspruch. Keshavjee erörtert in seinem Roman diese Differenzierungen nicht in dieser Ausführlichkeit, denkt aber letztlich etwas Vergleichbares: Die verschiedenen Menschen sind qua Mensch immer schon Abbild Gottes; für den Christen in Der König zeigt sich in dem Menschen Jesus Christus die „größte Transparenz“ für Gottes Sein, „die maximale Empfänglichkeit für das Wirken des Heiligen Geistes“ – sollte dann der Glaube an Christus, wie Origenes darlegt, nicht auch auf dieses spezifische Wirken des Heiligen Geistes zurückgeführt werden? Keshavjees „großer Wettstreit der Religionen“ endet zunächst, wie es vielleicht auch zur allgemeinen postmodernen Situation passt, in einem Patt – die Jury vermag kein eindeutiges Urteil darüber zu fällen, welche Religion die beste sei: ‚Für ein Mitglied der Jury hat der Hinduismus den ersten Preis verdient, weil er das Göttliche überall sieht. Für den anderen ist der Islam die beste Religion, weil er die jüngste Offenbarung enthält. Für den Dritten ist es das Judentum, weil es den Ursprung der monotheistischen Religionen darstellt. Für einen Vierten hat der Atheismus gewonnen, weil man durch ihn vermeidet, in die Falle mythologischer Ideologien zu tappen. Ein Fünfter will, dass der Buddhismus siegt, weil er am tolerantesten und friedlichsten ist. Für den Sechsten und Letzten schließlich muss das Christentum den ersten Preis erhalten, weil es, wie der Zehnkampf im Sport, die umfassendste Religion darstellt, wenn auch nicht die leistungsfähigste. Eure Majestät, Ihr müsst daher die endgültige Entscheidung herbeiführen‘ (Der König, 234).
Bevor der König sich selbst äußert, will er zunächst die Meinungen des Weisen und des Narren hören: Der Narr – gleichsam als ‚Geist, der stets verneint‘ – beschränkt sich auf den Aspekt, wie die „Katastrophe“ (Tod, Unglück und Krankheit) sich jeweils in einer Religion manifestiere (z. B. singe der mystische Hinduist „mitten in der Katastrophe“ einfach OM, gemäß dem orthodoxen Christentum passiere die Katastrophe „überall, außer in der heiligen Liturgie“, Der König, 235–6). Auf diese närrische Sicht der Dinge folgt unter Anspielung Zum Begriff s. o. Kap. V.c1 mit Anm. 1190. S. o. Kap. V.c3.
1909 1910
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auf die vom muslimischen Vertreter aufgezeigten Interpretationsmodi der Nadel und der Schere1911 die umfassende „Synthese des Weisen“. Er habe begriffen, ‚dass der Gott der Bibel zugleich unbeschreibbar ist, wie es auch die Buddhisten erklären, und dass er das höchste ‚ICH‘ ist, wie die Hindus bezeugen. […] Die Nadel fügt zusammen und verbindet, was die Schere zerschneidet und trennt. […] Was also gibt es Gemeinsames in all dem, was wir während der vergangenen vier Tage gehört haben? Ich will es Ihnen sagen: Es ist die gleichzeitige Erfahrung von Loslösung und Verbindung. Das höchste Gesetz des Universums ist das Mysterium des Geistes, der unterscheidet, um besser zu vereinen, und befreit, um besser verbinden zu können. Dies gilt für die christliche Dreieinigkeit, in der ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ zugleich voneinander unterschieden und eins sind. […] Wenn die Buddhisten an die Leere der Welt und des Selbst gemahnen, fordern sie uns zu einer Loslösung von unseren Begierden und unserer Unwissenheit auf, um zur wahren Freiheit zu gelangen; und wenn sie uns Mitgefühl lehren, ist dies eine Verbindung ohne feste Bande mit allem, was ‚ist‘. Wenn die Hindus uns auffordern, unsere Determinationen und unseren Egoismus zu überwinden, rufen sie uns auf, frei von jeder Form der Bindung zu leben; und wenn sie uns dazu ermutigen, die universelle und unsterbliche göttliche Präsenz zu erfahren, ist dies eine neue Form der Bindung mit jedem lebenden und nicht lebenden Wesen. Wenn die Juden, die Christen und die Muslime uns von Gott in seiner Heiligkeit, seiner Liebe und Macht erzählen, fordern sie uns auf, uns von der sichtbaren Welt zu lösen und jede Form der götzenhaften Verehrung menschlicher Personen oder vergänglicher Güter abzulegen. […] Loslösung und Verbindung, Vereinigung und Differenzierung, Tod und Auferstehung stellen die Dynamik des Geistes schlechthin dar. Das Tragische ist, dass in den meisten religiösen Traditionen und menschlichen Schicksalen diese Bewegung erstarrt, ja blockiert ist. Anstatt diese unendliche Erfahrung zu vertiefen, lösen sich zahlreiche Gläubige und Ungläubige zwar von bestimmten Oberflächlichkeiten, binden sich aber blind an alle möglichen Personen, an Gemeinschaften, politische oder philosophische Theorien oder auch religiöse Vorschriften. Schlimmstenfalls werden sie zu Sklaven immaterieller Werte wie Freude oder Heil, Freiheit oder Solidarität. Es gibt nichts Gefährlicheres als eine erstarrte Bindung. Denn im Namen dieser blockierten Religiosität wird auch heute noch gemordet. Im Namen der spirituellen Freude hat man die legitimen menschlichen Freuden verachtet, und im Namen des Heils hat man die umgebracht, die dieses Heil nicht haben wollten oder es nicht verstanden. […] Gott ist immer größer als unsere Vorstellung von Gott, und die Realität immer komplexer als unsere Erfahrungen dieser Realität‘ (Der König, 237–240).
Mit dem letzten Satz sagt der Weise bei Keshavjee etwas, was in der christlichen Tradition z. B. von Augustinus ausgeführt wurde: Gott ist nicht durch sekundäre Partizipation an der Idee der Großheit, sondern von sich selbst her, durch sein Gott-Sein groß.1912 Cusanus hatte darauf verwiesen, dass das menschliche Erkennen (idealerweise) sich zwar Gott mehr und mehr annähern könne, aber Gott trotzdem immer noch größer sei und alle menschliche Erkenntnis überrage.1913 Theologische Eckpunkte sind für den Weisen, dass Gott seinem Wesen nach unbeschreibbar und transzendent ist. Für den interreligiösen Dialog entscheidend zu Der König, 141–2. S. o. Kap. IV.4 b. 1913 S. o. Kap. V.b. 1911 S. o. 1912
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ist, dass der Geist „unterscheidet, um besser zu vereinen“ – analog zur christlichen Trinität, „in der ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ zugleich voneinander unterschieden und eins sind.“ Die „Dynamik des Geistes“ bestehe in „Loslösung und Verbindung“, woraus das ethische Gebot resultiert, sklavische Abhängigkeitsbindungen zu lösen und statt dessen in Freiheit Bindungen einzugehen (vgl. 1 Kor 7, 29–31). Diese Synthese des Weisen rundet den interreligiösen Dialog in Keshavjees Der König gleichsam ab. Sie bereitet aber auch die Entscheidung des Königs vor, welche Religion er seinem Volk geben soll. Diese Entscheidung ist nichts anderes als Ausdruck des Psalmzitats, das als Motto des vorliegenden Buchs gewählt wurde (ohne dass dieser Psalmvers bei Keshavjee fallen würde) – „Gott ist Richter mitten unter den Göttern“ (Ps 82,1 b):1914 ‚… die Religion, die mir am geeignetsten erscheint, ist die Religion … – die ich für mich persönlich auswählen würde. Ich kann sie nicht auf Grund meines Status dem ganzen Volk aufzwingen. Mein Staat bleibt laizistisch, damit jeder Mann und jede Frau frei für sich entscheiden kann, welches für sie oder für ihn die wichtigste Wahrheit ist. Gott allein, wenn es ihn denn gibt, hat das Recht, die Goldmedaille zu vergeben. Wenn wir dereinst diese Welt verlassen müssen, werden wir zweifellos fähig sein, uns ein eigenes Urteil über die menschlichen Religionen und Philosophien zu bilden. Ich schlage daher vor, in vier Jahren derjenigen Religion eine Silbermedaille zu verleihen – die einzige, deren Verleihung uns gestattet ist –, die bis dahin die größten Anstrengungen unternommen hat, die Gläubigen der anderen Religionen wirklich zu verstehen und ihnen zu dienen‘1915 (Der König, 242–3; Kursive Keshavjee).
Wie bei Cusanus wird hier als grundlegende Voraussetzung echter, unerzwungener und nicht auf sklavischer Werte-Bindung1916 beruhender Religion die Religionsfreiheit untermauert.1917 Das Urteil über die beste Religion wird im Sinne echter Religiosität Gott selbst überlassen. Die „Silbermedaille“ werde der Religion gebühren, welche in ihrem interreligiösen Ausgriff auf andere Religionen am erfolgreichsten sei. Wenngleich Cusanus sicher nicht die postmoderne Kautel ‚wenn es Gott denn gibt‘ für notwendig erachten würde, endet doch auch De pace fidei mit einer positiven Würdigung des Wetteiferns der Religionen: Bei Keshavjee wird dieser Wetteifer am Kriterium des besten interreligiösen Verständnisses gemessen. Sowohl das Verständnis für andere Religionen wie auch die Wahl derjenigen Religion, welche für den Einzelnen „die wichtigste Wahrheit“ enthalte, basieren auf den Voraussetzungen des Wahrheitsanspruchs S. o. Kap. I.1 und IV.2.3 a. S. o. zu der ähnlichen Weisung des Buddhisten in Der König, 65. 1916 Damit sowie mit dem vorhergehenden Zitat aus Keshavjees Roman ist sicher keine Diskreditierung sinnvoller Werte gemeint. Kritisiert wird eher eine Verabsolutierung abstrakter Werte, welche zu einer Verwechslung von Gewohnheit und Wahrheit führen könnte (s. o. Kap. V.c2 und Vc.16) und zu einer Verwechslung von ‚starren Idealen‘ mit Gott selbst. – Zur Kritik am postmodernen ‚Werte-Verständnis‘ und einer „Tyrannei der Werte“ vgl. auch Spaemann (2012 a: 51–52, 61, 126). 1917 S. o. Kap. V.c2. 1914 1915
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von Religion(en) und der Wahrheitsfähigkeit von Menschen: Denn das genaue, „wirkliche“ Verstehen von Religion(en) kann nur gelingen, wenn wahrheitsfähige Menschen religiöse Wahrheitsansprüche durchdenken und begreifen. Sowohl gemäß Keshavjee wie auch Cusanus gibt es eine mögliche Einheit der Religionen nur mit ihren Wahrheitsansprüchen, nicht an diesen vorbei oder unter ihrer Ausblendung.1918 Bekanntlich bringt jeder Mensch immer schon eine bestimmte Perspektive mit: Aus der eigenen Perspektive heraus lassen sich im Sinne eines interreligiösen Dialogs bei Keshavjee und Cusanus jedoch Anknüpfungspunkte auch bei anderen, fremden Sichtweisen finden.1919 Dies führt keineswegs zwangsläufig zur ‚Beseitigung aller Fragen‘, kann aber dazu beitragen, die Form eines sachlichargumentativ begründeten und somit auch begründeterweise empfundenen Respekts für das jeweils Andere hervorzubringen. Die im Platonismus erkenntnistheoretisch grundgelegte Dimension des auf die begreifbare Sache schauenden Intellekts hat zumindest die Potenz, den im Einzelnen verhafteten Blick, für welchen nur die Verschiedenheiten zwischen Religionen ‚phänomenal‘ wahrnehmbar sind, zu öffnen für eine höher liegende und zugleich tiefer gehende Ebene, auf der unterschiedliche Traditionen Gemeinsames entdecken können: Würde diese Perspektive in einem interreligiösen Dialog gemeinsam kultiviert, verschwänden nicht einfach alle Unterschiede (was auch gar nicht erstrebenswert sein kann). Aber die denkbare, potentielle Vereinbarkeit des Verschiedenen und der positive, weil von einem Gemeinsamen in der Verschiedenheit getragene Blick auf das jeweils Fremde könnte die Basis einer grundlegenden Akzeptanz für dieses Fremde bilden, welches dann nicht mehr nur als bedrohlich, sondern als in gewissen Grenzen dem Eigenen ähnlich und insofern als positive Ergänzung erscheinen oder auch als willkommener Anstoß zur besseren Reflexion des Eigenen dienen könnte. Wesentlich ist dabei, dass hier nicht einfach ‚psychologisiert‘ wird: Es geht nicht um das Fremde im abstrakt-unbestimmten Sinne, vor dem den Menschen ein horror vacui ergreift, sondern um das konkrete Fremde in seiner sachlich-bestimmten Eigenheit, die es zu begreifen gilt. Diese Methode hätte bereits dann eine reale Chance, wenn tatsächlich verschiedene Religionsvertreter wie in Keshavjees Der König sich die Mühe machten, das jeweils Fremde geistig zu durchdringen, um so auch den Standort des Eigenen besser bestimmen zu können: Sofern wirklich das Verstehen des Anderen methodisch und als Ethos dominiert, sollte abstrakter Hass nicht aufkommen – allein die geistige Anstrengung könnte als intellektuelle Tätigkeit dann einer blind agierenden Gewalt den Entfaltungs1918 Vgl. oben Kap. V.c19 sowie Huber (2008: 81) und Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 59–60). 1919 Geradezu ein Paradebeispiel für das Reflektieren verschiedener philosophisch-theologischer Perspektiven und ihres spezifischen, bedenkenswerten Skopos zeigt Cusanus in De apice theoriae 14–15.
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raum in positiver Weise ‚streitig‘ machen. Nicht umsonst reserviert der König bei Keshavjee die Silbermedaille für diejenige Religion, welche die interreligiösen Anstrengungen am besten zu verwirklichen vermag – das Verleihen der „Goldmedaille“ an eine bestimmte Religion kann auch bei Keshavjee im Sinne von Ps 82, 1 b nur Gott selbst zukommen.
2. Pan-, Kosmo-, Poly‑ und Monotheismus (Assmann) – und eine unlösbare Theodizeefrage? Ein (antik‑)platonisch-christlicher Lösungsvorschlag in exemplarischer Abgrenzung zu V. Hösle und G. W. Leibniz Ohne dass dies vielleicht zunächst allzu offensichtlich erschiene, tangiert die Frage des interreligiösen Dialogs fast immer auch das Thema der Theodizee, also die uralte Frage nach der Vereinbarkeit der Übel und des Bösen in der Welt mit der wesentlichen Gutheit Gottes.1920 Im 21. Jhd. n. Chr. mag sich dieser Zusammenhang vielleicht aus einem ganz anderen Grund aufdrängen: Der derzeit um sich greifende, vor allem islamistisch geprägte Terror stellt nicht nur die Frage, wie Fanatiker aufgrund ihrer Religion und ihres Glaubens an einen gerechten Gott zu solchen ‚Mitteln‘ greifen können, sondern er lässt auch die verständliche Gegenfrage aufkommen, ob nicht eine Welt ohne Religion ‚dann doch besser‘ wäre. Im philosophisch-theologischen Kontext ergibt sich jedoch auf ganz andere Weise ein Konnex zwischen interreligiösem Dialog und Theodizee: Dieser hat mit dem Interpretationsmodell einer pan‑ oder kosmotheistisch begründeten Identifikation von Gott / Göttern und Welt zu tun, welcher in diesem Kapitel zuerst nachgegangen werden soll, bevor in einem zweiten Schritt dann die sich daraus für die Theodizee ergebenden Konsequenzen diskutiert werden. In den gewichtigen, die Mono‑ und Polytheismus-Debatte um die Jahrtausendwende maßgeblich anstoßenden Ausführungen von Jan Assmann war zu beobachten, dass eine sozusagen fruchtbare Kombination (a) der Übersetzbarkeit vieler Götter (polytheistischer Aspekt) und (b) der Mosaischen Unterscheidung von Wahr und Falsch (monotheistischer Aspekt) womöglich einen materialistisch zu verstehenden Pantheismus zur Konsequenz haben könnte, Gott und Welt / Natur also miteinander identifizieren würden.1921 Dies wäre zwar leicht in Einklang 1920 Zurückverfolgen lässt sich dieses Problem bis zum Anfang der abendländischen Literatur: Vgl. die allerersten Worte des Zeus in seiner Rede zu Beginn von Homers Odyssee (I, 32–34): Obwohl sie sich selbst Ursache der Übel seien, würden die Menschen die Götter anklagen. – Zur Theodizee in der Odyssee vgl. jetzt Grethlein (2017: 227–242) und dazu meine Rezension (Drews 2017 c) mit einer Kritik an Grethleins Deutung der homerischen Theodizee. Zum Verhältnis Gott und Mensch in der Odyssee s. ferner Drews (2016). 1921 Vgl. etwa Assmann (1998: 79) dazu, dass der höchste Gott „seine transzendente Außerweltlichkeit aufgeben und eine immanente kosmische Gottheit werden“ müsse. „Die Vorstellung
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zu bringen mit einem bestimmten, postmodernen Zeitgeist, der die Frage nach Gott auf die Frage nach der Welt verschiebt,1922 stünde jedoch im Gegensatz nicht nur zu den großen monotheistischen Religionen – der Kirchenvater Augustinus bemerkt zu einer Identifikation von Gott und Welt lakonisch-ironisch, dass Gott dann kontinuierlich von seinen Geschöpfen getreten und getötet würde, was mit einer rationalen Theologie in seinen Augen wenig zu tun haben dürfte.1923 Es stünde zudem aber auch im Gegensatz zu solchen Religionsphilosophien, welche zwar viele Götter, aber trotzdem keinen Pantheismus annehmen, vielmehr die Transzendenz der vielen Götter betonen, wie dies z. B. der Neuplatoniker Proklos tut.1924 In der jüngeren Forschung ist jene Form des ‚Zeitgeist-Denkens‘ durchaus gesehen und vor seiner Selbstverständlichkeit gewarnt worden, wenn man etwa neuzeitlich-aufklärerisch den Verstehensprozess [sc. von Gottesbildern] zugunsten der Weltbilder umkehrt und ihn als den einzig legitimen dogmatisiert. Man wird zu verstehen versuchen müssen, wieso die weitaus meisten Quellen aller in das Projekt einbezogenen Religionen die Weltbilder als Konsequenzen und Funktionen der Gottesbilder betrachten (Kratz / Spieckermann, 2009 a: XIV).1925 von der Konventionalität und dementsprechenden Übersetzbarkeit der Götternamen beruhte auf natürlicher Evidenz, d. h. auf dem Bezug auf Erfahrungen, die allen Menschen zugänglich waren. Seneca verweist auf die sichtbare Evidenz der Einheit Gottes in genau diesem Sinne: ‚Dieses All, das du erblickst, und das Götter und Menschen umfaßt, ist Eines. Wir sind nur Glieder eines großen Körpers‘ “ (ibd., 81). Es ist wohl kein Zufall, dass Assmann hier Seneca (omne hoc, quod vides, quo divina atque humana conclusa sunt, unum est; membra sumus corporis magni, epist. 95, 52) zitiert, der als Stoiker materialistisch denkt und Gott und Welt pantheistisch identifiziert (‚ein großer Körper, der Götter und Menschen umfasst‘; zur pantheistisch-materialistischen stoischen Theologie vgl. außerdem Frede 1999: 51). Der Pantheismus, den Assmann als Lösung von religiösen Konflikten und als Zusammenführung verschiedener Gottesbilder anzudeuten scheint (zum hen kai pan vgl. Assmann 1998: 119), zeigt zumindest eine stoische Prägung, und das bedeutet, er ist nur vor dem Hintergrund einer letztlich materialistischen Weltsicht plausibel, vermutlich aber nicht mit Auffassungen von göttlicher Transzendenz kompatibilisierbar (vgl. kritisch zum ‚deus sive natura‘-Konzept Ratzinger – Benedikt XVI. 2005 b: 172, 175). Es geht hier nicht darum, speziell Assmann dafür zu kritisieren; jedoch auch eine solche Harmonisierung im Rahmen eines von Assmann favorisierten „Kosmotheismus“ („Im Grunde geht es […] um die Göttlichkeit der Welt“, Assmann 2003: 96) hat ihren eigenen ‚Preis‘. Vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2005 b: 184–6). – Zu der Interpretation, dass „die Tendenz zur Identifikation von Gott und Welt die differentia specifica des Polytheismus ist und umgekehrt die Unterscheidung von Gott und Welt als differentia specifica des Monotheismus angesehen werden kann“, s. Kratz / Spieckermann (2009 a: XVIII, ebenso XX). Zur Vorstellung der vielen Götter als der Glieder des einen Gottes vgl. Cerutti (2010: 24 f.). 1922 Vgl. Tugendhat (2003: 124): „Es kommt hinzu, daß der Glaube an Gott, wenn man sich klarmacht, daß er in einem Wunsch motiviert ist, an der Barriere des intellektuellen Gewissens scheitert. […] Wenn es stimmt, daß man heute nicht mehr religiös im engeren Sinn sein kann, und wenn es stimmt, daß man nur auf etwas Unverlierbares hin sich selbst sammeln kann, kann dies nur das mystisch gedeutete Universum sein.“ 1923 Augustinus, civ. IV, 12; 163, 5–10. 1924 S. o. Kap. III.e–g. 1925 Weitere bedenkenswerte Kritikpunkte und Warnungen vor vermeintlichen Selbstverständlichkeiten bei Kratz / Spieckermann (2009 a) beinhalten z. B.: „Die üblichen, durch ein bestimmtes Verständnis des Dekalogs beförderten Gleichsetzungen, nach denen Polytheismus
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Auch die von Assmann vertretene These, dass dem Monotheismus im Gegen‑ satz zum Polytheismus eine welt-verneinende, Gott und Welt strikt voneinander abgrenzende Haltung innewohne,1926 würde z. B. im Hinblick auf das Weltbild eines Proklos kaum sinnvoll erscheinen: Zwar ließe sich ‚die Welt‘ immer als vielheitliche Ausprägung des im Vergleich zu ihr sehr viel geeinteren Göttlichen interpretieren – aber ebenso auch als eine bestimmte Einheit, insofern alle Vielheit immer schon durch Einheit bedingt ist1927 und auch ‚die Welt‘ in ihrem Erscheinungsbild keine völlig und total zersplitterte Vielheit darstellt. Obgleich also gemäß Proklos das absolute Eine sich über die Henaden‑ und Ideengötter in die Vielheitlichkeit entfaltet, so kommt es doch, neuplatonisch betrachtet, niemals zu einer Identifikation der vielen Götter mit ‚der Welt‘, ja die vielen Götter sind von sich selbst her zunächst einmal genauso transzendent wie der eine Gott, auch wenn an ihrem Wirken partizipiert werden kann, denn ihr Partizipiertwerden macht die Götter für Proklos keinesfalls zu einem ‚Stück Welt‘, absorbiert sie auch nicht in einer Weise in die Welt, dass sie selbst sterblich würden etc., denn der Teilhabemodus ist stets ein rein geistig-intelligibler, kein dinglicher, bei dem es um ein ‚materielles Stück von einem Ding‘ ginge. Gemäß Assmanns Stoßrichtung, dass die vielen Götter kosmotheistisch mit der Welt zu identifizieren und dann auch ‚ineinander übersetzbar‘ seien, scheint die Unterscheidung zwischen den vielen Göttern und dem einen Gott letztlich im Grunde kaum noch relevant: die bildhafte Verehrung von Göttern sei, Monotheismus die bildlose Gottesverehrung, sind in solcher Pauschalität falsch“ (XIV); „Gerade am Beispiel des vorexilischen Israel, aber zum Teil auch noch des nachexilischen Judentums, wird die Insuffizienz der zur Verfügung stehenden Begrifflichkeit Polytheismus – Monolatrie – Monotheismus für die zu bezeichnenden Phänomene der (praktizierten oder konzeptionellen) Ein-Gott-Verehrung bewußt“ (XV); „Die in den beiden Bänden vorliegenden Beiträge dokumentieren somit eindrücklich, wie wenig die in den Blick genommenen Religionen und Kulturkreise zu einfachen Theoriebildungen im Blick auf das Verhältnis von Polytheismus und Monotheismus einladen“ (XVII–XVIII). „Der exklusive Monotheismus der letzteren [sc. Christen] wollte paganen, durchaus nicht böswilligen Zeitgenossen indessen als Atheismus, Aberglaube und Menschenhaß erscheinen“ (XVI–XVII); „Möglicherweise ist es gerade die Soteriologie, die in monotheistischen Religionen durch Dramatisierung zur Bruchstelle mit polytheistischen Religionen wird und durch den Universalitätsanspruch, daß das Heil exklusiv in der Macht des einen Gottes liegt, zur Intoleranz führt. Allerdings beruht diese Erwägung auf der allererst zu beweisenden Annahme, daß die Soteriologie in polytheistischen Religionen tatsächlich einen geringeren Stellenwert hat“ (XXI). – S. ferner Gers-Uphaus / Klug (2013: 3): „Es zeigt sich hierbei deutlich, dass sich das ‚pagane‘ Milieu mitnichten schlichtweg als ein monolithisch-polytheistisches charakterisieren lässt“; „Eine Analyse sogenannter heis theos-Inschriften des östlichen Mittelmeerraumes aus dem 4. bis 6. Jahrhundert n. Chr. brachte zutage, dass diese – neben jüdischer und christlicher – auch ‚paganer‘ Provenienz sein können und somit für sich genommen noch kein eindeutiges Merkmal einer religiösen Gruppierung darstellen. Des Weiteren deuten Überlegungen zum Ursprung (archê) der Welt im Rahmen der hellenistisch-römischen Philosophie darauf hin, dass man hier der Einzigkeit des ersten Prinzips den Vorzug vor der Vielheit gab.“ 1926 Assmann (2003: 20, 96, 163). 1927 S. o. Kap. III.d.
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Nicht auf die Vielheit des Göttlichen kommt es an, sondern darauf, daß es in der Fülle und Vielfalt seiner innerweltlichen Manifestation durch keine dogmatischen Grenzziehungen beschränkt wird (Assmann 2003: 96).
Der antidogmatische Reflex mag zwar einem postmodernen Leser möglicherweise positiv erscheinen – aber werden mit einer solchen theologischen Einebnung den Religionen nicht auch ihre Spezifika streitig gemacht, zumindest vernachlässigt? Wenigstens die hier behandelten Autoren aus Antike und Mittelalter würden – wenn im Einzelnen auch aus Gründen, die stärkerer Differenzierung bedürfen – eine Identifikation von Gott / Göttern und Welt strikt ablehnen.1928 Auch ein interreligiöser Dialog im Sinne eines Origenes, Cusanus oder auch Keshavjee würde, obwohl nicht aus einer indifferenten Perspektive geführt, die Religionen nicht auf einen ‚Einheitskosmotheismus‘1929 verpflichten, sondern zunächst in ihren spezifischen Eigenheiten möglichst ernst nehmen wollen: Ein interreligiöser Konsens lässt sich gerade bei Cusanus nicht ohne Transzendenz erreichen, vielmehr ist es die höhere Geeintheit des platonisch verstandenen Intelligiblen, auf dessen Ebene auch zunächst kontradiktorische Gegensätze einer Annäherung zugeführt werden können. Dieser Aufstieg setzt als gedankliche Bewegung letztlich bereits das transzendente Göttliche als Bedingung der Möglichkeit eines solchen Aufstiegs voraus – und gerade keine kosmotheistische Identifikation von Gott und Welt. Assmann legt dagegen den Fokus ganz auf die „innerweltlichen Manifestationen“ des Göttlichen, letztlich also auf die Welt an sich; für die Manifestationen wird es dann unerheblich, ob das Göttliche von sich selbst her viel‑ oder einheitlich geprägt ist und in welcher Weise diese Aspekte sinnvoll differenziert werden können. In Assmanns Entwurf scheint es so, als ob Immanenz und Transzendenz kontradiktorische Alternativen wären1930 und als ob er die „Göttlichkeit der Welt“ der gewissermaßen ‚primären Religionen‘ als göttliche Immanenz im Unterschied zur monotheistischen Transzendenz betrachtet,1931 so dass man den von ihm ins Feld geführten Freud’schen „Fortschritt in der Geistigkeit“,1932 1928 Eine Sonderstellung könnte hier evtl. Eriugena einnehmen, insofern denn hinreichend Grund bestünde, ihn pantheistisch zu interpretieren (s. o. Kap. IV.7). 1929 „Es geht um Vielheit, gewiß, aber nicht das numerische Prinzip der Vielheit ist entscheidend, sondern die Nichtunterscheidung von Gott und Welt, aus der sich die Vielheit mit Notwendigkeit ergibt“ (Assmann 2003: 62). Obwohl Assmann ja gerade die Vielheit hochschätzt, zielt der Duktus seiner Argumentation, d. h. die „Nichtunterscheidung von Gott und Welt“, letztlich doch auf einen Einheitskosmotheismus, dem eine davon zu unterscheidende Dimension der (in Assmanns Kategorien: ‚monotheistischen‘) Transzendenz zu fehlen scheint. 1930 Deshalb kommt es vielleicht auch dazu, dass gemäß Assmann (1998: 79) der höchste Gott „seine transzendente Außerweltlichkeit aufgeben und eine immanente kosmische Gottheit werden [sc. muß]“ (s. o. Anm. 1921). Andererseits räumt Assmann (2003: 74–75) selbst mit Blick auf Ägypten gegenüber der ‚irdischen Gerechtigkeit‘ eine „göttliche Idee“ der Gerechtigkeit ein und bezeichnet auch die ägyptischen Götter als „fern und verborgen“ (ibd., 96). 1931 Assmann (2003: 62–63). 1932 Assmann (2003: 134, 163, 165, 177, Anm. 91).
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welchen der Monotheismus durch die „Ablösung“ des Göttlichen „von der sinnlichen Welt“ (Transzendenz) darstelle, anscheinend als radikale Überwindung der polytheistischen Immanenz begreifen solle.1933 Dabei erscheint gerade die Polarisierung eines ‚entweder Transzendenz oder Immanenz‘-Denkens als in sich problematisch.1934 Eine allein immanentistische Theologie führt zu einem Pantheismus im Sinne der Gleichsetzung von Welt und Gott, aus der man das Göttliche letztlich aber auch genauso gut streichen kann, weil es für das philosophische Wirklichkeitsverständnis keinen sachlich zwingenden Unterschied mehr bedeutet, ob die Welt bzw. das „Universum“ für sich steht oder eben nachträglich, also im Sinne eines zwar nicht erforderlichen, aber ansprechenden Kolorits, „mystisch gedeutet“ wird (Tugendhat 2003: 124). Eine verabsolutierte göttliche Transzendenz verursacht dasselbe Resultat, weil die Abgewandtheit des Göttlichen von der Welt (im epikureischen Sinne) offensichtlich für ‚das Leben hier‘ unerheblich ist. Diese ‚Alternative‘ erbringt insofern kaum ein theologisch sinnvolles, tragfähiges Resultat – beide Male hebt sich Theologie in letzter Konsequenz sogar selbst auf. Von Proklos her ergibt sich zu diesem Problem eine differenziertere Position, da er erstens nicht aus historischen Gründen (auch Gedächtnisgeschichte, wie Assmann sie favorisiert, ist ja auf ihre Weise historisch motiviert1935) die monotheistische Theologie als eine lediglich sekundäre Entwicklung betrachtet.1936 Vielmehr bringt Proklos erstens sachlich-philosophische Gründe für den Primat des Einen vor;1937 zweitens führt er (a) die absolute Transzendenz und (b) die letztlich pantheistische Position „Gott ist Einer und Alles“1938 nicht widersprüchlicherweise zusammen, sondern setzt aus guten Gründen die sinnlich-wahrnehmbare Welt nicht mit der Fülle der vielen Götter gleich,1939 billigt vielmehr den vielen Göttern (zunächst den im strengen Sinne noch vor-vielheitlichen, überseienden Henaden1940) ein überdeutliches Maß an Transzendenz zu, da sie sich – vereinfacht gesprochen – nicht in der vergänglichen Realität unmittelbar offenbaren, sondern vor allem in der ewigen, wahrhaft seienden, intelligiblen Assmann (2003: 158). Assmann (2003: 159) kommt am Ende des Buchs selbst auf „weltzugewandte Aspekte“ des Einen Gottes zu sprechen. 1935 „Ich frage nicht, wie es eigentlich gewesen, sondern wie es erinnert und in das geschichtliche Selbstbild bzw. die historische Semantik einer Gesellschaft eingebaut wurde“ (Assmann 2007: 30). 1936 Vgl. aber Assmann (2003: 162): „Monotheismus ist die Sache einer Auswanderung, Abgrenzung, Konversion, Revolution, […] die mit der […] Verwerfung und Verleugnung des Alten verbunden ist.“ Ferner: „In jedem Falle definiert sich der Monotheismus von seinem Gegenteil her, das er als Heidentum ausgrenzt“ (ibd., 164; Kursive FD.) 1937 S. o. Kap. III.d. 1938 Assmann (2003: 96). 1939 Vgl. Kap. III.c zur Eidoslehre und den Aspekten Transzendenz und Immanenz am Beispiel ‚Dreieck‘. 1940 S. o. Kap. III.e–g. 1933 1934
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Welt. Erst die seienden, rein intelligiblen Götter (die im Verhältnis zu den He‑ naden von sekundärem Rang sind und laut Proklos wiederum eine in sich hochdifferenzierte Hierarchie darstellen) vermitteln der vergänglichen, materiellen Welt ihr partikuläres Sein im Sinne des Werdens und Vergehens. Insofern gibt es bei Proklos zwar zu womöglich allen theologischen Konzeptionen philosophische Anknüpfungspunkte, die aber nicht einem modernen Patchwork gleichen, sondern in sich eine einheitliche Theologie darstellen.1941 Erklärt man indes mit Assmann die Frage, ob es Engel „neben dem Einen wahren Gott“ gibt, für „völlig irrelevant“,1942 dann ist einer tatsächlichen Vermittlung zwischen Mono‑ und Polytheismus der Boden von vornherein entzogen (wobei es einen wichtigen theologischen Unterschied machte, ob die Engel tatsächlich „neben“ oder doch eher ‚unter‘ dem Einen Gott stehen und entsprechend verehrt werden). Dass ferner Assmanns zwar zunächst einleuchtende Polarisierung ‚Kosmotheismus vs. Monotheismus‘ auch für das Christentum kaum gelten kann, zeigt schon Paulus’ Römerbrief im ersten Kapitel: Denn seine [sc. Gottes] Unsichtbarkeit wird von der Gründung des Kosmos an anhand der Schöpfungen [sc. Gottes] geschaut als etwas geistig-intellekthaft Erkennbares, die Ewigkeit sowohl seiner vermögenden Macht (dynamis) als auch seiner Gottheit (theiotês) (Paulus, Rö 1, 20).1943
Was Paulus hier in wenigen Worten erörtert, ist gerade die Differenzierung und die Synthese von Gottes unsichtbarer Transzendenz und seinem schöpferischen Wirken, welchem sich die sinnlich-wahrnehmbare Welt verdanke. Beides gehört offenbar auch am Anfang des Christentums schon zusammen, ohne dass es miteinander identifiziert würde. Für das Christentum ist dies nicht zuletzt Teil seines innerreligiösen Wahrheitsanspruchs, welchem in interreligiöser Hinsicht Rechnung zu tragen wäre.1944 Eine kosmo‑ respektive pantheistische Identifikation von Gott und Welt nivelliert dagegen Differenzierungen – und letztlich auch Wahrheitsansprüche, die dann bestenfalls noch pragmatisch-„ ‚lebensdienliche‘ Wahrheiten“1945 sein S. o. Kap. III.g. Assmann (2003: 163). 1943 Zur Stelle s. o. Kap. IV.2.2 a. 1944 Zum Thema Wahrheitsanspruch und ‑fähigkeit s. o. Kap. VI.1. 1945 „Ich halte […] daran fest, daß wir uns […] nicht mehr auf ‚absolute‘, sondern nur noch auf relative, d. h. ‚lebensdienliche‘ Wahrheiten berufen können, die es immer neu auszuhandeln gilt“ (Assmann 2003: 165). Diese Feststellung entspricht freilich Assmanns implizit rein historisch argumentierender Vorgehensweise; sie ist in sich jedoch nicht unproblematisch: Wer die Wahrheitsfrage selbst vollständig historistisch auflösen und sich von den „Wahrheitsansprüchen“ früherer Texte und Denker „verabschieden“ zu können meint, „verhält sich selbst ungeschichtlich, weil er nämlich annimmt, seinerseits im Besitz eines Maßstabes zu sein, mit dem er alle zurückliegenden Wahrheitsansprüche interpretieren und bewerten kann“ (Spaemann 2012 a: 160–1). Zum selben Problem im Zusammenhang mit Chlups (2012) ProklosInterpretation s. o. Anm. 297. 1941 1942
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dürfen und zu diesen ‚verflüssigt‘ werden müssen.1946 Dies mag kurzfristig im Sinne der Toleranz durchaus zweckdienlich sein – aber ist es langfristig auch im Sinne des Selbstverständnisses der Religionen? An dieser Stelle ist nun auf ein weiteres, möglicherweise sogar noch folgenreicheres Problem eines kosmo‑ bzw. pantheistischen Modells einzugehen: Wenn Gott und Welt miteinander identifiziert werden, dann ist Gott Welt und die Welt Gott, also gibt es nichts, was nicht-Gott und nicht-Welt wäre. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Alles in der Welt wäre Gott selbst anzulasten, da nichts von ihm unverursacht oder auch nur verschieden wäre. Diese Position entspricht – in antiken Denkentwürfen gedacht – einem stoisierenden Fatalismus und Materialismus; sie steht zudem im Gegensatz zur Theologie Platons, gemäß welcher Gott (im Sinne des höchsten einen Gottes) nur Ursache von Gutem, nicht aber von Bösem und Schlechtem ist,1947 sowie im Gegensatz zur Gutheit Gottes im Christentum1948 oder auch im Islam.1949 Diese Zusammenhänge sind in ihrem Folgenreichtum tatsächlich nicht überzubewerten: Denn nicht nur erscheint die Möglichkeit einer gelingenden Theodizee innerhalb eines kosmo‑ bzw. pantheistischen, fatalistisch-deterministischen Weltbilds von vornherein ausgeschlossen. Vor allem scheint die Meinung sehr weit verbreitet, dass es zu diesem Modell auch überhaupt keine Alternative mehr gebe – eine Ansicht, die sowohl in systematisch-philosophischer wie auch in historischer Hinsicht fragwürdig sein dürfte. Exemplarisch sei hier etwas detaillierter auf das Buch von Vittorio Hösle God as Reason (2013) eingegangen. Zunächst ist grundsätzlich hervorhebenswert, dass die hier von Hösle zusammengestellten Einzelstudien sich der Philosophical Theology verpflichtet sehen, Glaube und Vernunft zusammendenken und ein „strong commitment to reason“ sein wollen, denn, so Hösle, „nothing in modern science and in modernity in general entails atheism“ (xii). Hösle stellt die Gefahr einer irrationalen Theologie klar heraus: […] many theologians of the twentieth century were fideists […], although this attitude dramatically jeopardized the chances that theology might be taken seriously as a science: 1946 „In dieser Weise müssen wir die Mosaische Unterscheidung selbst zum Gegenstand einer unablässigen Reflexion und Redefinition, einer ‚diskursiven Verflüssigung‘ (Jürgen Habermas) machen, wenn sie uns Grundlage eines Fortschritts in der Menschlichkeit bleiben soll“ (Assmann 2003: 165). Vgl. ebenso: „Die Sprache der Gewalt entstammt dem politischen Druck, aus dem der Monotheismus gerade befreien will. […] Daher kommt es darauf an, diese Motive zu historisieren, indem man sie auf ihre Ursprungssituation zurückführt. Es gilt, ihre Genese aufzudecken, um sie in ihrer Geltung einzuschränken. Ich plädiere also für Historisierung, aber nicht im Sinne der Dekonstruktion (Derrida), sondern der ‚diskursiven Verflüssigung‘ (Habermas), ein Ausdruck, der mir besser gefällt, weil er in Aussicht stellt, daß bei diesem Geschäft etwas übrig bleibt, worauf sich weiterhin Bezug nehmen, woran sich weiterarbeiten läßt“ (Assmann 2007: 50). 1947 S. o. Anm. 63, Kap. II.4.1, II.4.2 b sowie Anm. 1034. 1948 S. o. Kap. V.c2 mit Anm. 1232. 1949 Vgl. Sure 3, 26; in eher gegenteiliger Hinsicht s. jedoch Sure 57, 22.
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after all, why should one respect an alleged revelation from a being whose existence is dubious at best? (2) For such an unintelligible God might well be evil or perhaps identical with matter (6, in ähnlicher Weise 282).
In grundsätzlicher Hinsicht bemerkenswert sind Hösles Befund, „that a synthesis of philosophy, science, and religion is a central need of our culture […]“ (ibd., 271), sowie seine (bittere) Warnung vor einer „culture that no longer knows what it means to be serious, a culture whose representatives lose sight of what it means to sacrifice themselves“ (299). Gleiches gilt für seine Warnung vor der vermeintlichen Attraktivität einer „plurality of reasons“ (239), sein Eintreten für eine „conversion of oneself to a spiritual interpretation of one’s own religion“ (247) sowie für seine Ausführungen zum interreligiösen Dialog: The capacity of interacting with other religions in a way that tries to learn from them without betraying the commitment to certain absolute principles – a commitment that constitutes the essence of religion – will probably be a crucial competence in a globalized, but for the distant future religiously heterogenous world (224–5).
Trotz des insofern begrüßenswerten Ansatzes von Hösle gibt es beim genaueren Hinsehen gravierende, nahezu unüberbrückbare sachliche Unterschiede zu den in der vorliegenden Untersuchung vorgestellten und vertretenen Positionen. Neben der Rede vom antiken Menschen als „archaic individual“ und Hösles reduzierender Umdeutung von göttlicher Personalität als Kants ‚moralisches Gesetz‘1950 betreffen diese Unterschiede vor allem die bereits angesprochenen Themenfelder Theodizee und Determinismus: Während Hösle (ix, 64, 75) sich als Anhänger des Kompatibilismus präsentiert und insofern u. a. von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) abhängig ist, dessen Freiheitsphilosophie „absolutely compatible with a thorough determinism“ sei (64), erscheint es fraglich, ob der Kompatibilismus eine tatsächlich tragfähige philosophische Lösung darzustellen vermag. Kompatibilismus, also die angebliche Vereinbarkeit von Freiheit und lückenlosem Determinismus, geht auf den stoischen Fatumsgedanken zurück1951 und kann letztlich nur eine scheinbare Freiheit postulieren: Dagegen ist es gerade die Leistung des spätantiken Neuplatonismus, dass sowohl von christlicher (z. B. Augustinus) wie von nicht-christlicher Seite (z. B. Proklos) gezeigt werden kann, dass echte, nicht nur scheinbare menschliche libertas sogar mit einem allwissenden Gott vereinbar ist. Dieser Gedanke ist aber nur deshalb widerspruchsfrei, weil Gottes Allwissen hier keinen innerweltlichen Determinismus nach sich zieht; dies wiederum ist nur dann denkbar, wenn der überzeitliche Erkenntnismodus, welcher sich aus Gottes (über‑)wesentlichem Sein als dem (absoluten, überseienden) Einen ableitet, in aller Konsequenz bedacht wird – nur dann sind Am Beispiel von Genesis 22, s. Hösle (2013: 293–4). Vgl. Djuth (1990: 395).
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menschliche Willensfreiheit und göttliches Allwissen „ohne ‚kompatibilistischen Kompromiss‘ dennoch miteinander kompatibel.“1952 Der Kompatibilismus wird also nicht durch die Annahme eines wie auch immer gearteten göttlichen Allwissens als Ausweg ‚logisch notwendig‘, sondern aufgrund eines implizit immer schon vorausgesetzten durchgängigen, innerweltlichen Determinismus:1953 Genau dieser aber wird von der neuplatonischen Philosophie bestritten zugunsten einer echten, innerweltlichen Kontingenz. In einem solchen, nicht prädeterminierten Gestaltungsraum können – ganz grundsätzlich – göttliche wie menschliche Akteure aus eigenem, freiem Entscheiden und Verursachen1954 heraus aktiv werden oder auch miteinander in komplex vernetzte Kausalitäten treten – eine Position, die Hösle (2013: 100) zwar als „serious philosophical alternative“, aber als unvereinbar mit „God’s omnipotence“ ansieht.1955 Vor dem Hintergrund der Annahme echter innerweltlicher Kontingenz muss anders als in Hösles Leibniz’scher Perspektive auch nicht angenommen werden „that some evils are necessary for the sake of higher goods for logical reasons“ (Hösle 2013: 62). Hösle jedoch erscheint von einem „enthusiasm for a deterministic system of natural laws“ geradezu ‚beseelt‘ und geht tatsächlich so weit zu behaupten, dass ein derartiger Determinismus „helps resolve the theodicy problem“ (307). Welche bizarren Folgen sich aus einer derart kühlen ‚Argumentation‘ ergeben, tritt in Hösles eigenen Ausführungen offen zutage, wenn er die implizite Grausamkeit dieser Form von ‚Rationalität‘ lapidar als „nicht notwendigerweise (!) herzerwärmend“ bagatellisiert: God allows innocent children to die because this simplifies considerably the laws of nature. This is Gottfried Wilhelm Leibniz’s famous reply, and even if it is not necessarily heartwarming, it is presumably fair to say that, as of today, no better reply has been offered (307).
Dass Hösle also meint, die Leibniz’sche ‚Argumentation‘ sei in dieser Frage bisher gleichsam ‚der Weisheit letzter Schluss‘, erscheint vielleicht doch als Fehlein1952 Drews (2012 c: 36). Zur genauen Ableitung der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und göttlichem Allwissen gemäß Augustinus und Proklos s. Drews (2009). 1953 Vgl. Hösle (2013: 59) zu Leibniz: „The Leibnizian universe is, like that of Spinoza, completely deterministic.“ 1954 Damit wird indes nicht in Abrede gestellt, dass sich menschliche Entscheidungen bereits an vorausgehenden Determinanten orientieren und sich in Abstimmung mit diesen kon‑ kretisieren: Welche Entscheidung jeweils aktual mit ihren Konsequenzen getroffen wird, liegt gleichwohl im Möglichkeitsraum der denkend-wollenden Seele. 1955 Vgl. dagegen Drews (2009: 167–238, speziell 181–5) zur innerweltlichen Kontingenz bei Augustinus auch noch unter Hinzunahme (!) des Gedankens göttlicher Prädestination, welche sich eben nur auf göttliches Wirken, aber weder auf den innerweltlichen Zeitenlauf als ganzen noch en detail bezieht. Zur grundsätzlich ähnlichen Konzeption von göttlichem Erkennen, geschöpflicher Freiheit, Vorsehung, Schicksal und Kontingenz bei Proklos s. Drews (ibd., 305–357).
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schätzung: Sie verkennt die antiken neuplatonischen wie christlichen Lösungsansätze, welche, um nur die drei wesentlichsten Koordinaten dieser Lösung noch einmal zu nennen, echte innerweltliche Kontingenz, Gottes Güte und geschöpflich-seelische Freiheit (Menschen, Engelwesen) zusammendenken und somit der ‚Fatalismus-Falle‘1956 entgehen – dies allerdings nur, wenn man diese ‚Koordinaten‘ nicht, wie bisweilen üblich, in stoisierend-deterministischer Weise missdeutet oder aus dem Prinzip vom zureichenden Grund einen dann nicht mehr überwindbaren Determinismus konstruiert. Denn wie in ähnlicher Weise schon Schmitt (2003 a: 465) kann auch Hösle (2013: 63) nachweisen, Leibniz sei „too concerned with the principle of sufficient reason“. Dies führe zum Festhalten an „the idea that in the realm of eternal truths there has to be an ideal cause of evil“.1957 Der Satz vom zureichenden Grund scheint also einen deterministisch-fatalistischen Keim in sich zu bergen.1958 Dagegen gelingt es dem antiken Neuplatonismus in Gestalt von Origenes, Plotin, Augustinus, Proklos und Dionysius Areopagita zumindest, weder eine Leugnung oder Bagatellisierung existenter Übel vorzunehmen noch diese metaphysisch als notwendig und unumgänglich anzusehen: Da die privatio boni die Seinsgrundlage aller Übel ist, kann für sie kein „ideal cause of evil“ bestehen. Die Übel brauchen daher auch nicht als vom Schöpfergott gewollt oder verursacht angesehen zu werden, sondern verdanken sich allein einer nicht-necessitierten Abfallbewegung einzelner Seelen. Das mindert keineswegs ihre grausame Realität;1959 jedoch wird die Möglichkeit der Übel nicht von Gott, sondern von abfallenden Seelen hervorgebracht und ‚geschaffen‘.1960 Es handelt sich bei der Möglichkeit der Übel insofern um keine in sich selbst gute Seinsmöglichkeit wie die der platonischen Ideen, sondern um reine Defekte, die nicht eidetisch-göttlich verursacht sind.1961 Die Übel sind daher auch nicht – wie in der deterministisch denkenden Stoa – ‚für das große Ganze irgendwie doch notwendig‘ oder gar selbst ‚schön‘. Vielmehr ist es allein das Wirken der Providenz, welche nachträglich aus den (in sich selbst gleichwohl nicht-notwendigen und nicht-guten) Übeln etwas Gutes entstehen lassen kann – dies bedeutet aber im Nachhinein trotzdem nicht, dass der ‚liebe Gott‘ der Übel deshalb eben doch bedurft hätte.1962 1956 Wenn allerdings jede einzelne Monade zum Spiegel des gesamten Universums erhoben wird (vgl. dazu Weier [1970: 32, 298–9], s. o. Anm. 2; ebenso Hermanni [2011: 328] mit dem Hinweis auf Leibniz, Monadologie [GP, Bd. 6, S. 616, §§ 56 f.]), erscheint eine strikt deterministische Weltsicht als Konsequenz dann nicht mehr überraschend. 1957 Vgl. in ähnlicher Weise mit Bezug auf Schellings Freiheitsschrift Gabriel (2011: 206) dazu, dass „Tod und Sünde notwendig und allgemein“ seien (ebenso ibd., 213). „ ‚Fragt man, woher das Böse kommt, so ist die Antwort: aus der idealen Natur der Kreatur‘ (SW, Bd. VII, S. 368)“ (ibd., 214); „Es gehört daher Schelling zufolge zur Dynamik des Ich, böse zu sein“ (ibd., 215). 1958 Vgl. Hösle (2013: 77). 1959 Vgl. Chlup (2012: 218). 1960 So z. B. Augustinus, vgl. Drews (2009: 131, 382–6). 1961 Zu Proklos vgl. Drews (2009: 347). 1962 Vgl. Drews (2009: 136 ff., 354 ff.).
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Angesichts der diffizilen Abgrenzungen und ihrer nicht unerheblichen Konsequenzen, was die jeweilige Weltsicht und eventuelle Alternativen betrifft, lohnt es sich, vielleicht noch ein wenig genauer auf Leibniz selbst und seine Théodicée aus dem Jahre 1710 zu blicken. Leibniz geht vom gegenwärtigen Ist-Zustand der Welt aus und betrachtet ‚diese Welt‘ trotz der nicht leugbaren Übel in ihr als die bestmögliche.1963 Bereits hier ergibt sich die Rückfrage: Ist es eigentlich notwendig respektive sinnvoll, die Annahme, diese Welt sei von Gott als bestmögliche „erwählt worden“,1964 vom Ist-Zustand der Welt her zu begründen? Führt vom faktischen Ist-Zustand der Welt tatsächlich eine Brücke zu der Vorstellung, diese Welt sei die bestmögliche? Könnte – und sollte – man nicht beides voneinander trennen? Ohne auf die theodizetischen Konsequenzen einzugehen, scheint Schmitt doch einen wesentlichen Aspekt in Leibniz’ Denken einzukreisen: Leibniz’ Äußerungen zeigen ja selbst, daß er das, was wirklich ist und existiert, eben deshalb [sc. aufgrund des Prinzips vom zureichenden Grund] für etwas hält, was genauso ist, wie es ist, und nicht anders sein kann, d. h.: für etwas Notwendiges (Schmitt 2003 a: 465).1965
Wenn diese Beobachtung zutrifft, dann wäre gemäß Leibniz alles Existierende zugleich etwas notwendig Existierendes – Schmitt weist darauf hin, dass diese Annahme das Produkt einer Philosophie ist, „die den Satz vom zureichenden Grund zu ihrer Basis hat“ (ibd.). Von dieser philosophischen Prämisse aus wird verständlich, warum Leibniz das Dilemma lösen muss, wie die Welt in ihrem Ist-Zustand mit einem guten (Schöpfer‑)Gott zusammengedacht werden kann: Denn wenn die Welt deshalb so ist, wie sie ist, weil sie notwendig so ist, wie sie ist, und demzufolge in aller Grundsätzlichkeit gar nicht anders sein kann, als sie ist, dann rührt jeder Ist-Zustand der Welt in seiner Notwendigkeit direkt von Gott als dem guten Schöpfer her. Mit anderen Worten: Diese Welt kann für jeden beliebigen ihrer Betrachter (zu allen Zeiten) in ihrem jeweiligen Ist-Zustand nur als notwendig, als nicht anders denk‑ und vorstellbar begriffen werden; weil sie von Gott geschaffen wurde, ist sie notwendig gut. Erscheint sie jedoch aufgrund der Übel nicht als gut, dann bleibt sie dennoch die bestmögliche aller Welten, weil Gott sie nicht anders bzw. besser schaffen konnte. Damit werden die Übel zwar nicht an sich geleugnet, aber es besteht eine gewisse Nähe zur stoischen Position, gemäß welcher die Übel ‚uns Menschen‘ nur als Übel erschienen, während 1963 „C’est ainsi qu’il faut concevoir la création du meilleur de tous les univers possibles, d’autant plus que Dieu ne décerne pas seulement de créer un univers, mais qu’il décerne encore de créer le meilleur de tous“ (Leibniz, Théodicée II, 196; 234). 1964 Leibniz, Théodicée, Prêface; 44 (zum Zitat s. das Folgende im Haupttext). 1965 Vgl.: „[…] afin qu’on voie de quelle importance est, selon lui-même, le principe de la raison suffisante“ (Leibniz, Théodicée – Remarques sur le livre de l’origine du mal, publié depuis peu en Angleterre III, 6; 391); „[…] et il est nécessaire même que ce qui n’a aucune raison suffisante n’existe point […]“ (ibd., III, 14; 400).
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sie in Wirklichkeit eigentlich gut seien1966 bzw. gemäß Leibniz Gott zumindest nicht daran hindern konnten, diese Welt genau so, wie sie ist, zu schaffen, und zwar als bestmögliche inklusive aller Übel. Es dürfte an dieser Stelle schon erkennbar geworden sein, dass Leibniz’ Theodizee sich deutlich von der platonischen eines Proklos bzw. der christlich-platonischen eines Augustinus unterscheidet. Gemäß den beiden antiken Denkern werden die Übel der Welt weder geleugnet noch als von Gott in seinem Weltenplan bereits ‚mitverursacht‘ gedacht – sie sind nicht notwendig, sondern könnten auch nicht geschehen bzw. nicht sein: Nur unter dieser Voraussetzung hat für Proklos, Augustinus, aber auch schon für Platon1967 sowie für Origenes,1968 Boethius1969 u. a. die Annahme einen Sinn, dass die Welt gut geschaffen worden sei von einem guten Gott, ohne dass es eidetische, logoshafte Seinsursachen für die Übel in Gott selbst gebe. Platon entlastet Gott bekanntlich explizit dadurch, dass er „nur für ganz Weniges bei uns Menschen“ die Ursache sei, nicht aber für das Schlechte.1970 Dies bedeutet doch aber, dass im platonischen Kontext die Prämisse, die Welt sei gut erschaffen, gerade nicht, ja sogar völlig undenkbarerweise vom Ist-Zustand der Welt, wie ‚wir Menschen‘ sie in aller Regel vorfinden, abhängen kann. Der philosophische Grund dafür liegt auf der Hand: Für die Platoniker gibt es keinen durchgängigen, innerweltlichen Totaldeterminismus (wie in der Stoa), Gott und Welt sind deshalb auch nie kosmo-pantheistisch dasselbe (wie bei Assmann), sondern die Welt ist zwar gut angelegt, wie Platon im Timaios ausführt,1971 aber es besteht echte, nicht nur scheinbare Kontingenz (wie im Kompatibilismus), so dass die geschaffenen Wesen bzw. Seelen sich zum Guten hin‑ oder von ihm abwenden können. Aus letzterer Möglichkeit resultieren die Übel – eine Möglichkeit, von der Augustinus sagt, die Seelen würden sie „sich selbst schaffen“, weil eine solche ‚Möglichkeit‘ der Defizienz von Gott nicht als Seinsmöglichkeit vorgesehen, geschaffen oder gar necessitiert sei.1972 Ist dieser Abfall vom Guten jedoch nicht-notwendig, dann sind es streng genommen auch nicht die aus ihm resultierenden Übel; folglich kann der Ist-Zustand der Welt mit ihren Übeln nicht als Maßstab dafür genommen werden, die Welt sei gut oder gar die bestmögliche. Die angelegte Welt hat aus dieser platonisch-christlichen Perspektive zwar die vom Schöpfer mitgegebene Potenz, sich zum Guten zu entfalten; inwieweit ‚die Welt‘ – genauer: die Seelen – diese Potenz nutzen, ist kontingent: Je nachdem, kann der Ist-Zustand der Welt erheblich differieren, er ist so oder so nicht not‑ Zu Mark Aurel vgl. oben Anm. 779. S. o. Anm. 1883. 1968 S. o. Anm. 779. 1969 S. o. Anm. 19. 1970 Platon, resp. 379c2–7. 1971 S. o. Kap. II.2. 1972 Augustinus, civ. XXII, 1; 553, 26 sowie XII, 6; 521, 22. Vgl. Drews (2009: 131, mit Anm. 289). 1966 1967
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wendig, folglich ist auch die Welt nicht notwendig so, wie sie ist, inklusive der Übel. Ob eine bestmöglich angelegte Welt auch bestmöglich wird, liegt in der echten freiheitlichen Verantwortung und Ursächlichkeit der Einzelseelen.1973 Bei Leibniz ist die Welt jedoch immer schon die bestmögliche, und zwar notwendigerweise – im Sinne der Philosophie des Satzes vom zureichenden Grund. Kann also wirklich noch mit Hösle gedacht werden: God allows innocent children to die because this simplifies considerably the laws of nature. This is Gottfried Wilhelm Leibniz’s famous reply, and even if it is not necessarily heartwarming, it is presumably fair to say that, as of today, no better reply has been offered (Hösle 2013: 307; Kursive FD).
Zwei Aspekte bei Leibniz sollen wenigstens noch angesprochen werden: Zum einen die angebliche ‚Erwählung der bestmöglichen Welt durch Gott‘, zum anderen die Frage, ob Gott gewissermaßen nicht anders konnte, als eine Welt mit Übeln zu schaffen. Denn gemäß Leibniz liegt die „wahre Wurzel des Sündenfalls“, also des Grundübels schlechthin, „in der ursprünglichen Unvollkommenheit und Schwäche der Geschöpfe“: Mais la vraie racine de la chute est dans l’imperfection ou imbécillité originelle des créatures, qui faisait que le péché était contenu dans la meilleure suite possible des choses, dont nous avons parlé ci-dessus. D’où il est résulté que la chute était à juste titre permise, nonobstant la vertu et la sagesse divines, et même qu’elle ne pouvait pas ne pas être permise sans qu’il y fût porté atteinte (Leibniz, La Cause De Dieu …79; 440).
Dies scheint zu bedeuten, dass nach Leibniz die Geschöpfe und speziell die Menschen von vornherein eine Schwäche gleichsam mitgegeben bekommen haben und die Übel in der Welt deshalb unausweichlich sind.1974 Für Platon dagegen hat 1973 Im Hinblick auf Naturkatastrophen ist die Voraussetzung, dass Übel durch abfallende Seelen verursacht werden, freilich nur dann tragfähig, wenn diese sog. ‚natürlichen Katastrophen‘ entweder direkt oder indirekt auf das Wirken seelischer Agentes zurückgehen. Für den antiken Platonismus, gemäß welchem sich letztlich alle materielle Gestaltung geistigen Akteuren (engelhaften Daimones / Engeln, Menschen sowie beseelten Tieren und Pflanzen) verdankt, ist diese Position unproblematisch. Dies dürfte auch noch für ein ursprüngliches Christentum z. B. im Sinne eines Origenes gelten, bevor später im Christentum eine Sichtweise an Dominanz gewinnt, dass alles in der Welt direkt auf Gott selbst zurückgehe: Vgl. Siebenrock (2008: 219– 223) dazu, dass „am Ende des Mittelalters […] diese sittliche [sc. ontologisch gute] Bestimmtheit der göttlichen Allmacht aufgehoben“ wird, z. B. bei Duns Scotus und Martin Luther (s. o. Anm. 1294). – Aus moderner Perspektive erscheint – ohne jetzt einer plakativen ‚Lösung‘ das Wort reden zu wollen – die Veränderung der Natur durch geistige Akteure insofern wieder als ein denkbarer Ansatz, als nicht zuletzt die globalen Bemühungen des Umweltschutzes eine maßgeblich durch den bzw. die Menschen verursachte Entwicklung zum Schlechteren eindämmen bzw. rückgängig zu machen versuchen: D. h., hier wird nicht nur vorausgesetzt, dass der Mensch einen wesentlichen Anteil an Umweltveränderungen im negativen Sinne hat, sondern nun auch positiv versucht, diese seine Verantwortung und den implizierten Gestaltungsspielraum zu nutzen für eine Verbesserung der Umweltbedingungen. 1974 Nach Leibniz wäre Gott als moralische Ursache für alles in der Welt verantwortlich, weil er es sein soll, der den Menschen „in solche Verhältnisse bringt“ („[…] il connaît tout ce qui
2. Pan-, Kosmo-, Poly‑ und Monotheismus
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der Mensch ursprünglich nicht schon diese Schwäche, er muss sich auch nicht vom Guten entfernen. Analog ist auch bei Augustinus im christlichen Kontext der Sündenfall nicht notwendig oder vorprogrammiert.1975 Somit ist Gott dann auch nicht schuld daran, dass er seine Geschöpfe „schwach“ erschaffen hätte und gewissermaßen nicht anders konnte, als eine Welt inklusive der Übel hervorzubringen. Für die antiken Platoniker (pagan wie christlich) entsteht somit gar kein derartiges Theodizeeproblem wie für Leibniz, der meint, diese Welt müsse als ganzes und inklusive der Übel ‚die beste aller möglichen‘ sein. Leibniz geht davon aus, Gott habe die beste Welt „erwählt“: […] environ l’an 1673, où je mettais déjà en fait que Dieu ayant choisi le plus parfait de tous les mondes possibles, avait été porté par sa sagesse à permettre le mal qui y était annexé, mais qui n’empêchait pas que, tout compté et rabbatu, ce monde ne fût le meilleur qui pût être choisi (Leibniz, Théodicée, Prêface; 44).
Auch hier ist bezeichnend, dass das „Übel“ mit der Welt von vornherein „verbunden“ scheint, die Welt also im Unterschied zum Platonismus gar nicht ohne Übel bestehen können soll. Die Vorstellung, Gott habe zwischen verschiedenen möglichen Welten ‚gewählt‘, geht auf Luis de Molina (1535–1600) und dessen Theorie der Scientia media zurück, die Gott aufgrund eines ‚kontrafaktischen‘, vorrealen Wissens über das menschliche Wollen (und über die darauf basierenden Entscheidungen in bestimmten Situationen) bestimmte Menschen und Situationen auswählen lässt, die erst dann – aufgrund dieser vorausgehenden Wahl – in der von ihm erschaffenen Welt lebendige Realität werden: Gott bestimmt anhand seines kontrafaktischen Mittelwissens selbst, welche Welt er mit welchen Menschen, die sich (aufgrund ihrer nur noch scheinbaren Freiheit) in bestimmten Situationen nur noch so und nicht anders verhalten, zur Realisation auswählt.1976 Die Erwählung der bestmöglichen Welt scheint jedoch mehrere wählbare Welten zu implizieren:1977 Gott hätte sich gleichsam auch für eine schlechtere Welt entscheiden können. Für einen antiken Platoniker wäre diese Hypothese vermutlich untragbar: Wieso sollte Gott, wenn er wesensmäßig gut ist, überhaupt eine Wahl zwischen ‚besseren bzw. schlechteren Welten‘ treffen? Platon schließt von der absoluten Gutheit Gottes nur darauf, dass Gott die Welt gut erschaffen habe1978 – ein Resultat, dass auch der erste Schöpfungsbericht der Bibel arrivera, s’il met l’homme dans telles et telles circonstances après l’avoir créé; et il ne laisse pas de l’y mettre“, Leibniz, Théodicée I, 4; 105). 1975 Augustinus, civ. XIV, 10. S. dazu Drews (2009: 161, mit Anm. 351). 1976 Im Sinn der Middle-Knowledge-Theorie argumentiert Craig (1987: 134–5). Zur Kritik an der mit der Scientia media implizierten Scheinfreiheit vgl. Drews (2009: 402–4). 1977 Vgl.: „[…] l’amour qu’il a pour lui-même ne l’a point nécessité aux actions au-dehors, elles ont été libres; et puisqu’il y avait des plans possibles, où les premiers parents ne pécheraient point, leur péché n’était donc point nécessaire“ (Leibniz, Théodicée II, 233; 257). 1978 S. o. Kap. II.2 zu Platon, Tim. 29 a.
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VI. Antik-mittelalterliche Positionen und modernes Denken
unterstreicht. Eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten würde die absolute Gutheit Gottes und erst recht das Gut-Sein der ‚bestmöglichen Welt‘ gerade infrage stellen. Wenn noch dazu die bestmögliche Welt unter allen anderen nur diejenige wäre, welche die Realität der Übel von vornherein miteinschließt, dann verschärfte sich das Theodizeeproblem zu einem wohl unauflösbaren Rätsel. Es ist vielleicht der Erwähnung wert, dass noch Leibniz’ älterer Zeitgenosse John Milton (1608–1674) in seinem berühmten Epos Paradise Lost die Welt in ihrem Ist-Zustand gerade nicht (mehr) als die bestmögliche betrachtet, die sie zwar einmal war und auch hätte bleiben können, wenn es nicht den „loss of Eden“ (PL I, 4), den Verlust des Paradiesgartens, aufgrund des Sündenfalls der Menschen (und der Engel) gegeben hätte. Bei Milton spricht Gott in seiner ersten Rede die Worte: „I made him [sc. Man] just and right, / Sufficient to have stood, though free to fall“ (PL III, 98–99). Der Sündenfall erscheint auch hier – noch? – nicht notwendig, obwohl Gott ihn in seinem Allwissen vorhersehend erkennt.1979 Die umfassendste Bewältigung des Theodizeeproblems bietet – jedenfalls aus einer bestimmten Perspektive verstanden – vielleicht sogar das Christentum: Denn neben den oben schon genannten drei Grundkoordinaten der platonischen Lösung – echte innerweltliche Kontingenz, Gottes Gutheit und geschöpflich-seelische Freiheit – ist die Überwindung und Bewältigung allen Übels und Leides durch die Gutheit der göttlichen Vorsehung hier konkret und unmittelbar in der Person Jesu Christi1980 und im christlichen Verständnis seines Kreuzestodes und seiner Auferstehung verankert: „Er wandelt seinen gewaltsamen Tod in einen freien Akt der Hingabe seiner selbst für die anderen und an die anderen um“ (Ratzinger – Benedikt XVI. 2011: 151); wenn Christus den „ihm zugedachten ‚Kelch‘ trinken muss“, dann muss er „die ganze Macht der Sünde und des Todes […] in sich hineinnehmen“, damit sie „in ihm entmächtigt und überwunden werde“ (ibd., 176). Leid und sündhafte Verfehlung werden so zumindest nicht übergangen oder verdrängt; gerade hier erscheint die Überwindung des Bösen durch Gutes1981 nicht als bloßes Gerede oder ‚abstraktes Ideal‘. Gemäß dem Neuen Testament1982 nimmt Christus als unschuldig selbst Leidender am Kreuz sowohl das Leid der Unschuldigen als auch die Bosheit der Schuldigen stellvertretend in sich auf und überwindet1983 beides durch seine Auferstehung, d. h. im Sieg des Lebens über den Tod.1984 Wenigstens gehört dies zum Wahrheitsanspruch der christlichen Religion.
Zu Milton s. Drews (2009: 697–778). Vgl. oben Kap. IV.2.2 b und IV.2.3 b. 1981 Vgl. Paulus, Rö 12, 21. 1982 Vgl. Mk 10, 45; 2 Kor 5, 21; 1 Tim 2, 5–6; Heb 7, 26; 1 Pt 1, 19. 1983 Zum Aspekt der Überwindung und Stellvertretung vgl. Ratzinger – Benedikt XVI. (2011: 153, 196). 1984 Vgl. 1 Kor 15, 26+54 b, 2 Tim 1, 10 b. 1979 1980
2. Pan-, Kosmo-, Poly‑ und Monotheismus
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Ob religiöse Wahrheitsansprüche interreligiös vermittelbar sind, insofern ein deterministisches Weltbild vorausgesetzt oder gar als alternativlos eingestuft wird, darf bezweifelt werden. Die in der Moderne oft vertretene Position, die Welt sei einem Totaldeterminismus unterworfen, zeigt ihr folgenschweres Erbe in der Theodizeeproblematik (Leibniz, Hösle) und auch in der Frage des interreligiösen Dialogs: Wenn Gott und Welt kosmotheistisch miteinander identifiziert werden, die (angebliche) Nicht-Unterscheidbarkeit von Gott und Welt als aufgeklärte Religionskritik erscheint (Assmann), dann löst sich das Göttliche letztlich in der Welt auf und wird verzichtbar – und dies hätte nicht zuletzt auch für die Wahrheitsansprüche vieler Religionen zu gelten, insofern das Göttliche über die Welt hinausweisen und ihr vorausliegen soll. Ob diese Wahrheitsansprüche jedoch tatsächlich einfach aufgegeben werden können oder ob sie nicht vielmehr dadurch, dass ihre Geltung relativiert wird1985 und sie auch untereinander nicht mehr in einem rationalen Diskurs vermittelbar erscheinen, umso mehr aufeinander prallen werden, bleibt eine brisante Frage – besonders angesichts grassierender religiös-terroristischer Fanatismen im 21. Jhd. Die Warnung eines früheren Papstes mag insofern vielleicht nicht unberechtigt erscheinen: Die Gleichsetzung ‚Deus sive natura‘, die Rücknahme der Mosaischen Unterscheidung, bedeutet nicht die Allversöhnung, sondern die Unversöhnlichkeit des Alls. Denn nun ist das Sein selbst widersprüchlich, der Krieg kommt aus dem Sein selbst, gut und böse werden letztlich ununterscheidbar (Ratzinger – Benedikt XVI. 2005 b: 179).
In philosophischer Hinsicht ähnelt die kosmotheistische Identifikation von Gott und Welt der antik-stoischen Auffassung, dass der göttliche Logos der Welt gänzlich immanent sei. Die damit verbundene Prämisse, dass die Welt notwendig so sei und sein müsse, wie sie ist, führt bei Leibniz zum Problem, wie die notwendige Welt mit ihren dann ebenfalls notwendigen Übeln dennoch das Werk eines guten Gottes sein könne. Für den antiken Platonismus besteht dieses Problem aus guten philosophischen Gründen nicht: Die Welt ist gut erschaffen, und zwar in Freiheit, als freie, mit Kontingenz, aber ohne Übel, die daher auch selbst in keiner Weise necessitiert sind, erst recht nicht von göttlicher Seite – Gott und Götter wollen nicht simpliciter, ‚einfach so‘, etwas Übles, weil dies mit der guten göttlichen Natur unvereinbar wäre.1986 ‚Notwendig‘ werden Übel nur und 1985 S. o.,
mit Anm. 1945 und 1946. Auch der Gedanke der göttlichen Allmacht (s. o. Anm. 1294) impliziert ursprünglich keinen stoischen (Prä‑)Determinismus, sondern beinhaltet zunächst die Potenz des Einen-Guten in Person zur Entfaltung der Seienden; d. h., Allmacht ist der Inbegriff der im (über‑)seienden Guten Gottes gegründeten, intellibiglen Seinsprinzipien, gemäß welchen und durch welche die Schöpfung gut, d. h. zur positiven Entfaltung angelegt ist. Alle Depravation und Verzerrung des Guten, aller Mangel hat jedoch keinen intelligiblen Urgrund in Gott, sondern ist Abkehr vom Guten, welche sich auf seelischer Ebene ereignen kann, aber von der guten Anlage der Schöpfung her nicht notwendig oder gar unumgänglich wäre und insofern nicht auf Gottes Allmacht zurückgeführt werden kann, da diese Allmacht weder den Ist-Zustand der Welt und den Lauf der Geschichte in toto prädeterminiert noch von sich selbst her Mangelhaftes erzeugt / schafft. 1986
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VI. Antik-mittelalterliche Positionen und modernes Denken
erst dann, wenn Seelen sich vom Guten abwenden. Dass im Platonismus überhaupt Gott als gut gedacht wird, verdankt sich dem Aufweis, dass generell das Gute ontologisch primär ist, das Üble jedoch als Defizienz des Guten dieses Gute bereits voraussetzen muss und daher als Böses dennoch auf das Gute angewiesen bleibt, ohne dass dies umgekehrt auch der Fall wäre.1987 Entgegen Hösles (2013: 307) Andeutung ist Leibniz’ Argumentation somit nicht alternativlos, möglicherweise auch nicht die ‚bestmögliche Antwort in einer bestmöglichen Welt‘.1988
Vgl. mit Blick auf Augustinus Drews (2009: 31–104). Dass Hösle in seiner Behandlung gewichtiger philosophisch-theologischer Probleme vor allem auf moderne Philosophie (Descartes, Leibniz, Kant, Hegel etc.) Bezug nimmt, bedarf freilich keinerlei Legitimation. Umgekehrt thematisiert die hier vorgelegte Untersuchung fast nur antike und mittelalterliche Philosophen – verbunden mit der grundsätzlichen Frage, ob nicht für bestimmte moderne Probleme Lösungen auch in Antike und Mittelalter gesucht bzw. sogar gefunden werden können. 1987
1988
VII. Epilog 1. Eine Rückschau: Dialogfähigkeit und Teilhabephilosophie, Einwände und Antwortversuche Von Origenes wird überliefert, dass in seiner Schule Platoniker, Juden, Christen voneinander und miteinander lernten – das gemeinsame Gespräch und die intensive geistige, auch scharf und im besten Sinne scharf-sinnige Auseinandersetzung mit Andersgläubigen und ‑denkenden ist seiner Philosophie und Theologie methodisch immanent.1989 Diese Methode ist beispielhaft für einen interreligiösen Dialog. Für das Gelingen eines solchen Dialogs ist bekanntlich immer auch die ausreichende Kenntnis der eigenen Religion und Position erforderlich. Als Nikolaus von Kues seinen interreligiösen Dialog De pace fidei schreibt,1990 blickt er bereits auf fast 1500 Jahre Christentum zurück, hat es also, historisch betrachtet, mit einer ‚langen Tradition‘ zu tun, die ihm vorausliegt. Damit ist jedoch kein Traditionalismus gemeint, als ob das Christentum als ein rein historisches, in verwickelten Traditionssträngen umfangenes Phänomen betrachtet werden sollte. Gemeint ist vielmehr, dass zuerst die sachliche Auseinandersetzung mit wesentlichen Aussagen und Inhalten des Christentums notwendig ist, bevor ein Ausgriff aus dieser Religion heraus auf andere Religionen hin im cusanischen Sinne erfolgen kann: Für eine solche Auseinandersetzung ist zu schauen, welches die zentralen Inhalte sind und wie sie möglichst stringent durchdacht werden können – genau dafür nutzt Cusanus durch entsprechende ‚Siebung‘ diese philosophisch-theologische Tradition. In der vorliegenden Untersuchung wurde die platonische Teilhabe-Philosophie als Basis von Ontologie, Erkenntnistheorie, Theologie ins Zentrum gestellt. Der Teilhabe-Gedanke eröffnet nicht zuletzt eine elastische1991 Möglichkeit zum Dialog: Verschiedenes kann an Selbigem in ähnlicher oder unähnlicher Weise Anteil haben. Möglicherweise könnte dies auch für das Verhältnis der unterschiedlichen Religionen zu Gott gelten. Zumindest lohnt dieses Gedankenexperiment, weil es die Religionen in ihrer Vielheit und ihren spezifischen Diffe1989 Vgl.
Küng (1994: 55). S. ferner oben Kap. IV.3 a mit Anm. 691. S. o. Kap. V.c. 1991 Dieser treffende Begriff ist von Schmitt (2011) entlehnt, s. o. Anm. 232. 1990
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VII. Epilog
renzen ernst nimmt, aber trotzdem grundsätzlich mit der Möglichkeit rechnet, dass die Vielfalt der Religionen in ihren Verschiedenheiten dennoch zugleich rückbezogen sein könnte auf eine göttliche Wirklichkeit, auf dieselben oder zumindest vergleichbaren göttlichen Wesen (Götter oder Engel), auf den einen, allerhöchsten Gott. Speziell Proklos eröffnet mit seiner philosophischen Theologie der sog. überseienden Henaden im Kontext seines Partizipationstheorems eine besonders ambitionierte Perspektive auf das Verhältnis von Einheit und Vielheit im ontologischen und theologischen Kontext: Die Gedankenbahnen eines Proklos aufgreifend, könnte man vereinfacht sagen, dass die Einheitsgründe der einzelnen intelligiblen Ideen Henaden sind; man meint, an der Spitze seines Weltbildes viele Henaden-Götter zu sehen – und doch führt Proklos aus, dass jeder einzelne dieser Götter „nichts anderes als das partizipierte, absolute Eine“ ist. Die vor dem Unterschied von seiender, im eigentlichen Sinne unterscheidbarer Ein‑ und Vielheit bestehende(n) überseiende(n) Henade(n) ist / sind aus menschlicher Perspektive z. B. das Eine, insofern es sich gemäß einer partikulären Seinsweise als Athene offenbart bzw. Athene ist oder als Apoll, Aphrodite oder Artemis usw. Denn um sich zu offenbaren, d. h. um erkennbar werden zu können, muss sich das Göttliche gemäß Proklos im Seienden mitteilen und insofern partizipiert werden; dies aber ist nur möglich, wenn sich die überseiende Fülle des Göttlichen in einem bestimmten und daher partikulären Seienden spiegelt.1992 Letztlich sind die Henaden für Proklos genauso wenig zu einer Vielheit oder ‚Menge‘ zusammenaddierbar, wie dies in grundsätzlich vergleichbarer Weise auch für das christliche Trinitätsverständnis gilt.1993 Die Alternative Mono‑ oder Polytheismus erweist sich als zu vordergründig, ohne dass deshalb eine theologische Differenzierung zwischen Einheits‑ und Vielheitsaspekten unmöglich würde und gleichsam eine Aporie drohte: Proklos’ Henaden entfalten das absolute Eine in eine fruchtbare Viel-Einheitlichkeit, ein Boethius betont im christlichen Kontext die wesentliche Einheit Gottes, aber die innerrelationale Dreiheit dieses Wesens als interpersonaler Liebe. Die Teilhabephilosophie läuft gleichwohl sofort in mehrerer Hinsicht Gefahr, missdeutet zu werden: Sie lässt sich generell als zu abstrakt verwerfen; sie könnte umgekehrt als Modell vorschnell im Sinne einer ‚Lösung‘ für das Nebeneinander der konkreten Religionen überbewertet werden, wenn sie denn konkrete Religionen ersetzen sollte. Qua Modell sollte auch sie also den Status einer gewissen Vorläufigkeit, Nicht-Letztgültigkeit durchaus behalten – auch um gefährliche Unter‑ oder Überbewertungen zu vermeiden. Der Partizipationsgedanke bringt bei genauer Anwendung jedoch auch – wie in einem Brennglas – diffizile theologische Unterschiede zum Vorschein, die es S. o. Kap. III.e. S. o. Kap. IV.6 zu Boethius, V.c8 zu Cusanus und VI.1 zu Keshavjee.
1992 1993
1. Eine Rückschau
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nicht zu verwischen gilt. Erinnert sei hier an das aus christlicher Perspektive entscheidende Homoousios-Problem:1994 Wenn Jesus Christus wirklich von Gott herkam, wenn er qua Gottes Wort (Logos) selbst sogar als eine der drei trinitarischen Personen Gott ist, dann würde die Anwendung des Partizipationsgedankens, dass Christus folglich an Gottes Sein nur auf sekundäre Weise partizipiere (vgl. Origenes), gerade nicht ‚alle Probleme lösen‘. Ein analoges, leichter verständliches Beispiel als Vergleich mag dies noch einmal illustrieren: Wenn einzelne Dreiecke, insofern sie Instanz von ‚Dreieck‘ sind, an eben diesem Prinzip ‚Dreieck‘, also an der intelligiblen Substanz des DreieckSeins, partizipieren und insofern ihre eigene Substanz als Dreiecksinstanzen von diesem Prinzip her empfangen, dann ist der Unterschied zwischen Instanzen und Prinzip prinzipienontologisch evident.1995 Wenn in diesem analogen Sinne aber auch Christus nur an Gottes Sein partizipierte, dann wäre er nur in sekundär-abgeleiteter Weise eine Gott-Instanz (in lediglich philosophischer Analogie zu den Dreiecksinstanzen). D. h., bei der Frage, wie das Sein, die Rolle und Funktion Christi theologisch einzuordnen ist, kann die Partizipationsontologie aus innerchristlicher Perspektive schwerlich ‚alle Gräben überbrücken‘: Denn das Gott-Sein für sich selbst als erstes, prinzipienhaftes Sein kommt Christus wohl nur dann zu, wenn er tatsächlich „eins“,1996 wesensgleich (homoousios) mit Gott Vater ist, d. h. dasselbe prinzipienhafte Sein wie Gott besitzt und nicht nur ein abgeleitetes als eine unter (möglicherweise) vielen Instanzen Gottes. Die Homoousios-Formel, welche das (zumindest geistige) Sein Christi als wesensgleich mit Gott Vater und Gott Heiligem Geist zusammenfasst, ließe sich also gerade nicht im Rahmen der Partizipationsontologie erklären, wenn nicht der prinzipientheoretische Unterschied zwischen Prinzip und Instanz eingeebnet werden sollte. Gleichwohl ließe sich hier einwenden, dass doch gerade auch die vielen Dreiecke aus platonischer Perspektive ihr Sein als Dreiecke durch Anteilhabe an dem einen Dreiecksprinzip erhielten: So korrekt dies aus platonischer Sicht erscheint, so bleibt doch der Unterschied zwischen Prinzip und Instanzen bestehen, besonders wenn man an Proklos’ Unterscheidung zwischen unpartizipierbarem Prinzip, partizipierfähiger Mitte und partizipierenden Instanzen denkt.1997 Auch wenn also das Partizipationstheorem gerade die ontologische Relation zwischen Prinzip und Instanzen zu klären sucht, so lassen sich doch speziell in theologicis die Fragen, wer ist wirklich in erster, „prinzipienhafter“ Weise Gott, wer ist der Allerhöchste, nur dann im Sinne platonischer Philosophie sinnvoll durchdenken, wenn die Differenz zwischen Instanz und Prinzip berücksichtigt wird. 1994 S. o.
Kap. IV.3 b, IV.4, IV.5 a, IV.6, V.c8–10. Kap. II.5 b, III.c, V.b. 1996 S. o. Kap. IV.2.2 b. 1997 S. o. Kap. III.c. 1995 S. o.
522
VII. Epilog
In den interreligiösen Bemühungen eines Cusanus oder Origenes geht es immer darum, jeweils Spezifisches zu unterscheiden, d. h. auch das Exklusive einer Religion nicht ‚allversöhnlich‘ einzuebnen, sondern genau in den Blick zu nehmen.1998 Spezifisches zu erfassen, ist in ihren Augen die Voraussetzung, um auch Verbindendes besser und genauer zu erkennen. Es geht also um eine Kombination von beidem: das spezifisch Unvergleichliche, Nicht-Übersetzbare und diejenigen Spezifika zu durchschauen und zu würdigen, aus denen, wenn sie in ihrer Tiefe eingesehen werden, sich Verbindendes ableiten lässt. Offenheit zum Dialog ist gefordert, wo es nur möglich ist; das Bewahren religiöser Identität ist sowohl für einen echten Dialog notwendig wie auch dann, wenn ein Dialog – jedenfalls auf menschlicher Ebene – zunächst an ein vorläufiges Ende kommt. Beides, die Dialogbereitschaft und das identitätsstiftende Bekenntnis zum Herzstück einer konkreten Religion und Glaubenslehre in friedfertiger Weise zu verbinden, wäre – auch im 21. Jhd. n. Chr. – nichts Geringes. Diesem Ansatz systemimmanent ist die in der Moderne keinesfalls selbstverständliche Voraussetzung, dass Theologie und interreligiöser Dialog nicht ohne Rationalität zu betreiben sind.1999 Die platonisch-christliche Überzeugung, dass Gott die Welt erschaffen habe, basiert gerade auf der Voraussetzung der Vernunft. Vernunft ist in diesem Sinne nicht abstrakt, sondern eine liebevolle und schöpferische Vernunft, welche Gott selbst ist bzw. ‚besitzt‘.2000 Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass die menschliche Vernunft einfach nachträglich ‚deifiziert‘, vergöttlicht würde, sondern dass Gottes Vernunft sich in der menschlichen spiegelt,2001 nicht aber in ihr aufgeht, sie vielmehr immer schon überragt: Der Mensch kann Gottes schöpferische Vernunft erkennen (Rö 1, 20),2002 kann selbst Spiegel für sie sein und so auch sich selbst als Mensch erkennen, ohne dass das im Spiegel Geschaute beanspruchen dürfte, mehr als eine Spiegelung des unendlich-transzendenten einen Gottes zu sein. Das Christentum geht – vor allem mit dem Prolog des Johannesevangeliums – so weit, dass Christus Gottes ewige Vernunft ist und doch als Mensch unter Menschen geweilt hat. Nimmt man diesen Ansatz ernst, dann stehen Christentum und Vernunft einander nicht feindlich gegenüber, auch sollte es sich christliche Theologie (welcher Konfession auch immer) kaum leisten können, auf Vernunft zu verzichten.2003 Denn gerade im Miteinander von Vgl. Alfsvåg (2014: 63), zitiert oben in Kap. I.2 b. S. o. Kap. I.2 b. 2000 S. o. Kap. V.c4–6. 2001 S. o. Kap. V.c2. 2002 S. o. Kap. IV.2.2 a. 2003 Dennoch ist die generelle Abgrenzung von Sinnfragen gegenüber einem rationalen Zugriff gerade in der Theologie verbreitet, vgl. z. B. Reinmuth (2002: 101): „Wo es um den Sinn geht, ob nun meines Lebens oder meiner Welt […] – solcher Sinn kann letztlich nicht begründet werden, und er kann deshalb argumentativ nicht zur Disposition gestellt werden. Hier verlieren sich rationale Begründungsmechanismen […]“; ebenso ders. (2004: 160, 246). 1998 1999
1. Eine Rückschau
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Religion und Vernunft zeigt sich nicht zuletzt ein unaufgebbares Korrektiv gegen Extremismus, Fanatismus und Fundamentalismus sowie Oberflächlichkeit. Das Miteinander von Rationalität und Theologie ist im Sinne der hier behandelten Autoren jedoch nicht nur ein steiler oder gar einschüchternder Anspruch, denn ihnen geht es in gleicher Weise um die Schönheit des Sich-Hineindenkens. In dieser Untersuchung standen platonisch-christliche Perspektiven im Vordergrund, von denen aus Brücken zu anderen religionsphilosophischen Traditionen geschlagen werden können, wie am Beispiel von Cusanus’ De pace fidei grundsätzlich ersichtlich ist. Ein Fundamentaleinwand gegen dieses Prozedere könnte lauten, dass hier natürlich eine bestimmte Perspektive – ‚die‘ platonischchristliche – absolut gesetzt werde. Zu entgegnen wäre, dass einerseits den hier behandelten Autoren tatsächlich ‚die‘ platonisch-christliche Perspektive bzw. die platonische oder die christliche als die bestmögliche erscheint, andererseits eine gleichsam absolute, die Perspektivität an sich transzendierende Methode im Grunde nicht menschenmöglich ist.2004 Daraus folgt außerdem, dass gerade die Schönheit des Sich-Hineindenkens in eine bestimmte geistesgeschichtliche Tradition darüber hinausgehend dazu einlädt, sich im Bewusstsein der eigenen Perspektive ebenso andere Sichtweisen im bestmöglichen Sinne von innen her zu erschließen. Nur so kann ein aus den großen Traditionen gesammelter, perspektivenübergreifender Reichtum ergründet werden. Dieses Unterfangen ist mühevoll, aber genau deshalb vielleicht das beste Gegenmittel gegen Fundamentalismen und Radikalismen. Denn bei diesem Prozedere geht es dann nicht nur um bloße Behauptungen, sondern auch um das gegenseitige Hineindenken und ‑fühlen.2005 Gestaltet sich genau diese Methode als Erfahrung des Schönen im jeweils Anderen, könnte darin zugleich auf intellektuell-emotionaler Ebene eine Basis für ein in der Praxis zu realisierendes friedliches Miteinander gelegt sein, zu welchem speziell die christliche Religion aufgefordert sein dürfte, wenn der im Neuen Testament erhobene Anspruch der „Liebe bis zum Letzten“, welche sogar „Feinde“ einschließen soll, ernst genommen wird.2006 Ein weiterer möglicher Einwand: Besteht nicht die Gefahr oder doch Tendenz, dass bei einem solchen philosophischen Ansatz die Offenbarungsreligionen zumindest stillschweigend entwertet werden? Und drohte eine Entwertung der Religionen nicht in besonderer Weise durch das sog. Überseiende, von dem ein Proklos spricht? Denn gegenüber dem überseienden Einen und den Henaden könnte alles Seiende nur noch als etwas Vorläufiges, als im Vergleich Defizitäres erscheinen. Dann müsste die Rede vom Überseienden schließlich auch die Offenbarung ersetzen, wobei sie selbst qua Rede streng genommen auch nur dem S. o. Kap. V.c. Kap. VI.1 zur Verleihung der „Silbermedaille“ in Keshavjees Der König an diejenige Religion, „ ‚die bis dahin die größten Anstrengungen unternommen hat, die Gläubigen der anderen Religionen wirklich zu verstehen und ihnen zu dienen‘ “ (Der König, 243). 2006 Vgl. Jh 13, 1; Mt 5, 44. 2004
2005 S. o.
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VII. Epilog
Seienden verhaftet sein kann: Wäre sie dann gleichsam eine bessere ‚Offenbarung‘? Wenn die Philosophotheologie vom Überseienden letztlich nur auf dessen totale Andersheit schließen kann, muss sie dann nicht alle positive Religion, alle mit nicht-apophatischer, mit nicht-negativ ausgrenzender Methode verfahrende Theologie letztlich diskreditieren und gleichsam ‚über Bord werfen‘?2007 Wäre dann also gerade nichts gewonnen für einen interreligiösen Dialog auf einem platonischen Fundament, wie Cusanus ihn zu entwerfen versucht? Und vor allem: Bestünde nicht auch eine Gefahr, dass die Rede eines Dionysius Areopagita von den sog. ‚unähnlichen Ähnlichkeiten‘2008 im Sinne einer maliziösen Pseudo-Theologie missbraucht werden könnte? Wenn das, was „das Absolute nicht ist, […] aus ihm als Bestimmung ausgefaltet“ wird,2009 warum sollten dann nicht gerade die Übel in der Welt als ‚Entfaltung Gottes‘ gewertet werden …? Dies käme einer Perversion gleich und wird vom Neuplatonismus keinesfalls intendiert. Wäre aber eine Überbetonung des sog. Überseienden vor dieser Gefahr wirklich gefeit? Angesichts dieses Problems könnte gerade den positiv-kataphatisch zu begreifenden Religionen, insofern sie (wie z. B. das Christentum) auf eine konkrete Glaubensbeziehung zu Gott zielen, eine bleibend wichtige Funktion erwachsen: Eine positive, nicht negativ ausgrenzbare Glaubensbeziehung erscheint aus dieser Perspektive als ein Korrektiv – wie umgekehrt eine bloß ‚thetisch behauptende Religion‘ von philosophischer Reflexion korrigiert und eingeholt werden können muss, um nicht in Fundamentalismen abzugleiten. Wenn jedoch im Platonismus das sog. absolute, überseiende Eine wirklich Ursache des Seins ist, dann steht es trotz seiner Transzendenz in einem Bezug zum Seienden: Diese Relation zwischen überseiendem Einen und dem von ihm Begründeten / Geschaffenen muss im Blick gehalten werden, um nicht tatsächlich in die Gefahr eines „latenten Agnostizismus im Namen der Transzendenz“ zu verfallen.2010 Andernfalls könnte gerade ein so gearteter Agnostizismus auf eine Offenbarungsreligion angewiesen sein, ja eine solche geradezu als notwendig erscheinen lassen. Denn warum sollte eine philosophische Rede oder auch ein erzwungenes Schweigen über das Unsagbare sozusagen ‚besser‘ sein als ein Offenbarungsereignis – vorausgesetzt, es wird ein Möglichkeitsraum für Gottes-
2007 Dieses Problem wird v. a. in der Eriugena‑ und Cusanus-Forschung diskutiert, vgl. Beierwaltes (1994: 102, 106). Rohstock (2014: 192) argumentiert jedoch: Gottes „kreatives Er-Sehen der Dinge ist selbst kein andersheitlicher Bezug, schafft aber andersheitliche Bezüge“; „Insofern ist das Absolute nicht abgetrennt von seinen Derivaten, sondern durch seine spezifische Negativität intim auf sie bezogen.“ Verkürzt formuliert, macht Rohstock also auf eine Relation, in welcher Gott als der Überseiende und ‚Nicht-Andere‘ mit der Schöpfung als dem Bereich der Seienden steht, aufmerksam. 2008 S. Drews (2011: 88–89, 110–1). 2009 Rohstock (2014: 180). 2010 Halfwassen (1992: 114, 224), s. o. Anm. 457. Vgl. ferner Beierwaltes (1994: 202) zu Eriugena.
1. Eine Rückschau
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offenbarungen philosophisch zugestanden, wie er gerade auf der Basis platonischer Teilhabe-Ontologie zu rechtfertigen wäre? Für das Christentum, auch im philosophischen Gewand des Platonismus, besteht diese Gefahr nicht: Gott als der Drei-Eine ist Schöpfer des Seins, steht trotz seiner Transzendenz qua Gott in einer positiven Beziehung zu dem von ihm Geschaffenen: Umgekehrt ist die Schöpfung auf ihn hin durchsichtig, weil „Gottes Unsichtbarkeit anhand seiner Schöpfungen als geistig Erkennbares geschaut wird“ (Rö 1, 20).2011 Vor diesem Hintergrund ist Gottes Offenbarung in der Person Jesu Christi ebenfalls Zeichen dieser seiner Zugewandtheit. Philosophie und Offenbarung ergänzen einander hier in positiver Weise: Die vom Menschen ergründete philosophische Theologie braucht als ihren Gegenpart die Unverfügbarkeit Gottes, welcher sich in einer nicht erdachten, unerwarteten Weise zeigt; ein Offenbarungsereignis kann umgekehrt nur dann Offenbarung sein, wenn es auch als solches in irgendeiner Form begreifbar ist, sich also der intellektuellen wie auch emotionalen Aneignung nicht grundsätzlich verschließt. Ist aber genau dieser Möglichkeitsraum für Offenbarungen nicht schon längst durch den Siegeszug der Naturwissenschaften widerlegt worden? Im Sinne von Rö 1, 20 stehen Theologie und Naturwissenschaft nicht grundsätzlich ‚quer zueinander‘: Es geht hier nicht darum, „das Wissen aufzuheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“.2012 Im platonischen Kontext wäre die komplexe Strukturiertheit der Materie gerade ein Hinweis auf eidetische Formung, welche sich letztlich dem Göttlichen verdankt. Diese Perspektive ist gleichwohl nur dann möglich, wenn eidetische, das bestimmte Sein einer Sache ausmachende Ursachen für sich unterschieden werden, also nicht mit Wirk‑ und Materialursachen verwechselt werden – andernfalls wäre der Blick auf die intelligiblen Ideen bzw. im Sinne von Rö 1, 20 auf Gottes unsichtbare, aber intellekthaft begreifbare „Schöpfermacht“ verstellt. Sind aber die (neu‑)platonische Seelenlehre und das Methexis-Theorem nicht trotzdem ‚bloße Theorien‘? Vielleicht sind sie zumindest nicht ‚theoretischer‘ und auch nicht ‚metaphysischer‘ als z. B. verschiedene Theorieangebote seitens der modernen Theoretischen Physik: Die ‚String-Theorie‘ z. B. wird mitunter als nicht verifizierbar bezeichnet,2013 trotzdem gilt sie als wirkmächtiger ‚theoretischer‘ Ansatz. Der grundsätzliche Unterschied zwischen moderner Physik und antiker Metaphysik besteht wohl darin, dass Physiker mathematische Konstrukte auf ihre Applizier‑ und Verifizierbarkeit im Hinblick auf die materielle Welt (im weitesten Sinne: Materie, Anti-Materie, Schwarze Löcher etc.) testen, während S. o. (in diesem Kap.). Kant, KrV, B XXX (s. o. Anm. 16). 2013 Für einen Geisteswissenschaftler ist dies naturgemäß schwer zu durchdringen. Es geht hier somit nur um grobe, allgemeine Denkvoraussetzungen berührende Aspekte und um ‚Meinungen‘ (in platonischer Unterscheidung zu echter Erkenntnis), wie sie in Wissenschaftsjournalen präsentiert werden. 2011 2012
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VII. Epilog
der (platonische) Metaphysiker begreifbare Sachgehalte auf ihre widerspruchsfreie Erschließbarkeit überprüft: Dabei geht es letztlich um die parmenideische Grundunterscheidung zwischen intelligiblem Sein und sinnlich-wahrnehmbarer Welt / Existenz.2014 Der Verifikationspunkt liegt für den Metaphysiker darin, ob sich das Begriffene mit seinen Bestimmungsmomenten als in sich selbst bestimmte, begreifbare Einheit denken lässt, wie z. B. die Erschließung des Wesens des Dreiecks in Euklids Beweis vom Innenwinkelsummensatz.2015 Dieser Beweis existiert nicht irgendwo draußen in einer nahen oder fernen Galaxie, sondern er gilt für geradlinige, flächige, geschlossene Figuren mit drei Seiten, unabhängig davon, ob diese außerdem auch noch einen rechten Winkel oder zwei bzw. drei gleich lange Seiten haben (etc.). Er ist gewissermaßen eine begreifbare Tatsache, die gerade nicht dadurch verifiziert oder widerlegt wird, ob in der wahrnehmbaren, beobachtbaren Natur solche Dreiecksgebilde genauso vorkommen, sondern er bezieht seine Verifikation aus dem Kriterium der inneren Schlüssigkeit und Stimmigkeit des Bewiesenen, diese wiederum basiert letztlich auf der inneren, begreifbaren Einheit des Dreieck-Seins: dass es innerhalb einer im euklidischen Sinne ebenen Fläche unmöglich ist, dass ein geradliniges Dreieck nicht die Innenwinkelsumme von zwei rechten Winkeln aufweist. Auch hier gilt noch einmal: Nicht die Frage, ob eine solche ebene Fläche ‚in der Natur‘ vorkommt, kann entscheidend sein; denn die wahrnehmbare Natur ist gemäß platonischem Verständnis immer schon Körper und kann folglich gar nicht ‚ideal flächig‘ sein. Die vom Intellekt geleitete Vorstellungskraft der Seele kann aber den Begriff der ebenen Fläche idealiter bilden und deshalb – nur deshalb – auch Euklids Beweis in seiner Gültigkeit einsehen. Das Verifikationskriterium liegt also tatsächlich in der begreifbaren Sache, im Intelligiblen selbst. Alles, was in der äußerlich beobachtbaren Natur instanzhaft-materialisiert vorkommt, ist zumindest nach platonischer Auffassung ein Abbild des in der theôria Geschauten: Diese theôria ist jedoch nicht ein lediglich subjektiv entworfenes Konstrukt, welches seine Gültigkeit erst im experimentellen Beweis finden müsste, sondern hat ihr fundamentum in re aus sich selbst heraus aufgrund der begrifflich aufweisbaren Sacheinheit. Daher ist sie nicht in einem modernen Sinne ‚theoretisch‘, sondern theôria, schauendes Durchdringen, eines begreifbaren Sachverhalts, eines platonisch verstandenen Eidos, welches keine ‚bloße Idee‘ im Sinne eines rein subjektiv entworfenen Gedankenkonstruktes darstellt. Im Hinblick auf sein Methexis-Theorem2016 würde ein Proklos vermutlich den Standpunkt vertreten, dass es sich aus der Reflexion darauf, was einheitlich bestimmtes, begrifflich-begreifbares Sein ist, tatsächlich auch ‚beweisen‘ lässt: Das Dreiecks-Eidos z. B. lässt sich als solches erschließen; als das Prinzip jeg2014 S. o.
Kap. II.1. S. o. Kap. II.5 b, III.c, V.b. 2016 S. o. Kap. III.c. 2015
1. Eine Rückschau
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lichen Dreieck-Seins besteht es in sich selbst, in seiner Begreifbarkeit, seinem Intelligibel-Sein. Dieses Eidos bestünde auch dann noch, wenn kein Mensch es denkt; es ist als Inbegriff und Fülle allen Dreieck-Seins zugleich mehr Dreieck als jedes einzelne vorstellbare Dreieck und wird insofern als dieses Prinzip nicht selbst partizipiert; es ist unpartizipierbar, transzendent und unveränderlich. Die Tatsache, dass es begreifbar ist, erweist es in anderer Hinsicht als partizipierbar für die es begreifende Seele; da einzelne, konstruierbare Dreiecke (mehr oder weniger genau) dem Innenwinkelsummensatz entsprechen, verwirklichen sie das Eidos auf partikuläre Weise (z. B. entweder als rechtwinkliges oder gleichseitiges Dreieck) und partizipieren insofern an dem begreifbaren, intelligiblen Sein des Eidos. Die Kluft zwischen dem transzendent-unpartizipierbaren Prinzip und den an ihm dennoch teilhabenden Partizipanten schließt die (zunächst nur postuliert erscheinende) partizipierbare Mittlerinstanz. Dieses Postulat ist jedoch kein bloßer Lückenbüßer, sondern steht im Einklang mit der neuplatonischen Metaphysik: Die (Über‑)Fülle eines eidetischen, von sich selbst her unpartizipierbaren Prinzips – als Prinzip umgreift das intelligible Eidos ‚Dreieck‘ gerade die Fülle allen Dreieck-Seins, eint also alle Unterschiede, welche auf der Ebene der imaginierbaren oder wahrnehmbaren Dreiecke auseinanderfallen – diese (Über‑)Fülle impliziert qua gesteigerter Fülle zugleich das Aus-sich-Heraustreten eines Prinzips: Dabei verliert das Prinzip nicht sich selbst, nicht seine Unpartizipierbarkeit und Transzendenz, sondern zeugt aus seiner Überfülle heraus eine aus ihm hervorgehende Mittlerinstanz. Vielleicht lässt sich in einem Gleichnisbild die Gedankenwelt jedes der hier behandelten Autoren mit einer Kreisbahn vergleichen, auf deren Umlauf punktartig die verschiedenen Stationen seiner Philosophie und Theologie durchlaufen werden können. Ohne das Bild überstrapazieren zu wollen, wurde am Ende der Untersuchung mit der Interpretation von Cusanus der Versuch unternommen, gleichsam die verschiedenen Kreise möglichst übereinander zu legen, so dass man wie durch einen Kreis zugleich durch alle darunter liegenden hindurchschaut. Stellt man sich die einzelnen Kreisflächen als jeweils verschieden gefärbt und doch durchsichtig vor, dann könnte aus der Überblendung ein prismaartiges Farbenspiel werden, in welchem hoffentlich jede einzelne Farbschattierung gut aufgehoben ist. Im Sinne eines Beispiels bzw. ‚Belegs‘ dafür, dass die inhaltliche Auseinandersetzung mit vermeintlich alten, ‚überholten‘ Texten durchaus einen Aktualitätsbezug zur (Post‑)Moderne haben kann, darf abschließend vielleicht daran erinnert werden, wie eine Sophie Scholl (1921–1943) im Reichsarbeitsdienst heimlich Augustinus liest, um sich unter anderem durch diese Lektüre ein geistiges Fundament als innere Absicherung im lebensbedrohlichen Kampf gegen das Hitler-Regime zu erarbeiten:2017 In einer solchen, existentiellen Situation geht es Vgl. dazu Drews (2011 b).
2017
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VII. Epilog
nicht um eine bloß akademische Übung oder um aus sicherer Distanz betriebene Geistesgeschichte. Erst recht ist kein Platz für ein von Grund auf, d. h. absolut gesetztes „ironisches Weltverhältnis“2018 oder die spöttelnde Überheblichkeit, dass eine Beschäftigung mit antiken Denkern aus sachlichen Gründen und auf gleicher Augenhöhe mit (post‑)modernen Philosophen ‚selbstverständlich‘ als obsolet bzw. überholt gelten müsse. Kein Geringerer als Carl Friedrich von Weizsäcker hat vor so einem methodischen wie inhaltlichen Fehlschluss gewarnt: Die klassischen Philosophen [sc. der Antike kann] man nur verstehen, wenn man mit ihnen wie mit lebenden Kollegen über die Wahrheit ihrer Gedanken diskutiert (von Weizsäcker 2002: 3).
Wenn die Existenz unsicher wird und der Boden unter den Füßen zu entgleiten droht, wenn es also hart auf hart kommt, dann taucht urplötzlich die alte, nur durch ein oberflächliches Sicherheitsgefühl verdrängte Wahrheitsfrage wieder auf: Was zählt wirklich, was kann seelischen Halt geben, wenn die gewohnte Welt ins Wanken gerät? Wahrheitsfragen und Wahrheitsansprüche lassen sich zumindest langfristig schlecht suspendieren. Sowohl in dieser Hinsicht eindrucksvoll als auch im Hinblick auf das Thema interreligiöser Dialog beispielhaft erzählt der Regisseur Xavier Beauvois in seinem (von der Kritik zu Recht gefeierten) Film Von Menschen und Göttern „die letzten Monate im Leben der Trappisten-Mönche von Tibhirine“: In Algerien leben die Mönche nicht nur ein friedlich-friedfertiges Leben mit ihren muslimischen Nachbarn, versorgen Kranke mit ärztlicher Behandlung; sie setzen sich auch inhaltlich-theologisch als Christen mit dem Islam auseinander, lesen den Koran auf Arabisch, legen ihn neben die Bibel, suchen und finden Verbindendes zwischen beiden Religionen und ihren heiligen Schriften. Zur Wahrheit ihrer Geschichte gehört, dass sie dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten: Sie kamen „1996 auf brutale und nie aufgeklärte Weise ums Leben“ (Klappentext, DVD 2010).
2. Versuch eines ‚unwissenschaftlichen‘ Ausblicks Begonnen wurde dieses Buch mit Reflexionen über ein Psalmzitat – als einem gleichsam ‚unwissenschaflichen‘ Einstieg. ‚Theologie‘ – wenn sie im Wortsinn wirklich „Rede von Gott / Göttern“ ist – erschöpft sich nicht in menschlicher Gedankenakrobatik und ist ohne einen religiösen Zugang letztlich nicht authentisch. Ein solcher Zugang impliziert, wie hier des Öfteren betont wurde, immer schon eine bestimmte, partikuläre Perspektive auf das Absolute, das gleichwohl 2018 Vgl. Spaemann (2012 a: 30–31) dazu, dass aus einem „ironischen Weltverhältnis“, d. h. aus der „Setzung der ‚Welt‘ in Anführungszeichen“ eine „Tyrannei des Relativismus“ folge (ein Begriff, den er von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. übernimmt).
2. Versuch eines ‚unwissenschaftlichen‘ Ausblicks
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von sich selbst her nicht-partikulär ist. Daher scheint es vielleicht angebracht, diese Untersuchungen auch mit einem ähnlich ‚unwissenschaftlichen‘ Ausblick aus einer biblisch-neutestamentlichen, christlich-platonischen Perspektive zu beschließen, welche in religiöser Hinsicht zugleich die des Cusanus ist. Aus dem christlich-platonischen Blick eines Cusanus auf das Miteinander der Religionen lässt sich erkennen, dass das göttliche Licht letztlich in seinem Glanz die vordergründigen, auch rationalen Differenzen – obwohl diese, wie oben dargelegt, entscheidend wichtig sind – zu überstrahlen vermag:2019 Das intelligible, mehr noch das überintelligible und transrationale Licht ist spätestens seit Dionysius Areopagita für den Zusammenfall (Koinzidenz) der Gegensätze bekannt, weil dieses Licht alles irdische Licht überragt und dieses in seinem Glanz zugleich auch wie eine Wolke zu überschatten vermag.2020 Dies klingt paradox, ist aber im Rahmen von Dionysius’ Theologie weder unvernünftig noch im Sinne einer mangelhaften Rationalität, sondern als transrationale Koinzidenz gemeint, für die es, wie gesehen,2021 gleichwohl gute rationale Gründe gibt. Die Bibel (Mt 17) erzählt davon, dass solche theoretischen Erwägungen nicht nur Abstraktionen bleiben müssen, sondern von den Nachfolgern Jesu auch in persönlicher Erfahrung erlebt wurden: Auf einem „hohen Berg“ werden die Jünger und Jesus von einer „lichten Wolke überschattet“.2022 Welche Wolke ist Licht und überschattet doch diejenigen, welche von ihr umhüllt werden? Die Geschichte beginnt damit, dass Jesus, Petrus, Jakobus und Johannes den besagten Berg besteigen: Auf vielleicht vergleichbare Weise wie in der intel‑ lectualis altitudo bei Cusanus2023 ist in dieser Höhe alles Vordergründige, sind alle kleinlichen rationalen Behauptungen unvereinbarer Gegensätze überstiegen. Die Jünger erleben, wie Jesus vor ihnen gleichsam in einer Metamorphose (mete‑ morphôthê) „verklärt“, „verwandelt“ wird: Das vermeintlich bekannte Irdische erscheint plötzlich anders, wird selbst Licht, als das Angesicht Jesu wie die Sonne zu leuchten beginnt und seine Kleider weiß werden wie das Licht (Mt 17, 2).2024 Für einen von Dionysius und Cusanus inspirierten Leser wird hier nicht nur erkennbar, inwiefern Jesus das „Licht der Welt“ ist,2025 sondern es ergibt sich zugleich auch ein Bezug zu Platons Sonnengleichnis:2026 Die Sonne ist gleichnishaftes Abbild des höchsten Überwesens, der Idee des Guten, welche sogar noch 2019 Vgl. Halfwassen (2008 b: 197) zur Durchsichtigkeit des Schönen „auf das Transzendente hin“ (ebenso ibd., 209–210). Zur „transparency“ der geschaffenen Welt auf Gott hin vgl. Alfsvåg (2014: 67). 2020 Vgl. Drews (2011: 71–79) zu den Stellen bei Dionysius Areopagita DN VII, 2; 196, 8–12 und MT 2; 145, 1–13. 2021 S. o. Kap. V.b und Anm. 1252. 2022 Mt 17, 1+5 a. 2023 S. o. Kap. V.c1. 2024 Vgl. Bruns (2013 b: 219) zu Origenes, Cels. IV, 16, 1–11; in Mt. XII, 36. 2025 Jh 1, 4–9; 8, 12. 2026 Platon, resp. 508 a ff.
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VII. Epilog
das höchste Sein an „Vorrecht und Würde sowie vermögender Kraft“ überragt, wie Platon sagt.2027 Die Idee des Guten, die als überwesenhaftes ‚Wesen‘ den höchsten Gott, den Platon nur als gut zu denken lehrt,2028 auszeichnet, steht über dem höchsten, rein begrifflich fassbaren (intelligiblen) Sein, welches selbst ja bereits die äußerlich existierende Realität überragt. Letztere wird von der Sonne, das höchste Sein aber und alle Wirklichkeit von der Idee des Guten erleuchtet, die Quell allen Seins und allen Denkens ist. Wenn das Neue Testament davon spricht, dass das Angesicht Jesu auf dem „hohen Berg“ wie die Sonne zu leuchten beginnt, dann lässt sich aus christlichplatonischer Perspektive auch eine Verbindung zum Prolog des Johannes-Evangeliums schlagen: Das Wort Gottes, der Logos tou Theou, liegt aller Schöpfung voraus, weil „ohne ihn nichts geworden“, sondern alles durch ihn geworden ist2029 – analog zu Platons Idee des Guten, die alles Seiende hervorbringt und hervordenkt, denn sowohl die Idee des Guten bei Platon wie auch Gottes Logos bei Johannes sind ‚hervordenkender Quell‘ des Seins, da Logos nicht nur ‚Wort‘, sondern auch ‚Vernunft, Rationalität‘ bedeutet. Der Logos umfasst in sich das Leben2030 – ähnlich wie bei Proklos das höchste, intelligible Sein das Leben vorausnehmend umgreift –, und „das Leben war das Licht der Menschen.“2031 Oder wie es im Psalm heißt: „Denn bei Dir ist der Quell des Lebens, und in Deinem Lichte sehen wir das Licht.“2032 Der Logos war das „wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, und es kam in die Welt“:2033 Gottes Licht-Logos wird selbst ein Mensch, wurde „Fleisch und schlug sein Zelt unter uns auf, und wir sahen seine Herrlichkeit, seine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“2034 Auf dem „hohen Berg“, der bezeichnenderweise keinen irdisch-geografisch fixierbaren Namen trägt, strahlt für die Jünger Petrus, Jakobus und Johannes, aber auch für gläubige Christen von der Art eines Origenes, Augustinus, Dionysius Areopagita oder Cusanus der göttliche Logos selbst auf. In diesem Licht sind plötzlich auch Mose, der Bringer der Tora, und Elia, welcher vor dem Messias wiederkommen sollte2035 und nach den Worten Jesu „schon gekommen ist“2036 und mal mehr, mal weniger mit Johannes dem Täufer identifiziert wird,2037
2027 resp.
509b8–10. resp. 379 b–c. 2029 Jh 1, 3. 2030 Jh 1, 4 a. 2031 Jh 1, 4 b. 2032 Ps 36, 10. 2033 Jh 1, 9. 2034 Jh 1, 14. 2035 Vgl. Mal 3, 1+23. 2036 Mt 17, 12 a. 2037 Mt 11, 14; Lk 1, 17; Jh 1, 21. 2028
2. Versuch eines ‚unwissenschaftlichen‘ Ausblicks
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gegenwärtig und sprechen miteinander: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen in einer überzeitlich wirkenden Präsenz des göttlichen Lichts. Der ergriffene Jünger Petrus will diesen Moment festhalten und drei Hütten bauen, eine für Jesus, eine für Mose und eine für Elia.2038 Aber dann werden, wie schon angedeutet, alle Anwesenden „überschattet von der lichten Wolke.“2039 Eine „Stimme aus der Wolke spricht: Dies ist mein Sohn, der Geliebte, an dem ich Wohlgefallen habe – hört auf ihn!“2040 In der Zusammenkunft der Propheten wird Jesus als der einzige „Sohn“ und „das wahre Licht“ herausgehoben – hier ist „mehr als ein Prophet.“2041 Die Jünger fallen zu Boden und erschrecken, Jesus rührt sie an und spricht: „Fürchtet Euch nicht!“2042 Als sie wieder aufschauen, sehen sie nur noch Jesus allein.2043 Er trägt ihnen auf, von dieser „Vision“ (hora‑ ma) niemandem zu erzählen, „bis der Menschensohn von den Toten auferweckt ist.“2044 Die Verklärung wird nicht als Traum erzählt, sondern als Erlebnis, welches im Nachhinein von Jesus selbst als „Vision“ bezeichnet wird: Sie überragt anscheinend alles herkömmlich, empirisch, historisch, physikalisch Verifizierbare – nicht ohne Grund soll sie geheim gehalten werden von denen, welchen die Erfahrung der lichten Wolke zuteil geworden ist, bis die „Auferstehung des Menschensohnes“ mit der Durchkreuzung des Todes endgültig die Maßstäbe des ‚Normalen‘ sprengen wird. Davor aber liegt für den „Menschensohn“ der Weg des Leidens.2045 „Und sie sahen nur Jesus allein“ (Mt 17, 8). Dies bringt eine göttliche Exklusivität zum Ausdruck, welche doch zugleich für alle Menschen offen und inklusiv ist: Das Wort Gottes, der Logos, das Verbum Dei ist nach Cusanus in allen Religionen vorausgesetzt. Diese Perspektive ist zwar immer noch eine bestimmte Perspektive, die aber nicht nur einen universalen Anspruch behauptet, sondern von einer inneren universalen Offenheit getragen ist. Auch wenn Gott und der Logos Einer ist, so ist die Exklusivität nur im Hinblick auf Gott selbst gedacht, nicht aber im Hinblick auf die Menschen, als ob auf menschlicher Ebene nur einige einen ‚exklusiven‘ Zugang zu diesem Gott hätten. Der christliche, trinitarische Gott und auch das platonisch-überseiende Eine ist von sich selbst her Einer, schließt niemanden und nichts von sich aus, sondern hat als exklusiv-transzendent Einer gegenüber den Seienden bzw. Geschöpfen einen inklusiven Anspruch. Dies ist der Schlüssel zu Cusanus’ Ansatz, dass alle Religionen den Logos der Sache nach – implizit oder unbewusst – ‚voraussetzen‘: So verstanden er Mt 17, 4. Mt 17, 5 a. 2040 Mt 17, 5 b. 2041 Mt 11, 9; 12, 41–42; Lk 7, 26. 2042 Mt 17, 6–7. 2043 Mt 17, 8. 2044 Mt 17, 9. 2045 Mt 17, 12 b. 2038 2039
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VII. Epilog
öffnet die zunächst nur partikulär erscheinende Perspektive des Christentums als ‚eine weitere Religion unter vielen‘ einen universalen Zugang, von dem aus zumindest prinzipiell die nicht (spezifisch) christlichen Religionen gerade nicht ausgeschlossen sind. Vielleicht darf man hier auch an Augustins Überzeugung denken, dass die wahre Religion schon von Anbeginn der Welt – also schon vor dem Erscheinen Christi – immer präsent gewesen sei.2046 Sicher lässt sich dieser ‚katholische‘, universale Ansatz auch leicht fundamentalistisch missverstehen, als ob hier nur die nicht-christlichen Religionen vereinnahmt und uminterpretiert würden. Dem ist zu entgegnen, dass er in dem gerade explizierten Sinn und nicht vereinnahmend oder nivellierend von Cusanus gemeint ist. Das Verbum Dei, der göttliche Geist, der transrationale Intellekt, durch den die Welt geschaffen ist und der Quell aller Rationalität, Liebe und Geistbegabungen2047 ist, ist für Cusanus philosophisch nicht bestreitbar und ist theologisch die Brücke, welche die vielen, disparat erscheinenden Religionen und Kulte verbindet.2048 In diesem Sinne lässt sich ein Bogen schlagen zum Titel des vorliegenden Buchs: Nur Gott selbst ist „Richter unter den Göttern“ (Ps 82, 1 b), weil nur der göttliche Intellekt, der Logos bzw. Gott allein die einzig-einheitliche Instanz ist, welche nach christlich-platonischem Verständnis für alle Menschen und Geschöpfe dieselbe ist und die Verschiedenheiten im Sinne des (bei Cusanus erkenntnistheoretisch-ontologisch fundierten) Zusammenfalls der Gegensätze zu einen und zu beurteilen vermag. Aus dieser religiösen Perspektive hat es den Anschein: In dem Wort-Logos war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen; und sie sahen nur ihn allein, dem alles Gericht übergeben ist; denn nur Gott ist Richter, auch mitten unter den Göttern.2049
retr. I, 12, 3 (s. o. Kap. IV.4 a mit Anm. 792). Paulus Rö 12, 6; 1 Kor 12, 4–6. 2048 S. o. Kap. V.c4–6. 2049 Jh, 1, 4; Mt 17, 8; Jh 5, 22; Ps 82, 1 b. 2046 Augustinus, 2047 Vgl.
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Register Erfasst sind Autor(inn)en, die mindestens dreimal zitiert werden (unabhängig davon, ob auf nur einer Seite oder über das gesamte Buch verteilt). Kursive Zahlen beziehen sich ausschließlich auf Fußnoten auf der entsprechenden Seite.
Autoren der Primärtexte Alkinoos 46–50, passim Apuleius 50–67, passim Aristoteles 29–46, passim Augustinus 253–278, passim
Lessing, Gotthold Ephraim 400–2, 483, 486 Luther, Martin 200–1, 364, 373, 375, 457, 462, 490, 514
Boethius 295–309, passim
Mark Aurel 196, 249, 356, 513
Cusanus s. Nikolaus von Kues
Nietzsche, Friedrich 5, 9, 11, 490 Nikolaus von Kues 334–482, passim
Descartes, René 4–5, 76, 193–6, 201, 204, 518 Dionysius Areopagita 278–295, passim Eriugena 309–319, passim Euklid 73, 95, 121, 339, 352, 405, 526 Hesse, Hermann 11–12 Homer 98–99, 134–5, 165–6, 319, 502 Kant, Immanuel 6, 14, 95, 194, 234–5, 292, 325, 335–6, 351–2, 442, 509, 518, 525 Leibniz, Gottfried Wilhelm 5, 502, 509–518
Origenes 222–253, passim Parmenides 20–23, passim Paulus 187–212, passim Philon von Alexandria 224, 241 Platon 23–29, passim Plotin 67–100, passim Proklos 101–184, passim Seneca 54, 59–61, 503 Syrian 126, 140, 151 Thomas von Aquin 319–333, passim
556
Autoren der Sekundärliteratur
Autoren der Sekundärliteratur Abbate, M. 107, 115, 127, 128, 134, 149, 150, 181 Albert, K. 53–57 Alfsvåg, K. 17, 348, 363, 364, 369, 388, 407, 425, 438, 443, 451, 455, 465, 522, 529 Alt, K. 46, 48, 49, 51, 52, 62, 70, 82, 86, 90, 98, 99, 473 Arendt, H. 485 Arlig, A. 300–1, 307 Arruzza, C. 230, 249 Assmann, J. 9, 11, 23, 217, 249, 483, 486–7, 502–8, 513, 517 Athanassiadi, P. 8–10, 66, 181
148, 150, 155–6, 158, 162–8, 172, 180–1, 183–6, 507, 511 Cürsgen, D. 102, 104, 108–9, 111, 123, 127–8, 130, 135–6, 138–143, 146, 148, 151, 162, 170, 177, 181–3, 294, 343–4, 404, 406, 413
Baltes, M. 41, 51, 54–57, 72 Bechtle, G. 108, 140, 145, 148, 152, 160, 162, 167, 170, 177 Beierwaltes, W. 52, 81, 82, 85–87, 90–91, 97, 100, 104, 111, 134, 138, 142, 147–150, 152, 160, 168–9, 171–2, 255, 276, 278, 284, 296, 305, 307, 309, 312–8, 336, 343–4, 351, 404, 413, 524 Benz, H. 334, 337, 427–9, 440 Berger, K. 66, 188, 191–4, 200–3, 208–211, 217–8, 220, 227, 321, 335, 354, 358, 364, 375–7, 382, 442, 447, 453, 457, 459, 474, 488 Bernard, W. 33, 51, 54, 63, 66, 76–77, 85–86, 110, 118, 134, 142, 164–5, 170, 181, 194, 257, 261, 289, 308, 310, 322–6, 342, 352–3, 432 Bostock, D. 31, 34 Bradshaw, D. 299, 302–6 Brisson, L. 141–2, 154 Brons, B. 290, 294, 358 Bruns, C. 9, 194, 224–7, 229, 237–8, 240, 243, 249–250, 252, 529 Buchheim, T. VII, 31, 33 Butler, E. P. 102, 136, 141, 145, 147, 149, 158, 163–4, 179, 181, 186
Edwards, M. J. 224, 234, 238, 242 Erler, M. 15, 148, 155, 177 Euler, W. A. 347, 350, 361, 368, 371, 375, 388–9, 401, 421–2, 438, 441–2, 447, 450–1
Campbell, C. R. 14, 187–8, 210–1 Cerutti, M. V. 66, 182, 503 Chlup, R. 13, 51, 82, 103–5, 108–9, 115, 119, 122–3, 132–4, 138–9, 142, 146,
Halfwassen, J. VII, 15, 27, 29, 80–81, 87, 90, 104, 108, 125, 131, 147–8, 150–2, 163, 229, 270, 280–1, 283, 313, 482, 524, 529
D’Amico, C. 346, 382, 406 Dillon, J. 50–51, 55, 63, 142, 152, 164, 284, 289 Dodds, E. R. 102–4, 111, 135, 143, 146, 148, 150, 153, 155, 156, 164–5, 168, 183 Duclow, D. F. 8–9, 17, 348, 388, 414 Dupré, W. u. D. 380, 404
Flasch, K. 335–6, 341, 353, 364–6, 377, 388, 390, 403, 407, 410, 417, 421, 430, 435, 438‑9, 442–3, 445, 452–3, 455, 457, 459, 463, 467, 474, 480–1 Frede, M. 1, 8–10, 13, 66, 97, 161, 178, 503 Fürst, A. 8–10, 23, 161, 215, 223–4, 227–230, 234–5, 237–8, 242–3, 249, 253, 255, 258 Fuhrer, T. 9, 254–5, 268, 308 Gabriel, M. 15, 261, 511 George-Tvrtkovič, R. 8–9, 17, 348, 388, 414 Gerl-Falkovitz, H.-B. 336, 347, 350, 352, 401, 417–8 Gers-Uphaus, C. 10, 161, 504 Gerson, L.-P. 168, 180 Grewe, N. VII, 30, 205 Gruber, J. 295–7
Autoren der Sekundärliteratur
Heilmann, A. 125, 135, 296 Heine, R. E. 224, 229, 231, 236, 238 Helmig, C. 48, 70, 76, 177 Hengstermann, C. 224, 231, 235 Hermanni, F. VII, 15, 511 Hösle, V. 14, 16, 28, 67, 335, 339–340, 347–8, 354, 379, 381, 502, 508–511, 514, 517–8 Hollmann, J. 348, 364, 369, 373, 375, 425 Horn. C. 70–73, 75, 80–81, 84, 139, 141, 147, 150, 254, 340 Huber, W. 14, 501 Jacobsen, A.-C. 224–5, 227, 236–8, 240, 243, 246, 249–250, 252 Janowski, B. 193–4, 196–8 Kammler, S. 191, 194–6, 206 Kenny, A. 319–320, 322, 329 Keshavjee, S. 483, 489–502, 505, 520, 523 Klug, S. 10, 161, 504 Knoch, W. 402, 409, 441 Koch, G. 118, 256, 269, 272–3, 276–8 Kratz, R. G. 8–10, 161, 503 Lacrosse, J. 77, 85–87 Leinkauf, T. 334, 355, 364, 407, 441 Levy, I. C. 8–9, 17, 348, 388, 414 Limberger, V. 309, 312, 317–8 Macaskill, G. 188, 211–2 Mainoldi, E. S. 314–6 Marenbon, J. 15, 296–7, 300, 304–5, 307–8 Meijer, P. A. 102, 111, 114, 128, 139, 178 Mesch, W. VII, 31, 33 Mitchell, S. 8–10 Mooney, H. A. 309–310, 312, 314–6, 318 Moran, D. 309, 312, 314–8 Moreschini, C. 50–51, 66, 296–7, 299, 307 Moutsopoulos, E. 104, 141, 150 Nagel, T. 16 O’Meara, J. J. 309, 312–8 Opsomer, J. 147, 172, 183
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Pietsch, C. VII, 15, 29–31, 33, 41, 44, 68, 75, 118, 342 Radke, G. 80, 131, 135, 167, 169, 286, 313, 349 Rapp, C. 20–21, 29, 31–33, 40–44, 76–77, 121 Ratzinger, J. 4, 9, 13–14, 17, 105, 163, 194, 202, 207, 209, 211, 213–4, 217–8, 227, 236, 261, 294, 304–5, 486–7, 501, 503, 516–7, 528 Rehfeld, E. L. 187, 192, 202, 208, 210 Reinhardt, K. 336, 356, 362, 371, 376, 402, 410–1, 440 Reinmuth, E. 188, 209, 212, 217, 236, 522 Reiser, M. 188, 202, 253, 254, 348, 354, 401, 443 Resch, F. 359–360, 376, 389–390, 403, 409–410, 413, 417–8, 422 Riedenauer, M. 17, 334–5, 344, 347–350, 356–7, 365, 368, 373, 375–7, 379–380, 382, 388, 417, 423–4, 430, 437–8, 443, 467, 487 Rijk, L. M. 107, 109, 138, 140, 152, 177 Rohstock, M. 312–4, 316–7, 360, 384, 412–3, 524 Saffrey, H. D. 134, 140–142 Schick, S. 6, 17, 321, 373, 381–2 Schmitt, A. 4, 11, 17, 21–22, 29–33, 36, 41, 46, 59–60, 69, 77, 79, 110, 146, 166, 194, 226, 237, 244, 267–8, 301, 307, 321, 341, 349, 352, 404, 511–2, 519 Schmitz, M. 40, 65, 95, 111, 123, 137, 146, 167, 177, 335, 353, 365, 377, 402, 442 Schwaetzer, H. 334, 336–7, 351, 391, 410 Sheldon-Williams, I. P. 139–140, 177, 310, 315 Siebenrock, R. A. 8–9, 373, 514 Siniossoglou, N. 9–10, 180, 182 Spaemann, R. 77, 105, 180, 261, 306–7, 336, 373, 488, 500, 507, 528 Spieckermann, H. 8–10, 161, 503 Steel, C. 117, 154, 173, 183 Suchla, B. R. 278–9, 284, 289, 309–310, 312 Summerell, O. F. 46, 49 Sweeney, L. 24, 109, 140, 264
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Autoren der Sekundärliteratur
Tanaseanu-Döbler, I. 9, 102–8, 111, 115, 141, 145, 147, 149–151, 158, 164, 180, 183–4, 186, 331 te Velde, R. A. 14, 46, 312, 320, 322–5, 328–333, 419 Thate, M. J. 14, 187, 210–1 Theiler, W. 51, 61, 73 Thiel, R. 30, 31, 33, 35–36, 41–46, 67, 70, 121, 138, 146, 197–8, 432, 474–5 Thümmel, H. G. 201, 223–4, 226–7, 229–232, 234–5, 240, 246, 289 Tornau, C. 35, 68–70, 81, 128, 255, 276, 316 Valkenberg, P. 335, 349, 360, 381 van Nuffelen, P. 8–10
van Riel, G. 104, 124, 127, 141, 149, 154, 158, 168, 182 Vanhoozer, K. J. 14, 187, 210–1 Vogt, H.-J. 231, 238, 240 von Stosch, K. 13, 305, 381–2, 438 von Weizsäcker, C. F. 6–7, 528 Watanabe, M. 335, 347, 388 Wear, S. K. 126–7, 140, 152, 284, 289 Weier, R. 364 Weier, W. 4–5, 14, 30, 33, 120, 271, 322, 330, 511 Westerink, L. G. 134, 140–142 Zimmer, T. 46, 49 Zumstein, J. 193–4, 203, 208