Johannes lesen und verstehen: Im Gespräch mit Jean Zumstein [1 ed.] 9783788734589, 9783788734565


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Johannes lesen und verstehen: Im Gespräch mit Jean Zumstein [1 ed.]
 9783788734589, 9783788734565

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BIBLISCH-THEOLOGISCHE STUDIEN 186

Jörg Frey / Nadine Ueberschaer (Hg.)

Johannes lesen und verstehen Im Gespräch mit Jean Zumstein

Biblisch-Theologische Studien Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt Band 186

Jörg Frey / Nadine Ueberschaer (Hg.)

Johannes lesen und verstehen Im Gespräch mit Jean Zumstein Mit Beiträgen von P. Bühler, J. Frey, Chr. Hoegen-Rohls, M. Jost, V. Nicolet, N. Ueberschaer, H. Weder und J. Zumstein

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9120 ISBN 978-3-7887-3458-9

Vorwort

Am 7. Oktober 2019 hat der Zürcher Neutestamentler Jean Zumstein seinen 75. Geburtstag gefeiert. Wenige Tage danach, am 11. / 12. Oktober 2019, konnten wir in der neutestamentlichen Community diesen Anlass zusammen mit dem Jubilar nachfeiern – wie es sich gehört, mit einem Symposium in der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dass dieses für den Johanneiker Jean Zumstein der gemeinsamen Lektüre des Johannesevangeliums gewidmet sein musste, versteht sich von selbst. Die Beiträge des Symposiums sind in dem vorliegenden kleinen Band gesammelt und bilden so einen nachträglichen und unverwelklichen Blumenstrauß für den Jubilar. Ihm gelten unsere guten Wünsche. Bei allen Beitragenden und Beteiligten möchten wir uns herzlich bedanken. Unser Dank gilt den Zürcher Mitarbeitenden für die Hilfe bei der Planung, dem Doktoratsprogramm der Theologischen Fakultät für einen Zuschuss zur Finanzierung, Désirée Rupp, Tübingen, für die Druckvorbereitung des Bandes, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, jetzt Brill Deutschland, v.a. Izaak de Hulster und Miriam Espenhain, für die reibungslose Zusammenarbeit. Möge der Band dazu beitragen, Jean Zumsteins anregende Perspektiven und natürlich das vierte Evangelium selbst mit Lust und Gewinn zu lesen. Jörg Frey und Nadine Ueberschaer Zürich/Tübingen, im Mai 2021

Inhalt

Vorwort...........................................................................V Valérie Nicolet Grußwort..........................................................................1 Jörg Frey Jean Zumstein als Ausleger des Johannesevangeliums – eine Würdigung.........................5 Christina Hoegen-Rohls Ein Gott, der sich mitteilt. Das Ethos des Logos im Johannesevangelium...............21 Hans Weder Sechs Hektoliter. Eine hermeneutische Überlegung zur theologischen Bedeutung des Luxus........................55 Jörg Frey Die Figur des Nikodemus zwischen literarischer Ambivalenz und pluriformer Rezeption.........................69 Michael R. Jost „Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde“ (Joh 16,16) – Zur Beziehungsstruktur im Bittgebet in den Abschiedsreden ................................................107 Nadine Ueberschaer Joh 20,1–18 als intra- und intertextuelle Leseanleitung zum ,Sehen‘ Gottes im Sohn................129

VIII

Inhalt

Pierre Bühler „Gib mir zu trinken!“ Das Brunnenmotiv in Johannes 4 und im Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry.....................................153 Jean Zumstein Johannes lesen und verstehen.......................................169 Stellenregister...............................................................183 Autorinnen und Autoren..............................................189

Valérie Nicolet

Grußwort

Zunächst möchte ich Jörg Frey danken für die nette Einladung, an diesem Kolloquium, rund um die theologische Arbeit von Jean Zumstein, teilzunehmen. Es ist für mich eine Ehre, als Dekanin der Pariser Fakultät des Institut Protestant de Théologie, aber auch als ehemalige Studentin von Jean Zumstein, dabei zu sein. Ganz besonders freue ich mich, anlässlich der Eröffnung dieses Kolloquiums, das Jean Zumsteins Arbeit als Exeget und Theologe ehrt, einige Worte zu sprechen. Erlauben Sie mir, mit einer persönlichen Erinnerung zu beginnen. Ich sehe mich noch als kleines Mädchen im Garten des Hauses meiner Eltern, als ich Jean zum ersten Mal getroffen habe. Jean und meine Eltern hatten nämlich einige Jahre zuvor das Gymnasium in Biel gemeinsam besucht. Sie blieben befreundet inmitten eines kleinen Kreises von Bieler Kollegen, auch Theologen (zwei davon wurden später Dekane der Zürcher Fakultät und Ehrendoktoren des IPT!). Dann kehrte Jean, als er bereits in Zürich dozierte, zurück, um an der Fakultät Neuchâtel einen Semesterkurs über das Johannesevangelium zu leiten. Damals war ich Studentin in Neuchâtel und für mich war dieser Kurs die Entdeckung dessen, was biblische Exegese sein kann: eine ernsthafte Disziplin, eine Sorge um die Sprache des Textes, ein rigoroses Nachdenken über die theologischen Fragen der biblischen Erzählungen. Jean hat in seiner Lehrtätigkeit diese Klarheit und Präzision, die ihn leicht verständlich machen, die aber auch mit einblendenden Lese-Intuitionen vermischt sind.

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Valérie Nicolet

Später hatte ich das Vergnügen, Jean in Paris zu empfangen, als er bereit war, für meine eigenen Studenten ein Seminar über das Johannesevangelium zu halten. Er war einfach anzusprechen und aufmerksam, und für mich, als junge Dozentin, war das ein wichtiger Moment. Jeans Besuch am Institut Protestant de Théologie anlässlich dieses Seminars, das dem Johannesevangelium gewidmet war, ist nur eine Episode in der langen Geschichte, die Jean mit der Pariser Fakultät verbindet. Im Jahre 2010, anlässlich der Einweihung der renovierten Gebäude, wurde ihm unter anderem der Ehrendoktortitel des IPT verliehen. Zu diesem Anlass hatte Jean einen sehr schönen Text verfasst. Dieser Beitrag, der die Überschrift „Die Exegese als Einübung in die Freiheit“ trägt,1 unterstreicht ebenfalls die Qualitäten seiner eigenen exegetischen Arbeit. Deshalb möchte ich kurz auf einige Grundgedanken, die Jean in dieser Schrift ausformuliert hat, zurückkommen: In dieser Schrift erinnert Jean zuerst an das Erbe, das zugleich die Grundlage seiner eigenen exegetischen Arbeit bildet: - Die Renaissance und die Reformation mit der Rückkehr zum biblischen Text in seiner Originalsprache. - Die Aufklärung und die Wichtigkeit, die dem kritischen und freien Denken beigemessen wird. - Und die hermeneutische Anforderung, sich immer wieder mit dieser Frage auseinanderzusetzen: wie versteht sich eigentlich die menschliche Existenz vor Gott? In einer geistigen Zeit, in der die großen postmodernen Denkströme das Erbe der Aufklärung in Frage stellen und in der etliche politische und religiöse Tendenzen der Versuchung erliegen, auf die historischen Fakten zu Gunsten der „fake News“ zu verzichten, scheint es mir wesentlich, die Notwendigkeit einer kritischen und freien intellektuellen Anforderung hervorzuheben. Es ist uns al1

Jean Zumstein, L’exégèse comme apprentissage de la liberté, ETR 86.3 (2011), 365–372.

Grußwort

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so erlaubt, wie Jean es gezeigt hat, an den biblischen Text kritisch heranzutreten. Aus der Sicht von Jean Zumstein berechtigt uns dieser kritische Ansatz auch, die fundamentalistischen religiösen Bewegungen zu hinterfragen und ermöglicht uns, „der Profanität“2 der Welt zuzustimmen. Die biblische Exegese steht gleichzeitig in Spannung und in Verbundenheit mit der kirchlichen Lehre, um ihr neue Sinnmöglichkeiten der biblischen Texte zu eröffnen. Schließlich nimmt die Exegese eine wichtige Stelle an der Universität ein, indem sie dazu beiträgt, eine Zergliederung des Wissens und eine Degradierung desselben Wissens in eine verkäufliche Ware zu verhindern. Der Exeget, wie Jean Zumstein ihn verkörpert, versteht sich letztlich als ein Humanist, der sein Verhältnis zur Welt, zu den Anderen, zu sich selbst und letztlich zu Gott kritisch reflektiert. Wie Jean Zumstein es betont hat, schafft die so verstandene Exegese Freiheit. Und, weil ich es selber erlebt habe, weiß ich, dass gerade dieses Verständnis von Exegese sich in der theologischen Arbeit von Jean verwirklicht. Das Institut Protestant de Théologie fühlt sich umso mehr geehrt, dass Jean ihm seinen Kommentar zum Johannesevangelium gewidmet hat. Somit bin ich nur ein bescheidenes Bindeglied in der langen Kette der Zusammenarbeit zwischen Paris und Zürich, zwischen Jean Zumstein und dem Institut Protestant de Théologie. Diese dauerhafte Verbindung ist möglicherweise auch auf ein gemeinsames Streben nach Freiheit, nach einem kritischen und scharfen Denken, aber auch nach einer innovativen und kreativen Forschung zurückzuführen. Zum Schluss möchte ich Jean noch die wärmsten Wünsche aller Mitglieder des IPT zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag übermitteln.

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A.a.O., 368.

Jörg Frey

Jean Zumstein als Ausleger des Johannesevangeliums – eine Würdigung

Es ist mir eine große Freude, meinen geschätzten Vorgänger und Kollegen zu seinem 75. Geburtstag zu würdigen, dem prodromos, auch wenn ich selbst in meiner eigenen Lektüre von „Jean“ (l’Évangeliste) und Jean (Zumstein) nicht in jeder Hinsicht sein epigonos bin. Aber das wäre ja auch langweilig: Das Gespräch mit Jean über „Jean“, das mutuum colloquium lectorum Ioannis, um „Jean“ (das Evangelium) mit Jean im Freundeskreis der ‘Johannine Community’ zu lesen, ist viel erquicklicher. Denn wir alle haben dankbar gelernt aus dem Schatz dessen, was Jean Zumstein in einem reichen Exegetenleben zu seinem Namenspatron, dem Evangelisten Johannes, vorgelegt hat. So möchte ich sein Oeuvre zur johanneischen Literatur in wenigen und sehr eklektischen Strichen skizzieren und charakterisieren, um dann etwas persönlicher zu sagen, was ich von Jean über „Jean“ gelernt habe, und etwas programmatischer, was wir nach meiner Überzeugung von seinen Lektüreperspektiven lernen können. 1. Johanneische Lektüren: Das Lebenswerk von Jean Zumstein Wenn man die Publikationstätigkeit von Jean Zumstein überblickt, muss man feststellen: Johannes war erst seine

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Jörg Frey

zweite Liebe. Matthäus war zuvor da1 – und daneben Reflexionen zum Verhältnis von Exegese und Philosophie2, zu Rudolf Bultmann3 und zur exegetischen Methodik.4 Erst 1980 findet sich ein erster Aufsatz mit dem Titel „L‘enracinement historique de l‘évangile selon Jean.“5 Dann folgen neben Literaturberichten bald programmatische Beiträge wie „Analyse narrative, critique rhétorique et exégèse johannique,“6 und „L‘évangile johannique, une stratégie du croire.“7 Das waren – was Johannes anbetrifft, die Arbeiten, mit denen Jean Zumstein im Jahr 1990 über den ‚Röstigraben‘ hinweg auf den Lehrstuhl 1

So schon die unveröffentlichte Dissertation von 1971: Jean Zumstein, La relation du maître et du disciple dans le bas-judaïsme palestinien et dans l’évangile selon Matthieu. Mémoire de l’Institut des sciences bibliques de l’Université de Lausanne, Lausanne 1971. Unter den Aufsätzen findet sich 1972 Jean Zumstein, Matthieu 28,16– 20, RThPh 22 (1972), 14–33, und die erste veröffentlichte Monographie ist Jean Zumstein, La condition du croyant dans l’évangile selon Matthieu, OBO 16, Freiburg Schweiz / Göttingen 1977; vgl. noch ders., Matthieu le théologien, Cahiers Evangile 58, Paris 1986, sowie eine allgemeinverständliche Auslegung des Vaterunsers: ders., Notre Père. La prière de Jésus au coeur de notre vie, Editions du Moulin, Poliez-le-Grand 2001; dt.: Vater für uns. Das Gebet Jesu mitten in unserem Leben, Neukirchen-Vluyn 2002. 2 Jean Zumstein, Théologie et Philosophie. Quel doit être aujourd’hui le rôle de la réflexion philosophique en théologie?, RThPh 18 (1968), 389–401. 3 Jean Zumstein, Rudolf Bultmann, Jésus, mythologie et démythologisation, Cahiers Protestants 2 (1969), 60–63; ders., Rudolf Bultmann in memoriam, Rivista di storia e letteratura religiosa 13 (1977), 598– 601. 4 Jean Zumstein, Sauvez la Bible. Plaidoyer pour une lecture renouvelée, Aubonne 1985; dt.: Rettet die Bibel! Plädoyer für die Erneuerung des Lesens, Zürich 1997. 5 Jean Zumstein, L’enracinement historique de l’évangile selon Jean, Lumière et Vie 149 (1980), 15–30; später als Forschungsbericht ders. Chronique johannique, RThPh 114 (1982), 65–77. 6 Jean Zumstein, Analyse narrative, critique rhétorique et exégèse johannique, in: Pierre Bühler / Jean-Francois Habermacher (Hg.), La narration. Quand le récit devient communication. Travaux de l’Institut de recherches herméneutiques et systématiques, Genève 1988, 37–56. 7 Jean Zumstein, L’évangile johannique, une stratégie du croire, RScR 77 (1989), 217–232.

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an der Universität Zürich berufen wurde, heraus aus der heimatlichen Frankophonie in die auch publizistische Diglossie. Und Johannes kam mit nach Zürich, wo Hans Weder bereits einen Schwerpunkt in der Johannesforschung hatte,8 und dort wurde Johannes immer mehr zum Hauptgegenstand der Forschung Zumsteins. Es war die Zeit der 90erJahre, als der methodologische Umschwung in der Johannesforschung von einer bisweilen exzessiven Literarkritik zu stärker synchronen Lektüren erfolgte. Jean Zumstein war geschult durch die v.a. frankophone Hermeneutik, Literaturwissenschaft und Erzähltheorie und damit bestens vorbereitet, um die Verbindung von textgenetischer Analyse und synchroner Wahrnehmung textlicher Strukturen und Kommunikationsstrategien zu entwickeln. Johannes war dafür das ideale Paradigma. Intensiv setzte sich der damals noch junge Gelehrte mit den Theorien der Entstehung des Evangeliums, seiner Einbettung in die Geschichte der johanneischen Gemeinde, seinem Weiterwirken in den johanneischen Briefen etc. auseinander. Was ist die „Redaktion“? Ist sie eine Gruppe epigonaler Durchschnittstheologen, die die Intention des genial provokativen Evangelisten umkehrt, ja dessen Theologie „orthodox“ umdeutet oder sie missverstehend bekämpft? Ist das vierte Evangelium primär ein Gefüge von Schichten, die man archäologisch erst voneinander abheben muss, um den Sinn der Texte zu verstehen, oder ist es zunächst ein Ganzes, das in seinem wie auch immer zustande gekommenen Ensemble verstanden 8 Hans Weder arbeitete seit den 1980er-Jahren an der Vorbereitung eines Kommentars für den EKK, musste dieses Projekt jedoch aufgeben, als er im Jahr 2000 zum Rektor der Universität Zürich gewählt wurde. Das EKK-Kommentarprojekt wurde dann an Jörg Frey vergeben. Vgl. einige grundlegende Aufsätze Weders zum Johannesevangelium in Hans Weder, Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992; zur exegetischen Arbeit Weders vgl. auch Jörg Frey, Hans Weder als Neutestamentler und Hermeneutiker, in: Ders. / Esther-Marie Joas (Hg.), Gleichnisse verstehen. Ein Gespräch mit Hans Weder, BThS 175, Göttingen 2018, 9–23.

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werden muss? Und wie kann das hermeneutische Postulat, dass der Text als Ganzer zuallererst abgelauscht werden will, hinreichend zur Geltung gebracht werden? Jean Zumsteins eigener Weg war – gut schweizerisch – vermittelnd. Die Unterscheidung zwischen einem ursprünglichen Evangelium und einer nachträglichen, evtl. mehrfach gestuften kirchlichen Redaktion, wie sie in den 1970er-Jahren durch Jürgen Becker vertreten worden war,9 wollte er nicht völlig preisgeben, aber die Aporien, die sich in der Zerstückelung der Texte und der willkürlichen Interpretation einer dann priorisierten Schicht auftaten, sah er mit literaturwissenschaftlich-hermeneutisch geschultem Auge nur zu gut. Das Zauberwort seines Ansatzes, den dann v.a. sein Schüler Andreas Dettwiler in den Abschiedsreden sorgfältig ausarbeitete, war „Relecture“10: Das ist etwas anderes als das bloße Ergänzen eines Textes in korrigierenden Anmerkungen. Es ist das Wieder-Durcharbeiten, das Erneut-Lesen des Vorhandenen, in dem sich neue Sinnbezüge eröffnen und neue Konsequenzen formuliert werden, ohne die Implikation, dass das Alte damit verkehrt, zu korrigieren oder zu verwerfen sei. Relecture ist somit ein durch und durch konservativer Prozess und zugleich progressives theologisches Arbeiten, und dieses Modell der Traditionsaufnahme und Weiterführung hat Zumstein am Johannesevangelium entwickelt und konsequent durchgeführt. Man könnte diesem Modell vorhalten, dass es die Infragestellung der literarkritischen Modelle nicht radikal genug aufgenommen oder nicht radikal genug zurückgewiesen hat. Man könnte es dahingehend abmildern, dass die Relecture faktisch auch eine „Réécriture“ durch den9 Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/1–2, Gütersloh / Würzburg 1978/80; 31991. 10 Grundlegend der SNTS-Hauptvortrag von 1995: Jean Zumstein, Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, NTS 42 (1996), 394–411; weiter ders., Ein gewachsenes Evangelium. Relecture-Prozess bei Johannes, in: Thomas Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen, QD 203, Freiburg i.Br. 2003, 9–37.

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selben Autor sein kann,11 der – wie wir es auch gelegentlich tun – einen alten Vortrag nach einiger Zeit wieder aufgenommen, überarbeitet und erweitert hat. Man könnte noch skeptischer fragen, ob wir im Johannesevangelium mit seiner recht einheitlichen Sprache überhaupt die Möglichkeit haben, solche Prozesse noch zu rekonstruieren, wenn wir keine Parallel-Texte zum Vergleich haben wie bei den Synoptikern und wenn wir nicht voraussetzen können, dass ein Autor völlig widerspruchsfrei arbeitet (was ja auch moderne Autoren selten tun). Dies gilt zumal in Anbetracht der narratologischen und didaktischen Einsichten in den Wert und die Bedeutung von Wiederholungen, Wiederaufnahmen und Variationen, durch die sich ein Text seiner Leserschaft oder Hörerschaft einprägt und kommunikativ wirksam wird. Für den Weg Jean Zumsteins spricht, dass er den historischen Fragen nicht ausweicht, aber dass die Differenzierung von Bearbeitungsstufen letztlich für die Interpretation nur eine sehr eingeschränkte Relevanz hat. Was er praktiziert, ist nicht einfach „Literarkritik light“, vielmehr wird auf den Text eine neue, andere Perspektive eingenommen, die der fortschreitenden Sinn-Gewinnung und Sinn-Ausweitung nachspürt, d.h. die Perspektive einer Synthese. Und dabei hat die letzte Schicht, soweit sie erkennbar ist, der Text in seiner überlieferten Gestalt, interpretatorisch wenn nicht die Priorität, so doch das letzte Wort. Ich kann hier nicht die einzelnen weiteren Arbeiten im Detail kommentieren, so ertragreich das wäre. Zusammengefasst und auf Deutsch verfügbar sind diese zunächst in Jean Zumsteins 1999 erstmals erschienener, dann 2004 erweiterter neu herausgegebener Aufsatzsammlung „Kreative Erinnerung“.12 Der Titel bietet sehr 11 So in Aufnahme und Modifikation des Zumstein’schen Modells Klaus Scholtissek, Klaus Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg / Basel / Wien 2000, 131–139. 12 Jean Zumstein, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999; 22004.

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johanneisch sachgemäß den Erinnerungs-Begriff, noch bevor die Rede vom „memory approach“ in der Jesusforschung modisch wurde,13 wobei die Rede von der Erinnerung nicht gedächtnispsychologisch und schon gar nicht im Sinne konservativen Auswendigbehaltens der Worte Jesu verstanden wird, sondern im Sinne eines kreativen Prozesses, der ein Neu- und Anderserzählen, eine sukzessive Fortschreibung und Rekontextualisierung und – horribile dictu – selbst fiktionales Neuerzählen einschließt. Das Ziel all dieser Arbeiten war natürlich der Kommentar,14 und in Abwandlung einer paulinischen Phrase kann man sagen, dass er diesen „zuerst den (mit der ‚Sprache der Engel‘ gesegneten) Frankophonen und danach auch den Teutonen“ geschenkt hat. Hier zeigt sich die johanneische Perspektive Jean Zumsteins am deutlichsten. Signifikanterweise begann er seinen Kommentar nicht mit dem ersten Band, dem Anfang, dem Prolog, vielmehr kommentierte er zuerst den zweiten Band, die Abschiedsreden und die gedeuteten Ereignisse von Tod und Auferstehung Jesu, weil er genau von hier aus, „im Rückblick“15 das Ziel des vierten Evangeliums zur Sprache gebracht sieht. Für ihn sind deshalb die Abschiedsreden, die in einem eigentümlichen Gemisch von Rück-

13 Zum Johannesevangelium als ‚Narrative Erinnerung‘ vgl. jetzt auch Jörg Frey, The Gospel of John as a Narrative Memory of Jesus, in: Simon Butticaz / Enrico Norelli (Hg.), Memory and Memories in Early Christianity. Proceedings of the International Conference held at the Universities of Geneva and Lausanne (June 2–3, 2016), WUNT 398, Tübingen 2018, 261–284. 14 Jean Zumstein, L’Évangile selon saint Jean (1–12), CNT 4A, Génève 2014; ders., L’Évangile selon saint Jean (13–21), CNT 4B, Génève 2007; ders., Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016. Vgl. dazu die Rezension von Andreas Dettwiler, Rez. Jean Zumstein, L‘Évangile selon Saint Jean, Early Christianity 6 (2015) 129–138. 15 Vgl. in diesem Sinn auch die Untersuchung von Christina HoegenRohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996.

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blick und Vorausblick16 das Jesusgeschehen kommentieren und für die Existenz der späteren Gemeinde fruchtbar machen, der Schlüsseltext zum Verständnis des Evangeliums.17 Nun ist es eine besondere Auszeichnung, die auch mit manchen Zufälligkeiten zu tun hat, dass Jean Zumsteins Kommentar in der ehrwüdigsten aller neutestamentlichen Kommentarreihen, dem Meyer’schen ‚Kritisch-exegetischen Kommentar zum Neuen Testament‘ die Nachfolge des epochalen Werks von Rudolf Bultmann,18 dem Großmeister der Exegese und Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, einnimmt. Und auch wenn Bultmanns Kommentierung damit keineswegs obsolet ist und natürlich weitergedruckt wird, ist dieses Werk ein würdiger Nachfolger. Leider sind in der deutschen Überarbeitung auf Drängen der Herausgeber gerade die theologischen Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Abschnitte nicht aufgenommen worden, weil diese letzte Konsequenz der Frage nach der exegetischen Wahrheit den allzu rein ‚kritisch-exegetischen‘ Herren in Göttingen und anderswo dann doch zu theologisch-praktisch war. Darum ist der Blick in die Version der lingua franca eben doch unerlässlich und immer wieder gewinnbringend. In Jean Zumsteins Kommentierung beeindruckt die Klarheit des Blicks und die Klarheit der Sprache. Nichts ist überflüssig, und stets ist – auch bei komplexen literarischen Diskussionen – die literarische Gestalt des Textes und die theologische Frage nach dem Sinn, ja noch mehr, nach der Sache der Texte und ihrer theologischen Wahrheit, im Blick. So ist gewährleistet, dass die Leserschaft nicht in den philologischen, traditionsgeschichtlichen 16 Zum Ineinander der temporalen Perspektiven in den Abschiedsreden vgl. Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie II: Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998, 247–268. 17 Jean Zumstein, L’Évangile selon Saint Jean (13–21), 5: „une lecture attentive du quatrième évangile montre que la clef herméneutique de l’évangile est donnée dans les discours d’adieu.“ 18 Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen 1941; 211986.

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oder historischen Details ertrinkt. Aus meiner eigenen Kommentararbeit weiß ich, welche ungeheure Leistung hinter dieser angesichts der Literatur und Datenflut fast unmöglich gewordenen Reduktion steht. Seine von der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik her geschulte Sicht der johanneischen Literatur hat Jean Zumstein präzise zusammengefasst in seiner magistralen „Presidential Address“ in seiner Funktion als Präsident der Studiorum Novi Testamenti Societas 2018 in Athen. Unter dem Titel „Mémoire, histoire et fiction dans la littérature johannique“19 bietet diese Vorlesung noch einmal zusammenfassend sein Grundverständnis der johanneischen Literatur als Produkt der nachösterlichen Deutung der Jesus-Christus-Geschichte, die sich in einem mehrstufigen Prozess kreativer Erinnerung entwickelt hat. Deren Wahrheit liegt dabei dezidiert nicht in der historisch ‚korrekten‘ Wiedergabe vergangener Ereignisse, vielmehr in der auf die jeweilige Gegenwart bezogenen theologischen Deutung, die sich einem mehrstufigen Relecture-Prozess in der johanneischen Gemeinde verdankt. 2. Johanneische Perspektiven: Was ich von Jean Zumstein gelernt habe Was habe ich selbst von Jean Zumsteins Johannesexegese gelernt, oder – besser gesagt – was lerne ich immer wieder von ihm, in Gesprächen und Diskussionen? Ich bin ja selbst anders geprägt, nicht so sehr mit allen Wassern der Hermeneutik gewaschen, schon gar nicht der frankophonen Hermeneutik und Literaturtheorie. Ich bin seit meiner Dissertation zur johanneischen Eschatologie und ihrer Auslegungsgeschichte20 noch skeptischer ge19 Jean Zumstein, Mémoire, histoire et fiction dans la littérature johannique, NTS 65 (2019), 123–138. 20 Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie I: Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1996.

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genüber den Wegen und Irrwegen der johanneischen Literarkritik und den Versuchen der Exegeten, sich den vierten Evangelisten nach ihrem eigenen Bilde zu gestalten. Und vor allem komme ich stärker von den Fragen der neutestamentlichen Zeitgeschichte, vom Studium der Texte des antiken Judentums und von dem Anliegen einer in der alttestamentlich-frühjüdischen Literatur wurzelnden biblischen Theologie her. Und ich gestehe, dass ich Jean Zumsteins Arbeiten erst spät begegnet bin, v.a. durch das Prisma der Dissertation von Andreas Dettwiler,21 die mir in meinen eigenen Versuchen mit den Abschiedsreden in vielem weitergeholfen hat, auch wenn selbst ich das Modell der Relecture nicht übernommen habe.22 Zu einer ersten persönlichen Begegnung kam es erst im Dezember 2000 in Zürich, als ich von Jean Zumstein eingeladen war, in einem Forschungsseminar über die Frage der Kreuzestheologie im Johannesevangelium vorzutragen. Die Ausarbeitung dieses Beitrags und die Auseinandersetzung mit dem Thema der theologia crucifixi des Johannesevangeliums23 und im weiteren Sinne den verschiedenen, miteinander verschränkten Formen der Deutung des Todes Jesu24 hat mein eigenes Verständnis dann stark geprägt. 21 Andreas Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995. 22 Vgl. dazu Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie III: Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, WUNT 117, Tübingen 2000, 117 sowie a.a.O. 119–231 meine Auslegung der Texte der Abschiedsreden, die im konstanten Gespräch mit der Arbeit Dettwilers erfolgt. 23 Jörg Frey, Die theologia crucifixi des Johannesevangeliums, in: Andreas Dettwiler / Jean Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, 169–238. 24 Vgl. die weiterführende Interpretation in Jörg Frey, Edler Tod – wirksamer Tod – stellvertretender Tod – heilvoller Tod. Zur narrativen und theologischen Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: Gilbert van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, BETL 200, Leuven 2007, 65–94.

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Was ich an Jean Zumstein immer wieder bewundere, ist seine Art des präzisen, aber sehr eindringlichen Fragens. Wenn er in seinen Repliken in einer Diskussion nach einem Ausdruck der generellen Zustimmung zum „Aber“ ansetzt, oft mit ernst erhobenem Zeigefinger, dann ist immer der Nerv der Sache getroffen – zielgenau und präzise. Wie in der schriftlichen Ausarbeitung, so ist auch in der mündlichen Rede bei ihm nichts überflüssig, nichts floskelhaft, sondern alles konzentriert und kompromisslos auf das Verstehen des Textes und seiner Sache ausgerichtet. a) Geschult von den Diskursen der Literaturwissenschaft und der v.a. frankophonen Hermeneutik – Gérard Genette, Paul Ricoeur u.a. – verbindet Jean Zumstein in einer mustergültigen Weise eine an der Synchronie des Textes orientierte narratologische Lektüre mit einer klaren historisch-kritischen Wahrnehmung des Textes und mit der theologischen Frage nach der in ihm verhandelten Wahrheit, nach seiner Sache. Dabei sind seine narratologischen Beobachtungen nie nur Selbstzweck (und erst recht nicht nur eine modische Verbeugung an eine nichttheologische Disziplin, um damit eine vermeintlich größere Wissenschaftlichkeit zu erreichen). Vielmehr sind sie ganz und gar an der Wahrnehmung der Gestalt der Texte interessiert und auf die theologische Aufgabe des Verstehens hin ausgerichtet. So kann Zumstein Text für Text zeigen, wie der johanneische Erzähler mit literarischer Kunstfertigkeit seinen Text ausgestaltet hat, so dass er seiner Leserschaft nicht nur eine Vorstellung von der erzählten Geschichte, sondern auch eine theologische Botschaft kommuniziert. b) Zumsteins früher Aufsatztitel von der Strategie der Glaubensvermittlung („stratégie du croire“) hat mich besonders angeregt, denn er trifft den Punkt sehr genau. Das Johannesevangelium ist ein Text, der nicht nur eine bestimmte theologische Auffassung vertritt – eine Christologie, eine Pneumatologie etc. –, sondern der diese Theologie auch vermitteln will, und das sehr bewusst mithilfe spezifischer sprachlicher oder auch didaktischer

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Mittel. Dazu gehören erzählerische Techniken wie die Erläuterung des Erzählten durch erzählerische Randbemerkungen, die Einführung spezifischer Deutekategorien zum richtigen Verständnis der erzählten Geschichte, etwa im Blick auf den Tod Jesu (Erhöhung, Verherrlichung) und schon am Anfang die Voranstellung der Lektüreanweisung des Prologs. Dazu gehört auch die Verschränkung der vergangenen Jesusgeschichte mit der Gegenwart der Leserschaft und ihren Problemen, wie sie in den johanneischen Jesusreden und – besonders konzentriert – in den Abschiedsreden erfolgt. Die Liste ließe sich verlängern. Doch sind nach Zumsteins präziser Wahrnehmung alle diese unterschiedlichen sprachlichen und narrativen Mittel nicht Selbstzweck oder Phänomene von rein literaturästhetischem Wert. Sie sind vielmehr präzise auf den Zweck bezogen, der am Ende des Evangeliums genannt wird: „damit ihr glaubt“ (Joh 20,30f.). So wird das ganze Evangelium verständlich als eine planvoll und geschickt gestaltete Erzählung, die textpragmatisch ihre Leserinnen und Leser zum Glauben führen will. Glaube ist dabei nicht nur eine subjektive Haltung, die sich im Bekenntnis ausspricht, sondern eine von der vor Augen geführten Geschichte evozierte Antwort, die sich aus der Lektüre und durch die je und je neu ‚erinnernde‘ Aktivität des Geistes speist. Die textlich wahrnehmbare didaktische „Strategie“ steht dabei nicht an der Stelle des Wirkens des Heiligen Geistes, vielmehr ist sie begriffen als ein Mittel, dessen der Geist sich in der Lektüre bedienen kann. Zugleich ist die narrative Ausgestaltung der johanneischen Jesuserzählung im Rahmen des johanneischen Selbstanspruchs verstanden als Niederschlag der erinnernden und lehrenden Tätigkeit des Geistes, der durch die Jünger und ihre nachösterlichen Einsichten und durch das diese Einsichten verdichtet präsentierende Evangelienbuch bis in die Gegenwart hören lässt und der die Jesusgeschichte und v.a. seinen Tod uns Lesenden so vor Augen stellt, dass wir sie im

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rechten Licht zu sehen lernen. Wenn ich selbst in diesem Kontext von der „Sehschule des Glaubens“ spreche,25 nehme ich die Denklinie der „stratégie du croire“ gerne auf. c) Von Jean Zumstein – und parallel in der Schule von Ferdinand Hahn26 – habe ich gelernt, dass die Abschiedsreden den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis des Johannesevangeliums bieten. Natürlich sind sie nicht der einzige wichtige Schlüsseltext und es wäre unangemessen, sie darin in Konkurrenz mit dem Prolog, dem prototypischen Zeichen in Kana27, der Lazarus-Episode oder den Ostererzählungen zu bringen, die alle für das johanneische Verständnis Jesu Christi und des Glaubens fundamentale Perspektiven beisteuern. Doch sind es nicht zuletzt narratologische Beobachtungen, die diesen Textteil als besonders signifikant ausweisen. Hier kommt programmatisch das τέλος des Weges Jesu in den Blick (13,1–3; vgl. 19,28–30). Die erzählte Zeit verlangsamt sich auf diese Passage hin, von der Zeitraffung zur Zeitdeckung. In der Spruchkomposition zum Auftakt der Rede (13,31f.) verbinden sich in einer programmatischen Dichte der Vorausblick auf die nachösterliche Zeit und der summarische Rückblick aus der nachösterlichen Perspektive und damit ist bereits hier angedeutet, dass die Situation der Jünger in den Abschiedsreden für Fragen der späteren Jüngergemeinde hier in besonderer Weise transparent ist. Gewiss, die johanneische Narration beginnt nicht mit diesen Texten, aber ihren entscheidenden 25 Jörg Frey, „Seht, euer König!“ Die Johannespassion als Sehschule des Glaubens, ThBeitr 50 (2019), 7–27. 26 Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes (s. Anm. 15), und – grundlegend – Takashi Ōnuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur Frage nach der theologischen und pragmatischen Dimension des johanneischen „Dualismus“, WMANT 56, Neukirchen-Vluyn 1984. 27 Jörg Frey, Das prototypische Zeichen (Joh 2,1–11), in: R. Alan Culpepper / Jörg Frey (Hg.), The Opening of John’s Narrative (John 1:19–2:22): Historical, Literary, and Theological Readings from the Colloquium Ioanneum in Ephesus, WUNT 385, Tübingen 2017, 165– 216.

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Charakter als einer im Rückblick gestalteten erinnernden Relecture der Geschichte Jesu erkennt man am besten von hier aus. Ich selbst kann zwar meinen Kommentar nicht mit den Abschiedsreden beginnen, habe aber seinerzeit für meine Behandlung der johanneischen Eschatologie bewusst den Ausgangspunkt bei den Texten der Abschiedsreden gewählt28 (und nicht in Joh 3,16–21; 5,19–30 oder 11) und sehe mich darin in guter Übereinstimmung mit Jean Zumstein. d) Ein vierter Punkt soll genannt werden – vielleicht weil er mich in meiner Arbeit an der Kommentierung des Johannesevangeliums noch stärker beschäftigt als Jean Zumstein. Ich bin aufgrund meiner eigenen exegetischen Prägung noch mehr als er an der geschichtlichen Einbettung des Evangeliums und an den traditions- und religionsgeschichtlichen Kontexten des Evangeliums interessiert, und dabei lässt sich auch die Frage nach der historischen Referenz, nach dem Informationswert der johanneischen Erzählung im Blick auf die Geschichte und Situation der johanneischen Gemeinde(n) und auch im Blick auf die Geschichte und Wirksamkeit des irdischen Jesus nicht ausklammern. Wer von der Narratologie her kommt, könnte diesbezüglich auch ein Desinteresse oder eine erkenntnistheoretische Skepsis signalisieren und die historischen Fragen hintanstellen. Das macht Jean Zumstein dezidiert nicht – denn zur exegetischen und theologischen Aufrichtigkeit gehört auch die Rechenschaft darüber, was historisch erkennbar ist und was nicht, wo Widersprüche und Spannungen bestehen und wie diese nach Möglichkeit zu erklären sind. Wo man dies vernachlässigt, verliert man m.E. jede Argumentationsgrundlage sowohl gegenüber den Fundamentalisten als auch gegenüber den radikalen Skeptikern. Ich habe aber von Jean Zumstein noch einmal neu gelernt, die Fiktionalität als Mittel theologischer Wahrheitsvermittlung zu würdigen. Dabei stellt sich die Frage, ob und wo es in der frühjüdischen und frühchristlichen 28

Frey, Die johanneische Eschatologie III (s. Anm. 22), 102–239.

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Antike Analogien gibt, theologische oder philosophische Fiktionalitätstheorien, die ein solches Vorgehen, wie wir es bei Johannes wahrnehmen, als akzeptabel ansehen konnten, und wo und wie solche Ansätze (etwa aus der Prosopopoiie oder Figurenrede im antiken Unterricht oder im Theater) auch für Jesusnachfolger zugänglich waren. Können wir hier auf intellektuelle Niveaus wie bei Philo oder Clemens von Alexandrien verweisen – und gibt es etwas zwischen diesen beiden geistigen Größen? Ist Johannes in seiner subtilen Darstellungsweise, in tiefer Schlichtheit und zugleich schlichter Tiefe, von solchen Entwürfen her zu verstehen? Diesen Fragen möchte ich selbst historisch und hermeneutisch weiter nachgehen, aber die literaturwissenschaftlich und theologisch begründete Affirmation, dass auch Fiktives einen Wert haben kann in der Vermittlung theologischer Wahrheit (die dann eben nicht mit historischer Wahrheit gleichzusetzen ist), habe ich von Jean Zumstein gelernt. 3. Johanneische Impulse: Was Jean Zumsteins Exegese uns weitergeben kann Zwei Dinge möchte ich abschließend hervorheben: Exegese ist – das ist gute Zürcher Tradition, für die auch Hans Weder steht – nicht ein philologisches Erbsenzählen, ein geistloses Ansammeln von Daten und Fakten, sondern die Frage nach der Sache der Texte, nach ihrer Wahrheit. Dabei meine ich ganz dezidiert auch die theologische Wahrheit: Was sagen die neutestamentlichen Texte aus über Gott und Welt, über den Menschen, über ein Leben, das gelingt, über mich selbst und meine Existenz. Diese theologische Frage mutig zu stellen und zu explizieren und sich nicht in vermeintlich wissenschaftlicher Neutralität zu verstecken, das praktiziert Jean Zumstein, und darin ist er als Exeget Theologe, und gerade darin wird er dem Wesen dieser Wissenschaft gerecht. Pecca fortiter, mag man hier sagen. So Exegese treiben, heißt Theologie treiben, und gerade die theologische

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Frage nach der Wahrheit drängt zum Text (und nicht nur zu immer neuen Methoden oder Moden). Denn der Text, das Buch, das ist es, in dem die Botschaft des „Lieblingsjüngers“ bleibt (vgl. Joh 21,22f.), bis heute und auch über die eine oder andere in der Forschung bereits erprobte und wieder verworfene Methode hinaus. Schließlich: Exegese ist lesen, lesen und nochmals lesen, den Text ablauschen und abtasten, bis er sein eigenes Profil zu erkennen gibt und die vorschnellen Urteile der Lesenden relativiert und modifiziert. Das ist es, was die Verbindung der historisch-kritischen Exegese mit der Sprach- und Literaturwissenschaft, mit Narratologie und Metapherntheorie und dem hermeneutischen Nachdenken über den Sinn des Textes erforderlich macht. Nicht das vorschnelle, pseudo-kritische Urteilen über den Text, sondern das geduldige, mit allen Instrumenten verstärkte Hören auf dessen Atem und Puls, das ist es, das Exegese ertragreich macht und theologisch gleichwohl relevant. Jean Zumstein hat zugleich gezeigt, dass das alles nicht kompliziert darzustellen ist, wenn der Exeget wirklich verstanden hat. Kompliziertheit könnte hingegen manchmal darauf hindeuten, dass die Verstehensbemühung selbst nicht hinreichend zu einem Ziel gelangt ist. Das können wir von Jean Zumstein lernen und mit ihm seinem Namenspatron Johannes nachlauschen, um Johannes zu verstehen.

Christina Hoegen-Rohls

Ein Gott, der sich mitteilt. Das Ethos des Logos im Johannesevangelium

Medias in res möchte ich meinen Beitrag mit einer provokanten Frage beginnen: Hat Gott ein Ethos? Ich stelle diese Frage, da sie mir nahezuliegen scheint, wenn ich im Folgenden versuche, das Ethos des johanneischen Logos herauszuarbeiten. Denn wer ist dieser Logos? Der Logos ist im vierten Evangelium der „in einem der Schöpfung vorausgehenden Anfang“1 immer schon bei Gott Seiende, der als Präexistenter „im Namen Gottes die Rolle des Schöpfers“ übernimmt und als Schöpfungsmittler „die Beziehung zwischen Gott und der Welt konstituiert.“2 Er ist das göttliche Wort, das Fleisch wird, um als Inkarnierter den Menschen Leben und Licht zu schenken3 und zu offenbaren, „was Gott zu Gott macht“.4 Auch als Inkarnierter trägt er die Herrlichkeit des Präexistenten in sich, in die er durch seinen Tod und seine Auferstehung zurückkehrt. Der Logos aber, ob präexistent, inkarniert oder postexistent, ist nach johanneischem

1 Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016, 73. Im Sinne des vorliegenden Bandes, Johannes im Gespräch mit Jean Zumstein zu lesen und zu verstehen, knüpft der vorliegende Beitrag durchgehend an Jean Zumsteins Johanneskommentar an, in welchem sich seine langjährige Bemühung um die Johannesauslegung luzide bündelt. 2 Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 76. 3 Vgl. a.a.O., 77. 4 A.a.O., 85.

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Verständnis Gott.5 Eben deshalb stellt sich mit dem hier erörterten Thema die Frage: Hat Gott ein Ethos? Der vorliegende Beitrag versucht nicht, diese Frage aus systematisch-theologischer Sicht zu klären. Beabsichtigt ist vielmehr, der Frage nach dem Ethos Gottes bzw. des Logos auf exegetischem Wege näherzukommen. Dafür ist ernst zu nehmen, dass von Gott und Logos im Johannesevangelium auf narrative Weise die Rede ist. Auf der narrativen Ebene betrachtet ist der Logos die Erzählfigur Jesus. Beide Fragen, die Frage nach dem Ethos des Logos und die Frage nach der erzählerischen Darstellung Jesu, sind daher miteinander zu verschränken. Diese Verschränkung der exegetisch-narrativen und der exegetisch-theologischen Fragerichtung nimmt den interpretatorischen Impuls auf, den Jean Zumstein mit seinem Kommentar zum Johannesevangelium gibt, indem er konsequent die literarische und die theologische Analyse des Textes verfolgt und aufeinander bezieht.6 Der vorliegende Beitrag ordnet sich mit seiner Fragestellung in zwei Interessengebiete der jüngeren Johannesforschung ein: in die Diskussion um die Ethik7 des vierten 5 Zu der komplexen Frage der Gottheit des Logos, die im Johannesevangelium zwischen den Polen der Einheit und der Unterschiedenheit oszilliert, vgl. a.a.O., 60.63–79.84–88. Zumstein bestimmt den Logos als „die Gestalt Gottes inmitten der Welt“ (67) bzw. als „das Angesicht Gottes für die Welt“ (60.75.84.pass.). 6 Er setzt damit seine Einsicht um, „dass sich das Evangelium des Johannes innerhalb des Neuen Testaments durch seine literarische und theologische Originalität auszeichnet.“ Vgl. a.a.O., 29. Vgl. zur notwendigen Verschränkung von narrativer und theologischer Analyse auch Jörg Frey / Uta Poplutz, Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, in: ders. / dies. (Hg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, BThSt 130, Neukirchen-Vluyn 2012, 1–18. 7 Vgl. dazu aus der letzten Forschungsdekade u.a. Jan G. van der Watt / Ruben Zimmermann (Hg.), Rethinking the Ethics of John. „Implicit Ethics“ in the Johannine Writings (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik III), WUNT 291, Tübingen 2012; Christina Hoegen-Rohls / Uta Poplutz (Hg.), Glaube, Liebe, Gespräch. Neue Perspektiven johanneischer Ethik, BThSt 178, Göttingen 2018; Olivia L. Rahmsdorf, Zeit und Ethik im Johannesevangelium. Theoretische, methodische und exegetische Annäherungen an die Gunst der Stunde

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Evangeliums und in die Analyse seiner erzählten Figuren.8 In beiden Bereichen ist die Frage nach Jesus unterrepräsentiert. Gefragt wird meist nach dem Ethos der johanneischen Gemeinde und analysiert werden überwiegend die Erzählfiguren, die Jesus begegnen,9 nicht die erzählte Figur Jesus selbst.10 Daher möchte der vorlie(Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik X), WUNT II/488, Tübingen 2019; Jan G. van der Watt, A Grammar of the Ethics of John: Reading John from an Ethical Perspektive, Vol. I, WUNT 431, Tübingen 2019. 8 Vgl. dazu aus der letzten Forschungsdekade u.a. Cornelis Bennema, Encountering Jesus. Character Studies in the Gospel of John, Milton Keynes / Colorado Springs 2009; Minneapolis 22014; Steven A. Hunt / D. Francois Tolmie / Ruben Zimmermann (Hg.), Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Approaches to Seventy Figures in John, WUNT 314, Tübingen 2013; Ruben Zimmermann, Figurenanalyse im Johannesevangelium. Ein Beitrag zu Sinn und Wahrheit narratologischer Exegese, ZNW 105 (2014), 20–53; Fredrik Wagener, Figuren als Handlungsmodelle. Simon Petrus, die samaritische Frau, Judas und Thomas als Zugänge zu einer narrativen Ethik des Johannesevangeliums (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik VI), WUNT II/408, Tübingen 2015; Christopher W. Skinner (Hg.), Characters and Characterization in the Gospel of John, Atlanta 2019. 9 Vgl. Peter Dschulnigg, Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannesevangelium, Münster 2002; Bennema, Encountering Jesus (s. Anm. 8). 10 Vgl. aber u.a. das in der zweiten Auflage von Bennema, Encountering Jesus (s. Anm. 8), ergänzte Kapitel „Jesus: The Life-Giving Revealer“ (43–59); den Abschnitt „Jesus als erzählte Figur in Joh 4,1– 42“ in Zimmermann, Figurenanalyse (s. Anm. 8), 38–42; sowie aus der älteren Literatur den Abschnitt „Jesus“ in der klassischen Untersuchung von R. Alan Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, Philadelphia 1983, 106–112. Hunt / Tolmie / Zimmermann, Character Studies (s. Anm. 8), klammern die Analyse der Erzählfigur Jesus genauso wie die Analyse der Erzählfiguren Gott und Geist / GeistParaklet bewusst aus; vgl. dazu aber Donald F. Tolmie, Jesus‘ Farewell to the Disciples. John 13:1–17:26 in Narratological Perspective, BIS 12, Leiden 1995, 117–144. Zu Gott als Erzählfigur vgl. den Abschnitt „The Father“ bei Culpepper, Anatomy (s. Anm. 10), 112–115; Marianne M. Thompson, ‚God’s Voice You Have Never Heard, God’s Form You Have Never Seen.‘ The Characterization of God in the Gospel of John, Semeia 63 (1993), 177–204; Donald F. Tolmie, The Characterization of God in the Fourth Gospel of John, JSNT 69 (1998), 57–75; Ute E. Eisen / Ilse Müllner (Hg.), Gott als Figur.

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gende Beitrag den Blick für die Erzählfigur Jesus weiter schärfen und zugleich die Theologizität der Kategorie ‚Ethos‘ zur Geltung bringen. In einem ersten Schritt wird dafür die Art und Weise untersucht, in der Jesus als erzählte Figur im Johannesevangelium profiliert wird (1). Ein zweiter Schritt reflektiert, was im vorliegenden Beitrag unter ‚Ethos‘ verstanden werden soll (2). Zuletzt umreißt ein dritter Schritt, was auf der Basis der vorausgehenden Beobachtungen, Überlegungen und Entdeckungen im Gespräch mit Jean Zumstein als das ‚Ethos‘ des Logos bestimmt werden kann (3). 1. Jesus als erzählte Figur im vierten Evangelium Erzähltheoretisch gilt, dass alle Figuren einer Erzählung grundsätzlich auf die gleiche Weise analysiert werden können. Es macht keinen Unterschied, ob eine Figur als Mensch oder als Gott, als Tier oder als Gegenstand Teil der erzählten Welt ist.11 ‚Figur‘ ist jede narrative Größe, der mentale Zustände wie Wahrnehmungen, Gedanken, Absichten und Gefühle zugeschrieben werden.12 Diese ‚Mentalität‘ findet ihren Ausdruck auf den beiden grundlegenden Ebenen einer Erzählung: der Erzählerrede und der Figurenrede.

Narratologische Analysen biblischer Texte und ihrer Adaptionen, HBS 82, Freiburg 2016. 11 Vgl. Ute E. Eisen / Ilse Müllner, Gott als Figur – eine Einführung, in: dies. / dies. (Hg.), Figur (s. Anm. 10), 11–26; Jens Eder, Gottesdarstellung und Figurenanalyse. Methodologische Überlegungen aus medienwissenschaftlicher Perspektive, in: Eisen / Müllner (Hg.), Figur (s. Anm. 10), 27–54. 12 Vgl. Matias Martinez, Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2011, 145.

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1.1 Charakterisierung einer erzählten Figur durch Erzählerrede und Figurenrede Werden eine Erzählung und ihr Figurenbestand13 auf der Ebene der Narration (das heißt auf der Ebene des Erzählvorgangs bzw. des Erzählakts des textinternen Erzählers) untersucht, so gilt: Der Erzähler (bzw. die erzählende Stimme des Textes) stellt die Figuren seiner Erzählung erzählend her.14 Er nutzt dabei grundsätzlich zwei Möglichkeiten, um die Figuren zu konturieren: die Erzählerrede und die Figurenrede. Die Erzählerrede kann als erzählende und als kommentierende Erzählerrede gestaltet werden. Mittels der erzählenden Erzählerrede erzählt der Erzähler vom Auftreten, Handeln und Sprechen der erzählten Figur sowie von dem, was der Figur in der Begegnung mit anderen erzählten Figuren und deren Auftreten, Handeln und Sprechen widerfährt. Mittels der kommentierenden Erzählerrede (Erzählerkommentar) kommentiert und bewertet er das Auftreten, Handeln und Sprechen der erzählten Figur. Lässt der Erzähler die erzählte Figur sprechen, indem er ihr wörtliche Rede in den Mund legt, wechselt die erzählende Erzählerrede auf die Ebene der Figurenrede, in der die erzählte Figur Aus13 Sönke Finnern, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28, WUNT II/285, Tübingen 2010, 128f., unterscheidet zwischen „Figurenbestand“ (Figuren innerhalb einer erzählten Szene) und „Figurenensemble“ (alle in einer Gesamterzählung auftretenden Figuren). Diese Unterscheidung erscheint mir nicht erforderlich. Sönke Finnern / Jan Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, UTB 4212, Tübingen 2016, 196–197, geben sie zu Recht auf und sprechen nur noch von „Figurenbestand“. 14 Die postklassische Erzähltheorie untersucht erzählte Figuren unter rezeptionsästhetischer Perspektive: Es seien die Textrezipient*innen, die die erzählte Figur im Rahmen eines mentalen Wahrnehmungsprozesses erzeugen; vgl. dazu Finnern, Narratologie (s. Anm. 13), 33– 45.125–164, bes. 129–133. Auch die rezeptionsästhetische Perspektive bleibt jedoch angewiesen auf die Darstellung der erzählten Figur durch den Erzähler. Nur dieser Aspekt wird im vorliegenden Beitrag beleuchtet.

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kunft etwa über ihr Denken und Fühlen, ihre Einstellungen und Handlungsabsichten und ihre Beziehung zu anderen Erzählfiguren gibt. Alle drei Weisen des Erzählens (erzählende Erzählerrede, Erzählerkommentar und Figurenrede) dienen der Charakterisierung der erzählten Figur (character/literary figure; personnage). Die Charakterisierung der erzählten Figur kann auf direkte und indirekte Weise erfolgen. Direkte Charakterisierung liegt vor, wenn auf der Ebene erzählender Erzählerrede etwa das Aussehen einer erzählten Figur beschrieben, ihr Alter genannt oder auf der Ebene kommentierender Erzählerrede ihre Gesinnung erläutert werden. Demgegenüber vollzieht sich die Charakterisierung der erzählten Figur auf indirekte Weise, wenn von ihrem Handeln erzählt wird. Zu diesem Handeln gehört ganz wesentlich auch ihr Sprechen: Die erzählte Figur handelt und verhält sich durch die ihr in den Mund gelegte wörtliche Rede. Direkte und indirekte Charakterisierung erzählter Figuren durch Erzählerrede und Figurenrede statten eine Erzählfigur mit expliziten und impliziten Figurenmerkmalen aus15 und sind dafür verantwortlich, dass in einer Erzählung eine profilierte Figurenhierarchie entsteht. Je nach Charakterisierung einer erzählten Figur ergibt sich eine höhere oder weniger hohe Relevanz ihres Figurenhandelns und Figurenverhaltens für den Fortgang und die Komplexität des erzählten Geschehens. Zwar sind alle erzählten Figuren Handlungsträger einer Erzählung. Doch nur einzelne treten in ihr als Hauptfigur (Protagonist, main/central/major/important character), als Kontrastfigur bzw. Opponent zu einer Hauptfigur (Antagonist), als Nebenfigur (minor/secondary character), als Randfigur (chorus) oder als Hintergrundfigur (background character) auf.16 Je nach ihrer Charakterisierung, zu der auch ihr Verhältnis zu anderen erzählten Figuren 15

Vgl. dazu genauer a.a.O., 129–147. Vgl. die Übersicht bei Finnern / Rüggemeier, Methoden (s. Anm. 5), 205–206. 16

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und umgekehrt deren Verhältnis zu ihr zählen, gewinnt eine erzählte Figur ihre je spezifische Stellung in der Figurenhierarchie und ihre je spezifische Rolle in der Figurenkonstellation einer Erzählung – sei es in der Gesamterzählung, sei es in einzelnen Erzählszenen.17 1.2 Die johanneische Charakterisierung der Erzählfigur Jesus als Figur des Wortes Die Charakterisierung der erzählten Figur Jesus erfolgt im Johannesevangelium auf direkte und indirekte Weise. Zur direkten Charakterisierung gehören grundlegend der Name ‚Jesus‘, die Verbindung dieses Namens mit dem Titel ‚Christus‘ (Joh 1,17; 17,3; vgl. 20,31) und die intitulatorisch-metaphorischen Kennzeichnungen, die der Erzähler im Evangelienprolog nutzt, um die Erzählfigur des irdischen Jesus mit seiner himmlisch-präexistenten Herkunft von Gott zu korrelieren: ‚Logos‘ und ‚Einziggeborener‘/,Einziggeborener, Gott‘18. Auch diese Größen, Logos, Einziggeborener, Gott, sind Erzählfiguren der johanneischen Erzählung. Sie verschmelzen mit der Erzählfigur Jesus und tragen zu deren hoher Komplexität bei. In dominanter Weise vollzieht sich die johanneische Charakterisierung der Erzählfigur Jesus auf indirekte Weise im Modus der Figurenrede. Der erzählten Figur werden darin die Selbstcharakterisierung als Menschensohn19 und als gesandter Sohn des sendenden Vaters sowie die für die johanneische Inkarnations-, Sendungsund Offenbarungsvorstellung zentrale Selbstpräsentation

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Vgl. dazu genauer Finnern, Narratologie (s. Anm. 13), 147–151. Zu der interpunktierten Übersetzung von µονογενὴς θεός vgl. Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 64 mit Anm. 7. 19 A.a.O., 144, hebt hervor, dass der Menschensohn-Titel im Johannesevangelium sowohl in das Konzept der Inkarnationschristologie als auch der Sendungschristologie integriert ist. 18

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in Form von Ich-bin-Worten und Ich-bin-gekommenWorten in den Mund gelegt.20 Sowohl an der direkten als auch an der indirekten johanneischen Charakterisierung sticht hervor, dass die Erzählfigur Jesus als sprechende, sich mitteilende Figur konturiert wird – oder anders gesagt: als Figur des Wortes. Die narrative Figurenzeichnung setzt somit um, was durch den Logosgedanken im Prolog formuliert und als „hermeneutischer Rahmen“ der Erzählung festgelegt wird: „Jesus Christus, genauer gesagt, seine Geschichte, wie sie im Evangelium berichtet wird, [muss] als Ausdruck des Wortes Gottes verstanden werden“.21 Diese grundlegenden Beobachtungen seien im Folgenden näher ausgeführt: (1) Von jener Figur, die – wie in den synoptischen Evangelien – den Personennamen Jesus (ὁ Ἰησοῦς / Ἰησοῦς) trägt, wird in der Erzählerrede des vierten Evangeliums das erste Mal namentlich in Joh 1,29, das letzte Mal in Joh 21,25 erzählt. Zweimal wird im Rahmen der Passionserzählung der Name mit der Herkunft der Person verknüpft (Joh 18,5.7: Ἰησοῦς ὁ Ναζωραῖος). Insgesamt sind es 244 Belegstellen, an denen die Erzählerrede unter Angabe des Namens davon spricht, wie die erzählte Figur Jesus handelt und wie an ihr gehandelt wird. Bemerkenswert ist, dass an insgesamt 111 Stellen der 244 Belege die Erzählerrede dazu dient, eine direkte Rede der erzählten Jesusfigur einzuleiten und somit zur Figurenrede überzuleiten. Formelhaft wiederkehrend finden sich folgende fünf Wendungen, die die Figurenrede durch λέγειν und ἀποκρίνεσθαι als Verben des Sagens einleiten: (a) Jesus sagt / es sagt (nun) Jesus (ὁ Ἰησοῦς λέγει / λέγει [οὖν] ὁ Ἰησοῦς)22, (b) es sagte (nun) Jesus / Jesus sagte 20 Zu den Ich-bin-gekommen-Worten sowie zu den Ich-bin-Worten mit und ohne Prädikat vgl. exemplarisch a.a.O., 237f. mit Anm. 142.262–264. 21 A.a.O., 74. 22 Zu zählen sind 34 Belege: Joh 1,38.43 (vgl. auch 1,47); 2,4.7; 4,7.17.21.26.34.50; 5,8; 7,6; 8,39; 11,23.39.40.44; 13,10.27.29.31;

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(εἶπεν [οὖν] ὁ Ἰησοῦς / ὁ Ἰησοῦς εἶπεν)23, (c) es antwortete Jesus (ἀπεκρίθη [ὁ] Ἰησοῦς)24, (d) es antwortete Jesus und sagte (im Aorist: ἀπεκρίθη [ὁ] Ἰησοῦς καὶ εἶπεν25; im Imperfekt: ἀπεκρίνατο [οὖν] ὁ Ἰησοῦς καὶ ἔλεγεν26) sowie (e) es antwortet Jesus (ἀποκρίνεται [ὁ] Ἰησοῦς)27. Hinzu kommen weitere fünf Einzelwendungen, die die Figurenrede durch κράξειν und λαλεῖν als Verben des Sagens einleiten, zum Teil verbunden mit einer finiten Form von λέγειν bzw. mit dem Partizip λέγων: (f) es rief nun Jesus aus (ἔκραξεν οὖν […] ὁ Ἰησοῦς)28, (g) Jesus aber rief aus und sagte (Ἰησοῦς δὲ ἔκραξεν καὶ εἶπεν)29, (h) es sprach Jesus, indem er sagte (ἐλάλησεν ὁ Ἰησοῦς λέγων)30, (i) es sagte nun Jesus (ἔλεγεν οὖν ὁ Ἰησοῦς)31 und (j) es antwortete aber Jesus, indem er sagte (ὁ δὲ Ἰησοῦς ἀποκρίνεται λέγων)32. Die insgesamt am häufigsten mit dem Namen Jesus verknüpfte Redeeinleitungswendung ist die unter (a) notierte präsentische Wendung ὁ Ἰησοῦς λέγει / λέγει [οὖν] ὁ Ἰησοῦς. (2) Auch ohne Nennung des Namens ist die Erzählfigur Jesus Gegenstand der zur Figurenrede überleitenden erzählenden Erzählerrede. Analog zur namentlichen Einleitung der Figurenrede bestimmt die nicht-namentlichen Redeeinleitungswendungen am häufigsten das Verb

14,6.9; (vgl. auch 18,4; 19,26.28); 20,15.16.17 (vgl. auch 20,19); 21,5.10.12.15.17.22. 23 Zu zählen sind 26 Belege: Joh 1,42; 4,48; 6,10.32.35.53.61.67; 7,33; 8,10.11.25.28.42.58; 9,37.39.41; 10,7; 11,4.14.25; 12,7.35; 18,11; 20,21. 24 Zu zählen sind 21 Belege: Joh 3,5; 6,70; 8,19.34.49.54; 9,3; 10,25.32.34; 11,9; 13,8.36; 16,31; 18,8.20.23.34.36.37; 19,11. 25 Zu zählen sind 16 Belege: Joh 1,48.50; 2,19; 3,3.10; 4,10.13; 6,26.29.43; 7,16.21; 8,14; 12,30; 13,7; 14,23. 26 Joh 5,19. 27 Joh 13,26.38. 28 Joh 7,28 (vgl. auch 7,37). 29 Joh 12,44. 30 Joh 8,12. 31 Joh 8,31. 32 Joh 12,23.

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λέγειν, wiederum in der 3. Person Singular Präsens (λέγει – er sagt).33 (3) Die durch erzählende Erzählerrede eingeleitete Figurenrede der Erzählfigur Jesus ist überwiegend adressierte Rede. Sie richtet sich an Einzelne, an Gruppen oder an eine größere Menge. Dabei gehört es zu den Besonderheiten der Figurenrede des johanneisch erzählten Jesus, dass dieser – ungleich häufiger als der synoptisch erzählte Jesus – den adressierten Figuren gegenüber metakommunikativ auf sein Sprechen Bezug nimmt, um den Akt des Sprechens als solchen hervorzuheben und das Gesagte zu unterstreichen: (a) Die für den johanneischen Jesus charakteristische Redeeinleitungswendung ἀµὴν ἀµὴν λέγω σοι („Amen, amen, ich sage dir“)34 / ἀµὴν ἀµὴν λέγω ὑµῖν („Amen, amen, ich sage euch“)35, in der das doppelte nichtresponsorische Amen als Beteuerungs- und Vollmachtsformel fungiert, weist das Sprechen der Erzählfigur Jesus als vollmächtige Sprechhandlung aus, die „Offenbarungsfunktion“36 hat. Die Figurenrede der Erzählfigur Jesus wird auf diese Weise zu jenem narrativen Ort, an dem der theologische Gedanke des Prologs, dass in Jesus Christus der inkarnierte göttliche Logos begegnet (Joh 1,17), eingelöst wird. Das gilt auch für die Einleitungswendung ἀλλ’ ἐγὼ τὴν ἀλήθειαν λέγω ὑµῖν („Aber ich sage euch die Wahrheit“), die im Rahmen der vorletzten Parakletverheißung der Abschiedsreden begegnet (Joh 16,7). Sie ist ebenfalls als Beteuerungs- und Vollmachtsäußerung zu verstehen. Ihre 33 Joh 1,39.51; 2,8; 4,16; 5,6; 6,12.20; 11,7.11; 18,5; 20,27; 21,16.17.19. Neben dem Präsens leiten auch Imperfekt (6,6.65; 8,23; pass) und Aorist (4,32; 6,59; 7,39; 8,7.10.21; pass.) die Figurenrede der Erzählfigur Jesus ein. 34 Joh 3,3.5; 4,11; 21,18. Alle im vorliegenden Beitrag übersetzten Evangelientexte zitieren die Übersetzung aus Jean Zumsteins Johanneskommentar. 35 Joh 1,51; 5,19.24f.; 6,26.32.47.53; 8,34.51.58; 10,1.7; 12,24; 13,16.20f.38; 14,12; 16,20.23. 36 A.a.O., 256.

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Wirkabsicht besteht darin, die Autorität der Rede des Abschied Nehmenden und ihres Inhalts zu betonen. Als Autoritätssignal und Vollmachtsformel kann schließlich die metakommunikative Wendung ἰδοὺ λέγω ὑµῖν („Siehe, ich sage euch“) verstanden werden (Joh 4,35). Die Demonstrativpartikel „siehe“, in kommunikativer Hinsicht der Belebung der Rede und dem Aufruf zur Aufmerksamkeit dienend, weist inhaltlich auf Neues, Unerwartetes, Unerhörtes hin. In der Sprachtradition der Septuaginta ist sie eng mit prophetischem Sprechen verbunden. Was die Erzählfigur Jesus, eingeleitet durch „siehe, ich sage euch“, sagt, hat, so vermittelt der Erzähler, prophetische Dignität und göttliche Autorität. Im Rahmen der Unterhaltung zwischen Jesus und seinen Jüngern in Joh 4,31–38, die in Jesu Gespräch mit der Samaritanerin eingeschaltet ist, gewinnt die Wendung „siehe, ich sage euch“ eine eschatologische Konnotation: Jesus stellt den Jüngern vor Augen, dass die Zeit der Ernte gekommen ist.37 In übertragenem Sinne nimmt er damit auf seine Sendung durch den Vater Bezug. In ihr ereignet sich die eschatologische Vollendung, auf die er mit „siehe, ich sage euch“ in vollmächtigem Wissen hinweist. (b) Mehrfach hebt die Erzählfigur Jesus in ihrer Figurenrede hervor, dass sie nicht eigenmächtig spricht, sondern im Auftrag des sendenden Vaters (Joh 12,49; 14,10.24). Diese Redereflexion dient der Autorität des Gesagten. Sie zielt aber vor allem auf die Autorisierung des Sprechers: Dieser ist der Gesandte des Vaters, der „Exeget des unsichtbaren Gottes“38. Die Autorisierungsstrategie macht die Figurenrede zum narrativen Ort, an dem der theologische Gedanke des Prologs, dass der göttliche Logos Gott auslegt (Joh 1,18), umgesetzt wird. Damit

37 A.a.O., 189: „Nach atl.-jüdischer Tradition ist die Ernte eine klassische Metapher für die eschatologische Vollendung.“ 38 A.a.O., 87.

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zugleich wird die Figurenrede der Erzählfigur Jesus zum Spiegel der Erzählfigur Gott.39 (c) Auf das Sprechen der Erzählfigur Jesus wird innerhalb der Figurenrede durch weitere Aussagen Bezug genommen: Die Figurenrede reflektiert expressis verbis darauf, dass etwas gesagt oder nicht gesagt wird (Joh 13,18), was gesagt oder nicht gesagt wird (Joh 13,33; 14,2.28; 15,15; 16,19), woher das Gesagte stammt (Joh 14,10.24; 15,15; 17,8), welche Wirkung es hat (Joh 15,3; 16,6), wann etwas gesagt wird (Joh 6,36; 13,19; 14,25.29; 16,4), auf welche Weise es gesagt wird (Joh 12,50; 16,25), warum und mit welcher Absicht etwas gesagt (Joh 6,65; 8,24; 15,11.15; 16,1.4.15.33; 17,13) oder nicht gesagt wird (Joh 14,30; 15,15; 16,4.12.26f.), dass Gesagtem nicht geglaubt wird (Joh 5,47), dass sich an Gesagtes erinnert werden soll (Joh 15,20) und wie solches Erinnern an Gesagtes möglich ist (Joh 14,26). Dieses Merkmal der Figurenrede des johanneischen Jesus verdichtet sich, wie die angeführten Stellenbelege zeigen, in den Abschiedsreden, nicht zuletzt im Umkreis der Parakletverheißungen. (4) Auch in der kommentierenden Erzählerrede wird das Sprechen der Erzählfigur Jesus eigens zum Thema gemacht, um diese als sprechende Figur zu charakterisieren: (a) Im Anschluss an das metaphorische Tempelwort Jesu in Joh 2,19 („Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten“) erklärt der Erzählerkommentar, wovon die Figurenrede handelte: „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“ (Joh 2,21). Auf der narrativen Ebene dient der Kommentar dazu, die Leserschaft vor möglichen Missverständnissen zu bewahren und ihr einen Verstehensvorsprung gegenüber den erzählten Ge39 Vgl. dazu Eisen / Müllner, Gott (s. Anm. 11), 17, sowie Judith Hartenstein, Hauptfigur im Hintergrund? Grundtendenzen und Besonderheiten der narrativen Darstellung Gottes in frühchristlichen Evangelien, in: Eisen / Müllner (Hg.), Figur (s. Anm. 11), 269–294 (286–288).

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sprächspartnern der Erzählfigur Jesus zu vermitteln: Nicht vom herodianischen Jerusalemer Tempel sei hier die Rede, sondern vom Tempel, den Jesu Leib darstellt. Auf einer hermeneutischen Ebene gibt der Erzählerkommentar zu verstehen, dass das Sprechen der Erzählfigur Jesus ein erklärungsbedürftiges Sprechen ist, da ihm eine theologische Verweisfunktion inhärent ist. Seinen Leib – und damit sich selbst – als Tempel zu bezeichnen, heißt keineswegs, nur von sich selbst zu sprechen, sondern auf Gott zu verweisen, dessen Wohnstatt neu zu denken ist: Nicht im Jerusalemer Heiligtum ist Gott anwesend, sondern in seinem gesandten Sohn. Die metaphorische Figurenrede sagt, dass dieser „das Heiligtum der Anwesenheit Gottes“40 ist. (b) Am Ende der Erzählung von Jesu Auftreten beim Jerusalemer Laubhüttenfest, die dazu dient, Jesu „wahre Identität als Gesandter Gottes zu enthüllen“41, erläutert der Erzählerkommentar, dass Jesus mit der bildlichen Rede von den Strömen lebendigen Wassers, die aus seiner Person fließen,42 veranschaulicht, dass von ihm der Geist ausgehen, ausströmen werde. Ausdrücklich hält der Erzählerkommentar fest: „Dies aber sagte er von dem Geist, den die an ihn Glaubenden empfangen sollten“ (Joh 7,39). Indem der Erzählerkommentar das Sprechen der erzählten Figur auktorial deutet und auf den Geist bezieht, greift er voraus auf die Parakletverheißungen der Abschiedsreden und auf die Geistübergabe in Joh 20,22. Diese narrative Prolepse dient dazu, die Art und Weise des Sprechens der Erzählfigur Jesus zu profilieren: Indem Jesus von sich spricht, verweist er von sich weg – in Joh 2,19.21 auf Gott, in Joh 7,38f. auf den Geist. (c) Im Rahmen der Fußwaschungserzählung begründet der Erzählerkommentar Jesu Aussage, nicht alle Jünger seien rein, mit den Worten: „Denn er kannte den, der ihn ausliefern würde; darum sagte er: Ihr seid nicht alle 40 41 42

Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 128. A.a.O., 286. So die Deutung von Zumstein, a.a.O., 309f.

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rein.“ (Joh 13,11) Der Erzählerkommentar gibt zu verstehen, dass das Sprechen der Erzählfigur Jesus in deren Wissen verankert ist. Dieses Wissen resultiert daraus, dass Jesus der Gesandte des Vaters ist, der ihm alles Handeln und Sprechen gezeigt und in die Hand gegeben hat (vgl. Joh 3,35; 5,20; 12,49; 13,3). Indem die kommentierende Erzählerrede in Joh 13,11 das Motiv der Allwissenheit aufgreift, mit dem die erzählende Erzählerrede in Joh 13,1.3 die gesamte Abschieds- und Passionserzählung einleitet, weist sie auf diesen Zusammenhang hin: Das Sprechen der Erzählfigur Jesus als Abschied Nehmender ist vollmächtiges Sprechen, welches das von Gott kommende Wissen im Angesicht der ‚Stunde‘ des Hinübergehens aus der Welt zum Vater transparent macht. (5) Die Charakterisierung der Erzählfigur Jesus als sprechende, sich mitteilende Figur erfolgt auf indirekte Weise auch dadurch, dass erzählende und kommentierende Erzählerrede die Figurenrede der Erzählfigur Jesus zum Gegenstand der Jüngerreflexion und Jüngeranamnese macht: Mehrfach erzählen die Abschiedsreden davon, dass die Jünger zu Jesu Sprechen Rückfragen stellen und über das Gesagte nachdenken, da es sich ihrem unmittelbaren Verstehen entzieht (Joh 13,21f.24f.26.28f.36f; 14,4f.21f; 16,17). In Erzählerkommentaren außerhalb der Abschiedsreden wird erwähnt, dass sich die Jünger nach Ostern an Worte erinnern, die Jesus vor Ostern gesprochen hat (Joh 2,22; 12,16). (6) Schließlich wird die Charakterisierung der Erzählfigur Jesus als Figur des Wortes gerade dadurch vollzogen, dass die Figurenrede Jesu im Rahmen der Abschiedsreden das gesamte Sprechen des inkarnierten Logos explizit zum Gegenstand der Parakletverheißungen macht. Die zweite Parakletverheißung im Munde der Erzählfigur Jesus benennt den Geist-Parakleten als denjenigen, der nach Ostern an alles, was Jesus gesagt hat, „erinnern“ und alles, was dieser gesagt hat, „lehren“, das heißt durch sein lehrendes Wirken erschließen werde (Joh

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14,26).43 Signalisiert wird dadurch: Was von Jesus auch nach seinem Abschied und seiner Rückkehr zum Vater präsent sein wird, ist sein Wort. Die Worthaftigkeit, das Wortwesen des ‚Logos‘ wird auf diese Weise als Kern, als implizites wie explizites Figurenmerkmal der Erzählfigur Jesus ausgewiesen. Zugleich wird der GeistParaklet selbst als jene Erzählfigur vorgestellt, deren wesentliches Figurenmerkmal in der Bindung an das Wort besteht. Nicht zuletzt in diesem Figurenmerkmal liegt es begründet, dass die Figurenrede der Erzählfigur Jesus den Geist-Parakleten in der ersten Parakletverheißung als ‚anderen Parakleten‘ einführen kann: Jesus, selbst implizit als der ‚eine Paraklet‘ verstanden, dem der nach Ostern gesandte Geist-Paraklet als ἄλλος παράκλητος nachfolgt, ist vorösterlich inkarnierter ‚Wort-Paraklet erster Ordnung‘. Der Geist-Paraklet, nachösterlich ‚inkorporiert‘ in den Glaubenden bzw. in der Gemeinde, ist ‚Wort-Paraklet zweiter Ordnung‘. Insgesamt zeigen die gesammelten Beobachtungen, die sich durch weitere ergänzen ließen, dass die Erzählfigur Jesus als Figur des Wortes konsequent und auf komplexe Weise in das Logoskonzept des vierten Evangeliums integriert ist. Wird zwar, wie immer wieder beobachtet wurde, der Logostitel des Prologs als solcher im weiteren Evangelium nicht mehr verwendet,44 so wird er doch auf allen Ebenen der Erzählerrede und der Figurenrede ‚auserzählt‘, ‚ausgesprochen‘ und ‚ausgedacht‘.45

43 Vgl. dazu auch a.a.O., 538: „Der implizite Autor greift auf den Begriff des Parakleten zurück, um den Aspekt des Wortes, der Unterweisung, hervorzuheben.“ 44 Vgl. a.a.O., 66f. und 74, Anm. 47. Zumstein weist daraufhin, dass das Wort λόγος „noch 35 Mal im Korpus des Evangeliums [erscheint], aber nicht mehr als christologischer Titel.“ 45 Vgl. dazu auch Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12, RNT, Regensburg 2009, 105, der die begriffliche Texteröffnung des Prologs im weiteren Evangelium in Handlung übersetzt sieht.

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2. Was soll im vorliegenden Beitrag unter ‚Ethos‘ verstanden werden? 2.1 ‚Ethos‘ als Beschreibungsbegriff johanneischer Theologie ‚Ethos‘ ist ein erklärungsbedürftiger Begriff. Die Quellensprache der griechischen Antike kennt die untereinander sinnverwandten Nomina ἔθος (Herkommen, Gewohnheit, Brauch; Sitte, Gesetz, Ritus/kultische Ordnung) und ἦθος (Gewohnheit, Sitte), die sich auch im Neuen Testament an wenigen Stellen finden.46 In Joh 19,40 weist ἔθος auf die jüdische Bestattungssitte hin, einen Leichnam mit wohlriechenden Ölen in Leinenbinden zu wickeln; ἦθος kommt hingegen im Johannesevangelium nicht vor. Beide Nomina gehören nicht zur Sprache der drei Johannesbriefe. In der exegetisch-theologischen Beschreibungssprache neutestamentlicher Ethik steht ‚Ethos‘ neben ‚Ethik‘ und ‚Moral‘, ohne immer klar von diesen Begriffen unterschieden zu sein.47 Die drei Begriffe überlappen einan46 Einschließlich des genannten Belegs in Joh 19,40 gibt es 12 neutestamentliche Belege von ἔθος. In Lk 22,39 bezeichnet ἔθος Jesu religiöse Gewohnheit, auf dem Ölberg zu beten; in Apg 25,16 steht das Nomen für den römischen Brauch, dass sich ein Angeklagter vor Gericht gegenüber seinem Kläger verteidigen kann; in Hebr 10,25 meint es die schlechte Gewohnheit, die Gemeindeversammlung zu verlassen. In Lk 1,9; 2,42; Apg 6,14; 15,1; 16,21; 21,21; 26,3; 28,17 steht ἔθος für die jüdische Festordnung, die jüdische Regelung des Priesterdienstes und das auf Mose zurückgeführte Kultgesetz. Das Nomen ἦθος begegnet (abgesehen von Apg 16,21 v.l.; 26,3 v.l.) nur in 1Kor 15,33 (im Plural), wo es in Form einer sprichwörtlichen Sentenz die guten Sitten bezeichnet, die durch schlechten Umgang verdorben werden. 47 Darauf weist auch Thomas Schmeller, Neutestamentliches Gruppenethos, in: Johannes Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD 190, Freiburg i. Br. 2001, 120–134 (121), hin, der als Beispiel die nicht unterschiedene Begriffsverwendung bei Rudolf Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments (HThK.S I), Freiburg i.Br. 1986, anführt. Um eine präzise begriffliche Unterscheidung bemüht sich Jan G. van der Watt, Ethics and Ethos in the Gospel ac-

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der,48 was in der Sache selbst begründet liegt. Insbesondere ‚Ethos‘ und ‚Ethik‘ werden zum Teil austauschbar verwendet.49 Wo sie voneinander unterschieden und zugleich differenzierend aufeinander bezogen werden, geschieht dies häufig in der modellhaften Zuordnung von „Lebensakt“ (Ethos) und „Denkakt“ (Ethik).50 ‚Ethos‘ erscheint als der forschungsgeschichtlich jüngere,51 in der Sachdiskussion seltener verwendete Begriff,52 der gegenüber ‚Ethik‘ als der weitere Begriff verstanden werden kann.53 Vor zwanzig Jahren konnte Thomas Schmeller konstatieren, dass das Forschungsfeld ‚Ethos‘ noch in den Anfängen stecke,54 und Jan van der Watt bestätigt dies für den gegenwärtigen Forschungsstand.55 Wird ‚Ethos‘ als eigens umrissener Begriff benutzt, so zeigt sich, dass er grundlegend anthropologisch und kolcording to John, ZNW 97 (2006), 147–176; ders., Grammar (s. Anm. 7), 20–29. 48 Vgl. a.a.O., 27: „The term ethos (ἔθος) has a wide scope of meaning, often overlapping terms like morals or ethics, which might make it difficult to determine what is intended when it is used.“ 49 Vgl. exemplarisch Herbert Preisker, Geist und Leben. Das TelosEthos des Urchristentums, Gütersloh 1933. Die Ausdrücke „das Wesentliche des urchristlichen Ethos/die Eigenart des urchristlichen Ethos“ und „das Wesen der urchristlichen Ethik“ werden hier ohne Unterschied verwendet (vgl. 4; pass.). Mit beiden Begriffen zielt Preisker auf die urchristliche „Lebenshaltung/Glaubenshaltung“, „Lebensgestaltung“, „Lebensführung“, die er als „Telos-Ethos“ kenntlich macht: als „Lebenshaltung des Urchristentums in ihrer Bestimmtheit von der Eschatologie des Reiches Gottes“ (3–5; pass.). Vgl. ders., Das Ethos des Urchristentums, Darmstadt 31968. 50 Vgl. Schmeller, Gruppenethos (s. Anm. 47), 121. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. van der Watt, Grammar (s. Anm. 7), 27: „The term ethos (ἔθος) […] is not as common in its use in ethical discussion as the terms ethics and morals.“ 53 Vgl. a.a.O., 457: „The concepts of ethos and ethics overlap, though not fully; ethos might include things that are not included in ethics. Its reference is wider than that of ethics in the sense that might include aspects that are not per se ethical. It nevertheless forms the context and framework for ethics in John.“ 54 Schmeller, Gruppenethos (s. Anm. 47), 133. 55 Vgl. van der Watt, Grammar (s. Anm. 7), 27.

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lektiv verstanden wird, nämlich als „Gruppenethos“,56 „life-style of a group or a society“57 bzw. als „Kanon von habitualisierten Handlungen, der innerhalb eines sozialen Systems in Geltung steht. Diese Handlungen werden von einem überindividuellen Konsens getragen und sind so eindeutig, daß sie reproduziert werden können und nicht mehr durch aktuelle ethische Entscheidungen generiert werden müssen.“58 Als gültig und einhellig anerkannt, stiftet das Ethos einer Gruppe deren „soziale Kohäsion“ und begründet ihre „Identität“, und zwar sowohl in Anbindung als auch in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen.59 In diesem Sinne rekonstruiert Michael Wolter für die paulinischen Gemeinden eine soziale Identität, die exklusiv „im Ethos des Glaubens“ besteht: Nicht habitualisierte Handlungen grenzen die paulinischen Christen als soziale Minderheit von der sie umgebenden griechisch-römischen Welt ab, sondern ihr πιστεύειν.60 Das „Ethos des Glaubens“ ist somit der entscheidene identity marker, an dem das paulinische Christentum erkennbar und erfahrbar wird.61 Jan van der Watt, an Wolters Verständnis anknüpfend und dieses modifizierend,62 nutzt im Rahmen seiner „Grammatik der johanneischen Ethik“ den Begriff bzw. das Konzept ‚Ethos‘, um nicht nur von habitualisierten Handlungen, sondern auch von habitualisiertem Verhalten zu sprechen, und zwar nicht nur bezogen auf eine 56

Schmeller, Gruppenethos (s. Anm. 47). Leander E. Keck, On the Ethos of Early Christians, JAAR 42 (1974), 435–452 (440). 58 So Michael Wolter, Ethos und Identität in paulinischen Gemeinden, NTS 43 (1997), 430–444 (430); vgl. ders., Die ethische Identität christlicher Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: Wilfried Härle (Hg.), Woran orientiert sich Ethik?, Marburg 2001, 61–90 (61f.). 59 Vgl. Wolter, Ethos (Anm. 58), 430f. 60 Vgl. a.a.O., 443f. 61 Vgl. Wolter, Identität (s. Anm. 58), 61; ders., Identität und Ethos bei Paulus, in: Ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, WUNT 236, Tübingen 2009, 121–169 (127). 62 Vgl. van der Watt, Grammar (s. Anm. 7), 28f. 57

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Gruppe,63 sondern auch auf ein Individuum.64 Zur ethischen Identität der johanneischen Gemeinde bzw. ihrer einzelnen Glieder gehören für ihn nicht nur der Kanon institutionalisierter Praktiken, sondern auch, damit korrelierend, das kanonisierte Wissen, das in der johanneischen community Verhalten bestimmt.65 Das Ethos, an dem das johanneische Christentum erkannt wird, sieht van der Watt in den im Johannesevangelium erzählten Mahlszenen,66 in der Fußwaschungserzählung, in der Rede von der Sendung der Jünger sowie in dem Gedanken der von Gott und Jesus selbst vorgegebenen „ethischen Tradition“ gespiegelt: „The point here is, that the ethical tradition goes back to the Father, is transferred by the Son […] and is continued by believers. John sees this as an unbroken line which determines the behaviour and identity of his group.“67 Es ist das Ethos der Sendungskontinuität, das Ethos der Mimesis und mithin das Ethos der Liebe, das die johanneische Gemeinde prägt. Als „the Ethos of being like Jesus“ kann es zusammengefasst werden,68 sofern klar ist, dass Jesus selbst sich am Vater orientiert, dass Vater und Sohn eins sind und somit der Vater in dem „Ethos, wie Jesus zu sein“ mitenthalten ist. Van der Watt hebt in seinen Arbeiten zur johanneischen Ethik immer wieder hervor, dass das antike Phänomen der Mimesis (imitative activity) keineswegs „a matter of precise copying“ darstelle.69 Vielmehr sei Mimesis ein kreativer, transformierender Vorgang der „Beteiligung“ 63

So a.a.O., 29. So a.a.O., 437. 65 Vgl. a.a.O.,29. 66 Dazu zählt er: Joh 2,1–11; 4,7–15; 4,8.31; 6,4–15.28; 12,2–8; 13,2–12.17–30; 13,31–16,33; 19,28; 21,10–14 sowie metaphorische Bezüge auf Speise und Mahlzeiten; vgl. a.a.O., 438–446 (Übersicht s. 438f.). 67 A.a.O., (s. Anm. 7), 436–458 (455). 68 Ders., The Ethos of Being Like Jesus. Imitation in 1John, in: Jochen Flebbe / Matthias Konradt (Hg.), Ethos und Theologie im Neuen Testament (Festschrift für Michael Wolter), Neukirchen-Vluyn 2016, 415–440. 69 Vgl. exemplarisch ders., Grammar (s. Anm. 7), 455, Anm. 114. 64

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(involvement) an der Grundhaltung des „Originals“.70 Die Idee der Nachahmung von Sein und Verhalten (imitation of being and/or behavior) setze ein „Beispiel“ (example) bzw. ein „Modell“ (model) voraus, dem sich in einem dynamischen Prozess angenähert wird.71 Dieses model sei für das johanneische Christentum, vermittelt durch Jesus, letztlich Gott selbst: „God is truth and his followers should therefore live or be in truth, […] God is love and his people should likewise love“;72 „God is light […]: to claim fellowship with God who is light one should live according to the light.“73 Ausdrücklich hält van der Watt fest: In ihrem Verhalten und Tun spiegeln die Glaubenden „the ethos of God“.74 Im Blick auf die zu Beginn des vorliegenden Beitrags gestellte Frage „Hat Gott ein Ethos?“ helfen die Überlegungen von van der Watt entschieden weiter. Aus exegetischer Sicht lässt sich nun sagen: Das Ethos der Glaubenden orientiert sich an Gott, der das model dieses Ethos ist. Gott selbst birgt und ist das Ethos, das er von denen, die ihn anbeten und ihm nachfolgen, fordert. Insofern lässt sich tatsächlich vom ‚Ethos Gottes‘ sprechen – auch wenn Gott dieses nicht hat, sondern ist.75 Dementsprechend lässt sich aber auch vom ‚Ethos des Logos‘ sprechen. Das von van der Watt beschriebene Konzept der Tradition aufgreifend, ergibt sich: Das Ethos Gottes ist das model für das Ethos des Logos, das Ethos des Vaters ist das model für das Ethos des Sohnes – so wie beider Ethos als model für das Ethos der Glaubenden dient.

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Vgl. ebd. Ders., Ethos (s. Anm. 68), 415–420; vgl. ders., Grammar (s. Anm. 7), 455. 72 Ders., Ethos (s. Anm. 68), 416. 73 A.a.O., 422. 74 A.a.O., 422.438. 75 Damit nehme ich eine Formulierung auf, die Hans Weder bei dem Zürcher Festsymposion für Jean Zumstein am 12. Oktober 2019 in die Diskussion zu meinem Vortrag einbrachte. 71

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2.2 Ein komparatistischer Seitenblick auf Gal 5,22–23: Tugendkatalog und Ethos Gottes Auch bei Paulus lässt sich ansatzweise erkennen, dass von ‚Ethos‘ in einem theologischen Sinn gesprochen werden kann. Das zeigt ein begriffs- und traditonsgeschichtlicher Blick auf den Tugendkatalog in Gal 5,22f. Als Frucht des Geistes (ὁ καρπὸς τοῦ πνεύµατός) werden hier bekanntlich Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue/Glaube, Sanftmut und Enthaltsamkeit aufgeführt. Christiane Zimmermann hebt hervor, dass – außer der Enthaltsamkeit (ἐγκράτεια) – alle diese Tugenden „in den frühjüdischen und in den paulinischen Schriften auch Eigenschaften Gottes bzw. des Gottesreiches“ seien:76 Von der Liebe als einer für das Wesen Gottes entscheidenden Eigenschaft spreche Paulus in Röm 5,8; 8,39, wozu sich im frühjüdischen Gottesbild des Deuteronomiums, der Psalmen und der Prophetenbücher Entsprechungen finden ließen.77 Freude und Friede kennzeichnen Gottes Königtum nach Röm 14,17, so wie nach Joel 1,16 das Haus Gottes von Freude erfüllt sei. Die frühjüdischen Schriften kennen Gott als Urheber des Friedens, ‚Friede‘ als von Gott kommend präge die Grußformel der paulinischen Briefpräskripte, vom ‚Gott des Friedens‘ sprechen 1Thess 5,23 und Phil 4,7. Die Langmut schreibe Paulus Gott in Röm 2,4; 9,22 zu, so wie Gott selbst sich in dem im Frühjudentum breit rezipierten Text Ex 34,6 LXX als µακροθυµός bezeichne. Auf das in den Psalmen vielfach belegte Gottesattribut χρηστότης greife Paulus in Röm 2,4 und 11,22 zurück. Gott als ἀγαθός bzw. als Träger der ἀγαθωσύνη zu bezeichnen, sei ebenfalls frühjüdisch belegte Tradition, die sich in Röm 8,28; 12,2; 13,4 spiegle, wenn „[d]as Gute 76 Christiane Zimmermann, Gott und seine Söhne. Das Gottesbild des Galaterbriefes, WMANT 135, Neukirchen-Vluyn 2013, 116. Sie versteht dabei πίστις als Treue Gottes, nicht als menschlichen Glauben. 77 Vgl. ebd. (mit Belegen), unter Verweis auf Reinhard Feldmeier / Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Topoi biblischer Theologie 1, Tübingen 2011, 130–148.

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als dem Willen Gottes entsprechendes Handlungsziel“ verstanden werde. Auch benenne Paulus Gott als πιστός (1Kor 10,13; 2Kor 1,18), was den frühjüdischen Gedanken der Treue Gottes aufnehme.78 Paulus entwerfe also „einen an die Tugenden Gottes angelehnten Katalog“.79 Dass Paulus diese Gott selbst entsprechenden Tugenden ‚Frucht des Geistes‘ nennt, lässt sich dergestalt verstehen, dass es der Geist Gottes ist, der Gottes Tugenden durch sein Wirken den Glaubenden vermittelt.80 Auch Oda Wischmeyer sieht in den in Gal 5,22f. aufgeführten Größen Liebe, Freude und Friede daher „theologisch bzw. pneumatologisch fundierte Größen, die die Basis für das Ethos der christusgläubigen Gemeinden darstellen.“81 2.3 Ein rezeptionsgeschichtlicher Seitenblick auf Der meide kranz von Heinrich von Mügeln Der zu den Vorbildern der Meistersinger des 15. und 16. Jahrhunderts zählende Sangspruchdichter Heinrich von Mügeln, geboren und gestorben im 14. Jahrhundert,82 78

Vgl. Zimmermann, Gott (s. Anm. 76), 116f. A.a.O., 118. 80 A.a.O., 118f. 81 Oda Wischmeyer, Liebe als Agape. Das frühchristliche Konzept und der moderne Diskurs, Tübingen 2015, 77. Wischmeyer verweist auch auf Hans-Dieter Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 487, der betont, dass es sich bei den in Gal 5,22f. genannten Tugenden nicht um „Tugenden im griechischen Sinne“ handelt: „Sie repräsentieren nicht Eigenschaften des persönlichen Verhaltens, die der Mensch als Teil seines Charakters wählen, pflegen und sich aneignen kann. Ebensowenig sind sie ,gute Taten‘ im Sinne der jüdischen Ethik: sie gehen nicht auf einen Gesetzeskodex zurück, dem gehorcht werden muß und der übertreten werden kann.“ 82 Zu Heinrich von Mügeln, der vermutlich aus der Gegend um Meißen stammte und als Fahrender an mehreren Fürstenhöfen wechselnd tätig war (Böhmen: Prag; Österreich: Wien), vgl. Johannes Janota, Orientierung durch volkssprachliche Schriftlichkeit (1280/90– 1380/90), in: Joachim Heinzle (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. III: Vom spä79

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dessen Sangspruchkorpus und weiteres Werk Gebildetheit in den Bereichen der Artes liberales, der Philosophie und der Theologie erkennen lassen, legt mit seinem Hauptwerk Der meide kranz83 (Die Krone der Jungfrau [sc. Maria]),84 entstanden im Umkreis der Krönung Kaiser Karls IV. (1355), ein allegorisches Preis- und Lehrgedicht in Reimpaaren vor, das sich der panegyrischen Gattung des Fürstenpreises verpflichtet weiß. Es ist zugleich „als Entwurf eines akademisch fundierten Bildungsmodells“85 zu lesen, wie es dem frühhumanistischen, lebensweltlich orientierten Bildungsprogramm Karls entsprach, das den Wissenschaften, dem Handel und einer reflektierten Form von Religiosität hohe Bedeutung beimaß. Das allegorische Gedicht Heinrichs, gegliedert in eine Wissenschafts- und eine Tugendlehre, lässt im ersten Teil in Erweiterung von Trivium und Quadrivium zwölf Wissenschaften (‚Künste‘) vor dem Kaiser auftreten, um dessen Urteil darüber zu hören, welcher von diesen die Ehre gebühre, die Krone Mariens zu tragen. Der Kaiser, zunächst geneigt, der Philosophie den höchsten Rang einzuräumen, wählt schließlich die Theologie, nachdem diese in ihrer ersten Rede (MK 668a–718) erläutert hat, dass ihre Kunst darin bestehe, die Dreifaltigkeit Gottes, ten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit / Teil 1, Tübingen 2004, 30.188–190. 83 Den Hinweis auf dieses Gedicht verdanke ich meinem Mann Jan Rohls, der damit Jean und Jacqueline Zumstein herzlich grüßen lässt. 84 Der Titel ist eine Genitivverbindung, die wörtlich nachgeahmt werden kann durch die Übersetzung: „Der Jungfrauen Krone/Kranz“. Der Text findet sich in der Ausgabe von Annette Volfing, Heinrich von Mügeln, „Der meide kranz“. A commentary, Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Bd. 111, Tübingen 1997. Volfing, a.a.O., 34f., diskutiert die Frage, ob ‚Krone‘ (crown) oder ‚Kranz‘ (garland) die angemessene Übersetzung für mhd. kranz sei. Sie hebt hervor, dass Heinrich bewusst mit der Ambiguität des Begriffes spiele. Als Übersetzung wählt sie The Garland of the Virgin (a.a.O., 32). 85 Zu Heinrich von Mügelns Anbindung an den Hof Karls IV. in Prag vgl. Janota, Orientierung (s. Anm. 82), 15f.

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die Erschaffung der Welt durch sein Wort und die Fleischwerdung seines Wortes bekannt zu machen: Sie sprach: ‚min list Sie sprach: meine Kunst künt, wie das got drifaldik ist, macht bekannt (kündet), wie Gott dreifaltig ist, eins wesens und personen dri. eines Wesens und drei Personen. mer, himmel, engel, erde fri Meer, Himmel, Engel, Erde – frei der selb in sines wortes ruf, derselbe/er selbst durch seines Wortes Ruf die creature ganz geschuf. die ganze Schöpfung erschuf. und wie sin wort zu fleische wart Und [sc. ich künde] wie sein Wort Fleisch wurde (und spilt sich nie von gottes art) (und spaltete/trennte sich nie von Gottes Art/Wesen) in ires reinen herzen ror, in ihres [Mariens] reinen Herzens Rohr/Kanal, der meit, die küscher vil dann vor der Magd, die keuscher als vor [sc. der Geburt des Sohnes] bleip nach geburt und bliben muß: nach der Geburt blieb und bleiben musste: da dempfte got naturen fluß.‘ Dort unterwarf Gott den Fluss/Lauf der Natur.86 86 MK 671b–682. Meine deutsche Übersetzung orientiert sich an dem mittelhochdeutschen Originaltext (Hilfsmittel: Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl. neu bearb. von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neubearb. und erw. von Heinz-Peter Prell, Tübingen 2007) und an der Übersetzung von Volfing, Heinrich (s. Anm. 84), 173: „She said: ‚My art makes it known how God is threefold, of one essence and three persons. The sea, the heavens, the angels, the earth – He himself freely brought forth of all creation through the pronouncement of his Word. And [I teach] how his Word became flesh (without separating itself from the divine essence) in the tube of

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Die Figurenrede der Allegorie Theologia hebt hervor, dass das Wort seine Göttlichkeit bei der Inkarnation nicht verliert: Der Inkarnierte ist wahrer Gott, die Trinität wird durch die Menschwerdung Gottes nicht zerrissen. Was in der letzten Zeile des zitierten Abschnitts anklingt („da dempfte got naturen fluß“), bezieht sich auf die Jungfräulichkeit Mariens und ihre übernatürliche Empfängnis. Dieses Motiv ist von Bedeutung für das Urteil des Kaisers: So wie Gott sich die Natur bei der Geburt seines Sohnes unterordnet, indem er ihre Gesetze außer Kraft setzt, so steht auch die Theologie über der Philosophie und allen natürlichen Wissenschaften. Der Kaiser verfügt daher, dass die (personifizierte) Theologia im Palast der (personifizierten) Natura mit der meide kranz gekrönt werde. Natura aber verweigert die Krönung: Erst müsse sie den Rat der zwölf Tugenden einholen. Die (personifizierten) Tugenden wiederum, von Natura aufgefordert, vor ihr zu erscheinen, weigern sich, zu kommen: Nicht von ihr stammten sie ab, sondern direkt von Gott; nur er könne ihnen befehlen. Natura versichert, die Frage der Herkunft der Tugenden nach der Krönung der Theologia klären zu wollen. Daraufhin ziehen schließlich Gerechtikeit, Sterke, Meßikeit, Mildikeit, Demütikeit, Warheit, Barmherzikeit, Fride, Libe, Hoffenung und Geloube auf einem von der Wisheit gelenkten Wagen zu Naturas Palast. Der zweite Teil des Gedichts Der meide kranz behandelt den Wettstreit zwischen Natura und den zwölf Tugenden über deren Abstammung, den die gekrönte Theologia entscheiden soll. Zu Beginn legt Natura ihre Auffassung dar, dass sie der Ursprung aller Tugenden sei. Dann treten die Tugenden selbst der Reihe nach auf und preisen ihre Vorzüge. Das Urteil der Theologia steht danach fest: Die Tugenden stammen nicht von Natura ab, sondern von Gott. In drei Redegängen trägt Theologia ihre Argumente vor (MK 2220a–2288). her pure heart, who remained much more chaste after the birth and must remain so. There God subdued the flow of nature.’”

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Als erstes Argument führt sie an, dass jeder Mensch, stammten die Tugenden von Natura ab, von Natur aus tugendhaft wäre und der Sünde widerstehen könnte: als es mins sinnes oug ersach Wie es mein geistiges Auge sah und es mins herzen grunt verstet und meines Herzens Grund es versteht, von gott ein iglich tugent get aus Gott geht jegliche Tugend hervor und kumt uß der naturen nicht […]: und kommt nicht aus der Natur […]: wo tugent von naturen wer, wenn Tugend von der Natur abstammte, so wer kein mensche tugnde ler […]: dann wäre kein Mensch ohne Tugend […]: der fluß in twünge der natur, der Fluss der Natur würde ihn zwingen, das er mit aller sünden schur. dass er alle Angriffe der Sünde meidet.87 Wenn, so argumentiert Theologia weiter, die Tugenden nicht von Gott, sondern von der Natur abstammten, müssten die Tugenden und das Gesetz Gottes nicht gelehrt werden – der Mensch hätte sie vielmehr von Natur aus erlernt: Wo tugent von naturen ist, Wenn es Tugend von Natur aus gibt, durch was man lert sie alle frist? warum muss man sie dann allezeit lehren? warum du lerest gottes recht, Warum lehrst du Gottes Gesetz, 87 MK 2222–2225.2229–2238; vgl. Volfing, Heinrich (s. Anm. 84), 331: „As the eye of my mind saw it, and the depth of my heart understands it, every virtue emanates from God and not from Natura […]: if virtue came from nature, then no human being would be without virtue […]. The course of nature would force him to avoid all the stormy onslaughts of sin.“

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gein dem arge wille frecht? gegen das der böse Wille aufbegehrt? wann nimant dörfte leren das, Denn niemand dürfte das lehren, das im ie von naturen was. was ihm schon immer von Natur aus gehörte.88 Schließlich führt Theologia als drittes Argument an, dass Gott selbst „Tugend“ besitze, sonst hätte er niemals die Natur hervorbringen können. In Auseinandersetzung mit Natura lässt der Autor die Theologia hier den Begriff tugent doppeldeutig verwenden. Gemeint ist sowohl die Tugend Milte, die Gott zur Schöpfung antreibt, als auch seine pure Schöpferkraft (power).89 Das letzte Argument wird schließlich überhöht durch den Hinweis darauf, dass es „an manchen Stellen“ ernsthaft heiße, Gott selbst sei Tugend. Referiert wird dabei auf die Tugend der caritas (ἀγάπη). Der theologischen Bildung des Autors ist es ohne Zweifel zuzutrauen, dass er hier auf die entsprechenden Aussagen des Ersten Johannesbriefs anspielt: e die natur geschaffen was, Bevor die Natur erschaffen wurde, der himmel, mer und alle dink, der Himmel, [das] Meer und alle Dinge, die engel und der sterne rink, die Engel und der Kreis der Sterne, da muste got ein tugent han, da musste Gott eine Tugend besessen haben, uß der naturen wesen ran: aus der das Wesen der Natur hervorging: got mochte sunder tugent nicht Gott hätte ohne Tugend nicht vermocht 88 MK 2243–2248; vgl. Volfing, Heinrich (s. Anm. 84), 331: „If virtue is natural, why does one constantly have to learn it? Why do you learn the law of God, against which the wicked will impudently sets itself up?“ Zu der Entscheidung Volfings, mhd. leren hier mit „to learn“ wiederzugeben, vgl. a.a.O., 334f. 89 Vgl. dazu a.a.O., 355.

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gebuwen der naturen ticht. die Ordnung der Natur aufzubauen. die tugent wirt gar sunder spot Die tugend wird sogar ohne Hohn an mancher stat genennet got: an einigen Stellen Gott genannt: man spricht: die tugent caritas Man sagt/Es heißt: die Tugend Liebe gots tugent und got selber was. ist Gottes Tugend und Gott selbst.90 Als trotz Theologias Urteil Natura darauf besteht, alle Dinge erschaffen zu haben und Ursprung der Tugenden zu sein, meldet sich zum Abschluss der Autor, der meister dises buches, selbst zu Wort und verteidigt gegen den Anspruch Naturas das Urteil der Theologia (MK 2581– 2593). Sein Argument ist kein geringeres, als dass Gott durch sein Wort die Natur erschaffen habe und Gottes Wort selbst seine Tugend sei: got die nature hat geticht, Gott hat die Natur geformt, die engel und die speren breit die Engel und die weiten Sphären und was das zentrum wunders treit, und was die Mitte [sc. des Kosmos] an Wundern beiträgt, in wisheit und in tugent, kraft: durch Weisheit und durch Tugend, Kraft: […] die tugent, in der got geschuf die Tugend, durch die Gott erschuf 90 MK 2258–2268; vgl. Volfing, Heinrich (s. Anm. 84), 331f.: „[B]efore nature was created, [and] the heavens, the sea and all things, the angels and the circle of the stars – before that, God must have possessed virtue, out of which the existence of Natura emanated. Without virtue, God could not have brought about the creation of nature. Virtue is widely called ‚God‘, in all seriousness. One says, ‚The virtue caritas was the virtue of God and [identical with] God himself.‘“

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die dink in sines wortes ruf, die Dinge durch den Ruf seines Wortes, die selbe tugent die was got dieselbe Tugend, die war Gott und got die tugent sunder spot. und Gott die Tugend ohne Hohn.91 3. Gott ist Wort und teilt sich in diesem zum Heil der Welt mit: Das Ethos des Logos Die im vorigen Abschnitt angestellten Überlegungen samt den Seitenblicken auf Gal 5,22f. und das mittelhochdeutsche Gedicht Heinrichs von Mügeln haben die Theologizität des Ethosbegriffs zum Vorschein gebracht: ‚Ethos‘ erweist sich als eine Kategorie, die das Sein und die Eigenschaften Gottes selbst betrifft. Wie lässt sich diese Einsicht für die Frage nach dem Ethos des Logos im Johannesevangelium fruchtbar machen? (1) Zurückzulenken ist zunächst zur Profilierung der Erzählfigur Jesus als Figur des Wortes. Vor jeder anderen direkten Charakterisierung ist es der Titel ‚Logos‘, der diese Figur kennzeichnet. Die Spitzenposition der Charakterisierung als Logos gleich im ersten Satz des Evangeliums und der hohe Anteil an Figurenrede, der das Logoskonzept im Verlauf des Evangeliums in Erzählung umsetzt, machen Jesus als Figur des Wortes zum unumstrittenen main character der johanneischen Erzählung. (2) Die formal am Anfang des Evangeliums stehende Charakterisierung der Erzählfigur Jesus als Logos entspricht der inhaltlichen Aussage, dass der Logos ἐν ἀρχῇ („im Anfang“), von Ewigkeit her,92 bei Gott und Gott 91 MK 2282–2285.2289–2292; vgl. Volfing, Heinrich (s. Anm. 84), 345f.: „God has formed Natura, the angels and the wide spheres and all the marvels of the centre with wisdom and with virtue and power […]: the virtue with which God created all things through his Word, this same virtue was God and God was virtue without doubt.“ 92 Vgl. dazu Christina Hoegen-Rohls, Ewigkeit und Leben. Der biblische Vorstellungskreis III: Johannes, in: Petra Bahr / Stephan Schae-

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war. Der Eingang des Evangeliums bringt auf diese Weise johanneisches Erzählen und johanneische Theologie in nuce zur Deckung. (3) Die ersten Verse des Evangelienprologs stellen eine einzigartige Beziehung zwischen Logos und Gott her. Sie bringen zum Ausdruck, dass von allem Anfang an „Gott als Logos erkannt“ werden soll, das heißt „als Rede, als Anrede, als Zuspruch von Sinn“.93 Die Logosaussagen artikulieren den Gedanken: „Wenn etwas von Gott wahrnehmbar sein soll, dann seine Dimension des Wortes.“94 In eben dieser von Jean Zumstein so genannten „Dimension des Wortes“ sehe ich das Ethos Gottes bzw. des Logos im Sinne des Johannesevangeliums identifiziert: Gott ist Wort und soll als solches wahrgenommen werden. Was heißt das? (a) Der johanneische Gott wird im Prolog mit Hilfe des Logosgedankens vorgestellt als „ein Gott, der sich mitteilt.“95 Auf der narrativen Ebene betrachtet, heißt das, dass sich die Erzählfigur Gott in der Figurenrede der Erzählfigur Logos, die mit der Erzählfigur Jesus verschmilzt, selbstreferentiell ausspricht. Auf der theologischen Ebene betrachtet, meint es, dass die Selbstmitteilung geschieht, indem Gottes Wort in Jesus von Nazareth menschliche Gestalt annimmt, als Mensch zu Menschen spricht und durch dieses zwischenmenschliche Sprechen den transzendenten Gott weltimmanent zur Sprache bringt. (b) Wenn das menschgewordene Wort Gottes im Modus der prädikativen, bildhaften Ich-bin-Worte von sich spricht, spricht es von Gott und dem, was dieser in heilvoll-existentieller Weise für das Leben der Menschen de (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Protestantismus und Kultur 2, Tübingen 2009, 129– 152. 93 Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 75. Er ergänzt in Klammern: „(und nicht als Kraft, als Macht, als Geheimnis etc.).“ 94 Ebd. 95 Ebd.

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bedeutet.96 Die Selbstaussagen des Logos sind somit vermittelte soteriologische Selbstmitteilung Gottes: Er ist Ursprung und Inbegriff eines todüberwindenden Lebens (Joh 1,4; 11,25),97 er ist lebenserhellendes Licht (Joh 1,4; 8,12) und himmlische Speise für den irdischen Menschen, auf dass dieser nicht sterbe, sondern im Glauben und Erkennen ewig lebe (Joh 6,35.41.47f.50.58; vgl. 3,15; 17,3). Er ist der Zugang zu einem Leben in beschützter Freiheit und Fülle (Joh 10,1.7.9–11) und der zukunftserschließende Weg zu einem Lebenswandel im Horizont göttlicher Gnade und göttlicher, geistvermittelter Wahrheit (Joh 1,17; 14,6; vgl. 14,17; 15,26; 16,13; 17,17). Übersetzt in die johanneische Sendungsterminologie heißt das, dass der gesandte Sohn die Worte des sendenden Vaters spricht, um das Heil in seiner ganzen Vielfalt zu vermitteln und die zum Glauben an den heilvollen, liebenden Gott ermächtigte Welt zu erretten (vgl. Joh 3,14–21).98 Ernstgenommen als Sprechakte lassen die Worte des Gesandten bzw. die Ich-bin-Worte des Inkarnierten die Worthaftigkeit Gottes als lebenspendende Kraft wirksam werden. (c) Als an einen Menschen gebunden ist der inkarnierte Logos, obwohl aus der Ewigkeit Gottes stammend, endlich. Wie kann diese Endlichkeit überwunden werden? Wie kann Gott als ein Gott, der sich zum Heil der Menschen mitteilt, weltimmanent verewigt werden? Genau diese Frage beantworten die Parakletverheißungen der 96 Zu ‚Leben‘ als Schlüsselbegriff der johanneischen Ich-bin-Worte vgl. Hoegen-Rohls, Leben (s. Anm. 92), 143–145. 97 Vgl. dazu dies., Physischer Tod, metaphorischer Tod und die lebenstransformierende Kraft Gottes. Befunde und Thesen zu Tod, Auferstehung und ewigem Leben, in: Anne Käfer / Jörg Frey / Jens Herzer (Hg)., Die Rede von Gott Vater und Gott Heiligem Geist als Glaubensaussage, UTB 5268, Tübingen 2020, 495–522. 98 Vgl. dazu Christina Hoegen-Rohls, Das theologische Gewicht der Rede von σωτηρία und σῴζειν im Johannesevangelium, in: David S. du Toit / Christine Gerber / Christiane Zimmermann (Hg.), Soteria. Salvation in Early Christianity and Antiquity (Festschrift in Honour of Cilliers Breytenbach on the Occasion of his 65th Birthday, Leiden / Boston 2019, 246–272.

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Abschiedsreden (besonders Joh 14,16f.26; 16,13–15) und das Abschiedsgebet in Joh 17. Abschiedsreden und Abschiedsgebet, die gemeinsam mit dem Abschiedsmahl eine klar strukturierte, dreiteilige Erzähleinheit bilden,99 schlagen auf narrativer wie theologischer Ebene die Brücke zum Prolog, in dem noch keine Antwort auf diese Fragen enthalten war. Erst durch die Gesamtanlage von Prolog und Abschiedskomposition werden sie erschlossen. Für die Entfaltung des Ethos Gottes im Sinne der „Dimension des Wortes“ bilden daher Prolog und Abschiedsszene die tragenden Säulen. Im Rahmen der Abschiedsreden ist es der von seinen Jüngern sich Verabschiedende, der ankündigt, dass er gemeinsam mit dem Vater die Bedingung der Möglichkeit schaffen werde, dass das, was von Gott wahrnehmbar sein soll, nämlich sein heil- und lebenschaffendes Wort, auch nach der Rückkehr des inkarnierten Logos zu Gott erhalten und wirksam bleibt. Ausgedrückt wird der Gedanke mithilfe der Sendungsterminologie: So wie der gesandte Sohn nicht aus sich selbst, sondern das Wort des Vaters auf Erden gesprochen hat (vgl. Joh 14,10.24), so wird auch der aus dem einheitlichen Willen von Vater und Sohn gesandte Geist-Paraklet nicht aus sich selbst sprechen, sondern das kommunizieren, was er aus der Einheit von Vater und Sohn empfängt. Er wird nicht von sich aus sprechen (Joh 16,13c: οὐ γὰρ λαλήσει ἀφ’ ἑαυτοῦ), sondern das mitteilen, was er hören wird (Joh 16,13d: ἀλλ’ ὅσα ἀκούσει λαλήσει). „Die Verben λαλεῖν und ἀκούειν zeigen in aller Deutlichkeit, dass das Handeln des Parakleten auf der Ebene des Wortes angesiedelt ist.“100 Nachösterlich ist es nicht mehr der inkarnierte Logos, sondern der in den Glaubenden und in der Gemeinde lebendige Geist-Paraklet, der den Gott, der sich mitteilt, weltimmanent erschließt und vertritt. Durch sein an das Wort Jesu und das Wort des Vaters gebundenes Wortwirken hält der Geist den Gott, der sich mitteilt, für 99 100

Vgl. Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 474. A.a.O., 604.

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alle Zeit in der Welt präsent. Eben deshalb kann das Johannesevangelium sagen: „Gott ist Geist“ (Joh 4,24). Im Rahmen des Abschiedsgebets ist es der zu seinem Vater Zürückkehrende101, der im Rückblick auf seine Sendung Rechenschaft ablegt von seinem Tun und angesichts seines Weggangs aus der Welt Fürbitte einlegt für die Seinen und ihre Zukunft. Zu ihnen zählen nicht nur die Jünger des irdischen Jesus, sondern auch „die Jünger zweiter Hand“102, die nach Jesu Abschied durch das geistgeleitete Wort seiner Jünger zum Glauben kommen (Joh 17,20). Ausdrücklich wird also im Abschiedsgebet des inkarnierten Logos, in seiner narrativen Funktion als Figur des Wortes, festgehalten, „dass der Glaube durch das Wort hervorgerufen wird“.103 Als durch das Wort für den Glauben gewonnene ‚Jünger zweiter Hand‘ sind diese Zeugen dafür, dass Jesu eigene Worte, erinnert und erschlossen durch den Geist, in den ‚Jüngern erster Hand‘ geblieben sind und Frucht getragen haben – so, wie es der Abschied Nehmende im Bild des Weinstocks verheißen hat (Joh 15,7). Die „Dimension des Wortes“, die Gott heilvoll und lebensstiftend ausmacht, setzt sich nach Ostern im geistgeleiteten ‚Bleiben im Wort‘ (vgl. auch Joh 8,31) der Jüngerinnen und Jünger aller Generationen fort: Im geistgewirkten Wort der Glaubenden und der Gemeinde wird der Gott, der sich mitteilt, transformiert zur sozialen Praxis menschlicher Kommunikation und Interaktion. Diese soll, so verfügt es der Abschied Nehmende, nicht auf die Gemeinde beschränkt bleiben, sondern die von Gott geliebte Welt als Ganze erreichen (vgl. Joh 17,21.23). So wird letztlich im geistgeleiteten Wort der Gemeinde die Liebe Gottes, in der Inkarnation des

101 Vgl. dazu a.a.O., 626: „Nachdem der joh Jesus in den Abschiedsreden den Jüngern den Sinn seines Weggangs mitgeteilt hat, blickt er zum Himmel auf (17,1b) und zeigt dadurch seine Rückkehr zum Vater an.“ 102 A.a.O., 650–658. 103 A.a.O., 652.

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Logos und Sendung des Sohnes begründet sind, „der Welt dargeboten.“104 Wenn also der inkarnierte Logos aus der Welt zu Gott zurückkehrt, so „bedeutet dies nicht, dass er abwesend ist, dass er verschwindet, sondern dass seine Gegenwart eine neue Qualität bekommt: Die Gegenwart der vollendeten Liebe“.105 Diese als Wort, im Wort und durch das Wort Ereignis werdende Gegenwart der Liebe ist und bleibt das Ethos des Logos.

104 105

Vgl. a.a.O., 654. A.a.O., 658.

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Sechs Hektoliter. Eine hermeneutische Überlegung zur theologischen Bedeutung des Luxus

Jean Zumstein – ein Luxus für die Theologische Fakultät der Universität Zürich? Das könnte missverstanden werden, denn wer Luxus sagt, meint das Überflüssige. Und immerhin gehört die luxuria zu den sieben Todsünden des katholischen Christentums. Jean Zumstein – überflüssig oder gar eine Todsünde an der Theologischen Fakultät? Μὴ γένοιτο – das sei ferne. Und dennoch ist Jean Zumstein nicht ohne Schuld daran, dass im Folgenden der Luxus thematisiert und sogar nach dessen theologischer Bedeutung gefragt wird. Jean Zumstein hat in seinem eindrücklichen Kommentar zum Johannesevangelium eine Geschichte behandelt, die es ganz einfach nahelegt, vom Luxus zu sprechen. Joh 2,1– 11 erzählt von einem Hochzeitsfest, wo auf wunderbare Weise nicht weniger als sechs Hektoliter erstklassigen Weins gemacht wurden (Zumstein nimmt es genauer und spricht von 480–720 Litern).1 Zu Recht weist Zumstein auf die hervorgehobene Position der Erzählung hin, es ist der Anfang der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, das erste Semeion, „il dévoile le sense de l’incarnation“; was als „plus grandes choses“ in Joh 1,50 angekündigt wurde,

1 Jean Zumstein, L’Évangile selon Saint Jean (1–12), CNT IVa Genève 2014, 97.

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geht jetzt in Erfüllung.2 Zumsteins Auslegung gebraucht den Begriff Luxus nicht, wenn ich recht sehe. Stattdessen ist von „miracle de prodigalité“ (in der deutschen Übersetzung mit „Geschenkwunder“ wiedergegeben), oder von „surabondance“ beziehungsweise „Überfülle“ die Rede.3 Hier haben wir eine Erzählung vor uns, welche die Überfülle, den Luxus, überhaupt nicht mit Sünde in Zusammenhang bringt – ganz anders als die theologische Tradition und weithin die europäische Kultur überhaupt.4 Die überraschend positive Bedeutung des Überflusses lässt es angezeigt erscheinen, über dessen theologische Bedeutung nachzudenken. Ich könnte jetzt über die Thesen und Erwägungen reden, die dieser johanneische Text in der neuzeitlichen Exegese verursacht hat. Ich könnte mit Jean Zumstein von den exegetischen Problemen und historischen Einzelfragen reden, die in den Kommentaren behandelt worden sind. Ich könnte von den erstaunlichen Überlegungen berichten, die man sich im Laufe der letzten zweihundert Jahre gemacht hat. Wie es sein könne, dass Jesus überhaupt auf ein Hochzeitsfest nach Kana gekommen sei, oder wie es komme, dass Maria schon vor Jesus auf dem Hochzeitsfest gewesen sei, oder wieso sie solche Autorität ausüben könne in einem Hause, wo sie doch nur Gast sei, oder wieso der Wein wohl ausgegangen sei (eine Spitzenleistung exegetischer Phantasie scheint mir die These zu sein, wonach der Wein eben deshalb ausgegangen sei, weil Jesus und seine Jünger als unvorhergesehene Gäste zum Fest gekommen seien). Es wäre unfair, sich über solche Fragen lustig zu machen. Ich habe sie aufgezählt, weil sie uns ihre Unsach2

A.a.O. (s. Anm. 1), 94. Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016, 116. 4 „Bis zum 18. Jahrhundert wird der Begriff, wiewohl in unterschiedlichen Diskursen vertreten, mehrheitlich pejorativ verwendet“. Das gilt für Moralphilosophie, Theologie, Literatur und Medizin; dazu Christine Weder / Maximilian Bergengruen (Hg.), Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne, Göttingen 2011, 8. 3

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gemäßheit unmittelbar spüren lassen. Und weil wir so einen Sinn bekommen für die eigenartige Kombination von schemenhafter Geistigkeit und krasser Materialität, welche dafür verantwortlich ist, dass solche Fragen gestellt werden, und welche diese Fragen zugleich nicht zulässt. Den Leser, der sich ins historische Detail verlieben möchte, verweist die Geschichte auf das eine Geschehen, auf das es ihr nur ankommt: Dass nämlich auf diesem Hochzeitsfest dank Jesus eine immense Menge erstklassigen Weins entstand, in Krügen, die mit gewöhnlichem Wasser gefüllt wurden, das erste der Semeia, die den Inkarnierten offenbaren. Den Leser wiederum, der sich in die geistige Welt des Symbolhaften, gleichsam in den κόσµος νοητός retten möchte, verweist die Geschichte an die krude Materialität dieses Geschehens, das sogar von einem professionellen Weinkenner, dem Kellermeister, verbürgt wird. Die Geschichte erlaubt keine Ausflucht. Wer Gott im überirdischen geistigen Reich sucht, wird an die sechs Hektoliter erstklassigen Weins verwiesen, wer sich dagegen der materiellen Welt anvertrauen möchte, wird an das Überirdische verwiesen, wovon dieser Wein ein σηµεῖον ist. Ich könnte noch viel mehr über die fast unüberblickbare Sekundärliteratur berichten. Mein Respekt vor Jean Zumstein hält mich davon ab. Denn er pflegte manche exegetischen Behandlungen von neutestamentlichen Texten wie folgt zu charakterisieren: Dort wird über alles gesprochen, nur nicht über den auszulegenden Text. Seine Mahnung, dem Text Aufmerksamkeit zu schenken statt den Quisquilien der Sekundärliteratur, habe ich nie für einen Luxus gehalten. Deshalb erfolgt meine Behandlung von Joh 2,1–11 in der Gestalt einer Nacherzählung.

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Den Text nacherzählend wahrnehmen „Weil ich dir gesagt habe, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah, glaubst du?“5 Dies hatte Jesus zu Nathanael gesagt (Joh 1,50). Und er hatte ihm angekündigt: „Größeres als das wirst du sehen.“ Nun, lange musste Nathanael nicht warten. Schon nach drei Tagen sollte er etwas zu sehen bekommen, vielleicht sogar mehr als ihm lieb war. Im galiläischen Kana findet eine Hochzeit statt, ein Fest, das sich – wenn alles gut geht – über eine volle Woche hinzieht. Zu den Geladenen gehörte die Mutter Jesu, gehörten aber auch Jesus und seine Jünger. Was haben diese auf einer Hochzeit im galiläischen Kana zu suchen? Man sollte annehmen, der Gesandte Gottes hätte Gescheiteres zu tun, als auf fremden Hochzeiten zu tanzen (ob er getanzt hat, verschweigt die Geschichte...). Wie immer, jedenfalls war das Fest im vollen Gange. Da passierte, was mancher Gastgeber fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Der Wein ging aus. Eine peinliche Situation. Wenn der Wein ausgeht, verfliegt bald die festliche Freude. Die Gläser werden langsam leer, selbst bei den Anständigsten. Die Hochzeitsfreude hatte keinen Begleiter mehr, sie war gefährdet. Ein mehrtägiges Fest drohte ins Wasser zu fallen. Gewiss, es ging nicht um Sein oder Nichtsein. Es ging nur um Freude oder NichtFreude, um freudiges Weiterfeiern oder Rückkehr in den kargen Alltag. Gewiss, es ging nicht um die bear necessities, nicht um die puren Lebensnotwendigkeiten, es ging nur um die Schönheit des Lebens. Es ging nicht ums Überleben, sondern nur um das gute Leben in Freude. Grund genug allerdings für die Mutter, das Heft in die Hand zu nehmen. Diskret weist sie ihren Sohn auf die drohende Peinlichkeit hin: „Sie haben keinen Wein mehr“, sagt sie im günstigen Augenblick (Joh 2,3). Es scheint, der Augenblick sei so günstig nicht gewesen. „Was hat das mit dir und mir zu tun, Frau?“ sagt er, als ob er vergessen hätte, wer sie ist (V. 4). Dieser Sohn ver5

Alle deutschen Übersetzungen nach der Zürcher Bibel 2007.

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gisst, wer sie ist, weil seine Stunde noch nicht gekommen ist. Seine Stunde fällt nicht zusammen mit dem günstigen Augenblick. Die Mutter kümmert sich um das, was die Hochzeitsgäste brauchen. Der Sohn hingegen lässt sich Wunder nicht zuweisen. Die Stunde des Wundertäters ist unabhängig vom günstigen Augenblick. Die Stunde des Wunders ist, wenn Gott kommt. Die Stunde des Wunders ist, wenn die Wahrheit erscheint. Die Stunde des Wunders ist, wenn mehr geschieht, als was erbeten oder gewünscht wird. In der Stunde des Wunders wird selbst das Wünschen überboten. Dies ist eine Überraschung und deshalb wohl der günstigere Augenblick. „Meine Stunde ist noch nicht da“, sagt der Wundertäter. Sie wird eine Überraschung sein. Von seiner Stunde wird andernorts auch gesprochen, zum Beispiel auf dem Passafest in Jerusalem. „Die Stunde ist gekommen,“ sagt Jesus dort, „dass der Menschensohn verherrlicht werde“ (Joh 12,23). Und gleich darauf: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht“ (V. 24). Und weiter: „Jetzt ist meine Seele erschüttert. Und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber darum bin ich in diese Stunde gekommen.“ Die Stunde des Gotttessohnes ist seine Todesstunde, die zugleich die Stunde seiner Verherrlichung ist, so wahr sie zugleich die Stunde seiner Erhöhung ans Kreuz ist (Joh 3,14; 12,33). Was also ist die Überraschung? Die Stunde des Wundertäters oder die Stunde des Gekreuzigten? Ist die Überraschung die, dass jener Hochzeitsfreude ein ausdauernder Begleiter gegeben wird? Oder dass Erhöhung überraschend denkbar wird als Erhöhung ans Kreuz, Verherrlichung neu denkbar als Hinnahme des Todes? Oder dass Leben neu denkbar wird als aus dem Tode kommend, statt den Tod stets vor sich habend? Die Antwort auf diese Fragen wird niemandem leicht fallen. Vielleicht müssen sie ausgehalten werden. Vielleicht ist die Stunde des Wundertäters nicht denkbar ohne die Stunde des Gekreuzigten, so wenig die Stunde des Gekreuzigten denkbar ist

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ohne die Stunde des Wundertäters. Wie dem auch sei, die Stunde ist jedenfalls eine Überraschung, sie richtet sich nicht nach dem günstigen Augenblick, der ja, chronologisch, aus dem Lauf der Zeit erkannt zu werden pflegt. Sie ist selbst ein καιρός, ein entscheidender Augenblick, der, kairologisch, an seiner eigenen Qualität erkannt wird und der den Chronos, den Lauf der Zeit, unterbricht. Deshalb die unwirsche Reaktion des Wundertäters. Indes, die Mutter lässt sich nicht beirren. Sie rechnet damit, dass ihr Sohn für die Hochzeitsfreude Partei ergreifen wird. Sie weiß ihn auf der Seite der Freude. „Was immer er euch sagt, das tut.“ So lautet ihre Anweisung an die Diener (V. 5). So ebnet sie den Weg für den günstigeren Augenblick. Es standen aber dort sechs steinerne Wasserkrüge, wie sie die Juden zur rituellen Reinigung gebrauchen, mit einem Fassungsvermögen von 80 bis 120 Litern. Sie stehen bereit, die immensen Wasserkrüge, für ein immenses Wunder. Die Krüge sind viel zu groß, um in Wirklichkeit in einem jüdischen Hochzeitshaus zu stehen. Die Krüge stehen da, weil Platz sein muss für eine immense Menge Wasser. Sie stehen da, weil die Stunde des überfließenden Wunders nahe ist. „Füllt die Krüge mit Wasser“, befiehlt der Wundertäter (V. 7). Die Diener gehorchen. Sie sind ja vorbereitet. Die Krüge sind voll, randvoll mit einer Menge von etwa sechs Hektolitern Wasser. Jetzt wird ein Weinkenner eingeschaltet. Bringt dem Tafelmajor eine Probe, lautet die Anweisung. Was soll ein Weinkenner mit dem Inhalt von Wasserkrügen? Jedenfalls schmeckte er von der Probe Wassers und wusste nicht, woher der Wein kam. Die Diener hätten es gewusst, aber die fragt ja keiner. Der Weinkenner dagegen wusste es nicht. Muss jemand, der etwas von den Gaben versteht, sich für den Geber interessieren? Muss der Weinkenner wissen, welcher Geber sich verbirgt in diesem köstlichen Wein? Versteht er die Gabe besser, wenn er den Geber kennt? Dieser Weinkenner jedenfalls wusste nicht, woher der Wein kam, und er interessierte sich auch nicht dafür. Müssten nicht alle guten Gaben auf den Geber verweisen? Muss

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ich des Gebers gedenken, wenn ich seine Gaben genieße? Was kann der Güte seiner Gaben hinzugefügt werden dadurch, dass ich weiß, wer sie mir gibt? Der Weinkenner kümmert sich nicht um solche Fragen und macht sich stattdessen seinen eigenen Reim auf die Sache. Er findet eine halbwegs natürliche Erklärung für den köstlichen Wein, wenn er zum Bräutigam sagt: „Normalerweise schenkt man den guten Wein zuerst aus, denn die Gäste schätzen seine Qualität nur, so lange sie nüchtern sind. Etwas angeheitert werden sie sich den schlechteren ohne weiteres gefallen lassen. Du hast es umgekehrt gemacht. Du hast den besten Wein bis jetzt aufgespart.“ Mit diesem Wort des Weinkenners an den Bräutigam ist klar, dass die qualitative Hochwertigkeit des Weins über alle Zweifel erhaben ist. Wo aber ist das Wunder geblieben? Kein tosendes Schäumen in den Krügen, keine Zeffirelli-Effekte,6 um das Wunder darzustellen. Das Wunder wird in einem Nebensatz verborgen. Ein Understatement, das in krassem Gegensatz zur handfesten Materialität des Geschehens zu stehen scheint; aber eben: scheint. Das Understatement ist jene Redeweise, die nicht selbst leuchten will, sondern das zum Leuchten bringt, wovon sie spricht. Das Understatement sorgt dafür, dass die Macht des Sagens sich der Kraft des Ausgesagten nicht in den Weg stellt. Und diese Redeweise lässt dem Weinkenner seinen Reim, und sie lässt den Hochzeitsgästen ihre Freude, auch wenn keiner sich fragt, woher denn dieser vorzügliche Wein plötzlich sei. Als Zeichen verstehen Die Geschichte gibt das Weinwunder als Zeichen zu verstehen. Als Zeichen, das zum Glauben führt – wenigstens bei den Jüngern. Sie haben offenbar Augen, die hier zur 6 Jesus von Nazareth, ein Film des italienischen Regisseurs Franco Zeffirelli aus dem Jahr 1977.

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Erscheinung kommende Herrlichkeit zu sehen. Sie haben offenbar Augen für die Pforte des Himmels. Was sehen sie? Sie sehen in dieser Gabe des köstlichen Weins den Geber, an den zu glauben ihnen nun möglich ist. Sie sind es gewohnt, die Woher-Frage zu stellen. Dies hatten sie schon bei ihrer Berufung gelernt, als sie gelernt hatten, in diesem Jesus den Messias zu sehen. Weil sie Gott als den Geber dieses Menschen erkannt hatten, erkannten sie diesen Menschen als Geber des köstlichen Weins – oder sie erkannten in ihm die Fleischwerdung des göttlichen Willens zur Freude. Das Gegenstück zum Glauben ist die Verwässerung des Weins. Das Gegenstück zum Glauben, der das Gewicht des Geschehens wahrnimmt, ist die Zerstörung dieses Gewichts, die Banalisierung des Geschehens in Verkennung der Kreativität, die das Leben begleitet. Das Gegenstück zum Glauben ist gegeben damit, dass der erstklassige Wein in den Vordergrund der Welt gebannt wird, wo er keinen Aufschluss mehr gibt über den Geber aller guten Gaben im Himmel. Die Frage ist nur, ob sie den Mund nicht doch zu voll genommen haben. Selbst Dionysos müsste vor Neid erblassen, wenn er diese immense Weinmenge sähe. Ein eigenartiges Semeion ist das, ein Zeichen, das bloß die schon Überzeugten überzeugt. Nichts ist zu berichten von der immensen Bekehrung der ganzen Hochzeitsgesellschaft. Das Semeion ist trotz seiner krassen Materialität ohne größere materielle Folgen geblieben. Jedem bleibt es überlassen, sich einen Reim darauf zu machen. Da kann allerdings nicht bloß Dionysos vor Neid erblassen. Überhaupt, wieso kann der Wundertäter nicht wenigstens etwas Zweckmäßiges machen; etwas Soziales, etwas Mutiges, etwas Sinnvolles? Wasser in Wein verwandeln, was soll daran zweckmäßig sein? Den Einwurf des Erzählers, es sei, was dem Menschen Freude bereitet, doch sinnvoll und zweckmäßig, wischen wir unwirsch vom Tisch: Freude soll machen, was zweckmäßig ist; nicht umgekehrt. So weit entfernt sind wir schon vom Geber der köstlichen Gaben. Ein eigenartiges Semeion, eigenartig materiell und zugleich eigenartig unwirklich:

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Soll dies ein Zeichen für die Fleischwerdung des Logos sein? Jeder kann sich selbst einen Reim darauf machen. Das ist die Art, wie der Logos, der widerstehliche, Fleisch wird. Luxus erneut bedacht Zurück zum Luxus. Jean Zumstein spricht von prodigalité, ein Wort, das auch Verschwendung heißt, und von surabondance, ein Wort, das auch Überfluss heißt. Er meint, denke ich, weder Verschwendung noch Überfluss, er meint das, was man auch mit Luxus bezeichnen könnte – allerdings erst dann, wenn man erkannt hat, was diese Erzählung am Luxus erschließt. Moralphilosophie und Theologie geißeln den Luxus bis in die frühe Neuzeit als vor allem körperliche, speziell sexuelle Ausschweifung, als eine der sieben Todsünden.7 Hat da vielleicht der stoische Hang zur Mäßigung oder gar die gnostische Abwertung alles Körperlichen eine größere Rolle gespielt als die Inkarnation dessen, der jene sechs Hektoliter erstklassigen Weins gemacht hat? Von Ausschweifung ist keine Rede, wohl aber von ungetrübter Freude auf dem Fest. Von spiritueller Sublimation ist keine Rede, wohl aber von unübersehbarer Materialität. Luxus at its best dient der Freude am Leben. Mit dem neuzeitlichen Verblassen des Sündenbewusstseins im 18. Jahrhundert übernimmt die Ökonomie die Aufgabe, den Luxus zu rehabilitieren. Er ist zweckmäßig, weil er Arbeitsplätze schafft; eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Die Theoretiker der Moderne konnten dem Luxus einiges abgewinnen: Wer unnötige Güter erzeugt, sorgt für das Gedeihen der Wirtschaft.8 7

Vgl. Weder / Bergengruen (Hg.), Luxus (s. Anm. 4), 8. Weder / Bergengruen (Hg.), Luxus [s. Anm. 4], 9: „Die Theoretiker der Moderne erkennen, dass die Zirkulation von Reichtümern nur unter der Bedingung der Produktion von Überflüssigem funktioniert, und verweisen vermehrt auf die Vorteile des Luxus als Triebfeder von 8

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Wer luxuriös lebt, tut also etwas Nützliches. So adelt die Nützlichkeit das Überflüssige. Nützlich waren sie auch, die sechs Hektoliter Wein, aber notwendig waren sie nicht; auch schlechter Wein hätte die Hochzeitsgesellschaft in Stimmung gehalten. Diese Qualität hätte niemand erbeten; sie kam überraschend; sie war zwar nicht nötig, aber dennoch bereichernd. Luxus at its best ist nicht weniger, sondern mehr als notwendig. Auch wenn in der Neuzeit Luxus nicht mehr als Sünde der Sünden verstanden oder sogar ökonomisch und anthropologisch rehabilitiert wird, bleibt seine ambivalente Natur9 im Bewusstsein: Einerseits ist er ökonomisch nützlich, andererseits ist er sozial schädlich, weil der Überfluss an Gütern in den Händen weniger sein Gegenstück im Mangel der Vielen hat, auf deren Kosten die Wenigen ihre Güter an sich raffen. Luxuriös lebt man auf Kosten anderer. Nicht so das Bild, das die Erzählung vom Weinwunder vor unseren Augen erstehen lässt. Nicht nur dass der erstklassige Wein allen Gästen Luxus ermöglicht, sondern dass er auch in einer Menge hergestellt wird, die selbst beim besten Willen der Gäste nicht mehr konsumiert werden kann.10 Die Erzählung wird Nachfrage, technischem Fortschritt, erhöhter Beschäftigung und Export, mithin der Prosperität der Gesellschaft.“ 9 „’On a déclamé contre le luxe depuis deux mille ans, en vers et en prose, et on l’a toujours aimé’ – so lautet das kulturgeschichtliche Resümee“ Voltaires (in seinem philosophischen Wörterbuch). Weder / Bergengruen (Hg.), Luxus [s. Anm. 4], 11f.: „Dieser janusköpfige Status des Luxuriösen potenziert sich mit den aufwertenden Argumenten nochmals: Seit dem 18. Jahrhundert tritt zu der hier zynisch behaupteten Spannung zwischen problematisierender Literatur und affiner Lebenspraxis verstärkt die Ambivalenz innerhalb der Texte zu diesem Thema hinzu, ...“ 10 In formaler Hinsicht ganz ähnlich ist Wielands literarische Phantasie des Schlaraffenlandes, in welchem unbegrenzter Genuss allen Bewohnern zuteil wird (Christine Weder, Literarischer Luxus im Umbruch. Die Modernisierung des Schlaraffenlandes um 1700, in: Dies. / Bergengruen (Hg.), Luxus [s. Anm. 4], 93–108). „Die entscheidende Differenz zum Luxus in gewöhnlichen Ländern besteht freilich in der fehlenden Exklusivität. Im Schlaraffenland gibt es den Überfluss nicht

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zum Symbol für einen Luxus, der zu seiner Wahrheit gekommen ist: Luxus at its best zehrt von unendlicher Fülle und kommt allen zugute. Was in dieser johanneischen Wundergeschichte entdeckt wird, ist ein Grundzug der Inkarnation beziehungsweise des Evangeliums. Er könnte im ganzen Neuen Testament beobachtet werden; zwei Beispiele aus dem Johannesevangelium müssen genügen. Im Johannesprolog wird vom Fleisch gewordenen Logos gesagt, er sei πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας, voll von Gnade und Wahrheit.11 Dies wird im ursprünglichen Hymnus begründet mit einer philologisch auffälligen Beschreibung menschlicher Erfahrung mit dem Fleischgewordenen: ὅτι ἐκ τοῦ πληρώµατος αὐτοῦ ἡµεῖς πάντες ἐλάβοµεν καὶ χάριν ἀντὶ χάριτος· („[Denn] Aus seiner Fülle haben wir ja alle empfangen, [und zwar] Gnade über Gnade“). Die Herkunft dessen, was sie empfangen, wird mit πλήρωµα bezeichnet. Jean Zumstein braucht hier wieder den Ausdruck „surabondance“, Überfülle.12 Das Pleroma ist – gleich dem θησαυρός im Gleichnis13 – eine Menge, deren Elemente nicht gezählt werden können und müssen, eine Menge, die nicht weniger wird, wenn davon genommen wird. Mit den Eigenschaften dieser Menge hängt es zusammen, dass die πάντες, dass alle davon profitieren. Der Luxus dieses Empfangens schafft nicht zwei Gruppen, Besitzende und Besitzlose. Philologisch auffällig ist, dass λαµβάνειν zunächst ohne Objekt gebraucht wird. Die Möglichkeit der griechischen Sprache, transitive Verben ohne Objekt zu gebrauchen, wird hier eingesetzt, um den Akzent auf das Phänomen des Empfangens zu nur für einige wenige, die dadurch zu ‘feinen Leuten’ würden; es gibt auch nicht bloss genug für alle, sondern Überfluss für alle“ (94). 11 Dazu und zum folgenden V. 16 vgl. Hans Weder, Ursprung im Unvordenklichen. Eine theologische Auslegung des Johannesprologs, BThSt 70, Neukirchen-Vluyn 2008, 90–93. 12 Zumstein, L’Évangile (s. Anm. 1), 66. 13 Mt 13,44–46; vgl. Hans Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, FRLANT 120, Göttingen 41990, 138–142.

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legen, unabhängig von dessen Objekt. Im strikten Sinne empfangen kann man stets nur gnädig Gegebenes (alles andere Empfangen ist mit Gegenleistungen verbunden). Deshalb wird durch ein epexegetisches „und“ präzisiert, was empfangen wird: Gnade über Gnade. Wie der Fleischgewordene nichts anderes als Gnade (und Wahrheit) in sich trägt, gibt es auch nichts anderes zu empfangen als das gnädig Gegebene, deshalb der doppelte Ausdruck Gnade über Gnade. Hier wurde erfahren: Luxus ist eine Gabe, die das Notwendige hinter sich lässt. Die Welt hätte auch ohne dieses Evangelium funktioniert, so wie die Evolution auch ohne Mozart ihr Wesen hätte weitertreiben können. Notwendig ist beides nicht, aber auch nicht unnötig, denn es bereichert alle, die es sich gefallen lassen. Weil das Evangelium in diesem Sinne ein Luxus ist, lebt es nicht von den Defiziten der Welt. Wo es auftritt, tritt es ungefragt auf, als eine Überraschung, die unverhofft bereichert. Eben deshalb wird die Menschwerdung des Logos durch ein parataktisches καί eingeleitet: Und der Logos ward Fleisch (Joh 1,14).14 Ob der Kosmos den Logos angenommen oder abgelehnt hatte, spielt keine Rolle. Die Menschwerdung ist weder durch ein „obwohl“ noch durch ein „weil“ mit dem vorinkarnatorischen Sein des Logos im Kosmos verbunden, sondern durch ein parataktisches „und“, dessen Zweck es ist, die Überraschung zu sichern. Wer die Schriften Jean Zumsteins liest, oder wer seine Vorlesungen hörte, erfährt auf Schritt und Tritt, wie Zumstein mit wissenschaftlicher Präzision und mit erfrischendem Humor diesem Luxus des Evangeliums Aufmerksamkeit verschafft: Surabondance und prodigalité sind hier die Stichworte, mit denen das Evangelium ins 14 Dazu Hans Weder, Komparative und ein parataktisches καί. Eine neutestamentlich orientierte Skizze zur transzendierten Notwendigkeit, in: Ingolf U. Dalferth / Johannes Fischer / Hans-Peter Großhans (Hg.), Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, 557–581.

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Licht gerückt wird, andernorts mögen es andere sein. Also: Jean Zumstein – ein Luxus für die Theologische Fakultät der Universität Zürich? Aber ja doch!

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Die Figur des Nikodemus zwischen literarischer Ambivalenz und pluriformer Rezeption

Die Johannesinterpretation, die Jean Zumstein gelehrt hat, ist gekennzeichnet durch eine unauflösliche Verbindung von sachintensiver theologischer Exegese und literarisch-narratologischem Bewusstsein. Der Sinn, der sich für die johanneische Leserschaft erschließt, ist literarisch vermittelt durch den narrativen Text des Evangeliums und damit ist die Analyse der literarischen und narrativen Gestalt desselben von elementarer sachlich-theologischer Relevanz. Damit ist jeder voreilige Sprung auf die Ebene der Historie verwehrt. Auch die historische Imagination, die sich der Leserschaft bei der Lektüre des Textes einstellt, ist zunächst eine vom narrativen Text erzeugte. Die Frage nach der historischen Referenz des Textes oder gar nach seinem historischen Quellenwert ist dann erst auf einer anderen Ebene zu stellen, im Vergleich mit anderen Texten oder Quellen. Dies gilt auch für die im johanneischen Text auftretenden Personen. Diese sind zunächst durchweg literarische Figuren – nicht mehr und nicht weniger. Auch der johanneische Jesus, der so anders redet und handelt als der Jesus der synoptischen Evangelien, ist zunächst eine literarische Figur, ebenso seine Zeitgenossen, seine Schüler, seine Gegner wie ‚die Juden‘ oder Pilatus, und die anderen Figuren, die ihm auf dem Weg begegnen. Deren Worte sind gleichermaßen als Figurenrede zu verstehen,

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die auch dort, wo sie z.B. die Schrift zitieren1 oder christologisch zutreffende Aussagen machen, zunächst dazu dienen, die jeweiligen Figuren in ihrem Wissen oder ihrer Stellung zu Jesus zu charakterisieren. Daher sind alle Aussagen johanneischer Figuren zunächst in diesem Rahmen zu interpretieren, bevor sie dann zur historischen Rekonstruktion außertextlicher Positionen, Konflikte oder theologischer Entwicklungen herangezogen oder als Zeugnis spezifischer theologischer Aussagen gelesen werden. So ergibt sich der Facettenreichtum des Johannesevangeliums, in dem es eben nicht gleichgültig (und auch nicht gleich gültig) ist, ob eine bestimmte christologische Aussage im Munde Jesu, des Petrus, der bethanischen Martha oder gar des Hohepriesters Kaiaphas oder des römischen Präfekten Pilatus begegnet, weil sie jeweils aus einem anderen Blickwinkel und in einem anderen narrativen Kontext gesprochen ist und zunächst zur Charakterisierung dieser Figuren dient und nur in diesem Medium zur Gesamtaussage des Evangeliums beiträgt. Die narrative Mittelbarkeit der Aussagen bringt notwendigerweise Ambivalenzen mit sich, die sich nicht historisch oder dogmatisch eindeutig auflösen lassen, denn der Raum des narrativen Textes erlaubt es, ja provoziert gerade dazu, das erzählte Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu verfolgen und die präsentierten Figuren von unterschiedlichen Seiten zu betrachten. Dies gilt ungeachtet dessen, dass der johanneische Text eine Vielzahl von Verständnishilfen enthält, die die Leserschaft dazu führen, das Geschehen schließlich aus der johanneisch intendierten theologischen Perspektive zu sehen, so insbesondere die zahlreichen impliziten und expliziten Erzählerkommentare. Letztlich ist es das Ensemble aller literarischen Mittel, das zu einem solchen 1 Dazu vgl. die von Zumstein inspirierte Dissertation von Marion Moser, Schriftdiskurse im Johannesevangelium. Eine narrativintertextuelle Analyse am Paradigma von Joh 4 und Joh 7, WUNT II/380, Tübingen 2014.

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‚richtigen‘ Verständnis der Person und des Weges Jesu Christi führen soll – doch bleiben dabei viele Figuren auf dem Weg in ihrer Uneindeutigkeit und Ambivalenz stehen. Auch wenn natürlich die Neugierde der Leserinnen und Leser aller Zeiten hier sehr in Versuchung geführt wurde, scheint es doch nicht in der Absicht des johanneischen Textes zu liegen, etwa zu klären, wie der Glaube der Samaritanerin ‚dogmatisch‘ einzuschätzen ist, wie die Gäste der Hochzeit zu Kana auf das Wunder reagierten, oder ob der jüdische Ratsherr Nikodemus letztlich zum Glauben an Jesus ‚kam‘ oder nicht. Denn mit der Rede im Imperfekt „kam“ ist nicht der literarische Befund bezeichnet, sondern eine historische Dimension der Vergangenheit, die, wenn man den johanneischen Text als Wiedergabe eines vergangenen Geschehens versteht, natürlich imaginiert und dann durch vielfältige Ergänzungen, alltagspsychologische Konjekturen oder theologische Annahmen ausgestaltet werden kann. Eben dies geschieht bei zahlreichen Interpreten von der Antike bis zur Gegenwart, die die knappen und ambivalenten johanneischen Erzähldaten in ihrer Vorstellungsbildung ergänzen und ausgestalten und so zu Bildern gelangen, die in dieser oder jener Hinsicht eindeutiger, psychologisch nachvollziehbarer oder sachlich-theologisch befriedigender erscheinen. Das kann man tun, wenn man weiß, was man damit tut: Es ist eine Eintragung aus dem Kontext oder der Phantasie der Interpreten, nicht eine Aussage des Evangelientextes. Dieses Wechselspiel zwischen der Ambivalenz des Textes und den unterschiedlichen Perspektiven von Interpreten möchte ich im Folgenden an der Figur des Nikodemus verdeutlichen,2 deren Charakterisierung im 2 Vgl. die Beiträge von Jean Zumstein, The Revelation Strategy in the Gospel of John 3 and 4, in: R. Alan Culpepper / Jörg Frey (Hg.), Expressions of the Johannine Kerygma in John 2:23–5:18. Historical, Literary, and Theological Readings from the Colloquium Ioanneum 2017 in Jerusalem, WUNT 423, Tübingen 2019, 1–12; ders., Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016, 131–151.314.736f.

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Evangelium nicht ohne Ambivalenzen bleibt und deren Rezeptionsgeschichte außerordentlich reich und facettenreich ist. Dabei soll zuerst die Ambivalenz in der literarischen Charakterisierung beleuchtet werden, dann soll die unterschiedliche Rezeption dieser Figur durch ausgewählte Blicke auf die Wirkungsgeschichte illustriert werden, bevor dann beide Perspektiven miteinander ins Gespräch gebracht und hermeneutisch reflektiert werden können. 1. Die Figur des Nikodemus Die literarische Figur des Nikodemus ist durch einige Merkmale besonders prominent: Es handelt sich um eine Figur, die im Neuen Testament allein bei Johannes begegnet und in den Synoptikern kein direktes Gegenüber besitzt. Nikodemus ist die erste Figur, mit der Jesus in ein ausführliches Einzelgespräch eintritt.3 Er ist zugleich eine der wenigen individuellen Figuren außerhalb des engeren Jüngerkreises,4 die im Evangelium nicht nur in einer Episode begegnen und dann wieder zurücktreten, sondern mehrfach erwähnt sind. So ergibt sich seine Charakterisierung nicht nur aus der ersten und ausführlichsten Präsentation in Joh 3,1–10, sondern muss aus der Abfolge der drei Erwähnungen in 3,1–10; 7,50 und 19,39 erhoben werden. Ob sich aus den beiden späteren Passa3 Dieses umfasst 3 Redegänge mit je einer Rede des Nikodemus und einer Antwort Jesu. Dabei ist es unerheblich, wo man das Nikodemusgespräch enden sieht, bei V. 11, V. 15 oder auch erst bei V. 21. Die kurzen Gespräche mit den zwei namenlosen Jüngern, der Ruf an Philippus und auch der kurze Wortwechsel mit Nathanael in Joh 1,45–50 sind nicht wirklich vergleichbar mit dieser ersten ausführlichen Begegnung. 4 Mehrfachnennungen finden sich sonst bei Andreas, Petrus, Philippus, Thomas und Judas Iskariot, außerdem bei der bethanischen Maria und Lazarus, bei Maria Magdalena und – mit dem Schlusskapitel – bei Nathanael. Die ideale Figur des ‚Jüngers, den Jesus liebte‘, hat eine Sonderrolle inne.

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gen, die je explizit auf die erste Szene zurückverweisen, eine Modifikation der literarischen Charakterisierung ergibt oder auch die Vorstellung einer ‚Entwicklung‘ oder eines ‚Glaubensweges‘, ist strittig. Für die Vorstellung der Leserschaft bietet sich hier die Alternative zwischen einem Nikodemus, der trotz positivem Anfang im Unverständnis verharrt, und einem Nikodemus, der am Ende zum Anhänger Jesu und mutigen Glaubenszeugen, ja Paradigma des ‚bekehrten Juden‘ wird. 1.1 Neuere Einsichten zur Figurenanalyse im Johannesevangelium Zur Charakterisierung der johanneischen Figuren ist in den letzten Jahren sowohl theoretisch5 als auch material6 5 Im Rahmen der ntl. Methodologie ist die Charakterisierung von Figuren am breitesten reflektiert bei Sönke Finnern / Jan Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese, Tübingen 2016, 196–209 (dahinter grundlegend Sönke Finnern, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28, WUNT II/285, Tübingen 2010, 125– 164). Für das Johannesevangelium vgl. besonders Ruben Zimmermann, Figurenanalyse im Johannesevangelium. Ein Beitrag zu Sinn und Wahrheit narratologischer Exegese, ZNW 105 (2014), 20–53, und Christopher W. Skinner, Characterization, in: Douglas Estes / Ruth Sheridan (Hg.), How John Works. Storytelling in the Fourth Gospel, Atlanta 2016, 115–132. 6 Vgl. unter den neueren Arbeiten besonders Cornelis Bennema, Encountering Jesus. Character Studies in the Gospel of John, Milton Keynes / Colorado Springs 2009; Minneapolis 22014; Susan E. Hylen, Imperfect Believers: Ambiguous Characters in the Gospel of John, Louisville 2009; Christopher W. Skinner (Hg.), Characters and Characterization in the Gospel of John, London u.a. 2013; Steven A. Hunt / D. Francois Tolmie / Ruben Zimmermann (Hg.), Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Approaches to Seventy Figures in John, WUNT 3134, Tübingen 2013; aus einer (post-)feministischen Perspektive Ingrid R. Kitzberger, Interfigural Readings of the Gospel of John, Atlanta 2019; aus der schon älteren Literatur vgl. den Klassiker von R. Alan Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, Philadelphia 1983, 99–148; weiter Margaret Davies, Rhetoric and Reference in the Fourth Gospel, JSNT.S 69, Sheffield 1992, 316–349; sowie Peter

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viel publiziert worden, und dabei hat die NikodemusFigur stets Aufmerksamkeit genossen.7 Die ältere Forschung hatte die johanneischen Figuren vor allem als Repräsentanten bestimmter theologischer Positionen wahrgenommen8 und dabei nicht nur für den Lieblingsjünger und die Mutter Jesu die Fragen einer symbolischen Bedeutung oder einer real historischen Referenz erörtert.9 Dschulnigg, Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannesevangelium, Münster 2002. 7 Zu Nikodemus vgl. Bennema, Encountering Jesus (s. Anm. 6) 147– 160 (mit dem Untertitel „Nicodemus: In the Twilight Zone”); R. Alan Culpepper, Nicodemus: The Travail of New Birth, in: Hunt / Tolmie / Zimmermann (Hg.), Character Studies (s. Anm. 6) 249–259; Craig R. Koester, Theological Complexity and the Characterization of Nicodemus in John’s Gospel, in: Skinner (Hg.), Characters (s. Anm. 6), 165–181; weiter Jouette M. Bassler, Mixed Signals: Nicodemus in the Fourth Gospel, JBL 108 (1989), 635–646; Debbie Gibbons, Nicodemus: Character Development, Irony and Repetition in the Fourth Gospel, in: Proceedings: Eastern Great Lakes and Midwest Bible Societies 11 (1991), 116–128; Jean-Marie Sevrin, The Nicodemus Enigma: The Characterization and Function of an Ambiguous Actor of the Fourth Gospel, in: Reimund Bieringer / Didier Pollefeyt / Frédérique Vandecasteele-Vanneuville (Hg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel. Papers of the Leuven Colloquium 2000, Assen 2001, 357–369; Gabi Renz, Nicodemus: An Ambiguous Disciple? A Narrative Sensitive Investigation, in: John Lierman (Hg.), Challenging Perspectives on the Gospel of John, WUNT II/219, Tübingen 2006, 255– 289; Hylen, Imperfect Believers (s. Anm. 6), 23–40; Raimo Hakola, The Burden of Ambiguity: Nicodemus and the Social Identity of the Johannine Christians, NTS 55 (2009), 438–455; Nicolas Farelly, An Unexpected Ally: Nicodemus’s Role within the Plot of the Fourth Gospel, TJ 34 (2013), 31–43, sowie zuletzt Christos Karakolis, The Unfinished Story of Nicodemus: A Reader-Centered Approach, in: R. Alan Culpepper / Jörg Frey (Hg.), Expressions of the Johannine Kerygma in John 2:23–5:18, WUNT 424, Tübingen 2019, 14–27, und Michael R. Whitenton, Configuring Nicodemus. An Interdisciplinary Approach to Complex Characterization, LNTS 549, London 2019. 8 So schon die Bultmann-Schülerin Eva Kraft, Die Personen des Johannesevangeliums, EvTh 16 (1956), 18–32. 9 Zu dieser Diskussion vgl. Raymond F. Collins, Representative Figures in the Fourth Gospel, The Downside Review 95 (1976), 26– 46.118–132.

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Seit der durch R. Alan Culpepper10 eingeläuteten narratologischen Wende in der Johannesexegese geht es zunehmend um die Frage, wie die Erzählung ‚funktioniert‘ und mit welchen literarischen Mitteln sie Sinn kommuniziert bzw. ihrer Leserschaft jene Elemente ‚zuspielt‘, aus denen sich im Lesevorgang mehr oder weniger deutlich Sinn ergibt. Aus der Literaturwissenschaft musste die Grundeinsicht zur Geltung gebracht werden, dass eine literarische Figur grundsätzlich zu unterscheiden ist von einer Person der realen Welt,11 wenngleich eine gewisse historische Referenz nicht ausgeschlossen werden kann. Doch lässt sich der Charakter der Figur ausschließlich aus den Textdaten erheben. Unter dem Einfluss der Rezeptionsästhetik12 und des ‚cognitive turn‘ der Narratologie13 wurde deutlich, dass auch die Erzählfiguren letztlich kognitive Schemata sind, deren ‚Realisierung‘ im jeweiligen Leseprozess erfolgt, in der Vorstellung der Leserschaft und somit je nach dem Vorwissen und den Eintragungen der Leserinnen und Leser. Im Rückgriff auf die antike Dramentheorie konnte sich gerade für das so ‚dramatisch‘ ausgestaltete vierte Evangelium herausarbeiten lassen, dass die narrativen Figuren in ihrem Wechselspiel einen Diskurs anstoßen, in dem es allgemein um Identität bzw. um die Positionierung der Lesenden zur vorgeführten

10 Grundlegend Culpepper, Anatomy (s. Anm. 6). Zur epochemachenden Bedeutung dieses Werks vgl. Tom Thatcher, Anatomies of the Fourth Gospel: Past, Present, and Future Probes, in: Ders. / Stephen D. Moore (Hg.), Anatomies of Narrative Criticism. The Past, Present, and Futures of the Fourth Gospel as Literature, SBLRBS 55, Atlanta 2008, 1–35. 11 Vgl. Skinner, Characterization (s. Anm. 5), 118–121, unter Verweis auf Seymour Chatman, Story and Discourse: Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca 1978. 12 Grundlegend Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, UTB 636, München 21984. 13 Vgl. dazu Finnern / Rüggemeier, Methoden (s. Anm. 5), 174f.

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Geschichte geht,14 sachlich-theologisch um die Erkenntnis Jesu Christi, den Glauben. Allerdings bleibt der ‚Glaube‘ der textlichen Figuren stets in gewissem Maße ambivalent und es ist nicht möglich – und vielleicht auch nicht erforderlich –, zu eindeutigen Entscheidungen über die Art und Qualität ihres ‚Glaubens‘ zu gelangen. Die Erzählfigur ist ja nicht eine reale historische Person, für die sich die Frage nach Glauben und Heil stellen könnte. Vielmehr geht es durchgehend um die Reaktion und Positionierung der Lesenden. Sie sollen mithilfe des Textes und durch die ihnen vor Augen geführte Interaktion der Figuren zu einer Stellungnahme gelangen, in ihrer Identität im Bezug auf Christus gestärkt und orientiert werden und im johanneischen Sinne ‚glauben‘. In Aufnahme von Einsichten der allgemeinen Literaturund Filmwissenschaft15 wurde das exegetisch-methodische Inventar der Figurenanalyse zuletzt erheblich differenziert.16 Dabei wurden die zu einfachen Gegensätze zwischen einem ‚flachen‘ und einem ‚runden‘ Charakter17 oder auch zwischen einer statischen und einer dynamischen Figurenkonzeption aufgefächert und überwunden.18 D.h. die Forschung sieht inzwischen in den johanneischen Charakteren größere Komplexität: Es geht nicht nur um die Alternative zwischen Glaube und Unglaube, vielmehr bleiben auch die Jüngerfiguren – mit 14 Dazu Jo-Ann Brant, Dialogue and Drama. Elements of Greek Tragedy in the Fourth Gospel, Grand Rapids 2004, 159–202. 15 So besonders fruchtbar Jens Eder, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008, 39–60. 16 So insbesondere Cornelis Bennema, A Theory of Character in New Testament Narrative. A Proposed Paradigm for Character Reconstruction, Minneapolis 2014. 17 Dazu grundlegend Edward M. Forster, Aspects of the Novel, New York 1027, 67–78. 18 Bennema, Theory (s. Anm. 16), 61, bietet hier ein Schema mit vier Stufen, daneben entwickelt er eine Liste von Kategorien für die Figurenanalyse, die er dann auf die johanneischen Figuren appliziert (Bennema, Theory (s. Anm. 16), 79; ders., Encountering Jesus (s. Anm. 6), 38.

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Ausnahme des idealen ‚Lieblingsjüngers‘ – unvollkommen.19 Außerdem muss bei den literarischen Figuren auch mit einer Entwicklung gerechnet werden, bzw. korrekter mit einer Entwicklung der Vorstellung, die sich beim Gang der Lektüre im Verlauf des Textes und seiner Handlung wandelt und dann an den Figuren des Textes ggf. auch Lernprozesse oder Entwicklungen wahrnimmt. Allerdings besteht an dieser Stelle die Schwierigkeit, dass diese Rekonstruktion der Wandlungsprozesse anhand des Textes nur mithilfe außertextlichen Vorwissens, ja mithilfe von Eintragungen z.B. über ein menschlich erwartbares Verhalten gelingen kann, und gerade hier dürfte der Grund für die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung von Figuren wie Nikodemus liegen. 1.2 Die Ambivalenz der Charakterisierung des Nikodemus in Joh 3 und ihre weitgehende Auflösung Die methodologischen Anstrengungen der letzten Jahrzehnte haben jedoch nicht zu einem Konsens in der Sache geführt. Auch in narratologisch-rezipientenorientierten Interpretationen stehen sich eher positive20 und weithin negative Einordnungen gegenüber,21 und 19 Dazu grundlegend Hylen, Imperfect Believers (s. Anm 6). Vgl. dies., Three Ambiguities: Historical Concept, Implied Reader, and the Nature of Faith, in: Skinner (Hg.), Characters (s. Anm. 6), 96–110. 20 Dass Nikodemus letztlich zum Jünger geworden sein soll, wird von zahlreichen neueren Autoren festgehalten, so z.B. aus der narratologischen Perspektive bei Francis J. Moloney, The Gospel of John, Sacra Pagina 4, Collegeville 1998, 511, aber auch aus einer eher historisch-positivistisch argumentierenden Perspektive bei Richard Bauckham, Nicodemus and the Gurion Family, JTS 47 (1996), 1–37 (32): „Although it is not the evangelist’s purpose to tell us what happened to Nicodemus thereafter, the natural implication is that his acknowledgement of Jesus before the resurrection became, like the faith of the other disciples, full Christian faith afterwards.” 21 Gegen die Annahme von Ambivalenzen argumentiert jüngst die Dissertation von Whitenton, Configuring Nicodemus (s. Anm. 7), der von kognitiven Erwartungshaltungen antiker Hörer des Evangeliums her Nikodemus in Joh 3 als unaufrichtigen Heuchler („dissembler“) wertet, in Joh 7 täusche er dann bereits umgekehrt seine jüdischen

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auch die Frage nach einer möglichen Entwicklung zwischen den drei Szenen in Joh 3,1–10, 7,50–52 und 19,38f. wird verschieden beantwortet. Dies scheint eine letzte Ambivalenz in der Figur zu bestätigen. Die grundlegenden Informationen werden der Leserschaft in Joh 3,1–10 geboten.22 Nikodemus wird in 3,1 eingeführt als jüdischer Mann aus Jerusalem, ein ‚Oberer‘ (ἄρχων), der der Partei der Pharisäer zugehört. Damit verbindet sich die Vorstellung einer Person von fortgeschrittenem Alter (vgl. 3,4), Wissen, Einfluss und hohem sozialen Prestige. Joh 3,10 bekräftigt dann seinen Einfluss als „der Lehrer Israels“, Joh 7,50 illustriert später weiter seine Zugehörigkeit zu einem Gremium von Ratsherren, Joh 19,39 seinen Wohlstand. Zugleich lassen sich in der Einführung Ambivalenzen wahrnehmen: Zwar sind die Pharisäer bisher im Evangelium noch nicht negativ konnotiert,23 doch wurden die Ioudaioi in Jerusalem kurz zuvor narrativ als eine Gruppe vorgeführt, die Jesu Worte grob missversteht und selbst am ‚Abbrechen‘ seines Leibes aktiv beteiligt sein wird (Joh 2,18–21). Dass Nikodemus als Jerusalemer Pharisäer „bei Nacht“ zu Jesus kommt, ist daher wohl als eine eher ambivalente Charakterisierung zu werten.24 Er ist zwar initiativ und kommt aus freien Stücken zu Jesus, aber er tut dies im Dunkeln, nicht-öffentlich oder gar heimlich, wenngleich die Interpretation dessen nicht exMit-Ratsherren, am Ende agiere er dann offen als Jesusjünger. Alle Szenen werden so ohne Ambivalenzen erklärt, aber die Kohärenz zwischen Joh 3 und Joh 7 ist nicht überzeugend erklärt. 22 Als Grundschema kann das bei Bennema, Encountering Jesus (s. Anm. 6), 159f. gebotene Raster gelten, wenngleich dieser einige Aspekte zu unkritisch aufnimmt, z.B. den Hinweis auf die Jerusalemer Gurion-Familie (a.a.O., 149; nach Bauckham, Nicodemus [s. Anm. 20]) oder die Idee, dass Nikodemus mit seinen Schülern Jesus mit seinen Jüngern aufgesucht habe (Bennema, Encountering Jesus [s. Anm. 6], 150f.), wovon im Text absolut nichts steht. 23 Joh 1,24 ist hier zumindest uneindeutig, eine negative Konnotation der Anfrage an den Täufer ist nicht explizit. 24 Dies wird später durch die symbolische Konnotation von Nacht und Tag, Finsternis und Licht, verstärkt (vgl. 13,30).

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pliziert, sondern der Leserschaft überlassen wird.25 Dementsprechend tragen die Interpreten in diese ‚Lücke‘ entweder den Aspekt der Suche nach einem ungestörten Gespräch oder den eher negativen Aspekt der Furcht ein. Der Aspekt der Furcht wird später zumindest im Blick auf andere Figuren verstärkt (12,42; 19,38). Zu beachten ist weiter, dass die literarische Einführung des Nikodemus in 3,1 direkt an 2,25 anknüpft: Er wird eingeführt als ein ‚Mensch‘, nachdem eben zuvor davon die Rede war, dass Jesus wusste, was ‚im Menschen‘ war, dass er die Menschen durchschaute und sich deshalb denen, die von seinen Zeichen angetan waren, nicht erschloss. Er ist damit literarisch eingeführt als ein konkretes Exemplar jener Jerusalemer Juden, die Jesu Zeichen sahen und – wie es 2,23 heißt – „glaubten“, aber deren Glaube durch Jesu Zurückhaltung als unzureichend oder fragwürdig gekennzeichnet ist. Damit ist für die Szene ein ambivalentes ‚Vorzeichen‘ gesetzt, und der Verlauf des Gesprächs nimmt diese Ambivalenz auf. Die Anrede an Jesus in 3,2 ist hingegen zunächst durchaus positiv zu bewerten. Sie enthält sachlich nichts Falsches, denn Jesus ist in der Tat ein von Gott gekommener Lehrer und führt seine Zeichen auf Gottes Mitsein zurück. Nikodemus erscheint positiv als ein an Jesu Person oder Lehre Interessierter, als Sympathisant oder Bewunderer. Indem er Jesus ‚Lehrer‘ nennt, signalisiert er zumindest potentiell die Bereitschaft, von ihm, dem Jüngeren und ‚Ungelehrten‘ zu lernen. Er stellt zwar keine Frage, aber er eröffnet das Gespräch mit einer hoch wertschätzenden Aussage, was angesichts seiner sozialen und religiösen Position überraschen muss. Auch wenn sein ‚Glaubenswissen‘ noch nicht die Höhe der bisherigen christologischen Aussagen des Evangeliums (z.B. 1,49f.) erreicht hat, ist er doch in keiner Weise als Gegner oder Bestreiter Jesu eingeführt, sondern als Sympathisant. Jesus lässt sich auf das Gespräch ein, doch ist seine Antwort in 3,3 eine wohl auch für die Leserschaft frappie25

Z.B. „aus Furcht” oder „im Interesse ungestörten Gesprächs“.

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rende Zurückweisung: Dem Wissen des angesehenen Lehrers hält er entgegen, dass dieser von der Gottesherrschaft nichts wissen kann. Die freundliche, aber doch offenkundig missverstehende Rückfrage des Nikodemus in 3,4 wird zunächst nur durch eine bekräftigende Wiederholung der Aussage Jesu beantwortet (3,5), worauf dann in einem Bildwort eine Erläuterung folgt, die implizit verdeutlicht, warum Nikodemus von den Dingen des Geistes nichts verstehen kann (3,6–8). Auf seine letzte hilflose Rückfrage (3,9) folgt in Jesu abschließendem Wort an Nikodemus ein offenkundiger Tadel. Er weiß nicht, was er als Lehrer Israels wissen sollte (3,10). Ist er damit gänzlich desavouiert? Kaum. Die Idee, er sei von Anfang an als Heuchler gekommen26 oder hätte Jesus gar ausspionieren wollen,27 ist angesichts dessen wohl abwegig. Eine subjektive Aufrichtigkeit ist der Figur schwerlich abzusprechen. Ab 3,11 wendet sich Jesus an eine allgemeinere Höreroder Leserschaft, die nächtliche Szene scheint nicht mehr von Bedeutung zu sein. Nikodemus tritt als Figur zurück, und es tut wenig zur Sache, ob man ihn noch als Hörer der Belehrung Jesu in V. 11–21 imaginiert oder nicht. Wenn er schon die an ihn gerichtete Belehrung in V. 3.5.8 nicht verstehen konnte, so gilt dies nach 3,12 umso mehr für die nun ausgesprochenen Sachverhalte. Allerdings sollte man den Schluss des Abschnitts in 3,21 nicht übersehen.28 Jesu Belehrung endet mit einer positiven Aussage über den, der gute Werke bzw. „die Wahr26 So die These von Whitenton, Configuring Nicodemus (s. Anm. 7), der aufgrund der Schrift des Philosophen und Aristotelikers (4. Jh. v. Chr.) Theophrast, Characteres, auf eine bei antiken Rezipienten vorhandene Erwartung bestimmter ‚Typen‘ schließt und Nikodemus in Joh 3 diesem Typus zuordnet. 27 So die Vermutung bei einem Interpreten des späten 18. Jahrhunderts, Johann Benjamin Koppe, Interpretatio orationis Christi cum Nicodemo, Göttingen 1778, viii: „ut fere in suspicionem consilii improbi et inhonesti adducatur.“ 28 Vgl. dazu Karakolis, The Unfinished Story of Nicodemus (s. Anm. 7), 21.

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heit“ tut und „zum Licht kommt“. Die Aussage ist durch Wortbezüge auf V. 2, auf das „Kommen zu Jesus“ und damit auf die Initiative des Nikodemus zurückbezogen. Ist hier – auch wenn Nikodemus allenfalls noch stummer Hörer der Belehrung Jesu ist – doch eine Richtung angedeutet, in die sich die Figur weiterentwickeln sollte, oder besser: eine Bewegung, die die impliziten Leser in der Figur des Nikodemus aufnehmen sollten: dass ein jüdischer Lehrer zu Jesus kommt und von ihm nicht zurückgewiesen, sondern belehrt und am Ende sogar gelobt wird? Überraschend wird Nikodemus später im Rahmen der Diskussionen der Jerusalemer um Jesus erneut namentlich erwähnt. Im Rahmen einer Ratsversammlung der Hohepriester und Pharisäer fällt die Aussage: „Hat etwa einer von den Führenden (ἐκ τῶν ἀρχόντων) oder von den Pharisäern an ihn geglaubt?“ Nur das Volk, das das Gesetz nicht kennt, tue das (7,48f.). Unmittelbar darauf meldet sich Nikodemus zu Wort und der Erzähler erinnert sich explizit an seine vorherige Begegnung mit Jesus. Auch wenn er hier nur ganz ‚gesetzestreu‘ für ein ordentliches Verhör bzw. Verfahren gegenüber Jesus plädiert, ist er durch den unmittelbaren Kontext von 7,48 präsentiert als einer von den Führenden (3,1: ἄρχων) und Pharisäern. Seine Kollegen schöpfen aus seinem Wortbeitrag Verdacht, er sei auch ein ‚Galiläer‘, d.h. ein Anhänger Jesu, und dieser Verdacht im Munde der Gegner bleibt im Raum stehen. Nikodemus antwortet darauf nicht mehr, was die Leserschaft dazu bringen kann, sein Verhalten ambivalent zu werten: Er setzt sich rechtlich für Jesus ein, aber bekennt sich nicht zu ihm. Ist sein Schweigen als Zeichen der Furcht zu deuten oder soll der Verdacht der Gegner am Ende gerade unwidersprochen bleiben? Ist er hier schon ein „heimlicher“ Glaubender (vgl. 12,42), wie es dann in 19,38 explizit über Joseph von Arimathia gesagt wird? Die Ambivalenz wird auch hier nicht aufgelöst, obwohl die positiven Züge durch die die Einführung in 7,48 und seine aktive Parteinahme für Jesus stärker hervortreten.

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Überraschend wird Nikodemus dann am Ende, nach Jesu Kreuzestod, noch einmal erwähnt. Er wird in der Szene der Grablegung Jesu Joseph von Arimathia, dem Jesus heimlich folgenden Ratsherrn, der schon nach dem markinischen Passionsbericht für Jesu Begräbnis gesorgt hatte, als ‚zweiter Mann‘ zugesellt. Literarisch ist dies ein Phänomen, das dem Vorgehen des Erzählers in den ‚Lieblingsjünger‘-Passagen vergleichbar ist. Auch dort wird in die Szenen des letzten Mahles (Joh 13,21–30), des Ganges des Petrus zum Grab (Joh 20,3–10) und vielleicht auch der Petrus-Verleugnung (Joh 18,12–27), eine weitere Figur eingefügt, die Petrus besonders zugeordnet und stets voraus ist. Auch die Einfügung der Mutter Jesu in den Kreis der Frauen unter dem Kreuz (Joh 19,25–27) zeigt ein solches Vorgehen. Dies legt nahe, dass die Figur des Nikodemus im Bericht über Jesu Begräbnis im Sinne des johanneischen Autors nicht belanglos ist, sondern dass ihr gerade ein spezifisches Gewicht zukommt. Nach der Einführung des Joseph als des gegenüber Pilatus Initiativen und seiner Charakterisierung als Jesusjünger, der aber seine Jüngerschaft „aus Furcht vor den Juden“ verborgen hielt, wird Nikodemus erwähnt, der „auch kam“ (ἦλθεν δὲ καὶ Νικόδηµος), also dem Joseph im Auftritt und im Handeln zugesellt wird. Er wird nicht eigens als ‚heimlicher Jünger‘ bezeichnet, aber er tritt mit diesem in eine Handlungsgemeinschaft ein (ἔλαβον), ja trägt zu dieser gemeinsamen Aktion mit materiell wertvollen Bestandteilen bei. Erzählerisch legt dies nahe, dass auch er auch als (zumindest bis dato) heimlicher Anhänger Jesu aufgefasst werden soll. Gibt es in dieser Szene noch negative oder ambivalente Züge? Dass Jesu Begräbnis heimlich erfolgt sei, wird nicht gesagt und es ist in der Szenerie auch schwer vorstellbar, dass diese Aktion nicht von römischen Soldaten wie auch von Passanten oder den jüdischen Oberen wahrgenommen werden müsste. Sie ist ein kaum vor anderen zu verbergendes Zeichen der Zugehörigkeit und Zuneigung. Das Begräbnis wird in 19,40 als eine Handlung gemäß jüdischen Sitten charakterisiert, die Rede

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von den Leichentüchern erinnert zudem an Joh 11,44 und bereitet die Erwähnung der Tücher in Joh 20,2–10 vor. Da die Bestattung eines Verstorbenen üblicherweise von den nächsten Angehörigen oder engen Freunden durchgeführt wurde, sind Joseph und Nikodemus durch ihren Akt als solche charakterisiert, auch wenn damit nicht ein explizites Glaubensbekenntnis verbunden ist.29 Dass das Begräbnis noch nicht den Glauben an den Auferstandenen spiegelt, ist narrativ durchaus plausibel und wäre gar nicht anders zu erwarten, denn in der erzählten Ereignisfolge liegt das Begräbnis vor den Osterereignissen und der österlichen Erkenntnis. Die Menge des Duftöls ist zweifellos ein positiv beeindruckendes Element. Die Salbung korrespondiert mit der schon in Joh 12,7 von Jesus positiv als Liebeserweis kommentierten Salbung im Vorgriff auf sein Begräbnis, die Menge der Duftstoffe charakterisiert Jesu Begräbnis im Rahmen des johanneischen Passionsberichts geradezu als ein ‚königliches‘ und trägt so im Rahmen des gesamten Passionsberichts zum Zeugnis für Jesus als ‚wahren König‘ bei.30 „Sieht“ er schon die Königsherrschaft Gottes in dem Gekreuzigten (vgl. 3,3)?31 Dass damit der Leichnam ‚konserviert‘ werden sollte und so ein Widerspruch zur Erwartung der Auferstehung bestünde, wird im Text durch nichts nahegelegt. Es ist daher kaum gerechtfertigt, das Handeln von Joseph und Nikodemus als ein grobes Missverständnis32 oder gar Zeichen ihres Unglaubens zu lesen. 29 Die bei Bennema, Encountering Jesus (s. Anm. 6), 155, angestellte Erwägung, ob die Handlung oder das Verständnis des Nikodemus „is adequate for salvation“ ist methodologisch abwegig und zeigt ein unzureichendes Verständnis der Differenz von narrativen Figuren und realen Personen. 30 Dazu Jörg Frey, „Seht, euer König!“ Die Johannespassion als Sehschule des Glaubens, ThBeit 50 (2019), 7–27. 31 Dazu Koester, Theological Complexity (s. Anm. 7), 179: „To ‚see the kingdom‘ in this Gospel, one must come to terms with the crucified kind, and Nicodemus points readers in this direction.” 32 So noch Culpepper, Anatomy (s. Anm. 6), 136; vorsichtiger jetzt in ders., Nicodemus (s. Anm. 7), 258f.; vgl. aber z.B. den von einem grundsätzlich vorausgesetzten epistemologischen Dualismus ausge-

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Damit ist in dieser dritten Szene die Ambivalenz der Figur des Nikodemus weithin aufgelöst.33 Er wird zwar nicht als Osterzeuge präsentiert und spricht auch kein positives Christusbekenntnis, doch ist in dieser Szene der aktive Einsatz für Jesus im Liebeserweis nicht mehr durch Signale der Furcht oder des Missverständnisses getrübt. Die Figur des Nikodemus ist somit nicht statisch, sie unterläuft erkennbaren Wandlungen. Ist in der Szene des nächtlichen Gesprächs die Ambivalenz noch sehr deutlich wahrnehmbar, erscheint Nikodemus in Joh 7,50–52 schon eher als ein heimlicher Nachfolger Jesu, der diesen in einem begrenzten Rahmen verteidigt, und erst die abschließende Szene präsentiert ihn als einen Freund, der Jesus den letzten Liebesdienst erweist, ohne dass noch von seiner Furcht, seinem Unverständnis oder einer Zurückweisung die Rede wäre. Wodurch sich seine Haltung im Lauf der Zeit verändert, ist im Text nicht angedeutet und die Leserschaft mag spekulieren, wie der Ratsherr zu seiner erst geheimen, dann sukzessive offeneren Sympathie für Jeus gekommen sein mag. Die Figur ist auch nicht einfach ein ‚flacher‘ Charakter, vielmehr wird durch die Einbettung in das Gefüge von Juden und Pharisäern, Mit-Ratsherren und einfachem Volk, Jüngern und Gegnern eine Vorstellung vermittelt, wie sich Nikodemus ‚diplomatisch‘ verhält, von seinem nächtlichen Besuch bei Jesus über die Verhandlungen in der Ratsversammlung bis hin zur Beteiligung an Jesu Begräbnis. Er verhält sich dabei durchgehend als Jude, in 7,51 verweist er auf Bestimmungen des mosaischen Gehenden, einflussreichen Beitrag von Wayne A. Meeks, The Man from Heaven in Johannine Sectarianism, JBL 91 (1972), 44–72 (55); weiter Marinus de Jonge, Nicodemus and Jesus: Some Observations on Misunderstanding and Understanding in the Fourth Gospel, in: ders., Jesus: Stranger from Heaven and Son of God, SbibSt 11, Missoula 1977, 29–47, und Dennis D. Sylva, Nicodemus and His Spices, NTS 34 (1988), 148f. 33 So auch Renz, Nicodemus (s. Anm. 7), 270: „Ambiguity Resolved“.

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setzes und in 19,39f. folgt er zunächst der jüdischen Sitte. Gleichwohl impliziert sein jüdisches Verhalten eine fortschreitende Annäherung an Jesus, die am Ende zu einer offen praktizierten Kundgebung seiner Liebe führt.34 So ist in der Figur des Nikodemus doch eine Spur gelegt, die den Weg eines Juden, ja eines Oberen mit hoher Gelehrsamkeit im Gesetz, in die Nachfolge Jesu vorzeichnet. Er ist nicht einfach ein statisches Exemplar der ‚heimlichen‘ Jünger (12,42), zu denen Joseph von Arimathia gezählt wird. Vielmehr ist er durch die drei Szenen, in denen er präsentiert wird, eine dynamische Figur, die ihrerseits in der Lektüre bei einzelnen Lesern – vielleicht besonders bei jüdischen – eine entsprechende Dynamik inspirieren kann. Das Evangelium lässt seinen Status letztlich ungeklärt. Die ‚Auflösung‘ kann nur im Leseprozess erfolgen, und dies mag entsprechend der jeweiligen Leserdisposition differieren.35 Ob oder gar zu welchem Zeitpunkt Nikodemus eine ‚neue Geburt‘ erfahren hat, bleibt reine Spekulation. Die fromme Leserschaft mag für ihn hoffen,36 doch ist diese Reaktion letztlich unangebracht, denn der Text des Evangeliums zielt darauf, dass seine Leserinnen und Leser selbst den Weg aus der Finsternis zum Licht gehen (vgl. Joh 3,2.21) und an Jesus Christus im vollen nachösterlichen Sinn glauben. Die Figur des Nikodemus ist dafür allenfalls ein Wegzeiger. Als Jude, der sich Jesus annähert, steht er neben der Figur des „Israeliten“ Nathanael (Joh 1,45–50), die zwar mit tiefgründigen Schriftbezügen assoziiert, aber mit nur einem ‚Auftritt‘ und wenig Handlung viel ‚flacher‘ gezeichnet ist. Wenn sich in der intendierten Leserschaft ‚heimliche‘ Nachfolger aus dem Kreis der Ιουδαῖοι befunden haben – 34 Culpepper, Nicodemus (s. Anm. 7), 259: „Nicodemus seems to be moving toward Jesus with each appearance, coming to Jesus first at night, responding to his fellow Pharisees in Jesus’ defense, and then joining with a secret disciple in the burial of Jesus.” 35 Dazu Renz, Nicodemus (s. Anm. 7), 279–283. 36 So Culpepper, Nicodemus (s. Anm. 7), 259: „The reader has good reason to be hopeful about Nicodemus”.

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was man aufgrund des Textes (12,42) nur vermuten, aber nicht belegen kann –, dann könnten solche die Figur des Nikodemus als Rollenmodell wahrgenommen haben, als implizite Aufforderung, zum offenen Bekenntnis durchzudringen. Einer kompletten Verwerfung der Ιουδαῖοι, wie sie manche Interpreten aus dem Evangelium entnehmen wollten, steht die Figur des Nikodemus prominent entgegen. 1.3 Exkurs: Zur Frage nach der historischen Referenz und ihren Problemen Die Frage der historischen Referenz der Figur37 bleibt von sekundärer Bedeutung. Die zu dieser Frage oft mit apologetischem Interesse zusammengetragenen Daten sind interessant, aber für die Wirkung der Erzählung irrelevant. Ob der literarischen Figur eine reale historische Gestalt zur Zeit des Wirkens Jesu oder auch eine reale historische Gestalt im Jerusalemer Judentum im Horizont des johanneischen Autors entspricht, hat allenfalls eine Relevanz für die Frage, welches Maß an historischen Kenntnissen die johanneische Erzählung voraussetzt bzw. dem Autor oder seiner Tradition verfügbar war. Anders als gelegentlich behauptet wurde, ist die griechische Namensform Νικόδηµος unter Juden in der Antike nicht weit verbreitet.38 Insofern ist der Nikodemus des Evangeliums nicht einfach ein geläufiger Stereotyp. Doch bedeutet das umgekehrt, dass der Evangelist eine konkrete historische Gestalt im Blick hatte? In der Forschung wird zumeist auf den aus der rabbinischen Tradition39 bekannten wohlhabenden Jerusalemer Naqdemon b. Gorion aus der Zeit des jüdischen Krieges verwiesen, doch ist die Identifikation des Ratsherrn der Zeit Jesu mit 37

Dazu ausführlich Bauckham, Nicodemus (s. Anm. 20). Bauckham, Nicodemus (s. Anm. 20), 17, nennt 2 Juden in der Diaspora (CPJ 1, no. 380 und CPJ 2, no. 142–3) und zwei in Palästina (Jos Bell II 451; Ant XIV 37); hinzu kommt Naqdimon b. Gorion. 39 bGittin 56a; bTaan 19b–20a etc. 38

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dieser ca. 40 Jahre später einflussreichen Gestalt40 chronologisch kaum möglich, denn der Nikodemus des Evangeliums muss zur Zeit Jesu bereits ein älterer Mann gewesen sein. Die Hilfs-Annahme, der Nikodemus des Evangeliums sei dann dessen Großvater41 oder Onkel,42 ist eine wohlmeinende Spekulation, aber textlich durch nichts zu begründen. Immerhin weisen die rabbinischen Zeugnisse und die Notizen des Josephus auf eine einflussreiche Jerusalemer Familie, in der die Namen Naqdemon und Gurion mehrfach vorkamen.43 Weiß der Evangelist etwas von diesen Familien, so dass er den Gesprächspartner Jesu mit diesem Namen einführt, oder kann er auf eine ältere Tradition zurückgreifen? Wenn er den Namen dieser Figur fiktiv eingeführt hätte,44 hätte er ihn mit guter Kenntnis der Verhältnisse in der jüdischen Aristokratie Jerusalems gestaltet.

40 So zuerst John Lightfoot, A Commentary on the New Testament from the Talmud and Hebraica, Nachdruck Peabody, Mass. 1997, 3.262f. 41 John A. T. Robinson, The Priority of John, London 1985, 284.287. 42 So Bauckham, Nicodemus (s. Anm. 20), 34. 43 Dazu ausführlich Bauckham, Nicodemus (s. Anm. 20), 13–27. Wenn im babylonischen Talmud (bSanh 43a–b) später von fünf Schülern Jesu (Mattai, Naqqai, Nezer, Buni und Todah) die Rede ist, die sich vor Gericht mit Schriftworten verteidigen, so mag man in Buni (oder auch in Naqqai, so Gustav Dalman, Grammatik des jüdischpalästinischen Aramäisch, Leipzig 21905, 179), eine Entsprechung zu Nikodemus sehen, doch sind die Namen selbst „literarische Konstruktionen und im Hinblick auf die biblischen Verse entworfen, mit denen sich die Schüler verteidigen“ (so Peter Schäfer, Jesus im Talmud, Tübingen 22010, 157). Hier liegt wohl keine unabhängige Tradition über einen ‚historischen‘ Nikodemus vor, sondern eher eine fast unkenntlich gewordene Nachwirkung der Evangelien in der jüdischen Tradition. 44 So die Vermutung bei Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 183. Folker Siegert, Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt. Wiederherstellung und Kommentar, Göttingen 2008, 278, meint, der joh Autor hätte Nikodemus nach dem bekannten Naqdemon b. Gorjon gestaltet und diesem „ein literarisches Denkmal“ gesetzt.

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Dass Nikodemus ein sonst vergessener Lehrer der Jerusalemer Gemeinde von Jesusnachfolgern45 gewesen sei, ist eine noch weniger begründbare Spekulation. Von Nikodemus als einem Jesusanhänger der nachösterlichen Zeit, als einem getauften Christen, wissen wir erst aus der patristischen Legendenbildung, die erst eine Wirkung des vierten Evangeliums ist, nicht umgekehrt. Auch die Verbindung der Figur des Nikodemus mit konkreten Gruppen in der Lebenswelt des Evangelisten, der zeitgenössischen synagogalen Führungsschicht46, mit einer sich nicht zum klaren Übertritt entschließenden Gruppe von Judenchristen,47 mit Vertretern einer zu wenig ‚hohen‘ Christologie,48 einer häretischen Tauftheologie49 oder Trägern urchristlicher Traditionen50 ist fragwürdig, weil sie eine literarische Figur letztlich zu naiv als Spiegel der Welt des Autors und als Repräsentanten einer bestimmten theologischen Gruppierung auswertet und das subtile Spiel mit literarischen Figuren verkennt.

45 So Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1– 12, RNT, Regensburg 2009, 246. 46 Siegert, Evangelium (s. Anm. 44), 277f.; auch Barnabas Lindars, The Gospel of John, London 1972, 149. 47 Georg Richter, Studien zum Johannesevangelium, BU 13, hg. v. J. Hainz, Regensburg 1977, 329; David K. Rensberger, Johannine Faith and Liberating Community, Philadelphia 1988, 40. 48 Jerome H. Neyrey, John III – a Debate over Johannine Christology and Epistemology, NT 23 (1981), 115–127. 49 So Yo Ibuki, Gedankenaufbau und Hintergrund des 3. Kapitels des Johannesevangeliums, Bulletin of the Seikei University 14, Tokio 1978, 9–33 (20f.), der im Hintergrund von Joh 3 eine Auseinandersetzung mit einem Sakramentalismus vermutet. 50 So Alois Stimpfle, Blinde sehen. Die Eschatologie im traditionsgeschichtlichen Prozeß des Johannesevangeliums, BZNW 57, Berlin / New York 1990, 57, der hier die Destruktion christlichen Traditionalismus sehen will.

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2. Nikodemus in der Wirkungsgeschichte der Texte Blicken wir von hier aus auf Facetten der Rezeption der Nikodemus-Figur in verschiedenen Epochen und Traditionen, dann bestätigt sich das Bild der Ambivalenz rezeptionsgeschichtlich. 2.1 Nikodemus als jüdischer Kronzeuge für Jesus, als Märtyrer und Heiliger Es mag aus heutiger Perspektive überraschen, dass die negativen Aspekte der Einführung des Nikodemus, sein Unverständnis und seine Bloßstellung als unwissend und unverständig in der Perspektive der frühen Kirche weithin überstrahlt werden durch das Gewicht der letzten Szene in Joh 19,38f., in der er mit dem heimlichen Jünger Joseph von Arimathia für ein ehrenvolles Begräbnis sorgt. Hier konnte die frühe Kirche das ‚coming out‘ des heimlichen Jüngers Nikodemus und ein öffentliches Bekenntnis zu Jesus erkennen. Nikodemus wurde damit zum ‚Kronzeugen‘ eines jüdischen Oberen, der Christ geworden war und deshalb Widerstand und Verfolgung von Seiten seiner jüdischen Kollegen erfahren und so schließlich das Martyrium erleiden musste. So wurde Nikodemus letztlich nicht nur zum Kronzeugen eines jüdischen Oberen, der zum Glauben an Jesus gekommen war, sondern überdies zum Heiligen. Aus dieser vom Ende seiner Geschichte her konstruierten Perspektive konnte dann auch in Joh 3 der positive Aspekt, dass er von Jesus der Belehrung gewürdigt wird, die ambivalenten Züge überstrahlen. Obwohl wohl schon Justin die Passage aus Joh 3 kennt,51 findet sich bei ihm kein Bezug auf die Figur des 51 Justin, Apol. 61,4f. bietet im Zusammenhang der Erörterung der Taufe nur eine Variation des Herrenwortes Joh 3,3.5 (vgl. Mt 18,3b) in einer Version, die die Kenntnis des Nikodemus-Missverständnisses in Joh 3,4 nahelegt, doch Nikodemus und die Gesprächssituation werden nicht weiter erwähnt: „Christus sagte nämlich: ‚Wenn ihr nicht wiedergeboren werdet, werdet ihr nicht in das Himmelreich einge-

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Nikodemus und der Kommentar des Origenes zu dieser Stelle ist leider nicht erhalten. Der erste altkirchliche Autor, von dem wir eine Kommentierung aller NikodemusPassagen kennen, ist Johannes Chrysostomus. Dieser bietet in seinen Homilien zu Johannes sofort bei der Einführung des Nikodemus52 den Hinweis, dass der hier Genannte „derselbe Nikodemus [sei], der sich später Christi annahm“ (vgl. Joh 7,50) und „große Sorgfalt für das Begräbnis des Leibes des Herrn“ bewies (vgl. Joh 19,39).53 Mit der Zitierung dieser beiden Stellen wird Nikodemus bereits hier als Jünger eingeführt, der schon jetzt Christus anhing, wenngleich noch mit jüdischer Schwachheit behaftet. Chrysostomus entschuldigt Nikodemus konsequent. Sein Kommen bei Nacht unterscheidet ihn von den anderen Juden. Jesus würdigt ihn der Gnade einer didaktisch vorsichtigen Belehrung, er versucht ihn mit den allgemein formulierten Sätzen V. 3.5 nicht vor den Kopf zu stoßen, und selbst in V. 10 wird er nur der Kurzsichtigkeit, nicht der Böswilligkeit beschuldigt. In Joh 7,50–52 spricht Nikodemus als selbst Glaubender zu den anderen Ratsherren,54 und auch wenn er beim Begräbnis Jesu diesen noch als einen Menschen sieht, der einbalsamiert werden muss,55 gilt er doch von Anfang an als ein unvollkommener und der Belehrung bedürftiger, aber dieser auch gewürdigter Nachfolger und Bekenner Jesu. Diese Tendenz findet sich auch bei Kyrill von Alexandrien, der Nikodemus von vorneherein explizit als einen heimlichen Jünger bezeichnet und die Vermutung einträgt, er sei bei Nacht gekommen, weil er den Verlust

hen.’ Dass es nun aber für die einmal Geborenen unmöglich ist, in ihrer Mutter Leib zurückzukehren, leuchtet allen ein.“ (Üs. Gerhard Rauschen, in: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten I, BKV I/12, München 1913). 52 Johannes Chrysostomus, hom. in Io. 24,1. 53 Übersetzung nach: Die Homilien des heiligen Johannes Chrysostomus, übers. von Franz Knors, Paderborn 1862. 54 Johannes Chrysostomus, hom. in Io. 52. 55 Johannes Chrysostomus, hom. in Io. 85.

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seiner Position unter den Juden gefürchtet hätte.56 Cyrill formuliert jedoch klarer als Chrysostomus, dass Nikodemus fleischlich denkt57 und letztlich nichts versteht.58 Bei der zweiten Erwähnung des Nikodemus in 7,50 zeichnet Kyrill ein Charakterbild des Hin- und Hergerissenen, der nicht völlig ungläubig ist, aber in seiner Liebe zu Christus noch unfrei und verschämt, seinen Glauben wie unter einem dunklen Mantel verbergend, wenn er gegenüber seinen Kollegen mit den Worten des Gesetzes argumentiert.59 Zum Begräbnis Jesu stellt Kyrill nur knapp fest, dass Joseph und Nikodemus als heimliche Jünger handelten, als Personen, „die den Glauben innerlich in ihren Herzen empfangen hatten, aber noch immer von einer törichten Furcht verängstigt waren.“60 Wie bei Chrysostomus ist auch bei Kyrill keine Entwicklung in der Figur des Nikodemus wahrgenommen, er ist ein Bewunderer und heimlicher Anhänger Jesu von Anfang an. Eine andere Textwahrnehmung findet sich bei Theodor von Mopsuestia.61 Hier ist die Nikodemusfigur stärker negativ konnotiert: Theodor betont den Anschluss von Joh 3,1f. an 2,25 und sieht Nikodemus mithin als Paradigma eines der Menschen, dem sich Jesus nicht anvertraut. Die Nacht spiegele am besten seinen eigenen Zustand. Seine Anrede an Jesus sei Schmeichelei. Nikodemus rede als Ungläubiger,62 und Jesu Worte, die eigentlich für einen Lehrer gedacht sind, führen den Zweifler nur noch mehr in den Unglauben.63 Wenn Jesus ihn in Joh 3,10 schließlich tadelt, tadelt er ihn dafür, dass er als 56

Kyrill von Alexandrien, comm. in Io. II,1 zu Joh 3,2. Kyrill von Alexandrien, comm. in Io. II,1 zu 3,6. 58 Kyrill von Alexandrien, comm. in Io. II,1 zu 3,9f. 59 Kyrill von Alexandrien, comm. in Io. V,2 zu 7,51. 60 Kyrill von Alexandrien, comm. in Io. XII,1 zu 19,39. 61 Vgl. die Übersetzung: Theodore of Mopsuestia, Commentary on the Gospel of John, transl. Marco Conti, Ancient Christian Texts, Downers Grove, Il. 2010. 62 A.a.O., 31, zu Joh 3,4. 63 A.a.O., 31, zu Joh 3,3. 57

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jüdischer Lehrer hinter seiner Aufgabe zurückbleibt. Zu Joh 7,52 kommentiert Theodor, dass Nikodemus aus Schwachheit oder Furcht seinen Kollegen nicht mehr antwortete.64 Joh 19,38f. wird im Blick auf die Figur des Nikodemus nicht weiter interpretiert. Letztlich wird Nikodemus nirgendwo in Theodors Kommentar als Glaubender oder Vorbild für Christen präsentiert. Theodor ist ein Beleg dafür, dass man auch in der Alten Kirche die ambivalenten Züge dieser Figur als dominant ansehen konnte. Die aus dem Evangelium (und nur von hier) gewonnenen Daten wurden irgendwann im Lauf der ersten Jahrhunderte legendarisch erweitert. Die mittelalterliche Legenda Aurea65 erzählt, dass Nikodemus von Petrus und Johannes getauft und daraufhin von den Hohenpriestern seines Amtes enthoben, ausgepeitscht und halbtot zurückgelassen wurde. Sein Onkel Gamaliel, der berühmte jüdische Lehrer (Apg 22,3; vgl. 5,35ff.), habe ihn dann zu sich genommen und bei seinem Tod neben Stephanus in seinem eigenen Grab begraben lassen. In der Legenda Aurea ist dies im Rahmen einer visionären Erscheinung Gamaliels an einen palästinischen Presbyter Lucianus berichtet, in welcher Gamaliel für sich, seinen Sohn Abibas, den Erzmärtyrer Stephanus und Nikodemus bittet, dass ihre Gebeine an einen würdigeren Ort umgebettet würden. Diese legendarische Tradition ist deutlich älter: Schon Augustin verweist in seinen Johanneshomilien auf die Auffindung eines Grabes dieser Heiligen wohl im Jahr 415, deren Überreste dann in die Sion-Kirche in Jerusalem überführt worden seien.66 Seine Quelle ist ein Brief des Lucianus von Jerusalem,67 überliefert auch als 64

A.a.O., 76. Legenda Aurea CXII (über die Auffindung des Heiligen Stephanus), in: Jacobus de Voragine, Goldene Legende. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli, FChr Sonderband, Freiburg i. Br. 2014, 1387. 66 Augustinus, tract. in Io. 120,4. 67 Lucianus von Jerusalem, Epistula ad omnem ecclesiam (PL 41, 807–817, dort als Pseudo-Augustin-Schrift). 65

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Offenbarung des Stephanus, der wohl zunächst der Authentifizierung der Reliquienfunde (des Stephanus) in Kafar Gamala, 30 km nördlich von Jerusalem, dienen sollte. Diese Schrift hat eine äußerst verzweigte Überlieferung begründet.68 Durch sie und ihre Aufnahme im Zeugnis Augustins und bei Hieronymus69 wurde das Bild von Nikodemus als Zeugen und Märtyrer weit verbreitet. In der wohl im 5. Jahrhundert erfolgten literarischen Ausgestaltung der älteren Pilatusakten zum Nikodemusevangelium70 ist Nikodemus Gewährsmann eines dramatischen Augenzeugenberichtes über den Prozess Jesu und die Ereignisse nach seiner Auferstehung. Er habe die Verhandlungen zwischen den Hohenpriestern, den übrigen Juden und Pilatus aufgezeichnet. Nikodemus hält in diesem Text zwei Reden zur Verteidigung Jesu (EvNik 5,1) und dann zur Verteidigung der Glaubwürdigkeit seiner Anhänger, die seine Auferstehung bezeugen (EvNik 15,1). Der Text, der in seinem Schlussteil (EvNik 17–26) eine ausführliche Augenzeuen-Darstellung der Höllenfahrt Christi enthält, hat eine immense Verbreitung gefunden und ist in über 500 Handschriften in über 20 Sprachen belegt.71 Gelegentlich wurde das Werk sogar in Bibelhandschriften als Anhang nach den vier kanoni68 Dazu demnächst Jan Dochhorn, Die Auffindung der Reliquien des heiligen Erstmärtyrers Stephanus (erscheint in: Christoph Markschies / Jens Schröter [Hg.], Antike christliche Apokryphen, Band II: Apokalypsen). 69 Hieronymus, vir. ill. § 47 über Lucianus Presbyter. 70 Zu diesem Text und seinem komplizierten Überlieferungsbestand vgl. Monika Schärtl, Das Nikodemusevangelium, die Pilatusakten und die „Höllenfahrt Christi“, ACA I/1, 231–261, sowie Jörg Röder, Evangelium nach Nikodemus, wibilex, in: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/47929/ (zuletzt aufgerufen 30. 1. 2021, dort weitere Literatur). 71 Vgl. zur Verbreitung und Wirkung das reiche Material aus zahlreichen europäischen Kulturkreisen in Zbigniew Izydorczyk (Hg.), The Medieval Gospel of Nicodemus, Tempe 1997; weiter Richard Paul Wülcker, Das Evangelium Nicodemi in der abendländischen Literatur, Paderborn 1872; Achim Masser / Max Siller (Hg.), Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterlicher Prosa, Heidelberg 1987.

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schen Evangelien präsentiert,72 es wurde in mittelalterlichen Weltchroniken verarbeitet, in zahlreichen Sprachen in Dichtung und Erbauungsliteratur umgesetzt und in Passionsspielen dramaturgisch verarbeitet. Dort begegnet Nikodemus zusammen mit Joseph von Arimathia bei der Kreuzabnahme, wo er den Leib Jesu (meist eine Holzpuppe) der Mutter in den Schoß legt.73 In der christlichen Kunst begegnet Nikodemus dann ebenfalls in Szenen der Kreuzabnahme und Grablegung zusammen mit Joseph von Arimathia. Einer mittelalterlichen Legende zufolge war Nikodemus es auch, der nach Ostern das erste hölzerne Bild des Gekreuzigten fertigte (vgl. Joh 3,14).74 Im toscanischen Lucca glaubte man, im „Volto Santo“ (12. Jh.) eben jenes von Nikodemus gefertigte Kreuzesbild zu verehren.75 So wurde Nikodemus schließlich zur Identifikationsfigur für christliche Bildhauer, und kein Geringerer als Michelangelo hat sich selbst in seiner Pietà Rondanini (Florenz), eigentlich einer Kreuzabnahme, in der Figur des Nikodemus modelliert.76

72 Zbigniew Izydorczyk, Introduction, in: ders. (Hg.), The Medieval Gospel of Nicodemus. Tempe 1997, 1–20 (12f.) 73 Markus Rath, Die Gliederpuppe: Kult – Kunst – Konzept, Berlin 2016, 97f. 74 Legenda Aurea § 137 ist von einem wundertätigen Kreuzesbild berichtet, das Nikodemus gefertigt und sterbend Gamaliel gegeben haben soll, von wo es dann über viele Generationen in Syrien weitergegeben wurde (s. Legenda Aurea, hg. Häuptli, 1787). 75 Dazu Michele C. Ferrari, Il Volto Santo di Lucca, in: Giovanni Morello / Gerhard Wolf (Hg.), Il Volto di Cristo, Mailand 2000, 250– 275; Michele Bacci, Nicodemo e il Volto Santo, in: Michele C. Ferrari / Andreas Meyer (Hg.), Il Volto Santo in Europa. Culto e immagini del crocifisso nel medioevo, Lucca 2003, 15–40. 76 Jack Wasserman, Michelangelo’s Florence Pietà, Princeton / Oxford 2003. Sein Schüler Baccio Bandinelli modellierte sich auf seinem eigenen Sarkophag als Nikodemus mit dem toten Christus im Schoß (Nicole Hegener, Divi Iacobi eques. Selbstdarstellung im Werk des Florentiner Bildhauers Baccio Bandinelli, Berlin 2008, 363– 366.564–587), ebenso Tilman Riemenschneider in der Beweinungsgruppe in Maidbronn und der Kreuzabnahme in St. Sebald in Nürn-

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Im 16. Jahrhundert wurde das Nikodemusevangelium wohl aufgrund der Beliebtheit seiner HöllenfahrtDarstellung vom Tridentinum und auf weiteren Indizes verdammt und von den Reformatoren erfuhr es wegen seines legendarischen Charakters natürlich auch keine weitere Beachtung. Doch bis zu dieser Zeit hat das Bild des Nikodemus als des bekehrten Juden, Märtyrers und Heiligen eine enorme Wirkung auf Frömmigkeit, Dichtung und Kunst ausgeübt. In der Volksfrömmigkeit und in der Kultur des Abendlandes war so für geraume Zeit aus einer ‚Randfigur‘ des Evangeliums eine ganz zentrale Figur geworden. 2.2 Die negativere Sicht des Nikodemus seit der Reformationszeit Weniger positive Töne über Nikodemus gewannen wohl erst wieder in der Reformationszeit an Einfluss. Der Heilige und die legendarische Ausmalung seiner Biographie treten nun zurück und mit der Konzentration auf die Frage nach dem Glauben tritt auch die Frage nach dem Glauben bzw. dem Unglauben des Nikodemus wieder stärker ins Blickfeld. Das lässt sich schon in Martin Luthers Bezugnahmen auf die Gestalt des Nikodemus erkennen, die sich vor allem im Rahmen von Predigten finden. Da Joh 3,1–15 als Predigttext für Trinitatis prominent war, sind dazu einige Predigten erhalten, hingegen weniger Material zu den anderen johanneischen Stellen.77 berg, vgl. Corine Schleif, Nicodemus and Sculptors, The Art Bulletin 75 (1993), 599–626. 77 Vgl. dazu Erwin Mühlhaupt (Hg.), D Martin Luthers EvangelienAuslegung, IV, Göttingen 1954, 124–157 (zu 3,1–15) und 260–262 (zu 7,50–52). Zum Begräbnis Jesu nach Johannes begegnen kurze Bezugnahmen in Erwin Mühlhaupt (Hg.), D Martin Luthers EvangelienAuslegung, V, Göttingen 1950, 25.99, doch wird dort fast nur Joseph von Arimathia erwähnt (zumal im Hintergrund eine Harmonie der Evangelien steht, nicht Johannes). Eine Bemerkung könnte sich auf Nikodemus beziehen: „Er nahm bei hundert Pfund Myrrhe, sagt Joh

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Im Genus der Predigt wird Nikodemus zu unterschiedlichen Zwecken herangezogen. In Joh 7,50–52 ist er derjenige, durch den Gott die finsteren Pläne der Bösen zunichtemacht, aber als individuelle Figur findet er keine weitere Beachtung. Am breitesten ausgeführt ist die Reflexion in einer Predigt aus dem Jahr 1523,78 in der Nikodemus das in der Vernunft befangene Denken repräsentiert, das Christi Worte nicht erfassen kann. Er wird präsentiert als „unter den Besten ein Ausbund…, ein Fürst der Pharisäer, welche die Besten unter dem Volk waren,“ die doch, „wenn sie zum Höchsten kommen, ganz blind und tot sind, wie heilig, wie klug, gut und gewaltig sie (auch) angesehen werden. Denn je länger hier Christus mit Nikodemus umgeht, desto weniger versteht er ihn.“79 Nikodemus ist hier also ein Repräsentant der Vernunft, der Gelehrsamkeit und der Philosophie: „An Nikodemus sehen wir, daß die Vernunft und das allerbeste Vermögen der menschlichen Natur vor Gott blind und tot ist.“80 Nikodemus repräsentiert die menschliche Natur in ihren höchsten Qualitäten und Fähigkeiten,81 aber darin eben den alten Menschen,82 der das Wort nicht an(19,39). Das hat gewiß den Juden nicht gefallen und ist ein Wunder, daß sie ihn nicht gegriffen haben. Etliche sagen zwar, hernach sei er ergriffen worden und sie seien schändlich mit ihm umgegangen. Die Schrift sagt solches nicht, aber es ist wohl zu glauben, weil er den Verdammten so hoch geehrt hat.“ Hier zeigt sich, dass Luther das Nikodemusevangelium (mit seiner Erzählung von der Gefangennahme und Befreiung des Joseph von Arimathia) wohl kannte, ihm aber wenig Bedeutung beigemessen hat. 78 Mühlhaupt (Hg.), Evangelien-Auslegung IV (s. Anm. 77), 125– 128 (vgl. WA XII, 588,12–591.) 79 A.a.O., 125. 80 A.a.O., 125. 81 Ebd.: „Nikodemus … ist ein Exempel der Natur. Kann er das Werk Gottes nicht begreifen, der doch ein frommer, herziger Mann war, wie sollen’s denn Hannas und Kaiphas begreifen.“ 82 Das Kommen bei Nacht wird so kommentiert: „Daraus ist abzunehmen, daß er noch ein alter Hans gewesen ist, weil er bei Nacht geht, und noch nicht das wahre Licht gehabt hat. Denn wenn er ein neuer Mensch gewesen wäre, so wäre er am hellen Tag gekommen und hätte sich vor niemand geschämt.“ (A.a.O., 125f.)

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nehmen und nicht glauben kann. In einer anderen Predigt formuliert Luther noch generalisierender: „So ist dieser Mann ein Abbild aller, die weise und gelehrt sind, (begabt) mit der höchsten Vernunft, und die doch nicht verstehen, was Christus sagt.“83 Nikodemus ist der Gelehrte, in den Kategorien Luthers ein Philosoph oder ‚Scholastiker‘, dem Christi Worte verschlossen sind. Noch kritischere Töne finden sich in einer Predigt von 1526, in der Luther auch falsche Frömmigkeit geißelt. Nikodemus ist dort „der Frömmsten einer“, der kam, um Christus „seine Liebe zu zeigen“, aber denkt: „Christus wird froh darüber werden, daß ich komme, und es wird ihm wohltun, daß ein so großer Herr zu dem einfachen und armen Jesus kommt.“84 „Nikodemus kommt nicht, um zu lernen, sondern um mit Christus Freundschaft zu machen. Der aber verdammt ihn so jämmerlich, daß nichts Gutes mehr an ihm bleibt.“85 Der radikale Bruch wird hier betont – im Unterschied zur Tradition, die stets betonte, wie Jesus den Nikodemus der Belehrung würdigt. In ähnlicher Weise ist auch nach Johannes Calvins Auslegung an Nikodemus die Erkenntnis über das verderbte menschliche Wesen zu gewinnen86. Seine Augen seien vom eigenen Glanz geblendet gewesen.87 Daneben kommt Nikodemus als Jude wieder stärker ins Blickfeld: Calvin sieht in Nikodemus das Unverständnis der Schriftgelehrten repräsentiert,88 und die Furcht des Nikodemus vor Menschen wurde dann geradezu sprich83 A.a.O., 129 (vgl. WA XV 567,7ff.: „Ita hic vir est figura omnium, qui sapientes et docti sunt … et tamen non intellegunt, quid Christus dicat.“) 84 A.a.O., 134. 85 Ebd. 86 Calvini Opera XI/1, 83,1f. zu Joh 3,1: „de corrupta humani generis natura.“ 87 „Suo enim splendore oculos quasi perstirctos habebat“ (Calvini Opera XI/1, 83,24; zu Joh 3,2); vgl. auch den Kommentar zu 3,10. 88 Wilhelm H. Neuser, Johann Calvin: Leben und Werk in seiner Frühzeit 1509–1541, Göttingen 2009, 189.

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wörtlich, wenn ‚heimliche‘ Protestanten in der Schweiz, die ihren Glauben nicht öffentlich bekannten und vorgeblich römisch blieben, polemisch (u.a. von Calvin) als „Nikodemiten“ bezeichnet wurden.89 Diese kritische Linie setzt sich bei protestantischen Interpreten in der Neuzeit fort: In seiner Einübung im Christentum stilisiert Søren Kierkegaard Nikodemus als den Typus des Bewunderers, im Gegensatz zum Nachfolger90, und auch Karl Barth sah in ihm einen Mann von „hoffnungsloser Unbekehrbarkeit“ und warnte, man solle „aus der Nikodemusgeschichte keine Bekehrungsgeschichte machen.“91 Es ist hier nicht notwendig, die Bewertungen der Nikodemus-Figur in der Fülle der Kommentarliteratur zu untersuchen. Nikodemus eignet sich kaum für antijüdische Aussagen, zumindest ließen sich solche an andere johanneische Teiltexte sehr viel eher anschließen. Die negative Bewertung der Figur ist eher mit der Wahrnehmung eines epistemologischen Dualismus des Johannesevangeliums verbunden, und wo man diesen als eine weltanschauliche Vorgabe des Evangeliums wertete, musste Nikodemus als ‚outsider‘, als ‚Fleisch‘ und damit als Nicht-Glaubender gewertet werden, und die so bewerteten Textsignale aus Joh 3 werden dann auch in der Interpretation der späteren Stellen als dominant gewertet. 2.3 Nikodemus als Paradigma der Bekehrungspredigt Die Warnung Barths, man solle aus der Nikodemusgeschichte keine Bekehrungsgeschichte machen, ist freilich 89 Jean Calvin, Petit traicté monstrant que c’est que doit faire un homme fidele, cognoissant la verité de l’Evangile quand il estentre les papistes, s. l. 1543, vgl. Christian Link, Johannes Calvin: Humanist, Reformator, Lehrer der Kirche, Zürich 2009, 31–34. 90 Søren Kierkegaard, Einübung im Christentum, Jena 1924, 217ff. Vgl. auch Jean Zumstein, Revelation Strategy (s. Anm. 2), 2, der Nikodemus als „representative of the typical ‚lost admirer’” bezeichnet. 91 Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1–8), Karl Barth Gesamtausgabe II/4, Zürich 1976, 211.

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angesichts anderer, vorwiegend außerexegetischer Formen der Rezeption durchaus berechtigt. Denn eben dies ist in der Neuzeit immer wieder geschehen – weithin ohne Berücksichtigung der Passagen aus Joh 7 und 19 und auch nicht unter Heranziehung der frühchristlichen Legendenbildung. Ein Beispiel aus der religiösen Poesie ist das Poem des walisischen Dichters Henry Vaughan (17. Jh.), „The Night“, in der Nikodemus als „most blest believer“ erscheint, ein Bild des Mystikers, der in der Nacht die Sonne sieht.92 Sehr viel breiter ist freilich die Wirkung, die von dem theologischen Inhalt der NikodemusPerikope in Joh 3, ihrer Konzentration auf die ‚von oben erfolgende‘ oder eben auch ‚neue‘ Geburt, ausging. Mit der Betonung der Wiedergeburts-Erfahrung im Pietismus93 und in evangelikalen Traditionen wurde auch die Figur des Nikodemus Teil der fundamentalen Verkündigung über die Notwendigkeit (Joh 3,7) und Möglichkeit einer individuell erfahrbaren ‚Wiedergeburt‘, und auch wenn meist korrekt das Unverständnis des Nikodemus betont wird, ist seine Gestalt doch so mit dem Aspekt der Wiedergeburt verbunden, dass er selbst zum Paradigma dieser Erfahrung werden kann.94 Auf einer populär-schlichten Ebene begegnet diese Verwendung dann in einer Textversion eines spirituellen Songs der amerikanischen Erweckungsbewegung im 20. Jh., wenn bekenntnishaft in kindlich-fröhlicher Melodie angestimmt wird: „I have the Nicodemus newborn feeling down in my heart…“95. Von einem solchen ‚feeling‘ steht in den Texten natürlich nichts und der Gedanke, dass dieses der Person des Nikodemus zuteilgeworden 92 Henry Vaughan, Poems, Oxford 1914, 522f.; vgl. Mark Edwards, John, Blackwell Bible Commentaries, Malden 2004, 45. 93 Vgl. Friederike Nüssel, Art. Wiedergeburt III. Dogmatisch, TRE 36 (2004), 14–20. 94 Ein einflussreiches Beispiel ist das millionenfach verbreitete Buch des amerikanischen Evangelisten Billy Graham, How to be Born again?, Nashville 1977, 8. 95 Vgl. das Lied online auf https://www.hymnal.net/en/hymn/c/60.

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sei, rückt diese Figur ganz in den Kontext einer neuzeitlich-evangelikalen Frömmigkeitserfahrung. So wird Nikodemus zum Paradigma einer ‚Wiedergeburt‘, die ihm zumindest nach der Szene in Joh 3 nicht zuteilwerden konnte, aber für die Leserinnen und Leser des Evangeliums im Glauben erfahrbar ist. 3. Von der Rezeption zurück zum Text und seinen möglichen Lektüren 3.1 Die Wirkungsgeschichte und die Daten des Textes Die Wirkungsgeschichte dieser Figur zeigt Wege und Irrwege der Deutung, Spekulationen über den Text hinaus, Einflüsse theologischer Paradigmen und Gewichtungen in der Textwahrnehmung. Sie demonstriert, dass der Sinn des Textes gerade im Blick auf komplexe Figuren nicht eindeutig ist, sondern in der Lektüre und Wiederlektüre gebildet wird und dass dabei die Zuordnung und Gewichtung der textlichen Bestandteile, das Füllen der Unbestimmtheitsstellen, entscheidenden Einfluss hat und zu je unterschiedlichen Resultaten führt. a) Wird der Anschluss an Joh 2,25 stark gewichtet, dann ist das Gespräch Joh 3,1ff. kaum als eine erfolgreiche Belehrung des Nikodemus zu verstehen, vielmehr bleibt er im Unverständnis und Jesus verschließt sich ihm, weil er ihn durchschaut. b) Wird die Einführung des Nikodemus als Ἰουδαῖος und Pharisäer als dominant angesehen, dann kann die semantische Konnotation dieser Termini im weiteren Verlauf des Evangeliums sein Bild trüben. Ähnlich kann auch das Attribut des Gelehrten und Lehrers für ein später besonders antiintellektuell expliziertes Glaubensverständnis (bei Luther) Nikodemus zum Bild des Vertreters einer Weltweisheit machen, die Gottes Wirken gerade nicht erfasst und die in Gottes Wirken zur Torheit wird. c) Setzt man für den johanneisch ‚richtigen‘ Glauben eine bestimmte Form der christologischen Aussage voraus,

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dann muss die Anrede des Nikodemus an Jesus natürlich defizient und er als ein Nicht-(richtig)-Glaubender oder sogar als ein bloßer Schmeichler oder Heuchler erscheinen. d) Wird der in Joh 3,6f. ausgesprochene epistemologische Dualismus als weltanschauliche Grundlage des Evangeliums betont, dann scheint Nikodemus auf die Sphäre des Fleisches festgelegt und ein Übergang in ein Verständnis der geistlichen Dinge oder des Gottesreichs unmöglich zu sein. Dies ist um so mehr der Fall, wenn Ausleger eine strikte Erwählungs- oder Prädestinationslehre zugrunde legen. e) Wird Nikodemus hingegen als Adressat der Verkündigung von der Heilswirksamkeit des Kreuzes wahrgenommen, dann ist auch für ihn die Möglichkeit einer ‚neuen Geburt‘ nicht ausgeschlossen, und es kann von ihm gesagt werden, dass er aus der Finsternis „zum Licht“ gekommen ist (3,21). f) Wird der Einsatz des Nikodemus für Jesus gegenüber seinen Kollegen im Rat und erst recht sein Einsatz für ein ehrenvolles Begräbnis Jesu wahrgenommen, dann erscheint er zumindest als Sympathisant und heimlicher Jünger, am Ende evtl. sogar als Bekenner. g) Rechnet man nicht mit einem statischen Charakter, sondern mit einer möglichen Entwicklung, dann lassen sich die Differenzen zwischen den drei Szenen überbrücken, wobei der Text keinen Hinweis darauf gibt, wann und wodurch bei Nikodemus eine Änderung seiner Haltung eingetreten sein soll. h) Ein spekulatives Weiterdenken der letzten Szene konnte Nikodemus für frühkirchliche Leser zum Märtyrer werden lassen; die Verbindung mit der in Apg 5 ähnlich gezeichneten Figur des Gamaliel konnte später zu einer Zusammenschau des Geschicks von Gamaliel, Nikodemus und Stephanus führen. Sein Mitwirken bei Jesu Grablegung führte (vielleicht in Verbindung mit Joh 3,14) dann sogar dazu, dass Nikodemus mit der bildhaften Darstellung des Gekreuzigten in Verbindung gebracht wurde.

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Viele dieser Lesarten sind möglich, wenngleich nicht alle die textlichen Daten in angemessener Gewichtung aufnehmen. Letztlich ist es aber auch in der Fluchtlinie des Textes, seine Daten oder eben die Bewegung einer solchen narrativen Figur weiterzuspinnen. Problematisch wäre es nur, bei der erzählten Figur zu verharren. Nicht das Geschick des Nikodemus, sondern der Glaube der Leserinnen und Leser ist textlich intendiert, und dieser Glaube kann aufgrund der johanneischen Darstellung weit über das hinausgehen, was Nikodemus als einer Gestalt der Zeit des Wirkens Jesu, vor der österlichen Erkenntnis, möglich gewesen wäre. Wie alle Zeitgenossen Jesu, einschließlich seiner Jünger, bleibt auch Nikodemus hinter der johanneischen Christuserkenntnis weit zurück. Andererseits kann er doch als Kronzeuge einer jüdischen Nobilität gelten, der letztlich belegt, dass die Wahrheit auch für ‚die Juden‘ in Christus liegt und dass auch ihnen ein Weg zum Glauben offensteht. Ob sein Exempel in der frühesten Zeit der Verbreitung des Evangeliums tatsächlich noch jüdische Leser zur Nachfolge Jesu ermutigt hat, ob er schon im johanneischen Umfeld als Modell für ‚heimliche‘ Glaubende aus den Ioudaioi fungieren konnte, wissen wir nicht. Später diente er in seiner Funktion als Kronzeuge wohl eher zur Selbstvergewisserung einer primär heidenchristlichen Kirche. Die vielfältige Wirkungsgeschichte belegt eindrücklich die Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten in der textlichen Figur des Nikodemus und sie bietet die Chance nachzuvollziehen, durch welche Prämissen und Lektürestrategien die unterschiedlichen Bilder zustande kommen. Insofern kann die Erforschung der Wirkungsgeschichte eines Textes bzw. bestimmter Textelemente ein wesentlicher Beitrag zum Verstehen des Textes, seiner Sinnpotentiale und seiner Funktion im Blick auf unterschiedlich vorgeprägte Leserinnen und Leser sein.

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3.2 Der Fortschritt durch narratologische Einsichten Wie haben narratologische Einsichten die Interpretation weitergeführt und wie lassen sie sich mit den Einsichten der älteren Johannesauslegung verbinden? a) Deutlich ist, dass die Figur des Nikodemus nicht aus einer nur sehr hypothetisch zu erhebenden historischen Referenz zu verstehen ist. Die erzählte Figur ist wirkungsvoller, als jede reale Figur der Geschichte Jesu es hätte sein können. b) Die narratologischen Ansätze haben zugleich den Blick geschärft für den Zusammenhang der drei Szenen, in denen Nikodemus erwähnt ist und die je durch Rückverweise miteinander verbunden sind. Die Einordnung der Figur kann nicht ausschließlich durch Joh 3,1–10 geschehen. Die Erzählung ist vielmehr bis zum Ende, hier bis zum Begräbnis des Gekreuzigten durch Nikodemus zu verfolgen. c) Dadurch wird aber auch deutlich, dass die Aussagen in Joh 3, die das Unverständnis des Nikodemus präsentieren und einen epistemologischen Dualismus einführen, nicht in erster Linie als Aussagen über die Person des Nikodemus gedacht sind, sondern funktional auf die johanneischen Leserinnen und Leser zielen. Der Text ist nicht damit am Ziel, dass er seiner Leserschaft zu verstehen gibt, dass Nikodemus eben ‚Fleisch‘ und damit ‚outsider‘ ist, sondern erst damit, dass die Leserinnen und Leser die Herausforderung annehmen, dort, wo der „Lehrer Israels“ unverständig verstummt, selbst dem Text weiter zu folgen und seine Belehrung über die Sendung Jesu und das Kreuz zu hören, ja selbst – wie Nikodemus – zu Jesus zu kommen und zu glauben. Die dualistischen Aussagen sind nicht ein weltanschaulicher Rahmen, der die Aussagen des Evangeliums begrenzen könnte, sondern ein kommunikatives Mittel, mit dem der Text auf seine Leserschaft einwirken und ihr ein Verständnis der Person Jesu und des Heils zu vermitteln vermag. d) Die in Joh 3,1–10 zentrale theologische Aussage, dass der Glaube bzw. die ‚neue‘ Geburt aus dem Geist ein für

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den Menschen unverfügbares Geschenk sind, etwas, das von Gott her kommend das menschliche religiöse Wissen außer Kraft setzt und das menschliche Vermögen übersteigt, ist damit keineswegs relativiert. Gerade an der Figur des Nikodemus wird dies deutlich, und wenn er später in irgendeiner Weise als Nachfolger Jesu verstanden werden soll, dann ist deutlich vorausgesetzt, dass dies nicht als Folge seiner eigenen Gelehrsamkeit oder religiösen Praxis zu verstehen ist, sondern nur in Überwindung seiner menschlichen Natur, in einer (nicht näher einzuordnenden) Erneuerung seiner Existenz gründen kann. e) Generell ist aber stets zu beachten, dass Nikodemus hier eine literarische Figur bleibt, die zum Verstehen der Leserinnen und Leser beitragen, aber nicht als konkrete geschichtliche Person Interesse wecken oder gar im Blick auf ihren Glauben theologisch ‚beurteilt‘ werden soll. Die in der Auslegungsgeschichte erfolgten Ausmalungen sind nicht illegitim, weil im Nacherzählen oder in der homiletischen Textverwendung notwendigerweise Ausmalungen, Kontextualisierungen oder Neuinszenierungen eingetragen werden. Doch bleiben diese Imagination und sind nicht Abbild einer realen Biographie, und jede Auslegung der erzählten Figuren muss dies methodologisch beachten. 3.3 Ein persönliches Fazit Die vorgeführten Überlegungen sollen auch dokumentieren, dass und wie ich selbst in meiner Auslegung des Johannesevangeliums weitergelernt habe.96 Es geht in 96 Vgl. Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie 3: Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, WUNT 110, Tübingen 2000, 255–259, wo ich noch vom „bleibende[n] Unverständnis des Nikodemus“ spreche (255); vgl. auch den noch älteren Beitrag ders., „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat…“ Zur frühjüdischen Deutung der ‚ehernen Schlange‘ und ihrer christologischen Rezeption in Johannes 3,14f., in: Martin Hengel / Hermut

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Joh 3,1–10 nicht nur um einen ‚Anlauf‘ zu den Spitzenaussagen in 3,14f. und 3,16. Die Figur des Nikodemus ist auch nicht nur ein Mittel, durch das die Leserschaft dann im Kontrast zur Erkenntnis der soteriologischen Bedeutung Jesu gelangen sollte. Sie ist zugleich ein Paradigma, das einen Weg zu Jesus hin eröffnet, vom bloßen Interesse und Beeindrucktsein zu einer im Akt liebender Fürsorge sich ausdrückenden Zugehörigkeit, vom Unverständnis zu einer eigentümlichen Wahrnehmung der königlichen Würde des Gekreuzigten, ja vom Unglauben zu einem eigentümlich praktizierten Glauben. Auch dieser Weg der literarischen Figur ist ein Mittel, das auf die Leserinnen und Leser des Evangeliums zielt und ihnen einen Weg der Erkenntnis oder zum Glauben vorstrukturiert. Die Konfrontation und das Rollenangebot stehen somit als literarische Mittel nebeneinander und beide sind dem Ziel der Vermittlung einer theologisch reflektierten christologischen und soteriologischen Erkenntnis zugeordnet. Der Facettenreichtum des vierten Evangeliums ist größer und die Versuche, die Bandbreite seiner Lektüren einzugrenzen und die Interpretation zu ‚vereindeutigen‘, sind zwar theologisch verständlich, aber dem Text nicht immer angemessen. Auch nach dreißig Jahren intensiver Beschäftigung bietet mir Johannes immer wieder neue Einblicke. Im Blick auf die Synthese von narratologischer Wahrnehmung und theologischer Auslegung hat Jean Zumstein durch seine Beiträge wesentlich zu meiner eigenen Horizonterweiterung beigetragen.

Löhr (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum, WUNT 73, Tübingen 1994, 153–205.

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„Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde“ (Joh 16,26) – Zur Beziehungsstruktur im Bittgebet in den Abschiedsreden

„Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde“. So lautet eine überraschende Formulierung im Munde Jesu in Joh 16,26b, denn sie steht in einer gewissen Spannung mit der intercessio Jesu, die an anderen Stellen des Neuen Testaments zur Sprache kommt (1Joh 2,1). Vertritt Jesus die Gläubigen etwa nicht im Gebet? Welcher Sachverhalt drängt in der Erzählung Jesus dazu, diese etwas umständliche Negativformulierung anzuführen? Diese Wendung lässt aufhorchen, nicht in ihrer Aussage an und für sich, sondern weil sie auf eine tieferliegende Frage zu antworten scheint. Offenbar muss eine falsche Ansicht korrigiert werden, die das persönliche Bittgebet der Jünger Jesus delegiert. Dem hält Jesus hier die Liebe des Vaters zu den Jüngern entgegen (Joh 16,27). Die Jünger können sich selbst an den Vater wenden. Im Kern soll also die Beziehungsstruktur im Bittgebet präzisiert werden. Zu dieser Beziehungsstruktur gehört auch der Heilige Geist. Zwar ist in Joh 16,25–27 selbst nicht explizit von ihm die Rede, dennoch stehen diese Verse im Zusammenhang mit den Parakletsprüchen. Auf diese Verbindung weist auch Jean Zumstein in seinem Kommentar zu Joh 16,25 hin: „Obwohl der Begriff des Parakleten in unserem Abschnitt nicht erscheint, muss die Verheißung in V. 25b wohl im Zusammenhang

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mit 14,26 und 16,12–15 verstanden werden. Mit ἀπαγγέλλειν klingt das Verb ἀναγγέλλειν an, das in 16,13.14.15 das Tun des Parakleten beschrieben hatte.“1 Und „jene Stunde“, für die diese Verheißung gilt, ist mit „jenem Tag“ zu verbinden, welcher den Rahmen um diese Aussage bildet und die Thematik des Bittgebets zum Inhalt hat (Joh 16,26). Und „jene Stunde“, für die diese Verheißung gilt, ist mit „jenem Tag“ zu verbinden, welcher den Rahmen um diese Aussage bildet und die Thematik des Bittgebets zum Inhalt hat (Joh 16,26). Demzufolge soll im vorliegenden Beitrag die Beziehungsstruktur von Vater, Sohn, Heiligem Geist und Jüngern im Bittgebet näher untersucht werden, um letztlich eine Interpretation dieser überraschenden Formulierung in Joh 16,26 bieten zu können. In drei Schritten nähern wir uns dabei diesem Ziel. Im ersten Teil untersuche ich, wie das Bittgebet der Jünger in den Abschiedsreden in nachösterlicher Perspektive zur Sprache kommt. Von besonderem Interesse sind dabei die Beziehungen, wie sie in diesen Belegstellen beschrieben werden. Danach wende ich mich im zweiten Teil den Parakletsprüchen zu. Diese sind besonders bedeutsam, um das Verhältnis der nachösterlichen Gemeinde zu Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist zu beschreiben. Im dritten Teil führe ich die gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich des Bittgebets der Jünger und der Beziehungsstruktur in den Parakletsprüchen zu einer Interpretation von Joh 16,26 zusammen. 1. Das Bittgebet der Jünger 1.1 Die fünf Belegstellen Fünf Mal ist in den Abschiedsreden vom Bittgebet der Jünger die Rede: Joh 14,13f.; 15,7; 15,16; 16,23f. und 16,26f. Diese fünf Stellen sind verteilt auf jene drei 1 Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016, 618.

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Hauptabschnitte, in die der Text gewöhnlich gegliedert wird: 13,31–14,31; 15,1–16,4a; 16,4b–33.2 Zudem sei bereits an dieser Stelle erwähnt, dass auch die Parakletsprüche eine ähnliche Verteilung aufweisen, was ein erster Hinweis für die Verbindung der beiden Themen ist.3 An allen fünf Stellen lassen sich unterschiedliche Beziehungsstrukturen feststellen. Die auffälligste Differenz liegt im Empfänger der Bittgebete. In Kapitel 14 wenden sich die Jünger im Bittgebet an Jesus, der auch die Erfüllung schenkt, wodurch der Vater im Sohn verherrlicht wird. In Kapitel 15 wird das Bleiben in Jesus hervorgehoben. Die Bitte ist in Vers 7 aber nicht an einen bestimmten Empfänger gerichtet. Erst im zweiten Spruch in Kapitel 15 richten dann die Jünger ihre Bitte an den Vater, der auch derjenige ist, der gibt. Ebenso wendet sich die Bitte der Jünger in Kapitel 16 zuerst an den Vater, worauf einige Verse später die überraschende Aussage zum Bittgebet in Vers 26 folgt. Diese Beobachtungen legen nahe, dass es in den Belegstellen einen gewissen Interpretationsspielraum gibt, wie die Beziehungen im Bittgebet beschrieben werden können. Dieses Beziehungsnetz wird noch komplizierter, wenn man die Wendung „im Namen Jesu“ bzw. „in seinem Namen“ berücksichtigt, die an vier von fünf Stellen zu finden ist. Dabei sind auch hier Unterschiede zu erkennen. In 14,13f. bitten die Jünger Jesus in seinem Namen. In 15,16 bitten sie den Vater, aber im Namen Jesu. Und in 16,23 bitten die Jünger den Vater, der im Namen Jesu gibt, wenn man die Worte ἐν τῷ ὀνόµατί µου, wie ich es 2 Die Abgrenzung der Redeeinheiten wurde in der Forschung unterschiedlich vorgenommen. Dargestellt bei Andreas Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995, 56–59. 3 Beobachtet auch von Andrew L. Lincoln, God’s Name, Jesus’ Name, and Prayer in the Fourth Gospel, in: Richard N. Longenecker (Hg.), Into God’s Presence. Prayer in the New Testament, Grand Rapids / Cambridge 2002, 155–180, hier 173.

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vorschlage, gegen Nestle-Aland 28. Auflage auf das Geben des Vaters bezieht. Es gibt nämlich zwei textkritische Varianten, wo die Wendung ἐν τῷ ὀνόµατί µου im Text eingefügt wird. Entweder ist sie auf das Bitten der Jünger bezogen (so u.a. die Kodizes A C3 D), womit natürlich die Parallele zu Joh 14,16 und 15,16 und besonders zum anschließenden Vers in 16,24 ersichtlich ist. Oder die Wendung steht im Anschluss an das Geben des Vaters (so die Kodizes ‫ א‬B und C*), womit ein neuer Aspekt eingeführt wird, der sich aber mit dem Senden des Heiligen Geistes durch den Vater im Namen Jesu in Joh 14,26 vergleichen lässt. Eine dritte Variante bietet John Bernard, der zwar die Wendung im Anschluss an das Geben des Vaters für möglich hält, aber grammatikalisch dennoch auf das Bitten der Jünger bezieht.4 Die Sachlage ist uneindeutig, weshalb unterschiedliche Schlüsse gezogen werden – so auch in den beiden Zürcher Dissertationen von Andreas Dettwiler und Konrad Haldimann.5 Bruce M. Metzger kommentiert zur Stelle: „A majority of the Committee preferred the reading that places ἐν τῷ ὀνόµατί µου between the verbs αἰτήσητε and δώσει, because (a) the external support for this reading is more diversified, whereas the witnesses that support the order δώσει ὑµῖν ἐν τῷ ὀνόµατί µου are chiefly Egyptian, and (b) the context has to do with prayer, which the evangelist elsewhere links with the name of Jesus (14.13, 14; 16.15, 24, 26).“6 Diese Lesart wird aber erst seit NA26 bevorzugt. Ebenso zeigt sich in den Übersetzungen die unterschiedliche Lesart. Die meisten deutschsprachigen Übersetzungen folgen NA27 bzw. NA28 (so Zürcher 2007, Luther 2017, Elberfelder). Die neueste Revision der Einheitsübersetzung (2016) wählt nun auch im Unterschied zur älteren Revision von 1980 diese Variante. Andere binden dagegen die Wendung an das Geben des Vaters, wie z.B. die Menge-Übersetzung oder die französischen Übersetzungen „La Nouvelle Bible Segond“ (2002) und „Bible de Jérusalem“ (1973). Textkritisch scheint mir diese Variante besser bezeugt. Zudem ist sie als schwierigere Lesart vorzuziehen, deren Umstellung leichter als Angleichung an 15,16 und den anschließenden Vers 16,24 erklärt werden kann. So entscheidet sich

4 John H. Bernard, Gospel According to St. John, Volume II: 8–21, ICC, Edinburgh 1928, 517f. 5 Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten (s. Anm. 2), 249 (Anm. 127) und Konrad Haldimann, Rekonstruktion und Entfaltung. Exegetische Untersuchungen zu Joh 15 und 16, ZNW 104, Berlin / New York 2000, 369–370, hier Anm. 167. 6 Bruce M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 21994, 211.

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auch die neue textkritische Ausgabe „The Greek New Testament“ vom Tyndale House in Cambridge.7

Letztlich ist entscheidend, dass eine inhaltliche Interpretation auch in dieser ungewöhnlichen Stellung möglich ist. Doch dazu muss man genauer nach der Bedeutung der Wendung „im Namen Jesu“ fragen, die nach wie vor kontrovers gedeutet wird. Sie stellt wohl kaum eine (magische) Anrufung dar, was besonders im Blick auf Joh 16,26 Schwierigkeiten bereiten würde. Denn wozu müssten sie den Namen Jesu anrufen, wenn Jesus nicht sagen will, dass er für sie bitten wird, weil der Vater selbst sie liebt? Zudem passt ebenfalls nicht dazu, dass der Vater im Namen Jesu das Erbetene gibt, der kaum den Namen des Sohnes hierfür anrufen muss (14,26; 15,16; 16,23). Darum vermag diese ursprünglich von Wilhelm Heitmüller religionsgeschichtlich hergeleitete These nicht zu überzeugen.8 Naheliegender ist vom Kontext der Abschiedsreden, dass der Name Jesu mit dem Namen Gottes zu verbinden ist. Der Name Jesu ist äquivalent zum Namen Gottes, denn der Sohn ist im Vater und der Vater im Sohn (Joh 14,11).9 Die Funktion der Wendung im Bittgebet ist damit aber noch nicht geklärt. Der Name steht oft für die Person insgesamt, was alttestamentlich breit belegt ist (vgl. „seinen Namen heiligen“, Lev 22,32 u.a.), sich aber auch im Johannesevangelium mehrfach belegen lässt, zum Beispiel mit der Wendung „Glauben 7 Dirk Jongkind / Peter J. Williams (Hg.), The Greek New Testament, Wheaton / Cambridge 2017, 216. 8 Vgl. Wilhelm Heitmüller, Im Namen Jesu. Eine sprach- und religionsgeschichtliche Untersuchung zum Neuen Testament, Göttingen 1903. Diese These wird aufgegriffen bei Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2015, 628. Dagegen aber auch Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 82. 9 Vgl. Charles A. Gieschen, The Divine Name that the Son Shares with the Father in the Gospel of John, in: Benjamin E. Reynolds / Gabriele Boccaccini (Hg.), Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism. Royal, Prophetic, and Divine Messiahs, Ancient Judaism and Early Christianity 106, Leiden / Boston 2018, 387–410 und Lincoln, God’s Name (s. Anm. 3), 177–179.

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an seinen Namen“, womit eindeutig der Glaube an die Person Jesus Christus gemeint ist (Joh 1,12; 2,23 und 3,18).10 Bisweilen kann aber auch in der Wendung „im Namen“ die Autorisierung bzw. Gesandtschaft enthalten sein, wie es in Joh 5,43 vorliegt, wenn Jesus sagt, dass er im Namen des Vaters gekommen sei.11 Wenden wir diese generellen Beobachtungen auf die genannten Stellen an, so beschreibt der Verweis auf den Namen Jesu die personale Beziehung zu ihm.12 Im Namen Jesu zu beten heißt dann, in persönlicher Abhängigkeit von ihm zu beten, womit auch der Aspekt der Autorisierung angedeutet sein kann.13 Den Gebeten, die aus der Beziehung mit Jesus entspringen, ist somit Erhörung verheißen.14 Bezeichnend ist darum, dass genau dort, wo 10 In Joh 12,28 steht der Name ebenso für den Vater selbst; in 17,6 bedeutet das „Offenbaren des Namens“ das Offenbaren der Person; in 17,11f. wiederum bedeutet das „Bewahren im Namen“ das Bewahren im Vater; in 17,26 bedeutet das „Kundtun des Namens“ das Kundtun der Person; und in 20,31 schließlich hängt das „Leben haben in seinem Namen“ mit dem Glauben an die Person Jesu Christi zusammen. 11 Ebenso beschreibt in Joh 10,25 und 12,13 die Wendung „im Namen“, in wessen Autorität jemand auftritt. 12 Treffend herausgearbeitet auch bei Oscar Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament. Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen, Tübingen 21997, 133–136, der in der Wendung „im Namen Jesu Christi“ eine Zugehörigkeit zu Christus ausgedrückt sieht. Zu Joh 14–16 spezifisch erläutert er: „Gewiss ist an die Berufung auf Christi Werk zu denken. Jedoch ist die Beziehung auf die verbleibende Anwesenheit Jesu bei den betenden Jüngern vorherrschend“ (134). 13 Vgl. Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium. III. Teil Kommentar zu Kap. 13–21, HThK IV/3, Freiburg / Basel / Wien 1975, 82. Dieser Aspekt kann aber nicht ausschließlich gelten, weil das Senden des Vaters (14,26) und Geben des Vaters (16,23) nicht im Sinne der Ermächtigung verstanden werden kann. Der Vater sendet aber den Geist und antwortet auf Bitten aus der Gemeinschaft mit dem Sohn. 14 Auch beobachtet von Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 13), 82: „In dieser Eigentümlichkeit des Jüngerverhältnisses zu Jesus und zum Vater dürfte der Grund liegen, warum sie ‚im Namen Jesus‘ bitten sollen.“

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diese personale Beziehung zu Jesus hervorgehoben wird, das Bittgebet nicht zusätzlich mit dieser Wendung ergänzt wird. So lautet Joh 15,7: „Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet, was immer ihr wollt, und es wird euch geschehen.“ Offensichtlich umschreiben gerade das Bleiben in Jesus und das Bleiben seiner Worte in den Jüngern die Bedingung, was an anderer Stelle mit der Wendung „im Namen Jesu“ ausgedrückt wird, so dass sie an dieser Stelle nicht erwähnt werden muss. Zu diesem Verständnis der Wendung passt letztlich das Geben des Vaters im Namen Jesu in 16,23 bzw. das Senden des Parakleten in 14,26 im Namen Jesu. Die Gaben Gottes sind für die Jünger nur in der Beziehung zum Sohn zugänglich und können nicht in einer von Jesus unabhängigen Beziehung zu Gott erbeten werden.15 1.2 Zwischenfazit 1 Damit sind die fünf Stellen in keiner Weise vollständig beschrieben. Jedoch soll ein Zwischenfazit mit Blick auf die vorliegende Fragestellung nach der Beziehungsstruktur gezogen werden. Erstens zeigt sich, dass zwischen der Aussage zum Bittgebet in Kapitel 14 und den Aussagen in Kapitel 15 und 16 ein Unterschied besteht. Während zuerst Jesus direkt gebeten wird, ist es in Kapitel 15 und 16 der Vater, der gebeten wird. Zweitens zeigt sich aber, dass die Beziehung zum Sohn entscheidend für das Bittgebet ist, was sich in der Wendung „in seinem Namen“ manifestiert, die in allen Teilen der Abschiedsreden zu finden ist. Im Namen Jesu sollen also die Jünger bitten und in seinem Namen wird der Vater die Bitten erhören. Im Zentrum steht letztlich die Beziehung der Jünger zu Jesus. 15 Dem entspricht die Aussage in Joh 3,36: „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm.“

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Damit zeichnet sich an dieser Stelle eine Verständnisschwierigkeit ab, die sich hinsichtlich der Stellung Jesu ergibt. An wen sollen sich die Jünger nun im Bittgebet richten? An den Vater oder an den Sohn oder an den Vater im Namen des Sohnes? Wie ist aber das Gebet „im Namen Jesu“ zu verstehen? Und wie ist überhaupt diese personale Beziehung zum erhöhten Jesus in nachösterlicher Zeit möglich? Die überraschende Formulierung in Joh 16,26 passt zu diesen Fragen. Doch bevor wir uns dieser Aussage genauer widmen, müssen wir zuerst die Beziehungsstruktur in den Parakletsprüchen zur Kenntnis nehmen, die ja gerade die Verbindung zum erhöhten Jesus klären wollen. 2. Die Beziehungsstruktur in den Parakletsprüchen 2.1 Die Parakletsprüche Der erste Parakletspruch folgt direkt auf die erste Erwähnung der Bittgebete der Jünger. Zwar ist damit ein neuer Abschnitt erkennbar, wie es bereits in den Kodices Sinaiticus und Alexandrinus markiert ist. Inhaltlich jedoch wird die Thematik der Fürbitte fortgesetzt. Nun sind es aber nicht mehr die Jünger, die bitten, sondern Jesus selbst, der bittet. „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten; und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, damit er mit euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und ihn nicht erkennt. Ihr erkennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.“ (Joh 14,15–17) Und etwas kürzer, aber von der Beziehungsstruktur her vergleichbar, lesen wir im zweiten Parakletspruch in Joh 14,26: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, jener wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“

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Im ersten Parakletspruch wird von Jesus gesagt, dass er den Vater bitten werde.16 Interessanterweise fehlt das Objekt, worum Jesus den Vater bitten will. Der Inhalt der Bitte wird lediglich in der Fortsetzung ersichtlich, nämlich in der Verheißung der Gabe des Parakleten. Somit steht hier nicht das „Was“ der Bitte zur Debatte. Es scheint, dass der Paraklet die umfassende Antwort auf das Bitten Jesu ist. An die Stelle der Fürbitte Jesu tritt im zweiten Parakletspruch das Senden in seinem Namen, wie ich es bereits vorher angesprochen habe. Auch hier wird somit weiter untermauert, dass mit dem Namen die Person gemeint ist, so dass das Geben des Vaters, das auf der Bitte des Sohnes beruht (14,15), als ein Senden in dessen Namen umschrieben werden kann (14,26). Mit der Gabe des Parakleten wird das Beziehungsgeflecht um eine neue Komponente ergänzt. Jesus bittet den Vater, der den Jüngern einen anderen Parakleten (ἄλλον παράκλητον) schenken wird, womit eine neue Person eingeführt wird, die von Jesus und dem Vater zu unterscheiden ist. Dieses personale Verhältnis des Geistes zu den Jüngern wird im Anschluss mit verschiedenen Wendungen umschrieben, wie µεθ᾽ ὑµῶν, παρ᾽ ὑµῖν, oder πρὸς ὑµᾶς. Μετά mit Genitiv und dem Verb εἰµί beschreibt eine enge personale Gemeinschaft, die eine schützende und helfende Konnotation hat.17 Παρά mit Dativ wiederum legt den Fokus auf die räumliche Nähe zwischen den Personen (14,17). Darauf wird dieses Bild noch intensiviert mit „in euch“ (ἐν ὑµῖν). Somit wird aus dem relationalen Gegenüber von Heiligem Geist und Jünger eine Gemeinschaft der Einwohnung, womit auch der individuelle Charakter dieser Beziehung ins Blickfeld rückt. Diese individuelle Sicht wird in Vers 23 dann weiter beschrieben, wenn es heißt πρὸς αὐτόν und παρ᾽ αὐτῷ. 16 Dabei ist zu beobachten, dass für das Bitten der Jünger in den bisher untersuchten Stellen der Begriff αἰτέω verwendet wird, während das Bitten Jesu mit ἐρωτάω bezeichnet wird, wie es die Jünger „an jenem Tag“, wie in Joh 16,23 geschrieben, nicht mehr tun werden. 17 So Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 13), 85.

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Dennoch sollte die individuelle Sicht nicht die gemeinschaftliche Perspektive verdrängen. Denn das Bild der Waisen, die zurückgelassen werden, wird auf die Jünger insgesamt angewendet, weshalb dort verheißen wird, dass Jesus „zu euch“ (πρὸς ὑµᾶς) kommen wird. Diese Formulierung verbietet sogleich wieder eine mystische unio mit dem Geist. Denn πρός mit Personalpronomen beschreibt eine Beziehung, manchmal auch nur eine Bezugnahme, nicht aber den Gedanken einer Verschmelzung der beiden personalen Größen, die aus der Formulierung „in euch“ gefolgert werden könnte. Jedoch hat der Paraklet keine aktive Rolle im Bittgebet selbst, sondern stellt in Joh 14,15–17 lediglich den Inhalt der Gebetserhörung dar. Dieses Gefüge bekommt aber im dritten und vierten Parakletspruch ein neues Gepräge. In Joh 15,26 heißt es: „Wenn der Beistand gekommen ist, den ich euch vom Vater senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, wird er über mich Zeugnis ablegen.“ Und in Joh 16,7 spricht Jesus: „Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist zu eurem Vorteil, dass ich weggehe, denn wenn ich nicht weggehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden.“ In diesen Parakletsprüchen werden weitere Unterschiede zwischen Kapitel 14 und den Kapiteln 15 und 16 ersichtlich. In Kapitel 14 bitten die Jünger Jesus, in Kapitel 15 und 16 richten die Jünger jedoch das Gebet an den Vater, wie wir bereits gesehen haben. In umgekehrter Weise sendet aber Jesus den Parakleten in Joh 15,26 und 16,7 und nicht der Vater, wie in Joh 14,13 und 14,26. Während also im Bittgebet in Kapitel 14 Jesus die handelnde Person ist und die Gebete erhört, in Kapitel 15 und 16 aber der Vater, so ist die Bewegung in den Parakletsprüchen genau umgekehrt. In Kapitel 14 ist es der Vater, der den Heiligen Geist gibt und sendet, in Kapitel 15 und 16 aber Jesus. In keinem Teil der Abschiedsreden liegt demnach das Handeln ganz auf der einen oder auf der anderen Person. Durch diese Verschränkung werden

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die Unterschiede in einem gewissen Sinne wieder ausgeglichen. Im letzten Parakletspruch wird schließlich die Rolle des Geistes hervorgehoben. Die Frage nach der Sendung des Geistes steht nicht mehr zur Debatte. Es wird einfach vorausgesetzt, dass er kommt. So heißt es in Joh 16,13–15: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit leiten; denn er wird nicht aus sich selbst reden, sondern was er hören wird, wird er reden, und das Kommende wird er euch verkünden. Er wird mich verherrlichen, denn von dem Meinen wird er nehmen und euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein. Darum habe ich gesagt, dass er von dem Meinen nimmt und euch verkünden wird.“ Die Jünger sind diejenigen, zu denen der Geist der Wahrheit kommt und von ihm in die ganze Wahrheit geleitet werden, wozu auch das Zukünftige gehört. Die Beziehung der Jünger ist hier auf den Geist konzentriert, der aber wiederum in Abhängigkeit vom Sohn steht, der aber wiederum den Besitz mit dem Vater teilt. Für die Beziehungsstruktur lässt sich somit folgern, dass auf der Handlungsebene sowohl der Vater als auch der Sohn mit der Sendung des Geistes und der Erhörung der Gebete verbunden werden, wobei aber ihre Rollen in den Bittgebeten und Parakletverheißungen jeweils genau in umgekehrter Weise erläutert werden. Zugleich ist eine Fokussierung auf den Heiligen Geist festzustellen, der sich letztlich als der entscheidende Bezugspunkt für die Jünger nach der Erhöhung Jesu erweist. Damit ist aber noch nichts im Blick auf die Frage des Filioque entschieden. Denn hier sprechen wir von der Handlungsebene, während der Disput um das Filioque die ontologische Fragestellung betrifft. Die Beziehungen stehen aber nochmals in einem anderen Licht, wenn wir das Hohepriesterliche Gebet in Joh 17 als Abschluss der Abschiedsreden hinzuziehen. Hier orientiert sich alles am Vater, auch der Sohn, der als Fürbitter auftritt. Der Heilige Geist kommt dabei nicht in den Blick. „Ich bitte für sie; nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast, denn sie sind dein.“ (Joh 17,9) Das Bittgebet gilt besonders den Jüngern, die als Gabe des Va-

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ters an den Sohn bezeichnet werden. Dadurch wird betont, dass letztlich alles dem Vater gehört. Konkret bittet Jesus in Vers 15: „Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt wegnimmst, sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen.“ (Joh 17,15) Die Jünger leben in der Welt, die der Erhöhte verlassen hat. Die Fürbitte zielt darum auf den Schutz vor dem Bösen in dieser Welt ab. „Aber nicht für diese allein bitte ich, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben, damit sie alle eins seien, wie du, Vater, in mir und ich in dir, dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“ (Joh 17,20f.) Das Fürbittgebet wird damit auf alle diejenigen ausgeweitet, die an Jesus glauben, mit dem Ziel, dass sie eins seien, wie der Vater und Sohn eins sind, was zum Glauben der Welt führen soll.

2.2 Zwischenfazit 2 Auch hier sind die Texte noch längst nicht erschöpfend analysiert. Dennoch ist ein Zwischenfazit zur Frage nach der Beziehungsstruktur im Bittgebet möglich. Erstens werden die unterschiedlichen Perspektiven in Kapitel 14 und den Kapiteln 15 und 16 noch deutlicher, da die Akteure jeweils unterschiedlich betont werden, was aber durch die beschriebene Verschränkung zugleich abgemildert wird. Zweitens wird die Beziehungsstruktur durch den anderen Parakleten noch komplexer, weil dieser die Gemeinschaft stiftet, während Jesus als Erhöhter nicht mehr unmittelbar in Gemeinschaft mit den Jüngern steht. Die Aufgabe des Geistes ist es aber, von Jesus zu zeugen und an ihn zu erinnern, so dass im Wirken des Geistes die Beziehung zu Jesus über seine irdische Gegenwart hinaus in einer indirekten Weise möglich ist. Damit tritt der Geist als der primäre Bezugspunkt auf. In den Parakletsprüchen wird die Beziehung der Jünger zu Gott als Vater nicht wirklich geklärt. Der Paraklet verbindet mit Jesus. Doch in welchem Verhältnis stehen die Jünger zum Vater, an den sie selbst die Bitten richten? Ist überhaupt eine direkte Hinwendung zu Gott als Vater möglich? Wenn ja, wie muss dann die Vermittlung durch den Sohn und den Geist verstanden werden?

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3. Die nachösterliche Beziehungsstruktur im Bittgebet in Joh 16,4b–33 Die erwähnten Fragestellungen im Zwischenfazit 1 und im Zwischenfazit 2 erhalten meines Erachtens Klärung in Joh 16,4b–33. Dabei nimmt dieser Abschnitt in vielerlei Weise Bezug auf die vorangegangenen Reden. Christina Hoegen-Rohls hat diese Motivverschränkung von Geistverheißung und Bittgebet in ihrer Dissertation herausgearbeitet: „Diese Motiv-Linie zieht sich von 14,12–14 über 15,7f.16 bis 16,23f.26 und verbindet so weite Teile der Reden nicht nur formal, sondern auch inhaltlich miteinander.“18 Doch welche Rolle hat der Heilige Geist im Bittgebet in den Abschiedsreden? Ein Vergleich mit Röm 8,26 kann zum besseren Verständnis von Joh beitragen.19 Paulus schreibt dort: „Ebenso aber nimmt auch der Geist sich unserer Schwachheit an (συναντιλαµβάνεται); denn wir wissen nicht, was wir bitten sollen, wie es sich gebührt, sondern der Geist selbst tritt (für uns) ein (ὑπερεντυγχάνει) durch unsagbare Seufzer.“ Im ersten Teil ist von einer Hilfe bzw. einem Beistand die Rede (συναντιλαµβάνοµαι), so dass eher eine gemeinsame Tätigkeit im Gebet angedeutet sein könnte. Im zweiten Teil hat der Heilige Geist aber die Rolle des stellvertretenden Fürsprechers inne (ὑπερεντυγχάνω).20 Die Gläubigen wissen nicht, worum sie bitten sollen, wobei an dieser Stelle vermutlich der „Spezialfall“ des Bittgebets um die zukünftigen Heilsgü18 Christina Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II 84, Tübingen 1996, 222. 19 Die Verbindung mit Paulus macht auch Cullmann, Gebet (s. Anm. 12), 127: „Diese letztere Aussage bringt uns, ohne dass damit der Unterschied zwischen johanneischer und paulinischer Theologie verwischt werden sollte, in die Nähe der paulinischen Gebetsauffassung, die wir so stark betont haben: nach der Gott selbst durch den in uns wohnenden Geist in unseren Gebeten spricht: Geist zu Geist.“ 20 Roland Gebauer, Das Gebet bei Paulus. Forschungsgeschichtliche und exegetische Studien, Gießen / Basel 1989, 168.

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ter gemeint ist.21 Der Heilige Geist tritt aber für sie darin ein, wozu sie selbst unfähig sind. Der Heilige Geist ist demzufolge in diesem Kontext der eigentlich Betende. Johannes dagegen legt den Fokus darauf, dass der Geist die Jünger in alle Wahrheit und Erkenntnis führt, so dass sie im Namen Jesu für die gegenwärtigen Bedürfnisse bitten können und nicht mehr fragen müssen (16,23). Der Heilige Geist ist damit nicht Stellvertreter, sondern derjenige, der die Gläubigen zum eigenständigen Gebet befähigt. Folglich ist im Bittgebet auch nicht mehr die Rede vom Heiligen Geist. Das Bittgebet ist aber eine Konsequenz aus der Gegenwart des Heiligen Geistes bei den Gläubigen, der diese zum Bittgebet ausrüstet.22 21 A.a.O., 170: „Röm 8,26f besagt entgegen verbreiteter Auffassung weder, dass grundsätzlich alles menschliche Beten der Stellvertretung des Geistes vor Gott bedürfe, noch, dass der Geist generell der Wirkgrund alles christlichen Betens sei. […] aber ähnlich wie in Röm 8,15f geht es auch in 8,26f nur um einen Spezialfall des Gebets – genauer um ein Gebet, das ausschließlich außerhalb des Menschen und seiner Möglichkeiten liegt und das darum von allem sonstigen Beten strengstens zu unterscheiden ist.“ Karl-Heinrich Ostmeyer, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament, WUNT 197, Tübingen 2006, 101, unterstreicht dasselbe: „Bei dem durch στεναγµός charakterisierten stellvertretenden Beten des Geistes in Röm 8,26 handelt es sich um den Sonderfall des Gebetes um Vollendung der endgültigen Erlösung. Damit ist noch nicht darüber geurteilt, ob dem πνεῦµα auch in anderen Gebetskontexten stellvertretende Funktion zukommt.“ Ebenso Urs von Arx, Fürbittendes Gebet im Neuen Testament, in: Hans Klein / Vasile Mihoc / Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.), Das Gebet im Neuen Testament. Vierte europäische orthodox-westliche Exegetenkonferenz in Sâmbãta de Sus, 4.–8. August 2007, WUNT 249, Tübingen 2009, 57f. 22 Dass diese bestimmte Stunde in Joh 16,25 das Kommen des Geistes meint, wurde vehement von Frédéric Godet, Commentaire sur l’Évangile de Saint Jean, Neuchâtel 1970, 339, vertreten: „N’est-il pas évident qu’il s’agit ici de l’enseignement du Saint-Esprit, qui sera une révélation du Père, de son caractère, de ses volontés, de ses plans envers l’humanité? […] Mais comment ne voit-il [Johannes Weiß] pas qu’en reconnaissant que l’état décrit dès le v. 25 est celui qui suivra la Pentecôte […] le jour dont parle le v. 26 et celui dont parlent les v. 23 et 25 ne peuvent être autre chose que celui de XIV,20–23.“ Ähnlich auch Jean Calvin, Commentaires sur le Nouveau Testament.

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Hier muss man die Abschiedsreden in der Gesamtkomposition des Evangeliums einordnen, in der die bestimmte Stunde, von der auch in Joh 16,25 die Rede ist, bereits in Joh 4,23f. mit einer Verheißung versehen wurde: „Aber es kommt die Stunde, und sie ist jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn der Vater sucht nämlich solche, die ihn auf diese Weise anbeten. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten.“ Zwar ist an dieser Stelle nicht das Bittgebet (αἰτέω), sondern die Anbetung (προσκυνέω) gemeint. Es wird jedoch grundsätzlich deutlich, dass die Hinwendung zum Vater in dieser bestimmten Zeit im Geist geschieht. Der Geist wiederum ist eine Gabe Gottes, die in den Abschiedsreden nur in der Beziehung zum Sohn zugänglich ist („in seinem Namen“), wie wir bereits bei den Parakletsprüchen festgehalten haben. Oscar Cullmann folgert deswegen zu Recht: „In den johanneischen Abschiedsreden Jesu nimmt die Anbetung in Geist und Wahrheit die Form des Gebets ‚im Namen Jesu Christi‘ an.“23 Es muss an dieser Stelle jedoch ergänzt werden, dass so wie der Geist im Johannesevangelium auf keine Stellvertretung abzielt, so auch mit der Wendung „im Namen Jesu“ keine Stellvertretung gemeint ist, sondern eben diese Befähigung zum eigenständigen Gebet. Denn die Worte „und ich sage euch nicht“ können meines Erachtens sinngemäß wiedergegeben werden mit: „aber ihr dürft es nicht so verstehen, dass…“. Es ist keine Aussage zur Evangile selon Saint Jean, Genève 1968, 451: „Maintenant il dit que sa Parole leur a été comme une allégorie, au prix de cette claire lumière d’intelligence, qu’il devait leur donner bientôt après par la grâce de son Esprit.“ Ausführlich begründet auch bei Theodor Zahn, Das Evangelium des Johannes, Kommentar zum Neuen Testament IV, Erlangen 61921, 601. Ebenso Siegfried Schulz, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1987, 207f. 23 Cullmann, Gebet (s. Anm. 12), 130. Ähnlich Ostmeyer, Kommunikation (s. Anm. 21), 335: „Die Wendung ἐν πνεύµατι καὶ ἀληθείᾳ und ἐν τῷ ὀνόµατί µου oder ἐν ἐµοί werden synonym gebraucht.“

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Handlungsweise Jesu, sondern eine Aussage, die das Verständnis der Jünger korrigieren soll. Es geht nicht darum zu klären, ob der erhöhte Christus noch fürbittend für die Jünger tätig ist. Dies wird an dieser Stelle weder bejaht noch verneint, wie Konrad Haldimann präzise beschrieben hat.24 Somit ist es meines Erachtens falsch, wenn Christian Dietzfelbinger an dieser Stelle von einer „Absage an die intercessio Jesu“ spricht.25 Im Gegenteil, wenn man das Hohepriesterliche Gebet gleich im Anschluss zur Interpretation hinzuzieht, wird man sagen können, dass grundsätzlich von der Fürbitte Jesu auch im Johannesevangelium ausgegangen wird, was darüber hinaus der Ansicht von 1Joh 2,1 entspricht. Die Aussage von Joh 16,26b–27 lautet jedoch: „Aber ihr dürft es nicht so verstehen, dass ich den Vater für euch bitten werde, denn der Vater selbst hat euch lieb, weil ihr mich geliebt und geglaubt habt, dass ich von Gott ausgegangen bin.“ In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, weshalb diese Worte eine sinnvolle und vom Kontext her geforderte Ergänzung darstellen. Damit wird eine Fragestellung aufgegriffen, die das gesamte Johannesevangelium prägt – die Frage nach der Eigenständigkeit bzw. Abhängigkeit der Jünger in der Beziehung zu Gott, oder noch präziser, die Frage nach der Beziehung von Jüngern und Vater, die in den Parakletsprüchen noch nicht geklärt ist. Schon im Prolog ist zu lesen: „Wie viele ihn aber aufnahmen, ihnen gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben.“ (Joh 1,12) Bereits in den ersten Versen ist also programmatisch von den Gläubigen als Kindern Gottes die Rede. Dennoch wird der Vater im Johannesevangelium nur als Vater Jesu angesprochen, des einziggeborenen Sohnes, und nicht als Vater der Jünger, wie 24 Präzise beschrieben von Haldimann, Rekonstruktion (s. Anm. 5), 384. 25 Christian Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden, WUNT 95, Tübingen 1997, 236. Angedeutet auch bei von Arx, Fürbittendes Gebet (s. Anm. 21), 67.

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Frances Back in der posthum erschienenen Habilitationsschrift beschrieben hat.26 Doch wahre Kindschaft führt letztlich zur Anrufung Gottes als Vater, wie es am Ende in Joh 20,17 zur Sprache kommt. Dort kündigt Jesus an: „Ich steige hinauf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott!“ Was bisher unausgesprochen blieb, wird hier nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu explizit gemacht. Daran lässt sich zeigen, dass schon am Ende der Abschiedsreden in Joh 16,26 diese eigenständige Hinwendung zum Vater als ihrem Vater anvisiert ist, die aber auf der Beziehung zum Sohn gründet – oder wie Jean Zumstein zu dieser Stelle kommentiert: „Von nun sind sie die Brüder Jesu und der Gott Jesu ist ihr Gott geworden (vgl. 20,17).“27 Das Bittgebet hat somit in Joh 16,26f. eine doppelte Anbindung an Vater und Sohn. Die Gläubigen wenden sich mit ihrer Bitte an den Vater, dies jedoch im Namen Jesu. Diesem entspricht die doppelte Rede von der Liebe des Vaters zu den Jüngern und der Liebe der Jünger zum Sohn, verbunden in der Wesenseinheit von Vater und Sohn („von Gott ausgegangen“) und vermittelt durch den 26 Vgl. Frances Back, Gott als Vater der Jünger im Johannesevangelium, WUNT II 336, Tübingen 2012; zusammengefasst bei Jörg Frey, Was trägt die johanneische Tradition zum christlichen Bild von Gott bei?, in: ders. / Uta Poplutz (Hg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, BThS 130, Neukirchen-Vluyn 2012, 217–257 (besonders 228–233). 27 Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 619. Ebenso treffend beschrieben von Back, Gott als Vater (s. Anm. 26), 137: „Entscheidend ist dabei, dass Joh 16,23b–24 näher konkretisiert, wie die Beziehung zwischen den Jüngern und Gott inhaltlich bestimmt sein wird, die durch das Sehen Jesu (V.22) und ihr Verstehen (V.23) möglich wird: Sie besteht in einer neugewonnenen Nähe zwischen den Jüngern und Gott als Vater. Diese äußert sich darin, dass die Jünger ‚ohne Intervention Jesu‘ selbst zum Vater beten können und dieser ihnen geben wird, worum sie bitten.“ Dennoch hat auch Rudolf Bultmann, Das Johannesevangelium, KEK, Göttingen 201985, 453, recht, der hervorhebt: „Selbstverständlich kann nicht gemeint sein, dass der Glaubende in einem direkten Gottesverhältnis stehen und der Vermittlung Jesu nicht mehr bedürfen wird.“ Denn letztlich bleibt das Bittgebet an den Namen Jesu rückgebunden.

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Heiligen Geist („erinnert“/„führt in alle Wahrheit“). Darin liegt sowohl die Würde der Jünger zur eigenständigen Hinwendung im Gebet zum Vater als auch die unauflösbare Abhängigkeit vom Sohn im Heiligen Geist begründet. Diese beiden Seiten ins rechte Verhältnis zu setzen, ist das Ziel der Aussage: „Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde.“ 4. Nachwort zum Gespräch mit der systematischen Theologie An dieser Stelle ist nun das Gespräch mit der systematischen Theologie aufzunehmen, wozu Zürcher Kolleginnen und Kollegen bereits profilierte Beiträge geliefert haben.28 Neuerdings plädiert Hartmut von Sass für eine Wiedergewinnung der pneumatologischen Dimension des Glaubens in der Analyse des Bittgebets, was durchaus auf der Linie dieses Beitrages liegt. „Doch“, so fährt von Sass fort, verschärfe sie „offenbar auch die Schwierigkeit, Gott als im Ereignis der Sprache gegenwärtigen Geist zugleich als adressierbares Gegenüber des Bittgebets zu verstehen.“29 Dieser Konflikt ergibt sich aus einem einseitigen Verständnis des Bittgebets, das sich nur in Abhängigkeit von Gott versteht, aber die personale Eigenständigkeit des Beters im Gegenüber zu Gott ablehnt. So schreibt Hartmut von Sass: „Im Geist Gottes, der Gott selbst ist, vollzieht sich das Gebet – als ›Ausübung Gottes geistiger Gegenwart‹; und im Gebet nimmt der Beter Anteil an diesem Geist, als der sich Gott gibt. Kurz: Gott ist nicht derjenige, zu dem gebetet, sondern

28 Gerhard Ebeling, Das Gebet, in: Ders., Wort und Glaube, Band III, Tübingen 1975, 405–427; Hartmut von Sass, Unerhörte Gebete? Das Bittgebet als Herausforderung für ein nachmetaphysisches Gottesbild, NZSTh 54 (2012), 39–65; Christiane Tietz, Was heißt: Gott erhört Gebet?, ZThK 106 (2009), 327–344. 29 Von Sass, Unerhörte Gebete? (s. Anm. 28), 59.

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die Wirklichkeit, in der gebetet wird.“30 Noch pointierter formuliert er dasselbe in einem späteren Aufsatz: „Nicht zu Gott beten wir, sondern in ihm ist das Gebet möglich; Gott ist nicht der Adressat des Gebets, sondern das unverfügbare Ereignis wahrhaften Betens; und so ist Gott nicht gegenwärtig, indem er noch woanders als in unserem Gebet da wäre, sondern er ist der Geist, in dem wir beten.“31 Im Hintergrund dieser Aussage liegt die grundsätzliche Kritik eines personal-theistischen Gottesverständnisses. Doch indem Hartmut von Sass diese Kritik biblisch lediglich in Auseinandersetzung mit Psalm 23 diskutiert, übergeht er das in neutestamentlichen Schriften weit komplexer beschriebene personale Beziehungsgeflecht Gottes, in das der Mensch im Gebet einbezogen ist. Genau an dieser Stelle kann die Beschäftigung mit dem Bittgebet in den Abschiedsreden und insbesondere der Aussage in Joh 16,26 ein Korrektiv sein.32 Die Abhängigkeit vom Geist bedingt in keiner Weise ein Verständnis des Bittgebets, das dieses auf ein Beten in Gott reduziert, sondern kann mit der eigenständigen Anrede Gottes als Gegenüber kombiniert werden, wie auch die intercessio Jesu nicht das eigenständige Gebet der Jünger obsolet macht. Aber Hartmut von Sass spürt selbst die Einseitigkeit seiner These, weshalb er in einer Anmerkung eine ausgewogenere Alternativformulierung liefert: „Oder vorsichtiger gewendet: Das Gebet, welches in Gottes Wirklichkeit möglich ist, löst das Zu-Gott-Beten nicht ab oder auf; vielmehr wäre die Rede von Gott als 30 Von Sass, Unerhörte Gebete? (s. Anm. 28), 59 (kursiv im Original). 31 Hartmut von Sass, Die vornehmste Übung. Gottes Majestät und das Gebet des Menschen nach Johannes Calvin, ZThK 113 (2016), 258–278, hier 276 (kursiv im Original). 32 Bezeichnend hierfür ist, dass Joh 16,26 in der Theologie des Bittgebets von Hans-Martin Barth keine Beachtung findet, obwohl er sich ausführlich um eine adäquate Beschreibung der Beziehungsstrukturen im Bittgebet bemüht. Hans-Martin Barth, Wohin – Woher mein Ruf? Zur Theologie des Bittgebets, München 1981, besonders 127–131 und 161–177.

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Adressat des Gebets von Gott als Wirklichkeit, in der gebetet wird, her neu zu verstehen und zu reformulieren.“33 In dieser Formulierung sehe ich angedeutet, was ich in diesem Beitrag anhand des Bittgebets in den Abschiedsreden beschrieben habe.34 Sofern also das Bittgebet im Anschluss an das biblische Zeugnis diskutiert werden soll, ist das personale Gottesverständnis nicht aufzugeben, sondern dogmatisch und ohne Scheu vor der Metaphysik weiterzudenken.35 Gewiss bleibt so das Bittgebet ein Wagnis, wie es Hartmut von Sass nennt. Es ist jedoch keine Anmaßung Gott gegenüber, wie er behauptet,36 sondern die Inanspruchnahme des im Glauben an Jesus Christus geschenkten und durch die Zeugung des Geistes 33 Von Sass, Die vornehmste Übung (s. Anm. 31), 276 (Anm. 48, kursiv im Original). Das Ringen mit der Frage zeigt sich auch im für die Habilitation überarbeiteten Aufsatz Hartmut von Sass, Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie, HUTh 62, Tübingen 2013, 335 (kursiv im Original): „Daher ist Gott nicht derjenige, zu dem gebetet wird, sondern diejenige Wirklichkeit, in welcher gebetet wird; Gott ist nicht der quasi-räumliche Gegenstand der bittenden Adresse, sondern das Gegen-Über als niemals selbst verdankte Wirklichkeit, in der der Beter wahrhaft um etwas zu bitten vermag.“ Doch das „Gegen-Über“ versteht er lediglich als Raum, und nicht personal. 34 Ein personales Verhältnis von Gott und Mensch im Bittgebet beschreibt auch Ebeling, Gebet (s. Anm. 28), 423f., erkennt darin aber ein Geheimnis: „Das Gebet setzt offenbar das Personsein Gottes voraus. Die Anrede in der zweiten Person ist nicht eine beliebig auswechselbare Stilform, sondern konstitutiv. […] Was mit der Rede vom Personsein Gottes gemeint ist, lässt sich nur relational vom Personsein des Menschen aus bestimmen. Das Personsein des Menschen ist durch ein Angegangensein konstituiert, das zwar mitmenschliche Partnerschaft umgreift, jedoch in ihr nicht aufgeht. Es ist als solches zwiesprachlicher Art und birgt das Geheimnis eines Gegenübers in sich, das nicht der Mensch selbst ist.“ 35 So pointiert der frühere Zürcher systematische Theologe Emil Brunner, Die Lehre von der Kirche, vom Glauben und der Vollendung. Dogmatik III, Zürich 21964, 368, zur Theologie des Gebets: „Ob wir unter Gott einen Ich-Du-Gott verstehen oder ein namenloses Absolutes, entscheidet über die Christlichkeit einer Theologie.“ 36 Vgl. von Sass, Unerhörte Gebete? (s. Anm. 28), 64.

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bewirkten Standes als geliebtes Kind des himmlischen Vaters.37

37 Ich danke Dr. Andreas Loos für die hilfreiche Kommentierung eines Entwurfes dieses Beitrages, von der ich viel profitiert habe und die mich zum Nachwort inspiriert hat. Zudem danke ich Prof. Dr. Magdalene Frettlöh und Anita Baumhakl für die sorgfältige inhaltliche und sprachliche Durchsicht des Entwurfes.

Nadine Ueberschaer

Joh 20,1–18 als intra- und intertextuelle Leseanleitung zum ,Sehen‘ Gottes im Sohn

In seinem Kommentar zum Johannesevangelium hat Jean Zumstein Joh 20 zutreffend als „narrative Darstellung der Entstehung des Osterglaubens“1 beschrieben, so dass ihm darin gefolgt werden kann. Denn eine genaue Analyse zeigt, dass das Johannesevangelium in Joh 20 ein dichtes Netz intra- und intertextueller Bezüge knüpft. Zahlreiche Erzählfäden werden weitergesponnen, die bereits in Joh 1–19 angelegt sind, und zusätzlich lukanischer Stoff eingewoben. Diesen unterzieht Joh einer kreativen Bearbeitung, so dass er schließlich eine typisch johanneische Färbung erhält. Bei näherer Betrachtung des Textes zeigt sich, dass es dieses intra- und intertextuelle Zusammenspiel ist, mit dem Joh ein adäquates Verständnis des Osterglaubens vermittelt. Joh selbst verweist darauf, wenn es in dem narrativen Kommentar 1 Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016, 749. Vgl. weiter ders., Narratologische Lektüre der johanneischen Ostergeschichte, 277–290, und ders., Das Johannesevangelium: Eine Strategie des Glaubens, 31–45. Beide Artikel sind erschienen in Jean Zumstein, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, AThANT 84, Zürich 22004. Nach Zumstein, Narratologische Lektüre, 288, repräsentiert der Epilog in Joh 20,30f. den ‚point of view’ des impliziten Autors (a.a.O., 288). Das Joh müsse von daher als „Strategie des Glaubens“ (a.a.O., 279) wahrgenommen werden. Zumstein, Strategie, 31, bezeichnet treffend „die Evangelien als literarische Konstruktionen und argumentative Prozesse“. Ihr Ziel sei es, „Glauben zu wecken, zu stärken und zu strukturieren.“

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in V. 9 heißt: „Sie verstanden nämlich die Schrift nicht, dass er von den Toten auferstehen müsse.“ Osterglaube setzt demnach ein Verstehen der Schrift im johanneischen Sinn voraus. Diesen Schriftverweisen wird im Folgenden anhand der johanneischen und lukanischen Tradition sowie Jes 43,1–11 nachgegangen werden. Dabei soll aufgezeigt werden, dass die narrative Inszenierung der Ostererzählung in Joh 20 darauf zielt, ein Verstehen der Schrift und damit ein Sehen Gottes im Sohn zu vermitteln (vgl. Joh 14,9). Eine besondere Rolle in diesem Verstehens- und Sehprozess kommt Maria aus Magdala zu. Sie wird gleich in V. 1 als Protagonistin eingeführt. „Sie haben den Herrn aus dem Grab genommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ – Maria aus Magdala (Joh 20,2) Nachdem die Magdalenerin zum ersten und letzten Mal im Evangelium in Joh 19,25 als eine der Frauen erwähnt wurde, die bei dem Kreuz Jesu standen,2 wird nun in Joh 20 erzählt, dass sie, als es noch finster ist, am frühen Morgen zum Grab kommt. Dadurch wird Maria im Unterschied zur synoptischen Überlieferung bei Joh ins Zentrum der Erzählung gerückt. Denn während dort durchgehend von mehreren Frauen die Rede ist, die nach dem Grab sehen (Mt 28,1) bzw. Jesus salben wollen (Mk 16,1; Lk 24,1), akzentuiert Joh die individuelle Initiative einer Einzelnen. Damit ist sie die Erste, die entdeckt, dass der Stein vom Grab weggenommen ist.3 Als Reakti2 Bereits hier unterscheidet sich das Joh in seiner Darstellung markant von den Synoptikern. Während es bei Mt 27,55, Mk 15,40 und Lk 23,49 heißt, dass Frauen „von ferne“ (ἀπὸ µακρόθεν) der Kreuzigung Jesu zugesehen hätten, betont Joh die Nähe zum Kreuz, wenn er formuliert: Εἱστήκεισαν δὲ παρὰ τῷ σταυρῷ τοῦ Ἰησοῦ (Joh 19,25). 3 Joh verwendet hier anders als die Synoptiker nicht das Verb ἀποκυλίω, sondern formuliert mit einem Part. Perf. Pass. des Verbes αἵρω und benutzt damit dasselbe Verb wie in Joh 11,39.41. Auf diese Weise wird ein Bezug zur Lazarus-Perikope hergestellt, was sich auch

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on auf diese Entdeckung eilt Maria zu Simon Petrus und dem Lieblingsjünger, allerdings nicht, um ihnen zu berichten, was sie gesehen hat. Stattdessen lässt Joh Maria formulieren, wie sie ihre Wahrnehmung deutet (Joh 20,2): „Sie haben den Herrn aus dem Grab genommen, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Ohne also einen Blick in das Grab geworfen zu haben, geht Maria davon aus, dass der Leichnam Jesu entwendet wurde.4 Dabei weisen die Wiederholung dieser Aussage in V. 13 und der sprachlich abweichende erneute Anklang daran in V. 15 darauf hin, dass es sich bei der Erfahrung der Abwesenheit Jesu und des Unwissens über seinen nachösterlichen Aufenthaltsort um die eigentliche Herausforderung für die Glaubenden handelt. Deshalb legt es sich nahe, die pluralische Formulierung in V. 2 als Identifikationsangebot an die Leserinnen und Leser zu verstehen. Sie werden im Folgenden mit auf die Suche nach der Gegenwart des Gekreuzigten genommen.5 bei der Beschreibung des Grabes zu erkennen gibt. Siehe dazu oben. Während in Joh 11 erzählt wird, dass der Stein vom Grab des Lazarus auf Jesu Aufforderung hin weggenommen wird, legt die knappe Formulierung in Joh 20,1 nahe, hierin eine bewusste narrative Leerstelle zu sehen, mit der der Erzähler offenlässt, wer den Stein vom Grab Jesu entfernt hat. Anders verhält es sich bei den Synoptikern. Denn während Mt explizit erwähnt, dass ein Engel den Stein weggewälzt habe (Mt 28,2), entsteht dieser Eindruck auch bei der markinischen (vgl. Mk 16,5, hier als νεανίσκος) und der lukanischen Darstellung (Lk 24,4: ἄνδρες δύο ἐπέστησαν αὐταῖς ἐν ἐσθῆτι ἀστραπτούσῃ). Zur Aufnahme synoptischen Materials durch Joh vgl. Jörg Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (Joh 20,18). Entstehung, Inhalt und Vermittlung des Osterglaubens nach Johannes 20, in: Andreas Dettwiler / Uta Poplutz (Hg.), Studien zu Matthäus und Johannes / Études sur Matthieu et Jean. Festschrift für Jean Zumstein zu seinem 65. Geburtstag / Mélanges offerts à Jean Zumstein pour son 65e anniversaire, AThANT 97, Zürich 2009, 267–284 (272f.). 4 Damit erinnert Joh wahrscheinlich an das verbreitete Gerücht, dass die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen hätten (so Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 745 m. Anm. 23). 5 Joh macht diese Aussage seiner Erzählintention zu nutze. Dabei dürfte sich in dem Plural ein Hinweis darauf verbergen, dass nach synoptischer Tradition mehrere Frauen zum Grab gingen. Das nimmt auch Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 273, an.

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„Es liefen die beiden miteinander ...“ – Petrus und der Lieblingsjünger (Joh 20,3–10) Diese Suche wird in den VV. 3–10 narrativ umgesetzt. Denn hier wird erzählt, dass Petrus und der Lieblingsjünger auf Marias Äußerung mit einem Wettlauf zum Grab reagieren. Dabei handelt es sich um eine Episode, die an Lk 24,12 erinnert, jedoch johanneisch bearbeitet wurde. Das wird zum einen an der Einfügung des geliebten Jüngers deutlich,6 dessen Verhalten und dessen Wahrnehmung des Grabes (vgl. Joh 21,5) in hoher sprachlicher Übereinstimmung mit Lk 24,12 erzählt wird: Er beugt sich vor und sieht die Leinentücher.7 Damit übernimmt der Lieblingsjünger die Rolle, die nach Lk 24 Petrus zukommt. In Joh 20 hingegen wird dessen Verhalten im Gegensatz zu dem des geliebten Jüngers beschrieben.8 So wird in V. 5 betont,9 dass der Lieblingsjünger zunächst nicht in das Grab hineingegangen sei, während Petrus es als dessen Nachfolger sofort betritt (V. 6).10 Vor allem aber heißt es vom Lieblingsjünger: εἶδεν καὶ ἐπίστευσεν (V. 8). Zwar sieht auch Petrus das Innere des Grabes, jedoch ohne dass dadurch Glauben bei ihm her-

6 Beim Lieblingsjünger handelt es sich um eine literarische Fiktion, mit der ein idealer Schüler Jesu gezeichnet wird. Vgl. zur Diskussion um den Lieblingsjünger Nadine Ueberschaer, Der Einzelne und die Gemeinschaft. Joh 21 als johanneisches Narrativ synoptischer Traditionen, ZNW 112 (2021), 1–25. 7 Vgl. Lk 24,12 καὶ παρακύψας βλέπει τὰ ὀθόνια µόνα mit Joh 20,5 καὶ παρακύψας βλέπει κείµενα τὰ ὀθόνια. 8 Wie Joh an allen Stellen, in denen der Lieblingsjünger und Petrus gemeinsam auftreten, einen Gegensatz zwischen beiden konstruiert, so wird auch in Joh 20 das Verhalten des Petrus dem des Lieblingsjüngers kontrastiert. 9 Sprachlich hervorgehoben durch das Zusammenspiel der Partikel οὐ und der adversativen Konjunktion µέντοι. 10 Vgl. hierzu auch Joh 21,20, wo ebenfalls der Lieblingsjünger Petrus in der Nachfolge Jesu voraus ist.

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vorgerufen würde.11 Ganz anders hingegen verhält es sich mit der Darstellung des Petrus bei Lk. Denn dort „wundert“ sich Petrus über das Geschehene. Indem Lk hierfür mit θαυµάζω dasselbe Verb verwendet, mit dem auch das Staunen als Reaktion auf ein Wunder ausgedrückt wird, wird Petrus’ Reaktion bei Lk deutlich positiver geschildert und rückt zugleich in die Nähe des glaubenden Lieblingsjüngers.12 Im Joh hingegen bleibt Petrus ein physisches Sehen vorbehalten, das Joh auch verbal von dem verstehenden Sehen des geliebten Jüngers unterscheidet. Er verwendet hier das Verb ὁράω anstelle von βλέπω (Joh 20,5) bzw. θεωρέω (Joh 20,6)13 und damit ein Verb, das bereits in Joh 1–19 in einer übertragenen, metaphorischen Weise verwendet wird, so wie schließlich auch Maria sagt (Joh 20,18): ἑώρακα τὸν κύριον. Was den geliebten Jünger glauben lässt, scheint demnach die Schlussfolgerung zu sein, die er aus dem zieht, was er im Grab sieht.14 Dieser Grabinhalt wird in Joh 20 zu11 Anders Reimund Bieringer, “They have taken away my Lord.” Text-Immanent Repetitions and Variations in John 20,1–18, in: Gilbert van Belle (Hg.), Repetitions and Variations in the Fourth Gospel: Style, Text, Interpretation, EThL 223, Leuven u.a. 2009, 609–630 (623f.), der aufgrund von V. 9 davor warnt, „too much weight to ἐπίστευσεν in 20,8“ (a.a.O., 624) zu geben. Der Grund hierfür ist, dass Bieringer das Sehen des Lieblingsjüngers auf den Grabinhalt beschränkt – und darauf letztlich auch dessen Glauben bezieht – und aufgrund des Vergleichs mit dem Sehen Marias „a linear progression“ (a.a.O., 619) annimmt, da diese den Auferstandenen gesehen habe. 12 Anders deutet Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 275 m. Anm. 41, der die bei Lk geschilderte Verwunderung des Petrus analog zu der Aussage in Joh 20, 6f. versteht. 13 In V. 5 ist der Lieblingsjünger Subjekt zu βλέπω, während Joh in V. 6 für Petrus das Verb θεωρέω verwendet. Joh unterscheidet also auch beim Lieblingsjünger zwischen einem Sehen, das sich auf die sinnliche Wahrnehmung bezieht, und einem christologisch bezogenen Erkennen. 14 Für Joh 20 trifft zu, was James L. Resseguie, The Beloved Disciple: The Ideal Point of View, in: Steven A. Hunt / D. Francois Tolmie / Ruben Zimmermann (Hg.), Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Approaches to Seventy Figures in John, WUNT 314, Tü-

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nächst knapp aus der Perspektive des geliebten Jüngers (V. 5) und dann noch einmal ausführlich aus der des Petrus beschrieben (VV. 6f.). Dabei weist Joh 20,6f. im Unterschied zu Lk 24 erzählerische Details zu den Leinenbinden auf, die als bewusste Anspielung auf Joh 11,44 zu verstehen sind15 und mit deren Hilfe Joh einen Gegensatz zwischen Lazarus und Jesus konstruiert. Denn nach Joh 11 ist die Herausrufung des Lazarus aus dem Tod ins Leben erst damit vollendet, dass Lazarus auf Jesu Wort hin von den Leichenbinden „gelöst“ (λύω) wird. Es legt sich daher nahe, die Leinenbinden und das Schweißtuch des Lazarus als Symbole für die „Fesseln des Todes“,16 also der Sünde, zu verstehen. Im Unterschied zu Lazarus lassen in Joh 20 die im Grab „liegenden“ (κείµενα) Leinentücher und das „zusammengerollte“ (ἐντετυλιγµένον) Schweißtuch17 Jesus souverän als denjenigen erscheinen, der die Vollmacht hat, sein Leben zu geben und wieder an sich zu nehmen (Joh 10,18). Damit inszeniert Joh 20 Jesus als die Auferstehung und das Leben, als die er im Ich-bin-Wort in Joh 11,25 bezeichnet wurde. Den Gedanken der Auferstehung nimmt auch der folgende V. 9 auf: οὐδέπω γὰρ ᾔδεισαν τὴν γραφὴν ὅτι δεῖ αὐτὸν ἐκ νεκρῶν ἀναστῆναι. Vor dem Hintergrund der VV. 2–8 irritiert diese im Plural formulierte Aussage. Denn schließlich hieß es doch in V. 8 vom geliebten Jünger, dass er sah und glaubte. Ebenso sperrig wirken die beiden folgenden Verse. Dort ist einmal von den Jüngern bingen 2013, 537–549, als Charakteristikum des Lieblingsjüngers herausarbeitet: „He sees the glory in the flesh.“ Dies ist der Grund, weshalb von ihm gilt, dass „he sees the significance of a tomb with linen wrappings and a soudairan rolled up in a place by itself, and he believes in the resurrection“ (a.a.O., 549). 15 Diesen intertextuellen Zusammenhang erkennt auch Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 275. 16 Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1–12, RNT, Regensburg 2009, 744. 17 Zweimal wird dazu ein Part. Präs. Med. Ntr. Akk. des Verbes κεῖµαι verwendet (Joh 20,5a.6d) sowie in Joh 20,7c ein Part. Perf. Pass. Ntr. Akk. des Verbes ἐντυλίσσω.

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die Rede, die „zu ihnen“ gingen (Joh 20,10: ἀπῆλθον οὖν πάλιν πρὸς αὐτούς), ohne dass zuvor andere Schüler Jesu erwähnt worden wären. Auch dass Maria sich nach V. 11 „draußen vor dem Grab“ (πρὸς τῷ µνηµείῳ ἔξω) befindet, fällt aus dem Erzählverlauf. Alle diese Textbeobachtungen weisen auf eine redaktionelle Zusammenstellung verschiedener Traditionen hin.18 Wie bei der Erzählung vom Lauf zum Grab, so dürfte auch bei V. 9 Lk 24 (Lk 24,6f.25–27)19 im Hintergrund stehen.20 Darüber hinaus – und das ist für das Verstehen der Perikope von Bedeutung – kommt V. 9 eine hermeneutische Funktion zu. Denn mit dem Verweis auf die Schrift bedient sich Joh einer hermeneutischen Kategorie, die bereits in Joh 2,22; 5,39.47 und 12,16 verwendet wird. Dabei geben die genannten Stellen sowie der intertextuelle Seitenblick auf Lk 24,6 zu erkennen, wie Joh Schrift als hermeneutische Kategorie verwendet.21 So vertritt das Joh zum einen eine christologische Lektüre der Schriften Israels, die seiner Meinung nach Jesus vorausverkündigten bzw. für ihn Zeugnis ablegten. Zum anderen zeigt der Vergleich von Lk 24,6f. mit Joh 20,9, dass das Joh den Anspruch erhebt, selbst Schrift zu

18 Zumstein, Narratologische Lektüre (s. Anm. 1), 278, bleibt einer literarkritischen Erklärung gegenüber skeptisch. Er erklärt die wahrnehmbaren Brüche in Joh 20 narratologisch damit, dass es sich nicht um einen dramatischen, sondern einen thematischen Plot handele. „Die narrativ entfaltete, theologische Frage ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sehen und Glauben“ (a.a.O., 279). Nach Zumstein handelt es sich hierbei um das „Proprium des Osterglaubens“ (a.a.O., 279). Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 275, erklärt den Plural, indem er die Aussage auf Petrus und Maria bezieht. 19 Gemeinsam ist die Begründung mit dem göttlichen δεῖ, die Verwendung des Verbes ἀνίστηµι sowie der Verweis auf die Schriften. 20 Für V. 10 ließe sich überlegen, ob hierfür eine Tradition wie Lk 24,24 Pate gestanden haben könnte, der zufolge die Jünger auf den Bericht der Frauen hin zum Grab gingen. 21 Bis auf Joh 5,30 verwendet Joh immer den Singular. In Joh 5,47 hingegen benutzt Joh einen Plural von γράµµα. Zudem formuliert er verbal mit γράφω (u.a. in Joh 12,16).

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sein.22 Denn während es bei Lk heißt: µνήσθητε ὡς ἐλάλησεν ὑµῖν ἔτι ὢν ἐν τῇ Γαλιλαίᾳ, und damit auf die Worte Jesu verwiesen wird, spricht Joh von der „Schrift“. Deren Verständnis, so Joh 20,9, habe sich bislang nicht erschlossen. Damit kommt V. 9 eine doppelte Funktion zu: Zum einen wird deutlich, dass ein Verstehen der Schrift das Verstehen Jesu erfordert, denn schließlich geht es um die notwendige Einsicht, dass Jesus von den Toten auferstehen müsse.23 Diese Erkenntnis ist auf der Ebene der Erzählung bislang dem glaubenden Sehen des Lieblingsjüngers vorbehalten, bei dem das Betrachten des Grabinhalts Glauben hervorruft. Alle anderen, ausgedrückt durch die pluralische Formulierung οὐδέπω γὰρ ᾔδεισαν, scheinen V. 9 zufolge Begegnungsgeschichten mit dem Auferstandenen zu brauchen, um glauben zu können.24 Zum anderen verweist 22 Auf diese Besonderheit, dass nach Joh Schrift neben den Schriften Israels auch die Jesus-Überlieferung ist, verweist auch Jean Zumstein, Erinnerung und Oster-Relecture im Johannesevangelium, 47–63 (56f.); sowie ders., Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, 15–30 (28), beides in: ders., Kreative Erinnerung (s. Anm. 1). Vgl. weiter Francis J. Moloney, ‘For As Yet They Did Not Know the Scripture’ (John 20:9): A Study in Narrative Time, ITQ 79 (2014), 97–111, der das Verständnis des Joh als Schrift vor dem Hintergrund des Motivs der Zeit am Nebeneinander von Joh 20,9 und Joh 20,30f. sowie unter Verweis auf Joh 2,22; 12,16 aufzeigt. Anders als hier vertreten, versteht er auch den Lieblingsjünger von der Aussage in V. 9 betroffen. 23 Darauf verwiesen bereits die Schriftbezüge in Joh 2,22 im Zusammenhang mit der Tempelreinigung sowie in Joh 5,39f. im Kontext der Rede Jesu über seine Vollmacht, Tote lebendig zu machen und zu richten (Joh 5,19–30). 24 Vgl. dazu auch die Darstellung, der zufolge Maria den Jüngern verkündigt (Joh 20,18), sich diese aber erst freuen, nachdem Jesus ihnen erschienen ist (Joh 20,20), und sich nach V. 25 die Wiederholung des Zeugnisses der Maria dem eigenen Sehen des Auferstandenen zu verdanken scheint. Dieses Motiv nimmt die Thomasperikope erneut auf, wie es sehr schön deutlich wird an der Seligpreisung derer, die nicht sehen und doch glauben (Joh 20,29). Durch den Makarismus Jesu wird das nicht-sehende Glauben des Lieblingsjüngers (Joh 20,8) ebenso wie die Bedeutung des vermittelten Zeugnisses der Maria (Joh 20,18) nachträglich positiv bewertet und ausdrücklich legitimiert.

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Joh 20 mit V. 9 darauf, dass das im Folgenden Erzählte in den Gesamtzusammenhang der Evangeliumsdarstellung eingeordnet werden muss, um zu einem adäquaten Schriftverständnis zu gelangen. Es bedarf gleichsam einer erneuten Lektüre des Evangeliums, um die textlichen Signale der Ostererzählungen mit Bedeutung zu füllen.25 Vor diesem Hintergrund muss folglich auch das Verständnis der Erzählung um Maria von Magdala (bis hin zur Thomasperikope) erschlossen werden. „Ich habe den Herrn gesehen“ – Maria aus Magdala und der Auferstandene (Joh 20,11–18) In V. 11 begegnet die Magdalenerin vor dem Grab. Die Beschreibung, dass sie sich „draußen“ (ἔξω) befindet und sich lediglich ins Grab vorbeugt (παρακύπτω), ähnelt der Darstellung des Lieblingsjüngers in V. 5. Beide verhalten sich demnach konträr zu Petrus.26 Diese Deutung wird zudem durch Joh 19,35 unterstützt. In diesem Zusammenhang sei auf Winfried Verburg, Magdalena trifft den Auferstandenen: misslungenes Zusammentreffen oder vorbildhafte Begegnung? Zur Bedeutung des Lexems στραφεῖσα in Joh 20,16, BN NF 121 (2004), 77–94, verwiesen, der die wiederholte Verwendung des Verbes στρέφω in V. 16 im Sinne einer Abwendung Marias deutet, mit der Joh deutlich mache, dass der Auferstandene nachösterlich nicht in einem physischen Sehen erkannt werde. Anders Jaime Clark-Soles, Mary Magdalene: Beginning at the End, in: Hunt / Tolmie / Zimmermann (Hg.), Character Studies (s. Anm. 14), 626–640 (629), der annimmt, dass der Lieblingsjünger trotz seines Glaubens vom Unverständnis betroffen sei. Denn sein Glaube beziehe sich bloß auf das leere Grab. 25 Zutreffend spricht Zumstein, Erinnerung (s. Anm. 22), in Bezug auf Joh 2,22; 12,16; 20,9 von „Prolepsen der Erinnerung“ und betont deren anamnetische Funktion bei der „Verbindung von konstituierender Vergangenheit und Glaubensgegenwart“. Er hält fest, „dass die konstitutive Vergangenheit ihre Bedeutung nicht von selbst preisgibt. (…) Die Vergangenheit wird erst retrospektiv zur Glauben konstituierenden, ihr Sinn liegt gewissermassen vor ihr“ (a.a.O., 56). Vgl. weiter ders., Prozess (s. Anm. 22), 28f. 26 Wie Clark-Soles, Mary Magdalene (s. Anm. 24), 635, aus ihrem Aufenthalt am Grab ein Bleiben im Sinne des johanneischen Gebrauchs von µένω ableiten zu wollen, ohne dass dieses Verb in den

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Von Maria heißt es weiter gleich viermal, dass sie weine (VV. 11.13.15), was an Maria und die Ἰουδαῖοι in Joh 11,33 erinnert. Wie das Weinen dort Ausdruck der Trauer angesichts des Todes von Lazarus ist, so signalisiert es auch hier Marias Traurigkeit. Darüber hinaus ist es jedoch auch ein Zeichen dafür, dass Maria die Situation missversteht.27 Denn im Gespräch mit den beiden Engeln, die dort sitzen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte (V. 13), wiederholt sie, was sie bereits zu den beiden Schülern Jesu gesagt hatte: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“28 Sie geht also trotz des fehlenden Leichnams und der Angelophanie im Grab29 davon aus, dass jemand den Leichnam Jesu entwendet und an einen ihr unbekannten Ort gebracht habe. Folglich ist Maria eine derjenigen, die V. 9 zufolge die Schrift, dass er auferstehen müsste, noch nicht verstanden hatte. Im Unterschied zur synoptischen Darstellung, nach der jeweils ein (Mk 16,6f.; Mt 28,5–7) bzw. mehrere Engel (Lk 24,5–7) den Frauen die Auferstehung Jesu verkündigen, bricht in der johanneischen Erzählung der Dialog an dieser Stelle ab. Joh erzählt stattdessen, dass sich Maria nach hinten umwende und dort Jesus stehen sehe, jedoch ohne ihn zu erkennen (V. 14). Darauf spricht der johanneische Jesus Maria an. Er stellt ihr zwei Fragen (V. 15: „Frau, was weinst du? Wen

VV. 11–13 für Maria verwendet wird, und darin „true discipleship“ (a.a.O., 631) zu erkennen, ist nicht nachzuvollziehen. 27 Positiv bewertet Clark-Soles, a.a.O., 634, das Weinen Marias. Er nimmt an, dass „it ties her to heroes of the narrative“ (ebd.) aufgrund des intratextuellen Bezugs zu Joh 11. 28 Im Unterschied zu V. 1 ist V. 13 jedoch in der 1. Pers. Sg. formuliert. 29 Auch hier fällt die Nähe zur lukanischen Überlieferung auf, denn auch in Lk 24,4–7 erscheinen zwei Engel, die hier als ἄνδρες bezeichnet werden. Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 276 (Anm. 46), geht ebenfalls davon aus, dass Joh hier Lk rezipiert.

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suchst du?“), die beide das Missverstehen Marias betonen. Denn wenn die Deutung zutrifft, dass das Weinen der Maria Ausdruck des Unverständnisses ist und Joh 20,1– 18 einen hypertextuellen Reflex auf die lukanischen Ostererzählungen darstellt, dann liegt es nahe, in V. 15 die Frage aus Lk 24,5 – „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ – mitzuhören. Marias Missverstehen setzt sich fort, wenn sie meint, dass Jesus der Gärtner sei, und annimmt, dass der Auferstandene seinen Leichnam weggetragen habe. Dabei erreicht ihre Fehleinschätzung eine Klimax in der Aussage, dass sie den Leichnam Jesu holen, d.h. zurück ins Grab bringen werde (V. 15). Satt zu erkennen, dass Jesus auferstanden ist und er selbst es ist, der mit ihr spricht, will Maria ihn ein zweites Mal bestatten. Eine Wende vollzieht sich, als Jesus Maria anspricht: „Μαριάµ“, und sie erwidert: „ῥαββουνί“ (V. 16). Indem Jesus Maria bei ihrem Namen ruft, erkennt sie in ihm denjenigen, dessen Wirken neben Zeichenhandlungen darin besteht, über Gott und die eigene Sendung zu lehren.30 Und ebendies tut der johanneische Jesus im Folgenden, wenn er Maria darlegt, worin seine Sendung zum Ziel kommt. Das Ziel der Sendung Jesu besteht in seiner Anabasis zu Gott (V. 17): „Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Mit dieser Aussage Jesu erhält die dreimalige Frage Marias nach dem ‚Wo’ Jesu eine Antwort. Der Auferstandene ist nicht bei den Toten zu finden. Er offenbart sich und gibt sich zu erkennen im Wortgeschehen persönlicher Anrede, die Maria eine Verbindung herstellen lässt zur Lehre des Irdischen. Damit ist es sein Wort, dass ein Erkennen 30 Vgl. dazu die auf Jesus bezogenen Belege für das Verb διδάσκω in Joh 6,59; 7,14.28; 8,2.20; 18,20. Anders Zumstein, Narratologische Lektüre (s. Anm. 1), 282, der Marias Anrede Jesu als ‚Rabbuni’ negativ beurteilt: „Maria besteht darauf, in der Person des Auferstandenen den irdischen Rabbi wiederzuerkennen, um so mit der Person aus der Vergangenheit verbunden zu bleiben.“

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des Auferstandenen ermöglicht. Somit wird nachösterlich in schriftgewordenen Worten Jesu ein Verstehen ebendieser „Schrift“, dass er aus Toten auferstehen müsse, möglich. Denn nun kann Maria sagen: ἑώρακα τὸν κύριον (V. 18), und den anderen Schülern Jesu verkündigen, worin das Ziel des Weges Jesu besteht.31 Damit tradiert die Verkündigung Marias die Antwort nach dem Ziel des Weges Jesu und beantwortet damit die Frage nach dem ‚Wo’ Jesu in doppelter Weise. Die nachösterliche Gegenwart Jesu ist beim Vater, was die Glaubenden in der „Schrift“ erkennen können. Damit fungiert die „Schrift“ erneut als hermeneutische Kategorie. Zugleich wird deutlich, dass sie Medium und Maßstab johanneischer Verkündigung ist. Die „Schrift“ ist es auch, die ein umfassendes Verstehen der ἀνάβασις und damit der Frage nach dem ‚Wohin’ des Weges Jesu sowie seines ‚Sehens’ ermöglicht. Die ἀνάβασις Jesu und das ‚Wohin’ seines Weges im Joh Nach Joh 20,17 befiehlt der johanneische Jesus Maria: µή µου ἅπτου,32 und begründet (γάρ) es im Folgenden 31 Der Inhalt der Verkündigung Marias ist durch die Wendung καὶ ταῦτα εἶπεν αὐτῇ deutlich zurückbezogen auf die Jesus-Rede in V. 17. 32 Während sich vor dem Hintergrund der folgenden Rede von der ἀνάβασις Jesu eine Übersetzung mit „Halte mich nicht“ nahelegt, erscheint mit Blick auf die Thomasperikope eine Wiedergabe des Prohibitivs mit „Berühre mich nicht“ erwägenswert. Auf diesen Zusammenhang verweist überzeugend Verburg, Magdalena (s. Anm. 24), 87f. Er erkennt in dem Verbot ein dramaturgisches Gestaltungselement, das Maria als diejenige charakterisiert, die ohne Jesus zu berühren, glaubt. Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 277, entscheidet sich für die erste Übersetzungsmöglichkeit, weil Maria lernen müsse, „nicht den Irdischen in der vertrauten Gestalt festzuhalten, sondern in den Abschied einzuwilligen“ (a.a.O., 278). Auch Zumstein, Erinnerung (s. Anm. 22), 54, versteht die Aufforderung Jesu an Maria in diesem Sinne. M.E. liegt der Akzent eher auf dem Gesamt der Sendung Jesu, so dass es hier weniger darum geht, zwischen Irdischen und Auferstandenem zu differenzieren, sondern beides zusammen zu denken. Ähnlich argumentiert auch Clark-Soles, Mary Magdalene

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damit, dass er noch nicht zu seinem Vater hinaufgegangen sei. Schließlich erhält Maria den Auftrag, den Brüdern Jesu zu sagen, dass er jetzt33 zu seinem Vater und zu ihrem Vater, zu seinem Gott und zu ihrem Gott hinaufgehe.34 Betrachtet man die weiteren Belege, die von einer ἀνάβασις Jesu handeln, dann wird deutlich, dass diese ausschließlich im Zusammenhang der κατάβασις Jesu verhandelt wird, so dass in der Rede vom ‚Hinaufgehen’ Jesu zugleich dessen Herkunft thematisiert wird. Somit nimmt das Joh durch die Zusammenstellung von καταβαίνω und ἀναβαίνω jeweils das Ganze der Sendung Jesu in den Blick, was sowohl für die Glaubhaftigkeit seines Zeugnisses als auch für seine soteriologische Wirkung entscheidend ist. Denn die himmlische Herkunft ‚von oben’ sowie das ‚Hinaufgegangen-Sein’ sind singu(s. Anm. 24), 637. Bedenkenswert ist Zumsteins Reflexion über die Bedeutung der Anamnese für die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, wozu er sich narratologischer Kategorien bedient. Joh 20,17 bezeichnet er daher als ‚gemischte Prolepse’, die dazu diene, „die Beziehung, die zwischen Jesus und seinen Jüngern nach seinem Abschied besteht“ (a.a.O., 53), narrativ zu gestalten. 33 Deutlich wird dies an der Verwendung des Verbes im Präsens. 34 In diesem Zusammenhang sei nochmals auf die zweifache Thematisierung eines Umdrehens Marias in den VV. 14 und 16 verwiesen. Wenn die These von Verburg, Magdalena (s. Anm. 24), 86, zutrifft, dass es sich in V. 16 aufgrund der sprachlichen Unterschiede zu V. 14 lediglich um eine Drehung um 90° handele, so dass Maria und Jesus nun nicht „hintereinander stehen, nachdem sie zuvor sich gegenüber gestanden haben, sondern nun nebeneinander“, dann kann dies als dramaturgische Inszenierung der Aussage Jesu in V. 17 verstanden werden, die Jesus und Maria als egalitär darstellt. Gemäß der szenischen Abfolge würden somit beide in das leere Grab blicken, was die hier vertretene These des zeichenhaften Charakters unterstützen würde, in der der johanneische Jesus auf den Leben schaffenden Gott verweist. Die Ostererzählung in Joh 20 sowie die im Anschluss daran erzählte Geistesgabe an die Glaubenden bilden somit gemeinsam mit dem Prolog eine inclusio um Joh 1–20, in der auf den lebendigen und Leben erzeugenden Gott verwiesen wird. Gestützt wird diese Beobachtung für Joh 20,1–10 durch den Ort, an dem die Begegnung lokalisiert ist: in einem Garten.

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lär für den Menschensohn (Joh 3,13);35 als solcher verkündigt er, was er gesehen und gehört hat (Joh 3,32). Eine ganz ähnliche Perspektive spiegelt auch Joh 6,62 wider.36 Dort wird im unmittelbaren Kontext der Lebensbrotrede die soteriologische Notwendigkeit des Todes und der Auferstehung Jesu – also seiner κατάβασις und ἀνάβασις – entfaltet und festgehalten, dass die Glaubenden in den Worten Jesu an deren heilvoller Wirkung partizipieren. Damit erhebt sich in den genannten Stellen mit ihrer nachösterlichen Perspektive der Anspruch des Joh, dass das Zeugnis dessen, der vom Himmel hinabund wieder hinaufgestiegen ist, in seinem Evangelium schriftliche Gestalt angenommen hat. Dabei ist es eine Besonderheit des Joh, dass Jesu Kreuzigung als Erhöhung37 beschrieben wird und ihr damit bereits das Moment der ἀνάβασις eignet. Es stellt sich daher die Frage, ob das Joh nicht auch ohne Ostererzählungen hätte auskommen können.38 Wird zudem das Kreuzeswort Jesu – τετέλεσται (Joh 19,30) – berücksichtig sowie die Beglaubigung des Kreuzesgeschehens durch den geliebten Jünger in Joh 19,35, dann wird zumindest deutlich, dass das Joh durch die Vorstellung des Kreuzestodes Jesu als Erhöhung und Vollendung das Sterben Jesu in seiner ganzen soteriologischen Relevanz akzentuiert. Wahrscheinlich besteht darin eine Reaktion auf die Kon-

35 Joh drückt dies sprachlich in vielfältiger Weise aus. So kontrastiert er in Joh 3,12 das „Himmlische“ dem „Irdischen“. 36 Zuvor ist in Joh 6 von Jesus als dem „vom Himmel Herabgekommenen“ bzw. vom ihm als dem „vom Himmel herabgekommenen Brot die Rede“ (Joh 6,33.38.41f.50f.58). 37 Joh 3,14; 8,28; 12,32.34. 38 Anders hingegen Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 271f., sowie Zumstein, Narratologische Lektüre (s. Anm. 1), 284, der aufgrund der Verbindungen zu den Abschiedsreden Joh 20 als konstitutiven Bestandteil des Evangeliums betrachtet. Sofern Joh 19,35 den ursprünglichen Schluss des Evangeliums gebildet hätte, wäre zu fragen, ob Mk mit seinem Ende in Mk 16,8 der frühesten Osterüberlieferung nicht sehr nahekam.

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flikte um die Bedeutung des Todes Jesu, von denen der 1 Joh berichtet.39 Im Zusammenhang mit der Kreuzigung Jesu ist dann auch Joh 1,51 zu verorten. Dort ist zwar nicht Jesus Subjekt des Hinab- und Hinaufsteigens, sondern die Engel, deren ἀνάβασις und κατάβασις auf dem Menschensohn beschrieben wird. Demnach repräsentiert in einer allegorischen Deutung der Himmelsleiter aus Gen 28 der Gekreuzigte die Verbindung zwischen Himmel und Erde, und das Kreuz bildet damit den Ermöglichungsgrund dafür, dass die Glaubenden den Himmel geöffnet sehen (Joh 1,51: ὄψεσθε τὸν οὐρανὸν ἀνεῳγότα). Auf diesen ‚himmlischen’ Zugang nämlich zielt das ‚Wohin’40 des Weges Jesu, das Joh mit dem ‚Woher’ Jesu zusammendenkt. Dabei kommt der Aussage Jesu in Joh 20,17 besondere Bedeutung zu. Denn mit der Ansage ἀναβαίνω πρὸς τὸν πατέρα µου καὶ πατέρα ὑµῶν καὶ θεόν µου καὶ θεὸν ὑµῶν sowie der Bezeichnung der Schüler Jesu als ‚Brüder’ wird Grundlegendes erläutert. So wird neben dem Ziel der Sendung Jesu das Verhältnis Jesu zu Gott geklärt und – daraus resultierend – das Beziehungsverhältnis der Glaubenden zu Vater und Sohn. Der johanneische Jesus solidarisiert sich geschwisterlich mit den Glaubenden und ordnet sich selbst dem Vater als seinem Gott unter. Ebendies entfaltet das Joh in seiner Rede vom Woher und Wohin Jesu in differenzierter Weise. Denn zum einen wird Jesus durch seine Herkunft vom Vater als einzig geborener Sohn, der wahrhaft vom Wesen Gottes ist, von allen anderen unterschieden (Joh 1,14). Das vierte Evangelium macht deutlich, dass weder die Ἰουδαῖοι noch die Schüler Jesu imstande sind, den Weg Jesu zum Kreuz zu gehen.41 Zum anderen werden diese Differen39 Vgl. dazu 1Joh 1,22; 4,2f.; 5,5f. Betont werden hier die Inkarnation und das reale Leiden des Gottessohnes mit dem Ziel, die Identität des Irdischen mit dem auferstandenen Erhöhten auszusagen. 40 Diskutiert werden alle relevanten Belege mit ὅπου und ποῦ. 41 Vgl. Joh 7,14–36; Joh 8,12–20.21–30 sowie Joh 13,33.36–38.

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zen im Joh durch den Tod Jesu aufgehoben.42 Nachösterlich nämlich haben die Glaubenden Zugang zur selben Gottesgegenwart Jesu. Joh beschreibt diese als wechselseitige In-Existenz von Vater, Sohn und Glaubenden (Joh 17,21), die nach Joh 17,24 der Bitte Jesu entspricht, dass dort, wo er ist, auch all diejenigen seien (ἵνα ὅπου εἰµὶ ἐγὼ κἀκεῖνοι ὦσιν µετ᾿ ἐµοῦ), die Gott ihm gegeben hat.43 Dadurch wird der Weggang Jesu zum Vater zum Grund der Freude für die Glaubenden (Joh 16,5),44 weil er dazu dient, ihnen einen Ort in der Gegenwart Gottes zu bereiten (Joh 14,3: ἵνα ὅπου εἰµὶ ἐγὼ καὶ ὑµεῖς ἦτε). Denn schließlich versteht Joh Jesus als den Weg zum Vater (Joh 14,6). Damit wird deutlich, dass der johanneische Jesus aufgrund seines Woher und Wohin den Glaubenden Zugang zur Gottesgemeinschaft eröffnet und ihnen, wie Joh 20,17 verdeutlicht, den Status der Gotteskindschaft ermöglicht.45 In alledem hält das Joh explizit an der Einzigkeit Gottes fest, wie die Rede Jesu von ‚seinem Gott’ in Joh 20,17 belegt. Es scheint, als ob das Joh hiermit einem Missverstehen Jesu als einem zweiten Gott entgegenwirken wolle – eine Annahme, die sich erhärtet, wenn man Marias Verkündigung im Evangelium veror42 So geht aus Joh 13,36 hervor, dass einzelne Glaubende – hier Petrus – Jesus in den Tod folgen werden (vgl. weiter Joh 12,26). 43 Vgl. weiter Joh 12,26: ἐὰν ἐµοί τις διακονῇ, ἐµοὶ ἀκολουθείτω, καὶ ὅπου εἰµὶ ἐγὼ ἐκεῖ καὶ ὁ διάκονος ὁ ἐµὸς ἔσται· ἐάν τις ἐµοὶ διακονῇ τιµήσει αὐτὸν ὁ πατήρ. 44 Vgl. auch Zumstein, Erinnerung (s. Anm. 22), 54, der ebenfalls zu Recht Joh 20,17 parallel zu Joh 16,7 setzt, sowie ders., Narratologische Lektüre (s. Anm. 1), 284f. Er verweist treffend auf die Bedeutung der Abschiedsreden für das Verständnis von Joh 20 hin. Das Bindeglied, das er sieht, besteht in der Frage, wie die „Entzogenheit des Offenbarers“ (a.a.O., 284) bewältigt werden könne. Die „Verheissungen“ der Abschiedsreden seien in Joh 20 „Wirklichkeit geworden“ (a.a.O., 285). Daher versteht Zumstein Joh 20 als „narrative(s) Pendant zu 14,18-26 und zur Relecture dieses Abschnitts in 16,16-22“ (a.a.O., 285). 45 Zudem ist zu bedenken, dass die familia Dei sich bereits unter dem Kreuz durch den Erhöhten konsolidiert (vgl. Joh 19,27) und auch die bethanischen Geschwister in Joh 11f. als Prototyp der johanneischen Gemeinde als familia Dei fungieren.

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tet. Was also bedeutet die Aussage Marias: „Ich habe den Herrn gesehen“ (Joh 20,18)? Sehen im Joh ὁράω gehört zu den Verben im Joh, die neben ihrer eigentlichen Bedeutung in einem metaphorischen Sinn verwendet werden können. Wie beim geliebten Jünger und Maria aus Magdala geht es dabei um ein verstehendes Sehen, das über die bloße sinnliche Wahrnehmung hinausgeht und aus dem Wahrgenommenen die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Dementsprechend ist das leere Grab für den Lieblingsjünger ein ausreichendes Zeichen zu glauben, und Maria verkündigt, sie habe den Herrn gesehen, obwohl sie den Auferstandenen seiner Erscheinung nach für den Gärtner hält.46 Später dann werden die Jünger Jesu nach einer Begegnung mit ihm ebenso wie Maria sagen: ἑωράκαµεν τὸν κύριον (Joh 20,25).47 Was es heißt, den Herrn zu sehen,48 erläutern im Wesentlichen Stellen wie Joh 11,40 und 14,7–11. Denn sie machen deutlich, dass im Wirken und Wesen Jesu Gott selbst sichtbar wird, ohne dass damit die Differenz zwischen Jesus und Gott aufgehoben würde. Vielmehr wird im Joh durch erzählerische Details und der Thematisierung der Vater-Sohn-Relation auf die mediale Funktion des Sohnes verwiesen. Demnach wird in Joh 11 die Herausrufung des Lazarus aus dem Grab als Sichtbarwerden der δόξα τοῦ θεοῦ (Joh 11,4) präsentiert. Zudem lässt Joh Jesus am Grab des Lazarus ein Gebet sprechen, dass die im Folgenden erzählte µετάβασις aus dem Tod ins Leben letztlich auf Gott selbst zurückführt. Da dieser den Sohn 46 Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die bereits erwähnte Stelle Joh 19,35. Hier tritt der Lieblingsjünger als Augenzeuge auf, dessen Zeugnis auf den Glauben der Adressaten zielt – wie dann erneut in Joh 20,30f. Dazu formuliert das Joh in 19,35 wie in 20,30f. mit einem durch die Konjunktion ἵνα eingeleiteten Finalsatz. 47 Vgl. auch Joh 20,20. 48 Vgl. weiter Joh 3,3.36; 8,56; 9,37; 11,40.

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allezeit erhört, ist jener wie der Vater bevollmächtigt, Tote ins Leben zu rufen (vgl. Joh 11,41f.; Joh 5,26). In den Abschiedsreden (Joh 14,7–11) heißt es: „Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Von jetzt an kennt ihr ihn und ihr habt ihn gesehen (καὶ ἑωράκατε αὐτόν)“ (Joh 14,7), bzw.: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ (Joh 14,9). Diese Aussagen Jesu erhalten eine Erläuterung in V. 10. Denn dort wird Jesu ‚Wortwirken’49 auf die bleibende Gegenwart Gottes im Sohn zurückgeführt. Jesus erscheint als Repräsentant Gottes, der nichts aus sich selbst heraus sagt und tut. In Joh 16,16–22 schließlich verheißt der johanneische Jesus ein baldiges Wiedersehen. Auffällig ist dabei die insgesamt dreimal verwendete Wendung Μικρὸν καὶ οὐκέτι θεωρεῖτέ µε, καὶ πάλιν µικρὸν καὶ ὄψεσθέ µε sowie der differenzierte Gebrauch der Verben θεωρέω und ὁράω. Denn während ὁράω metaphorisch gebraucht wird, verwendet Joh θεωρέω hier wie in Joh 20,6 dazu, um das physische Sehen auszudrücken. Darüber hinaus sind die unterschiedlichen Tempora signifikant. So zeigt das Gegenüber von Präsens und Futur, dass den Glaubenden ein verstehendes Sehen zusagt wird, durch das die sinnliche Wahrnehmung des irdischen Jesus abgelöst werden wird. In diesem nachösterlichen Sehen wird die Trauer angesichts des nahenden Abschieds50 durch bleibende Freude überwunden werden (Joh 16,22): „Jetzt also habt ihr Kummer. Ich aber werde euch wiedersehen (πάλιν δὲ ὄψοµαι ὑµᾶς) und euer Herz wird sich freuen, und eure Freude wird keiner von euch nehmen.“ Korreliert man nun die Aussagen aus Joh 14, dass wer Jesus sieht, den Vater sieht, und in Joh 16, dass die Glaubenden Jesus bald wiedersehen werden, dann wird deutlich, weshalb Joh 20 insgesamt viermal vom Sehen 49 Wie V. 10 zu erkennen gibt, ist gemeint, dass Gott in den Worten Jesu wirkt. 50 Vgl. dazu die Parabel von der gebärenden Frau in Joh 16,21 und ihre Anwendung in Joh 16,22.

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des Herrn spricht51 und dieses Sehen auch mit dem Motiv der Freude verbindet.52 Österliches Sehen meint demnach ein Sehen Gottes, das begründet ist in einem adäquaten Verstehen der Person Jesu – und zwar der Person Jesu in seiner Relation zu Gott. Es gilt demnach zu verstehen, dass der auferstandene Gekreuzigte den Tod überwindenden Schöpfergott repräsentiert. Nur so bilden die singuläre Rede des johanneischen Jesus von ‚seinem’ Gott und das Bekenntnis des Thomas „Mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28) keinen Gegensatz zur Aussage Jesu in Joh 20,17.53 Sollte diese Deutung zutreffen, dann zielte die johanneische Osterdarstellung darauf, die Einzigkeit Gottes und die soteriologische Funktion Jesu in Relation zum Vater narrativ zu inszenieren.54 Indem die ἀνάβασις als Erfüllung der Schrift gedeutet wird (Joh 20,9), erhält die vorgeschlagene Deutung ein zusätzliches Argument: Denn durch die Verbindung von Schrift und Auferstehung wird die Kontinuität des Chris51 Joh 20,18.20.25.29. Dabei ist auch Joh 20,8 zu berücksichtigen, da hier bereits der Makarismus aus Joh 20,29 vorweggenommen ist. Die Bedeutung des Sehens bzw. Nicht-Sehens unterstreichen zudem die VV. 25.27.29 der Thomasperikope. 52 Vgl. Joh 20,20 sowie die Darstellung der Maria, die sie von der weinenden zur verkündigenden Nachfolgerin macht. 53 Obwohl auch Clark-Soles, Mary Magdalene (s. Anm. 24), 638, festhält, dass „Jesus was serious about there being no distinction between the relationship he shares with God and which his followers share with God after his resurrection“, vertritt er vor dem Hintergrund des Thomasbekenntnisses sowie Joh 1,1 den Status Jesu als Gott. Allerdings trifft diese Annahme für Joh 1,1 aufgrund des fehlenden Artikels vor θεός gerade nicht zu. 54 Danach geht es bei Joh um ein verstehendes Sehen Gottes, verwirklicht durch den Sohn Gottes als demjenigen, der die Gotteskindschaft ermöglicht und als Bruder der Glaubenden eine familia Dei konstituiert. Dessen Sendung vollendet sich in seiner ἀνάβασις zum Vater (Joh 20,17), an die die Gabe des Geistes geknüpft ist (V. 22). Vgl. dazu die Analogie zu Lk 24,47–49, da auch hier die Verbindung von Geistgabe und Vergebung wie in Joh 20,22f. hergestellt wird. Anders Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 282; ClarkSoles, Mary Magdalene (s. Anm. 24), 638, die annehmen, dass der Osterglaube darauf ziele, die Identität Jesu als Gott zu erkennen.

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tusglaubens zu den Schriften Israels und damit zu dem einen Gott betont. Daher müssen spätere Generationen nicht mehr ‚sehen’ können,55 wie es der Makaraismus in V. 29 formuliert, sondern lediglich die in der johanneischen Gemeinde verkündigte Schrift verstehen, die in Gestalt des Johannesevangeliums bezeugt, dass Jesus aus Toten auferstanden ist. Auch für diese Vorstellung, so legt es sich nahe, dürfte Lk Vorbild gewesen sein (Lk 24,26.44–46). Maria kommt dabei die besondere Rolle zu, als Erste sagen zu können: „Ich habe den Herrn gesehen“, und mit der Verkündigung von der ἀνάβασις Jesu zu seinem und zu ‚ihrem’56 Gott weiter zu geben, worin das Ziel der johanneischen Jesusdarstellung besteht: Dass, wer Jesus gesehen hat, den Vater gesehen hat (Joh 14,9).57 Joh inszeniert damit Maria als Hermeneutin der Person Jesu, da sie in ihm den Kyrios sieht. Um dies narrrativ zu entfalten, bedient sich Joh 20 intra- und intertextueller Bezüge und gestaltet dabei eine eigene Osterüberlieferung. Deren Fokus liegt darauf, im Sohn den Vater zu sehen, d.h. es wird das Gesamt der Sendung Jesu mit κατάβασις und ἀνάβασις in den Blick genommen und in seiner soteriologischen Bedeutung für die Glaubenden als Gotteskinder gedeutet. Auffällig sind dabei einige er55 Das erklärt, weshalb trotz der Betonung des Sehens Joh 20 mit einer Seligpreisung derjenigen endet, die nicht sehen, aber glauben (Joh 20,29). 56 Das Personalpronomen ὑµῶν in Joh 20,17 inkludiert die Jünger und Maria, was zum einen aus dem sich beim Sterben Jesu konstituierenden familiären Beziehungsgefüge johanneischer Christusglaubender (Joh 19,26f.), bei dem auch Maria anwesend ist, ergibt sowie aus der proleptischen Darstellung der bethanischen Geschwister als familia Dei in Joh 11 und Joh 12,1–11 folgt. 57 Bedenkenswert sind die Formulierungen im Perfekt, die die bis in die Gegenwart hinein reichende Bedeutung des Sehens Gottes im Sohn ausdrücken. Die Ostererzählungen bilden so gemeinsam mit Joh 1,18 einen Rahmen um die Erzählung, indem Joh auch die Ostererzählungen als Exegese Gottes durch den Sohn (vgl. Joh 1,18) inszeniert, die nun ein Sehen Gottes ermöglichen, das zuvor dem Sohn vorbehalten war (Joh 1,18).

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zählerische Details, die die Aufmerksamkeit auf einen weiteren Intertext lenken: Jes 43,1–11. Jes 43 Joh 20 unterscheidet sich von den synoptischen Osterüberlieferungen grundlegend dadurch, dass mit Maria auf eine einzelne Erzählfigur fokussiert wird. Zudem sticht hervor, dass Maria den Auferstandenen dadurch erkennt, dass er sie bei ihrem Namen ruft. Hierbei könnte es sich um eine Wiederaufnahme von Jes 43,1 handeln, wenn es dort in der Gottesrede heißt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“58 Weiter fällt in Joh 20,17 die singuläre Rede Jesu von „meinem Gott und eurem Gott“ auf sowie die Verortung des Ostergeschehens im Rahmen der κατάβασις und ἀνάβασις Jesu. Beides führt auf narrativer Ebene dazu, dass Maria sagt: „Ich habe den Herrn gesehen.“ Dabei hat ein Durchgang durch die ὁράω-Belege gezeigt, dass sich dieses Sehen auf ein Sehen und Erkennen Gottes im Sohn bezieht. Folglich betont Joh 20 die Zeugenfunktion des Sohnes und erinnert damit an Jes 43,10: „Ihr seid meine Zeugen, und auch ich bin Zeuge, spricht der Herr, Gott, und das Kind / der Diener, den ich erwählt habe, damit ihr erkennt und glaubt und begreift, dass ich bin; vor mir war kein anderer Gott, und nach mir wird keiner sein.“ Dabei betont Joh neben der Zeugenfunktion des Sohnes ebenso wie Jes 43,10 (γένεσθέ µοι µάρτυρες, κἀγὼ µάρτυς) die Zeugenschaft der Glaubendenden. Diese beginnt in Joh 20 mit dem geliebten Jünger, der „sah und glaubte“ und damit als Identifikationsangebot für die Leserinnen und Leser fungiert. Ihm folgt Maria, 58 Anders hingegen Verburg, Magdalena (s. Anm. 24), 88, und Frey, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s. Anm. 3), 277 (Anm. 54), die die Anrede Marias mit Rekurs auf Joh 10,3f.27 erklären. Dies vertritt auch Clark-Soles, Mary Magdalene (s. Anm. 24), 636f. Verburg (a.a.O.) verweist darüber hinaus auf Joh 18,37, wodurch er die umfassende Erkenntnis Jesu durch Maria prägnant auf den Punkt bringt.

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die den Herrn gesehen hat und in ihrer Verkündigung gegenüber den Brüdern Jesu davon Zeugnis ablegt, sowie die Schüler Jesu, die bezeugen: „Wir haben den Herrn gesehen“. Dabei liegt der Akzent der Aussage in beiden Texten auf der glaubenden Erkenntnis der Gottheit Gottes und dessen heilvollen Handeln (ἵνα γνῶτε καὶ πιστεύσητε καὶ συνῆτε ὅτι ἐγώ εἰµι, ἔµπροσθέν µου οὐκ ἐγένετο ἄλλος θεὸς καὶ µετ᾿ ἐµὲ οὐκ ἔσται). Mit Worten aus Jes 43,11 ausgedrückt, klingt dies folgendermaßen: „Ich bin Gott, und es gibt keinen Retter außer mir“ (ἐγὼ ὁ θεός, καὶ οὐκ ἔστιν πάρεξ ἐµοῦ σῴζων) bzw. mit Jes 43,3: „Ich bin der Herr, Gott, der Heilige Israels, der dich rettet“ (ἐγὼ κύριος ὁ θεός σου ὁ ἅγιος Ισραηλ ὁ σῴζων σε). Damit wird vor dem Hintergrund von Jes 43 als Intertext die Aufmerksamkeit auf die soteriologische Perspektive von Joh 20 gelenkt. Diese wird mit einer Vielzahl an Motiven eingebracht, wie der Rede von der ἀνάβασις, der Gotteskindschaft und damit der Geschwisterschaft Jesu zu den Glaubenden sowie der Frage nach dem Wohin des Weges Jesu, die ihre Antwort in einer Integration der Glaubenden in die wechselseitige In-Existenz von Vater und Sohn erhielt. Die heilvolle Zuwendung Gottes kommt darüber hinaus in beiden Texten darin zum Ausdruck, dass von Kindern Gottes die Rede ist, die nach Gottes Namen benannt sind (Jes 43,6f.: … τοὺς υἱούς µου … καὶ τὰς θυγατέρας µου …, 7 πάντας ὅσοι ἐπικέκληνται τῷ ὀνόµατί µου). Zudem ist bemerkenswert, dass sowohl in Jes 43,4 (κἀγώ σε ἠγάπησα) als auch in Joh 3 im Kontext der κατάβασις und ἀνάβασις bzw. der Erhöhung Jesu, Gottes Handeln mit dem Motiv der Liebe begründet wird. Da sich ein adäquates Verstehen von Joh 20 nur auf der Grundlage intratextueller Bezüge und unter Berücksichtigung der Rezeption lukanischer Traditionen ergab, ist es notwendig, nach der Bedeutung von Jes 43 als Intertext für das Joh insgesamt zu fragen. Werden ebendiese Bezüge wahrgenommen, dann erweist es sich als umso plausibler, dass Jes 43 eine bedeutende Rolle für das Joh spielt. Denn es legt sich nahe, dass Jes 43,10f. einen der

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traditionsgeschichtlichen Hintergründe für die Ich-binWorte bildet.59 Und auch beim johanneischen Petrusbekenntnis: „Du bist der Heilige Gottes“, dürfte es sich um eine Rezeption der jesajanischen Vorstellung des ‚Heiligen Israels’ handeln. Beispielhaft sei hier noch einmal auf Jes 43,3 hingewiesen. Dass über Jes 43 hinaus Deuterojesaja johanneische Theologie beeinflusste, belegt insbesondere das johanneische Verständnis von Schrift. Es spricht für eine kreative Rezeption und Fortschreibung der Gottesknechtlieder bei Deuterojesaja, die es zum einen ermöglichte, den Tod Jesu als Erhöhung und Verherrlichung zu deuten (Jes 52,13) und zum andern zu behaupten, dass die Schrift bezeuge, dass Jesus aus Toten auferstehen müsse. Auch hier dürfte Lukas Pate gestanden haben. Für Joh 20 jedenfalls lässt sich Jes 43 als ein Intertext identifizieren, der neben der lukanischen Tradition und Rückbezügen zu Joh 1–19 dazu dient, das johanneische Verständnis des Osterglaubens zu explizieren. Damit erweist sich Joh 20 als intra- und intertextuelle Leseanleitung zum Sehen Gottes im Sohn. Maria kommt dabei die Rolle zu, eine johanneische Hermeneutin der Person Jesu als des Kyrios und erste Zeugin des Osterglaubens zu sein.

59 Vgl. dazu exemplarisch Hartwig Thyen, Art. Ich-Bin-Worte, RAC 17 (1996), 147–213 (Sp. 174).

Pierre Bühler

„Gib mir zu trinken!“ Das Brunnenmotiv in Johannes 4 und im Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry

Persönliche Einleitung Als ich von Jörg Frey angefragt wurde, ob ich bereit wäre, auf dem Symposion zu Jean Zumsteins 75. Geburtstag etwas aus der Rezeptionsgeschichte des Johannesevangeliums vorzutragen, war es mir schnell klar, dass es etwas aus der literarischen Rezeption sein sollte: Geburtstage feiert man am besten auf nicht allzu ernste, auf festlichspielerische Art. Auch naheliegend war, dass es den französischen Sprachbereich betreffen sollte. Und so kam ich auf Antoine de Saint-Exupéry. Erst nachträglich merkte ich plötzlich, dass es von den Lebensdaten her sogar einen klaren Bezug gibt: Saint-Exupéry ist am 31. Juli 1944 auf einem Flug als Kriegspilot umgekommen. Jean Zumsteins 75. Geburtsjahr ist also auch SaintExupérys 75. Todesjahr. Warum nun aber soll etwas aus seinem Kinderbuch Der Kleine Prinz zum Thema werden? Nicht etwa, weil man mit fünfundsiebzig Jahren langsam wieder kindlich wird. Viel eher, weil dem Kindsein und dem Kindwerden im Johannesevangelium große Bedeutung zukommt. Und weil der kleine Prinz in vielem, wie wir noch sehen werden, johanneische Züge trägt. Hier also ist er, dieser Prinz, mit dem wir uns kurz befassen wollen, in feierli-

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cher Tracht, wie es sich für eine Geburtstagsfeier geziemt:1

Fast könnte man hier frei assoziieren: „und wir schauten seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14)! Doch kommen wir nun zu unserem Thema. 1. Meine Frage Es mag noch etwas zufällig scheinen, dass die Anweisung „Gib mir zu trinken!“ sowohl in Joh 4,7 als auch in der Brunnenszene des Kleinen Prinzen2 wörtlich zu finden ist. Achtet man aber auf den unmittelbaren Kontext, 1 Die Zitate und die Bilder stammen aus: Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz. Mit Zeichnungen des Verfassers. Originalübersetzung von Grete und Josef Leitgeb, Düsseldorf, (1950/2014), 742016. Zu religiösen Themen bei Saint-Exupéry, vgl. André-A. Devaux, Saint-Exupéry und die Frage nach Gott, Frankfurt a.M., 1995. 2 Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz (s. Anm. 1), 77.

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so ergeben sich weitere Resonanzen, die einen aufmerken lassen. Bei Johannes heißt es im Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin: „Kenntest du die Gabe Gottes und wüsstest, wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, so würdest du ihn bitten, und er gäbe dir lebendiges Wasser.“ (Joh 4,10) Dieses lebendige Wasser ist mehr als einfaches Wasser, es weist tiefer ins ewige Leben hinein, wie es etwas später Jesus hervorhebt: „Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst haben. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird in Ewigkeit nicht mehr Durst haben, nein, das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben sprudelt.“ (Joh 4,13f.) Nicht ganz unähnlich heißt es im Kleinen Prinzen vom Wasser, das er zu trinken bekommt: „Das war wie ein Fest. Dieses Wasser war etwas ganz anderes als ein Trunk. […] Es war gut fürs Herz, wie ein Geschenk.“3 Das führt mich zu meiner Frage: Könnte es sein, dass die Brunnenszene im Kleinen Prinzen eine „kreative Erinnerung“ an die Brunnenszene in Joh 4 ist?4 Um diese Frage soll es im Weiteren gehen. Wir sammeln zunächst einige Hinweise aus Saint-Exupérys Leben und Werk und nehmen johanneische Züge im Kleinen Prinzen wahr, bevor wir uns dann, in einem dritten Schritt, auf die Brunnenszene des Romans im Vergleich mit Joh 4 konzentrieren. Ein kurzer Schluss wird versuchen, die gestellte Frage zu beantworten.

3

A.a.O., 77f. In Anspielung auf: Jean Zumstein, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 22004. 4

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2. Einige Hinweise aus Saint-Exupérys Leben und Werk Der 1900 geborene und 1944 gestorbene Antoine de Saint-Exupéry stammt aus einer wohlhabenden französischen Adelsfamilie. Die Mutter sorgt für eine stark religiös geprägte Erziehung in renommierten Jesuitenkollegien. 1915–1917 verbringt er zwei Jahre bei den Marianiten im schweizerischen Freiburg. Man darf also eine gründliche Bibelkenntnis voraussetzen, die sich auch durch viele Anspielungen und Bezugnahmen im gesamten Werk bestätigt. Sein Leben ist durch schwere Verluste geprägt. Bereits mit vier Jahren verliert er seinen Vater. Vor allem aber wird ihn der Tod seines jüngeren, 1902 geborenen Bruders im Jahre 1917 schwer belasten. Dieser Verlust führt den 17jährigen in eine religiöse Krise, die zur Folge hat, dass er sich religionskritisch mit dem von seiner Familie geerbten katholischen Glauben auseinandersetzt und diesen durch einen humanistischen Glauben an den Menschen ersetzt. Diese neue, religionskritischhumanistische Ausrichtung zeigt sich am eindeutigsten in seinem Buch Terre des Hommes, das 1939 erscheint.5 Diese Wende führt jedoch nicht zu einer Abwendung von der Bibel, sondern vielmehr zu einer humanistischen Rezeption biblischer Motive. Neben verschiedenen Publikationen, die oft mit seinen Flugerfahrungen zusammenhängen, beginnt er Mitte der 1930er Jahre an einem großen Projekt zu arbeiten, das er von Anfang an als posthumes Werk auffasst und das dann auch erst posthum, 1948, unter dem Titel Citadelle erscheint.6 Das dicke Buch, das Saint-Exupéry als eine 5 Auf Deutsch seltsamerweise unter dem Titel Wind, Sand und Sterne veröffentlicht, in: Antoine de Saint-Exupéry, Gesammelte Schriften in drei Bänden, München 31985, Bd. 1, 175–340. 6 In deutscher Übersetzung: Die Stadt in der Wüste, in: Antoine de Saint-Exupéry, Gesammelte Schriften, Bd. 2.

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Art neue Bibel betrachtet, die er der Menschheit zu hinterlassen habe, ist in dichterisch-mystischem Stil geschrieben, mit Hymnen, Gebeten, Meditationen, usw. Die Grundthese, die er darin vertritt, ist religionsphilosophisch ausgerichtet: Der Mensch braucht einen Gott als Ansporn, der ihn ständig dazu anhält, sich nach Höherem auszustrecken, um humanistisch ausgerichtet zu bleiben, um in sich für die Liebe der Menschen Raum zu schaffen. In diese Zeit der Arbeit an der Stadt in der Wüste, am Anfang der 1940er Jahre, fällt auch die Verfassung des Kleinen Prinzen. Das Büchlein erscheint erstmals 1943 in New York, und dann posthum, 1946, in Paris. Der religionsphilosophische Rahmen der Stadt in der Wüste muss also ebenfalls beim Kleinen Prinzen berücksichtigt werden. Von seiner Flugarbeit her macht Saint-Exupéry vielfältige Erfahrungen mit der Wüste (der Sahara, vor allem) und, damit verbunden, mit Durst und der Sehnsucht nach Wasser, nach einem den Durst stillenden Brunnen. Das prägt auch sein Schreiben, wie sich das etwa in der Stadt in der Wüste zeigt, aber ebenfalls in Wind, Sand und Steine: Dort tragen die Kapitel VI–VIII die Überschriften „Die Oase“, „Die Wüste“ und „Der Durst“.7 Dieses Motiv der Wüste, des Durstes und des Brunnens sei hier kurz mit zwei Zitaten belegt, die uns auf die Brunnenszene im Kleinen Prinzen vorbereiten: „[W]ir haben einen guten Tag Durst gelitten, und plötzlich spüren wir zum allerersten Male, dass die Wasser des altbekannten Brunnens ständig fließen. Eine unsichtbare Frau kann ein ganzes Haus verzaubern; ein ferner Brunnen wirkt weit, weit, so weit wie die Liebe. […] Nun ist die Sahara in uns, und da erst zeigt sie sich. Ihr nahekommen, das bedeutet nicht, eine Oase besuchen.

7 Vgl. Antoine de Saint-Exupéry, Gesammelte Schriften, Bd. 1, 240, 247 und 278.

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Vielmehr bedeutet es, an einen Brunnen tief und inbrünstig zu glauben.“8 „Und du spürst auf einmal die Gegenwart Gottes, ohne recht zu wissen warum, vielleicht, weil sich die Freude an der Belohnung überall verbreitet hat (denn es ist mit einem lebendigen Brunnen in der Wüste wie mit einer Gabe, die nie völlig vorausberechnet, nie völlig versprochen wurde), und zugleich auch, weil die Erwartung der bevorstehenden Vereinigung mit dem Wasser euch noch immer reglos verharren lässt.“9 3. Johanneische Züge im Kleinen Prinzen Unter vielen Aspekten sind im Text des Kleinen Prinzen johanneische Züge zu erkennen. Das sei zunächst mit der Erzählstrategie illustriert. Der kleine Prinz steht in ständigem Kontrast zu dem, was in dieser Welt als selbstverständlich gilt. So entstehen ständig Missverständnisse, die ganz im johanneischen Sinne von der natürlichen Welt doppelbödig in tiefere Deutungsdimensionen führen. Das geschieht bereits im Prolog, vor dem Auftreten des Prinzen: Da erwähnt der Erzähler, wie er über die Abenteuer des Dschungels nachgedacht und diese auch gezeichnet habe. Seine erste Zeichnung habe folgendermaßen ausgesehen:

8 Antoine de Saint-Exupéry, Wind, Sand und Sterne, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 249. 9 Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste (s. Anm. 6), 626.

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„Ich habe den großen Leuten mein Meisterwerk gezeigt und sie gefragt, ob meine Zeichnung ihnen nicht Angst mache. Sie haben mir geantwortet: ,Warum sollten wir vor einem Hut Angst haben?‘“10 Der Erzähler versteht sein Bild jedoch ganz anders: „Meine Zeichnung stellte aber keinen Hut dar. Sie stellte eine Riesenschlange dar, die einen Elefanten verdaut.“11

Dadurch, dass die zweite Zeichnung dem Zuschauer eine Innenansicht der Schlange gewährt, geschieht eine Wende ins Unheimliche. Ähnliches passiert später bei der Szene mit dem Weichensteller: Dadurch, dass der kleine Prinz die Dinge ganz anders wahrnimmt, entsteht eine ironische Verschiebung, welche das hastige Geschehen der Welt als sinnlos enthüllt. Was er denn mache, fragt der Prinz den Weichensteller: „Ich sortiere die Reisenden nach Tausenderpaketen. […] Ich schicke die Züge, die sie fortbringen, bald nach rechts, bald nach links.“12 Und schon donnert ein Schnellzug in Windeseile vorbei. „Sie haben es sehr eilig“, sagt der kleine Prinz, „Wohin wollen sie?“ Der Weichensteller antwortet: „Der Mann von der Lokomotive weiß es selbst nicht.“ Doch schon donnert ein zweiter Schnellzug vorbei, in entgegengesetzter Richtung. „Sie kommen schon zurück?“, fragt der Prinz. Obschon der Weichensteller sagt, es seien nicht die Gleichen, fragt der Prinz weiter: „Waren sie nicht zufrieden 10 11 12

Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz (s. Anm. 1), 7. A.a.O., 8. A.a.O., 72; für die folgenden Zitate a.a.O., 72f.

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dort, wo sie waren?“ „Man ist nie zufrieden dort, wo man ist“, antwortet der Weichensteller. Doch schon rollt rasend ein Schnellzug vorbei. „Verfolgen diese die ersten Reisenden?“, fragt der Prinz. „Sie verfolgen gar nichts“, sagt der Weichensteller. „Sie schlafen da drin oder sie gähnen auch. Nur die Kinder drücken ihre Nasen gegen die Fensterscheiben.“ Und der kleine Prinz folgert: „Nur die Kinder wissen, wohin sie wollen.“ Da der kleine Prinz die ihm gestellten Fragen selten beantwortet, oder nur sehr indirekt, so dass sich gleich andere Fragen stellen, entsteht oft so etwas wie eine Stufenhermeneutik. Das zeigt sich etwa an der Begegnung mit dem Fuchs (Kap. XXI). Weil der Fuchs ihm nach der Begrüßung sagt, er könne nicht mit ihm spielen, weil er noch nicht gezähmt sei, fragt der kleine Prinz: „Was bedeutet "zähmen"?“13, und damit eröffnet sich ein längeres Gespräch über mehrere Seiten. Zähmen heiße, sich etwas oder jemanden vertraut werden lassen, so dass er oder es einem innerlich wichtig wird und man dafür verantwortlich wird. Bei den Menschen sei das Zähmen „eine in Vergessenheit geratene Sache“, denn sie „haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennen zu lernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr.“14 Sie spinnen an diesem Thema weiter, indem das Verhältnis des Prinzen zur Rose auf seinem Planeten thematisiert wird: „Es gibt eine Blume […] Ich glaube, sie hat mich gezähmt […]“ sagt der Prinz.15 Und der Fuchs betont, dass das diese Blume so einzigartig, so wichtig macht. Am Ende des Gesprächs nimmt der Fuchs Abschied. Doch lädt er den Prinzen ein, nochmals zurückzukommen, denn er wolle ihm ein Geheimnis schenken. Damit kommen wir zum wohl bekanntesten Zitat 13 14 15

A.a.O., 65. A.a.O., 66 und 68. A.a.O., 67.

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aus dem Kleinen Prinzen: „Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach. Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“16 Auch hier entsteht gleich eine johanneische Resonanz, am Ende der Thomasgeschichte in Joh 20: „Jesus sagt zu ihm: Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Selig, die nicht sehen und doch glauben!“17 Schließlich wäre noch darauf hinzuweisen, dass in der Figur des kleinen Prinzen gewisse Züge der johanneischen Christusfigur versammelt sind. Er „fällt“ vom Himmel (von seinem Planeten) auf die Erde hinunter und sucht gleich die Menschen auf, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Seine Weisheitsworte entwickelt er im ständigen Rückgriff auf seinen himmlischen Planeten, den Kontrast zwischen Himmel und Erde stets variierend. Wie der johanneische Christus ist er allwissend (enthüllt dieser in Joh 4 das eheliche Leben der Samaritanerin, so weiß der kleine Prinz im Voraus, dass es seinem Freund gelungen ist, sein Flugzeug zu reparieren18). Sein Tod am Schluss des Romans ist zugleich seine Rückkehr in den Himmel. Er stirbt zwar nicht durch Kreuzigung, sondern von einem Schlangenbiss (aber vielleicht steht hier die Verbindung zu Num 21, wie sie in Joh 3 hergestellt wird, im Hintergrund?). Auffallend ist, dass man am nächsten Morgen seinen Leichnam nicht mehr findet. 4. Das Brunnenmotiv – im Vergleich mit Joh 4 Vergleicht man die zwei Szenen, so fällt auf, dass es ständig Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt. Das gewährt gerade dem Vergleich seine Kreativität. Einige 16 17 18

A.a.O., 71. Joh 20,29. Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz (s. Anm. 1), 83.

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oberflächliche Differenzen lassen sich gleich wahrnehmen. Es ist kein Gespräch mit einer zufällig angetroffenen Frau, sondern mit dem zum Freund gewordenen (dem „gezähmten“) Piloten. Der Brunnen ist nicht schon da, sondern sie müssen ihn gemeinsam suchen. Während das Gespräch mit der Samaritanerin ziemlich am Anfang des Evangeliums steht, wird die Brunnenszene im Kleinen Prinzen eher gegen Schluss erzählt. Sie bereitet den Abgang des Prinzen vor und liefert die Metaphorik für die abschließende Peripetie der Erzählung. Durchaus johanneisch ist hingegen, dass die Brunnenthematik sehr indirekt, ironisch eingeführt wird: Der kleine Prinz begegnet einem Händler, der durststillende Pillen verkauft: Jede Woche kann man eine Pille schlucken, und das Bedürfnis zu trinken verschwindet. Auf die Frage, warum er solche Pillen verkaufe, antwortet der Händler, das sei eine große Zeitersparnis: „Die Sachverständigen haben Berechnungen angestellt. Man erspart dreiundfünfzig Minuten in der Woche.“ Darauf antwortet der Prinz: „Wenn ich dreiundfünfzig Minuten übrig hätte, […] würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen […]“19 Das geschieht denn auch, denn der Pilot hat keinen Wasservorrat mehr. Sie haben beide Durst, und so unternehmen sie den etwas absurden Versuch, mitten in der Wüste einen Brunnen zu finden. Unklar ist dabei, ob der kleine Prinz wirklich Durst hat. Er scheint nie Hunger und Durst zu empfinden, und trotzdem sagt er, er habe auch Durst. Doch auf die Frage, ob er denn wirklich auch Durst habe, antwortet er nicht, sondern sagt einfach, das Thema nochmals auf eine andere Ebene verlagernd: „Wasser kann auch gut sein für das Herz […]“20 Und et-

19 20

A.a.O., 73. A.a.O., 75.

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was später fügt er hinzu: „Es macht die Wüste schön, […] dass sie irgendwo einen Brunnen birgt.“21 So schreiten sie nun lange in der Wüste umher, bis es Nacht wird, und durch die ganze Nacht hindurch. Der kleine Prinz ist erschöpft und schläft ein, der Pilot nimmt ihn in seine Arme und trägt ihn durch die Wüste. „Mir war, als trüge ich ein zerbrechliches Kleinod. Es schien mir sogar, als gäbe es nichts Zerbrechlicheres auf der Erde.“22 Bei Tagesanbruch entdeckt er einen Brunnen. Dieser Brunnen ist nicht irgendein Saharabrunnen, irgendein in den Sand gegrabenes Loch. Es ist ein richtiger Dorfbrunnen, mit Winde, Kübel und Seil, so wie er auch in Bildern zu Joh 4 dargestellt wird.

21 22

Ebd. A.a.O., 76.

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Mit dem Kübel wird Wasser aus dem Brunnen geholt, und der kleine Prinz sagt: „Ich habe Durst nach diesem Wasser, […] gib mir zu trinken […]“.23 Im Unterschied zu Joh 4, wo man letztlich nicht vernimmt, ob Jesus zu trinken bekam, bekommt hier der kleine Prinz zu trinken. Der Erzähler kommentiert das Trinken mit den oben bereits zitierten Worten: „Das war wie ein Fest. Dieses Wasser war etwas ganz anderes als ein Trunk. […] Es war gut fürs Herz, wie ein Geschenk.“24 Das Besondere an diesem Trinken wird noch dreifach unterstrichen:25 - im Sinne der humanistischen Solidarität und zwischenmenschlichen Freundschaft wird betont, dass das Wasser entsprungen war „aus dem Marsch unter den Sternen, aus dem Gesang der Rolle, aus der Mühe meiner Arme“; - zugleich bekommt es eine religiöse Konnotation dadurch, dass es der Erzähler auf seine Weihnachtserinnerung bezieht: „Genauso machten, als ich ein Junge war, die Lichter des Christbaums, die Musik der Weihnachtsmette, die Sanftmut des Lächelns den eigentlichen Glanz der Geschenke aus, die ich erhielt“; - schließlich kommt darin zum Ausdruck, dass man alles, was die Menschen suchen, „in einer einzigen Rose oder in einem bisschen Wasser finden“ kann. Weitere Themen von Joh 4 werden im Kontext dieser Szene nicht direkt aufgegriffen. Achtet man jedoch auf die Nähe des Kleinen Prinzen zur Stadt in der Wüste, so lassen sich durchaus gewisse Resonanzen vernehmen. In Verbindung damit, dass Gott in der Wüste, im Wasser des Brunnens erfahren werden könne, betont SaintExupéry wiederholt, dass Gott eben nicht an heiligen Or23 24 25

A.a.O., 77. A.a.O., 77–79. Ebd.

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ten zu finden sei, wie etwa Rom oder Jerusalem. Damit entsteht eine Resonanz mit Joh 4,23f., wo von einer Stunde die Rede ist, in der man zu Gott „in Geist und Wahrheit beten“ werde, und nicht einfach an einem dafür bestimmten Ort. Und so könnte man sagen, dass für Saint-Exupéry die Begegnung mit Gott im Wüstenbrunnen „in Geist und Wahrheit“ geschieht. Auch das Thema von Saat und Ernte (vgl. Joh 4,35–38) klingt in der Stadt in der Wüste an. So heißt es etwa in einem Gebet: „Herr, ich komme zu Dir, denn ich habe in Deinem Namen den Acker bestellt. Dein ist die Saat.“26 Doch kommen wir zur Brunnenszene zurück, denn aus ihr gehen nun – johanneisch gesprochen – die Abschiedsreden zwischen dem kleinen Prinzen und dem Piloten hervor. Es wird bald ein Jahr sein, dass der Prinz herunterkam, und sein Stern wird sich wieder am selben Ort befinden. Schon hat sich die Schlange gezeigt und das nahe Ende angedroht, Angst auslösend. Um sich auf das bevorstehende Abschiednehmen und die damit verbundene Trauer vorzubereiten, entwickeln sie mit überbordender Phantasie Variationen zum Brunnenmotiv, dieses in die Sterne hinein steigernd und amplifizierend. Das Lachen des Prinzen, sagt der Pilot, sei für ihn „wie ein Brunnen in der Wüste“.27 Das wolle er ihm ja gerade schenken, antwortet der Prinz: Dieses Lachen werde in den Sternen sein, wenn er nun auf seinen Stern zurückgehe. Der Pilot werde also Sterne haben, wie sie niemand hat: „Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können!“ Etwas später, über seinen Weggang sprechend, fügt er hinzu: „Weißt du, es wird wunderbar sein. Auch ich werde die 26

Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste (s. Anm. 6), 377. Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz (s. Anm. 1), 84. Für die weiteren Zitate in diesem Abschnitt, a.a.O., 85–88. 27

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Sterne schauen. Alle Sterne werden Brunnen sein mit einer verrosteten Winde. Alle Sterne werden mir zu trinken geben […]“. Die lachenden Sterne werden den Piloten anstecken: Er wird mit ihnen lachen, und man wird ihn für verrückt halten. Die Sterne werden wie kleine Narrenschellen sein, die den Piloten auszeichnen. „Das wird so lustig sein! Du wirst fünfhundert Millionen Schellen haben, ich werde fünfhundert Millionen Brunnen haben.“ Doch die Nacht des Todes naht heran. Der kleine Prinz hat Angst. Dreimal sagt der Pilot: „Ich werde dich nicht verlassen.“28 Der Prinz erwähnt kurz noch die Dornen seiner Rose und dann sagt er: „Hier … Das ist alles …“29 Und dann „war nichts als ein gelber Blitz bei seinem Knöchel. Er blieb einen Augenblick reglos. Er schrie nicht. Er fiel sachte, wie ein Baum fällt.“30

28

A.a.O., 86f. A.a.O., 88. Fast denkt man hier an ein nur indirektes, wie abgebrochenes „Es ist vollbracht“ (Joh 19,30). 30 Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz (s. Anm. 1), 89. 29

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In einem Schlusskapitel (Kap. XXVII), das sechs Jahre später kurz auf die erzählte Geschichte zurückkommt, erwähnt der Erzähler, er habe „bei Tagesanbruch […] seinen Körper nicht wiedergefunden.“31 Der kleine Prinz ist also auf seinem Stern zurück und deshalb lachen die Sterne leise. Trotzdem zeichnet er nochmals dieselbe Wüstenlandschaft, aber diesmal leer, mit folgendem Kommentar in direkter Anrede: „Das ist für mich die schönste und traurigste Landschaft. […] Hier ist der kleine Prinz auf der Erde erschienen und wieder verschwunden. Schaut diese Landschaft genau an, damit ihr sie sicher wiedererkennt, wenn ihr eines Tages durch die afrikanische Wüste reist.“32

31 32

Ebd. A.a.O., 93.

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Damit wird diese leere Landschaft zu einer Leerstelle für die Leserinnen und Leser: Falls sie dort vorbeikommen, sollten sie nicht weitereilen, sondern ein bisschen verweilen. „Wenn dann ein Kind auf euch zukommt, wenn es lacht, wenn es goldenes Haar hat, wenn es nicht antwortet, so man es fragt, dann werdet ihr wohl erraten, wer es ist. Dann seid so gut und lasst mich nicht weiter so traurig sein: Schreibt mir schnell, wenn er wieder da ist […].“33 5. Kurzer Schluss: Antwort auf unsere Frage? Könnte es sein, dass die Brunnenszene im Kleinen Prinzen eine „kreative Erinnerung“ an die Brunnenszene in Joh 4 ist? So fragten wir zu Beginn. Man muss sich vor Überinterpretation hüten und deshalb auf die vielen Distanzierungen achten. Doch gerade im Sinne von Paul Ricœurs Verfremdung34 machen diese den Vergleich auch kreativ. Gewiss, das Wasser ist ein humanistisches Wasser der zwischenmenschlichen Freundschaft. Aber darin ist ein Gott zu kosten, der die Menschen anhält, nach Höherem zu trachten („in Geist und Wahrheit“?). Dass das Lachen „wie ein Brunnen in der Wüste“ ist, könnte eine indirekte Entsprechung zum Wasser sein, das im Menschen zu einer sprudelnden Quelle wird (Joh 4,14). In diesem Sinne möchte ich Dir, Jean, zum 75. Geburtstag viele lachende Sterne wünschen. Und vergiss nicht, dass es zugleich Narrenschellen sind!

33

Ebd. Paul Ricœur, La fonction herméneutique de la distanciation, in: ders., Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris 1986, 101– 117. 34

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Johannes lesen und verstehen

Das Thema des Symposiums heißt „Johannes lesen und verstehen“.1 In den folgenden thesenartigen Überlegungen möchte ich erwähnen, was ich aus einer langjährigen Arbeit am Johannes-Evangelium gelernt habe. Diese hermeneutisch-methodischen Betrachtungen betreffen nur das Johannesevangelium. Die Grundregel lautet doch: der Forschungsgegenstand bestimmt die Methodik und nicht umgekehrt. 1. Aporien Als ich mit dem Studium, aber auch später mit der Lehre anfing, lautete die Faustregel: das Ziel der historischkritischen Methode besteht darin, den historischen Sinn des Textes herzustellen und d.h. den Text in seinem ursprünglichen Kommunikationskontext zu interpretieren. Es ging darum, die intentio auctoris in seinem einmaligen historischen Kontext herauszustellen. In diesem Rahmen wurde der Sinn des Textes als intentio auctoris eindeutig festgesetzt. Die neuere Forschung hat aber ge-

1 Ich möchte der Theologischen Fakultät in Zürich für die Organisation dieses Symposiums anlässlich meines 75. Geburtstages ganz herzlich danken. Ich bedanke mich zunächst bei meinem Kollegen und Nachfolger Jörg Frey, der diese schöne Veranstaltung auf vollkommene Weise organisiert hat. Mein Dank geht dann an alle Kolleginnen und Kollegen, die mit sehr anregenden Vorträgen zum Symposium beigetragen haben.

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zeigt, dass dieses Modell, das ich heftig propagiert habe, zum Teil auf einer Reihe von Illusionen beruht. 1.1 Der Bezug des Textes zu seiner Entstehungsgeschichte Zuerst hat Hans Weder2 mit Recht betont, dass dieses Modell, das die Entstehung eines Textes immer als Reaktion in einem bestimmten historischen Kontext konzipiert, sehr vereinfachend ist. Der Text ist nicht einfach das Produkt historischer Verhältnisse (johanneisches Paradigma: antignostisch, antidoketisch, usw.)3, sondern kann sowohl eine historische Situation auslösen als auch auf diese Situation antworten. Mit anderen Worten: das Johannesevangelium könnte auch primär eine eigenständige theologische Leistung bilden, die zum Ziel hatte, eine theologische Reflexion über die vita Jesu anzubieten. 1.2 Historische Transparenz und Fiktion Die Welt des Textes ist nicht einfach transparent, so dass wir mühelos den engeren historischen Kontext, in welchem das Evangelium entstanden ist, rekonstruieren könnten. Die Welt des Textes ist eigenständig, sie ist eine Konstruktion der erlebten Wirklichkeit, sie ist zum Teil fiktiv. Dass wir also mühelos eine Geschichte des

2 Vgl. Hans Weder, Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6, in: ders., Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik, Göttingen, 1992, 368–369. 3 Das vierte Evangelium wurde sukzessiv als antignostisch (z.B. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen, 21 1986), naiv doketisch (z.B. Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen, 1980), antidoketisch (z.B. Udo Schnelle, Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule, FRLANT 144, Göttingen 1987) usw. interpretiert.

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johanneischen Christentums anhand des Evangeliums rekonstruieren könnten, bleibt sehr problematisch.4 In den letzten Jahrzehnten haben drei wichtige Entwicklungen in der johanneischen Forschung diese Beobachtung gestützt. Zum ersten hat die genaue Untersuchung der Gattung der antiken Historiographie gezeigt, dass die Fiktion ein unumgänglicher Baustein der erzählten Geschichte bildet.5 Zum zweiten hat die neuere Forschung in den Humanwissenschaften die Frage des Raumes auf ganze neue Weise gestellt. Auch auf seine eigene Weise ist die Raumvorstellung eine komplexe Konstruktion. Insbesondere sollte das Thema des johanneischen „mental map“ angegangen werden.6 Drittens haben die Memory Studies die perspektivistische Dimension der johanneischen Erzählung endgültig hervorgehoben.7

4 Vgl. die Versuche von Brown (Raymond Edward Brown, The Community of the Beloved Disciple. The Life, Loves and Hates of an Individual Church in New Testament Times, New York / Ramsey / Toronto 1979, Martyn (J. Louis Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel, Nashville 21979) und unsere eigene Position: Jean Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, in: ders. Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, AThANT 84, Zürich 22004, 1–14. 5 Vgl. Jean Zumstein, Und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. Fiktion und Historie in der johanneischen Vita Jesu, in: Eva Ebel / Samuel Vollenweider (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Exegetische und hermeneutische Studien zu einer dialektischen Konstellation, AThANT 102, Zürich 2012, 35–54. 6 Jean Zumstein, The Construction of Space in John 5–6 (im Druck). 7 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, BSR 1307, München 4 2002. Vgl. Chris Keith, Social Memory Theory and Gospel Research: The first Decade (Part One), EC 6 (2015), 354–376; ders., Social Memory Theory: The First Decade (Part Two), EC 6 (2015), 517–542; Alan Kirk / Tom Thatcher (Hg.), Memory, Tradition and Text. Uses of the Past in Early Christianity, SBL.SS 52; Leiden / Boston 2005.

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1.3 Der Begriff „Autor“ Die historisch-kritische Methode hat sehr viel mit dem Begriff „Autor“ gearbeitet. Aber – mindestens für die evangelische Literatur – ist dieser Autor zum großen Teil ein Phantom, das unfassbar bleibt. Im Falle des Johannesevangeliums stellt sich die Frage, von welchem Autor spricht man? Vom Evangelisten? Vom Kreis der Endredaktion? Und inwiefern ist die Intention dieser Autoren wahrnehmbar? Wir sollten dezidiert das Konzept „Autor“ reevaluieren. 1.4 Die Stunde des Lesers Die Bestimmung des historischen Sinnes des Textes lebt von der Überzeugung, dass einerseits dieser Sinn eindeutig ist, anderseits dass er sozusagen im Text selbst eingeschrieben ist. Die genaue Lektüre des Johannesevangeliums führt aber zu der Entdeckung, dass das Evangelium nicht nur eine Lektüre, sondern mehrere Lektüren verschiedener Komplexitäten ermöglicht (symbolische Sprache; Intertextualität, usw.).8 Waren das 19. und 20. Jh. durch die Frage des Autors beherrscht, erleben wir heute die Geburt des Lesers. 1.5 Religionsgeschichtliche Einordnung Die religionsgeschichtliche Einordnung des vierten Evangeliums muss auch neu evaluiert werden. Als erste wichtige Beobachtung ist daran zu erinnern, dass wir bis heute in erster Linie mit außerchristlichen Kontexten ge8 Die verschiedenen literarischen Verfahren, die im vierten Evangelium eingesetzt werden (symbolische Sprache, Ironie, Missverständnis, vgl. R. Alan Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, FoFa: New Testament, Philadelphia 1983, 149–202), aber auch Intertextualität (vgl. Nathalie Piégay-Gros, Introduction à l’intertextualité, Paris 1996), öffnen den Weg für Lesarten unterschiedlicher Komplexität (vgl. Umberto Eco, Lector in fabula, Paris (1979), 1985, 64–247.

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arbeitet haben (jüdischer Kontext, Hellenismus, Gnosis, usw.). Festzuhalten aber ist mit Schnelle,9 dass das Johannesevangelium in erster Linie mit geprägten urchristlichen Traditionen gearbeitet hat. Der erste religiöse Kontext der johanneischen Literatur ist das Urchristentum. Doch selbst bei der Bekräftigung dieser Priorität muss auch der jüdische Kontext, der die Erzählung durchdringt, neu bewertet werden. Die äußerst vielfältigen Manuskripte, die in Qumran entdeckt wurden und nun veröffentlicht werden, öffnen dem Exegeten den Weg zu einer neuen Wertschätzung der johanneischen Welt.10 1.6 Theologische Auslegung Auch die heute als selbstverständlich durchgeführte Unterscheidung zwischen einer sogenannten historischen und theologischen Auslegung des Johannesevangeliums ist nicht haltbar. Die theologische Auslegung des Evangeliums stammt nicht aus einer vermeintlichen kirchlichen Orientierung der Auslegung, sondern entspricht der Sache des Textes selbst. Wer den Schluss des Evangeliums liest, wo die auktoriale Instanz sich über ihre Intention ausspricht, kann nicht ignorieren, dass das vierte Evangelium eine kerygmatische Erzählung der vita Jesu anbieten will. Von daher kann derjenige, der das vierte Evangelium interpretieren will, die Sache, worum es dem Text geht, nicht verschweigen. Es ist auch nicht sachgemäß, das vierte Evangelium in seinem ursprünglichen historischen Kontext einsperren zu wollen, denn der Text

9 Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1380, Göttingen (1994), 32004, 502–514, und ders., Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig, (1998), 52016, 17–21. 10 Mary L. Coloe / Tom Thatcher, John, Qumran, and the Dead Sea Scrolls. Sixty Years of Discovery and Debate, EJIL 32, Atlanta 2011; Jörg Frey, Neutestamentliche Wissenschaft und antikes Judentum. Probleme – Wahrnehmungen – Perspektiven, ZThK 109 (2012), 445– 471.

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selbst erhebt den Anspruch, eine Schrift, oder sogar die Schrift für die ganze Kirche zu sein.11 2. Hermeneutische und theologische Vorschläge Wie können wir über die Aporien, die ich sehr kurz angedeutet habe, hinauskommen? Welche hermeneutischen und methodischen Entscheidungen sind es, welche die Abfassung meines Kommentars bestimmt haben?12 2.1 Welchen Text interpretiere ich? Seit langem – aber Bultmann13 hat in dieser Hinsicht eine paradigmatische Dimension – wird nicht der vorhandene bzw. der kanonische Text interpretiert, sondern das rein hypothetische Werk des Evangelisten steht im Vordergrund. Dieser fiktive Text, der nicht einmal durch ein Manuskript dokumentiert ist, wurde lange zum Eckpfeiler der johanneischen Exegese. Aus wissenschaftlichen Gründen ist ein solcher Ansatz höchst verdächtig. Deshalb habe ich mich für die Auslegung des vorhandenen und textkritisch dokumentierten Textes des Evangeliums entschieden.14 Nicht nur das: ich behaupte, dass der sogenannte kanonische Text in seiner textkritischen bezeugten Reihenfolge auszulegen ist. In dieser Hinsicht hat mich die genaue Lektüre des Papyrus 66, den ich auf 11 Über die im Kap. 21 verfolgte Strategie, vgl. Jean Zumstein, Die Endredaktion des Johannesevangeliums (am Beispiel von Kapitel 21), in: Kreative Erinnerung (s. Anm. 4), 291–315; ders., Die Entstehung des Schriftbegriffs in der johanneischen Literatur, op.cit., 317–340. 12 Vgl. Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016. 13 Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes (s. Anm. 3), 5*– 8*. 14 Vgl. zum Beispiel die griechische Ausgabe des Neuen Testaments von Nestle-Aland, 282012; vgl. auch über die Ordnung des Textes im Papyrus 66, Jean Zumstein, L’évangile selon Jean. Introduction et traduction, Collection Sources – Fondation Martin Bodmer, Paris 2008.

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Französisch übersetzt und veröffentlicht habe, davon endgültig überzeugt. Die häufig durchgeführte Rekonstruktion einer vermeintlichen ursprünglichen Reihenfolge ist Ausdruck einer modernen historisierenden Logik, die der johanneischen Perspektive nicht entspricht. 2.2 Diachronie und Synchronie Auch wenn in der neueren johanneischen Exegese die Wahl zwischen diachronischer und synchronischer Auslegung fast zu einer Alternative geworden ist, halte ich jeden methodischen Fundamentalismus für unsachgemäß. D.h.: Das Evangelium soll sowohl in seinem Werden als auch in seiner Endgestalt ausgelegt werden, denn auch wenn das kanonische Evangelium eine durchaus kohärente Sinneinheit bildet, trägt es noch die Spuren seines Werdens.15 Wie ist dann die Frage der Diachronie anzupacken, wenn die klassische Literarkritik ihre Grenzen gezeigt hat? Mit Andreas Dettwiler,16 anhand der Abschiedsreden und, meinerseits, anhand des Epilogs des Evangeliums,17 haben wir das Modell der Relecture18 vorgeschlagen, um die interpretatorischen Prozesse, die identifizierbar sind, 15 Als Beispiel braucht man nur die beiden Schlussfolgerungen des Evangeliums (20,30–21; 21,25) oder den Übergang von der ersten zur zweiten Abschiedsrede (14,31c) zu zitieren. 16 Vgl. Andreas Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995. 17 Vgl. Jean Zumstein, Die Endredaktion des Johannesevangeliums (am Beispiel von Kapitel 21), in: ders., Kreative Erinnerung (s. Anm. 4), 297–315. 18 Zu diesem Punkt vgl. Andreas Dettwiler, Le phénomène de la relecture dans la tradition johannique: une proposition de typologie, in: Daniel Marguerat / Adrian Curtis (Hg.), Intertextualités. La Bible en échos, MoBi 40, Genève 2000, 185–200, und Jean Zumstein, Intratextuality and Intertextuality in the Gospel of John, in: Tom Thatcher / Stephen D. Moore, Anatomies of Narrative Criticism, RBSt 55, Atlanta 2008, 121–135.

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zu thematisieren. Es war unser Anliegen zu zeigen, wie die johanneische Schule die Interpretation weniger Elemente der vita Jesu immer wieder aufgenommen, vertieft, unter einem neuen Aspekt durchgeführt hat. D.h.: Das Problem des Werdens des Textes wird anhand des Modells der Intertextualität wahrgenommen. Außerdem plädiere ich für einen offenen Umgang, der Elemente der Tradition von Fall zu Fall hervorhebt, ohne ein rigides System zu konstruieren.19 Das Modell der Relecture setzt auch ein Ende zum Mythos des Aufstiegs und Niedergangs des johanneischen Denkens. Die Geschichte der johanneischen Theologie ist nicht in erster Linie durch Gegensätze gekennzeichnet, wobei der Evangelist seine Quellen radikal korrigiert hätte und die sogenannte „kirchliche Redaktion“ die Sicht des Evangelisten völlig missverstanden hätte.20 Das Relecture-Modell akkreditiert eine dialektische Sicht, wo der Bezugstext einerseits rezipiert wird, anderseits vertieft und neu akzentuiert wird.21 2.3 Von der intentio auctoris zur intentio operis M.E. ist es wichtig, von der sogenannten „johanneischen Frage“ Abschied zu nehmen.22 Die historische Identifizierung des vermeintlichen Autors des Evangeliums ist ein Problem der altkirchlichen Tradition23 und nicht der neutestamentlichen Exegese. Für die Auslegung spielt diese Frage keine entscheidende Rolle und ist von kei19 Die genaue Abgrenzung der vom Evangelisten verwendeten Quellen scheint angesichts der Dokumentation eine unmögliche Aufgabe zu sein. Nur eine partielle und lückenhafte Analyse scheint möglich. 20 So zum Beispiel Rudolf Bultmann, Art. Johannesevangelium, RGG3 III, Tübingen 1959, 840–850, hier 841, Jürgen Becker, Johanneisches Christentum, Tübingen 2004, 190–207. 21 Mit Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 16), 48f. 22 Die „johanneische Frage“ im technischen Sinne bezieht sich auf die Debatte über den apostolischen Ursprung des Evangeliums. 23 Zur sogenannten „johanneischen Frage“, vgl. Karl Heinrich Rengstorf (Hg.), Johannes und sein Evangelium, WdF 82, Darmstadt, 1973, IX–XXVIII.

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nem großen Gewinn. Hingegen sollte die Art und Weise, wie die Schrift selbst ein Monument zum Lieblingsjünger errichtet hat, die Aufmerksamkeit mobilisieren, denn dort wird offensichtlich, welche Züge „dem Evangelisten im Evangelium“ (so Overbeck24) verliehen wurden. Dass die sogenannte „intentio“ nicht eine außertextuelle, sondern eine innertextuelle Größe ist, soll durch zwei weitere Beobachtungen erhärtet werden: 2.3.1 Die Architektur des Sinnes Ein erster Weg, der zur Entdeckung der intentio operis führt, hat mit der Bearbeitung der Architektur des Sinnes zu tun. Es geht darum, die unterschiedlichen Sinnebenen und die Sinnverhältnisse zwischen den verschiedenen Teilen des Evangeliums zu identifizieren. In welchem Sinnverhältnis steht der Prolog zum Corpus der Erzählung? Welches ist die Funktion des Epiloges? Inwiefern sind die Abschiedsreden eine vorweggreifende Auslegung des Todes und der Auferstehung Jesu? Welches ist das Sinnverhältnis zwischen der ersten und der zweiten Abschiedsrede? Und welches ist die spezifische Leistung des Abschiedsgebets? Welche Elemente im Corpus sind Bestandteil der Erzählung und welche Elemente gehören zum Kommentar der Erzählung und somit zu einer Metaebene? Wie kommentiert der Erzähler seine Erzählung? Er verwendet explizite Kommentare, aber auch klassische literarische Verfahren wie das johanneische Missverständnis, die Ironie und so weiter. Wer versucht, diese sich selbst auslegende Erzählung wahrzunehmen, ist in der Lage, die johanneische Deutung der vita Jesu zu thematisieren. Eine weitere entscheidende Frage in dieser Architektur des Sinnes ist die Frage des plots. Unter welchem beherrschenden Gesichtspunkt und wozu ist die vita Jesu dargestellt? Ist das biographische Raster entscheidend? Oder 24 So Franz Overbeck, Das Johannesevangelium. Studien zur Kritik seiner Erforschung. Aus dem Nachlass herausgegeben von Carl Albrecht Bernouilli, Tübingen 1911, 434–455.

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steht dieses biographische Raster im Dienst einer Strategie des Glaubens?25 2.3.2 Die argumentative Strategie Man hat immer wieder von den Wiederholungen und von dem zyklischen Gedankengang des vierten Evangeliums gesprochen26 und öfters hat man daraus das Fazit gezogen, dass wir in der Tat mit einem monotonen Monolog zu tun hätten, so dass nach einigen Kapiteln die ganze Melodie bis zur Übersättigung schon bekannt wäre. Auch wenn ich gestehe, dass wir es nicht mit einer diskursiven Argumentation zu tun haben, stehen wir doch vor einer effizienten argumentativen Strategie. Anhand der Wiederholungen und der Variationen wird eine Vertiefung des angesprochenen Themas in Gang gesetzt. Das bedeutet aber, dass dasselbe Thema von immer wieder anderen Blickwinkeln betrachtet wird und dass die Lektüre diesen argumentativen Gewinn herausarbeiten soll. 2.4 Die symbolische Sprache und die Hypertextualität Eine besondere Schwierigkeit in der Auslegung des Johannesevangeliums ist mit der symbolischen Sprache gegeben. Einerseits soll diese besondere Sprache zu keinen willkürlichen und wilden Deutungsversuchen führen; der Verstehenshorizont sollte in der Regel im Rahmen des Corpus Johanneum bleiben;27 anderseits wird die Kompetenz des Lesers beansprucht (man kann eine minimale Lektüre des Textes vertreten, z.B. Becker,28 oder eben für 25 Vgl. Jean Zumstein, Das Johannesevangelium: Eine Strategie des Glaubens, in: ders., Kreative Erinnerung (s. Anm. 4), 31–45. 26 Zu diesem Thema, vgl. Gilbert van Belle / Michael Labahn / Pieter Maritz (Hg.), Repetitions and Variations in the Fourth Gospel, BETL 223, Leuven / Paris 2009. 27 Vgl. Paul Ricœur, Die Interpretation. Versuch über Freud, Frankfurt 1969, 29, und unser Beitrag: Johannes 19,25–27, in: Kreative Erinnerung (s. Anm. 4), 253–275. 28 Vgl. Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTBK 4,1–2, Gütersloh / Würzburg 31991. Vgl. zum Beispiel 6,1–21, S. 228–234.

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eine entfaltete Lektüre plädieren). Dasselbe Problem stellt sich in Bezug auf die Verweise auf das Alte Testament oder die Synoptiker. Abgesehen von den Fällen, wo wir explizite Zitate haben, müssen wir wahrscheinlich mit einem neuen Begriff arbeiten, nämlich mit dem Begriff der Hypertextualität29 (es geht um eine distanzierte und neu gestaltete Aufnahme einer Stelle oder eines Motivs der jüdischen Bibel (z.B. der Rebstock in Joh 15; der Zwischenfall im Tempel in Joh 2). Wir sehen hier auf exemplarische Weise, dass wir zwar falsche Deutungen des Textes identifizieren können, aber dass es dann keine einzige richtige Deutung gibt, sondern dass sich die Interpretation in einem gewissen Deutungsraum bewegt. 2.5 Johannes und die Synoptiker Der Begriff „Hypertextualität“ ist auch heuristisch in Bezug auf das spezifische Problem des Verhältnisses zwischen Johannes und den Synoptikern verheißungsvoll. Er ermöglicht, über das klassische Modell der literarischen Abhängigkeit hinauszukommen und ein neues Verhältnis zwischen Johannes und Markus zu skizzieren. 2.6 Die Ambivalenz des vierten Evangeliums Die Wirkungsgeschichte des vierten Evangeliums enthüllt eine weitere Dimension des Johannesevangeliums, nämlich seine Ambivalenz. Man weiß, dass die Eingangstür des vierten Evangeliums in den christlichen Kanon der erste Johannesbrief war. Seit seiner Entstehung hatte das Johannesevangelium einen Interpretationskonflikt ausgelöst, denn es konnte sowohl im Sinne eines naiven Doketismus (so der erste gnostische Kommentator Herakleon30 und später Käsemann31) als auch 29 Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Collection Poétique, Paris 1982, 11–17. 30 Jean-Michel Poffet, Indices de réception de l’évangile de Jean au IIe siècle avant Irénée, in: Jean-Daniel Kaestli / ders. / Jean Zumstein

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als Ausdruck einer inkarnatorischen und Kreuzes orientierten Theologie (so der 1Joh und später Bultmann,32 heute Schnelle33 und Frey34) verstanden werden. Die Aufgabe des zeitgenössischen Kommentators besteht nicht darin, das Johannesevangelium dogmatisch zu normalisieren, sondern sein Sinnpotential aufzuzeigen. 2.7 Die historische Enzyklopädie und die Entkontextualisierung Meine Verbindung zur historischen Kritik bildete den Ausgangspunkt meiner Ausführungen. Meine Verpflichtung gegenüber der Ethik der Erkenntnis, die die Aufklärung entfaltete, hat mich auf sehr konsequente Weise zu einer kritischen Evaluation des historischkritischen Paradigmas geführt. Es gibt keine heiligen Kühe. Ich möchte mit dem folgenden Paradox abschließen. Das Johannesevangelium ist eine historische Schrift, die in einer bestimmten historischen Welt unter bestimmten Umständen, die zum Teil rätselhaft bleiben, entstanden ist. Auch wenn ich jede reduktionistische Lektüre des Johannesevangeliums entschieden ablehne, halte ich fest, dass dieser Text ohne die adäquate historische Enzyklopädie stumm bleibt. Aber gleichzeitig muss ich gestehen, dass dieser Text – wie jedes Meisterwerk der Literaturgeschichte – die Fähigkeit besitzt, sich zu entkontextualisieren und neu zu kontextualisieren.35 Es weist (Hg.), La communauté johannique et son histoire. La trajectoire de l’évangile de Jean aux deux premiers siècles, MoB 20, Genève 1990, 305–321. 31 Ernst Käsemann, Letzter Wille (s. Anm. 3), 61f. 32 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, durchges. und erg. von O. Merk, UTB 630, Tübingen 71984, 392–412. 33 Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, UTB 2017, Göttingen 2007, 654–663. 34 Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten, WUNT 307, Tübingen 2013. 35 Paul Ricœur, La fonction herméneutique de la distanciation, in: ders., Du texte à l’action, Essais d’herméneutique 2, Collection Esprit, Paris, Seuil (1975), 1986, 101–117.

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ein Sinnpotential auf, das in immer neuen Situationen zur Sprache kommt. Seine Geschichtlichkeit ist kein Verhängnis, das ihn in der Vergangenheit einsperren würde, sondern die Horizontverschmelzung zwischen der vita Jesu und der nachösterlichen Zeit ist noch immer wirksam.36

36 Hans-Georg Gadamer, Vérité et méthode. Les grandes lignes d’une herméneutique philosophique, traduit par P. Fruchon, J. Grondin et G. Merlio, L’ordre philosophique, Paris, Seuil (1960), 1996, 328f. und 397–399, und Takashi Ōnuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, WMANT 56, Neukirchen-Vluyn 1984, 34–37.

Stellenregister

Altes Testament Gen 28

143

Ex 34,6 LXX

41

Lev 22,32

111

Jes 43 43,1 43,1–11 43,3 43,4 43,6f. 43,10 43,10f. 43,11 52,13

150, 151 149 130, 149 150, 151 150 150 149 150 150 151

Joel 1,16

41

Lk 24,1 24,5 24,5–7 24,6f. 24,12 24,25–27 24,26 24,44–46

130 139 138 135 132 135 148 148

Neues Testament Mt 13,44–46 18,3 28,1 28,5–7

65 89 130 138

Mk 16,1 16,6f.

130 138

184

Stellenregister

Lk (Fortsetzung) 24,47–49 147 Joh 1,4 1,12 1,14 1,16 1,17 1,18 1,24 1,29 1,45–50 1,49f. 1,50 1,51 2,1–11 2,3 2,4 2,5 2,7 2,18–21 2,19 2,21 2,22 2,23 2,25 3 3,1 3,1f. 3,1ff. 3,1–10 3,1–15 3,2

51 112, 122 65, 66, 143, 154 65 27, 30, 51 31, 148 78 28 72, 85 79 55, 58 143 55, 57 58 58 60 60 78 32, 33 32, 33 34, 135, 136 79, 112 79, 91, 100 150, 161 78, 79, 81, 97 91 100 72, 78, 103, 105 95 79, 81, 85, 97

3,3 3,4 3,5 3,6–8 3,6f. 3,7 3,8 3,9 3,10 3,11 3,11–21 3,13 3,14 3,14f. 3,14–21 3,16 3,18 3,21 3,32 3,35 3,36 4 4,7 4,10 4,13f. 4,14 4,23f. 4,24 4,31–38 4,35 4,35–38 5,20 5,26 5,30 5,39 5,39f. 5,43

79, 80, 83, 90, 145 78, 80, 89 80, 89, 90 80 101 99 80 80 78, 80, 90, 91 80 80 142 59, 94, 101 105 51 105 112 85, 101 142 34 145 161–168 154 155 155 168 121, 165 53 31 31 165 34 146 135 135 136 112

185

Stellenregister

Joh (Fortsetzung) 5,47 32, 135 6,35 51 6,36 32 6,41 51 6,47f. 51 6,50 51 6,58 51 6,62 142 6,65 32 7 99 7,38f. 33 7,39 33 7,48f. 81 7,50 72, 78, 90, 91 7,50–52 78, 84, 90, 96 7,52 92 8,12 51 8,24 32 8,31 53 8,56 145 9,37 145 10,1 51 10,7 51 10,9–11 51 10,18 134 11,4 145 11,25 51, 134 11,33 138 11,40 145 11,41f. 146 11,44 83, 134 12,7 83 12,16 34, 135 12,23 59 12,24 59 12,33 59

12,42 12,49 12,50 13,1 13,3 13,4 13,11 13,18 13,19 13,21–30 13,21f. 13,24f. 13,26 13,28f. 13,36f. 14,2 14,3 14,4f. 14,6 14,7 14,7–11 14,11 14,13 14,13f. 14,15 14,15–17 14,16 14,16f. 14,17 14,21f. 14,23 14,24 14,25 14,26

14,28

79, 81, 85, 86 31, 34 32 34 34 34 34 32 32 82 34 34 34 34 34 32 114 34 51, 144 146 145, 146 111 116 108, 109 115 114, 116 110 52 51, 115 34 115 31, 32, 52 32 32, 35, 52, 108, 110, 111, 113– 116 32

186 Joh (Fortsetzung) 14,29 32 15 179 15,3 32 15,7 53, 108, 113 15,11 32 15,15 32 15,16 108–111 15,20 32 15,26 51, 116 16 146 16,4 32 16,5 144 16,6 32 16,7 30, 116 16,12 32 16,12–15 108 16,13 51, 52 16,16–22 146 16,17 34 16,19 32 16,22 146 16,23f. 108 16,24 110 16,25–27 107 16,26 107, 108, 111, 114, 123, 125 16,26b–27 122 16,26f. 32, 108, 123 16,27 107 17,3 27, 51 17,8 32 17,9 117 17,15 118 17,17 51 17,20 53

Stellenregister

17,20f. 17,21 17,23 17,24 18,5 18,7 18,12–27 19 19,25 19,25–27 19,30 19,35 19,38 19,38f. 19,39 19,39f. 19,40 20,2 20,2–8 20,2–10 20,3–10 20,5 20,6 20,9 20,10 20,11 20,11–18 20,13 20,14 20,15 20,16 20,17 20,18

118 53, 144 53 144 28 28 82 99 130 82 142 142 79, 81 92 72, 85, 90 85 36, 82 130, 131 138 83 82, 132 132–134, 137 132, 133, 146 134–138, 147 135 135, 137, 138 137 131, 138 138 131, 138, 139 139 143, 144, 147 133

187

Stellenregister

Joh (Fortsetzung) 20,22 33 20,28 147 21,5 132 21,25 28

1Kor 10,13

42

2Kor 1,18

42

Apg 5,35ff. 22,3

92 92

Gal 5,22f.

41, 42, 49

Röm 2,4 5,8 8,26 8,28 8,39 9,22 11,22 12,2 13,4 14,17

41 41 119 41 41 41 41 41 41 41

Phil 4,7

41

1Thess 5,23

41

1Joh 1Joh 2,1

179, 180 107, 122

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Pierre Bühler ist emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Prof. Dr. Jörg Frey ist Professor für Neues Testament mit Schwerpunkten Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und Research Associate am Department Old and New Testament der University of the Free State, Bloemfontein/Südafrika. Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls ist Professorin für Bibelwissenschaften (Altes / Neues Testament) und ihre Didaktik an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Research Associate am Department Old and New Testament der University of the Free State, Bloemfontein/Südafrika. Dr. theol. Michael Jost ist Habilitand im Fach Neues Testament an der Universität Zürich und Visiting Scholar an der Faculty of Divinity der Unversity of Cambridge. Prof. Dr. Valérie Nicolet ist Professorin für Neues Testament und Doyenne am Institut Protestant de Théologie de Paris.

190

Autorinnen und Autoren

Jun.-Prof. Dr. Nadine Ueberschaer ist Juniorprofessorin für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Weder ist emeritierter Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und deren ehemaliger Rektor. Er ist Ehrendoktor der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Dr. h.c. Jean Zumstein ist emeritierter Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Er ist Ehrendoktor des Institut Protestant de Paris.