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German Pages 320 Year 1992
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE H E R A U S G E G E B E N VON HANS FROMM UND HANS-JOACHIM MÄHL
B A N D 64
FRANK FÜRBETH
Johannes Hartlieb Untersuchungen zu Leben und Werk
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1992
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT GmbH
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Fürbeth, Frank : Johannes Hartlieb : Untersuchungen zu Leben und Werk / Frank Fürbeth. Tübingen : Niemeyer, 1992 (Hermaea ; N.F., Bd. 64) NE: GT ISBN 3-484-15064-5
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Buchbinder: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten
Vorwort
Johannes Hartlieb gilt als einer der wichtigsten und vielseitigsten Schriftsteller und Übersetzer des 15. Jahrhunderts, dessen CEuvre magisch-mantische, minnedidaktische, rhetorische, medizinische, religiösdidaktische und erzählerische Texte umfaßt. Lange Zeit hat die Forschung als Grund dieser Vielfalt eine allzu eilfertige Bereitwilligkeit Hartliebs vermutet, sich der fürstlichen Gunst wegen keinem Übersetzungsauftrag zu verweigern; ob dieser Höflingsgeschmeidigkeit leicht den Kopf schüttelnd wandte man sich dann jeweils den einzelnen Werken zu. Erst in neuerer Zeit sind hier neue Wege gegangen worden: indem die Frage gestellt wurde, ob überhaupt sämtliche Werke Hartlieb zugeschrieben werden können, und indem versucht wurde, den Gebrauchsraum der Hartliebschen Texte differenzierter zu fassen. Beiden Ansätzen ist auch die vorliegende Arbeit verpflichtet. Durch die Untersuchung der urkundlichen und handschriftlichen Quellen, der lateinischen Vorlagen und der Intention Hartliebs, des literarischen und intellektuellen Umfelds soll hier ein in sich konsistentes Bild des Menschen und des Werks zumindest umrißhaft entworfen werden. Die Arbeit, die 1988 von dem Fachbereich Neuere Philologien der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt als Dissertation angenommen wurde, ist für den Druck überarbeitet und gekürzt worden. Hinzugekommen sind die Indices; die hier nurmehr angerissenen Ausführungen über Andreas Baier und Nikolaus Magni sollen an anderer Stelle ausführlicher publiziert werden. Meinem Lehrer, Professor Dr. Alfred Karnein, der mir die Anregung zu dieser Untersuchung gab, schulde ich großen Dank nicht allein für die nachhaltige Förderung in allen Stadien der Arbeit, sondern auch dafür, daß er mir zu Zeiten, in denen mich die Materialfülle zu überwältigen drohte und ich — um mit Hartlieb zu sprechen — von den bösen tuiffeln so ser und vast angevochten wurde, mit Rat und Zuspruch zur Seite stand. Zu danken habe ich allen Bibliotheken und Archiven, die mir bereitwilligst Auskunft erteilten und ihre Bestände zugänglich machten, insbesondere der Bayerischen Staatsbibliothek, die mir immer angenehmste Arbeitsbedingungen bot; weiterhin dem Land Hessen, V
das mir durch ein Graduiertenstipendium die Bibliotheksaufenthalte ermöglichte. Mein herzlicher Dank gilt den Herausgebern der >Hermaea< für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe, wobei ich Herrn Professor Dr. Hans Fromm für die geduldige Betreuung bei der Erstellung der Druckfassung besonders verpflichtet bin. Danken möchte ich schließlich auch dem Max Niemeyer Verlag für die sorgfältige Drucklegung und der V G Wort für die Bewilligung eines erheblichen Druckkostenzuschusses. Frankfurt, im September 1991
VI
Frank Fürbeth
Inhaltsverzeichnis
Ο. E I N L E I T U N G
Ι. D I E BIOGRAPHIE: HARTLIEB UND ANDERE
Ι
12
1.0. Stand der Forschung
12
1.1. Die Münchner Periode
16
1.1.1. Beziehungen zum Hof
16
1.1.2. Außerhöfische Beziehungen
23
1.1.3. Nachwirkungen, Verwandte und Namensträger . . . .
24
1.1.4. Zusammenfassung
29
1.2. Die Vor-Münchner Periode
30
1.2.1. Studium und Promotion
30
1.2.2. Andere Hartlieb-Nennungen
34
1.3. Resümee 2. D I E W E R K E : Z U S C H R E I B U N G U N D A U F T R A G G E B E R
39 42
2.0. Überblick über die Forschung
42
2.1. Die Hartlieb zugeschriebenen Werke
44
2.1.1.
Kunst der Gedächtnüß
44
2.1.2.
Das Mondwahrsagebuch
49
2.1.3.
Namenmantik
57
2.1.4.
Geomantie
60
2.1.5.
Kräuterbuch
61
2.1.6.
De amore deutsch
62
2.1.7.
Die Histori von dem großen Alexander
70
2.1.8.
Chiromantie
72
2.1.9.
Das Buch aller verbotenen Kunst
75
2.1.10. Brandanlegende
77
2.1.11. Dialogue miraculorum deutsch
77
2.1.12. Secreta mulierum deutsch
78
2.1.13. Bäderbuch
79 VII
2.2. Weitere Werke
81
2.2.1. Arzneipreisliste
81
2.2.2. Practica medicinae
82
2.2.3. Das Gedicht des Andreas Bavarus
82
2.3. Resümee 3. D A S >BUCH A L L E R VERBOTENEN K U N S T C M A N T I K
85 UND
LAIENDIDAXE
88
3.0. Stand der Forschung
88
3.1. Begriff und Begriffssystematik: Aberglaube — Unglaube — Superstitio
91
3.2. Der >Tractatus de superstitionibus< des Nicolaus Magni de Jawor
100
3.3. Das >Buch aller verbotenen Kunst
Alexander
141
4 . 1 . 1 . Erwartungshorizont
141
4.1.2. Die Rezeptionsvorgabe Hartliebs
150
4.1.3. Rezeption
161
4.2. Der >Dialogus miraculorum< 4.2.1. Die Vorlage: Der >Dialogus< ein Übungsbuch?
172
4.2.2. Intention der Übersetzung
176
4.2.3. Rezeption
181
4.3. Die Brandanlegende 4.3.1. Die Vorlage: Der >Brandan< eine Legende?
183 183
4.3.2. Intention
187
4.3.3. Rezeption
192
4.4. Die >Secreta mulierum< 4.4.1. Vorlage VIII
172 . . . .
198 198
4·4· 2 · Intention
199
4·4·3· Rezeption
204
4.5· Resümee
205
5. D E R M Ü N C H N E R G E B R A U C H S R A U M
212
6. L A I E N F R Ö M M I G K E I T UND F R Ü H H U M A N I S M U S
241
ANHANG
267
I:
Urkunden
267
Ia:
Stammbaum der Familie Hartlieb
275
II:
Handschriftenverzeichnis der Werke Hartliebs
IIa: Schriftproben A B K Ü R Z U N G S - UND L I T E R A T U R V E R Z E I C H N I S
276 280 281
Abkürzungsverzeichnis
281
Handschriften- und Inkunabel Verzeichnisse
284
Bibliographie
287
INDEX
301
Handschriften
301
Personen
3 04
IX
ο.
Einleitung
Das Ziel der vorliegenden Arbeit war ursprünglich, erstmalig eine zusammenschauende Analyse aller Werke des Münchner Literaten Johannes Hartlieb zu leisten. Hartlieb, der von 1440 bis zu seinem Tode 1468 als Leibarzt in den Diensten der Herzöge Albrecht III. und Sigmund von Bayern-München stand, ist für die Germanistik aus mehreren Gründen interessant gewesen. Da wären zum einen seine beiden wirkungsmächtigsten Werke zu nennen, die Übersetzungen des Alexanderromans und des >Tractatus de amore< — letztere Arbeit allerdings für Herzog Albrecht VI. von Österreich verfaßt —, die ihren Platz im Kanon der Literatur des 15. Jahrhunderts gefunden und so unter je verschiedenen Gesichtspunkten — als ein Vertreter der »Volksbücher« der Alexanderroman, als Zeuge der Rezeption der hochmittelalterlichen Minnetheorie des Andreas Capellanus der >De amoreBuch aller verbotenen KünsteBuch aller verbotenen Künste< wurde seit der Grimmschen >Mythologie< immer wieder als Zeugnis des spätmittelalterlichen Hexen- und Teufelwahns herangezogen — als auch der germanistischen Fachprosaforschung. Schließlich werden ihm Ubersetzungen zugeschrieben, die das Unterhaltungsbedürfnis seiner Auftraggeber — die Brandanlegende, der >Dialogus miraculorum< des Caesarius von Heisterbach — oder ein eher wissenschaftliches Interesse der Mäzenaten — eine >Ars memorativaSecreta mulierum< und das >Bäderbuch< Felix Hemmeriis — befriedigen sollten. Die Disparatheit der literarischen Felder, auf denen Hartlieb sich betätigt zu haben scheint, machte ihn dann selbst zu einer Figur des literarhistorischen Interesses, wobei die Urteile allerdings in ihrer Unterschiedlichkeit ihr Objekt widerspiegeln: sie reichen von der Diffamierung Hartliebs als 1
eines sich stets nach der Fürstengunst richtenden Höflings bis zu der wohlwollenden Beurteilung als eines gerade wegen seiner vielfältigen Interessen frühen Vertreters des deutschen Humanismus. Es muß zugegeben werden, daß die Disparatheit des CEuvres anfangs auch mein Interesse begründete, jedoch bald zu der diese Disparatheit eigentlich negierenden zentralen Hypothese der weiteren Untersuchung führte: daß nämlich die vordergründige Verschiedenheit der Werke weniger in dem Werk selbst als vielmehr in der Perspektive liegt, mit der die Forschung an die Hartliebschen Übersetzungen herangegangen ist. Diese Hypothese stützt sich auf zwei Feststellungen. Zum einen wurden die Übersetzungen allzu vorschnell in bestimmte literarische Traditionen eingeordnet und dadurch etikettiert, ohne ihre spezifische Gebrauchsfunktion am Münchner Hof zu berücksichtigen. Das meint, um etwa das Beispiel des Alexanderromans zu nehmen, daß es völlig in die Irre führt, den >Alexander< nur aufgrund der relativ hohen Zahl seiner Drucke als Volksbuch zu reklamieren und, nicht genug, eine solche >Volksbuch-Intention< auch dem Autor zu unterstellen, ohne zu berücksichtigen, daß die Situation, in der diese Übersetzung entstanden ist, das Dreieck also zwischen Intention des Auftraggebers, Absicht des Übersetzers und Erwartung des Primärrezipienten, mit einer durchaus eigenständigen Sekundärrezeption prinzipiell nichts zu tun haben muß. Eine genaue Analyse der jeweiligen Gebrauchssituation, die ich vorläufig und noch unscharf durch dieses Dreieck definiert wissen will, wird im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen, daß gerade hier die innere Homogenität des Hartliebschen CEuvres begründet ist. Die zweite Feststellung, die zu der erwähnten Hypothese führte, betrifft einen gewissen unkritisch-akkumulativen Gang der Forschung. Z u Beginn der Arbeit konnte noch davon ausgegangen werden, daß die Untersuchung auf einer mittlerweile zu gesicherten Ergebnissen gelangten Forschungslage aufzubauen sei: zur Biographie Hartliebs schien seit den Untersuchungen von Drescher im Euphorion 1924/25 und denen Schmitts in verschiedenen Publikationen wohl alles gesagt, die Werke Hartliebs liegen - bis auf das Bäderbuch und die Brandanlegende — jetzt in Editionen mit begleitenden Kommentaren vor. Es zeigte sich aber sehr bald, daß gerade der Fortgang der Hartlieb-Forschung dergestalt, daß die eine Untersuchung auf die Ergebnisse der vorhergehenden zurückgreifen zu können glaubte, nicht zu einer Festigung und Vermehrung des Wissens über Hartlieb und sein Werk geführt hat, sondern im Gegenteil zu einem recht schwankenden und unsicheren Gebilde, das, da immer wieder zur Begründung eigener 2
Thesen die nicht mehr hinterfragten fremden Hypothesen herangezogen werden, Fehler und Irrtümer als Fundament benutzt. Dies wirkte sich vor allem auf zwei Gebieten aus. Zum einen ist in vielen Fällen eine Datierung und Zuschreibung der jeweiligen Übersetzungen nicht aufgrund eindeutiger, aus den Textzeugen selbst zu erschließender Kriterien erfolgt, sondern mit Hilfe von Indizien, die aus der Interpretation anderer Texte Hartliebs gewonnen wurden. Zum anderen ist anscheinend niemals die Frage gestellt worden, ob der Name Hartliebs im süddeutschen Raum des 15. Jahrhunderts wirklich so singular gewesen ist, daß unbedenklich alle Namensnennungen auf den Münchner Hartlieb bezogen werden können. Beide methodischen Nachlässigkeiten haben schließlich dazu geführt, daß sowohl jeder Text, der auch nur in einigen der handschriftlichen Textzeugen den Verfassernamen Hartliebs trägt, diesem Hartlieb zugeordnet wurde, wie auch umgekehrt über diese »Werkkette« ein chronologischer und geographischer Rahmen konstruiert wurde, der die Biographie Hartliebs absteckte. Der derzeitige Forschungsstand stellt sich so, geht man erst einmal den Weg bis zu seinen ersten Anfangen kritisch zurück, als ein Geflecht aus gegenseitigen argumentativen Stützungen dar, das an der Oberfläche nicht zu packen ist, sondern labyrinthisch immer weiter weist. Ich sah mich daher gezwungen, wieder hinter dieses Geflecht zu dringen, um erst eine sichere Basis für die weitere Untersuchung zu gewinnen; dies bedeutete aber in größerem Maße, als es eigentlich beabsichtigt und vorherzusehen war, eine Sichtung der gesamten Hartlieb-Literatur bis zu ihren Anfangen im 18. Jahrhundert, und weiter noch, eine Überprüfung von deren Ergebnissen an den Quellen und Handschriften selbst. Daß im Laufe dieser Überprüfung einige unbekannte Textzeugen, selbst einige unbekannte Werke Hartlieb betreffend ans Tageslicht getreten sind, mag als erfreuliche Belohnung dieses mühsamen Unterfangens gelten. Einen ersten Überblick über die Forschungsgeschichte soll die folgende, chronologisch geordnete Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse und -hypothesen zu Hartlieb bieten; dabei ergibt sich die Möglichkeit, gleich auch einige der Irrtümer und Spekulationen zu Hartliebs Biographie zu korrigieren. Die erste Erwähnung Hartliebs findet sich bei Aventin in seiner 1580 gedruckten Bayerischen Chronik, wo er den >Alexander< als »Rocken-
3
märl« qualifizierte. 1 Nach der bibliographischen Erfassung von einigen Werken Hartliebs in Uffenbachs Bibliotheksreisen 2 und in Panzers Annalen' erschien Hartlieb wieder in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts, so bei Goedeke 4 und bei Gervinus,' wobei letzterer für die folgenreiche Charakterisierung Hartliebs als »allzeit fertiger und höchst elender Schreiber« verantwortlich ist. 1879 wurde auch Oefeles Artikel in der A D B veröffentlicht, in dem er eine erste Skizze von Hartliebs Biographie zeichnete.6 Oefele nannte seine Quellen nicht, so daß seine biographischen Angaben nur schwer nachprüfbar sind. So soll Hartlieb 1446 von Herzog Albrecht nach Ferrara geschickt worden sein, eine Angabe, die noch Schmitt in seine neueste Publikation übernimmt.7 Ein urkundlicher Nachweis ist mir nicht bekannt geworden; Schmitt verweist in seiner Dissertation8 auf das Werk von Voigt, 9 dort aber ist von Hartlieb nichts zu finden. Dieser Aufenthalt ist also vorläufig aus Hartliebs Biographie zu streichen. 1889 widmete Riezler in seiner >Geschichte Baierns< Hartlieb einige Seiten; 10 interessant deshalb, weil die Werkliste von Goedeke durch ' »Ich find auch, das iezgemelts meins gnädigen herrn und seiner gnaden brüeder anherr und anfrau, der alt herzog Albrecht und Anna von Braunschweik, seiner gnaden gemahel, dises Alexanders leben auß latein in teutsch hat lassen bringen durch Johannes Hartlieb, irer gnaden doctor ein'n arzt; ist aber nit wol teutscht: der doctor hat des lateins zue wenig künt, hat vil drein gesezt und darzue von kurzweil wegen tan, das nur gedichte rokenmärl sein.« (Johannes Turmaier's genannt Aventinus Bayerische Chronik. Hrsg. von M. Lexer. I. München 1884 [Sämtliche Werke, 4], S. 337). * L. C. v. Uffenbach: Merckwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engelland. I. Ulm-Memmingen 1753, S. 5iof. Uffenbach erwähnt die Wolfenbütteler Hs des >Buchs aller verbotenen KunstBrandan< in der StdtB Nürnberg), S. 70, 74, 107 ^Alexand e r , »eines der abgeschmacktesten Fabelbücher«); und Panzer's Zusätze zu den Annalen der ältern Deutschen Litteratur. Leipzig 1802, S. 4 1 , 98 (>Alexanden), S. 213 (>De amoreBuchs aller verbotenen KunstAlexanderroman< durch Benz 24 in Facsimiles zum Abdruck gebracht; Wieczorek edierte im Rahmen einer Analyse der Übersetzung des >de amoreBuch aller verbotenen Kunst< zur Kernthese seiner Arbeit machte, die »Wende« auch durch die Vermutung einer Begegnung Hartliebs mit Nikolaus von Cues und Johannes von Capestrano glaubhaft zu machen suchte. Karl Drescher: Johann Hartlieb. Über sein Leben und seine schriftstellerische Tätigkeit. Euphorion 25 (1924), S. 2 2 5 - 2 4 1 , 3 5 4 - 3 7 0 , 569-590 und 26 (1925), S. 3 4 1 - 3 6 7 , 481-564. ' 7 Johann Hartliebs Übersetzung des Dialogus Miraculorum von Caesarius von Heisterbach. Aus der einzigen Londoner Handschrift hrsg. von Karl Drescher. Berlin 1929. ( D T M 33) 11
29
Albertus-Hubertus Bolongaro-Crevenna: Johannes Hartlieb. In: Bolongaro-Crevenna, Münchner Charakterköpfe der Gotik. München 1938, S. 47—59. Fridolin Solleder: München im Mittelalter. München-Berlin 1938, S. j8ff., 340ff. Heinrich L. Werneck: Kräuterbuch des Johannes Hartlieb. Eine deutsche Handschrift um 143 5/145ο aus dem Innviertel. In: Das Kräuterbuch des Johannes Hartlieb. Eine deutsche Bilderhandschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (Facsimiledruck). Hrsg. von Franz Speta. Mit einer Einführung und Transkription von Heinrich L . Werneck. Graz 1980, S. 9—63. Unveränderter, nur um das Vorwort gekürzter Abdruck des Erstdrucks in Ostbairische Grenzmarken 2 (1958), S. 71—124.
7
Diese Idee verfolgte Schmitt in einer Reihe von Untersuchungen weiter, so etwa in seinem N D B - A r t i k e l ' 1 und auch noch in seiner jüngsten Publikation zu Hartlieb im Rahmen der Festschrift für Gerhard Eis.' 2 1964 erfolgte die Berliner Edition des Mondwahrsagebuchs und der >Kunst der Gedächtnüß< durch Bodo Weidemann;" 1968 erhielt die Forschung zu den mantischen Schriften einen neuen Impuls durch die These Martin Wierschins,' 4 daß von einer Wende Hartliebs schon deshalb keine Rede sein könne, weil diese Werkgruppe gar nicht von ihm stamme. Ebenfalls mit der Hartliebschen Fachprosa beschäftigte sich Hanns Fischer, der im Erscheinungsjahr der Schmittschen Dissertation seinen Aufsatz in den P B B veröffentlichte" und die Wiederentdeckung von clm 8244 zum Anlaß nahm, die Übersetzung des Hemmerlischen Bäderbuchs endgültig Hartlieb zuzuschreiben; eine These, die von mir mit Hilfe text- und handschriftenkritischer Untersuchungen 1986 widerlegt wurde.' 6 1970 erschien die Münchner Dissertation von Alfred Karnein, die Edition der Übersetzung des >Tractatus de amoreAlexanderromans< nach cgm 581 durch Lechner-Petri' 8 und 1985 die Edition der >Secreta mulierum< durch Bosselmann-Cyran. 39 1990 wird der >Alexanderroman< in einer Edition durch Reinhard Pawis erscheinen,40 womit endlich eine kritische Ausgabe vorliegen wird. Da'' Wolfram Schmitt: Hartlieb, Johann (Hans). In: N D B 7, S. 722-723. >' S. oben Anm. 7. Außerdem wären noch zu nennen: Wolfram Schmitt: Z u r Literatur der Geheimwissenschaften im späten Mittelalter. In: Fachprosaforschung. Acht Vorträge zur mittelalterlichen Artesliteratur. Hrsg. von Gundolf Keil und Peter Assion. Berlin 1974. S. 1 6 7 - 1 8 2 ; Wolfram Schmitt: Magie und Mantik bei Hans Hartlieb. Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 6 (1966), S. 5—25. Bei beiden Aufsätzen handelt es sich aber lediglich um eine Kurzfassung der wesentlichen Gedanken von Schmitts Dissertation. " Bodo Weidemann: »Kunst der Gedächtnüß« und »De mansionibus«, zwei frühe Traktate des Johannes Hartlieb. Diss. Berlin 1964. ' 4 Martin Wierschin: Johannes Hartliebs >Mantische SchriftenSecreta mulierum< mit Glosse in der deutschen Bearbeitung von Johann Hartlieb. Text und Untersuchungen. Pattensen/Han. 1985. (WMF 36) 4 ° Reinhard Pawis: Johann Hartliebs Alexanderroman. Edition und Untersuchung. München 1990. ( M T U 97). Die Edition lag mir bei der Erstellung des Manuskripts noch nicht vor. 8
mit sind bis auf das Bäderbuch und die Brandanlegende alle Werke Hartliebs in Editionen verfügbar. Gegenstand von Textanalysen ist bevorzugt der Alexanderroman, so durch Schnell 1979 4 1 und neuerdings Trude Ehlert, 42 mit der Person Hartliebs beschäftigte sich Koerting, 4 ' der einiges Biographische nachtrug, und Person und Werk bringt in jüngster Zeit wieder Klaus G r u b müller zusammen, der in zwei Veröffentlichungen unter einem sozialgeschichtlichen Ansatz »dem Hof als städtischem Literaturzentrum« nachgeht. 44 Eben dieser Ansatz Grubmüllers öffnet auch den Blick dafür, was in der Hartlieb-Forschung noch nicht geleistet worden ist: eine umfassende Untersuchung über die Gebrauchssituation 4 ' seines Werks. A u s den oben genannten Schwierigkeiten wird auch die vorliegende Arbeit diese Aufgabe nur im Ansatz übernehmen können; sie versteht sich durch die Bereitstellung alles urkundlichen und handschriftlichen relevanten Materials als Vorarbeit für eine solche Analyse, die ich in größerem Rahmen, einer Untersuchung der hier nur anzureißenden Verbindung von süddeutschem Frühhumanismus und universitärer Spätscholastik, angehen will. Die Arbeit beschränkt sich vorläufig neben der Klärung von bio-bibliographischen Fragen auf eine Analyse des >Buchs aller verbotenen KunstAlexander< zwischen theologischer Legitimation und rationaler Selbstbehauptung. Saeculum 38 (1987), S. 178—192. Dabei handelt es sich um einen Teil der Habilitationsschrift, die jetzt im Druck erschienen ist: Trude Ehlert: Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte. Frankfurt a. M. 1989. (Europ. Hochschulschriften. R. I, 1174) " Walther Koerting: Dr. Hans Hartlieb. Ein vielseitiger und berühmter Münchner Arzt des späten Mittelalters. Bayerisches Ärzteblatt 1962, S. 220-229; ders.: Ergänzungen und Richtigstellung. Bayer. Ärzteblatt 1963, S. 883—889. 44 Klaus Grubmüller: Der Hof als städtisches Literaturzentrum. In: Befund und Deutung. Z u m Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Fs Hans Fromm. Hrsg. von Klaus Grubmüller u. a. Tübingen 1979. S. 405—427; ders.: Ein Arzt als Literat: Hans Hartlieb. In: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978. Hrsg. von Volker Honemann u. a. Würzburg 1979. S. 14—36. 41 Der Terminus wird hier im Sinne von Hugo Kuhn gebraucht. Eine eingehende Diskussion des methodischen Zugriffs erfolgt in Kapitel 4.
9
die die Forschung bislang nicht eruieren konnte, und seines geistesgeschichtlichen Standortes; weiter auf eine Untersuchung zu den Gebrauchsfunktionen der in München entstandenen Werke, also des >BrandanDialogusAlexander< und der >Secreta mulierumTractatus de amoreSecreta mulierum< und das >Bäderbuchde amoreGedächtniskunstlaborintus< Eberhards des Deutschen geliefert hat, 136; bis 1568 als Beamter der Kanzlei Karls I V . nachgewiesen ist und dort als licentiatus in decretis erscheint und der schließlich 1386 das artistische Bakkalaureat gewinnt (Vgl. Briefe Johanns von Neumarkt. Hrsg. von Paul Piur. Berlin 1937. [Vom Mittelalter zur Reformation. Forsch, z. Gesch. d. dt. Bild. VIII], S. 15 2 Anm.). Hans Szklenar (Magister Nicolaus de Dybin. Vorstudien zu einer Edition seiner Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Rhetorik im späteren Mittelalter. München 1981. [ M T U 65], S. 21 iff.), dem »die Seltsamkeit dieses Lebensweges« eines Mannes bewußt geworden ist, der 1365 in der kaiserlichen Kanzlei drei Subnotare beschäftigt, ein Jahrzehnt später Schulbücher abschreibt, »um schließlich nach einem weiteren Jahrzehnt zum untersten aller akademischen Grade . . . zugelassen zu werden«, hat nachgewiesen, daß es sich um drei verschiedene Personen handeln muß. Allerdings bleibt auch diese >De-Identifizierung< hypothetisch und damit problematisch, denn der Nachweis der Nicht-Identität ist nicht weniger schwierig als derjenige der Identität. »Die möglichen Indizienbeweise der Identität oder Nicht-Identität von Personen indessen können, so wertvolle Perspektiven sie eröffnen mögen, in der Regel nicht alle Zweifel ausräumen, so daß es sich verbietet, aus solchen Identifizierungen eine Kette von weiteren Schlüssen abzuleiten.« (Schmid, 1967, S. 229, Anm. 13) " Hartlieb ist ursprünglich ein Rufname, der sich aus ahd. hart »stark, tapfer, kühn« und ahd. Hob (Hub) »lieb,geliebt« zusammensetzt (Adolf Bach: Deutsche Namenkunde. Bd. I, Die deutschen Personennamen, § 200 u. 207), aus ahd. liobjliub wird mhd. liebjliub, nhd. liebjlib (Paul/Moser, Mhd. Gramm., § 19, § 46, § 48). Der Rufname kann seit den Anfangen der Doppelnamigkeit zum Familiennamen werden, ebenso kann aber auch noch in späterer Zeit der Familienname des Vaters zum Taufnamen des Sohnes werden (Vgl. Heinz Reichert: Die deutschen Familiennamen nach Breslauer Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts. Breslau 1908. Reichert nennt S. 45 einen Sohn Hartlip Hartlip des Hanke Hartlip). " Vgl. dazu die Unmenge an Belegen bei Bach und Reichert; siehe außerdem Ernst Förstemann: Altdeutsches Namenbuch. 2. Aufl. Bd. I. Personennamen. Bonn 1900; Josef Karlmann Breckenmacher: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Familiennamen. 2. Aufl. Bd. I. Limburg 1957/60; Albert Heintze u. Paul Cascorbi: Die deutschen Familiennamen geschichtlich, geographisch, sprachlich. 7. Aufl. Berlin 1933; Max Gottschald: Deutsche Namenkunde. 5. Aufl. Berlin 1982. Diese Feststellung mußte auch der Münchner Familienforscher Ludwig Sigmund Ritter von Hartlieb, der das Manuskript seiner Nachforschungen 1893 der Mainzer Stadtbibliothek schenkte, machen: »Sehr bald schon nach Beginn der Arbeiten wurde [die] die weiteren Nachforschungen so sehr erschwerende Ursache klar: daß der Name Hartlieb früher Vornamen gewesen, daß er sich erst durch ständige Vererbung allmählig zum Familiennamen herausgebildet und daß letzteres in den verschiedenen Gegenden Deutschlands zu ganz verschiedenen Zeiten geschehen ist. Der Versuch also, alle heutigen Träger des Namens auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen zu wollen, wäre absurd.« (Faszikel des Mainzer StdtA, Manuskript des Ludwig Sigmund Ritter von Hartlieb, incl. 39 Anlagen; ohne Signatur) E r schreibt weiter, daß er trotzdem, »um Klarheit zu gewinnen über die Häufigkeit des Namens überhaupt«, sich eine Aufstellung gemacht habe über alle Träger des Namens bis 1500. »Aus dieser Liste . . . ergiebt sich, daß die dichteste Gruppe und zugleich die ältesten Träger dieses Namens in und um Mainz zu finden ist. Die nächst dichte Gruppe ist nördlich Hei-
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Kapitel wird daher das urkundliche Quellenmaterial sichten, das zu den mit dem Namen Johannes Hartlieb benannten Personen vorhanden ist, und dabei vorläufig auf die Auswertung der textualen Zeugnisse in den Handschriften verzichten. Mit aller Vorsicht soll dann eine Zuordnung zu dem eindeutig gekennzeichneten Münchner Hartlieb versucht werden; als Differenzierungskriterien können, wie sich zeigen wird, jeweils Herkunft, Beruf/Funktion und auch die Namenschreibung dienen. Infolgedessen muß die Zuordnung von der Münchner Periode rückwärts schreiten, da nur dort gesicherte Kennzeichnungen gewonnen werden können; die zweite Lebensperiode nimmt also in der Untersuchung die erste Stelle ein.
I.I.
D i e Münchner Periode
I.I.I.
Beziehungen zum H o f
Die im folgenden vorgetragenen Daten können sich im wesentlichen auf die Forschungen Dreschers stützen, der allerdings im Großteil die Urkunden nur aus den Regesten zitiert. Daher werden die urkundlichen Quellen zu Hartlieb mit den Auszügen, aus deren genauem Wortlaut gerade die gesellschaftliche Stellung Hartliebs hervorgeht, im Anhang abgedruckt; einiges Drescher nicht Bekanntes bleibt nachzutragen." Ab 1441 bis 1447 sind die eigenhändigen Quittungen Hartliebs für seinen sold erhalten,'4 die johannes hartliepp, so die autographe Schreidelberg; - nicht dicht zwar, aber lange hindurch in scheinbarem genealogischem Zusammenhang erscheint der Name in und westlich Breslau, vorübergehend sehr aber nur auf kurze Zeit erscheint er in Mähren nördlich Brünn. Vereinzelt in ganz Deutschland, als Vorname in Bayern sehr selten, im Elsaß gar nicht.« Die erwähnte Aufstellung ist als Anlage 1 dem Manuskript beigefügt; das dritte, in unserem Zusammenhang interessante Blatt der Zeit von 1313 bis 1500 fehlt allerdings. Über den Verbleib des Blattes konnte nichts ermittelt werden. '' Drescher hat für seine Untersuchungen über das Leben Hartliebs den Bestand des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zu Hartlieb weitgehend erfaßt. Übersehen wurden von ihm allerdings die beiden Briefe Hartliebs und Herzog Albrechts an Johannes von Indersdorf in den Klosterliteralien Indersdorf (Nr. ; und 8 im Anhang I), die Korrespondenz zwischen Hartlieb, Herzog Albrecht und Markgraf Johann von Brandenburg (Nr. 29—32; Drescher kannte nur die Nr. 29 durch den Abdruck bei Ulm, S. 3), die Stiftungsurkunde des Sigmund Fünsinger (Nr. 36), die beiden Gerichtsurkunden, in denen Hans Hartlieb als Jurleger genannt wird (Nr. 1, 2), und die Bestallungsurkunde des Heinrich Hartlieb (Nr. 3). Die Bestände des Stadtarchivs München hat Drescher nicht ausgewertet. '* Vgl. Anhang I, Urkundenliste. 16
bung des Namens, doctor jn ert^nej von seinem berren herc^og albrecht erhält. Bislang nicht beachtet wurde der Stempel, mit dem Hartlieb seine Urkunden siegelt und der Hartliebs Promotionsjahr verrät. Das eigene Siegel war auch im Spätmittelalter, obwohl es seit dem 14. Jahrhundert jedem gestattet war, ein Siegel zu führen, 1 ' de facto nur den durch Adel oder Stellung ausgezeichneten Personen vorbehalten.' 6 Dabei erforderte eine neue Würde, eine neue Stellung ein neues Siegel: Soweit das von Hartlieb benutzte Siegel noch erkennbar ist,' 7 handelt es sich um eine Gemme mit Frauenkopf in einem achteckigen Rahmen. Um den Rahmen läuft die Schrift hartlipp doctor 14)9. Allem Anschein nach verweist also das Siegel auf Hartliebs Promotionsjahr: 1439. Schon am 14.9.1441' 8 erscheint Hartlieb als Berater Albrechts in Fragen der Klosterreform. Drescher kennt zwei Briefe an Johannes von Indersdorf, der eine von Albrecht, der andere von Hartlieb, durch den Abdruck bei Westenrieder; ein Textzeuge der Briefe, den auch Westenrieder seiner Edition zugrunde legte, findet sich in clm 1807. Dabei scheint es sich bei dem Brief von Hartlieb an Johann um eine später vorgenommene Übersetzung zu handeln; das bislang unbekannte lateinische Original des Briefes per vestrum Johannem hartliepp medicine doctorem vom 21. März 1442 ist in den Klosterliteralien Indersdorf 4 auf Blatt io v am unteren Rand in einer Abschrift erhalten.' 9 In dieser Handschrift ist auf drei Blättern auf Lateinisch von einem unbekannten Verfasser eine kurze Chronik der Rolle des Klosters Indersdorf und besonders seines Abtes Johannes Rothuet von Indersdorf in der von Albrecht betriebenen Klosterreform eingetragen; die Briefe, die Albrecht an Johann von Indersdorf gerichtet hatte, sind in deutscher Abschrift wörtlich wiedergegeben. Unter diesen Briefen ist ebenfalls der schon '' Otto Posse: Die Lehre von den Privaturkunden. Leipzig 1887 (Photomech. Nachdr. Berlin 1974), S. 129. 16 Posse, S. 134f. 17 In den Soldquittungen BayHStA Kurbayern U 9714, U 9715, U 9770; Anhang I, Nr. 7. Μ, 15· Der Brief Albrechts III. an Johann von Indersdorf, in dem Albrecht von seinem Gespräch mit Hartlieb schreibt, ist der Forschung bekannt durch den Abdruck bei Westenrieder (Beyträge zur vaterländischen Historie, Geographie, Staatistik, und Landwirthschaft, samt einer Uebersicht der schönen Litteratur. Hrsg. von Lorenz Westenrieder. 5. Bd. München 1794, S. 45), der ihn nach dem ihm bekannten Textzeugen in clm 1807 ediert. In clm 1807 datiert der Brief aus dem Jahr 1440 {pfinc^tag des heiligen crewc^tag anno xl); so auch Drescher, Euph. 25, S. 227, Anm. 2. Der zweite Textzeuge in den Klosterliteralien Indersdorf (Anhang I, Nr. 5) nennt 1441. Dies wäre das wahrscheinlichere Datum, da die Klosterliteralien durch die lateinische Abschrift des Briefs als dem Original näherstehend ausgewiesen sind. '»Vgl. Anhang I, Nr. 8.
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bei Westenrieder abgedruckte Brief Albrechts. Dabei ergeben sich kleine Differenzen zu der Abschrift in clm 1807: Heißt es in K L Ind. 4 vns hat maister hans hartlieb gesagt wie ir im geschriben habt das er vns manen süll als von der clöster wegen, so in clm 1807 vns hat unser ratmaister Hans hartlieb doctor gesagt wie irjm geschriben habt das er uns manen soll als von der kloster wegen. Aus dem akademischen Titel maister in K L Ind. 4 wird also in clm 1807 die Funktion des ratmaisters, des herzoglichen Rats, der die akademische Qualifikation nachgesetzt wird. In dieser Funktion als Rat tritt Hartlieb demnach in einen Schriftwechsel mit Johann von Indersdorf; er dient gleichsam als Mittler zwischen dem Herzog und Johann. Es stellt sich hier schon die Frage, die für seine gesamte literarische Tätigkeit entscheidend ist, ob nämlich die Beratertätigkeit seiner Stellung als ärztlicher Vertrauter entspringt oder ob Hartlieb auch als genuin Sachverständiger in der Frage der Klosterreform selbst herangezogen wird; die Benennung als maister spräche für ersteres, die als ratmaister läßt letzteres wahrscheinlich erscheinen. Die Qualifizierung als doctor wäre in diesem Fall dann mehr als nur ärztliche Berufsbezeichnung; sie ist Nachweis einer akademischen Ausbildung, also auch der Ausbildung in scholastischer Methodik und artistisch-philosophischem Gegenstand. Für die Analyse des >Buchs aller verbotenen Kunst< wird diese Frage wichtig werden. Ein Weiteres zeigt der Textzeuge des Briefes von Albrecht an Johann von Indersdorf in den Klosterliteralien. Die Tatsache, daß der Brief Hartliebs in den Literalien in seiner lateinischen, also Originalfassung überliefert ist, und daß es sich bei den Literalien um Aufzeichnungen des Klosters handelt, in dem Johann wirkte, spricht für eine höhere Authentizität dieses Textzeugen als desjenigen in clm 1807. Dies hieße, daß das bislang früheste Datum der Tätigkeit Hartliebs in München, wie es mit 1440 von clm 1807 mitgeteilt wird, durch das Datum in den Klosterliteralien ersetzt werden müßte. Hartlieb wäre dann erst 1441 in München nachzuweisen; dieser Befund würde sich auch damit decken, daß die Soldquittungen eben erst mit diesem Jahr einsetzen. Mit Datum vom 14. 9. 1442 schenken Albrecht und seine Frau Anna von Braunschweig von solicher dienst vnd trew wegen die vns der hochgelert vnstr Art^t vnd lieber ge trewer maister Johanns hartlieb lerär der Ert^nej bisher nach pillichen dingen willigklich er^aigett hat ein Haus zu München, hie yu münchen an der Judengassen gelegen, darjnn vorreiten die Judenschul gewesen ist.10 Neben dem ungewöhnlich hohen Wert des Geschenks fallen B a y H S t A K U Andechs 12. Drescher, Euph. 25, S. 228; vgl. Anhang I, Nr. 1 1 .
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wieder die Hartlieb beigelegten Attribute auf, die auf seine akademische Ausbildung abzielen; außer in der Bestätigung des Fischrechtes und des Geleitbriefs durch Herzog Sigmund 21 findet sich nur hier die Bezeichnung als >Lehrer der ArzneiPädagoge< suggeriert,22 sondern schlicht um die Verdeutschung des >DoctorBüchertauschliste< ver41 42 4i 44
4! 46 47 48
BayHStA Kurbayern 20644; v g ' · Anhang I, Nr. 34. So Schmitt, 1982, S. 257; Grubmüller, Hartlieb, Sp. 494. Vgl. a. Bosselmann-Cyran, S. 23. Nach dem Eintrag im Totenbuch des Münchner Barfüßerklosters. Vgl. Dokumente ältester Münchner Familiengeschichte 1290—1620. München 1954, S. 1 3 3 , 3 2 1 . B a y H S t A K U Andechs 14. Drescher, Euph. 25, S. 229; vgl. Anhang I, Nr. 16. B a y H S t A K U Andechs 16. Drescher, Euph. 25, S. 229; vgl. Anhang I, Nr. 19. B a y H S t A G U München 256. Drescher, Euph. 25, S. 229; vgl. Anhang I, Nr. 20. Z u Gotzkircher vgl. unten Kap. 5.
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merkt, in der es heißt, rosam Anglicam Hartlipp et Minores eciam habent. . .Serapionem de simplicibus habet Hartlipp *9 Am 20.10.1457 beurkundet Allerich Stäczlinger zu Eysolczried, Landrichter zu Dachau, daß vor ihm Heinrich Camerberger dem Domkapitel zu Freising verkaufte Güter, Rechte und Gefalle verbrieft. Als Zeugen treten auf Cunrat von Eglofstain, Kammermeister, Hanns Pelhaimer, Pfleger zu Dachau, Hans Pütrich, Doctor Johann Hartlieb und andere.' 0 Weihnachten 1465 und 1466 erhält Maliter hanns bartlieb nach den Aufzeichnungen der Tegernseer Weihnachtsehrungen vom Kloster Tegernsee jeweils %wen guet vnd %wen legerkäs ain senifvasse/;'1 unter den Bedachten sind auch jener Eglofstainer, hier allerdings als Hofmeister bezeichnet, Jacob Pittreich, und auch die Herzoge Sigmund und Albrecht, überhaupt ein großer Teil der höfischen und städtischen Führungsschicht, die das Kloster sich geneigt machen wollte. Hartlieb gehört, nach den Herzögen, zu der Gruppe von Personen, die die umfangreichsten Geschenke erhalten, mit ihm erscheinen der Kanzler, der Hofmeister, der Probst, der Turmprobst; Kanzleischreiber und Apotheker kommt nur die Hälfte, ainen guten vnd 1 legerkäs vnd ain vässel zu. 1.1.3. Nachwirkungen, Verwandte und Namensträger Hartlieb erscheint noch lange nach seinem Tode in Urkunden, in denen von seinem früheren Hausbesitz gehandelt wird.' 2 Auch hier wird 45
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!!
Paul Lehmann: Haushaltsaufzeichnungen eines Münchner Arztes aus dem 15. Jahrhundert. München 1909 (Sitz. ber. d. K g l . Bay. Akad. d. Wiss., Philos. phil. u. hist. Kl. 1909, 5. Abhd.), u. ders.: Aus einer Münchner Büchersammlung des ausgehenden Mittelalters. In: FS G . Leidinger. München 1950. 5 . 1 5 7 - 1 6 4 . Beides wiederabgedruckt in: Lehmann, Erforschung des Mittelalters. Bd. III. Stuttgart 1960. S. 247-257, hier S. 249. BayHStA G U Dachau 2008. Drescher, Euph. 25, S. 230. Die sog. >Tegernseer weinachts-erungen< (abgedruckt bei Reinhold Spiller: Studien über Ulrich Füetrer. Z f d A 27, N F 15 [1883], S. 289-293, hier S. 289?.) vermercket die Erung gen München. Vgl. Drescher, Euph. 25, S. 230, 22. März 1468: »Der Münchner Bürger Jacob Wilprecht verkauft seinem Bruder und Mitbürger Hanns Wilprecht die ihm eigentümlich zustehende Hälfte an verschiedenen Liegenschaften zu München, darunter auch an dem Eckhaus beim Schrammengäßl, an Meister Hartliebs Haus stoßend« (BayHSta G U München 334); Drescher, Euph. 25, S. 232, 30. Januar 1523 (Drescher nennt irrtümlich den 10. Januar): »Die Münchner Bürgerseheleute Hans und Elspeth Wilprecht verkaufen aus ihrem Haus zu München an der Weinstraß am Eck gelegen und hinten im Judengässlein auf die Newe Stift im Schrammengasslein auf Meister Hannsens Hartliebs Haus stoßend . . .« (BayHStA G U München 662) und BayHStA G U München 664, 20. April 1523: »Die Münchner Bürgerseheleute Hanns und Elspeth Wilbrecht verkaufen aus ihrem Hause dortselbst, am Eck der Weinstrasse gelegen
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Hartlieb als >Meister< gekennzeichnet. Am 4. Mai 1474 stiften Balthasar, Jörg und Franz Ridler in der Pfarrkirche U.L.F. eine Ewigmesse. Franz Ridler gibt dazu fünf Gulden rein.järl. Gült aus Mr. Hansen Hartlieb sei. %wein Häusern am Rindermarkt, die jet^t Hansen Hartliebs Sohn Gothart Η artlieb innehat.'''' Am 10. Januar 1485 wird den Familien von Hans und Niklas Hartlieb ein vierteljährliches Paternoster gestiftet. Die Stifter sind Sigmund Fünsinger, Metschenk, und dessen Ehefrau Barbara.54 Bei Barbara handelt es sich wohl um eine Cousine Hartliebs, mit Niklas ist deren Bruder, also der Vetter Hartliebs gemeint. Dieses Verwandtschaftsverhältnis ergibt sich aus einer anderen Urkunde vom 1 1 . Januar 1485. Dort wird Meister Hartlieb Hanns, der ja zu diesem Zeitpunkt seit 17 Jahren verstorben ist, als Schwager und Vetter von Sigmund Fünsinger, Metschenk und Bürger zu München, und dessen Frau Barbara genannt, die dem Augustinerkloster ein Ewiggeld verschreiben. Ebenfalls erwähnt werden Sibilla, Hartliebs Frau, und Niklas Hartlieb, Schwager und Bruder Fünsingers und seiner Frau, mit seiner hausfraiv Veronica." Niklas Hartlieb ist also Bruder der Ehefrau Fünsingers, Johannes Hartlieb ihr Vetter; Niklas und Johannes Hartlieb sind demgemäß ebenfalls Vettern. In der Urkunde wird beiden Ehepaaren, die als >salig< bezeichnet werden, ein Ewiggeld für vierteljährliche Messen gestiftet; sowohl Niklas als auch die Ehefrauen sind also schon 1485 verstorben. Dieser Niklas Hartlieb ist bis 1474 von der Stadt bestallter Apotheker in München,'6 1471 schickt er an das Kloster Eberberg einen pharund hinten am Judengässlein auf die N e u e Stift, im Schrammengässlein auf Meister Hannsen Hartlieb's Haus stoßend, den Augustinervätern zu M ü n c h e n ein E w i g g e l d von 5 fl. jährlich um 100 fl.« (Regesten G U München). » StdtA München, Ε 47 5/VIII. i4
StdtA München, C V I i 10/A
3: »Sigmund Finsinger, Metschenk und B ü r g e r zu
München und Barbara seine Hausfrau, geben den Vierern und dem ganzen H a n d w e r k der Goldschmiede zu München 3 Gulden rh. in G o l d E w i g g e l d . [. . .] D i e Vierer und das Handwerk der Goldschmiede geben 10 fl. heraus, die übrigen 50 Gulden sollen ihnen verbleiben, daß sie v o n nun an auf ewig jährlich [folgen die einzelnen Pflichten]. Jeden Quatember soll der Eltern, V o r v o r d e r n , N a c h k o m m e n , der Hausfrauen des Hans und Michael* Hartlieb, des Baltasar Werker und allen aus dem Geschlecht verstorbenen mit einem Paternoster gedacht werden. [. . .]« (Regesten S t d t A München) ') Die L e s u n g >Michael< der Regesten scheint w o h l eine Verlesung des N a m e n s v o n Niclas Hartlieb zu sein, wie die Urkunde B a y H S t A K U M ü n c h n e r Augustiner
71
zeigt. " B a y H S t A K U Münchner Augustiner 7 1 , vgl. A n h a n g I, N r . 36. 16
Vgl. G e r d - B o l k o Müller-Fassbender: Das Apothekenwesen der bayerischen Hauptund Residenzstadt München v o n seinem A n f a n g bis z u m E n d e des bayerischen K u r fürstentums.
München
1970.
(Miscellanea
Bavarica
Monacensia
22),
S. i 2 f .
und
A n m . 67—69.
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makologischen Codex.' 7 E r steht ebenfalls in fürstlichen Diensten: am 9. März 1479 t r i t t : e r a ls Zeuge bei einem Verkauf an Herzog Sigmunds außereheliche Söhne Hanns und Sigmund als Herzog Sigmunds Diener auf.' 8 1482 ist er in Dachau als Zeuge belegt. 59 Johannes Hartlieb hatte drei Kinder: Eucharius, Gothard und Dorothea. Ein Hans Hartlieb der Junge ist nicht eindeutig zu identifizieren, scheint aber Sohn des Niklas Hartlieb zu sein. Eucharius Hartlieb ist noch zu Johannes Hartliebs Lebzeiten in das elsässische Kloster Rufach eingetreten; dort quittiert er am 14. April ΐ4096° und am 26. Mai I4Ö96' den Erhalt von vier bzw. einer Rate des Leibgedinges des hocbgelerten meister hannsen hartlieb doctor etc., wesennnlich München säligen, das demnach ihm als dem Erben zugefallen ist. Am 24. Mai 1474 bezeugen Andre Wagmaister, Hans Heysz, Taschner, und Meister Veit der Koch vor dem Unterrichter der Stadt München, daß sie auf der Rückkehr von einer Aachener Wallfahrt in der Woche vor S. Jorgenstag im St. Valentinskloster zu Rufach einen leiblichen Bruder des Münchner Bürgers Gothart Hartlieb, nämlich den geistlichen Bruder und Beiwohner Acharius Hartlieb, lebendig angetroffen haben.62 Die >Lebendigkeit< mußte wohl wegen des weiterlaufenden, vererbten Leibgedinges überprüft werden. Die Geschwister Gothart, die Zeit des durchlauchtign Hochgeborn fürsten vnd herrn herrn Sigmunden Ert^Her^ogen Osterreich diener, und Dorothea 57
Anno dm 1471. Hum librum misit scribere honestus et discretus vir Nicolaus Hertlieb Appotecarius in Civitate Monacensi. B a y H S t A clm 5873, f. 235" ( M ü l l e r - F a s s b e n d e r , A n m . 69).
' s B a y H S t A K u r b a y e r n 1 6 3 2 1 : C o n r a t V i c h h a u s e r , B ü r g e r zu W a s s e r b u r g , v e r k a u f t den außerehelichen Söhnen Herzogs Sigmund v o n der Margret Pfarndorfferin, namens H a n n s u n d S i g m u n d , sein Haus zu M ü n c h e n an d e r K r a w t z g a s s e n u n d hinten mit Stadel u n d S t a l l u n g an d e r P r a n n e r s - G a s s e n z w i s c h e n Paulsen M a u s t s u n d R u d o l f S c h o n d o r f f e r s H ä u s e r n g e l e g e n , u m 900 £1. G e s c h ä f t s z e u g e n : Niclas Hartlieb, H e r z o g S i g m u n d s D i e n e r , M e i s t e r J o r g v o n P o l l i n g M a u r e r , K i r c h e n m e i s t e r bei U . L. F r a u , M e i s t e r H a n n s Trager, H o f m a u r e r . D r e s c h e r k o n n t e N i k l a s Hartlieb, den er n u r aus dieser U r k u n d e k a n n t e , in der Familie J o h a n n e s H a r t l i e b s » n i c h t u n t e r b r i n g e n « ; also f o l g e r t er: »sollte es G o t h a r t H. selbst sein?« ( D r e s c h e r , E u p h . 25, S. 2 3 1 , A n m . 1). 59
B a y H S t A K u r b a y e r n 2 0 3 4 1 , e h e m a l s G U D a c h a u 1 8 5 , v o m 17. D e z e m b e r 1482: U r fehde Lienhardt Fleischhacker v o n Überacker, welcher wegen Nichthaltung früherer U r f e h d e u n d b e s o n d e r s w e g e n des G e r i c h t s s c h r e i b e r s zu D a c h a u , U l r i c h P e t e n s p e c k , v o r des K a i s e r l . G e r i c h t l ä n g e r e Zeit in h e r z o g l i c h e r H a f t gehalten w o r d e n ist. Z e u g e n u. a. N i k l a s Hartlieb.
60
D r e s c h e r , E u p h . 25, S. 230.
61
D r e s c h e r , E u p h . 25, S. 2 3 1 . B a y H S t A K u r b a y e r n 23939; R e g e s t e n G e r i c h t M ü n c h e n . V g l . D r e s c h e r , E u p h . 2 ; , S. 2 3 1 .
61
26
Hartlieb lösen am 7. September 1480 ihren Besitz in München auf; sie verkaufen ihre von dem verstorbenen Hans Hartlieb doctor in der ert^ney ererbten Häuser und Hofstätten samt der Gerechtigkeit an der Kirche U.L.F. 6 ' Dies ist das einzige Zeugnis von Dorothea; Gothart jedoch erscheint häufiger.64 1469 verkaufen er und seine Frau ein Ewiggeld aus ihrem Haus.6' Seine Bezeichnung als Diener Erzherzog Sigmunds von Österreich bezieht sich auf seine Funktion als Mittler zwischen Albrecht IV. von Bayern-München und Sigmund, als der er die Pläne Albrechts, Sigmund für sich zu gewinnen und damit Bayern zur ersten Macht Schwabens zu machen, am Innsbrucker Hof zu vertreten hatte.66 Wohl wegen seines Aufenthaltes in Innsbruck löst er seinen Münchner Besitz auf; allerdings vertreibt der Landtag zu Hall 1487 >das böse Regiment* Herzog Sigmunds. Am 8. Januar 1488 werden Sigmunds Räte durch den Kaiser wegen Hochverrats, verübt durch die Gewinnung Sigmunds für die bayerischen Interessen, in die Acht und Oberacht erklärt.67 Unter den Räten befindet sich auch Gothart Hartlieb, der hier den Beinamen »von Stanheim« trägt; er geht nach der Ächtung zurück nach Bayern, wo er, wenn es sich bei den Urkunden um den selben Gothart Hartlieb handelt, Pfleger und Landrichter zu Tölz wird.68 Wie Gothart zu der Herkunftsbezeichnung von Stanheim gelangt, ob es sich dabei um eine (erworbene?) bayerische Hofmark Stammham handelt,6' ist ungeklärt. Vielleicht ist es der Sohn Gotharts, der sich 1479 >Johannes Hartlieb de Stamhaim< in Tübingen immatrikuliert.70 Ein wahrscheinlich wiederum anderer Hans Hartlieb erscheint als Bürger Münchens, der am ij. September 1520 als >der junge< bezeich6
> B a y H S t A K U Andechs 110. Drescher, Euph. 25, S. 2 3 1 ; vgl. Anhang I, Nr. 35. Aus seinem Besitz stammt auch der Codex der B S B cgm 309, eine alchemistische Sammelhandschrift verschiedener Hände. ' ' BayHStA G U München 340, 17. Juni 1469. Drescher, Euph. 2 ; , S. 2 3 1 . 66 Vgl. dazu Riezler III, S. 4 9 5 - 5 2 3 ; Friedrich Hegi: Die geächteten Räte des Erzherzogs Sigmund von Osterreich und ihre Beziehungen zur Schweiz 1487—99. Beiträge zur Geschichte der Lostrennung der Schweiz vom Deutschen Reiche. Innsbruck 1910, und Rez. Hegi durch Otto Riedner, Hist.Jb. d.Görres-Ges. 33 (1912), S. 376—380. 64
67 68
Riedner, S. 377. BayHStA K U Tegernsee 1402, 1436, 1556, 1635, 1643, 1647, 1665, 1672, 3 3 1 4 . StdtA München C I X b V I 357. Laut den Tegernseer Weihnachtsehrungen geht 1493 ein Lagerkäs, ein Kreuzkäs und ein Senf an den Pfleger zu Tölz, ebenso an Gctbarten ibidem (Spiller, S. 293). E s könnte sich um Gothart Hartlieb handeln.
69
So die Vermutung Riedners, S. 378.
70
Die Matrikeln der Universität Tübingen. Hrsg. v. Heinrich Hermelink. I. Stuttgart i 9 ° 4 , 4,44·
27
net wird. 7 1 A m 7. A u g u s t 1 5 0 7 siegelt er f ü r ein G e s c h ä f t der B r ü d e r Hans und J a c o b Püterich. 7 2 Wohl derselbe Hans Hartlieb, Ciuis
Mona-
censis, schenkt 1 5 2 3 dem K l o s t e r Benediktbeuern einen Gratian. 7 3 Bei diesem Hans Hartlieb w i r d es sich w o h l um den Sohn des Niklas Hartlieb handeln, da im J a h r 1508 Hans Hartlieb, Metschenk, mit seiner Frau A g n e s das Haus in der Dienergasse bewohnt, 7 4 in dem 1485 noch Sigmund Fünsinger, Metschenk, mit seiner Frau Barbara wohnte. 7 S E s wäre möglich, daß Fünsingers E h e kinderlos geblieben ist und er Wirtschaft und Haus, das als Hans Hartliebs Haus in der Dienergassen noch in vier U r k u n d e n zwischen 1508 und 1 5 4 1 erscheint, 76 an den Sohn seines Schwagers Niklas übergeben hat. Der Mit-Schreiber der theologischen Sammelhandschrift clm 8059, der im Kolophon scripserunt Johannes Keller de Newburga a. 1477 et a. 1488 quaedam Iohannes Hartlieb erscheint, ist nicht zu identifizieren, weitere Kennzeichnungen fehlen. Andere Namensträger sind der sich am 14. Oktober i486 in Ingolstadt immatrikulierende Johannes Hartlieb ex Inchofen 77 und der Besitzer des Predigtenbandes des Antonius de Bitonto, Johannes Hartlieb, Decan et Concionator in Vorchheim,78 und schließlich Simon Hertlieb de Grüningen und Nicolaus Hartlib,79 die sich 1496 bzw. 1501 in Tübingen immatrikulieren.
7
' BayHStA Kurbayern 20212, 13. September 1520. >Hans Hartlieb der junge< erscheint als Zeuge. 72 BayHStA Kurbayern 16421, 7. August 1507. Hanns und Jacob Butrich, Gebrüder, zu Teitenhofen verkaufen den Münchner bürgerlichen Bäckerseheleuten Wolfgang und Anna Scholdner 3 Flecken Angers zu München vor U. Herrentor auf dem Plächfeld um 225 fl. Siegelzeugen sind die Münchner Bürger Hanns Hartlieb und Hanns Schaur. 75 B S B München, 2° Inc.ca. 59 (Hain 7883). Eintrag auf dem inneren Vorderdeckel: Istud . . . decretj dedit Monasterio nostro Benedictenpeuren Johannes hartlieb Ciuis Monacensis ah intuitum Reverendj in Christo pietate et domini Mathis ahhatem . . . Monasterij et absolutem Anime sue sibique commisorum Anno Irrupate salutem Millesimo quingentesimo vicesimo tertio. 74 Häuserbuch I, S. 68. Seit 1 5 1 6 besitzt er das Haus Burgstr. 18 (Häuserbuch I, S. 41). 71 Häuserbuch I, S. 68. 76 StdtA München Β II b 17 vom 9.6.1508, Β II b 18 vom 1 1 . 5 . 1 5 1 2 , Β II b 21 vom 13.2.1533, Β II b 25 vom 7 . 1 . 1 5 4 1 . 77 Vgl. Die Matrikel der Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt-Landshut-München. I , i . Hrsg. v. Götz Fhr.v. Pölnitz u. Georg Wolff. München 1937, Sp. 166. 7> Besitzvermerk in Antonio de Bitonto, Sermones in epistolas dominicales et quadragesimales. Venedig: Johann Hamman 1496 (GW 2215) (UB Würzburg Ink. I.t.o. 9): Servio Joannis Hartlieb Decano et Concionatori in Vorcheim. 79 M U T I, 58,1 und 47,2. 28
ι.ΐ·4· Zusammenfassung Hartlieb nennt sich in allen von ihm geschriebenen Urkunden und Briefen johannes Hartliepp, medicine doctor bzw. doctor jn ert^nej. Die Schreibung seines Namens variiert er nicht, in dieser Form kann sie gleichsam als autorisiert gelten. Auch auf den akademischen Titel verzichtet er nicht; schon in seinem Siegel nimmt er ihn mitsamt dem Promotions jähr auf. In den ihn betreffenden Urkunden und Briefen wird er als maister, ratmaister, als hocbgelert maister, als weiser maister, als bochgelert art^t und als lerer der ert^nej bezeichnet; auch posthum wird er noch der bochgelert meister banns hart lieb doctor in der ert^nej genannt. Es findet sich keine Urkunde, in der nicht von diesen Attributen Gebrauch gemacht würde; sie können daher als sichere Identifizierungshilfe dienen. Die Tatsache, daß Hartlieb sowohl von dem Münchner Hof als auch von seinen Kindern und von Münchner Bürgern fast ohne Ausnahme als »weise« und »hochgelehrt« bezeichnet wird, läßt auf seine intellektuelle Bedeutung schließen; diese Attribute meinen mehr als nur eine Umschreibung des Doktortitels. Daß Hartlieb schon sehr schnell mit wichtigen Aufgaben von selten des Herzogs betraut wird, daß er außerdem wahrhaft »fürstlich« entlohnt wird, unterstützt diese Vermutung; Hartlieb war am Herzogshof mehr als nur ein Leibarzt. Der immer wieder erfolgende Rekurs auf Hartliebs universitäre Qualifikation deutet darauf hin, daß auf seine allgemeine, nicht nur medizinische Ausbildung zurückgegriffen wurde; sein erster Auftrag in der Sache der Klosterreform läßt auch theologisches Wissen vermuten. Hartlieb hätte so, wie so viele andere Akademiker des 15. Jahrhunderts auch, die universitäre Qualifikation genutzt, um eine gesellschaftliche Karriere zu machen; daß hierbei noch andere Faktoren, intellektuelles Vermögen etwa, eine Rolle gespielt haben, zeigen sein Vetter Niklas Hartlieb und sein »Kollege« Sigmund Gotzkircher, die eine gewisse »bürgerliche« Lebensbahn nicht überschreiten. Dem Sohn Gothart dagegen gelingt es sogar, wohl auch durch die »Vorbereitung« des Vaters, in den niederen Adelsstand erhoben zu werden. Keine der Urkunden sagt etwas über Hartliebs Herkunft; es ist allerdings auffallend, daß mit Hartlieb auch sein Vetter Niklas und dessen Schwester Barbara in München ansässig sind. Dies könnte vermuten lassen, daß die Familie Hartlieb aus München stammt; dagegen spricht allerdings die Paduaner Promotionsurkunde. 29
i.2.
D i e V o r - M ü n c h n e r Periode
ι . 2 . ι . Studium und Promotion In seinem Siegel weist Hartlieb auf das Jahr seiner Promotion 1439 hin. Dieses Datum deckt sich mit jenen Einträgen in den Paduaner Examensakten, auf die neuerdings Schmitt hingewiesen hat:80 apr. 30 [. . .] — Padue in ep.pal. — presentibus — Iacobo Zeno de venetiis legum scolare et mag. Iohanne Härtliep. art. doct. et med. scolare und 1439 maii //. Licentia privati examinis et publica doctoratus in med. mag. Iohannis Härt Liep art.doct. f . q. Härt Liep de Meglingen constantiensis dioc. — sub — Bartholomeo de s. Sophia seniore, Antonio Cermisoni, Bartholomeo de Montagnana, Stefano de Doctoribus et Bartholomeo de Noali art. et. med. doct. suis promotoribus et eo in doctorem — promoto per d. Antonium Zeno vic. — prefatus mag. Antonius ei tradidit insignia.81 Hier fallen nun einige Punkte ins Auge, über die nicht einfach hinweggegangen werden kann. Zum einen erscheint der Name Hartliebs im zweiten Eintrag zweimal, verbunden durch die Abbreviatur f.q. Diese Abkürzung steht nach dem von Zonta/Brotto beigegebenen Abbreviaturenverzeichnis für filius quondam, der promovierte Hartlieb wäre demnach Sohn eines zweiten Hartlieb aus Meglingen in der Konstanzer Diözese. Allerdings wird diese Abkürzung in den Akten häufiger benutzt,82 wobei nicht unbedingt immer gleiche Namen aufeinander folgen; dies ließe darauf schließen, daß die Abkürzung ein universitätsspezifisches Verhältnis zweier Personen bezeichnet und im Sinne etwa von faciundum curavit zu verstehen ist.8' Wie auch immer die Abbreviatur aufzulösen ist: die Belege zeigen jedenfalls, daß es sich bei dem Johannes Härtliep, artium doctor, der hier zum medizinischen Schmitt, 1 9 8 2 , S. 256. Allerdings ist dieser Hinweis schon rund 50 Jahre früher, freilich an einer für die Hartlieb-Forschung entlegenen Stelle, schon einmal gegeben worden; nämlich v o n A r n o l d C . K l e b s in seinen Untersuchungen zu den ersten gedruckten Pestschriften. Vgl.
Klebs/Sudhoff:
Die ersten gedruckten
Pestschriften.
München
1926,
S. 98,
A n m . 1: Hartlieb sei »nachweislich in den Akten der Universität v o n Padua im Jahre 1 4 3 9 . · • E r erhielt seinen medizinischen Doktortitel hier am 1 1 . Mai und ist bezeichnet als v o n >Meglingen, Constantiensis dioc.< und auch als >familiaris d. Imperatorisde amorevoller Straß erscheint (Vgl. Helmut Wolff: Regensburgs Häuserbestand im späten Mittelalter. E i n e topographische Beschreibung der alten Reichsstadt aufgrund der Beherbergungskapazitäten für den Reichstag von 1 4 7 1 . Regensburg 1 9 8 5 . [Studien und Quellen zur Geschichte Regensburgs 3], S. 1 3 6 . )
36
Es bleibt die Wiener Episode. Nichts spräche dagegen, den Ingolstädter plebanus mit dem in Wien 1414 nachweisbaren Johannes Hartlieb de Gruningen zu identifizieren, wenn man nur, so wie es de facto bei dem Münchner Hartlieb geschieht, mit der Namensgleichheit argumentiert; dieser Hartlieb de Gruningen ist ja immerhin in Wien nachgewiesen. Der zusätzliche Aspekt allerdings, der bezüglich der in Wien verhandelten Ingolstädter Pfarre bislang auf den Münchner Hartlieb hinzielen ließ, ist dessen angebliche Verbindung mit L u d w i g dem Bärtigen über Heinrich Hartlieb, dessen Kellermeister, und über die Nürnberger Femesachen. Diese Femesachen jedoch sind mit größerer Wahrscheinlichkeit dem Straubinger Hartlieb zuzuordnen; die Herkunft aus Ludwigs Dienerschaft hat sich als Spekulation Oefeles erwiesen, zumal jener Heinrich Hartlieb erst 1440 in Ludwigs Dienste tritt. Kein Argument bleibt, um Johannes Hartlieb als jenen plebanus zu identifizieren; eher könnte es sich dabei noch, ganz unabhängig von den bislang benannten Trägern des Namens Hartlieb, um den Johannes Hartlep presbiter handeln, der sich Ostern 1432 in Erfurt immatrikuliert,' 20 da dieser immerhin Theologe ist. Was bleibt also? Das in seinem Siegel geführte Promotionsdatum macht es sehr wahrscheinlich, daß Johannes Hartlieb jener in Padua promovierte Hartlieb ist. Dessen mutmaßlicher Vater wiederum stammt aus Meglingen und ist vielleicht jener Johannes Hertlieb de Grunningen, der sich 1414 in Wien immatrikuliert. Diese Familienherkunft läßt annehmen, daß es sich bei jenem juristisch tätigen Hans Hartlieb in Straubing und Nürnberg nicht um Johannes Hartlieb handelt. D e r in Wien von der Ingolstädter Pfarre entsetzte Hartlieb kann eindeutig weder mit dem Straubinger noch mit dem Münchner Hartlieb identifiziert werden; hier könnte allerdings durchaus von jenem Johannes Hartlieb de Gruningen die Rede sein. Das von Schmid gezogene Fazit greift also auch hier; die Fülle der Belege ohne jeweils aufeinander bezogene Kennzeichnungen macht sowohl eine exakte Identifizierung wie auch eine genaue Abgrenzung unmöglich. Eines aber erlauben die vorhandenen Kennzeichnungen: den Nachweis, daß mindestens drei Personen des Namens Johannes Hartlieb zur gleichen Zeit im gleichen bayerisch-österreichischen Raum gelebt haben. 121 110
121
lohannes Hartlep presbiter gratis ob reverenctam dni provisoris dt. IIII antq. pro familiaribus universitatis. Acten der Erfurter Universität. Hrsg. v o n der Hist. C o m m . d. P r o v . Sachsen, bearb. v o n H. Weissenborn. I. Halle 1881, S. 154 . Vgl. den Stammbaum der Familie Hartlieb, A n h a n g Ia.
37
Hinzuweisen ist noch auf das Geschlecht der Hartlieb-Walsporn, das aus Landau in der Pfalz stammt und dessen berühmtester Sohn der von 1477 bis 15 51 lebende Humanist Jacob Hartlieb 122 ist, Freund Wimphelings 12 ' und Verfasser einer Scherzrede >de fide meretricum in suos armatoresHausbüchlein< in dem Landauer Stadtarchiv befand, aber während des zweiten Weltkrieges verloren ging. Eine auszugsweise Abschrift durch Adolph Hartlieb befindet sich aber heute noch unter der Signatur Aa. 40 im Landauer Stadtarchiv; sie wurde 1893 dem Archiv von dem oben erwähnten Ludwig Sigmund Ritter von Hartlieb zusammen mit anderen Niederschriften zur Familiengeschichte geschenkt. In dieser Familie findet sich von 1419 an über fünf Generationen immer ein Träger des Namens Hans Hartlieb; der Vater des Humanisten Jacob Hartlieb etwa ist der Hans Hartlieb, der 1499 von Kaiser Maximilian geadelt wird. Der Bruder Jacobs, ebenfalls mit Namen Hans Hartlieb, heiratet 1519 nach Memmingen und wird dort 1525 Ratsherr, später Bürgermeister. 124 Ein anderer hat die artistischen Studien absolviert, wie ein Besitzvermerk in einer Wolfenbütteler Handschrift zeigt, 12 ' er ist es vielleicht auch, der sich 1444 als Johannes Hartlieb aus Worms in Heidelberg immatrikuliert. 126 Aufschlußreich ist die Kenntnis dieser Familie nicht nur deshalb, weil auch hier mehrere, sogar universitär gebildete Träger des Namens existieren, sondern vor allem, weil wohl diesem Magister Johannes Hartlieb-Walsporn jene Handschrift zuzuordnen ist, die heute mit der Signatur II, 87 in der Mainzer Stadtbibliothek liegt. Sie enthält auf den Blättern 87"—15 7 vb kanonistische Quästionen aus dem Jahr 1447; diese sind nach dem Kolophon gesammelt per magistrum johannem harttliep. Dies kann demnach nicht der Münchner Hartlieb sein, der ja zu dieser Zeit schon den Doktor-Titel benutzt.
Vgl. zu ihm J . Franck, A D B 10, S. 66c){., und auch den Abschnitt über ihn in dem >Auctarium de scriptoribus ecclesisasticis< des Johannes Butzbach (abgedr. bei K . Krafft und W. Crecelius, Zs. des Berg. Geschichtsvereins 7 [1871], S. 286), einer Ergänzung zu Trithemius' >Catalogus scriptorum ecclesiasticorum< (vgl. zu beiden Werken Gustav Knod: Zur Kritik des Johannes Butzbach. Annalen des Hist. Vereins für den Niederrhein 52 [1891], S. 1 7 5 - 2 3 4 ; Franz Falk: Kommentar zu des Trithemius Catalogus scriptorum ecclesiasticorum. Centralbl. für Bibliothekswesen 15 [1898], S. 1 1 2 - 1 2 4 ) . ,2)
124
In seinem Besitz war auch die >Adolescentia< Wimphelings, Martin Flach 1500 (Vgl. Besitzvermerk in der Inkunabel Inc. 107314a des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg). Vgl. dazu Raimund Eirich: Memmingens Wirtschaft und Patriziat von 1347 bis 1 5 5 1 . Eine wirtschafte- und sozialgeschichtliche Untersuchung über das Memminger Patriziat während der Zunftverfassung. Ottobeuren/Weißenhorn 1 9 7 1 , S. 2i4f.
121
Wolfenbüttel, Sign. 627 Heimst., geschrieben nach 1444 (vgl. f. 62 v -66 r : Archelai über de corporibus mineralibus. Schlußschrift: Explicit liber Archilai philosophi anno Domini 1444, 4 feria proximo post Margarete virginis, Heydelberg), Besitzvermerk auf dem inneren Vorderdeckel sum magistri Iohannis Hartliep, alias Walsporn, Vangoniensis.
126
M U H I, S. 243.
58
ι . 3.
Resümee
Die Quellen zeigen Folgendes: Die vor 1440 belegten Personen mit dem Namen Johannes Hartlieb sind nicht in allen Fällen eindeutig zu identifizieren, also auch nicht problemlos voneinander zu unterscheiden. Das von dem Münchner Hartlieb selbst in seinem Siegel gebrauchte Datum seiner Promotion läßt es jedoch als sehr wahrscheinlich erscheinen, daß er der Johannes Hartlieb ist, der in Padua studiert. In diesem Fall aber kann er, da sein mutmaßlicher Vater aus Möglingen in dem O A Ludwigsburg stammt, nicht mit dem Hans Hartlieb identisch sein, der als Fürleger 1434 am Straubinger Hofgericht nachweisbar ist und der wahrscheinlich aus der schon seit dem 14. Jahrhundert in Straubing belegten Familie Hartlieb stammt. Dieser Straubinger Hans Hartlieb ist, da bei ihm Rechtserfahrenheit vorausgesetzt werden muß, wohl auch jener Hans Hartlieb, der für den Ingolstädter Herzog tätig gewesen ist. Der sich 1414 in Wien immatrikulierende Johannes Hartlieb könnte der Vater des Münchner Hartlieb sein, die Herkunft aus Gruningen spricht für eine solche Verwandtschaft. In diesem Ort besteht weiterhin eine Familie Hartlieb; die Immatrikulationen Ende des 15. Jahrhunderts an der Universität Tübingen beweisen dies. Aus der Generation nach Hartlieb sind mehrere Personen gleichen Namens nachzuweisen, die keiner der lokalisierbaren Familien eindeutig zugehören; Stamheim, Inchofen und München werden als Herkunftsorte genannt. Als Fazit dieser Belege ergibt sich, daß mit einem Münchner, einem Straubinger, einem Wiener und einem Landauer Johannes Hartlieb gerechnet werden muß, und daß drei dieser Personen universitäre Bildung besaßen. Da aber nur der Münchner Hartlieb als promoviert erscheint, kann als eindeutiges Kriterium für jede Identifizierung demnach nur der von Hartlieb selbst benutzte Doktortitel dienen; als zusätzliches Indiz auch die von ihm gebrauchte Namensschreibweise. Dies wiederum muß jede Weiterverfolgung seines Lebensganges hinter das Promotions jähr 1439 zurück letztlich als hypothetisch erscheinen lassen, wenn nicht zusätzliche Identifizierungshilfen gegeben werden; bei der jetzigen Kenntnis der Quellen allerdings setzt seine nachprüfbare Laufbahn mit dem Datum der Promotion ein. Ein von der Forschung vermuteter Aufenthalt in Wien ist durch archivalische Quellen nicht belegbar; bis auf die beiden Urkunden, die den in Ingolstadt abwesenden Plebanus betreffen, ist das Schweigen beredt. Auch dieser Hartlieb aber kann mit keinem Recht als der Münchner identifiziert 39
werden; schon allein das Datum 1437 spricht dagegen, da Hartlieb nicht in Wien, sondern zu dieser Zeit wohl in Padua studiert hat. Die Münchner Laufbahn ist auf der anderen Seite seit dem Promotionsdatum hervorragend urkundlich abgesichert; so gut sogar, daß über seine Rolle am Hof, in der Stadt München und in seinem Freundeskreis schon ohne die Kenntnis seiner Werke einiges Wesentliche gesagt werden kann. Hartlieb scheint zu Beginn seiner Tätigkeit am herzoglichen Hof eine äußerst steile Karriere zu machen; man findet ihn bei der ersten Erwähnung bereits als herzoglichen Ratgeber, der mit wichtigsten Staatsgeschäften betraut ist und als Intimus des Herzogs auftritt. Hartlieb wird vom Hof und von seinen Mitbürgern in seiner Rolle als graduierter Akademiker erfaßt; die durchgängig gebrauchten Attribute wie hochgelerter maister und doctor zeigen dies. Hartlieb selbst definiert seine soziale Stellung über seine universitäre Qualifikation; es findet sich keine Selbsterwähnung, in der er sich nicht seinen Titel als doctor oder lerer der Arznei beilegt. Mit dieser Qualifikation, die nach dem spätmittelalterlichen Studiengang nicht nur Fachwissen, sondern auch einen Abschluß in der artistischen Fakultät erforderte — Hartlieb meldet sich in Padua zur Promotion schon als doctor artium —, hat er seine Stelle am Hof erreicht; er wird nicht nur als Leibarzt, sondern eben auch als Ratgeber, als Diplomat und natürlich, wie die Werke zeigen, als Übersetzer gebraucht. Dies läßt schließlich vermuten, daß seine Übersetzungstätigkeit am Münchner Hof Teil seiner dortigen, auch von ihm mitdefinierten Rolle ist; daß er also nicht übersetzt, weil er Lateinkenntnisse besitzt und diese den Wünschen des Herzogspaars zur Verfügung stellen muß, wie es des öfteren von der Forschung implizit behauptet wird 127 — es wäre dies eine sehr inferiore Stellung, die kaum seinem in den Urkunden ausgedrückten Selbstbewußtsein entspräche - , sondern daß er übersetzt, weil die in seiner Funktion als herzoglicher Rat und Vertrauter begründete Aufgabe der geistigen Führung auch die Bereitstellung von erbaulich-pastoral-didaktischen — um nur einige mögliche Kategorien zu nennen — Texten verlangt, die diese Aufgabe unterstützen.
127
S o etwa O t t o Hartig, der Hartlieb als den »schreibseligsten aller Höflinge« bezeichnet (O. Hartig: D i e G r ü n d u n g der Münchner Hofbibliothek durch Albrecht V . und J o hann J a k o b F u g g e r . München 1 9 1 7 . [ A b h . der K g l . Bay. A k a d . der Wiss., Philos.phil. u. hist. K l . X X V I I I , 5], S. 149), und Schmitt, Diss, S. 2 4 1 , der die Übersetzung des >Tractatus de amore< als ein Beispiel dafür nimmt, »wie bereitwillig er sich den W ü n schen der höfischen Gesellschaft fügen konnte«.
40
Ob diese Hypothese berechtigt ist, wäre an den Werken selbst zu überprüfen; auf den ersten Blick allerdings scheinen Werke wie die >Chiromantie< kaum unter solche Kategorien zu fallen. Zuallererst muß daher im weiteren die Verfasserschaft Hartliebs an den ihm zugeschriebenen Werken überprüft werden; dies geschieht im folgenden Kapitel. Hierbei stehen jetzt genau die urkundlich gewonnenen Kriterien für eine eindeutige Identifizierung zur Verfügung. Als Echtheitskriterium hat der Doktor-Titel, gerade nach dem Selbstverständnis Hartliebs, einen hohen Stellenwert; aber auch die Schreibweise des Namens und der Entstehungsort des jeweiligen Werkes sind zu beachten. Daß nach dem Gesagten die Zuschreibung der Werke, die vor der Promotion 1439 entstanden sind, mit großen Unsicherheiten belastet ist, da diese ja prinzipiell von jedem der Namensträger verfaßt worden sein können, ist offenbar; hier muß mit Wahrscheinlichkeiten gerechnet werden.
41
2.
Die Werke: Zuschreibung und Auftraggeber
2.0.
Überblick über die Forschung
Nachdem die Forschung wie bei den biographischen Daten auch bei den Werken in einer gewissen Akkumulationsfreude immer mehr Texte für Hartlieb in Anspruch genommen hat — neben den schon oben erwähnten beiden Translatzen des Niklas von Wyle auch zwei anonyme Kriegsbücher 1 —, werden ihm heute dreizehn Werke zugesprochen. Schmitt2 teilt die Werke Hartliebs in vier Gruppen ein: 1. 2. 3. 4.
Erzählende, religiöse und moraldidaktische Prosa Fachprosa der Artes liberales Medizinische Schriften Geheimwissenschaftliche Schriften des mantisch-magischen Bereichs
1. Zur ersten Schriftengruppe gehören nach Schmitt >Die histori von dem großen Alexanden, die 1444 übersetzt worden sein soll, die >BrandanlegendeDialogus miraculorumTractatus de amore< aus dem Jahr 1440. 2. Der Fachprosa der Artes liberales ist die >Kunst der gedächtnüß< zuzuordnen, Hartliebs sogenannter literarischer Erstling aus dem Jahr 1430/32. 3. Zur medizinischen Gruppe gehören das >KräuterbuchSecreta mulierumBäderbuch< von 1467. 4. Zu den geheimwissenschaftlichen Schriften zählt Schmitt die >NamenmantikMondwahrsagebuch< von ' Ö N B Wien 3062, 3069 (Vgl. Max Jahns: Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland. 1. Abt.: Altertum, Mittelalter, X V . und X V I . Jahrhundert. München-Leipzig 1889, S. 261, 37if.). Die Kriegsbücher werden heute Hartlieb abgesprochen (Vgl. Schmitt, Diss, S. 51{{., der auch die Hss. Ö N B 3068 und U B Freiburg 362 nennt, und den Artikel >[Pseudo-]Hartlieb, JohannesGeomantieChiromantie< von 1448 und das >Buch aller verbotenen Kunst< aus der Jahreswende 1455/56. Nach den von Schmitt angegebenen Jahreszahlen ergibt sich folgende Werkchronologie: 1430/32
K u n s t der Gedächtnüß
1433/35 -1440
Mondwahrsagebuch
-1440
Namenmantik
1440
Tractatus de amore
1440
Kräuterbuch
1444
Histori v o n dem großen Alexander
1448
Chiromantie
1455/56
B u c h aller verbotenen K u n s t
1456/57 ca. 1465
Brandanlegende
-1467
Dialogus miraculorum
1467
Bäderbuch
Geomantie
Secreta mulierum
Grubmüller datiert bis auf drei Ausnahmen wie Schmitt: der >Alexander< soll bald nach 1450 entstanden sein; das Kräuterbuch ist für ihn nicht zu datieren, obwohl es ihm trotzdem möglich erscheint, daß es sich hierbei »um das erste der heilkundlichen Werke Hartliebs handelt«; 5 die Geomantie schließlich spricht er Hartlieb als eigenständiges Werk ab. Eine solche Chronologie läßt das literarische Schaffen Hartliebs als kontinuierlich erscheinen; in ihrer Regelmäßigkeit glaubt man die Abfolge bestimmter Phasen erkennen zu können. Auffällig ist, daß nach dem >Buch aller verbotenen Künste< der Großteil der »erzählenden« und der medizinischen Schriften entsteht und daß die geheimwissenschaftlichen Schriften allesamt vor dem >Buch< datieren. Dies legt es nahe, das >Buch< als Zäsur in Hartliebs Werk zu interpretieren, ja sogar, wie es Schmitt versucht, die Entstehung des >Buches< selbst auf einen Wendepunkt in Hartliebs Leben zurückzuführen, wobei dies durch die Schmittsche Interpretation des >Buches< als das Zeugnis einer inneren Umkehr gestützt wird. 4 Diese auf den ersten Blick stringente Interpretation lebt aber von einer Chronologie, der sie selbst, wie zu zeigen sein wird, implizit als Prämisse dient; die Datierungen und Zuschreibungen müssen also, ehe ' Grubmüller, Hartlieb, Sp. 493. Vgl. dazu Kap. 3.
4
43
über diese Interpretation entschieden werden kann, im folgenden auf ihre Grundlagen überprüft werden.
2.1.
D i e Hartlieb zugeschriebenen Werke
2.1.1. Kunst der Gedächtnüß' Die Gedächtniskunst ist mit elf Abschriften in zehn Handschriften und in einem Druck 6 überliefert. Zu den sechs bei Weidemann verzeichneten Handschriften, 7 dem von Hajdu erwähnten Wiener Codex 5 206,8 welcher von Schmitt wieder der Forschung bekannt gemacht wurde, 9 und der von Koerting entdeckten Innsbrucker Handschrift 10 ist ein Exzerpt des in Straubing, Nördlingen und Nürnberg als Schreiber und Schullehrer tätigen Bernhard Hirschfelder in cgm 4413 hinzuzufügen, auf das ebenfalls schon Hajdu aufmerksam machte" und das von Eis in seinem Aufsatz zur altdeutschen Gedächtniskunst erwähnt wurde. 12 Hirschfelder hat das Exzerpt in cgm 4413 einer von ihm um 1475 geschriebenen >Ars memorativa< vorangesetzt, die ihm bei seiner Tätigkeit als Schreibmeister in Nördlingen diente. 1 ' Einen Sonderfall der Überlieferung bietet die Inkunabel 73 des Kestner-Museums Hannover. Hier ist der Bämler-Druck in eine Handschrift eingebunden, die um 1500, wahrscheinlich auf Veranlassung des Augsburger Kaufmanns Conrad Spaun, entstanden ist und die eine handschriftliche >Ars Rethorica< und eine Briefmustersammlung enthält, zusammen mit der gedruckten Gedächtniskunst also eine Text1
E d . Weidemann, 1 9 6 4 , S. 1 1 1 — 1 2 2 .
6
D e r D r u c k um 1480 bei Johann Bämler, A u g s b u r g ( G W 2568). D e r D r u c k setzt ein mit Z . 4 2 der Weidemannschen Edition (S. 1 1 4 ) .
7
Weidemann, S. 26.
® Helga Hajdu: D a s mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Diss. Budapest 1 9 3 6 , S. 97. ' Schmitt, Rez, S. 4 1 3 . Walther Koerting: E i n e unbeachtete Handschrift Hans Hartliebs über die Gedächtniskunst. Bayerisches Ärzteblatt 21 (1966), H . 5, S. 4 1 9 - 4 2 0 . " Hajdu, S. 97. 12
Gerhard
Eis:
Z u r altdeutschen >GedächtniskunstFormulare und deutsch rhetorical Z f d A 37 ( 1 8 9 3 ) , S. 24—121; hier S. 1 1 5 f f .
44
Sammlung zur Rhetorik bietet. Interessant ist nun, daß die Inkunabel so in die Handschrift eingebunden ist, daß von dem ihr vorhergehenden Blatt recto [f. 5r des Codex] bis auf das recto ihres ersten, ursprünglich leeren Blattes [f. 6r des Codex] die in der >Gedächtniskunst< vorangestellte Widmung Hartliebs an Wielant von Freiberg, die ja in dem Bämlerschen Druck fehlt, handschriftlich bis zu dem Satz nachgetragen ist, mit dem der Bämler-Druck einsetzt.14 Dem Schreiber der Handschrift muß also neben der Inkunabel noch ein weiterer Textzeuge der >Gedächtniskunst< zur Verfügung gestanden sein, nach der er den Druck vervollständigt hat. Weiter bleibt die bislang unbekannte Handschrift 15 ο 1 aus dem ehemaligen Besitz des Bayerischen Nationalmuseums, heute in der Staatlichen Graphischen Sammlung München, nachzutragen. Die Handschrift 1 5 0 1 ist in den Kurzbeschreibungen der Handschriften des Bayerischen Nationalmuseums von Lehmann als Sammelhandschrift beschrieben worden: »Traktate über den Kalender, die Sternzeichen, die 4 Elemente u. a.; Arzneibuch; Physiognomie; Rezepte; Gedächtniskunst des Hans Hartlieb, saec. X V « . 1 ' Mehr teilte Lehmann nicht mit. Kristeller beschreibt die Handschrift insgesamt als » 1 5 0 1 . Hans Hartlieb, Arzneybuch ( 1 4 3 2 ) . Turned over to the Staatliche Graphische Sammlung in 1 9 5 9 . « l 6 Die Handschrift befindet sich jetzt als Leihgabe des Bayerischen Nationalmuseums in der Staatlichen Graphischen Sammlung München; sie ist unter den Leihgaben des B N M mit der alten Signatur 1 5 0 1 aufgestellt. E s handelt sich bei ihr um eine der für das Spätmittelalter typischen medizinischastrologisch-astronomischen Sammelhandschriften, die der Schreiber zu eigenem Gebrauch angelegt zu haben scheint. 14
16
Ink. 73 des Kestner-Museums Hannover, f. 5'—6'. Inc. Die emsig begirdt meinsgnädigesten herrn Ludwigs des hochgelobten fürs ten zwinget mich Expl. der andre sindt geleichnuß vnd pildung (= Weidemann, S. 1 1 5 , Z. 1—44). Vgl. die Beschreibung bei Konrad Ernst: Die Wiegendrucke des Kestner-Museums. Neu bearbeitet und ergänzt von Christian von Heusinger. Hannover 1963. (Bildkataloge des Kestner-Museums Hannover IV), Nr. 73, S. 18, der aber insoweit irrt, als er Hartlieb nicht kennt und die Widmung falsch liest; er interpretiert sie als Widmung Wielants an Ludwig. Zu Claus Spaun, aus dessen Besitz auch die der Inkunabel 128 des Kestner-Museums beigebundene Handschrift stammt, vgl. Hansjürgen Kiepe: Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Schreib- und Druckwesen im 1 ; . Jahrhundert. München 1984. ( M T U 74), S. 184-190 (S. 1 βγί. zu den beiden Hss.) und ders.: Ettwas von Buchstaben. Leseunterricht und deutsche Grammatik um i486. P B B (Tüb) 103 (1981), S. 1 - 5 . Paul Lehmann: Mittelalterliche Handschriften des Κ . B. Nationalmuseums zu München. München 1916, S. 5. Iter Italicum. Accedunt alia itinera. A finding list of uncatalogued or incompletely catalogued humanistic manuscripts of the Renaissance in Italian and other libraries. Compiled by Paul Oskar Kristeller. Vol. I l l ( = Alia itinera I), Australia to Germany. London-Leiden 1983, S. 567.
45
Die Buchdeckel bestehen aus Holz, das mit weißem Leder bezogen ist; Vorder- und Rückdeckel weisen einfache Streicheisenprägungen auf. Am Rückdeckel sind noch Reste zweier Leinenschließen vorhanden. Auf dem Rücken ist ein Papierschildchen mit der Signatur >IJOI< aufgeklebt, auf dem von neuerer Hand mit Bleistift der Vermerk »Arzeneybuch« hinzugefügt wurde. Auf dem vorderen Spiegel findet sich wieder die Signatur »1501 Mspte 8° 1501«, weiter der Stempel »Staad. Graphische Sammlung München 1959: 3 1 1 B«. Auf dem ersten Blatt recto hat eine neuere Hand »Hanns Hartliek [das >k< ist durchgestrichen und zu >b< korrigiert] Arzeneybuch eine Handschrift vom Jahre 1432 mit vielen Zeichnungen« eingetragen. Der hintere Spiegel ist leer. Das Blattformat beträgt etwa 14x22 cm; die Blätter sind nicht foliiert. Die Handschrift ist aus drei Teilen zusammengebunden. Der erste Teil erstreckt sich von f. 1 bis f. 21; es handelt sich um ein später vorgebundenes Register des Arzneibuches auf f. 80—124 von einer Hand des 16. Jahrhunderts. Folio 22 ist ein dem dritten Teil vorgebundenes pergamentenes deutschsprachiges Urkundenfragment; auf dem K o p f stehend sind von anderer Hand einige Tafeln in der Art geomantischer Punkte mit dem Datum in dem xlij jar gesehen eingetragen. Der dritte Teil schließlich besteht aus der ursprünglich wohl von dem Schreiber und Besitzer Leonhard Boley (s. Kolophon auf f. i24 v : Et sic est finis huius libri per me Lenhard boley dictum Schidmeister de goppingeri) zusammengebundenen eigentlichen Sammelhandschrift mit zusätzlichen Eintragungen anderer Hände und reicht von f. 23 bis f. 160. Dieses Kernstück enthält, durchsetzt mit einer Vielzahl von Rezepten und Regeln, die von anderen Händen auf den ursprünglich von Boley freigelassenen Blättern niedergeschrieben wurden (f. 129'—i29 v , f. 13 3Γ—15 2V), einen Kalender mit Tageslängen und Heiligennamen (f. 23'—31'), ein >Buch Nebukadnezars< mit astrologisch begründeten Verhaltensvorschriften 17 (f. 32'— 63 v ), astrologisch-astronomische Tafeln (f. 641—73"), kolorierte Federzeichnungen von Sternbildern mit Kommentaren (f. 74 r -78 v ), ein lateinisch-deutsches Arznei- und Therapiebuch (f. 8o r -i24 v ), eine Übersetzung der >Physiognomia< aus den pseudo-aristotelischen >Secreta SecretorumPhysiognomie< aus dem pseudo-aristotelischen >Secretum secretorum< (Vgl. Reinhold Möller: Hiltgart v o n Hürnheim: Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des »Secretum Secretorum«. Berlin 1 9 6 3 . [ D T M 56], der lateinische Text bei Möller S. 1 5 6 - 1 6 4 ) . D i e vorliegende Physiognomie bietet den vollständigen Text dieses Teils des >Secretum1432 jar am freitag nach martini zw neuburchk in der vest< den eigentlichen Traktat bereits abschließen könnte« (Schmitt, Rez, S. 414). 17
Die empsig begir meines genädigert herren Ludaigen des hochgeporen fürsten ^wingt mich seinem willen \γ lajsten, den er hat s^e dysem puech, das ich dich meinen lieben knecht das weys vnd lere %uuersten, dart^u ich willig vnd gehorsam pin durch sein mänigueltige genad, so er mir ert^aigt hat. Weylant von ffreyherg, siech an die gros genad, so dir der fürst tut, das er dich die kunst lern, vnd ker dein trew willig dienst nymmermer von im, der dich so mit grossen trewen maint vnd lieh hat (Weidemann, S. 115).
11
Vgl. Riezler III, S. j }6f. Wielant entstammte der Verbindung Ludwigs mit Canetta Sweher, die später einen Herrn von Freiberg heiratete; er starb 1439. Wielant selbst soll nach den Angaben Dreschers in Bologna studiert haben, was die Frage aufwerfen würde, weshalb er, bei dem dann ja Lateinischkenntnisse vorausgesetzt werden müßten, überhaupt eine Übersetzung dediziert bekäme; ein Studium in Bologna ist allerdings nicht nachzuweisen. Gustav C. Knod: Deutsche Studenten in Bologna (1289—1562). Berlin 1899, nennt ihn nicht. Z u Wielant von Freiberg vgl. auch Aventinus, Bayerische Chronik V I I I , S. 5 74f., w o die Bevorzugung Wielants durch Ludwig den Bärtigen als einer der Gründe für die Entzweiung Ludwigs mit seinem Sohn angegeben wird. Drescher, Euph. 25, S. 590.
48
sei der »Hofmeister bei dem L i e b l i n g s s o h n e seines G ö n n e r s « g e w e s e n . V o r - und Schlußrede der Gedächtniskunst stellen die einzige Verbind u n g Hartliebs zu L u d w i g dem Gebarteten her; dabei ist es allerdings nach dem im ersten K a p i t e l G e s a g t e n zweifelhaft, zumindest aber nicht zu entscheiden, o b es sich hier tatsächlich um den M ü n c h n e r J o h a n n e s Hartlieb oder nicht eher u m den Straubinger Hans Hartlieb handelt. F ü r Letzteres spräche auch, daß Hirschfelder, der sich ja einen A u s z u g der Gedächtniskunst abgeschrieben hatte, u m 1460 Schulmeister in Straubing w a r und gerade hier den Text hätte kennenlernen können. Es ist weiterhin auffällig, daß die exakte Nennung am freitag nach martini nur in zwei Handschriften, in clm 16226 und in B N M 1501, zu finden ist, was eine enge Verwandtschaft beider Textzeugen vermuten läßt. B N M 15 ο 1 nun verzeichnet weder die Dedikationsvorrede an Wielant von Freiberg noch den in das Datum eingeflochtenen Bericht von dem Auftrag Ludwigs. Dies legt den Schluß nahe, daß in B N M 1501 die Hinweise auf Auftraggeber und Adressat bewußt getilgt worden sind; oder, dies die zweite Möglichkeit, daß in der Vorlage von clm 16226 Vorrede und Dedikation erst der eigentlichen Ubersetzung von dem Schreiber, dessen Kolophon in clm 16226 mitabgeschrieben wurde, nachträglich hinzugefügt wurden. Diese letzte Annahme wird gestützt durch die Tatsache, daß in der Vorrede nicht von einer Ubersetzung, sondern nur von der Unterrichtung die Rede ist, außerdem der Verfasser sich nicht nennt. Sollte diese Hypothese gültig sein, hieße das, daß von einem Hartlieb die Gedächtniskunst gesammelt und übersetzt, sie von einem unbekannten Bakkalar in Diensten des Herzogs für Wielant abgeschrieben worden wäre. Man hätte dann zwei Überlieferungsäste: der erste stammte von der Übersetzung Hartliebs ab, der andere von der Abschrift für Wielant von Freiberg. 2.1.2. Das Mondwahrsagebuch'0 D a s M o n d w a h r s a g e b u c h ist in sechs Handschriften überliefert.' 1 D r e i Handschriften datieren die Entstehung des Textes zwischen 1 4 3 3 und s
° Ed. Weidemann, 1964, S. 180—193. Weidemann, S. 132 verzeichnet drei Hss; Schmitt, Rez, S. 413 trägt Cod. Guelf. 29.14 Aug 40 (den im übrigen schon Moritz Steinschneider: Die europäischen Übersetzungen aus dem Arabischen bis Mitte des 17. Jahrhunderts. I. Wien 1904, S. 73 unter den Abhandlungen über die 28 arabischen Mondstationen aufführt) und Wien Ö N B 5206 nach. Menge (Heinz H. Menge: Das »Regimen« Heinrich Laufenbergs. Textologische Untersuchung und Edition. Göppingen 1976. [ G A G 184]), S. 82 nennt einen weiteren Textzeugen auf f. 161—167' der Hs Κ 2790 der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe (Beschreibung der Hs bei Menge, S. 73—84). Incipit und Explizit lauten nach Menge: Item d% dritte capitel des buoches der heyligen drier kunige leret vnß von den xxviii mansion des manen [. . .] Geniset er so wirt er siech im xxxviii Ior dar noch wirt er gesunt sins libes bis im Ixxxix Ior so stirbet er mit andacht. Dieser Textzeuge setzt demnach mit S. i8o, Z. 3 der Weidemannschen Edition ein und endet mit S. 192, Z. 43, überliefert also nicht den letzten Artikel des Mondwahrsagebuchs und auch nicht das Datum und die Zu-
J1
49
143 5 5 die Zuschreibung an Hartlieb ist in vier Handschriften vorhanden: Wien, ÖNB 4773, f. 89' (entstanden 1490'2): Dise 28 wohnunge sind vsß der drien baiigen kunig buch tutsch transferiert worden durch doctor Johanns Hartlieb im 14)4 jare t(u Wienenn Freiburg, Hs. 458, f. 134* (entstanden 1474"): Dise kunst ward teutsch gemacht von eimem lerer der heist doctor Johannes hartlieb de meglingen vnd geschach in Οsterr ich einem Ritter vnd seiner husfrowen dienst der hies herre hans kuchler Anno domini MCCCCXXXIII Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 29.14 Aug 4 0 , f. 24" (entstanden 149734): dise 28
mansionen hat dutsch bracht hohem latin das buchs der heyligen 3 känig, das lass,; doctor Johannes Harttliep jn dem jor 1435 Wien vnd will ouch das nieman mitdeilen er sig dann ein liebhaber der kunst, wann es ist ein loblicher schaff der naturen mit wenig wortten vollendet vnd vollbracht jn den Samden jm 149J jor o f f sant Franciscus tag vor mittag cgm 7958, f. 9r (entstanden um 1500"): Item das puch hat dewsch pracht maister Hanns Hartliepp doctor medicinae durch pett willen der edeln wolgeporn frawen Katherina Die Situation ist verworren: Hartlieb wird einmal als Meister bezeichnet, dreimal als Doktor; nach drei Textzeugen soll er das Werk übersetzt haben, nach einem Zeugen gelesen — es könnte hier an ein einfaches »Kennenlernen« oder auch an die universitäre lectio gedacht werden —; das Ganze soll 1433 oder 1434 oder 1435 in Wien oder, allgemeiner, in Österreich geschehen sein; Auftraggeber ist einmal ein Ritter Hans Kuchler, einmal eine Adelige namens Katherina. Dieser Ritter Hans Kuchler ist von der Forschung noch nicht identifiziert worden,' 6 obwohl schon Wiguleus Hund in seinem >Baierischen Stammenbuch< 1585 das Geschlecht der Kuchler aufführt.' 7 Der Name ist keinesfalls »gutbürgerlich« und deshalb bei einem »reputierlichen« Adeligen kaum zu vermuten, wie es Wierschin behauptet;' 8 es handelt Schreibung an Hartlieb. D i e Handschrift soll um 1 4 5 5
im Unterelsaß geschrieben
worden sein und aus dem Besitz der Basler Familie R o t stammen ( M e n g e , S. 75). 32
Schmitt, S. 89.
» Wierschin, S. 86, A n m . 66. Schmitt, Diss, S. 89. " Grubmüller,
!
V L , Sp. 485 datiert auf 1456. Die A n g a b e scheint sich auf Weidemann,
S. 146 zu beziehen; das J a h r 1 4 5 6 allerdings stammt nach Weidemann v o n der Hand des 2. Vorbesitzers aus dem Jahre 1 8 7 1 . Wierschin, S. 86, A n m . 66 datiert die Handschrift nach Wasserzeichen und Einband gegen E n d e des 1 5 . Jahrhunderts. >6 Vgl. Grubmüller,
2
V L , Sp. 4 8 5 .
37
Wiguleus Hund: Baierisches Stammenbuch. Ingolstadt 1 5 8 5 , S. 2 5 5 .
)8
Wierschin, S. 87.
50
sich vielmehr um die Herkunftsbezeichnung des Geschlechts der Kuchler, das seit 1146 urkundlich nachweisbar ist und aus dem Salzburgischen Kuchl stammt.39 Der letzte des Geschlechts ist Hans Kuchler zu Friedberg, Erbmarschall zu Salzburg. E r ist verheiratet mit Katharina von Kreig und stirbt kinderlos 1436. Kurz vor dessen Tod müßte demnach die Übersetzung des Mondwahrsagebuchs entstanden sein; die Nennung des Ritters herre hans kuchler vnd seiner husjrowen in Osterrich kann nur diesen Hans Kuchler meinen, denn es handelt sich wohl um seine Ehefrau Katharina, die als die edel wolgeporn fraw katherina als Auftraggeberin in cgm 79 5 8 genannt wird, und kaum um die Gemahlin Ludwigs des Bärtigen. 40 Mit diesem Ritter wäre nun der Ort der Entstehung in Österreich zu suchen, wie es ja auch die Freiburger Handschrift sagt. Wenn man sich so aber von der Fixierung auf den Ingolstädter Raum und damit auf den Münchner Hartlieb als Autor löst, so ist auch die Frage der Textgenese einer anderen Erklärung offen. Zunächst fallt auf, daß in drei Handschriften davon die Rede ist, daß d o c t o r Hartlieb den Text übersetzt habe, in zweien auch noch der Ort, nämlich Wien, genannt wird. Wenn man nun nicht davon ausgehen will, daß die Beilegung des Doctor-Titels nach der Promotion Hartliebs 1439, a ' s o v o n späteren Abschreibern gleichsam retrospektiv eingefügt worden ist, sondern daß sie die Situation von 1435/36 widerspiegelt, dann kann es nicht Hartlieb selbst gewesen sein, der hier gemeint ist. Nun ist ja auf den Johannes Hartlieb de Gruningen schon hingewiesen worden, der sich 1414 in Wien immatrikulierte. Mit diesem ist auch die Attributierung als Johannes Hartlieb de Meglingen, wie sie in der Freiburger Handschrift erfolgt, in Einklang zu bringen, wenn hier unter Gruningen das Markgröningen bei Stuttgart zu verstehen ist. " Vgl. Walter Brugger: Die Kuchler. Ein Salzburger Ministerialengeschlecht vom 12. 15. Jahrhundert. Das Salzfaß 1 (1967), S. 14—16, 35—37, 62—65; 2 (1968), S. 20—24,
40
4 1 - 4 7 . 7 0 - 7 4 ; i (i9 6 9). s · I 2 — T 4> 4 4 - 5 4 · Das Geschlecht gehört zu den Salzburger Ministerialen; Konrad (II.) von Kuchl war von 1278 an Vicedominus des Erzbischofs, der Sohn Konrad (III.) seit 1 3 3 7 Hauptmann zu Salzburg. Im 14. Jahrhundert werden die Kuchler Erbmarschälle des Erzstiftes Salzburg. 1375 erwerben Hartneid (II.) und Konrad (IV.) Kuchler die Herrschaft und Veste Friedburg, sie kommen dadurch unter bayerische Lehenshoheit. Der Vater Hartneid (I.) wird so hochbetagt noch Hofmeister der Herzogin von BayernLandshut. Auf dem >Medieval Studies Workshop at the University of British Columbia< am 1 3 . / 1 4 . 1 1 . 1 9 8 7 hat J . Freed einen Vortrag über >The Rise of the Knights in Salzburg: The Case of the Kuchls< gehalten (Vgl. M B M 4 [1987], Η. 3, S. 24); der Text des Vortrags war mir nicht zugänglich. So Wierschin, S. 87.
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Unter dieser Prämisse läge weiterhin die Vermutung nahe, daß es dann dieser Johannes Hartlieb ist, den die Paduaner Promotionsakten als Hartlieb de Meglingen nennen. E r müßte dann selbst dort studiert haben - anders wäre seine N e n n u n g in den dortigen Akten sinnlos und wäre nach erfolgter Promotion wieder nach Wien zurückgekehrt, w o er sich um 1 4 3 4 / 3 5 aufhält. Diese Vermutung würde auch die Äußerung im Wolfenbütteler C o dex erklären, Hartlieb habe den Text gelesen. E s könnte hier eine universitäre Lectio gemeint sein, denn anders, als es Schmitt durch seine Einordnung des Textes in die G r u p p e der magisch-mantischen Schriften suggeriert, 4 ' handelt es sich hier nicht um Literatur des geheimwissenschaftlichen, also verbotenen Bereichs, sondern um einen spezifisch astrologischen Text, der den L a u f des Mondes durch seine achtundzwanzig mansiones dazu benutzt, Prognosen über den Lebenslauf der jeweils unter den einzelnen >Häusern< geborenen Menschen zu erstellen. Die Vorlagen dieses Textbereichs kamen aus dem Arabischen; Stegemann42 nennt die Mondstationenliste des Abu Ί-Hasan 'Ali ibn abi 'r-rigal aus dem 11. Jahrhundert,45 ein Kapitel aus dessen großer astrologischer Summe, die in lateinischer Ubersetzung in Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts vorliegt.44 Stegemann verweist ferner auf die >Epitome totius astrologiae< des Johannes Hispalensis aus dem 12. Jahrhundert, die ebenfalls eine Tafel der Mondstationen enthält.45 Die Namen der Mondstationen in dem Mondwahrsagebuch sind nun die Namen der lateinischen Übersetzungen des 'Ali ibn abi 'r-rigal;46 das Mond41
Schmitt, 1982, S. 164t. Viktor Stegemann: Planeten. In: HWdA 7, Sp. 36-294. 4i Stegemann, Sp. 49f. 44 Stegemann, Sp. 64, Anm. 5 8. 41 Stegemann, Sp. ;o. 46 Vian (Ein Mondwahrsagebuch. Zwei altdeutsche Handschriften des XIV. und XV. Jahrhunderts. Hrsg. von Robert Vian. Halle 1910), der ein Mondwahrsagebuch nach cpg 3 ediert hat, kennt die Wiener Hs des Hartliebschen Mondwahrsagebuchs ÖNB 4773, ohne allerdings dabei über Hartlieb zu handeln. Er nennt sie »Wiener Hs. C. Slick« (Vian, S. 67). Aus der Synopse der in den ihm bekannten Texten gebrauchten Namen der Mondstationen, die sich aus den Namen bei 'Ali ibn abi 'r-rigal entwickelt haben (Vian, S. 68/69), geht hervor, daß das Hartliebsche Mondwahrsagebuch in der Namensliste teilweise übereinstimmt mit der Heidelberger Handschrift cpg 832 (Vgl. zu dieser Hs, in der auch die Namenmantik überliefert ist, Bernhard D. Haage: Das >Heidelberger SchicksalsbuchMünchner Planetenbuch P. Astr. 337*. Daß die Hartliebsche Ubersetzung bzw. deren Vorlage auf mehrere Quellen zurückgreift, zeigt auch die bei jeder Mondstation erfolgende Nennung von zwei oder drei Namen, die jeweils aus verschiedenen Überlieferungszweigen der Vianschen Synopse stammen. Weidemann ist der Quellenfrage in seiner Edition nicht nachgegangen; er kannte auch nicht die Monographie von Vian. 41
5*
wahrsagebuch ist daher wohl als Übersetzung einer Liste dieser arabischlateinischen astrologischen Tradition anzusehen. 47 In der LichtenbergerAbschrift des Mondwahrsagebuchs wird als Quelle ein von der Forschung noch nicht identifiziertes >Buch der Heiligen Drei Könige< genannt. 48 Ein solches Buch nennt auch Johannes Hartlieb in seinem >Buch aller verbotenen KunstBuch der Heiligen Drei Könige< eine Mischung aus magisch-mantischen und astrologischen Texten sein;5 ° Hartlieb sagt: das püch batt auch die recht %aubrey vnd vngelauben gar mit spähen listen vnd sprächen versat^t vnd allweg %ugen darein die künst des gestirns. Nach Hartliebs Auffassung liegt die Gefährlichkeit dieses Buches gerade darin, daß es den verbotenen Praktiken der Nigromantie — hier ordnet er dieses Buch ein — mit Hilfe der Einfügung von Texten der kiinst des gestirns deren Legitimität zu geben versucht, so daß der, der sich nit wol verstät jn den Sachen, der maint, das es on alle sünd war, also maisterlichen es gesammelt ist. Da Hartlieb die Nigromantie im thomistischen Sinne durch ihren idolatrischen Charakter, 5 ' durch ihre Opfertätigkeit dem falschen Gott, das meint hier dem Teufel gegenüber definiert, 52 kann er die Mondstationenliste U. Müller, S. 95ff. verweist auf die Ähnlichkeit des Mondwahrsagebuchs mit der Mondstationenliste in der Hs Cod. III. i.2°.4i der Fürstlich Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek aus dem 15. Jahrhundert und vermutet aufgrund dieser Ähnlichkeit und der weitgehenden inhaltlichen Ubereinstimmung eine gemeinsame Vorlage. 48 das ander capitel dis buchs der heiligen drey konig das lert von den XXVIII mansionen des monds (Weidemann, S. 180). Die gesamte Einleitung mitsamt dieser Quellenangabe findet sich allerdings nur in der Freiburger Lichtenberger-Handschrift (Weidemann, S. 209, Anm. 30). 49 Es ist noch ain püch, das schreibt man ^u den hailigen drey küngen vnd hebt sich also an: jn Egypto tres magi fuerunt (Ulm, S. 24, Z. 18). ,0 Ich habe keinen Text mit dem von Hartlieb genannten Incipit finden können. Die Handschrift der UB München 20 Cod.ms. 67 beginnt zwar auf f. i ' ähnlich lautend: Tres reges in Oriente fuerunt\ es handelt sich aber hier um >gesta< von den Heiligen Drei Königen. Es wäre jedoch grundsätzlich zu fragen, ob bei dem von Hartlieb benannten Buch nicht der Fall vorliegen könnte, daß eine beliebige astrologisch-mantische Kompilation des Mittelalters den Heiligen Drei Königen zugeschrieben wurde, die ja in Mt.11,1 noch nicht als Könige, sondern als magi bezeichnet werden. Gerade die Heiligen Drei Könige spielen eine wichtige Rolle im superstitiösen Glauben des Mittelalters (Vgl. Hugo Kehrer: Die heiligen drei Könige in Literatur und Kunst. 2 Bde. in einem Bd. Hildesheim-New York 1 9 7 6 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1 9 0 8 / 1 9 0 9 ] , S· 75ff·)· Als Text käme beispielsweise der >Experimentarius< des Bernhard Silvester (Vgl. dazu Lynn Thorndike: A history of magic and experimental science. Vol. II. New York 192j, S. 110-115) in Frage, eine Geomantie, die die 28 Richter mit den Namen der Mondstationen benennt (ebd., S. 113, Anm. 1). Diese Mischung aus Mantik und Astrologie entspräche genau der von Hartlieb angeführten Charakteristik. Texte dieses Typus wurden einem König Amalricus, dem König Salomo und Pythagoras zugeschrieben (ebd., S. n6f.), so daß auch von daher die Übertragung auf die Heiligen Drei Könige erklärbar wäre. 11 Vgl. dazu unten Kap. 3. 12 wiß, [ . . .] was kunst mit Opfer, [ . . .] auch mit sein selbs plüt caracter oder vigur machen, das alles sind stuck vnd artickel der rechten schwarten kunst (Ulm, S. 26, Z. 17).
47
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nicht zu den nigromantischen Stücken, sondern nur zu den beigefügten Stücken aus der kunst des gestirns, der A s t r o l o g i e also, zählen. D i e A s t r o l o g i e gilt ihm gerade aber als legitimiert, eben als eine kunst, als eine ars der artes liberales. D a s geht zum einen schon aus dem v o n ihm angeführten »Trick« des >Buchs der Heiligen Drei Könige< hervor, astrologische Texte zur Verschleierung dessen grundsätzlich nigromantischen Charakters einzufügen, zum anderen aber auch aus seiner Diskussion der Illegitimität der G e o m a n tie, die gerade deshalb unter den verbotenen K ü n s t e n die gerechteste sei
-
Hartlieb beruft sich auf das > Speculum astronomiae< des Albertus M a g n u s —, weil sie in ihrer Benutzung v o n »Häusern« dem Schein nach mit der A s t r o nomie v e r w a n d t i s t . " V o r allem aber ist das >Buch aller verbotenen KunstBuch der Heiligen Drei Könige< als Ganzes, nicht aber gegen die darin enthaltene Mondstationenliste.
Sowohl nach der Überlieferung der arabisch-lateinischen Vorlage' 4 als auch nach der Auffassung Hartliebs selbst handelt es sich bei dem Mondwahrsagebuch nicht um einen Text der verbotenen Künste — Wierschins Argumentation geht demnach im Falle dieses Textes von einer völlig falschen Prämisse aus —, sondern um einen Fachtext aus dem Bereich der Astrologie; er wäre also mit der >Kunst der Gedächtnüß< der Werkgruppe der artes liberales zuzuordnen. Ein Argument gegen diese Charakterisierung ist allerdings in dem onomatomantischen Teil des Mondwahrsagebuchs zu finden; die Unterordnung des Menschen unter eine der mansionen geschieht nicht aufgrund seines Geburtsdatums, sondern nach einer zahlenmantischen Methode, die die Zugehörigkeit nach dem Zahlenwert des Taufnamens berechnet. Diese Methode ist jedoch nicht genuiner Bestandteil der Mondstationenliste. Der Text selbst enthält keine Elemente dieser Namenmantik, sondern stellt nur die den einzelnen Mondstationen zugeordneten Prognosen vor; der namenmantische Teil ist nur in cgm 7958 angehängt." Lediglich die " Die kunst hat ain schein mit jren häsern als die astronomey (Ulm, S. 27, Z . 14). Eine begriffliche Unterscheidung zwischen Astronomie und Astrologie kennt Hartlieb wie das gesamte Mittelalter noch nicht. Vgl. dazu die Handschriften bei Thorndike/Kibre (A Catalogue of Incipits of Mediaeval Scientific Writings in Latin. Revised and augmented Edition by Lynn Thorndike and Pearl Kibre. London 1963) mit ähnlichem Incipit: Sp. 84, B N 10271 (alnabit est prima fades Arietis); Sp. 84, Cambridge Univ. pet 250 (Alnath est prima mansio luxe); Sp. 300 {Cum fuerit tuna in Alnath id est in prima mansione), Sp. 314, Ö N B 3394 (Cum luna est in alnath id est in capite aries)\ Sp. 1093, Cambridge Univ. Gg. VI. 3. (Prima mansio lune ab antiquis philosophis vocatur Alnach), Sp. 1093, Mailand, Ambros., M. 28 [Prima mansio lune dicitur Alnach)·, Sp. 1095, B N 18504 (Prima quidem mansio lune dicitur Alnach). " Vgl. Weidemann, S. 209, Anm. 30.
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Freiburger Handschrift enthält eine Einleitung, die explizit die Mansionen mit dem Zahlenwert des Namens in Verbindung bringt;' 6 alle anderen Textzeugen setzen direkt mit dem Incipit der Mansionenliste ein: prima dicitur Alnatha uel Alnathin.''1 Die Überlieferung stellt sich demnach so dar, daß der Übersetzung der Mansionenliste aus dem >Buch der Heiligen Drei KönigeHartlieb-Namenmantik< anzusetzende anonyme Vorlage zurück. 72 Dafür spricht, daß der Sammelvermerk nur in der Wiener Hs 3062 und der Marburger Hs Ms.germ. 40 1187 enthalten sind; alle anderen Textzeugen setzen entweder erst nach diesem Vermerk ein oder sind überhaupt nur fragmentarische Überlieferungen. Der Name Hartliebs erscheint demnach hier als Name eines Sammlers, der sich den Text der Namenmantik und die nachfolgenden Tafeln zu wohl eigenem Gebrauch abgeschrieben hat. Diese These erhält durch einen weiteren handschriftlichen Befund eine allerdings verblüffende Unterstützung. Schon Dworzak hat in seiner von der Forschung übergangenen Dissertation darauf hingewiesen, daß in der Wiener Handschrift 3062, die eben allein mit der Marburger Handschrift den >Sammel-Vermerk< enthält, Bemerkungen von Hartliebs eigener Hand zu finden sind;73 einige dieser Marginalien sollen zur Sortierung der Lagen gedient haben. Dworzak schließt daraus, daß Hartlieb selbst das Binden des Codex überwacht habe, und schließt weiter, daß das Binden kurz nach der Niederschrift des Feuerwerksbuchs durch Johann Wiener 1437 geschehen sein muß; demnach auch die Niederschrift der Namenmantik. 74 Nun hat Dworzak bei aller genauen Beobachtung eines übersehen. Die Bemerkungen auf f. 41 v (Her nach stett gemalt alle aygenschafft dye saturnus gehörtt da mit solt dw fursehen) und 42' (Mitt sollichen listen sollen willig lewtt brechen vnd graben vnd sich vor iverffen also bewartt) weisen tatsächlich eine große Ähnlichkeit mit der Schrift Hartliebs auf, wie sie aus den Soldquittungen und aus dem Brief an Albrecht III. bekannt ist." Besonders das »h«, das in den Oberschaft verlängerte »g« und das kantig ausgeführte »e«, aber auch der wuchtige, die Buchstaben einzeln setzende Schriftduktus insgesamt, sind von einer auffallenden Übereinstimmung mit den erhaltenen Hartliebschen Autographen, 76 so daß mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß die Eintragungen von Johannes Hartlieb selbst stammen.
72 7i 74
71
76
Wierschin, S. 9 4 f f . Dworzak, S. 2 7 f f . E r nennt f. 4i b , 4z b , 26", 42', 5 6 a , 70", 96', io8 a . ». . . so ist anzunehmen, daß Hartlieb sein Werk kurz vor oder nach der Niederschrift des Feuerwerksbuches durch Johannes Wienn geschrieben haben wird, da es ja im Interesse der Erhaltung der einzelnen Blätter gelegen ist, ein Werk möglichst bald nach seiner Vollendung dem Buchbinder zu übergeben.« (Dworzak, S. 29) Diese beiden Bemerkungen lagen mir in Photokopie vor. Zur Zeit meines Besuchs in der O N B war die Handschrift auf unbestimmte Zeit nach Prag ausgeliehen. Vgl. die Reproduktionen in Anhang IIa.
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Jedoch ist die vorhergehende Namenmantik selbst aber nicht von Hartlieb abgeschrieben, sie stammt von einer ganz anderen Hand. Es liegt somit der Fall vor, daß Hartlieb Anmerkungen in einen Codex einträgt, der einen von ihm »gesammelten« Text enthält, welcher aber wiederum nicht von seiner eigenen Hand in den Codex geschrieben wurde. Mit anderen Worten: Hartlieb hätte sich hier eine Abschrift einer schon vorher von ihm besorgten eigenen Abschrift beschafft, was schon deshalb völlig widersinnig erscheint, weil sein Interesse an diesem Text mit eben der ersten Abschrift erschöpft gewesen wäre. Selbst wenn dies aber der Fall sein sollte, so müßte zumindest zu erwarten sein, daß der Vermerk so hab ich Hanns Hartlieb gesamlet dis% dauelen von seiner Hand stammte. Auch das ist aber nicht so; die gesamte Abschrift der Namenmantik ist von demselben Schreiber. Der Schluß, der sich aufdrängt, ist, daß Hartlieb hier in seinen Bemühungen um mantisches Schrifttum sich in der Tat einen Text eines anderen Hans Hartlieb beschafft hat; die Namenmantik zwar aus seinem Besitz, aber nicht aus seiner Feder stammt. 2.1.4. Geomantie Die Geomantie ist in drei Handschriften überliefert.77 Wierschin vermutet, daß sie drei verschiedenen, voneinander unabhängigen Übersetzungszweigen entstammen;78 eine These, die von den stemmatologischen Untersuchungen Schmitts selbst gestützt wird.79 Die einzige Handschrift, die über den Vermerk Colecta Johannis Hartliepp Hartlieb zuzuordnen ist, ist der Donaueschinger Codex 815; die beiden anderen Abschriften werden von Schmitt wohl hauptsächlich deshalb als Textzeugen einer Hartliebschen Geomantie identifiziert, weil sie in solchen Handschriften überliefert sind, die auch das Mondwahrsagebuch enthalten. Haage hat in seiner Untersuchung der Heidelberger Handschrift cpg 832 versucht, die Verwandtschaft der Hartliebschen Geomantie mit der in cpg 832, f. 137'—233" enthaltenen Geomantie nachzuweisen;80 die von ihm abgedruckten Parallelstellen besitzen allerdings nur inhaltliche, nicht wörtliche Übereinstimmung, so daß eher anzunehmen ist, daß beide Texte von verwandten lateinischen Vorlagen abstammen.
77 7
Vgl. A n h a n g II, Hss-Liste.
' Wierschin, S. 8 8ff.
79
V g l . Schmitt, Diss, S. io8ff. Haage, Schicksalsbuch, S. 155—158.
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Es bleibt also nur die Donaueschinger Handschrift. Sie ist nach Wasserzeichen und Schrift frühestens in die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts zu datieren;8' der Text selbst ist nicht datiert. Schmitt82 setzt den Text in die dreißiger Jahre, kann dies aber nur stützen durch seine Vermutung, daß der Text vor der von ihm postulierten »Wende« Hartliebs abgefaßt sein muß, also vor 1451, und daß er dann wahrscheinlich in Hartliebs »Wiener Zeit«, also vor 1440, geschrieben wurde, weil an der Wiener Universität Astrologie und Verwandtes gelehrt wurde. Der Vermerk Colecta Johannis Hartliepp auf f. ioor aber rührt nicht, wie es Schmitt behauptet,8' vom Schreiber der Handschrift her, sondern ist von einer anderen Hand des 15. Jahrhunderts an das Ende der Geomantie gesetzt worden; es handelt sich allerdings auch nicht um die Hand Hartliebs selbst.84 Der Vermerk muß also irgendwann nach 1450 der Handschrift hinzugefügt worden sein; denkbar wäre er als ein posthumes Exlibris. Er sagt nur aus, daß diese Abschrift aus der Bibliothek Hartliebs stammt, nichts aber über die Verfasserschaft; selbst daß es sich um den Münchner Hartlieb handelt, kann aus dem Vermerk nicht geschlossen werden, da die für die Münchner Zeit, und die Abschrift stammt ja aus der Zeit nach 1450, typische Kennzeichnung durch den Doktortitel fehlt.8' Natürlich kann in Folge auch nichts Genaues über den Zeitpunkt einer Abschrift oder gar Übersetzung gesagt werden. 2.1.5. Kräuterbuch86 Das Kräuterbuch ist nur in einer fragmentarischen Handschrift des Linzer Landesmuseums Ms 4 erhalten. Die Handschrift ist nicht datiert. Werneck87 setzt sie mit drei Argumenten in die Mitte der dreißiger Jahre. Die Pflanzenabbildungen der Handschriften seien ihrem Stil nach vor dem »naturalistischen« Stil der Renaissance entstanden, der wiederum ab 1450 im oberdeutschen Raum auszumachen ist. Da die Hs einen Besitzvermerk Mathias Peindl in Obermuhramb trägt, da außerdem 82 85 84
81
86
87
Schmitt, Diss, S. 107. Schmitt, Diss, S. 110. Schmitt, Diss, S. 107. Vgl. Anhang IIa. Ich konnte den Vermerk anhand einer von der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek freundlichst zur Verfügung gestellten Photokopie vergleichen. Die Schreibung Johannis Hartliepp entspricht allerdings dem Autograph Hartliebs; dies wäre als Indiz für eine Zuordnung an den Münchner Hartlieb zu werten. Ed. Werneck, S. 16—32. Eine kritische Ausgabe des Kräuterbuchs wird von Dr. Bernhard Schnell, Würzburg vorbereitet. Werneck, S. 1 3 - 1 5 , J9f.
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der »Gönner« Hartliebs, Ludwig der Bärtige, sich um 1434/36 auf der Yeste Burghausen aufgehalten haben soll, in dessen Umgebung ein Muhrauer Adelsgeschlecht wohnte, vermutet Werneck, daß Hartlieb ebenfalls zu dieser Zeit bei Ludwig gewesen sei und das Kräuterbuch geschrieben habe. Schließlich zieht Werneck aus der Darstellung verschiedener zauberkräftiger Drogen den Schluß, daß Hartlieb nach seiner »Wende« solches nicht mehr geschrieben hätte, das Kräuterbuch also vor 1451, dem seit Drescher angenommenen Datum der »Wende«, zu datieren sei.88 Das Stilargument führt Werneck selbst ad absurdum; 8 ' die Konstruktion eines Aufenthaltes bleibt reine Spekulation, die von dem supponierten, aber durch nichts gestützten Verhältnis Hartliebs zu Ludwig dem Bärtigen abhängt; die aber auf der anderen Seite selbst im Nachweis ihrer Wahrheit nichts darüber aussagen würde, ob Hartlieb das Buch auch dort geschrieben hätte. Das dritte Argument schließlich ist abhängig von dem Postulat einer geistigen Wende; diese »Wende« wird in der unten folgenden Analyse des >Buchs aller verbotenen Kunst< näher untersucht werden. Vorläufig ist als Terminus ante nur die von Werneck eingebrachte Stilwende brauchbar; das bedeutet, die Handschrift muß vor 1479, °der, wenn es sich bei dem im Kräuterbuch genannten Hartlieb überhaupt um den Münchner Hartlieb handelt, vor Hartliebs Tod 1468 entstanden sein. Hier sind genauere Untersuchungen abzuwarten. 2.1.6. De amore deutsch90 Die Übersetzung des >de amoreAlexander< bietet.1'1 E s existieren also insgesamt
22
Textzeugen.1'2
Die
C o d . 625) s t a m m t aus d e m J a h r e abgedruckt jüngsten
hat, aus d e m
Publikation
Jahr
älteste
Handschrift
1454; cgm
1455.
die Ü b e r s e t z u n g
Schmitt
581, den
(St.
Gallen,
Lechner-Petri
d a t i e r t n o c h in
des A l e x a n d e r r o m a n s
seiner
auf
das
J a h r 1444, ohne daß er zu erkennen gibt, w o r a u f seine D a t i e r u n g
ba-
siert.1'5 A l l e r d i n g s nennt dieses D a t u m schon O e f e l e o h n e
Begründung
i n s e i n e m A D B - A r t i k e l . E s ist z u v e r m u t e n , d a ß O e f e l e v o n e i n e r N o t i z in c g m 288 a b h ä n g i g ist, die v o n d e r H a n d d e s V o r b e s i t z e r s H e i n r i c h Prieser aus d e m J a h r 1 7 8 4
Johann
stammt:
D i e s e r schäzbare C o d e x enthält: 1 . E i n e deutsche Ü b e r s e t z u n g v o n E u s e b i i B u c h v o n A l e x a n d e r , d e m G r o ß e n , d u r c h M a y s t e r J o h a n n s e n Hartlieb, D o c tor y n E r c z n e y u n d yn natürlichen chünsten, auf B e f e h l H e r z o g A l b r e c h t s v o n B a y e r n u n d seiner G e m a h l i n , F r a u A n n a v o n B r a u n s c h w e i g . A n m e r k u n g . D i e s e U b e r s e t z u n g ist also in der M i t t e des X V . Saec. g e m a c h t Ed. Lechner-Petri, S. 1-285. D ' e neue Edition von R. Pawis lag mir noch nicht vor. " ' V g l . die Hss.Liste bei Lechner-Petri, der allerdings nur Vorderstemann ausschreibt, und die beiden von R. Pawis mitgeteilten Textzeugen in der Diözesanbibliothek St. Pölten Hs 16 und in der Stiftsbibliothek Klosterneuburg Hs 1065 (Grubmüller, Hartlieb, Sp. 490). Die Hs Klosterneuburg 1065 ist schon unter den Nrr. 1 0 3 - 1 0 7 und der falschen Signatur Cod. 1056 beschrieben worden bei H. J . Zeibig: Die deutschen Handschriften der Stiftsbibliothek zu Klosterneuburg. Serapeum 1 1 (1850), S. 101—109, 125—125; hier S. 124. Die dort ausgesprochene Vermutung, die unter Nr. 104 erfaßte »Bekehrung des ungarischen Grafen Georius John Christofans im Fegefeuer des h. Patrizius« sei mit dem Hartliebschen >Brandan< identisch, trifft nicht zu. Es handelt sich hier nach der mir von D D r . Floridus Röhrig freundlichst überlassenen Hss.beschreibung um eine Ubersetzung des Nikolaus von der Astau (Vgl. Max Voigt: Beiträge zur Geschichte der Visionenliteratur im Mittelalter. Leipzig 1924. [Palaestra 146], S. 191—219). Zu den Hss vgl. Anhang II, Hss.liste. 1)0 Zur >BriefwechselAlexanderAlexander< und kann erst durch dieses Mißverständnis den chronologischen Bezug zwischen >Alexander< und Chiromantie konstruieren. Erstaunlicherweise wird dieser Mißgriff bis zu Vorderstemann' 42 und Lechner-Petri ungeprüft tradiert; nach der Korrektur dieses Irrtums bleibt zur sicheren zeitlichen Einordnung des >Alexander< nur der Terminus ante der ältesten Handschrift; sollten die »vollkommenen fünf Abkömmlinge zweier fürstlicher Stämme« tatsächlich die fünf Kinder Albrechts III. meinen, so wäre die Abfassung des >Alexander zwischen die Geburt Albrechts IV. 1447 und Christophs 1449 zu setzen; sollte es sich allein auf die männlichen Nachkommen beziehen, zwischen die Geburt Wolfgangs 1451 und den Terminus ante. Wenn aber der jung gestorbene Ernst und der ebenfalls 1445 erst fünfjährig gestorbene Albrecht mit einbezogen werden, dann wäre das fünfte Kind Margarete, geboren 1442, und das sechste Elisabeth, geboren 1443; 1 4 ' der >Alexander< also in das Jahr 1442/43 zu setzen. Wie immer man auch rechnet, auf das Jahr 1444 kommt man nicht. Die Zuschreibung an Hartlieb und der Adressat werfen keine Probleme auf; nach dem Prolog ist der >Alexander< für das bayerische Herzogspaar übersetzt. 2.1.8. Chiromantie 144 Die Chiromantie liegt lediglich in einer Handschrift (München UB, 8° cod.ms.}39 [entstanden um 148ο] 145 ) und einem Blockbuch (in vier Druckzuständen [entstanden nach 148ο] 146 ) vor. Die Library of Congress besitzt eine Handschrift, die in dem Supplement zum Census147 als »Hartlieb: Die Kunst Ciromantia. . . . Written in Bavaria, ca. 1410« beschrieben wird.'48 Schmitt, der eine Xerokopie dieser Hand141
Vorderstemann, S. 18, der selbst kritisch anmerkt, daß die Datierung auf 1444 unter falscher Berufung auf Drescher entstanden ist, übernimmt Dreschers >richtige< Datierung »wegen der in ihm [dem Alexander] formulierten Ablehnung der Chiromantie in die 50er Jahre« und beruft sich auf »Dreschers Befund«. ,4J Vgl. Europäische Stammtafeln. Bd. I. Die deutschen Staaten. Von Wilhelm Karl Prinz von Isenburg. }. Aufl. Marburg 1975, Tafel 27. 144 Faksimile-Abdruck durch Ernst Weil: Die Kunst Chiromantia des Dr. Hartlieb. Ein Blockbuch aus den Siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts. München 1923. ,4 ' Vgl. Wierschin, S. 6off. 146 Vgl. Schmitt, Diss, S. i6off. 141 Supplement to the Census of Medieval and Renaissance Manuscripts in the United States and Canada. Originated by C. U. Faye; continued and edited by W. H. Bond. New York 1962, S. 124, Nr. 163. 148 Meine Bitte an die L o C um die Zusendung einer Kopie ist leider ohne Erfolg geblieben.
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Schrift eingesehen hat, schreibt, daß zwar auf dem Vorderdeckel ein Eintrag »Die Kunst Ciromantia von Doktor Hartlieb Herzoglich baierischen Leibarzt 1448« von einer Hand des 17. Jahrhunderts zu finden sei, der Inhalt aber nichts mit der Hartliebschen Chiromantie zu tun habe: »Es handelt sich um insgesamt 16 medizinische, astrologische und allegorische Federzeichnungen süddeutschen Ursprungs vom Anfang des 15. Jh.s, die offenbar als Vorlagen für Holzschnitte gedacht waren.«149 In welcher Beziehung der Eintrag auf dem Deckel zu diesen Zeichnungen steht, ob etwa ursprünglich einmal ein Druck der Chiromantie beigebunden war, bliebe allerdings noch zu klären. Weiter sind in dem Katalog der Handschriftensammlung Königin Christinas von Schweden, den ab 1649 der Engländer Isaac Vossius angelegt hatte,1'0 auf fol. 65 und 67 zwei Handschriften von Dr. Hartliebs Cbiromantey verzeichnet. Ein Teil der Handschriftensammlung ist mit der Königin nach Rom gelangt; er wird heute in der Vatikanischen Bibliothek aufbewahrt. In dem 1793 erstmalig publizierten Katalog dieses Teils der Vatikanischen Sammlung1'1 erscheint unter der Nr. 504 eine Chiromantia (Reg.lat. 2054, f. 47—5 2), unter der ein Textzeuge der Hartliebschen Chiromantie vermutet werden könnte. Die Vatikanische Bibliothek hat mir freundlicherweise eine Kopie dieser Handschrift zur Verfügung gestellt; danach handelt es sich hier um eine lateinische Chiromantie des 16. Jahrhunderts, die nichts mit dem Text Hartliebs zu tun hat. Über den Verbleib der beiden von Vossius genannten Handschriften konnte mir keine Auskunft erteilt werden. Die Kataloge von Leyden und Stockholm, wo die anderen Teile der Königlichen Sammlung verblieben, nennen keine Chiromantie. Die Chiromantie ist von Wierschin zum Angelpunkt genommen worden, um die Verfasserschaft Hartliebs an sämtlichen magisch-mantischen Schriften zu bezweifeln. Das Verhältnis von Münchner Handschrift und Druck ist unklar; die Handschrift ordnet die Abbildungen der Hände anders und der beigefügte Text ist zum Teil in Latein geschrieben. Schmitt zieht daraus den Schluß, daß die Handschrift eine Rückübersetzung einer unbekannten gemeinsamen Vorlage von Handschrift und Druck biete; 1 ' 2 Wierschin meint dagegen, der Text der Handschrift sei ein unvollständiger Entwurf für den späteren Druck und stamme aus der Hand des Besitzers und Schreibers der Handschrift, sei also dessen eigene Leistung. 1 " Da aber die Schrift der Hand-
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' Schmitt, 1 9 8 2 , S. 266, A n m . 59. Faksim. Nachdruck: Katalog over handskrifterna i K u n g l . Biblioteket i Stockholm, skriven omkr. 1 6 5 0 under ledning av Isaac Vossius. Utgiven med förord pä svenska och engeJska samt med register av Christian Callmer. Stockholm 1 9 7 2 . Vgl. L e s Manuscrits de la Reine du Suede au Vatican. Reedition du Catalogue de Montfaucon et cotes actuelles. R o m 1964. (Studi e Testi 238) Schmitt, Diss, S. i 7 6 f f .
" " Wierschin, S. 76.
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schrift nicht mit der Hartliebs identisch sei, könne die Chiromantie nicht von Hartlieb stammen. Gegen Schmitts These sprechen mehrere von Wierschin vorgebrachte philologische Beobachtungen; am überzeugendsten wohl, daß einige >Korrekturvorschriften< auf f. 5Brandan< ist damit vor 1450 anzusetzen. Zuschreibung und Adressat sind unproblematisch; im Prolog benutzt Hartlieb die >ich-doctorDialogus< abgibt, muß letztendlich offen bleiben; als Terminus post aber kann nur der Beginn der Münchner Tätigkeit Hartliebs 1440 dienen. 2.1.12. Secreta mulierum deutsch'7* Die >Secreta< sind in acht Handschriften überliefert, in weiteren vier Handschriften sind Auszüge aus dem Buch Trotula erhalten.' 73 Die älDrescher, S. X V I I . Andreas Schmidtner: Zur Genealogie der Pütrich. O A 56 (1877), S. 1 5 2 - 1 7 2 ; hier S. 156. 172 Ed. Bosselmann-Cyran, S. 89—252. "> Vgl. Anhang II, Hss.liste.
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teste exakt datierbare Handschrift, cpg 116, stammt aus dem Jahre 1525; der Großteil der Überlieferung ist in das 16. Jahrhundert zu setzen, nur drei Handschriften datieren, allerdings nicht näher bestimmbar, aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die Einordnung der Übersetzung in das Jahr 1465174 resultiert aus der Annahme, daß Hartlieb, der das Buch Herzog Sigmund als dessen Leibarzt gewidmet hat, diese Funktion erst 1465 eingenommen haben soll.17' Bosselmann-Cyran hat daraufhingewiesen, daß der Beginn von Hartliebs Tätigkeit für Sigmund im Jahre 1465 nicht belegbar 1st;176 er geht daher davon aus, daß Hartlieb nach Herzog Albrechts III. Tod 1460 in gleicher Funktion sofort für Sigmund tätig wurde, daß also die Übersetzung der >Secreta< zwischen diesem Datum und dem Treffen Sigmunds mit Kaiser Friedrich III. 1465, bei dem der Kaiser den Wunsch nach einer Abschrift der schon vorliegenden Übersetzung hätte äußern können, erfolgt ist.177 Auf diese Hypothese könnte allerdings verzichtet werden, wenn Hartlieb dem Kaiser schon früher verbunden war; es fallt auf, daß Hartlieb in dem eigens für Friedrich III. verfaßten Prolog178 diesen sehr persönlich anspricht: Seynem allerliebsten gesellen in Christo vnd aller heldischen vnd liebsten frewnd.179 Es liegt so eine ungewöhnlich vertrauliche Widmung Hartliebs vor, die nur in einer langjährigen Bekanntschaft mit Friedrich begründet sein kann. Auch dies weist wieder auf die schon in den dreißiger Jahren zu findende Vertrautheit mit dem steiermärkischen Hof. 2.1.13. Bäderbuch18° Das Bäderbuch ist in drei Handschriften und einem Fragment überliefert; 18 ' die älteste Hs cgm 732 stammt aus dem Jahr 1474. Die Datierung des Bäderbuchs in das Jahr 1467182 beruht auf der ungenauen 174
Vgl. Grubmüller, Hartlieb, Sp. 494. Drescher, Euph. 26, S. 239. 176 Bosselmann-Cyran, S. 23, Anm. 13. Für die Annahme, daß Hartlieb erst 1465 in den Dienst Herzog Sigmunds übernommen worden sei, scheint mir die Urkunde der Begnadung Hartliebs mit Fischrechten verantwortlich zu sein, die 1465 von den Herzogen Albrecht und Sigmund ausgestellt worden ist (Vgl. oben, S. 23). 177 Bosselmann-Cyran, S. 23f. 17 * Synoptisch abgedruckt bei Bosselmann-Cyran, S. 1 0 0 - 1 1 4 . 179 Bosselmann-Cyran, S. 1 1 4 . 180 Eine Edition existiert nicht; eine synoptische Ausgabe des Hemmerlischen Traktats und der Tömlingerschen Ubersetzung wird von mir vorbereitet. Vgl. Anhang II, Hss.liste. So Fischer, S. 300. 171
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Lesung des einzig in clm 8244 überlieferten Vorwortes, in dem nur davon gesprochen wird, daß Hartlieb in diesem Jahr die lateinische Vorlage, Felix Hemmeriis tractatus de balneis, gezeigt bekommen, nicht aber übersetzt habe. 1 ' 5 Der Schreiber des Vorwortes berichtet, daß er das Buch iec% teusch machen wil durch geschaeft und haissen des vorgenanten fürsten von pairen [d. i. Herzog Sigmund]. Es hat sich gezeigt, daß die Übersetzung wohl von Jordan Tömlinger herrührt und in die Jahre 1468, dem Todesjahr Hartliebs, bis 1474, dem Entstehungsjahr von cgm 732, anzusetzen ist.'84 Tömlinger berichtet in dem Vorwort, daß auf einer Badereise Herzog Sigmunds nach Gastein im Jahre 1467 in dessen Gefolge auch Hartlieb gewesen sei. Zur gleichen Zeit habe sich der erwirdig pischof von kiemse in Gastein aufgehalten, ain vascht hacher maister vnd doctor jn paiden rechten vnd nemlich vast hoch gelert in natürlichen kinsten ain rechter liebhaber vnd eruorscher manigerlay geschrift vnd aller pücher. der selb besandt des fürsten arc^t vnd s^aigt jm das puech, nämlich den Hemmerlischen Traktat. Bischof von Chiemsee aber war 1467 Bernhard von Kraiburg;' 85 er wurde zwar erst am 5. Juli geweiht, also nach jenem Aufenthalt — Tömlinger spricht vom 1 1 . Juni 1467 —; sein Vorgänger Ulrich von Plankenfels aber starb schon am 28. Februar 1467. 186 Es handelt sich also tatsächlich um Bernhard; die Bezeichnung als Bischof geschieht bei Tömlinger wohl aus der späteren Perspektive. Bernhard muß mit Hartlieb gut bekannt gewesen sein, wenn man dem Prolog glaubt; kaum ist Hartlieb eingetroffen, sendet der Bischof nach Hartlieb, um ihm ein Buch zu zeigen: das läßt auf ein gemeinsames Interesse an dem Gegenstand oder an Handschriften überhaupt schließen. Dies wäre ein erstes Zeugnis für einen Kontakt Hartliebs zu Vertretern des deutschen Frühhumanismus. Die Charakterisierung Bernhards durch Tömlinger trifft diesen recht genau: Bernhard war Doktor des kanonischen Rechts, er hatte in Wien studiert; sein Interesse an manigerlay geschrift wird durch seine noch in der B S B und der Ö N B erhaltene Bibliothek dokumentiert.' 87 Er stand in Verbindung mit NiVgl. Fürbeth, S. 288. " 4 Vgl. Fürbeth, S. 28 9 ff. Vgl. zu ihm Paul Joachimsen: Bernhard von Kraiburg. Programm des K . Realgymnasiums Nürnberg 1900/01. Nürnberg 1901. 186 Vgl. Series episcoporum ecclesiae catholicae, quotquot innotuerunt a Beato Petro Apostolo. Ed. P. Pius Bonifatius Gams OSB. 2. Aufl. Leipzig 1 9 3 1 , S. 267. 187 Vgl. Paul Ruf: Eine altbayerische Gelehrtenbibliothek des 15. Jahrhunderts und ihr Stifter Bernhard von Kraiburg. In: Festschrift Eugen Stollreither. Hrsg. von Fritz Redenbacher. Erlangen 1950. S. 219—239.
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kolaus von Kues — er fungierte als Mitunterredner in dessen >Trialogus de possest< - und vor allem mit den Trägern der Melker Reform in Bayern, mit Johannes Schlitpacher und Bernhard von Waging. 188 Auf ihn wird unten noch zurückzukommen sein.
2.2.
Weitere Werke
2.2.1. Arzneipreisliste In dem Cod. 3 1 1 der Universitätsbibliothek Graz, 189 der nach den Untersuchungen Dressendörfers aus dem Besitz Gotzkirchers stammt,' 90 ist auf f. 104—io6 v eine Arzneimittelpreisliste Hartliebs aufgezeichnet. Inc.:
Sequit Taxa pro simplicibus s[ecundum?] Alphabetum secundum Magistrum Johannem Hartliepp ut nunc venditur Norenberge et Pabenberge et Herbipoli et Hajdelberge Auguste et Ratispane Actum die Jovis ante festum pace 14J3 Expl.: Corallorum alborum unc 1 64 d i4jß etc. etc. est finis die sabbati post pasce191
Die Taxe soll »die früheste bisher bekannte Arzneitaxe« darstellen, »die den in ihr enthaltenen Arzneischatz in einem einzigen, durchgehenden Alphabet verzeichnet«.'92 Dressendörfer nimmt an, daß Gotzkircher hier eine Vorlage kopiert habe, die von Hartlieb selbst geschrieben oder zusammengestellt wurde.' 95
,88
Vgl. Werner M. Bauer: Die Schriften des Bernhard von Kraiburg. Ein Beitrag zur Entwicklung der frühhumanistischen Rhetorik in Österreich. Sprachkunst 2 (1971), S. 117—172. 189 Vgl. Die Handschriften der Universitätsbibliothek Graz. Bearbeitet von Anton Kern. Bd. 1. Leipzig 1942, S. 177. Eine ausführliche Handschriftenbeschreibung bei Werner Dressendörfer: Spätmittelalterliche Arzneitaxen des Münchner Stadtarztes Sigmund Gotzkircher aus dem Grazer Codex 3 1 1 . Ein Beitrag zur Geschichte des süddeutschen Apothekenwesens. Pattensen/Han. [1978]. (WMF 15), S. 23—37. ,9 ° Dressendörfer, S. 38-53. ''' Die gesamte Taxe ediert bei Dressendörfer, S. 132—159. ' 9 ' Dressendörfer, S. 65. ebd. 81
2.2.2. Practica Medicinae Bosselmann-Cyran weist auf eine Venezianische Handschrift hin,'94 die auf f. ira—io2vb ein medizinisches Werk nach Art der Therapien >a capite ad calcem< enthält. Inc.: Cum altitudinem diviciarum rerumque altissimarum veritates in sua simplicitate acceptas intellectus humanus capere non possit necessario medicus artifex sensualis qui discrepantiam individuorum ad debitam armoniam perfecte ratiocinationis reducere conatur cogitur racione et experientia naturalibus suam perficere operacionem iuxta medicine diffinitionem etc.
Expl.: Et sumus experti que caro passularum enucleatarum trita cum oppoponaco et mixta ungui supposita cadere facit ipsum etc.m
Auf f. i ra , Ζ. 13 nennt sich der Autor Ego Johannes hartliepp medicine doctor.1^ Die Handschrift stammt aus dem 15. Jahrhundert. Näheres teilt Bosselmann-Cyran nicht mit, will aber den Fund in einer gesonderten Untersuchung vorstellen. 2.2.3. Das Gedicht des Andreas Bavarus Eine von der Österreichischen Nationalbibliothek im Jahre 1924 vom Stift St. Peter in Salzburg erworbene Handschrift, Ser. n. 4448 enthält auf f. 4V—5r ein Epigramm auf Johannes Hartlieb. Die Handschrift stammt nach der Beschreibung von Mazal 197 aus dem 15. Jahrhundert. Sie besteht aus sechs Blättern und enthält zwei Texte, das erwähnte Epigramm, geschrieben in einer deutschen Bastarda, und eine Questio sponse ad maritum198 auf f. ir—4.' in gotischer Buchkursive; an weiteren Textzeugen der Quaestio nennt Mazal Augsburg, StuStdB 20 Cod. 128, clm 418, 459 und 8482. Die Handschrift lag mir in Photokopie vor. Der Text des Epigramms lautet wie folgt: Si mea diffusa foret, bene phisice, lingua Et tnichi que caneret promta camena foret, Et appollo micbi diuus spiraret in aures '' 4 Bibliotheca Nazionale Marciana, Cod. Marcinao Lat. V I I , 53. Vgl. Bosselmann-Cyran, S. 21 f. "" Zit. nach Bosselmann-Cyran, S. 21. ebd. 197 Otto Mazal: Katalog der abendländischen Handschriften der Osterreichischen Nationalbibliothek. »Series Nova«. Teil 4, Cod. Ser.n. 4001-4800. Wien 1975, S. 202f. 198 Walther, Initia carminum, Nr. 1589;. 82
Et fauor pieridum: canerem laudes tuas. Sed quia non musas nec montem aspexi musarum Nec mea harens polluit ora liquor. Quis posset si centum linguas haberet narrare Virtutes insignes, phisice clare, tuas? Et te quisque stet germanus illuminabitur, vt sol Clarificat cinthiam sidereosque coelos. Tu vires herbarum, tu gemmas spexisti: tu noscis Quid fert arabia quid india confert sani, Astrorumque cursus, quo terra se erigit altis Rupibus quo tandem seque submittat aquis Quid sermo dualis quid docet Tullius idem: Nauisti quo ritu dulces ornantur vates. Tu es geometer: calculum exerces et alta Hominisque respicis viscera arte graira. Astream opibus colis vel omnibus idem. Non preces iudicia non munera tua mutant Qua ratione deus ternus sit idem vel vnus Et regat imperio cuncta creata suo Dedalus ingenio cedat modo phisice tuo Cedant et post phisici: cedat Galienus"'*' Emulus esse solus ferens hyppoquecratisio° Et taceat voce audita rasis101 tua. Teque esculapium superare noscimus omnes atque phoebus votis fertur adesse tuis. Tercium te merito censemus esse cathonem Ex achademia lapsum recentem et graia Ergo tibi merito gratulamur: et ero nimis Dum spiritus heret ossis vel et cutis meis Vale teque fata vitales carpere flatus Sinant et obsequio dent dignas merces tuo. A. Bauarus In prestantissimum ac facundissimum arcium et medicine proffesorem hannem Hartlieb ducalem phisicem benemerentem Epigramma202
dominum Jo-
Galenus, »der grösste Arzt und gleichzeitig der literarisch fruchtbarste Schriftsteller des Alterthums« ( H H V , II, S. 66iff.), 129 bis ca. 200 in Rom. Hippokrates (s. H H V , III, S. 23off.), 460 v.Chr. bis 377 v.Chr. Der unter dem Namen des Hippokrates tradierte Werkcorpus und die Werke Galens bilden die Grundlage der mittelalterlichen Medizin. " " Rhazes ( = Abu Bekr Muhamed Ben Zakarija ar-Razi) (s. H H V , I, S. 170), 850 bis 923(932), arabischer Arzt und Philosoph in Bagdad. Sein nach dem >Continens< wirkmächtigstes Werk ist der >Liber medicinalis ad AlmansoremAlmansor< — im Mittelalter irrtümlich als Verfassername verstanden — tradierte Werk ist eine systematische Darstellung der Medizin in zehn Büchern und war eines der wichtigsten medizinischen Lehrbücher des Mittelalters. 202
Wenn meine Beredsamkeit, erhabener Ar%t, weitläufig wäre, und Camoena, die singende, mir geneigt, und wenn der göttliche Apollo mir ins Ohr hauchte und ich die Gunst der Pieriden besäße:
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Die Attributierung des Adressaten als Lehrer der Arznei und herzoglicher Leibarzt läßt es als sicher erscheinen, daß der Münchner Hartlieb gemeint ist; über den Autor Andreas Baier aber ist nur wenig bekannt.203 Baier hat in Italien studiert, w o er wohl Kontakt mit Albrecht von E y b und Johannes Roth gefunden hat; in den fünfziger Jahren ist er in die Wiener Neustädter Kanzlei gekommen, w o er als Magister Andreas nachweisbar ist. Dort stand er in Korrespondenz mit Johannes Hinderbach, er schrieb Gedichte an L u d w i g Rad und Johannes von Eich, ein Gedicht von G e o r g Peuerbach an Baier ist ebenfalls erhalten. Baier ist also dem Wiener Humanistenkreis 204 um Aeneas Silvius Piccolomini zuzuordnen; er wechselte allerdings spätestens 1459 an den Landshuter H o f des Herzogs Ludwig. Dort ist er bis 1468 urkundlich Ich sänge Dein Lob. Aber weil ich weder die Musen noch den Berg der Musen gesehen habe, hat auch ihr Hauch meine dürstende Zunge nicht benetzt. Wer konnte auch, und wenn er hundert Zungen hätte, Deine beispiellosen Fähigkeiten aufzählen, 0 glänzender Ar%t? Welcher Deutscher auch immer in Deiner Nähe ist, er wird von Dir erleuchtet, so wie die Sonne den Mond und die himmlischen Sterne erhellt. Du schautest die Kräfte der Kräuter, Du schautest die Steine; Du weißt, welche der Heilmittel Arabien und welche Indien ^uträgt; Du kennst den Lauf der Sterne und weißt, wo die Erde sich erhebt in hohen Felsen und wo sie sich endlich in die Gewässer senkt. Ob den gelehrten Disput, ob die Rede, die Cicero lehrt, du hast sie auf eine Weise geführt, durch die die süßesten Sänger geschmückt werden. Du beherrschst die Geometrie wie die Mathematik, du schaust ins Innere des Menschen nach Art der griechischen Kunst. Mit allen Kräften verehrst Du die Göttin der Gerechtigkeit; keine Bitten, keine Geschenke können Dein Urteil beeinflussen. Mit welcher Klugheit Gott, der einzige und dreifaltige, all die Geschöpfe in seinem Reich regiert: Daedalus findet mit seinem Ingenium in Deiner Art, 0 Ar%t, seinen Nachfolger, und mehr noch ist dies der Fall bei den Arsten: es steht Galenus Dir nach, der behauptet, der einzige sein, der Hippokrates gleichkomme, und Rhades schweigt, wenn Deine Stimme vernehmen ist. Wir alle wissen, daß Du selbst Aeskulap überragst, und daß von Phoebus gesagt wird, er stehe Deinen Wünschen %ur Seite. Nach Deinem Verdienst halten wir Dich für den dritten Cato, der eben erst aus der griechischen Akademie herabgestiegen ist. Deinen Verdiensten wegen wünschen wir Dir viel Glück: und daß dem Herrn meiner Knochen und Haut lange das Leben %ur Seite stehe. Gegrüßt seist Du, und die Götter mögen gestatten, daß Du das Leben nut^t, und sie mögen Deinem Gehorsam den gebührenden Lohn schenken. A. Bauarus Epigramm auf den vortrefflichsten und redegewandtesten Professor der Artes und der Medizin, Herrn fohannes Η artlieb, den verdienstvollen herzoglichen Ar%t.
204
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Die einschlägigen Handbücher und Literaturgeschichten nennen ihn nicht. Über Baier haben gehandelt Max Herrmann: Ein Brief an Albrecht von E y b . Germania 33 ([NR 21 ] 1888), S. 499-506, der dort einen Brief Baiers über die >Anmaßung< Johannes Roths, sich als ersten deutschen Humanisten zu bezeichnen, ediert; ders.: Albrecht v o n E y b und die Frühzeit des deutschen Humanismus. Berlin 1893, S. 138; Paul Joachimsohn, Heimburg, S. 107, und Richard Stauber: Die Schedeische Bibliothek. Ein Beitrag zur Geschichte der Ausbreitung der italienischen Renaissance, des deutschen Humanismus und der medizinischen Literatur. Nach dem Tode des Verfassers hrsg. v o n O t t o Hartig. Photomechanischer Neudruck N i e u w k o o p 1969, 32f. Ich beabsichtige, Baier in einer eigenen Untersuchung nachzugehen. Vgl. zum Wiener Humanistenkreis Karl Großmann: Die Frühzeit des Humanismus in Wien bis zu Celtis Berufung 1497. Jahrbuch für Landeskunde v o n Niederösterreich N F 22 (1929), S. 152—323, und die verschiedenen Artikel im neuen V L .
als Kanzleischreiber nachzuweisen; jedoch scheint er in Landshut den humanistischen Austausch vermißt zu haben. E r schrieb 1461 einen Brief an Bernhard von Kraiburg, der zu dieser Zeit Kanzler des Salzburger Bischofs war: Wie Ulysses bei der Kalypso, so schmachte er in der Landshuter Kanzlei, und er bitte Bernhard, seinen Praeceptor, ihm in Salzburg zu einer Stelle zu verhelfen. Diese Bitte hat Bernhard wohl nicht erfüllen können; es ist aber durchaus möglich, daß Bernhard, der Hartlieb ja durch die gemeinsame >Bibliophilie< verbunden war, wie die Vorrede des Bäderbuchs zeigt, Baier weiter an Hartlieb verwiesen hat. Ob Hartlieb dann über Baier, über Bernhard selbst oder durch seine eigenen Verbindungen nach Graz und Wien, wie sie in der >de amoreSecreta mulierum< an Kaiser Friedrich manifest werden, Kontakte zum deutschen Frühhumanismus gefunden hat, wird unten zu klären sein. 2.3.
Resümee
Die Überprüfung der handschriftlichen Überlieferung der Werke Hartliebs ergibt ein ähnliches Resultat wie die Untersuchung der Quellen für die Biographie. Ohne Zweifel Hartlieb zuzuschreiben sind aufgrund seiner jeweiligen Selbstnennung, die mit der in den Urkunden als typisch erkannten Formel >Ich, doctor Hartliepp< erfolgt, der Alexanderroman, der >Dialogus miraculorumSecreta mulierum< und das >Buch aller verbotenen KunstAlexander< ist demnach von der Zeit Mitte der vierziger Jahre bis 1454, der >Dialogus< vor Hartliebs Tod, das >Buch< nach 1456 bis 1464 und die >Secreta< in den sechziger Jahren geschrieben worden. Das >Bäderbuch< stammt sicherlich nicht von Hartlieb, das Kräuterbuch ist überhaupt nicht zu datieren. Es bleiben die Werke vor Hartliebs Münchner Zeit. Die Übersetzung des >Tractatus de amore< ist wahrscheinlich vor dem überlieferten Datum 1440 erfolgt; dafür spricht vor allem, daß von einem Wiener Hof Albrechts VI. nicht die Rede sein kann und daß nach dem Prolog des zweiten Buchs der Übersetzung Hartlieb eben für eine Hofgesellschaft übersetzt hat. Die einzig namentlich angesprochene Person, der Neidecker, stammt wohl aus dem steiermärkischen Geschlecht; es deutet
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also alles darauf hin, daß Hartlieb hier den Grazer Hof meint. Da Hartlieb aber in dem bekannten Kolophon von seinem Aufenthalt in Wien spricht, wird sich der Kolophon nicht auf die Abfassung, sondern auf eine Abschrift beziehen; eine ähnliche erneute bearbeitende Abschrift ist ja auch im Falle der >Secreta< für Kaiser Friedrich bezeugt. Das Datum der >de amoreGeomantie< ist nicht zu datieren, sie ist sicherlich kein genuines Werk Hartliebs, sondern stammt in dieser Abschrift aus seiner Bibliothek. Ebenso stellt sich der Fall bei der >Namenmantik< dar; hier ist die Überlieferungslage zusätzlich dadurch verworren, daß ein Textzeuge mit hoher Sicherheit aus Hartliebs Besitz stammt. Dies läßt vermuten, daß überhaupt ein anderer Hans Hartlieb die Tafeln der >Namenmantik< gesammelt hat. Auf jeden Fall aber ist auch dieses Werk nicht als Übersetzung Hartliebs anzusehen; als Eigentum ist es ihm allerdings zuzuweisen. Ebenfalls komplex ist die Lage bei dem >MondwahrsagebuchDoctor< bezeichnet wird. Diese Kennzeichnung kann, da Hartlieb erst 1439 promoviert wurde, demnach nicht ein Reflex eines verlorengegangenen Autorvermerks von Hartlieb selbst sein; die Zuschreibung an ihn mußte also entweder später von anderer Hand erfolgt sein, was vorläufig die Möglichkeit offen läßt, daß die gesamte Zuschreibung an Hartlieb nicht der Realität entspricht, oder aber gar nicht den Münchner Hartlieb meinen. Hier kommt der erwähnte Johannes Hartlieb de Gruningen in den Blickpunkt, hinter dem der Vater des Münchner Hartlieb vermutet wird. Die >Kunst der Gedächtnüß< schließlich wird nur einem Hans Hartlieb zugesprochen; eine eindeutige Kennzeichnung der Person kann schon wegen des Datums 1430/32 nicht geleistet werden. Die Übersetzung im Auftrag Ludwigs des Bärtigen allerdings läßt die Hypothese wahrscheinlich werden, daß der Straubinger Hartlieb gemeint ist; eine endgültige Klärung ist hier aber wohl nicht zu erreichen. Es fallt auf, daß mehrere Werke durch die Auftraggeber, durch genannte Personen, aber auch durch die handschriftliche Überlieferung in den steiermärkischen Raum weisen. Die Kuchler stammen aus Salzburg und sind mit der Steiermark verbunden; die Neudegger haben mit Hans ihren Wohnsitz in Graz, ebenso wie die Herzöge Albrecht VI. 86
und der nachmalige Kaiser Friedrich. Es wäre zu fragen, ob Hartlieb nicht aus diesem Raum stammte, ehe er nach München gegangen ist. Dagegen spricht die Herkunftsbezeichnung de meglingen, die allerdings nicht ihm, sondern seinem mutmaßlichen Vater in den Paduaner Promotionsakten beigelegt wurde. Denkbar wäre, daß dieser Vater in Wien studiert und dann sich am steiermärkischen Hof in Graz niedergelassen hat; daß sein Sohn von dort aus nach Padua und schließlich in die Dienste der bayerischen Herzöge gegangen ist. Dafür spricht, daß Thomas Hartlieb in den Diensten des Kaisers und als Hausbesitzer in Graz bezeugt ist, dafür spricht auch, daß mehrere Personen dieses Familiennamens noch anfangs des 16. Jahrhunderts in der Steiermark nachweisbar sind.20' Natürlich muß auch hier das Ergebnis des ersten Kapitels bedacht werden, daß eben grundsätzlich mit mehreren Personen des Namens Johannes Hartlieb im süddeutschen Raum zu rechnen ist. Ob man nun allerdings von dieser anonymen >Personenmultiplikation< oder von der Existenz eines Gespannes aus Vater und Sohn Hartlieb ausgeht: die gemeinsame Schlußfolgerung wird in beiden Fällen sein, daß eine sozusagen unschuldige Zuweisung aller fraglichen Werke an den Münchner Hartlieb nicht mehr möglich ist. Somit muß, da die überlieferungsgeschichtlichen Indizien nun wohl zum Teil darauf hindeuten, daß die mantischen Schriften nicht von Hartlieb stammen, diese Indizien allein allerdings nicht beweiskräftig sind, der Indizienbefund durch eine Analyse von Hartliebs Haltung zu den verbotenen Künsten auch schon zu der Zeit, da die mantischen Schriften entstanden sind, gestützt werden. Dazu muß das >Buch aller verbotenen Kunst< herangezogen werden. Dies ist besonders im Falle der >Chiromantie< wichtig, da die handschriftlichen Ergebnisse hier nichts gegen die Verfasserschaft Hartliebs aussagen; hier kann also nur die Selbstaussage Hartliebs zur Beurteilung seiner Autorschaft benutzt werden. Wie gezeigt wurde, ist das >Buch< bzw. die aus ihm deduzierte »Wende« auch zur chronologischen Einordnung des >AlexanderromansDialogus miraculorum< und des >Kräuterbuchs< gebraucht worden; dies deutet schon vorab auf seine zentrale Rolle wenn nicht im Werk Hartliebs, so doch in der Analyse von Seiten der Forschung. Bevor also zu einer endgültigen Festlegung und Analyse des Hartliebschen Werkcorpus geschritten werden kann, muß der geistesgeschichtliche Standort und die Intention des >Buchs aller verbotenen Kunst< untersucht werden; dies ist im folgenden Kapitel zu leisten. ,0
' Vgl. Pirchegger, Landesfürst, S. 19z u. Anm. 58.
87
3·
Das >Buch aller verbotenen Künste Mantik und Laiendidaxe
3.0.
Stand der Forschung
Das >Buch aller verbotenen Kunst< ist von der Forschung in vielfaltiger Weise als Steinbruch ausgebeutet worden. Schon bevor die eigentliche Hartlieb-Forschung sich mit ihm beschäftigte, wandte ihm die Volkskunde ihr Interesse zu. Das >BuchAberglauben< des Mittelalters beschreibt, und wurde so mehrmals auszugsweise abgedruckt. 1 Der Hartlieb-Forschung, der seit 1914 der vollständige Text in der Edition von Dora Ulm zur Verfügung stand, diente das >Buch< nicht allein dazu, biographische 2 und bibliographische' Daten zu Hartlieb zu gewinnen, sondern ist vor allem dazu benutzt worden, den Menschen Hartlieb zu charakterisieren. Es bedurfte dabei einer Interpretation, welche die in die Zeit vor der Entstehung des >Buchs< datierten mantischen Werke Hartliebs in eine antinome Beziehung setzte zu der geistigen Haltung, aus der Hartlieb das >Buch< geschrieben haben soll. Der Tenor der Deutungen4 geht dahin, daß Hartlieb mit dem >Buch< eine Schrift gegen den Aberglauben seiner Zeit verfaßt habe, indem er die Beschreibung der abergläubischen Praktiken eingebettet habe in eine teils religiös, teils rationalistisch begründete Ablehnung. Die erste explizite ChaSo bei Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Vierte Ausgabe. III. Bd., Nachträge und Anhang. Hrsg. von Ε. H. Meyer. Berlin 1878, S. 420ff.; Hansen, S. ijoff.; Sigmund Riezler: Geschichte der Hexenprozesse in Bayern, im Lichte der allgemeinen Entwicklung dargestellt. Neudruck o. J., S. 69fr 2 1423 Rombesuch (Vgl. Schmitt, 1982, S. 256): bezieht sich auf . . . ain sach, die jeh vnd manig man t(u Rom gesehen vnd gehört haben, es wasjn dem sechßten jar als babst Martin gesetzt was, . . . (Ulm, S. 21); 1447 bei Kurfürst Ludwig IV. in Heidelberg (Vgl. Schmitt, 1982, S. 257): bezieht sich auf . . . darnach [1446] in dem andern jar kam ich in potschafft von München dem durchleuchtigen, hochgepornen pfalt^grauen hert^og Ludwig. . . (Ulm, S. 22). ! Vgl. Kap. 2. 4 Vgl. dazu besonders Riezler, Hexen, S. 66ff.; Ulm, S. V ff.; Drescher, Euph. 25, S. 356f.; Schmitt, Diss, S. 2ioff. 1
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rakterisierung stammt von der Herausgeberin des Textes, Dora Ulm, und ist ebenso pathetisch naiv wie anachronistisch, weil aus heutiger, »aufgeklärter« Perspektive wertend.' Die zentralen Begriffe ihrer Charakteristik — >Aberglaube< und >Kampf< - hat dann Drescher übernommen: er meinte, daß in dem >Buch< »diese Künste« als »falsche, aufs schärfste zu verurteilende« erscheinen, während sie in seinen früheren Schriften »noch als wertvoll galten«. Drescher wollte diesen angeblichen Wechsel der Anschauungen, den auch schon Riezler als einen der vielen Widersprüche in Hartliebs Wesen zu fassen glaubte, 6 aus Hartliebs Charakter erklären, da Hartlieb »in keinem Sinne ein Mann von persönlicher Eigenart und selbständiger Gesinnung« gewesen sei, vielmehr »sein ganzes Dasein auf seine höfischen Beziehungen und die äußeren Aussichten seines Lebens« aufgebaut habe. 7 Da aber durch den Visitationsbesuch des Nikolaus von Kues in München 1451 anläßlich der von ihm überwachten Klosterreform sich die Einstellung Herzog Albrechts III. zu den magischen Künsten änderte — »Seit jener Zeit wehte dann auch am bayrischen Hofe hinsichtlich solcher Geheimkünste ein anderer Wind.« —, habe Hartlieb, dem Herzog folgend, diesen Kurswechsel mitvollziehen und nun das ablehnen müssen, was vordem noch seine Leidenschaft gewesen sei.8 Diese bei Drescher knapp entwickelte Idee wurde für Schmitt zu einer der Hauptthesen seiner Dissertation. Nach Schmitt ist das >Buch< »ein Dokument der persönlichen Einstellung Hartliebs zum Aberglauben«: dessen Ausführungen seien »im Ton radikaler Ablehnung aller Divination und Zauberei vorgetragen«. 9 Die Gründe für diese Ablehnung sah Schmitt - neben dem weniger wichtigen einer weltlich-juristischen Begründung — in zwei Aspekten: in der kirchlich-orthodoxen Ablehnung 10 und in der »rationalistischen Entlarvung der Künste«." 1
» E s ist natürlich, daß er sich in seinen ansuchten über diese dinge mit der allgemein kirchlichen auffassung seines jahrhunderts deckt. Wenn er darum in seinem kämpf gegen den aberglauben nicht immer mit der notwendigen festigkeit und bestimmtheit auftritt, so müssen wir den grund hierfür darin suchen, daß er selbst schließlich auch nur ein kind seiner zeit war und nicht durchaus über deren anschauungen zu stehen vermochte. Jedenfalls aber hat er sich redlich bemüht, der Wahrheit und natürlichkeit aller Vorgänge auf die spur zu kommen. So ist Johann Hartliebs >puch aller verpotten kunst, vngelaubens vnd der zaubrey< also eines der ersten in deutscher spräche, in dem der verderbliche, unheilstiftende aberglauben dieser jahrhunderte mit großem eifer
6 7
und ebenso großer ausführlichkeit bekämpft wird.« (Ulm, S. V I ) Riezler, Hexen, S. 67. Drescher, Euph. 25, S. 356; vgl. auch die weniger abwertend formulierte Paraphrasierung bei Bolongaro-Crevenna, S. 5 7f., »Hofluft und Fürstengunst waren für ihn als Weltmann unentbehrlich«; der wohl deshalb Hartlieb nicht angreifen wollte, weil Hartlieb durch seine angebliche Beteiligung an den Judenverfolgungen gezeigt habe, daß er »zu den wenigen gelehrten Männern seiner Zeit von rassischem Empfinden« gehörte. Wiederum schärfer bei Schmitt, Diss, S. 2 2 7 , jene Widersprüche seien »nichts anderes als literarische Spiegelungen jener Höflingsgeschmeidigkeit, der er zum guten
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Teil seine Laufbahn verdankt.« Drescher, S. 357. Schmitt, Diss, S. 227.
ebd. " Schmitt, Diss, S. 2 3 i f f .
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Gerade die letztere basiere auf der kritischen Analyse des besonnenen Naturwissenschaftlers, wodurch Hartlieb manche Praktik auf ihre natürliche Grundlage reduziere und sie ihrer mysteriösen Aura entkleide. Dieses Nebeneinander von religiösem Glauben an die Wirkmächtigkeit des Teufels einerseits und rationalistischem Impetus andererseits mache die Ambivalenz des Werkes aus: »Der Anlauf zu einer rein rationalen Bekämpfung des Aberglaubens ist auf halbem Wege steckengeblieben; er ist aber immerhin bedeutsam genug«. 12 Schmitts Beurteilung des >Buchs< unterscheidet sich also trotz aller Differenzierungen im wesentlichen nicht von der seiner Vorgängerin Ulm; der Kampf gegen den Aberglauben ist für Schmitt als Ziel des >Buchs< auszumachen. Da Schmitt diesen Kampf - naturgemäß — als bestimmende Haltung bei den mantischen Traktaten nicht feststellen konnte, die ja gerade die Anleitungen zu den Praktiken geben, die Hartlieb in dem >Buch< bekämpft, mußte er sich fragen, ob hier ein Wechsel der inneren Haltung stattgefunden habe. Schmitt beobachtete, daß Hartlieb im >Buch< unterläßt, »auch nur mit einer Silbe zu gestehen, daß es ja seine eigenen Werke sind, über die er damit den Stab bricht«. Er konstatierte, daß Hartlieb den Inhalt seiner früheren Schriften nunmehr »gnadenlos« verurteile, daß dies einem literarischen Autodafe gleichzusetzen sei und daß letztlich die »religiöse Erregung«, die das >Buch< bestimme, eine solch deutliche Sprache rede, daß man eine »religiöse Wende« annehmen müsse, die Schmitt weiterhin mit dem Cusanischen Einfluß auf Hartlieb begründete. 1 ' Es ist festzustellen, daß bei allen Untersuchungen davon a u s g e g a n g e n w i r d , daß Hartlieb sich g e g e n »den A b e r g l a u b e n « stelle, daß er diesen »bekämpfe«, teils aus einer »rationalistischen« Haltung, teils aus »religiöser E r r e g u n g « . Da nach der g ä n g i g e n bibliographischen Erfassung des G e s a m t w e r k e s sich dann ein » W i d e r s p r u c h « ergibt zu den früheren mantischen Schriften, müssen Drescher und Schmitt die Idee einer »Wende« supponieren, u m diesen W i d e r s p r u c h lösen zu können. Hartlieb stellt sich dieser Auffassung nach dar als ein Zeuge des Beginns einer aufgeklärten Wissenschaft im ausgehenden Mittelalter, dessen rationalistischer Impetus g e g e n die abergläubischen Machinationen seiner Zeit nur überlagert w i r d von einer durch ein singuläres Erlebnis verursachten tiefreligiösen und dadurch letztlich irrationalen 11
Schmitt, Diss, S. 2 5 4 . Schmitt, Diss, S. 2 5 0 - 2 9 0 , im Kapitel »Die Ursachen der A b k e h r v o n den V e r b o t e nen K ü n s t e n « . Schmitt begründet dort die Vermutung, daß Hartlieb in der »plötzlichen« Ablehnung der mantisch-magischen Praktiken unter dem Einfluß des Cusaners gestanden habe, mit der an vielen Stellen verblüffenden Ubereinstimmung zwischen der Predigt >Ibant magi< des Nikolaus und dem >BuchBuchs aller verbotenen Kunst< muß also diese Punkte überprüfen: Ist die das >Buch< bestimmende Ablehnung magisch-mantischer Praktiken in der Tat in einer rationalistischen Aufgeklärtheit begründet oder wird sie aus einer anderen, etwa theologischen Kritik gespeist? Ferner: Ist das >Buch< wirklich Zeugnis einer geistigen Wende oder finden sich Indizien dafür, daß die dahinterstehende geistige Haltung schon weit früher für Hartlieb bestimmend war? Weiter: Wenn diese letzte Möglichkeit sich bewahrheitet, spricht dann die Tatsache, daß Hartlieb in der Beschreibung der von ihm abgelehnten mantischen Praktiken Auszüge seiner ihm zugeschriebenen mantischen Traktate verwendet, 14 nicht eher im Sinne einer stringenteren Deduktion dafür — auch und gerade angesichts der Ergebnisse, die von der Untersuchung der handschriftlichen Überlieferung zutage gebracht wurden —, daß die mantischen Schriften tatsächlich nicht von Hartlieb stammen?
3.1.
Begriff und Begriffssystematik: Aberglaube — Unglaube — Superstitio
Der in der Forschung verwendete Begriff des >Aberglaubens< ist nicht unproblematisch, da er einerseits in der mittelalterlichen Literatur nicht bekannt ist, 1 ' andererseits gegenüber den mittelalterlichen Begriffen Unglauben und superstitio, als deren neuhochdeutsches Äquivalent er gebraucht wird, ein differentes Begriffsfeld aufweist. Der Mitherausgeber des >Handwörterbuchs des Deutschen Aberglaubens< etwa legt über das dem HWdA zugrundeliegende Begriffsverständnis folgendermaßen Rechenschaft ab: »Aberglaube ist der Glaube an die Wirkung und Wahrnehmung naturgesetzlich unerklärter Kräfte, soweit diese nicht in der Religionslehre selbst begründet sind.«' 6 14
Vgl. die von Schmitt, Diss, S. z4y{{. vorgestellten sehr instruktiven Gegenüberstellungen von Auszügen des >Buchs< mit den entsprechenden Teilen der Namenmantik, des Mondwahrsagebuchs, der Geomantie und der Chiromantie. M Lexer kennt nur einen Beleg für abergloube und übersetzt mit >superstitioAberglaube< ist wiederum seine Übersetzung für ungeloube im Sinne von >superstitioBuch< die Begriffe Unglauben oder Ketzerei, um die von ihm verurteilten Künste zu bezeichnen. UnglaubejKetzerei verweist dabei antinomisch auf das Begriffsfeld des richtigen — christlichen — Glaubens, von dem sich der Unglaube durch abweichende Einstellungen scheidet. Gerade auf diese Abweichung weist Hartlieb zu Beginn seiner Exposition des ersten Teils hin: rechter cristenlicher gelaub ist ain wärs liecht der sei vnd fürt vnserm besten begern des ewigen lebens, vnd so wir das erlangen, so haben wir rui vnd rest, sunst njmmer rner, wann wir all^eitt stan jn sorghafftikait. der recht glaubent mensch soll all vngelauben, \aubrej, gespenst des tuiffels meiden, auch verbotten kunst fliehen vnd schuichen, wann der tusentlistig kunstler der hat vn^alber list vnd kunst, damit er verlaitt, verweißt vnd verfürt die menschen. (4,i4)21 Der Rahmen ist abgesteckt; Unglaube definiert sich über Glaube und ist von dem glaubent menschen zu meiden. Da aber eine solche Normierung unsinnig wäre, wenn Unglauben nicht prinzipiell gemieden werden könnte, bedeutet dies andererseits, daß die Hinwendung zum Unglauben im freien Willen des Menschen steht; und daraus folgt weiterhin: die eigentliche Gefahr, die für den Menschen in diesem Spannungsfeld von richtigem und falschem Handeln besteht, ist nach Hartlieb die, daß durch den Teufel der Mensch in seiner freien Entscheidung verführt, wenn nicht getäuscht ( v e r f ü r t vnd verweißt) wird. Hartlieb zentriert also Unglaube in einem Feld von Glaube und Sünde, freiem Willen und teuflischer Verführung. '' Der Inhalt des mittelalterlichen Systems der Astrologie kann nur dann als abergläubisch bezeichnet werden, wenn man aus dem Wissen der modernen Astronomie die dort entwickelten Abhängigkeiten der individuellen Konstitution v o n der Sternenkonstellation als nicht haltbar erkennt. Das erlaubt dann aber nicht, mittelalterliche Kritiker der Astrologie wie etwa Augustinus als Rationalist zu kategorisieren, weil für diese die Idee der nicht begründbaren, also nicht feststellbaren Kausalität für ihre Kritik nicht konstitutiv ist. 10 Auch die Denotation von >Aberglauben< als Volksglauben, wie sie verschiedentlich, etwa bei Grimm in der Deutschen Mythologie, den Begriffsinhalt festlegen wollte, würde hier in die Irre führen. 11 Ich zitiere im folgenden nach der Edition von Ulm mit Seiten- und Zeilenangabe.
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Es ist zu fragen, woher Hartlieb diese Begrifflichkeit bezieht, die ja aus theologischem Diskurs zu entstammen scheint. Er selbst verweist auf die Summa Theologica des Thomas von Aquin," und eben dort wird eine ähnliche Idee entwickelt: 2 ' »Alio modo potest intellegi infidelitas secundum contrarietatem ad fidem: quia scilicet aliquis repugnat auditui fidei, vel etiam contemnit ipsam [. . .] Et in hoc proprie perficitur ratio infidelitas. Et secundum in hoc infidelitas est peccatum.« 24 Daher hat der Unglaube seinen Sitz im Willen, »quia omne peccatum est voluntarium«; 2 ' da der Wille aber entweder von innen oder von außen bewegt werden kann, von außen aber außer von Gott nur von Seiten der Affekte, liegt nur hier die Möglichkeit des Teufels, zum Unglauben zu führen: »Et sie etiam angeli, inquantum possunt concitare hujusmodi passiones, possunt voluntatem movere, non tarnen ex necessitate, quia voluntas semper remanet libera ad consentiendum vel resistendum passioni«, der Teufel also, indem er Vorstellungen evoziert oder Affekte anreizt: »daemones non possunt immittere cogitationes, interius eas causando, cum usus cogitativae virtutis subjaceat voluntati: dicitur tarnen diabolus incensor cogitationum, inquantum incitat ad cogitandum, vel ad appetendum cogitata, per modum persuadentis, vel passionem concitantis.« 26 " U l m 7,19. *' Thomas von Aquin, ST II, II, q. 10. Thomas wird hier nicht beliebig zum Vergleich herangezogen; es wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen, daß Hartlieb Begriffsinventarium und Methode von Thomas übernimmt. Ich verwende im folgenden die übliche Zitierweise aus der Summa Theologica nach Teil, Quaestio und Artikel. Den Zitaten liegt die Ausgabe zugrunde: Divi Thomae Aquinatis ordinis praedicatorum doctoris angelici [. . .] Summa Theologica. Editio altera romana. Rom 1894. Mitherangezogen wurde: Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica. Ubersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Hrsg. vom Katholischen Akademikerverband. Bd. iff. Salzburg-Leipzig i934ff. Bei dieser Edition liegen allerdings die hier besonders interessierenden Bände zum thomistischen Superstitionensystem (ST II, II, q. 92ff.) noch nicht vor. i4 ST II, II, q. 10 (Utrum infidelitas sit peccatum), a. 1 [In einer anderen Weise kann der Unglaube gemäß seinem Gegensatz ζum Glauben vorgestellt werden: Wenn nämlich jemand dem Glauben, dem er folgen sollte, Widerstand leistet oder ihn sogar aufgibt. . . . Und in diesem Fall wird der Unglaube durch den Verstand bewirkt. Und demgemäß ist der Unglaube Sünde.] '' ST II, II, q. 10 (Utrum infidelitas sit in intellectu sicut in subjecto), a. 2 (ιveiljede Sünde aus i6
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dem freien Willen entspringt.] ST I, q. i n {Utrum angeli possint immutare voluntatem hominis), a. 2 [Und so können die Engel, insofern sie dieserart auch die Affekte anstacheln können, auch den freien Willen bewegen, dennoch aber nicht mit Zwangsläufigkeit, weil nämlich der Wille immer in der Freiheit verbleibt, den Affekten nachzugeben oder ihnen widerstehen. . . . Die Dämonen können nicht Vorstellungsbilder einpflanzen, die im Inneren des Menschen ihre Entstehung haben, weil der Gebrauch der Vorstellungskraft dem Willen unterliegt; gleichwohl kann der Teufel als Anstifter von Vorstellungen bezeichnet werden, insofern er z>u Vorstellungen oder z f » Begehr von Vorstellungen anreiht, indem er den Menschen überredet oder seine Affekte reizt.]
Thomas wird hier nicht ohne Grund zum Vergleich herangezogen; die thomistische Superstitionentheorie, die selbst wieder im wesentlichen von Augustinus abhängig ist, wird für die hoch- und spätscholastische Theologie verbindlich; 27 über die theologische Rezeption wird sie auch, wie unten zu zeigen sein wird, für die Anlage und die Intention von Hartliebs >Buch< bestimmend. Vorläufig ist festzustellen, daß Hartlieb demnach mit Thomas in der Frage übereinzustimmen scheint, daß die Entscheidung zum Unglauben nur in den freien Willen des Menschen gestellt ist, sie also prinzipiell nicht vollzogen werden muß und nicht notwendig ist; daß aber diese Entscheidung durch einen täuschenden Eingriff des Teufels stimuliert werden kann, auf diese Weise dieser also die Freiheit des Willens umgehen kann. Es fällt auf, daß in dem von Hartlieb gesetzten Begriffsfeld Unglauben und %aubrey nicht nur durch die parataktische Setzung eng zusammengehören, ζaubrey wohl als Genus des Unglaubens verstanden wird, sondern daß außerdem die Künste des Teufels sich nicht nur auf die Verführung zur Zauberei, sondern zum Unglauben insgesamt erstrekken. Auch diese Auffassung von einem Konnex zwischen Teufel und Unglauben, der sämtliche nicht- und >aberAberglauben< angelangt, 29 wenn nicht superstitio bei Thomas von Aquin ein fest" Vgl. dazu die Untersuchung von Dieter Harmening: Superstitio. Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters. Berlin 1979, S. 292—315. S. a. den Artikel >Aberglaube, Superstition im Lexikon des Mittelalters.
" ST II, II, q. 92 de superstitione. ST II, II, q. 92, a. 1: Sic ergo superstitio est Vitium religioni oppositum secundum excessum; non quia plus exhibeat in cultum divinum, quam vera religio; sed quia exhibet cultum divinum, vel cui non debet, vel eo modo non debet. [So also ist die Superstitio ein Mangel, der der Ausübung des Glaubens gemäß seiner Abweichung entgegengesetzt ist; nicht weil sie im gottlichen Kult ein Zuviel hat gegenüber der wahren Ausübung, sondern weil sie den göttlichen Kult dem erweist, dem er nicht zukommt, oder weil sie ihn in einer Weise ausübt, wie er nicht zukommt.] 19
Vgl. den Artikel ungeloube bei Lexer, der neben den Ubersetzungen >UnglaubeKetzerei< auch >Aberglaube< und >Superstitio< anführt. Interessant ist hier wie auch in dem Artikel abergloube, den er ebenfalls mit >Superstitio< übersetzt, daß durch die gemeinsame Rückführung von abergloube und ungeloube auf >Superstitio< die unten zu zeigende Differenz zwischen den Begriffen >Aberglauben< und >Unglauben< unterschlagen wird.
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gelegtes und verbindliches Begriffsfeld besitzen würde, das gegenüber der Denotation von >Aberglauben< wesentlich erweitert ist und das auch eine, im Vergleich zu dem oben explizierten nationalistischem Begriffsverständnis vollkommen unterschiedliche Kritik des Begriffsgegenstandes impliziert. Thomas unterscheidet zwei Genera des Unrechten Glaubens, den cultus divinus eo modo non debet, die Verehrung Gottes in einer das richtige Maß verletzenden oder ihm nicht zukommenden Weise,'0 und den cultus divinus cui non debet, die Verehrung der Abgötter und Teufel, denen diese Verehrung nicht zusteht. Diese Verehrung der falschen Götter differenziert er in drei species: Vel cut non debet exhiberi, scilicet cuiumque creaturae; et hoc est aliud superstitionis genus, quod in multas species dividitur secundum diverses fines divini cultus. Ordinatur enim, primo, divinus cultus ad reverentiam Deo exhibendam: et secundum hoc, prima species huius generis est >idololatriaobservationum< Die zweite Speeles, superstitio divinativa,'2 unterteilt Thomas in zwei Subspecies, die zweite Subspecies wird ebenfalls wieder zweigeteilt. Die erste Subspecies ist dadurch gekennzeichnet, daß daemones expresse invo-
Diversificantur ergo superstitionis species: primo quidem ex parte modi, secundo ex parte objecti: potest enim divinus cultus exhiberi, vel cui exhibendus est, scilicet Deo vero, modo tarnen indebito; et haec est prima superstitionis species. St II, II, q. 92, a. 2 [Die Species der Superstitio werden also so unterschieden: £um einen in Hinsicht auf das Maß, \um anderen in Hinsicht auf den Gegenstand: es kann nämlich der gottliche Kult dem, dem er erweisen ist, nämlich dem wahren Gott, in einer dennoch unerlaubten Weise entgegengebracht werden: und dies ist die erste Species der Superstitio.] '' ebd. [Oder sie wird dem erwiesen, dem sie nicht zukommt, nämlich seinem Geschöpf; und dies ist das andere Genus der Superstitio, das wiederum gemäß der verschiedenen Gebiete des göttlichen Kults in mehrere Species unterteilt wird. Zuerst nämlich gehört der göttliche Kult der Verehrung die Gott entgegenzubringen ist; und demgemäß ist die erste Species jenes Genus die Idolatrie, die unerlaubterweise die göttliche Verehrung dem Geschöpf erweist. Zum ζweiten gehört der Kult dem in dem der Mensch von Gott, dem er dient, unterwiesen wird; und da^u gehört die Superstitio divinativa, welche die Dämonen aufgrund der mit ihnen ausdrücklich oder stillschweigend geschlossenen Verträge befragt. Zum dritten gehört der göttliche Kult einer gewissen Führung des menschlichen Handelns gemäß den Absichten Gottes, der verehrt wird, %u; und da%u gehört die Superstitio gewisser Observationen.] >λ ST II, II, q. 9;, a. 3. JO
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cati sunt\ zu dieser Art der Divinatio zählt er Praestigium, Traumdeutung, Nigromantia, Divinatio per phytones, Geomantia, Hydromantia, Aeromantia, Pyromantia und Aruspicium. Das zweite Genus vollzieht sich absque expressa daemonum invocatione, indem man zum einen die Zukunft vorhersagen will in dispositionibus aliquarum rerum — dazu gehört die Astrologie, das Augurium, das Omen, die Chiromantie und die Spatulamantie —, zum anderen durch die Betrachtung irgendwelcher von dem Menschen erst hergestellter Dinge, quae ab hominibus serio fiunt ad aliquid occultum inquirendum. Hier führt er die Geomantie," das Bleigießen, beschriebene Zettel und anderes auf, das er alles als sortium bezeichnet. Die dritte Species, superstitio observantiarum,54 wird in vier Subspecies unterteilt: ars notoria, die Herstellung bestimmter Zeichen zur Erreichung etwa heilkräftiger Effekte, die Beachtung von guten und schlechten Zeichen und die Benutzung von Amuletten. Alle vier Genera werden als illicitum bezeichnet: Wesentlich für diese Einordnung ist, daß die benutzten und beachteten Zeichen tatsächlich nicht als Zeichen Wirkkraft besitzen, sondern erst durch die Benutzung zu Zeichen werden und auf diese Weise Kraft gewinnen; dies aber dadurch, daß aufgrund der Beilegung ihrer Zeichenhaftigkeit ein Dämonenpakt geschlossen wird." Thomas beruft sich hier, und auch in seiner Zusammenfassung der drei Species,' 6 auf die Lehre Augustins von dem Zeichencharakter des Dämonenpakts (pacta quaedam significationum).''1 Nach dessen Auffassung besitzen die Mittel superstitiöser Handlungen — wie sprachliche Zeichen, mit denen sie Augustinus vergleicht — faktische Kraft nicht per se, sondern gewinnen ihre Bedeutung erst als Zeichen innerhalb eines >KommunikationsvertragesAberglaubens< vermieden; stattdessen soll, unter Hinzielung auf die thomistische Denotation, >Superstitio< verwendet werden.
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5-2.
Der >Tractatus de superstitionibus< des Nikolaus Magni de J a w o r
Die Frage ist nun, ob Hartlieb in seinem >Buch< die offensichtlich theologische Begrifflichkeit, auf die er mit seinen Zitaten aus Thomas, sant Wilhelmus,4° Bonaventura4' und aus den namentlich nicht genannten hailigen doctored rekurriert, selbst aus diesen Autoren übernommen hat, wie es Ulm43 und Schmitt44 ohne weitere Verifikation annehmen, oder ob Hartlieb dieses theologische Wissen über eine andere Schrift vermittelt worden ist. Es liegt nahe, hier nach einem Werk des 15. Jahrhunderts über die von Thomas entwickelte Superstitio-Systematik 2u suchen, das Hartlieb hätte benutzen können. Ein Blick in die verschiedensten Kataloge der bestehenden Handschriftensammlungen zeigt sofort, daß ein Werk über die Superstitionen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine ungeheure Verbreitung besaß: es ist dies der >Tractatus de superstitionibus< des Nikolaus Magni de Jawor. Es wird zu zeigen sein, daß Hartlieb in weiten Teilen genau diesen Traktat zur Vorlage hatte. Magni hatte in Prag studiert und wechselte 1402 nach Heidelberg, w o er bis zu seinem Tod 1435 an der theologischen Fakultät lehrte. Seine Schrift ist in ihrer Wirkung über das 15. Jahrhundert nicht hinausgedrungen, sie wurde nie gedruckt; was wohl mit dem E r f o l g der inhaltlich und intentional ganz anders gelagerten Inquisitions-Instruktionen zusammenhängt, an deren Spitze der 1487 erfolgte Erstdruck des >Malleus maleficarum< steht. Erst E n d e des 19. Jahrhunderts hat sie A d o l p h Franz in seiner Monographie über den A u t o r Nikolaus Magni der Vergessenheit entrissen; 45 seit dieser Publikation allerdings ist sie für die Forschung kaum mehr zum Thema geworden. 4 6 40
Ulm, 13,23. Ulm, 7,19. 41 Ulm, 8,7. 4 » Ulm, S. L X I ff. 44 Schmitt, Diss, S. 210. 41 Adolph Franz: Der Magister Nikolaus Magni de Jawor. Ein Beitrag zur Literaturund Gelehrtengeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts. Freiburg 1898, S. 151—196. 46 Neben dem kurzen Exzerpt bei Hansen, S. 68-71, dem Artikel von Schmidt im alten Verfasserlexikon (Wieland Schmidt: Nikolaus von Jauer. V L 3, Berlin 1943, Sp. 583-588) und dem Referat bei Thorndike (Lynn Thorndike: A history of magic and experimental science. Vol. I V . N e w York 1934, S. 274—283. Thorndike ist von Franz abhängig, bietet aber zusätzlich in einem Appendix S. 6 8 3 ff. die Kapitelüberschriften des Textzeugen British Museum Harleian 3767.) ist nur kürzlich ein Aufsatz von Bylina über den >Tractatus< erschienen, der sich aber ebenfalls aus volkskundlicher Perspektive nur auf die von Magni erwähnten superstitiösen Praktiken beschränkt und den theologischen Diskurs nicht berücksichtigt (Vgl. Stanislaw Bylina: Licitum — Illicitum. Mikolaj ζ Jawora ο poboznosci masowej i zabobonach. In: Kultura elitarna a kultura masowa w Polsce poznego srednowiecza. Wrozlaw 1978, S. 137—153). 41
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Dies ist umso unverständlicher, als nach der Rezeption des >Tractatus de superstitionibus< diese Schrift für die theologische Diskussion im 15. Jahrhundert im Bereich der Superstitionen das Standardwerk gewesen sein muß; es ist erstens kein anderes Werk nachzuweisen, das mit einem solch enzyklopädischen Anspruch das Gebiet der Superstitionen scholastisch-deduktiv durchdringt und darstellt, und zweitens zeigt die Verbreitung der Schrift, die in fast jeder Bibliothek vorhanden war, daß sie zur theologischen Grundausstattung gehörte. Franz konnte in seiner Arbeit schon 5 8 Handschriften nachweisen, 47 Wieland Schmidt trug in seinem Artikel für das alte Verfasserlexikon noch einmal 19 Handschriften nach.4® Weitere Nachforschungen in Bibliotheken und Bibliotheks- und Antiquariatskatalogen haben die Zahl der bekannten Handschriften auf über 120 ansteigen lassen. Die Provenienzen führen dabei zumeist auf genuin klösterlichen, pfarramtlichen oder universitären Besitz zurück; wenige Handschriften nur stammen aus Privatbibliotheken. Die Überlieferung gibt also schon einen ersten Hinweis darauf, daß der >Tractatus< zu seelsorgerischem Gebrauch geschrieben wurde; theologische Systematik und pastorale Intention bestimmen nun tatsächlich Inhalt und Gliederung des >Tractatus de superstitionibusTractatus de superstitionibus< in diesem Umkreis zu situieren ist, daß er also zu pastoral-katechetischem Gebrauch dienen sollte. Dafür sprechen Aufbau und Rezeption des Traktats. Der Traktat ist in seiner Gliederung nicht nur scholastisch-deduktiv, sondern gleichzeitig didaktisch-induktiv aufgebaut. Magni baut mit seiner Argumentation einen Weg, der am Ende den Lesern die Augen dafür öffnen muß, daß jede Superstitio einen Pakt significationum cum daemonibus bedeutet. Aus der im ersten Teil erarbeiteten Prämisse, daß der Teufel nicht die Vernunft und nicht die Begierde, sondern nur die äußeren Sinne direkt beeinflussen kann, ergibt sich die Folgerung, daß der Mensch sich nur vor den Vorspiegelungen des Teufels zu hüten habe, da er diesem gegenüber seinen freien Willen und die eigene Verfügungsmacht nicht verlieren könne. Nach dieser Folgerung liegt also die eigentliche Gefahr darin, daß der Mensch, weil er zu nichts gezwungen werden kann, entweder freiwillig eine Handlung begeht, die er zwar in ihrem Charakter erkennt, deren Verbot ihm aber nicht bekannt ist - über diese Verbote klärt der zweite Subartikel des zweiten Hauptartikels auf —, oder daß er etwas begeht, von dessen Verbot er zwar prinzipiell weiß, das er aber aufgrund seines Unwissens oder aufgrund der Täuschungen des Teufels überhaupt nicht als diese verbotene Handlung durchschauen kann. Über diese zweite Gefahr, die natürlich die größere ist, klärt der dritte Subartikel des zweiten Hauptartikels auf. Es ist offensichtlich, daß hier die oben dargestellten impliziten Handlungsanweisungen des thomistischen Superstitionenbegriffs ausgeführt werden: Tertio est videndum, quot modis homines vtantur eius ministerio·, einen Dienst, von dem sie ja oft gar nicht wissen, daß er teuflisch ist. Nicht umsonst macht die Behandlung dieses dritten Punktes fast zwei Drittel des Traktates aus: Hier findet die eigentliche Auf" P. E g i n o Weidenhiller: Untersuchungen
zur deutschsprachigen katechetischen
teratur des späten Mittelalters. München 1 9 6 5 . ( M T U
Li-
10), S. 206. Vgl. auch Hans
Rupprich: D a s Wiener Schrifttum des ausgehenden Mittelalters. Wien 1 9 5 4 · (Österr. A k a d . d. Wiss. Philosoph.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 2 2 8 , 5 ) , S. I46ff.
106
klärung statt. Der Traktat informiert also zuerst über die Rolle des Teufels bei den Superstitionen, über seine Macht über die Menschen und seine Kraft bezüglich der Prognostikationen und Offenbarungen darüber der erste Subartikel des zweiten Hauptartikels —, dann, nachdem dieses >Rahmenwissen< vermittelt ist, legt er detailliert und Punkt für Punkt sämtliche bekannten Superstitionen und den jeweiligen teuflischen Eingriff dar. Eine solche Schrift über Superstitionen wäre, da sie eine Subspecies des Unglaubens behandelt, systematisch einzuordnen in die katechetische Darlegung des ersten Gebots:' 8 Wenn also der >Tractatus de superstitionibus< wirklich zum pastoral-katechetischen Gebrauch geschrieben worden ist, muß eine Überlieferung zu erwarten sein, die mit diesem Traktat auch andere pastorale und katechetische Texte, und dabei besonders zum Dekalog, versammelt. Dies ist in der Tat der Fall. Bis auf einige Handschriften, die auch antike, humanistische oder medizinische und naturwissenschaftliche Texte enthalten,'9 handelt es sich bei allen Codices um theologische Sammelhandschriften. Dabei überwiegen unter den Texten Predigten, Homilien, Bußbücher, katechetische Erläuterungen und Auslegungen. Die Autoren sind aus dem Kanon der Autoritäten hauptsächlich Augustinus, Thomas, Bonaventura und Albertus; ihre Zahl wird aber bei weitem übertroffen von den zeitgenössischen Autoren der >Wiener Schulen Um nur die beiden berühmtesten Namen zu belegen: '8 Daß dies tatsächlich der Fall war, zeigt sogar die volkssprachliche Überlieferung der Beichtsummen: In dem »Buch der Tugenden< (Vgl. >Das buch der tugendenWiderspruch< sich nur in Unkenntnis der Hartliebschen Abhängigkeit von der thomistischen Superstitionenkritik, die ihm über Magni vermittelt wurde, als Widerspruch zeigt, daß die Verbindung von Warnung und Aufklärung sich vielmehr als notwendige Konsequenz dieser Kritik ergibt. Die Untersuchung des zweiten Teils muß sich also darauf konzentrieren, wie diese Verbindung konkret umgesetzt wird, welche Rolle die Darstellung der Verbotenen Künste in Hartliebs Superstitionenkritik spielt. Hartlieb ordnet die Sieben Verbotenen Künste nach Nigramantia (15), Geomantia (27), Ydromancia (36), Aremancia (43), Pyromancia (49), Ciromancia (58) und Spatulamancia (67). Schmitt verweist auf ähnliche Ordnungsprinzipien, etwa bei Isidor und Thomas von Aquin, ohne allerdings eine direkte Vorlage für Hartlieb ausmachen zu können.92 Wir wissen jetzt, daß Hartlieb den Magnischen >Tractatus< benutzte; dort, in Übernahme von Thomas, findet sich auch die Anordnung dieser Künste. 93 Nach Magni gehört die erste Subspecies der DiSchmitt, Diss, S.
126.
»' ebd. ' ' Schmitt, Diss, S. 2 i 8 f f . Schmitt kann v o r allem die Spatulamantia in keiner der S y stematiken finden; nach seinen Untersuchungen werde sie zuerst bei Nikolaus v o n K u e s erwähnt. D a ß Nikolaus hier v o n T h o m a s abhängig ist, w u r d e schon oben angedeutet; demgemäß findet sie sich auch in der S u m m a ΙΙ,ΙΙ, q g ; , a3 wieder. " clm 5 3 3 8 , f. 5 3 8 - 3 5 9 ' ·
121
vinatio, welches per manifestam demonum inuocationem geschehe, den Nigromanten zu; darunter fallen Divinatio somniorum, Praestigium, Nigromantia, Phytonia, Geomantia, Hydromantia, Aeromantia, Pyromantia und Auruspicium. Das zweite Genus, quod est per solam considerationem motus alterius rei vel disposiciottis, wird von den Auguren betrieben und umschließt Astrologie, Fatum, Augurium, Omen, Chiromantia und Spatulamantia; zum dritten Genus, in dem etwas angeordnet wird, ut nobis manifestitur aliquam occultum, gehören die sortes. Daß Hartlieb die Reihenfolge der Sieben Verbotenen Künste hier übernommen hat, fallt ins Auge; warum aber gerade diese sieben von den insgesamt achtzehn angeführten, ist anscheinend darin begründet, daß er zwischen den explizit als >mantisch< bezeichneten Verfahren und allen anderen differenziert. Für ihn scheint nur die als >mantia< bezeichnete die eigentliche >kunstgemäße< Divination zu sein; Hartlieb gliedert daher aus der thomistischen Reihe erst einmal alle >mantischen< Divinationen aus. Seine oben erwähnte Ankündigung, von anderen vngelauben zu schreiben, differenziert demnach nach kunstgemäßen und einfachen Divinationen; die Ankündigung muß also in der richtigen Betonung gelesen werden: Darumb sammel vnd schreibe ich [. . .] am ersten die siben verboten künst [...], darnach alle andere des gleichen vngelaubens. Da das >Buch< mit der Behandlung der Spatulamantia abbricht, fehlen bei Hartlieb die bei Magni unter dem dritten Genus der Divination behandelten Sortes und auch all die Superstitionen der dritten Species, der Superstitio observantiarum. Folgt Hartlieb jetzt in den verbotenen Künsten weiter der Magnischen Systematik, was nach all dem vorhergehenden eigentlich zu erwarten ist, so muß er das Definiens der Superstitiosität eines jeden Genus übernehmen; Nigromantie und die vier >elementischen< Künste rufen den Teufel per manifestam invocationem\ Chiromantie und Spatulamantie beobachten die Bewegung und die Anordnung bestimmter Dinge, erlauben aber dadurch den Dämonen, se ingerare occulted Die erste Kunst, die Hartlieb nennt, ist die Nigromantie und aus dem Grund die aller böst, wann sy gät mit dem opffer vnd dienst, den man den tuiffeln tun muß (15,8). E r führt dies näher aus: Wer jn der kunst arbaiten will, der müß den tuiffeln maniger hannd opffer geben, auch mit den tuiffeln gelübt vnd verpintnuß machen; dann so sindjm die tuiffel gehorsam vnd verpringen den willen des majsters, als ferr jn das von got verhengt wirt. merck %way grosse vbel in der kunst: das erst, das der mayster müß sein opffer vnd %inß geben den tuiffeln, damit er gotes verlaugent vnd den tuiffeln anlegt götliche ere. wann wir allain
'"dm 5358, f. 339v. 122
got, der vns beschaffen hatt vnd mit seiner marter erarnet hat, opfern süllen. das ander das er sich verpint mit den tuiffeln, der dann ist der gröst veind aller menschait. (i5,io) Hier ist also der Teufelspakt ganz offensichtlich und explizit von dem Menschen gewollt; etwas diffiziler die Argumentation in den >elementischen< Künsten: Wie die kunst geomancia %ugange: [. . .] So der maister diser kunst an natürlicher kunst vnd synnen verzweifelt, so velt er jn ainen vngelauben vnd maint mit loß erfragen seinen willen, das ist swärlich wider got, wann was wir mit vnsern synnen vnd Vernunft nit erlangen mügen, so süllen wir allain anrüffen got den herren, der mag vnd kan vnser Vernunft vnd sjnn wol lernen vnd nyemant anders, ist aber der maister so an seinen synnen jrr vnd in seiner Vernunft also verdunckelt, das er anders dann got rat^frägt, so verhengt gott durch seinen vngelauben dem bösen tuiffel, der mist sich dann jn das lößen vnd vigur machen, vnd so der maister die vigur gemacht vnd sein synn darynn spitzt vnd scherpft, allerst ist der tewffel da jm einpläsen der frag entschaidung vnd sagt gar oft vnd vil wär vnd gleich (28,11) Prinzipiell treibt der Teufel in allen Elementen sein gespenst, die menschen S(u verlaitten (49,30), wobei der Teufelspakt auf drei verschiedene Weisen hergestellt werden kann: durch die unwissentliche Annahme der teuflischen Hilfe, wie es hier dargestellt wird; durch die Verehrung irgendwelcher Dinge, denen diese Verehrung nicht zukommt, durch Idolatrie also — es ist dir alles ain tottsünd, wann damitt treibst du abgöttrej (5 3,12) — oder durch die Benutzung irgendwelcher Zeichen oder Worte, deren Bedeutung nicht bekannt ist: es ist vast besorgen, das man mit sölicben vnkunden Worten mach vnwissentliche verdambnuß vnd glüp mit den bößen gaisten vnd tewfeln puntnuß macht (52,2). E s wäre hier zu ermüdend, alle diese Zeugnisse anzuführen; es ist aber festzuhalten, daß bei einer j e d e n superstitiösen Praktik der ersten fünf Künste Hartlieb immer wieder auf den jeweiligen Paktcharakter rekurriert. In jedem Fall handelt es sich, so Hartlieb, um eine explizite oder stillschweigende Anrufung der Dämonen, die durch eine Abwendung von Gott, durch Abgötterei oder durch die Benutzung von magischen Formeln geschieht; es werden also genau die Kriterien der ersten thomistischen Subspecies der Divination erfüllt. Anders die Ausführungen Hartliebs bei Spatulamantia und Chiromantia. Nach Thomas wird hier kein expliziter Pakt mit den Teufeln geschlossen, die Dämonen mischen sich allerdings occulte in diese K ü n ste ein. Hier argumentiert Hartlieb derart, daß ein oberflächliches Verständnis seine Vorgehensweise als rationalistisch im modernen Sinne verstehen könnte; so zeigt er etwa, daß aus den Linien der Hand nichts 123
auf den Charakter oder die Zukunft des Menschen zu schließen sein kann, da diese Linien von physiologischen Gegebenheiten abhängen: es ist ain besunder liny jn ains jeglichen menschen hannd, die haissen s j die lyni des lebens vnd wann die jßgewechst, so sol der mensch sterben, das sölich jr sag ain irrung vnd vngelaub sey, das merck dabj, wann die arbaitter mit den hertten henden der liny gar wenig haben, die dick auch sterben, auch so ligt das leben an den hennden nit, es ist an der c r a f f t des hert^ens; wann maniger lebt, der gar chain hannd hat. (64,25) Diese Argumentation dient aber dazu, daß dem Menschen offenbar wird, wie sinnlos der Glauben an die Kraft solcher Linien ist, und daß es weiter dieser Glauben ist, der dem Teufel einen Zugang zu dem Menschen verschafft. So auch bei der Spatulamantia: die kunst gät gar mit ainem spehen,främden list \u. vnd so jch alle kunst wol betracht, so hab jch noch nye kaine oder vngelauben funden, der mynder grunds hab, dann die kunst. %wär es ist ain gespöttische kunst. nur allain das der bös t u i f f e l die leuchten menschen in allen dingen an way gern vnd verlaitten gerächt, so wer pillich die kunst vnerdächt beliben. (67,25)
Nach Hartlieb wären also Chiromantie oder Spatulamantie vordergründig harmlos, da die Beilegung irgendwelcher Bedeutungen nichts ist als ein tand, da sie weder natürliche Ursachen haben noch wie in den anderen fünf Künsten die Dämonen herbeirufen. Tatsächlich ist aber die Beachtung von Bedeutungen, die nicht naturgemäß sind und bei denen es sich nicht, wie er an anderer Stelle zeigt, um göttliche Offenbarungen handelt, ein Abfall vom rechten Glauben, mithin vngelauben·. In diesem vngelauben liegt nun die Zugriffsmöglichkeit des Teufels. du mächst sprechen, seit nun die sach vnd deßgeleich ye nit ^u halten sind, wie synd sy dann vf komen, das die gemainen menschen also vast daran glauben? dar u f f antwurten die hailigen doctores, es sey etliche Raichen jn der natur, die dann regen oder schön bedew ten. die selben Raichen miigen välen, sy miigen auch geschehen. [. . .] Da aber der bös t e w f f e l , schedlicher veind aller menschait, die leuchtikait der menschen vernam vnd das sölichen Raichen mer nach giengen vnd vngelauben für rechte lieb gottes vnd sein gepott hielten, da mischet er sich jn die sach vnd gab dar^u stewr vnd h i l f f , wie die leüchtuertigen menschen noch bas jn die vngelauben vielen vnd darynn gar vnd gant\
versuncken. (75,23)"
Man sieht, daß in nuce der augustinische Gedankengang verwendet wird; nicht umsonst benutzt Hartlieb den Zeichenbegriff 96 und ver" Ähnliche Argumentationen finden sich öfter, etwa 28,12; 30,17; 39,5; 43,29; 47,4; 47,17; 50,20; 54,16; 60,15; 62,8; 65,25; 68,27; 69,6; 72,13; und passim. 56
In Anlehnung an Augustin: Die maister jn der kunst aremancia haben die Raichen des lufts nicht also vor jn, sunder sy mainent, das söliche Raichen jn sunder bedewten künftige ding vnd anders, das sy dann jn gehaym erfrägen vnd wissen wollen, damit betrügen sy sich selb, äch ander lewt, wann kurt\ jn der kunst ist kain grund noch warhait. (47,25)
124
weist auf den theologischen Diskurs. Wie oben ausgeführt wurde, fordert die augustinische Zeichentheorie und mit ihr die thomistische Superstitionenkritik als didaktische Konsequenz die Aufklärung über den doppelten, weil natürlichen und teuflischen Zeichencharakter einer jeden superstitiösen Praktik; für Hartlieb heißt dies konkret, daß er die naturgemäße Bedeutung eines Gegenstandes als Zeichen darlegen muß, um so jede andere beigelegte Bedeutung als superstitiös qualifizieren zu können. Das, was bislang in der Forschung als rationalistischer Ansatz mißverstanden wurde, ist also nichts anderes als die Forderung des augustinisch-thomistischen Superstitionenbegriffs; die bis ins Detail gehende und sich nationalistischen Argumentation bedienende Zurückweisung einer natürlichen wahrsagenden Kraft von Hand oder Schulterblatt dient keinesfalls dazu, Superstitionen als Aberglauben im heutigen Sinne zu >entlarvenBuch< zu eignen scheint.97 Zusammenfassend kann gesagt werden: Im zweiten Teil stellt Hartlieb sämtliche unter die Sieben Verbotenen Künste fallenden Supersti97
Daß der fragmentarische Charakter des >Buchs< nicht v o n einem Verlust in der Textüberlieferung herrührt, sondern tatsächlich zurückgeht auf den Abbruch der Arbeiten durch Hartlieb selbst, zeigt nicht nur die Tatsache, daß die drei Textzeugen des >Buchs< sämtlich an der gleichen Stelle abbrechen — dies wäre auch durch eine gemeinsame, bereits unvollständige Vorlage zu erklären —, sondern v o r allem auch, daß der Bruch genau zwischen zweitem und dritten Genus der Magnischen Systematik zu finden ist.
125
tionen vor; ihre detaillierte Beschreibung dient dem Zweck, die jeweilig vorhandene Art der superstitiösen Praktik sichtbar und damit abwendbar zu machen. Diese Intention ist genau diejenige des dritten Subartikels bei Magni; hier findet religiöse Aufklärung und Warnung statt. Was Hartlieb hier von Magni unterscheidet, ist das oft detailliertere Wissen Hartliebs um manche Praktiken und Schriften; dieses Wissen, das nach seiner Selbstaussage zum Teil vom Hörensagen, zum Teil aus eigener Forschung stammt, ordnet er in das Superstitionensystem Magnis ein, indem er nach den bei Magni verzeichneten thomistischen Differenzkriterien der zwei Divinationskategorien gliedert. Die Aufklärungsfunktion des zweiten Teils wurde im ersten Teil des >Buchs< theologisch begründet; der didaktische Aufbau des ersten Teils zielt auf eine Schärfung des Blickes für die Notwendigkeit einer solchen Aufklärung. Insgesamt stellt sich das >Buch< also als eine aufklärende Schrift dar, die die pastoral-katechetische Intention des >Tractatus de superstitionibus< übernimmt; dabei den thomistischen theologischdämonologischen Diskurs, der auch dem >Tractatus< zugrundeliegt, in einer didaktisch aufbereiteten Auswahl dazu benutzt, ein Kategoriensystem der Superstitionen zu entwickeln und dem Markgrafen zu vermitteln. Innerhalb dieses Systems werden dann die Hartlieb bekannten superstitiösen Praktiken analysiert und ihre Superstitiosität für Johann, der nach der Aussage des Prologs besonders gefährdet gewesen sein soll, durchschaubar gemacht. Man sieht, daß Hartlieb sich mit der Abfassung des >Buchs< in theologischem Kontext bewegt; daß außerdem die pastorale Intention des >Buchs< Aufklärung über Superstitionen, d. h. über den jeweiligen Eingriff des Teufels verlangt. Es wurde schon auf die intentionale Nähe des Magnischen >Tractatus< zu den katechetischen >Aberglaubenslisten< hingewiesen; so wie diese Listen sicherlich nicht Wissen über die Ausübung von Superstitionen vermitteln wollten, sondern Wissen über ihre Sündhaftigkeit, so wird auch, nach der Anlage des >Buchs< zu urteilen, niemand mehr Hartlieb unterstellen wollen, daß es ihm um die Darstellung der Superstitionen selbst gegangen sei. Das >Buch< sollte aufklärend warnen: daß gewarnt werden mußte, begründet sich für ihn aus theologischem Diskurs und ist veranlaßt durch die akute Gefahrdung des Fürsten und durch dessen Unkenntnis der lateinsprachig geführten dämonologischen Diskussion. Das >Buch< ist also kaum als Anleitung zum Aberglauben unter theologischem Deckmantel zu verstehen; es ist vielmehr ein Versuch der Vermittlung theologischen Wissens für einen in seiner Glaubensfestigkeit gefahr126
deten laikalen Empfanger. In dieser Funktion gleicht es den Übersetzungswerken der Wiener Schule; daß die Vorlage Hartliebs selbst aus der Nähe zur Wiener Schule stammt, macht den Nachweis der pastoralen Intention des >Buchs< nur umso zwingender.
3.4.
Die sogenannte Wende
Angesichts der Tatsache, daß das >Buch< als pastoral intendierte, sich theologischen Diskurses bedienende Aufklärungsschrift charakterisiert werden konnte, muß die Stellung Hartliebs zu den ihm zugeschriebenen mantischen Schriften neubewertet werden. Da Hartlieb schon 1441 als herzoglicher Ratgeber in der von der Wiener Theologie beeinflußten Klosterreform eine bestimmende Funktion innehatte, muß ihm auch zu dieser Zeit schon eine tiefere Vertrautheit mit der theologischen Diskussion unterstellt werden; wohl auch eine Kenntnis von Texten aus der Wiener Schule. Selbst wenn dies aber nicht der Fall war, wird er in der folgenden Zeit durch den Kontakt mit Johann von Indersdorf und natürlich auch in seiner Funktion für Albrecht III., der nicht umsonst den Beinamen >der Fromme< trug, mit scholastisch-theologischem Diskurs in Berührung gekommen sein. Den >Tractatus< Magnis kannte er ja offensichtlich; und andere theologische Texte wurden ebenfalls in seiner Umgebung gelesen.98 Die Untersuchung des Rezeptionsganges des >Tractatus de superstitionibus< hat gezeigt, daß dieser hauptsächlich mit Texten der Wiener Schule überliefert wurde; über das Basler Konzil einerseits, über die von Melk bestimmte Klosterreform andererseits ist schon in den dreißiger und vierziger Jahren eine große Anzahl von Abschriften des >Tractatus< in die bayerischen Klöster gelangt." Den >Tractatus< hätte Hartlieb hier kennenlernen können; in Indersdorf ist er viermal vorhanden, 100 in Andechs zweimal. 101 " V g l . K a p . 5. " In den bayerischen Klöstern haben, über den Einfluß v o n Tegernsee (Vgl. Redlich, S. 8—34, über die Beziehungen zwischen Wien und den bayerischen Klöstern. Redlich, S. 3 j weist darauf hin, daß allein die Schriften des Nikolaus v o n Dinkelsbühl drei Seiten des Tegernseer Bibliothekskataloges v o n 1 4 8 3 füllten [ A b g e d r u c k t M B D 4,2, S. 821—823]), sehr schnell Texte der Wiener Schule E i n g a n g gefunden. Hier interessieren die mit Hartlieb verbundenen Klöster Indersdorf und Andechs: von den heute in der B S B unter den Signaturen clm 7401 bis clm 7 8 4 7 befindlichen 4 4 7 ehemaligen Indersdorfer Handschriften enthalten 25 Codices Schriften v o n Nikolaus v o n D i n kelsbühl und 23 Werke von Heinrich v o n Langenstein. In drei Handschriften befindet sich die >Lectura mellicensis< des Nikolaus v o n Dinkelsbühl, also das R e f o r m p r o gramm des Mutterklosters Melk (vgl. Madre, S. 1 1 7 ) , in mindestens zehn
Hand-
schriften sind Predigten v o n ihm überliefert. Ähnlich ist der B e f u n d in Andechs, das v o n Tegernsee aus beschickt w u r d e (clm 3 0 3 4
127
Die Annahme einer geistigen Wende, die zum Abfall von den mantischen Künsten und zur Identifikation mit den Ideen der Theologie geführt hätte, würde implizieren, daß Hartlieb erst um 1450 diese Diskussion kennengelernt oder sie vorher zumindest ignoriert hätte; eine Annahme, die schon angesichts des religiös bestimmten Klimas am Münchner Hof und in den Münchner Intellektuellenkreisen, auch natürlich angesichts der etwa durch seine Kapellenstiftung bezeugten eigenen religiösen Haltung wenig wahrscheinlich ist. Aber diese Annahme wird auch explizit von den Zeugnissen Hartliebs über seine Einstellung zu den verbotenen Künsten in dem >Buch< selbst widerlegt. Hartlieb berichtet an mehreren Stellen von Erfahrungen mit Wahrsagern, Hexen oder anderen Mantikern, die zum Teil schon lange vor dem angenommenen Zeitpunkt seiner »Wende« liegen. Diese Erfahrungen sind durchgängig von zwei Einstellungen geprägt: von wissenschaftlichen Neugier auf die Verfahrensweisen superstitiöser Praktiken und von der aus dem Wissen um deren Sündhaftigkeit eingehaltenen Distanz zu den Praktiken selbst. Die meisten dieser Zeugnisse sind schon durch die biographische Auswertung bekannt: es sind dies die Hexen-Episode 1423 in Rom (21,3), die Hexen-Episode 1447 in Heidelberg (22,10), die undatierte Wahrsagerin-Episode (62,16) und die Deutschordensmeister-Episode 1455 (74,22). Als Beispiel hier nur die Hexen-Episode 1447: Hartlieb befindet sich im Auftrag Albrechts bei Pfalzgraf Ludwig IV., als ihm die Gelegenheit geboten wird, eine eingekerkerte, der Wettermacherei beschuldigte maistrin nach ihrer Kunst zu befragen. Sie will ihn unterrichten, er müsse aber Gott abschwören und mit den Teufeln paktieren. Hartlieb lehnt ab: jch sagt der frawen, das jch der sach kaine tun wölt, wann jch vor geredt hett, mächt sj mir sö/ich kunst mit tailen, das ich gott nicht erzürnet auch wider cristenlichenglauben nit tätt (23,18). Die Vermutung, daß dies eine in der Retrospektive vorgenommene Stilisierung früheren Verhaltens sein könnte, wird durch Datierung und Personennennung verneint, denn dadurch wird diese Episode für den Adressaten nachprüfbar und authentisch; Hartlieb warnt also schon 1447 mit der gleichen Argumit dem Traktat >de Vii vitiis capitalibus< des Nikolaus wurde 1457 von Sigismund Schrötinger, Profeß in Tegernsee, geschrieben). Von den 1 3 2 Hss (clm 3001 - 3 1 3 2 ) enthalten 12 Hss, also ca. 1 0 % , Werke von Nikolaus von Dinkelsbühl, 9 Hss Schriften von Heinrich von Langenstein. Clm 3066 enthält die >LecturaBuch< tut. Auch an anderen Stellen des >Buchs< verweist Hartlieb auf sein >lebenslanges< Interesse an der Erforschung superstitiöser Praktiken: hütt dich vor sölichen vnkunden u/orten, wann wer waiß, was sy bedewten. der wort haißt ains Ragel.jcb hab grossen fleiß mein tag gehebt, so liehe wort künden vnd hab gefragt manige diet als juden, die wort wären jn nit kunt. jeh hab gefrägt kriechen, tartern, dürcken ir ärt^t vnd sternsecher,jch hab auch gefrägt die jüdin, das jeh mocht nye erfragen, was die wort bedewten. es ist \u besorgen, als jeh verstän, die wort machen gesellschaft vnd verpuntnuß mit den tewfeln, als jeh dann vor oft berürt hab. (5 2,8)'°2 Aufschlußreich bei dieser und anderen über das >Buch< verstreuten Bemerkungen ist, daß bei Hartlieb wohl schon immer Interesse an superstitiösen Praktiken vorhanden ist; daß er aus diesem wissenschaftlichem Interesse jedoch Praktiken nur untersucht, sie aber nicht betreibt, da er um ihre Gefährlichkeit und Sündhaftigkeit weiß. Die Ambivalenz seiner Haltung superstitiösen Praktiken gegenüber ist die Ambivalenz des Forschers, der verbotenes Terrain untersuchen will: er muß dies von außen tun, weiß dabei, daß Grenzen vorhanden sind, kennt aber nicht ihren Verlauf. Hartliebs Neugier ist also immer schon eingebunden in den ihm bekannten dämonologischen Diskurs; es gilt für ihn, bei jeder Praktik zu überprüfen, ob sie Superstition sei: er hofft, solche Praktiken derart kennenzulernen, das ich gott nicht erzürne·, das >Buch< ist auch das — negative — Ergebnis seiner Forschung. All das spricht dagegen, das >Buch< als Ergebnis einer wie auch immer gearteten Wende zu interpretieren; die Haltung des >Buchs< ist gekennzeichnet von langjähriger Kontinuität. Das bedeutet aber, daß Hartlieb nie Anleitungen zu Superstitionen geliefert hat, spricht er doch davon, daß selbst die spielerische, zweckfreie Ausübung dieser Künste sündhaft sei. Allerdings hätte er auf der anderen Seite durchaus selbst Anleitungen abschreiben und sammeln können, da er sie nicht ausübte: denn nach der thomistischen Superstitionenkritik gewinnen die Dinge erst dadurch eine superstitiöse Dimension, daß ihnen eine nicht naturgemäße Bedeutung beigelegt wird, wenn sie also realiter als Zeichen gesehen werden. Das tut Hartlieb jedoch nicht, wenn er sich nur — als Forscher — auf einer Metaebene mit diesen Zeichensystemen befaßt, oder wenn er, um hier den augustinischen Vergleich wieder aufzugreifen, zwar die Wörterbücher und Grammatiken sammelt, die Sprache aber nicht spricht. 101
Ähnliche Hinweise auf langjährige Forschung< 61,20 und 66,6.
I 29
3·5·
D i e mantischen Schriften
Was heißt dies für die ihm zugeschriebenen mantischen Schriften? Das Interesse Hartliebs ist sicherlich, das beweisen seine über das >Buch< verstreuten Bemerkungen, das eines analysierenden, aber zum Objekt seiner Analyse Distanz haltenden Forschers. Gerade der Forscher aber benötigt sein Objekt - auch Magnis Traktat etwa ist sicherlich ohne die Kenntnis superstitiöser Praktiken nicht zu denken —, und als Objekte seiner Studien wird Hartlieb mantische Schriften gesammelt, unter keinen Umständen aber als Anleitung verfaßt, übersetzt und weitergegeben haben. In der Perspektive dieser Folgerung fügen sich alle Äußerungen und Zusätze in den mantischen Schriften zu einem harmonischen Bild. Daß die Geomantie als collecta Johannis Hartliepp bezeichnet wird, spricht für den Gedanken, daß sie von ihm nur gesammelt worden ist. Nicht ganz so eindeutig ist die Situation bei der Namenmantik; die Tatsache, daß die Wiener Handschrift aus dem Besitz Hartliebs selbst stammt, hat zu der Frage geführt, ob der Text der darin aufgezeichneten Namenmantik vielleicht von einem anderen Hartlieb herrührt. Wenn dies der Fall ist, scheidet Johannes Hartlieb allemal als Verfasser aus und wäre eindeutig als Sammler charakterisiert; wenn diese Annahme aber nicht trifft, dann müßten sich die Zuschreibungen auf ihn beziehen: es hat Hanns Hartlieb diese tauel eye sammen gefüegt oder so hab ich, Hanns Hartlieb, gesamlet dis% dauelen. Auch in diesem Fall sprechen die Zuschreibungen nicht von einer Übersetzung. Höchst interessant ist nun der Vermerk in egm 795 8, so ich hanns hartlieb Er same It dise tauein Ain säliger frumer christen menschen sol darijn chainen gelauben haben Sunder all sein tun vnd lassen set^ jn got den almächtigen der wallt aller sach vnd nicht künst das rätt hartliepp allen chünstern. Hier erscheint die >normierte< Schreibung des Hartliebschen Namens für den Sammler und die autographe Schreibung Johannes Hartliebs für den >Warnerunser< Hartlieb, setzt die Warnung dazu, die so auch in dem >Buch< zu finden ist und die seine Haltung zu den superstitiösen Praktiken bestimmt. Wie immer man aber auch letztendlich die Frage mehrerer Personen gleichen Namens entscheiden will: in der Namenmantik ist ebenso wie bei der Geomantie eindeutig nur von einer Sammlung Hartliebs die Rede, wobei die Rezeptionsmöglichkeit der Texte im warnenden Sinne des >Buchs< festgelegt wird. 130
Anders bei dem Mondwahrsagebuch; hier wird tatsächlich davon gesprochen, daß Hartlieb den Text übersetzt habe. Hartlieb wird das Mondwahrsagebuch gekannt haben, wie die Charakteristik in dem >Buch< zeigt; ob allerdings er oder Johannes de Gruningen der Übersetzer war, muß unentschieden bleiben. Wenn er, wie es oben vermutet wurde, zu diesem in verwandtschaftlichem Verhältnis gestanden hat, könnte Johannes Hartlieb de Gruningen als Übersetzer, Hartlieb selbst als Besitzer in Anspruch genommen werden. Die Entstehungszeiten der Textzeugen, die mit der Lichtenberger-Handschrift frühestens von 1474, also nach Hartliebs Tod datieren, lassen es als wahrscheinlich scheinen, daß es sich um Abschriften eines Textes aus Hartliebs Bibliothek handelt. Dafür spricht auch der Vermerk in der Wolfenbütteler Handschrift, welcher der Warnung gleicht, die der Namenmantik beigestellt ist: vnd will oucb das nieman mitdeilen.10'' Schließlich die Chiromantie, an der sich für Wierschin die Frage der Echtheit der mantischen Schriften entzündet hatte. Trotz seiner philologisch genauen Untersuchung des handschriftlichen Textzeugen kann letztlich, wie oben gezeigt wurde, seinem Ergebnis allein mit den von ihm vorgebrachten Argumenten nicht zugestimmt werden; es sprechen jetzt aber zwei weitere Punkte dafür, daß die Chiromantie nicht von Hartlieb geschrieben ist. Der erste ist natürlich die Haltung Hartliebs zu dieser Divination, die er nach eigenem Zeugnis auch schon vor der Abfassung des >Buchs< eingenommen hat. Der zweite ist das geistige Klima am Münchner Hof: Es ist einfach nicht vorstellbar, daß der Gemahlin des Herzogs, die bezüglich des religiösen Lebens eine nachweislich streng-fromme Haltung einnahm, von dem Ratgeber des Herzogs in Fragen eben des religiösen Lebens ein Text aus einer Wissenschaft übersetzt wurde, die schon bei Thomas strengstens verurteilt war. Man muß bei der Chiromantie annehmen, daß hier aus Gründen der Verkaufsförderung wie auch bei anderen Frühdrucken ein bekannter Name eingesetzt wurde; die Datierung der Handschrift wie auch des Druckes nach Hartliebs Tod sprächen für solch eine posthume Zuschreibung. Es mag sein, daß Hartliebs Ruf als Kenner der Superstitionen, wie er sich in dem >Buch< manifestiert, dazu verlockt hat. Es 10
' Den anschließenden Teil er sig dann ein liebhaber der kunst, wann es ist ein loblicher schaff der naturen mit wenig wortten möchte ich mit einer — zugegebenermaßen gewagten — Spekulation als Hinzufügung des Schreibers Johannes Lichtenberger interpretieren. Lichtenberger war selbst Astrologe, insofern sicherlich von einer anderen Einstellung den mantischen Künsten gegenüber bestimmt als Hartlieb; wenn Hartlieb also die Ausübung der >Kunst< insgesamt verbietet, muß Lichtenberger dieses Verbot aufweichen: »Es sei denn, ein Kenner beschäftigt sich mit dieser Kunst.«
I3 1
wäre ihm dann so ergangen, wie es wohl bei manchen mantischen Schriften des Mittelalters aus Gründen der Legitimation üblich war und wie es Hartlieb in dem >Buch< von Albertus Magnus und von Thomas sagt: Albertus vnd Thomas haben äch von den pilden vnd him Iisehen einflussen geschriben, als man sagt das alles verpoten ist, doch gelaub ich je nit, das solich hochgelert doctores solich torhait vnd vngelauben geschriben haben, jeh main gent^lich das es jn %ugeset%t s e j . (17,26)
Schaut man alle Argumente zusammen, die Schmitt, Wierschin und diese Untersuchung bringen, und bedenkt man vor allem die Intention des >BuchsBuchs< mit den mantischen Texten. Kenntnis dieser Texte hat Hartlieb sicherlich gehabt, ohne diese Kenntnis wäre das >Buch< nicht vorstellbar. Diese Folgerung ergibt das stringentere Curriculum vitae, das ohne die abenteuerliche Spekulation auf eine religiöse Wende oder einen »Höflings«-Charakter auskommt; und sie zeichnet das Bild eines religiös geprägten Mannes, der nur so in dieser exponierten Position am Münchner Hof vorgestellt werden kann.
132
4·
Die Münchner Werkgruppe: Erwartungshorizont und Rezeptionsvorgabe
4.0.
Methodologische Vorbemerkung
Nach dem bisherigen Verlauf der Untersuchung ist Hartlieb die Verfasserschaft an den drei mantischen Werken >ChiromantieGeomantieNamenmantik< und an dem astrologischen >Mondwahrsagebuch< abzusprechen. Das >Bäderbuch< stammt ebenfalls sicherlich nicht von ihm; über die >Kunst der Gedächtnis< ist kein endgültiges Urteil zu fällen. Das >Kräuterbuch< ist nichts anderes als eine Kompilation, die sich hauptsächlich des >Buchs der Natur< von Konrad von Megenberg bedient; die beiden medizinischen Texte in der UB Graz und in Venedig sind wohl auch nur Abschriften oder Kompilationen. Es bleiben der >AlexanderromanDialogus miraculorumBrandanlegendeSecreta mulierumDe amore deutsch< und natürlich das >Buch aller verbotenen KunstBuchs< für einen Nicht-Münchner Adressaten. Außerhalb dieser, vorerst nur durch ihren Entstehungsort zusammengehaltenen Reihe ist nur die Übersetzung des >de amoreDialogus miraculorum< durch Dieter Harmening: Hartlieb sei mit seiner Übersetzung »sicherlich verspätet«: »längst hatten die Humanisten das literarische Feld bestellt, sich auch der literarische Geschmack wesentlich verändert.« 1 Daß, unabhängig von dem literarischen Geschmack 1
Dieter Harmening: Johann Hartlieb. Die Übersetzung des Dialogue miraculorum. In: 13
3
der Zeit, der sicherlich auch in dieser Eindeutigkeit schwer aufzufinden ist, die Funktion des Werkes in einer historischen Gebrauchssituation einen spezifischen Stil erforderte, kommt hier nicht in den Sinn. Im Gegenteil werden, wie es auch die Analyse des >Buchs aller verbotenen Kunst< gezeigt hat, aus heutiger Perspektive Kriterien angewandt, v o n denen man annimmt, daß ihnen die Werke gehorchen, ehe noch die Rolle der Werke in ihrer faktischen Gebrauchssituation überhaupt erst untersucht worden ist.
Der Weg der Forschung nahm also immer die falsche Richtung: Sie ging von einem schon festgelegten Gattungs- und Bewertungssystem aus und ordnete hier die einzelnen Werke Hartliebs bezüglich ihrer Gattungszugehörigkeit, ihres Stils und ihrer Modernität ein. Exemplarisch steht hier das >Alexanderbuchbreiten behaglichen< Erzählstils2 verdient ihm das Etikett der Volkstümlichkeit und die Zugehörigkeit zu den Volksbüchern des 15. Jahrhunderts. Gerade der Begriff des >Volksbuches< aber nimmt, wie Hans Joachim Kreutzer gezeigt hat, eine Kategorisierung vor, die ein Konstrukt der Forschung des 19. Jahrhunderts ist, nicht aber den literarischen Gegebenheiten des 15. Jahrhunderts entspricht.' Alle Arbeiten, die die Einordnung des >Alexanderbuchs< in diese Kategorie nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern sie sogar zur Grundlage der eigenen Untersuchung machen, setzen daher prinzipiell einen Schritt zu spät an.4 Es zeigt sich also, daß die das Urteil der Disparatheit begründende Kategorisierung auch dann zu Fehlurteilen führt, wenn eine Konsistenz schon erreicht scheint. Dies bedeutet für den weiteren Gang der Arbeit, daß der Weg der Untersuchung umzukehren ist. Nicht mehr ist zu fragen, in welche Gattungen die Werke Hartliebs einzuordnen sind, sondern es sind die Werke auf ihre Gemeinsamkeiten oder Differenzen hin zu analysieren. Eine solche Analyse kann trotzdem nicht vorspiegeln, sie nähere sich gleichsam mit leeren Händen einer terra incognita·, sie muß sich also ihres Frageinteresses wie des dazu eingesetzten Instrumentariums vorher versichern. Bayerische Literaturgeschichte in ausgewählten Beispielen. Mittelalter. Hrsg. v o n Eberhard Dünninger und Dorothee Kiesselbach. München 1965. S. 368—383; hier S. 373. 1 So etwa Poppen, S. 1. ' Hans Joachim Kreutzer: D e r Mythos v o m Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik. Stuttgart 1977. 4 Vgl. dazu unten K a p . 4.1.1.
134
Die Analyse des >Buchs aller verbotenen Kunstx hat gezeigt, daß die Gebrauchssituation, für die das >Buch< geschrieben wurde, nur zu erfassen ist, wenn der komplexen Verschränkung von Autorintention, Erwartung des Auftraggebers und der zwischen beiden vermittelnden Struktur des >Buchs< wie schließlich auch des zeitgenössischen Rezeptionskontexts ähnlicher Literatur nachgegangen wird. Wird nur eine dieser Dimensionen außer acht gelassen, ist der funktionale Charakter des Werks nicht mehr zu erkennen. Es soll also für die weitere Untersuchung davon ausgegangen werden, daß die spezifischen Eigenarten der Hartliebschen Werke in der Münchner Zeit sich einer Prägung verdanken, die auf die Interessen des Münchner Hofs und auf die darauf erfolgenden Reaktionen Hartliebs, eben der besonderen literarischen Kommunikationssituation in München zurückgeführt werden kann. Die Frage, die sich stellt, ist, wie diese spezifische Kommunikationssituation zu erfassen ist, für die die Werke Hartliebs ja nur einen Teil ausmachen; eine Frage, die umso schwerer zu lösen ist, als auf der anderen Seite nur über diesen Teil die Kommunikationssituation sich manifestiert. Von H. R. Jauß ist der Begriff des >Erwartungshorizonts< in die Literaturwissenschaft eingeführt worden.' Dieser Begriff kann hier als heuristische Kategorie fruchtbar gemacht werden, wenn man ihn nicht nur, wie letztendlich Jauß, dazu benutzen will, die ästhetische Distanz zwischen Autorintention und Rezeption auszuloten und damit die ästhetische Qualität eines Werkes zu erfassen. 6 Denn anders als in der nach-klassischen Literatur, an der das rezeptionsästhetische Modell entwickelt worden ist, kann im Spätmittelalter kaum von einem Text als autonomen Kunstwerk gesprochen werden; wie Hugo Kuhn in seinem >Versuch über das 15. Jahrhundert^ konstatiert hat, sei dies »das Zeit1
Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1970. S. 144—207; hier S. 189.
6
Expressis verbis ausgedrückt in der dritten These: » D e r so rekonstruierbare E r w a r tungshorizont eines Werkes ermöglicht es, seinen Kunstcharakter an der A r t und dem G r a d seiner W i r k u n g auf ein vorausgesetztes Publikum zu bestimmen. man den Abstand zwischen dem vorgegebenen
Erwartungshorizont
Bezeichnet
und der
Er-
scheinung eines neuen Werkes, dessen A u f n a h m e durch N e g i e r u n g vertrauter oder Bewußtmachung erstmalig ausgesprochener E r f a h r u n g e n einen >Horizontwandel< zur F o l g e haben kann, als ästhetische Distanz, so läßt sich diese am Spektrum der R e a k tionen des Publikums und des Urteils der Kritik [. . .] historisch vergegenständlichen.« (Jauß, S. 1 7 7 ) 7
H u g o K u h n : Versuch über das 1 5 . Jahrhundert in der deutschen Literatur. In: K u h n , E n t w ü r f e zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. T ü b i n g e n 1980. S. 7 7 — 1 0 1 ; hier S. 7 7 .
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alter der Übersetzungen, Bearbeitungen, Adaptionen - so sehr, daß alle Text-Konstituenten geradezu in diesem Verbrauch unterzugehen scheinen«. 8 Die einzelnen Rezeptionsrealisate gewinnen so ihren eigenen Status, der unabhängig ist von der Autorintention, sondern bestimmt wird von der Funktion, unter der ein Text von den Rezipienten gelesen wird und die zu dieser Zeit weniger ästhetisch denn lebenspraktisch ist. 9 Kuhn will in der Folge die traditionelle Gattungssystematik durch einen Komplex von Funktionstypen ersetzen; er scheint mir aber zu weit zu gehen, wenn ihm bei der Fixierung auf die Überlieferung eines Textes die Dependenz von Autor und Rezeption aus dem Blick gerät, der Autor nicht feste Größe sein soll, »weder von ihm selbst aus noch für die Rezeption in ihren Funktions-Ansätzen«. 10 Denn wie immer auch in einer spezifischen Gebrauchssituation ein Text gelesen wird, kann doch der Autor durch eine Rezeptionsvorgabe darauf Einfluß zu nehmen versuchen. Deutlich wird die Verengung der literarhistorischen Perspektive durch die Ausrichtung auf die Überlieferung allein in der Kuhnschen Erwähnung des Hartliebschen CEuvres, von dessen »verschiedenartigen Arbeiten« — auch hier wieder der Hinweis auf die angebliche Disparatheit des Werkes! — »jede ihren eigenen Überlieferungsweg ging«." Eine solche Behauptung richtet den Blick nur auf das, was ich im folgenden als Sekundärrezeption bezeichnen möchte: die Überlieferung, die aus der ursprünglichen Kommunikationssituation zwischen Autor und Auftraggeber, der Primärrezeption, herausgetreten ist. Eine solche Verschiebung des Blickes auf die Sekundärrezeption, die allerdings auch von der Tatsache, daß zum größten Teil nur diese noch manifest ist, geradezu herausgefordert wird, kann natürlich die ursprüngliche Kommunikationssituation weder sehen noch erfassen. Gerade hier hat aber die Jaußsche Kategorie des Erwartungshorizonts und die ihrer Steuerung durch die Rezeptionsvorgabe des Autors in ihr Recht zu treten; sie ist allerdings dahingehend zu korrigieren, daß die Erwartungen, die den Hartliebschen Texten — so wie nach dem 8 Kuhn, S. 79. ' Eine solche Dichotomie von Poesie und Lebenspraxis wird schon durch den Titel eines Colloquiums der >Würzburger SchuleBuch< wieder, allerdings nur mit dem Auszug von den edeln stainen, das >Buch der NaturBuch Granatapfel· von Johann Geiler von Kaysersberg, zwei anonyme Homilien und ein Capitel die gemacht hatt Majster Samuel ain Jud. Hier steht das >Buch< tatsächlich in überwiegend theologisch-aszetischem Kontext; nur hier wäre wirklich etwas über eine pastorale Intention des >Buchs< zu erschließen. Auch dies wäre aber wiederum nur dann erkennbar, wenn schon vorher etwas von dieser Intention gewußt wird; ansonsten stellt sich das >Buch< nur in seiner unbestimmbaren Intention neben das auch enthaltene >Buch der NaturFaszinationsbereichen< die Werke Hartliebs zuzuordnen sind; erfüllen sie sämtlich die gleiche Funktion, so wäre die Disparatheit des (Euvres aufgehoben. Die weitere Frage ist allerdings noch, auf welche Weise Erwartungshorizont und Rezeptionsvorgabe rekonstruiert werden können. Die hier zu behandelnden Werke — >DialogusAlexanderBrandan< und >Secreta mulierum< — sind Übersetzungen von lateinischen Vorlagen, " Vgl. Ulm, S. X. 14 Vgl. Ulm, S. XI. 138
die allesamt eine mehrhundertjährige Rezeptionsgeschichte besitzen. Die Intention Hartliebs und damit seine Rezeptionsvorgabe könnte aus seinen Veränderungen und Einschüben, die er bei der Übersetzung vornimmt, erschlossen werden. 1 5 Da aber die unmittelbare Vorlage Hartliebs in keinem Fall bekannt ist, begibt sich der so Schließende auf methodisch unsicheres Terrain, da jede Veränderung grundsätzlich auch auf das K o n t o eines Redaktors der - unbekannten - lateinischen Vorlage gehen kann; genau dies hat die Entdeckung der Pariser Handschrift durch Pfister für die Untersuchung Hirschs gezeigt.' 6 Somit können die Veränderungen nicht für Hartlieb in Anspruch genommen werden, solange keine weiteren Indizien dies nahelegen; man bleibt vorläufig auf die ohne Zweifel Hartlieb zuschreibbaren Erweiterungen verwiesen. Diese Sicherheit ist nun nur bei den durch Selbstnennung gleichsam autorisierten Prologen gegeben; eine jede Untersuchung muß also hier ausgehen. Auf die Bedeutung des Prologs hat erstmals Brinkmann hingewiesen.' 7 Nach seinen Untersuchungen ist der mittelalterliche Prolog, der, obwohl er die in den artes tradierten Regeln der antiken Rhetorik übernimmt, hier doch weiterschreitet, grundsätzlich zweigeteilt in Prooemium, ein exemplum etwa oder ein proverbium, und eigentlichen Prolog. Dabei dient der Eingang, das Prooemium, dem Vorverständnis zwischen Autor und Leser über einen gemeinsamen Erfahrungsraum, der Prolog selbst der Einführung in das Werk.' 8 Insgesamt eröffnet der Prolog eine »Gesprächssituation«, in der das Werk erst situiert wird und Existenz gewinnt. Wenn nun der Prolog dem Vorverständnis zwischen Autor und Publikum dient, dann muß dieses Verständnis unter zweierlei Aspekten begriffen werden. Es ist zum einen der Rekurs auf ein schon vorhandenes Verständnis des folgenden Werks, auf das sich der Autor beruft; hier käme der Begriff des Erwartungshorizonts zum Tragen. Zum anderen kann es aber auch ein Vorverständnis sein, das gerade der Autor gegen den vorhandenen, von ihm vermuteten Erwartungshorizont setzt: durch im Prolog benutzte Kunstgriffe versucht der Autor eine von ihm gewünschte Verständnisperspektive a priori zu normieren; die oben erwähnten »Benutzungswarnungen« in der >Namenmantik< können für solch eine, allerdings gegenüber einem ausgeführten Prolog reduzierte Verständnisnormierung stehen. Auch der Prolog des >Buchs< versucht ja solch eine '' Diesen Ansatz verfolgen Hirsch in seiner Dissertation, Schnell und neuerdings Ehlert. ' 6 Vgl. unten, Kap. 4.1. 17 Hennig Brinkmann: Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. Bau und Aussage. WW 14 (1964), S. iff. Brinkmanns Ergebnisse, die er an poetischen und religiösen Texten des Mittelalters gewonnen hatte, verifizierte dann Helga linger an >Sachtexten< (Helga Unger: Vorreden deutscher Sachliteratur des Mittelalters als Ausdruck literarischen Bewußtseins. In: Werk — Typ — Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. Stuttgart 1969, S. 2 1 7 f f . ) . 18
Vgl. die Belege bei Brinkmann, S. 6ff.
x39
Verstehensnormierung durchzusetzen, indem er die Aufklärung über die dargestellten superstitiösen Praktiken geschickterweise mit der Gefährdung des fürstlichen Seelenheils und gleichzeitig mit seiner fürstlichen Verantwortung begründet; eine Normierung im übrigen, die hier um so dringender geboten erscheint, als ja die Darstellung auch zum Nachvollzug verleiten könnte.' 9 Über solche Normierungsversuche also kann die Rezeptionsvorgabe und damit die intendierte Funktion des Textes erschlossen werden.
Wenn also im folgenden die Gebrauchsfunktion der Hartliebschen Texte am Münchner Hof untersucht werden soll, nimmt der jeweilige Prolog den zentralen Platz der Analyse ein; er soll dahingehend untersucht werden, auf welchen Erwartungshorizont Hartlieb reagiert, und weiter, ob und welche Verstehensperspektiven er daraufhin durchzusetzen versucht. Der Erwartungshorizont wiederum ist allein durch die Aussagen der Prologe nicht zu rekonstruieren; angesichts der Tatsache, daß die vier Münchner Werke Vorlagen aus Textbereichen übersetzen, die auch schon im Mittelalter bestimmten Gattungen zugeordnet wurden — Fürstenspiegel, Legende, Exempelsammlung, medizinischer Fachtext—, muß auf die Vorlagen selbst und das sie mitkonstituierende Funktionsbewußtsein eingegangen werden; auf ein solches Funktionsbewußtsein, das des Exempels, rekurriert Hartlieb im >Dialogus< selbst, wie schon oben erwähnt wurde. Zur Verifikation der gewonnenen Ergebnisse soll der synchrone Rezeptionskontext der lateinischen Werke herangezogen werden; hier wird auf eine statistische Auswertung der überlieferten Bibliothekskataloge des 15. Jahrhunderts, wie sie in den Mittelalterlichen Bibliothekskatalogen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs< ediert wurden, 20 zurückgegriffen werden. Die aus diesen Untersuchungen zu Vorlage, Funktionstyp der Vorlage, Intention und Verstehensnormierung gewonnenen Ergebnisse werden die Gebrauchsfunktion der Texte und damit die lebenspraktisch orientierte literarische Kommunikationssituation am Münchner Hof erhellen; die folgende Überprüfung der Handschriftenüberlieferung 2 ' ' ' An diesem Beispiel zeigt sich, daß auch der jeweilig eigene Erwartungshorizont in der Untersuchung mitreflektiert werden muß: Nur unter der Vermutung, daß der Markgraf nach einer Unterweisung in den superstitiösen Praktiken verlangt hatte, konnte das >Buch< als eine Erfüllung dieses Auftrages verstanden und aus dem Prolog sogar dieser Auftrag selbst herausgelesen werden; was, wie oben gezeigt wurde, der Wortlaut des Prologs nicht erlaubt. 2
° Vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Bd. I ff. München 1918ff.; Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs. Bd. I ff. Wien 191 ; f f . " Hier kann zum großen Teil nur auf die Handschriftenbeschreibungen in den Editionen bzw. den Katalogen zurückgegriffen werden, was sich natürlich angesichts der knappen, oft nur auflistenden Beschreibungsweise gerade der älteren Kataloge als methodisches Manko darstellt (Vgl. zu diesem Problem auch neuerdings Gisela Korn-
140
soll und kann, nach dem oben Gesagten, nichts anderes sein als der Versuch einer Verifikation dieser Gebrauchsfunktion mit Hilfe der Sekundärrezeption. Hier sind einige Aufschlüsse darüber zu erwarten, wie sich Rezeptionsvorgaben Hartliebs in anderen Kommunikationssituationen durchgesetzt haben oder aber wie sie durch andere Interessen modifiziert wurden; dies allerdings verläßt den Bereich der Autor-/ Auftraggeberintention und zielt ab auf die Rezeptionskonkretisation.
4.1.
D e r >Alexander
Alexander< ist die Übersetzung einer Alexander-Kompilation, die mit einem Textzeugen in der Pariser Handschrift Bibliotheque Nationale n. a.l. 310 erhalten ist.22 Die Kompilation benutzt die >Historia de preliis< des Archipresbyters Leo, die Epitome der >Res gestae Alexandri< des Julius Valerius, die >Historiae adversus paganos< des Orosius, die >Historia Scholastica< des Petrus Comestor, die >Epitoma Historiarum Philippicarum< des Justinus in der Vermittlung durch den Makkabäer-Kommentar des Hrabanus Maurus, das >Colloquium Alexandri cum Dandami< aus dem >Commonitorium PalladiiCollatio Alexandri et Dindimi< und die >Epistola ad Aristotelerru. 2 ' Während Poppen noch davon ausging, daß Hartlieb nicht die Pariser Handschrift aus dem ehemaligen Besitz des Klosters Tegernsee benutzte, sondern eine ihr nahestehende, die mit ihr zusammen von derselben Vorlage abstamme,24 hat Schnell neuerdings die Auffassung geäußert, daß Hartlieb eine Abschrift des Pariser >Alexander vorgelegen habe.25 Schnell nimmt an, daß diese Abschrift der Vorlage gegenüber aus Parallelüberlieferungen interpoliert habe, wodurch die Zusätze Hartliebs, die in der rümpf: Handschriftenkataloge und Uberlieferungsgeschichte. In: Beiträge zur Uberlieferung und Beschreibung deutscher Texte des Mittelalters. Referate der 8. Arbeitstagung österreichischer Handschriften-Bearbeiter vom 2;.—28.11.1981 in Rief bei Salzburg. Hrsg. von Ingo Reiffenstein. Göppingen 1983. [ G A G 402], S. 1-23). Eine Autopsie aller Hartliebschen Textzeugen aber hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. " Die Pariser Handschrift liegt jetzt ediert vor durch Rüdiger Schnell: Liber Alexandri Magni. Die Alexandergeschichte der Handschrift Paris, Bibliotheque Nationale, n.a.l. 310. Untersuchungen und Textausgabe. München 1989. ( M T U 96) !) Zu den einzelnen Vorlagen vgl. Schnell, 1989, S. 58—77. 14 Hans Poppen: Das Alexander-Buch Johann Hartliebs und seine Quelle. Diss. Heidelberg. 1914, hier S. 13ff. ! > Schnell, 1989, S. 8 5 ff.
141
Pariser Handschrift nicht zu finden sind, zu erklären seien. Leider geht Schnell hier nicht mehr auf seine frühere Interpretation des Hartliebschen >Alexander< ein, w o seine These über eine Einfügung Hartliebs 26 zentrale Bedeutung für Schnelle Interpretation des >Alexander< gewinnt; kann doch nun diese Einfügung ebenso auf das Konto des Interpolators gehen. Trotz der großen Nähe Hartliebs zur Pariser Handschrift muß also jede Interpretation, die mit den Differenzen zu seiner Vorlage arbeitet, mit solchen Unwägbarkeiten rechnen; auch in diesem Fall sollen also hauptsächlich die Äußerungen des Prologs herangezogen werden. Die zeitgenössische Interpretationsmöglichkeit der Person Alexanders ist vielfältig, da Alexander in sich widersprüchlich erscheint; er vereinigt das Bild des habgierigen Königs und des vorbildlichen Ritters, des heidnischen Abenteurers und des Werkzeugs Gottes. 27 Selbst einundderselbe Text bot verschiedene Verstehensperspektiven: Der Alexander der I 2 -Rezension der >Historia de preliis< wurde im Frankreich des 1 1 . Jahrhunderts als idealer Fürst gesehen, im deutschen Sprachraum des 15. Jahrhunderts dagegen als negatives Beispiel. 28 Auf zwei wesentliche Aspekte der mittelalterlichen Deutung der Person Alexanders kann allerdings hingewiesen werden. Cary hat in seiner Darstellung der conception of Alexanden vier hauptsächliche Textbereiche untersucht: die von ihm so genannten >moralistsAllegoriae in Vetus Testamentum< Hugos von St. Viktor. 29 Die beiden Erwähnungen im Buch Daniel, einmal die des Leoparden mit vier Flügeln und Köpfen, die andere die des gegen den Widder siegenden Ziegenbocks, werden als Allegorien Alexanders 16
Schnell, 1 9 7 8 , S. 279—283. E s geht um die testamentarische V e r f ü g u n g Alexanders über seine N a c h f o l g e , die von dem Ehebruch Roxanes unmöglich gemacht wird.
*7 S o H e r w i g Buntz: D i e deutsche Alexanderdichtung des Mittelalters. Stuttgart 1 9 7 } , S. 1. Z u diesem Ergebnis kommt E . R . Smits in seiner Untersuchung der Rezeption der I'-Rezension (Die >Historia de preliis< Alexandri M a g n i , Rezension Γ im Mittelalter: Rezeptionsgeschichtliche Probleme. In: Alexander the Great in the Middle
Ages.
Hrsg. v o n W . J . Aerts, J . Μ . M . Hermans, Ε . Visser. Nijmegen 1 9 7 8 . S. 8 6 - 1 0 7 ) . E r erklärt das damit, daß die Γ - V e r s i o n solch ein neutrales ungefärbtes Alexanderbild biete, daß es jeweils v o m eigenen Horizont des Lesers interpretiert werden könne. ''George S. 1 2 1 ff.
142
Cary:
T h e medieval Alexander.
E d . by D . J . A .
Ross. Cambridge
1956,
ausgelegt. Alexanders Eroberungen werden dabei nicht seiner Stärke, sondern dem Willen Gottes zugeschrieben. 5° Beide Auslegungen münden schließlich in ein theologisches Alexander-Bild, das Alexander ausschließlich negativ sieht. Godfrey von Admont versteht die biblische Darstellung von Alexander zu Antiochus als Präfiguration der Weltgeschichte vom Sündenfall bis zur Ankunft des Antichrist;' 1 Rupert von Deutz sieht Alexander als Instrument Gottes, das aber vom Teufel besetzt worden sei und sich gegen Jerusalem wende.' 2 Insgesamt ist Alexander Beispiel der übermäßigen Begierde und des Stolzes derart, »that he might admirably symbolize the Devil.«'' Cary hat nun weiter festgestellt, daß dieses von der Bibel-Exegese geprägte negative Alexanderbild hauptsächlich in Deutschland gewirkt habe.' 4 Ein solcher Befund kann zumindest einiges Licht auf den Erwartungshorizont der Rezipienten von Hartliebs mittelbarer Vorlage werfen: Diese Handschrift stammt aus dem Kloster Tegernsee, also einem deutschen theologischen Rezeptionsraum. Man muß demnach hier mit einem negativen Alexander-Bild rechnen. Der andere Aspekt betrifft die >Collatio Alexandri cum Dindimi per litteras factaHistoria de preliis< integriert und also auch von Hartlieb übersetzt worden ist, hat eine eigene mittelalterliche Rezeptionsgeschichte." In diesem fiktiven Briefwechsel gibt Dindimus, König der Brahmanen, Alexander Auskunft über das Leben seines Volkes; der >Briefwechsel< ist intendiert als kynisches Lob der aszetischen Philosophie. Cary stellt fest, daß im Laufe der Rezeption die Verstehensperspektive mehrmals sich geändert habe; nach einer zwischenzeitlichen positiven Bewertung der Position Alexanders und einer Abwertung der aszetischen Lebensweise seien in späteren Rezensionen die Antworten Alexanders verändert worden, »so as to give Dindimus the best of the argument«.' 6 Die Version der >CollatioCollatio II< — und die vermutlich im 10. Jahrhundert entstanden ist, 57 tradiert dieses negative Alexander-Bild. Dieser Befund wird wichtig werden, da der >Briefwechsel< in der Übersetzung Hartliebs ebenfalls eigenständig überliefert ist.
Die Frage nach dem Erwartungshorizont, unter dem die Übersetzung rezipiert wurde, ist nun nur indirekt über die Stellungnahme Hartliebs zu seiner Vorlage zu beantworten. Angesichts der Tatsache, daß die Übersetzung sich einem Auftrag des Hofs verdankte, muß davon ausgegangen werden, daß auch die Entscheidung zur Auswahl der >° Cary, S. n 9 f f . '' In der >Homilie 2u Makk. IDe Victoria Verbi Dei6 Cary, S. 14. >7 ebd.
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Vorlage nicht Hartlieb allein überlassen wurde, sondern auf ein Vorverständnis des Auftraggebers darüber rekurrierte, was eine Übersetzung der Vorlage zu leisten hatte. In diesem Zusammenhang kann die Versicherung Hartliebs, das puoch des grossen Allexander tewtschen machen nach dem waren text, nicht hin^u noch dovon c^u stehen, nicht lediglich als bloßer Topos der affektierten Bescheidenheit verstanden werden, wie es die Forschung gerne tut, sondern muß tatsächlich als eine Qualifizierung der Vorlage verstanden werden. Eine solche Qualifizierung der >Historia de preliis< als wahrer Text muß sich auf eine Distinktion von >wahren< und >falschen< Texten beziehen, wobei die >Wahrheit< des Textes durch seine Gestalt verbürgt wird. Die Gestalt kann allerdings nicht die Sprache selbst meinen — sonst würde es sich für Hartlieb unter dem Anspruch der Wahrheitsbewahrung von selbst verbieten, seine Vorlage zu übersetzen - , sondern den Stoff des Textes und dessen Anordnung. Eine Distinktion dieser Art führt nun genau in den Bereich der Textexegese. Jauß etwa hat darauf hingewiesen, daß im Bereich der romanischen Literatur den weltlichen contes und fables das geistliche dit entgegengesetzt worden sei, weil hier, anders als in der weltlichen Dichtung, eine Wahrheit gesagt werde.' 8 Bei diesen dits handelt es sich um geistliche allegorische Dichtung, die sich mit dem Argument der Wahrheit von fiktionaler Dichtung abgrenzt. Das allegorische Prinzip der Entdeckung der verborgenen Wahrheit aber verweist nun genau auf das Zentrum der mittelalterlichen Hermeneutik. Für das Folgende brauchen hier die Prinzipien mittelalterlicher Schriftauslegung nicht explizit dargestellt zu werden; ich beziehe mich auf die grundlegenden Arbeiten von Brinkmann und Ohly.' 9 Auf einen Punkt muß allerdings näher eingegangen werden, da gerade er für das Weitere wesentlich ist. Die Bibelexegese, die die geistliche Dichtung inspiriert, unterscheidet zwischen dem sensus literalis und dem sensus spiritualis. Auf den ersten zielt die Texterklärung, auf den zweiten die Allegorese. Die Wörter werden als Zeichen aufgefaßt, als Zeichen zielen sie aber nur auf den sensus literalis. Der sensus spiritualis wird nicht von den Wörtern, sondern )8
Hans Robert Jauß: Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung. In: Jauß, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956—1976. München 1977. S. 154—218; hier S. 15of. " Hennig Brinkmann: Mittelalterliche Hermeneutik. Tübingen 1980; Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977; darin besonders S. 1 - 3 1 : Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter.
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von den Dingen bezeichnet, die Dinge sind die Bedeutungsträger des geistigen Sinnes. »Non solum voces, sed et res significativae sunt.« 40 Brinkmann erfaßt diese Distinktion damit, daß er von »Zeichen erster Ordnung« und »Zeichen zweiter Ordnung« spricht. 41 Es ist also falsch, wenn von dem vierfachen Schriftsinn derart gesprochen wird, daß von dem Wort, gleichsam parallel zum Literalsinn, zum allegorischen, tropologischen und anagogischen Sinn geschritten werden könne; vielmehr wird vom Wort aus über den Literalsinn das bezeichnete Ding erfaßt, das dann selbst wiederum auf höherer Ebene dreifach gedeutet werden kann. >Ding< wiederum hat einen weiteren Bedeutungsumfang als im heutigen Sprachgebrauch: »Hae autem res primae res secundas significantes sex circumstantiis discretae considerantur, quae sunt hae: res, persona, numerus, locus, tempus, gestum.« 42 Auch geschichtliche Ereignisse werden als >Gegenstände< betrachtet, die als Zeichen für einen allegorischen oder tropologischen Sinn angesehen werden können: eben weil auch und gerade in ihnen ein von Gott gesetzter Sinn verborgen ist. »Voces ex humana, res ex divina institutione significant. Sicut enim homo per voces alteri, sie Deus per creaturas voluntatem suam indicat.« 4 ' Im Geschichtsbewußtsein des Mittelalters sind die Geschehnisse der seit der Schöpfung abgelaufenen Geschichte Bedeutungsträger im präfigurativ-heilsgeschichtlichen Sinne. Unter diesem Aspekt wird der Rekurs Hartliebs auf das >einzig wahre Buch< zu verstehen sein. Es muß sich hierbei um den Versuch der Abgrenzung von fiktionaler Dichtung handeln. Für Hartlieb ordnet sich seine Vorlage ein in den Bereich der Texte, die unverfälschend den Ablauf der Geschichte, die >Historia< wiedergeben. Nur unter der Intention der Ermöglichung von allegorischer oder tropologischer Sinnerschließung kann für ihn die Bewahrung der Originaltextgestalt wichtig sein; denn jede Veränderung des Textes implizierte eine Änderung des Literalsinnes, womit der Zugang zu der Historia, damit aber auch der durch diese verbürgte Zugang zu dem sensus spiritualis verschüttet wäre. Wenn Hugo von St. Viktor sagt, daß der, der den richtigen ordo legendi verfehle, sei wie einer, der im dichten Wald den rechten Weg verliert, 44 so würde Hartlieb, änderte er den ordo dicendi, den Weg durch den Wald erst verbauen. 40 41 42 4i 44
Richard von St. Viktor; zitiert nach Ohly, S. 4. Brinkmann, Hermeneutik, S. ιηιίΐ. Richard von St. Viktor; zitiert nach Ohly, S. 8. P L 177, 375 C; zitiert nach Ohly, S. 12. Eruditio didascalica V , 5; P L 176, 793 D; zitiert nach Ohly, S. 15.
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Unter diesem Verständnis ist die Funktion der Hartliebschen Übersetzung ein Aufruf zur Exegese, ein Hinüberweisen über das nur geschichtlich Mitteilende. Durch ihre exegetische Funktion aber wird sie zu einem gleichsam sakrosanten Text, sie gehörte, wie dann auch ihre Vorlage, dem Bereich der geistlichen Literatur an. Diese Vermutung eines Verstehenshorizontes, der von dem Alexanderbuch lebenspraktische Unterweisung durch die Erschließung seines religiösen Sinngehaltes erwartet, wird nun durch den Kontext und durch die Kategorisierung der verschiedenen Alexandertexte in spätmittelalterlichen Bibliotheken des süddeutschen Raums bestätigt. Ich habe in den edierten mittelalterlichen Bibliothekskatalogen des 14. bis 16. Jahrhunderts 28 Texte zählen können, die die Person Alexanders im weitesten Sinne zum Gegenstand haben. 20 Texte stammen aus klösterlichem Besitz, ein Text aus der Universität Erfurt, 4 ' sieben Texte aus dem Besitz privater Sammler, wobei Hartmann Schedel und der Erfurter Amplonius in ihren für das Spätmittelalter untypischen, weil einer exorbitanten Bibliophilie entsprungenen Sammlungen allein fünf Texte nennen.46 Interessant ist nun, welche Texte in den klösterlichen Bibliothekskatalogen verzeichnet werden. Uberwiegend, nämlich zehnmal, wird die >Historia Alexandri Magni< genannt, 47 auffällig oft, wie auch schon zweimal bei den Texten in Privatbesitz, 45
Aus dem »Collegium Universitatisc Gesta Romanorum et gesta Trojanorum et gesta Alexandri magni (MBD II, S. 206). 46 Aus dem Bücherverzeichnis Hartmann Schedels: Historia vom grossen Alexander (MBD III, S. 834), Alexandri Magni historia (MBD III, S. 817) und Historia Alexandri Magni et gesta Romanorum (MBD III, S. 836); aus der amplonianischen Sammlung der Briefwechsel mit Dindimus: epistolarum Alexandri Magni et Dindimi, regis Bragmannorum, facta collacio (MBD II, S. 45) und collacio dephilosophia Alexandri Magni, regis Macedonum, et Dindimi, regis Bragmannorum, per litteras alterutrim facta (MBD II, S. 87). Die beiden anderen Texte aus dem Besitz des Grafen von Öttingen: Ein buch von Troy und von dem grossen Alexander (MBD III, S. 159) und aus dem des Nürnberger Patriziers Hans Tetzel: Μer ein puch, in preter mit swarcyem leder überexogen, sagt von den c^weien entstörung Trqye und von dem grossen Allexander und von geschicken der Römer, und ein pebstlich und ein keyserliche cronik und sust von mancherlei hystorien (MBD III, S. 854). 47 Melk: Hystoria Allexandri Magni (MBÖ I, S. 2 53), Historia de Allexandro Magno, de hello Troiano et de aliis (MBÖ I, S. 254). Klosterneuburg: Item historia magni Alexandri cum aliis certis (MBÖ I, S. 119). St. Ägidien Nürnberg: Hystoria Alexandri Magni Macedonis (MBD III, S. 530). Michelsberg, Bamberg: Hystoria Troianorum Alexandri Magni (MBD III, S. 392), Historian Troianorum. Item Alexandri Magni, qui liber Latiniydeomatis est, sed ex certa sciencia libris vulgaribus adiunetus propter stili compendium, quia historiam continet. Historiam Alexandri Magni (MBD III, S. 382). Rebdorf: Historia Alexandri Magni (MBD III, S. 283). Salvatorberg: Historie due, scilicet Troyana et Alexandri Magni (MBD II, S. 369). Tegernsee: Alexandri Magni historia et bella in vulgari (MBD IV, S. 854).
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in Verein zusammen mit der >Geschichte von der Zerstörung TrojasHistoria< gehende >Historia de preliis< handelt; es kann aber mit Sicherheit behauptet werden, daß dieser Titel eben genau das Verständnis des Lebens Alexanders als geschichtliches Ereignis reflektiert. Darauf deutet nicht nur das Zusammengehen mit der Trojanergeschichte oder einer Papst- und Kaiserchronik, sondern vor allem auch die Einordnung der Texte unter die Kategorie >HistoriaAlexander< inmitten einer Reihe von Geschichtswerken verzeichnet ist, angeführt von der >Historia Scholastica< des Petrus Comestor, 48 oder in Rebdorf, wo er unter der Rubrik >Historiarum libri< zusammen mit der >Historia scholasticaHistoria ecclesiasticaHistoria Lambardica< und anderen steht. 49 Aber auch die privaten Sammler scheinen die b e schichte des großen Alexanders< nicht als fiktionalen Text zu lesen: Schedel ordnet ihn ein unter die moderrtiores bistorici Die zweitgrößte Gruppe von Texten scheint in dieselbe Richtung zu zielen, sie spricht von den Taten Alexanders als geschichtliche Ereignisse, als res gesta. Vier Erwähnungen der >Gesta Alexandri Magni< sind zu finden.51 Weiter kommen schließlich ein >Liber Alexandri Magni< vor,' 2 eine >Vita Alexandri MagniHistoria< auch und gerade hier vorhanden ist, daß die >Historia Alexandri Magni< allegorischer und tropologischer Sinndeutung im Sinne der Präfiguration heilsgeschichtlichen Geschehens dient. Auch dies wird wieder durch die Bibliothekskataloge bestätigt: Soweit die Kataloge überhaupt nach inhaltlich-sachlichen Kriterien angelegt wurden, und soweit die >Historia< nicht nur unter dem Begriff >Geschichte< eingeordnet werden, rubrizieren sie die >Historia< unter die Bücher, die wie die Heilige Schrift in vierfacher Weise ausgelegt werden können. So ordnet die Konstanzer Dombibliothek den Uber gestorum Alexandri magni in die Rubrik, in der annotantur diversi sacre theoloye libri ecclesie Constanciensis,'9 und ganz explizit bezieht der Katalog der Kartause Salvatorberg ihren Lib er Allexandri Magni in den Corpus der Texte ein, die der vierfachen Exegese unterzogen werden können.60 Ich denke, dieser Befund genügt, um die Erwartungen, die dem Alexanderstoff in diesem Rezeptionsraum entgegengebracht wurden, zu bestimmen. Der Stoff wurde in der Form einer geschichtlichen Darstellung rezipiert; qua seiner Eigenschaft als historia besaß er den Anspruch der geschichtlichen Faktizität und damit der Wahrheit. Geschichtliche Faktizität weist aber im oben dargestellten Sinne über die Sinnschicht des Sogewesenseienden hinaus auf die exegetisch zu erschließenden allegorischen, tropologischen und anagogischen Sinnschichten. Auch der >Alexander< in dieser Form hat zur Exegese aufgei8
Wobei natürlich gesehen werden muß, daß die Klosterbibliotheken größeres Interesse an dem Erfassen ihres Bibliotheksbestandes hatten, hier also einfach mit einer wesentlich besseren Überlieferung der Bestände zu rechnen ist. Überraschend aber ist doch, daß auch in den beiden großen Verzeichnissen Schedels und Amplonians die gleichen Alexander-Titel aufgeführt werden.
" M B D I, S. 1 9 5 . 60
M B D II, S. 490.
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fordert; das geschichtliche Ereignis wird verstanden als ein Exempel, das dem zeitgenössischen Leser Orientierung für sein Leben mitteilen kann. Die Rezeption des Alexanderstoffes gerade auch im klösterlichen Raum läßt vermuten, daß die Exegese der theologischen Tradition folgt; daß eben Alexander als Beispiel der Anmaßung und des Übermaßes gesehen wird. Auch dies wird gestützt durch die relativ starke Verbreitung des >Briefwechsel mit DindimusAlexander< selbst ist gattungsmäßig kaum unter die Fürstenspiegel, sondern eher unter die Legendare einzuordnen; allerdings mit verändertem Vorzeichen. Geht es bei den Heiligenviten um die Postfiguration heilsgeschichtlichen Geschehens, so im >Alexander< um die Präfiguration; und ist es in den Legendaren das Beispiel Christi, postfiguriert in den Taten der Heiligen, das zur imitatio aufruft, so hier das Beispiel Alexanders, der als Verkörperung der Unmäßigkeit für den Teufel steht und der zum Nicht-Nachvollzug auffordert. Die von Hartlieb installierte Verstehensperspektive ist also letztlich durch den Bezug auf theologische Verstehensmuster religiös begründet; der >Alexander< gehört zur religiös-moralischen Literatur. Das exegetische Verfahren, das nach der Rezeptionsvorgabe Hartliebs allein die religiös-moralische Bedeutung des von ihm übersetzten Alexandertextes erschließen kann, entspricht der Exegese, wie sie auch in dem oben analysierten klösterlichen Rezeptionsraum auf die >Historia Alexandri Magni< angewendet wurde. Eben dem dort manifesten Erwartungshorizont scheint auch Hartlieb mit seiner Verwendung des Chronik-Begriffs zu entsprechen; und sein Prolog ist als Versuch zu werten, die damit korrelierende religiösmoralische Verstehensperspektive auch für einen nicht-theologischen und nicht-lateinischen Rezeptionsraum zu normieren.
Vgl. dazu Christoph Daxelmüller: Auctoritas, subjektive Wahrnehmung und erzählte Wirklichkeit. Das Exemplum als Gattung und Methode. In: Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. 2. Teil. Berlin-New York 1985. S. 72—87.
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4-1.3-
Rezeption
Die 22 Textzeugen des >Alexander< lassen sich in drei Uberlieferungsgruppen 91 gliedern; in der ersten ist in den Codices der >Alexander< allein überliefert, in der zweiten zusammen mit anderen Texten. Die dritte Gruppe verzeichnet nur den >BriefwechselAlexander
RennerSchachzabelbuchs24 Alten< und der >Meisterlin-ChronikMeisterlin-Chronik< bis ins Jahr 1487 fortgesetzt.97 Die Abschrift des >Alexander< dürfte hier privatem, geradezu bibliophilem Interesse entspringen, wie an den zahlreichen Miniaturen zu erkennen ist; dies zeigt sich vielleicht auch darin, daß der Epilog um die Dedikationsformel Hartliebs gekürzt ist. " Vorderstemann, der die St. Gallener Handschrift und cgm 581 — die Handschrift also, die Lechner-Petri zur Grundlage seiner Edition genommen hat — verglichen hat, kommt zu dem Ergebnis: »Die St. Gallener Handschrift ist die einzige Pergamenthandschrift des Werkes, und wenn sie auch keine Textillustrationen aufweist, hebt sie sich doch aus allen anderen Handschriften durch die Schönheit ihrer Schrift wie ihrer Ausschmückung heraus. [. . .] An Sorgfalt übertrifft diese Abschrift Cgm 581 deutlich, und weitere textkritische Untersuchungen werden vom St. Galler Cod. 625 als bester Handschrift ausgehen müssen.« (Vorderstemann, S. i6f.) 94
Zit. nach Vorderstemann, S. 17. " Vgl. zu der Familie der Mülich Rosa Micus: Augsburger Handschriftenproduktion im 15. Jahrhundert. Z f d P h 104 (1985), S. 411—424, hier S. 4i4f., S. 424, und Dieter Weber: Geschichtsschreibung in Augsburg. Hektor Mülich und die reichsstädtische Chronistik des Spätmittelalters. Augsburg-Würzburg 1984. (Schriftenreihe des Stadtarchivs Augsburg). Beide Mülich waren Kaufleute; Georg lebte von 1415 bis i486, Hector von 1 4 1 ; bis 1490. Hector Mülich war Ratsmitglied und in zweiter Ehe mit Anna Fugger verheiratet. 96
Micus, S. 424 will ein »möglichst vollständiges Verzeichnis der Handschriften der Brüder Mülich, soweit sie in Handschriftenkatalogen des 20. Jhs erfaßt sind« bieten: sie nennt cgm 2x3, cgm 581, StdtB Augsburg z° Codex Halder 1, U B Gießen 813, L B Stuttgart HB V 52 und ein Exemplar des >RennerRenner< befindet sich heute in der StuUB Frankfurt unter der Signatur Ms. germ.qu. 6. Sie übersieht auch clm 33, der 1453 von Hector Mülich ernewert vndgepessert wurde.
97
Micus, S. 415.
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Cgm 338 wurde 1461 von Konrad Landsberger geschrieben; hier fehlt die gesamte Schlußschrift Hartliebs. Konrad Landsberger ist der Bruder des Volckhard Landsberger, der um 1460 die den >Alexanden enthaltende Sammelhandschrift Pierpont Morgan Library 782 geschrieben hat; die Brüder sind in den Steuerbüchern Augsburgs um die Mitte des 15. Jahrhunderts nachweisbar.9® Von Volckhard Landsberger ist auch ein deutscher Auszug aus dem Alten Testament und eine chronikalische Sammelhandschrift, die unter anderem die Alexanderübersetzung Meister Babiloths enthält, erhalten." Die Darmstädter Hs 4256, ebenfalls 1461 geschrieben, ist nach den Untersuchungen Vorderstemanns mit cgm 338 eng verwandt; 100 Vorderstemann nimmt an, daß beide Handschriften auf die gleiche Vorlage zurückgehen und die Darmstädter Handschrift daher wohl auch aus dem Umkreis der Brüder Landsberger stammt. Da die Darmstädter Handschrift und P M L 782 nach dem Urteil Vorderstemanns »professionell und arbeitsteilig (Schreiber - Rubrikator - Illustrator — Buchbinder)« hergestellt worden sind, 101 könnte man vermuten, daß diese letzten drei Textzeugen - cgm 338, Darmstadt 4256 und P M L 782 - aus einer Art Handschriftenmanufaktur der Brüder Landsberger hervorgegangen sind; daß hier also schon die wenig später erfolgenden Augsburger Drucke des >Alexander< antizipiert wurden. Festzuhalten ist, daß allein vier der Textzeugen aus Augsburg stammen, daß sie noch zu Lebzeiten Hartliebs geschrieben wurden und daß dabei der älteste von der Hand der Brüder Mülich rührt, die mit dem Humanistenkreis Augsburgs um Meisterlin und Gossembrot assoziiert waren. Es wäre zu fragen, ob die Mülichs die Vorlage ihrer Abschrift vielleicht von Hartlieb selbst erhalten haben. Die Darmstädter Handschrift 4256 verzeichnet als frühest festzustellenden Vorbesitzer Johann Carl von Kayb, der von 1684 bis 1760 in Frankfurt am Main lebte. 101 In einer allerdings recht spekulativen Argumentation kommt Vorderstemann zu dem Schluß, daß über die Ahnen dieses Kayb eine Verbindung zu der Augsburger Handelsfamilie Welser zu ziehen ist und daß in deren Auftrag — möglicherweise — die Handschrift im 15. Jahrhundert angefertigt wurde. 103 Auch hier wäre dann das Augsburger Patriziat als Rezipient des >Alexander< auszumachen. 98
Vorderstemann, S. 16. "Wolfenbüttel 81.32. Aug. fol.: »Völck Landspergers Auszug aus den fürnehmsten Historien des alten Testaments« aus dem Jahr 1458; Straßburg, UB, Hs. 2 1 1 9 (früher L.germ. 195), f. 297' von einer Hand des 16. Jahrhunderts auf Rasur: »Das hat geschrieben volk Landsperger von Kaufbeiren. Amen«. 100 Vorderstemann, S. 15. 101 Vorderstemann, S. 20. Besonders deutlich wird dies auch in der Handschrift der UB Straßburg 2 1 1 9 , die von mindestens vier Händen geschrieben wurde, wobei jeder Schreiber, wie die oft am Ende der Spalten gedrängter gesetzten Zeilen zeigen, selten- und lagengetreu von seiner Vorlage abschreiben mußte. Für die Arbeitsteilung sprechen auch die dem Schnitt entgangenen Lagenreklamanten auf f. 138" und 198", vor allem aber der Schreiberwechsel von f. 186" auf f. 187', der zwar mitten im Text, aber kongruent mit dem Lagenwechsel stattfindet. ""Vorderstemann, S. 12. ,0> Vorderstemann, S. 14.
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Die Dresdner Handschrift Μ 6i besitzt als Terminus ante quem 1472; in diesem Jahr trägt sich Vinzenz Schifer, weiland Mautner zu Ibs, als Besitzer ein. Auch hier fehlt der Epilog Hartliebs; der Text endet mit dem Hinweis auf das puch de origine saxorum, das allerdings zu einem Buch des Maisters Origenes geworden ist. Cpg 88 und Györ I. 7 104 stammen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts; ein Vorbesitzer oder Schreiber ist nicht festzustellen, der Epilog fehlt jeweils. Die Györer Handschrift läßt nun auch den Prolog Hartliebs fallen; sie bietet also den reinen >Alexander< ohne die Fürstenregel. Die frühere Wernigeroder Hs Z b } ist bei Förstemann nur unzureichend beschrieben, von Degering noch nicht erfaßt.
Als Rezeptionsraum ist in dem einen Fall der herzogliche Hof selbst, in den übrigen Fällen, soweit erkennbar, das städtische Patriziat oder, im Falle des Mautners, ein Angehöriger der österreichischen Landesverwaltung festzustellen. Es fallt auf, daß die Dedikationsformel Hartliebs, die erst den personalen Bezugsrahmen zwischen Autor und Auftraggeber herstellt, außer in der von Albrecht III. selbst in Auftrag gegebenen St. Gallener Handschrift rasch unterdrückt wird. Wenn dieses Fehlen nicht nur auf die Abhängigkeit von derselben lückenhaften Vorlage zurückzuführen ist, was zumindest bei der Abschrift der Mülichs nicht anzunehmen ist, da diese die Vorlage durchaus von Hartlieb selbst erhalten haben können, spräche dieser Befund für eine bewußte Herstellung von Öffentlichkeit. Diese Annahme wird unterstützt durch die Györer Handschrift mit ihrer geradezu exemplarischen Kürzung um den Prolog. Denn diese Kürzung bedeutet nun genau die Verminderung der Übersetzung um die durch die vorgestellte Fürstenregel verordnete Verstehensperspektive; ohne die Fürstenregel steht die >Benutzung< des >Alexander< im Belieben des Lesers. Die Herstellung von Öffentlichkeit, d. h. die sekundäre Rezeption in einem nicht von Hartlieb angesprochenen weiteren Rezeptionsraum, geht hier Hand in Hand mit dem Verzicht auf die Teile des >AlexanderAlexander< für einen Erwartungshorizont, der weiter zu fassen sein wird als die Erwartung des Herzogs, die nur in dem Exempel Alexanders vitia und virtutes einer fürstlichen Lebensführung zu finden sucht, die er auf seine eigene Lebenspraxis als Landesherr beziehen kann.
104
G y ö r Mss. I. 7 ist auch beschrieben von Eugen Travnik: Über eine Raaber Handschrift des Hartliebschen Alexanderbuches. Münchner Museum für Philologie des Mittelalters und der Renaissance 2 (1913/14), S. 211—221.
164
b) D i e
Sammelhandschriften
D e r >Alexander< steht in elf S a m m e l h a n d s c h r i f t e n ( c g m 2 7 2 , S B P K 1066, Pierpont M o r g a n
Library
782, c g m
580, c p g
154, Ö N B
mgf 2906,
c g m 288, K l o s t e r n e u b u r g 1 0 6 5 , St. P ö l t e n 1 6 , C o l o g n y , B i b l . B o d m .
91,
E d w a r d L . Stone Library, R o a n o k e , 10. Bei der letztgenannten
Hand-
s c h r i f t h a n d e l t es s i c h u m e i n e A b s c h r i f t d e s D r u c k s A n t o n S o r g
Augs-
b u r g 1478 o d e r 1 4 8 0 [ G W 885/886]). D i e H a n d s c h r i f t e n k ö n n e n , freilich mit aller V o r s i c h t angesichts der kleinen Z a h l der j e w e i l i g e n gebungen,
durch
den K o n t e x t
des >Alexander< in drei G r u p p e n
schieden w e r d e n , die moralisch-katechetische, reisechronikalische
Umgeund
fürstenbelehrende Literatur enthalten. S B P K m g f 1066 enthält n e b e n d e m >Alexanden n o c h den R e i s e b e r i c h t des J o h a n n e s de M a n d e v i l l e . D e r >Alexander< ist 1 4 6 2 v o n J o r i g Sachs in Walh e n s t o r f f g e s c h r i e b e n w o r d e n , S c h r e i b e r des R e i s e b e r i c h t s w a r i m g l e i c h e n J a h r P e t r u s Seltzem v o n S a u t t e r f ö r . D i e H a n d s c h r i f t s t a m m t aus d e m Besitz der G r a f e n v o n S t a r h e m b e r g auf R i e d e g g , w o h l das S t a r h e m b e r g bei W i e n e r N e u s t a d t ; 1 0 ' der B e s i t z v e r m e r k allerdings rührt aus d e m J a h r 1 6 5 2 , ü b e r die v o r h e r i g e P r o v e n i e n z ist nichts bekannt. Ö N B 2906 enthält die >Reise z u m heiligen Grab< v o n L u d o l f v o n S u d h e i m und dessen Text >Von d e n sieben H a u p t k i r c h e n R o m s < , ' ° 6 w e i t e r eine anon y m e C h r o n i k U l m s . D e r > A l e x a n d e r ist 1 4 7 7 g e s c h r i e b e n w o r d e n ; die H a n d s c h r i f t w a r bis z u m J a h r 1 5 7 6 i m Besitz der G r a f e n v o n Z i m m e r n . 1 0 7
106
107
Hermann Oesterley: Historisch-geographisches Wörterbuch des deutschen Mittelalters. Gotha 1883, S. 650. Ein Graf von Starhemberg war 1436 unter dem Gefolge Herzog Friedrichs von Österreich-Steiermark auf seiner Pilgerreise in das Heilige Land (Vgl. Reinhold Röhricht: Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande. Gotha 1889, S. 126). Vgl. Marie-Luise Bulst-Thiele: Ludolf von Sudheim. In: ! V L 5, Sp. 984-986. Menhardt, I, S. 607 irrt hier, wenn er die beiden Texte mit Felix Fabris >Evagatorium< identifiziert. Dies kann schon deshalb nicht sein, weil das Datum, das den Text >Von den sieben Hauptkirchen Roms< beschließt, 1470, zehn Jahre vor der ersten Pilgerreise Fabris liegt. Vgl. Kurt Hannemann: Fabri, Felix. In: ! V L 2, Sp. 682-689. Dort auch Sp. 687 die Berichtigung Menhardts mit dem Hinweis auf Ludolf von Sudheim. Die Handschrift ist 15 76 durch eine Schenkung des Grafen Wilhelm von Zimmern in die Bibliothek des Erzherzogs Ferdinand zu Innsbruck gelangt, von dort 1665 in die Hofbibliothek (Vgl. Theodor Gottlieb: Zimmersche Handschriften in Wien. Z f d P h 31 [1898], S. 303—314). Ein Verzeichnis der geschenkten Handschriften ist von dem Grafen selbst unterschrieben worden. Das Verzeichnis ist abgedruckt bei Gottlieb, S. 3 1 2 - 3 1 4 ; dort unter der Nr. 46 Historia Eusebii vom großem Alexander teutsch geschrieben. Mit dieser Schenkung gelangte auch die >de amoreTractatus de superstitionibus< enthält (Nr. 39 = Ö N B 3973). Zwei der sechs Werke Hartliebs und eine seiner lateinischen Vorlagen fanden sich also auch in der Zimmerschen Bibliothek.
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Cpg 154 verzeichnet die deutsche Chronik des Martin von Polen, Stücke aus der Kaiserchronik und Sprüche Salomons und Morolfs. Das Datum der Abschrift ist 1474; der Handschrift beigebunden sind Drucke des >ApolloniusVom Heilthum in Andechs< und des >BelialAlexander auf den >Spiegel menschlicher BehaltnisVon den Sieben Tugenden und Lastern* und eine deutsche Ars moriendi folgen. Diese Handschrift ist, wie oben schon erwähnt wurde, von Volckhard Landsberger im Jahr 1461 wohl in Augsburg geschrieben worden. Der damalige Besitzer ist nicht festzustellen; der Codex selbst stammt aus der ehemaligen (Dettingen-Wallersteinschen Bibliothek. Auf diesem Textzeugen soll der Bämlersche Druck von 1473 (GW 884) beruhen. 108 In der Klosterneuburger Handschrift 1065 folgt auf den >Alexander< eine deutsche >VisionMeditationenGebete< und eine >Paternoster-AuslegungTraktat von der Heiligen Messe< und schließlich ein deutsches, nicht identifiziertes Itinerar. Die Handschrift ist 1473 geschrieben. Über die Provenienz zu diesem Zeitpunkt ist nichts festzustellen; auf f. 1 findet sich allerdings ein Klosterneuburger Besitzvermerk aus dem Jahr 1656. Dieser Vermerk und der hauptsächlich katechetischerbauliche Kontext sprechen dafür, daß die Handschrift schon immer im Besitz des Klosters war. Die Handschrift 10 der Bibl. Stone bietet eine Abschrift des Sorg-Druckes und kann daher frühestens aus dem Jahr 1478 stammen. Sie enthält außerdem die >Horae Beatae Mariae VirginisAlexander< Hartliebs Prosa-Auszüge aus Seifrits >AlexanderAlexanden die pseudo-aristotelischen >Secreta Secretorum< in der Übersetzung der Hiltgart von Hürnheim. Die
,0,
Vgl. '°> Vgl. 1,0 clm lich,
166
Ricci/Wilson, S. 2319. Schneider, I, S. 2iof. 18042 (1470), clm 18307 (1480), clm 18423 (o. J.), clm 18522a (1460) (Vgl. RedS. 192).
Handschrift muß vor 1465 geschrieben worden sein," 1 als ehemaliger Besitzer wird das Kloster Seligenthal vermutet." 2 Die Handschrift Cologny Bibl.Bodm. 91 aus dem Jahr 1468 enthält neben dem >Alexander< den >Renner< Hugos von Trimberg. Der Codex wurde 1655 dem Hildesheimer Jesuitenkolleg von einer nicht benannten adligen Witwe aus mandelslo, d. i. das hannoversche Mandelsloh," 3 geschenkt." 4 Die St. Pöltener Handschrift stellt sich hauptsächlich als >Kriegsbuch< dar: außer dem >Alexander< findet man eine >Ritterordnung und KriegslehreDisticha Catonis< und eine Aufstellung über die Mannschaft beim Kriegszug in die Steiermark 1456Alexander< findet sich also in drei relativ scharf voneinander unterscheidbaren Rezeptionskontexten. Ist in dem ersten der Erwartungshorizont begründet durch den Zusammenschluß mit Chroniken und Itineraren, so scheint der dritte der Intention Hartliebs zu folgen. Die Aufnahme gemeinsam mit dem pseudo-aristotelischen >Secretum Secretorum für Alexanden betont die Zielsetzung als Fürstenregel;" 7 das >Secretum< bietet die gleichsam kontrapunktische Ergänzung zu dem Brief Aristoteles' an Alexander. Die Auszüge aus Seifrit scheinen mehr auf die Person Alexanders hinzuzielen, sie runden die Biographie ab und fügen mehrere Episoden seines Lebens hinzu, die insgesamt ein positives, vorbildhaftes Bild Alexanders zeichnen. Der Zusammenschluß mit dem >Renner< als einer Summe mittelalterlicher Lebenslehre scheint " ' G e o r g Kriesten: Über eine deutsche Übersetzung des pseudo-aristotelischen »Secretum Secretorum« aus dem 1 3 . Jahrhundert. Diss. Berlin 1 9 1 7 , S. } 6 f f . hat nachgewiesen, daß die Wernigeroder H s Z b 4, die nur das >Secretum secretorum< enthält, unmittelbare Abschrift v o n c g m 288 ist. D a Z b 4 1 4 6 ; geschrieben w u r d e , liefert sie den Terminus ante für c g m 288. ' " R e i n h o l d Möller: Hiltgart v o n Hürnheim: Mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des »Secretum Secretorum«. Berlin 1 9 6 3 . ( D T M 56), S. X X V . Oesterley, S. 4 5 2 . " 4 Z u dieser Schenkung vgl. Ernst: Incunabula Hildeshemsia II, S. 1 4 1 . " ' Diese >Aufstellung< ist ediert bei Gerhard Winner: Sankt Pöltner Miszellen. J a h r b u c h für Landeskunde v o n Niederösterreich 37 ( 1 9 6 7 ) , S. 1 0 0 - 1 1 1 ; hier S. 101—102. " s Winner, S. 102. 1,7
D a s >Secretum< ist Fürstenregel mit angeschlossenem Gesundheitsregimen. V g l . oben Kap. 2.1.1.
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ebenfalls auf die Exempel-Funktion des >Alexander< ausgerichtet zu sein; die Einbettung in Kriegslehren und Kriegsberichte rekurriert wohl auf das Verständnis Alexanders als Feldherr. Die Umgebung von P M L 782 schließlich läßt die Verstehensperspektive des >Alexander< auf eine allgemeinmenschliche religiöse Morallehre hinzielen; Adressat ist nicht mehr allein der Fürst, sondern jeder Mensch. Der katechetische Traktat von den sieben Hauptsünden und die Ars moriendi scheinen dabei eher ein negatives Bild Alexanders zu zeichnen (Vgl. die >BriefwechselAlexander< gedeutet; anders bei den chronikalischen Sammelhandschriften. Auch dort aber wird durch die Umgebung auf die Geschichtlichkeit der Taten Alexanders hingewiesen; das mittelalterliche Geschichtsverständnis hat dadurch auch hier noch den exegetischen Zugriff gewahrt. Daß dies in gewisser Weise selbst noch bei den Reiseberichten der Fall sein konnte, wird unten am Beispiel eines Textzeugen des >Brandan< gezeigt werden. Die Provenienz der Handschriften läßt nun wieder verschiedene Rezeptionsräume feststellen; die Handschriften stammen aus Klöstern, Fürsten- und Bürgerbibliotheken. Dabei erscheint es insgesamt unmöglich, jeweils einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem im Kontext sich manifestierenden Erwartungshorizont und dem Rezeptionsraum zu ermitteln. Es ist aber auffallend, daß die Funktion des >Alexander< auf der einen Seite dahingehend differenziert wird, daß die tropologische Dimension des Textes von der fürstenspezifischen erweitert wird hin zu einer allgemeinen Adressierung, wobei auf die tropologische Sinnschicht explizit hingewiesen wird, und daß auf der anderen Seite nichts mehr auf die tropologische Dimension hindeutet, tatsächlich aber das Potential einer solchen Exegese durch den chronikalischen Charakter des >Alexander< auch in diesen Kontexten noch gewahrt bleibt. Was aber, und das ist eigentlich am erstaunlichsten, überhaupt nicht zu konstatieren ist, ist eine Fiktionalisierung des >Alexander< derart, daß er nur noch unterhaltende Funktion hätte: sein religiös-moralisches Sinnpotential bleibt fast in jedem Kontext erhalten.
168
c) Die Dindimus-Handschriften Von dem Auszug aus dem >AlexanderSecretum SecretorumBriefwechselAlexander< selbst nur als negatives Exemplum für die Fürstenregel benutzen kann. Unter dieser Perspektive ist der Verzicht auf das Negativexempel Alexanders die Konsequenz, die auf die Annahme des >Briefwechsel< als Fürstenregel — wie in S B P K mgf 548 und cpg 172 — folgen muß: der >Briefwechsel< wird aus dem >Alexander< ausgegliedert und selbständig überliefert.
Zusammenfassung Die Untersuchung der Rezeption zeigt folgende Ergebnisse. Der >Alexander< wird in der Sekundärrezeption aus mehrfacher Perspektive gesehen: als Exempelsammlung im exakten Sinne der ursprünglichen Rezeptionsvorgabe, als Exempelsammlung im katechetisch-moraldidaktischen Sinne und als chronikalischer Bericht. Diese drei Verstehensperspektiven bestimmen auch die Rezeption des >BriefwechselsBriefwechsel< jedoch neben seiner Illustration der christlichen Tugenden auch eine Kritik der Taten Alexanders bietet, muß sein Verbleiben im >Alexander< die dort etwaig gezeichnete Vorbildhaftigkeit Alexanders konterkarieren; aus der Perspektive des >Briefwechsels< gesehen muß Alexander als Negativexemplum erscheinen. Damit wird das Ergebnis der Prolog-Analyse bestätigt: Alexander wird nicht durchgängig als idealer Fürst angeboten, der Leser muß sich im Gegenteil den Sinn der Alexandergeschichte selbst erarbeiten. Eine Hilfe wird ihm nun gerade im >Briefwechsel< gegeben; die dort benutzten und betonten christlichen Tugendbegriffe, denen Alexander allemal nicht genügt, legen auch die Verständnisperspektive des sonstigen Alexanderstoffes fest. Da Alexander somit letztlich n u r als Negativexempel dienen kann, liegt es nahe, den >Briefwechsel< auszugliedern und als eigenständige >positive< Fürstenregel zu rezipieren.
111 ,l6
Vgl. Weidenhiller, S. 16-24. Pfister, Nachleben, S. 52.
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Diese Annahme wird durch die Provenienzen gestützt: Gerade die auffallend starke Verbreitung in Klöstern, in denen ja die im >Briefwechsel< normierten Tugenden nicht >übersehen< werden können, spricht für eine Auffassung Alexanders gerade als Gegenbild des idealen Fürsten. Damit schließt sich wieder der Kreis zu dem theologisch geprägten Erwartungshorizont, von dem aus auch die lateinische Vorlage gesehen wurde. Durch die Übersetzung Hartliebs hat sich die im lateinischen Rezeptionsraum herrschende Verstehensperspektive nicht verändert, sie konnte auch für einen laikalen Adressatenkreis bewahrt werden. Dies gelang sogar so gut, daß auch die Übersetzung wieder den Weg zurück in die klösterliche Umgebung gefunden hat; hier allerdings tritt der spezifische Blick auf Alexander als Fürst zurück hinter sein Bild als Mensch. Die Ausgliederung des >Alexander< aus einem Rezeptionskontext, in dem das exegetische Verfahren gleichsam immer präsent ist, kann dazu führen, daß die Taten Alexanders nicht mehr als Zeichen einer anderen Sinnschicht verstanden werden, sondern daß seine Geschichtlichkeit nur noch als Faktizität verstanden wird. Eine solche Rezeption, die den Alexanderstoff nicht mehr als Exempel nimmt, folgt dann auch nicht mehr der von Hartlieb in seiner Fürstenregel vorgegebenen Verstehensperspektive, sie beachtet die vorangestellte Fürstenregel nicht oder schneidet sie regelrecht ab, wie er in der Györer Handschrift geschehen ist. So löst sich schließlich, dies sei noch angemerkt, das Forschungsproblem >Fürstenspiegel< versus >VolksbuchVolksbuchAlexander< anwendbar ist. Die Charakterisierung des >Alexander< durch diesen Begriff gründet sich in der Forschung vor allem auf die große Zahl von Drukken, die von dem >Alexander< erfolgt sind (Es sind neun Drucke, G W 8833-889, bekannt; Hain 7 9 0 = G W 887a ist nicht mehr nachweisbar), und auf den >breiten, behaglich erzählenden StilVolk< sah (Vgl. zu diesem Komplex auch Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Stuttgart 1977). Daß die Druckauflagen kaum vom >VolkAlexander< kaufen zu können, etwa ein Zehntel seines Jahresgehalts als Leibarzt aufbringen müssen (Vgl. die Bücherpreise bei Sauer, S. Ziff.). Nach Sauer, S, 89 wurden erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die sogenannten Volksbücher von der städtischen Mittelschicht rezipiert. Auch die Rezipienten der Drucke werden demnach die gleichen gesellschaftlichen Gruppen gewesen
!7I
Hartlieb setzt den Stoff einer Gattung in den Rahmen einer anderen Gattung, wobei der übergreifende Rahmen die von Hartlieb intendierte Verstehensperspektive normiert und aus dem Sinnangebot des Stoffes den Exempelcharakter herausgreift. Folgt nun der Leser nicht der Norm des Rahmens, steht der Stoff wieder mit seinem gesamten Sinnangebot zur Verfügung, der Leser kann den Text aus seinem eigenen Interesse verstehen. Mit anderen Worten: Es ist nicht die Frage, wie ein angeblich als Fürstenspiegel konzipiertes Buch zum Volksbuch wurde; vielmehr hatte gerade die Einbindung der Übersetzung der >Historia de preliis< in eine Fürstenregel von vornherein dem nichtfürstlichen Leser die Möglichkeit offengelassen, der Regel nicht zu folgen. Nicht obwohl, sondern weil Hartlieb eine Fürstenregel voransetzte, konnte der >Alexander< zum »Volksbuch« werden.
4.2.
D e r >Dialogus miraculorum
Dialogus< ein Übungsbuch? Der >Dialogus miraculorumDialogus< als eine Sammlung von Exempeln versteht, die aus dem Funktionszusammenhang von didaktisch intendierter Verdeutlichung eines Predigtsein, wie sie als Rezipienten der Handschriften festgestellt wurden. Für unsere Frage ist die Zahl der Drucke auch wenig aussagekräftig, da sie nichts über die Gebrauchsfunktion des Textes mitteilt. 128 Caesarii Heisterbacensis Monachi Ordinis Cisterciensis Dialogus Miraculorum. 2 Bde. Hrsg. von Joseph Strange. Köln-Bonn-Brüssel 1 8 5 1 . (Photom. Nachdr. Ridgewood 1966) " ' V g l . Karl Langosch: Caesarius von Heisterbach. In: *VL 2, Sp. 1 1 5 2 f f . " » V g l . H. Höfer: Zur Lebensgeschichte des Caesarius von Heisterbach. Annalen des Hist. Vereins für den Niederrhein 65 (1898), S. 257—240. 1,1 Langosch, Sp. 1156. Sp. 1158 nennt Langosch die >Libri miraculorum< die »neue Exempelsammlung«. Gerade der Begriff der Sammlung unterstellt den Aspekt des zufallig Additiven und quantitativ nicht Abgrenzbaren, der sicherlich in dem >Dialogus< nicht zu beobachten ist.
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Inhaltes herausgerissen und zu einer geistlichen Novellensammlung, geradezu zu einem »Schatzkästlein eines rheinischen Hausfreundes« 1 ' 2 vereinigt worden seien: »Aus dem Predigtexempel wurde die zur Unterhaltung vorgebrachte Erzählung«. 1 " Eine derartige Interpretation, die auf eine primär erzählerisch-novellistische Intention des Verfassers abzielt, muß dann natürlich den Dialog-Rahmen negligieren; er wird als notdürftige Legitimierung eines eigentlich nicht erlaubten Unterhaltungsbedürfnisses gesehen, sei aber prinzipiell nur aufgepfropft.' 54 Eine solche Einordnung, die anscheinend entweder aus ästhetischen 1 " oder kulturgeschichtlichen 1 ' 6 Gründen nur den Blick auf die Exempel selbst zuläßt, ist irreführend, wenn nicht falsch. Zwar enthält der >Dialogus< eine große Menge von Exempeln, er ist deshalb aber weder eine Exempelsammlung, wie sie im Mittelalter als Florilegium zum Gebrauch des Predigers angelegt wurden, 1 ' 7 noch ein Erzählwerk im Sinne einer Novellensammlung; 1 ' 8 die Exempel selbst sind nur Mittel zur Vermittlung des Lehrinhalts des >DialogusDialogusDialogus< »nur Erzählungen und umrankt sie, wie zur Entschuldigung seines Tuns, mit notdürftigen, oft an den Haaren herbeigezerrten Mahnreden«.
So Greven, S. 8, über das Homilienwerk Caesarius': »Freilich ist diese Schrift nicht so unterhaltsam wie das Erzählungsbuch des Dialogus.« ''''Vgl. die Begründung Kaufmanns, S. 1, für den Wert des >DialogusDialogusDialogus< ist demnach auf der einen Seite ein Lehrwerk für den Klosterbruder, der über selbst zu leistende, allerdings angeleitete tropologische Sinnerschließung zu bestimmten Verhaltensweisen geführt werden soll; diese sind über die zwölf Distinktionen verschiedenen Bereichen des Klosterlebens und der Gottesverehrung zugeordnet. Andererseits ist es ein Werk, das selbst diese Sinnerschließung paradigmatisch einübt; in diesem Sinne ist es ein >MethodenübungsbuchDialogus< nur den zweiten Teil, also die Distinktionen sieben bis zwölf übersetzt. Einen Grund dafür gibt er nicht an; aus seiner Formulierung, den übrigen tayl Cesarj zu verdeutschen, wollte Drescher allerdings schließen, daß Hartlieb dem Adressaten der Übersetzung, Hans Püterich, den ersten Teil vielleicht »schon im mündlichen Verkehr« vermittelt hatte. 147 Diese von Drescher selbst als »etwas dürftig« bezeichnete Annahme ist allerdings auch nicht wesentlich; wichtiger ist die Begründung, die sich für die Auswahl des zweiten Teils anbietet: in den letzten sechs Distinktionen werden Themen behandelt, die von allgemeinerem Interesse sind als die eher auf die spezifische Situation der Klosterbrüder zugeschnittenen ersten sechs Distinktionen. 148 146
Langosch, Sp. 1158, bemängelt, daß es dem Dialog an Leben fehle und den beiden Sprechern an Charakterisierung. Er übersieht dabei eben den Einübungscharakter des >Dialogus< als Lehrbuch und rekurriert auf Momente, die eher einer Rahmenerzählung zu eigen sind. E r könnte ebensogut dem >Donatus< eine mangelnde Zeichnung von Lehrer und Schüler vorwerfen. Daxelmüller, S. 80, dagegen hat schon auf die Struktur des >Dialogus< als Unterrichtswerk hingewiesen, in dem die Exempel »als Beweise aus der real ereigneten Geschichte« dienen. Z w a r korrigiert er damit schon die gängige Interpretation des >Dialogus< als Exempelsammlung, reduziert aber die Exempel auf ihre Historia-Vwnktion und muß so die einzigartige Verschränkung v o n tropologischem Sinnangebot und einübender paradigmatischer Erschließung dieses A n g e b o t s übersehen.
147 M!
Drescher, S. X V I I I . ES stellt sich natürlich auch immer die Frage, ob Hartlieb eine vollständige Vorlage zur V e r f ü g u n g hatte, gerade auch in Betracht des Umfangs des >DialogusBuch< ein Indiz für Hartliebs Kenntnis des ganzen >DialogusDialogus< benutzt haben muß, von der auch die Innsbrukker Handschrift 185 und die Münchner Codices clm 2687 und clm 5106 abstammen.' 49 Die direkte Vorlage selbst ist nicht bekannt, jede Äußerung über Hartliebs Übersetzungstechnik muß daher mit den schon erwähnten Unwägbarkeiten rechnen. Hartlieb fügt in den Caesarianischen Prolog des zweiten Teils einen eigenen Prolog ein, so daß gleichsam ein zweifacher Prolog der Übersetzung vorangeht. Die Vorrede des Caesarius rekapituliert den Inhalt des ersten Teils und stellt die folgenden Distinktionen vor; einen Großteil des Prologes nimmt dabei die Begründung der Behandlung der marianischen Wunder und Erscheinungen an erster Stelle ein. Hartlieb äußert sich wiederum zum Übersetzungsvorhaben: Aristo tiles in seinen natürlichen püchen lernt und gibt underschayd aynyegklich mensch %w erkwnden, und spricht allso: >Wer ainygklicher ist. da von redt er und würckt sein ajgenschafft, dabey man in erkünden magAin böser bawm mag nit gutt frucht tragendetc. Sejd nwn begerung gutter ding allain entsprüst von fügenden und gutten sitten, so ist wol %ymlich und pillich das zeitlichem begeren chain widersagen noch intrug geschech. Darumb pin ich, doctor Hartliepp, wolgenaygt dem bitten undflehen ains edeln, tugend und erberndes mans, der sein begyrd und willen allain secc^t und naygt füdrung ains gemain nucc.ζ, und der chainerlaj geferd, lust noch lyst vor secc^t erberkajtt, das hab ich nwn an dir, Hanns Pütrich, purger München,yec% langjar gemerckt und erkanntt. Darumb volfür und layst ich dein begem und mach dir den übrigen tayl Cesary teusch nach dem pesten, als ich kan, und pitt dich den mittailn allen glitten und ergernden menschen. Wann ich sag dir in warhaitt das so vil gutter ler und beispill darinn sein, dar durch ain sunder bekertt und ain gutter gevest und bestätt wirtt, als man in der heyligen geschafft inndert erfinden kan oder mag, und ob nwn dise geschrifft alle erdicht wäer, das doch nit ist, noch dann mocht daraus grosse und guttew underweysung geschechen, wann die höchst weyshait auch vil beyspill gesecc^t hatt, uns% arme kristen damit χμ> under weysen. Amen
Als Prooemium erscheint die Sentenz, die Hartlieb auch in seinem Prolog zum >Brandan< verwendet, dort allerdings an anderer Stelle. 1 ' 2 Die aristotelische Aussage, des Menschen Charakter könne an seinen Werken erkannt werden, eingebunden in den religiösen Kontext durch das Drescher, S. X I . Matth. 7,18. Drescher, S. 1,5ff. ' • ' V g l . unten Kap. 4.3. M°
177
Zitat von Matthäus 7,18, wird dann dazu benutzt, die Legitimation für die Übersetzungshandlung zu liefern. Man erinnere sich an das oben Gesagte: Durch das Prooemium wird eine Gesprächssituation eröffnet, es wird ein gemeinsames Vorverständnis geschaffen oder aber daran erinnert. Hier werden gleich zwei Proverbia zitiert: Das eine scheint aus der >Physiognomie< des PseudoAristoteles zu stammen, das andere aus der Heiligen Schrift. Dadurch wird ein doppelter Bezugsrahmen geschaffen: der zwischen Hartlieb und Hans Püterich, der auf eine gemeinsame Kenntnis der aristotelischen Schriften rekurriert — ich denke hier an den Verweis Hartliebs auf die pseudo-aristotelische Physiognomie im >Alexander^" und im >Buch aller verbotenen Kunst< IH einerseits, andererseits an den Traktat >de naturis rerum, Püterich habeH, wie er bei Gotzkircher erwähnt w i r d 1 " —, der aber durch die Doppelung mit Hilfe des Matthäus-Spruchs wieder in einen größeren, heilsgeschichtlichen Bezug gestellt wird. Die Eigenschaften Püterichs, auf die dann Hartlieb verweist - Tugend und Ehre eines Mannes, der sein begyrd und willen allain seccv^t und naygt füdrung ains gemain nucc·.ζ —, können dann so erschlossen werden durch — nach Aristoteles — das äußere Zeichen des zeitlichen begerens. Gleichzeitig aber geht das Begehren ja auf die Übersetzung des >DialogusDialogus< zu normieren: Wenn der Wunsch nach einer Übersetzung das Zeichen für die innere Tugend sein soll, dann muß derjenige, der diese Tugend besitzen will, im Umkehrschluß auch nach einer Übersetzung verlangen; wenn er sich aber der Hartliebschen Argumentation ausliefert, und das muß er wiederum, weil sie durch den Bezug auf das Wort Christi in einen autoritativen Rahmen gestellt ist, liefert er sich auch der Intention Hartliebs aus. Hartlieb setzt also durch diesen Scheinschluß seine Rezeptionsvorgabe durch. Daß aber der >Dialogus< tatsächlich schon anders, als es die Intention Hartliebs verlangte, gelesen werden konnte, zeigt der zweite Teil des Lechner-Petri, S. 65. " 4 Ulm, S. 59. Vgl. unten Kap. 5.
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Prologs. Der Nutzen des >Dialogus< besteht in der moralischen Lehre, die durch die Exempel des >Dialogus< vermittelt wird, dar durch ain sunder bekertt und ain gutter gevest und bestätt wirft. Hartlieb rekurriert also genau auf die tropologische Sinnschicht der Exempel; die Funktion der Exempel ist der Aufruf zu einem Nachvollzug der darin gegebenen underweysung. Interessant ist nun der Konnex, den Hartlieb mit seinem Hinweis auf die Beispiele der höchst weyshait in der Heiligen Schrift herstellt: >Dialogus< und Bibel gleichen sich also durch ihre tropologisch zu erschließende Unterweisung zu moralischem Handeln. Hartlieb kennt demnach die mittelalterliche Argumentation um die Funktion des Exempels; um die Frage der Veritas gerade dieser, im >Dialogus< enthaltenen Exempel aber scheint, vielleicht mit Püterich selbst, schon vor der Übersetzung diskutiert worden zu sein. Caesarius berichtet, daß die von ihm erzählten Wunder tatsächlich geschehen seien,1'6 dies wurde wohl bezweifelt. Hartlieb nimmt darauf Bezug, wenn er sagt, ob nwn dise geschrifft alle erdicht wäer, das doch nit ist, noch dann mocht daraus grosse und guttew underwejsung geschechen, wann die höchst weyshait auch vil beyspill gesecc^t hatt, uns% arme kristen damit %u> under weysen. Die Argumentation ist geschickt: Sicherlich sind die Exempel wahr. Selbst wenn sie aber im Sinne der historia nicht wahr wären, wären sie es im Sinne der tropologia, denn auch Gott hat uns Beispiele gesetzt, die wir als Exempel für eine aedificatio erkennen sollen. Hartlieb argumentiert hier sehr bewußt, wie es scheint, im Rahmen der theologischen Exegese. Die Argumentation ist als Rettung der tropologischen Sinnschicht gegen einen Erwartungshorizont zu verstehen, der die Wahrheit der Exempel als res gesta leugnet und damit ihr Verständnis ins Belieben setzt; gegen diesen Zweifel führt Hartlieb das Modell der höheren, von Gott gesetzten Wahrheit. Mit der Einführung einer Wahrheit anderer Ordnung, die nicht mehr von der Faktizität der res gesta abhängig ist, scheint er auf die Diskussion der Unterscheidung von historia und fabula zu zielen; 1 ' 7 auch eine fabula kann eine verborgene Wahrheit tragen, eine solche Geschichte wird integumentum genannt. Dieses integumentum unterscheidet sich von der »Allegorie der Heiligen Schrift dadurch, daß diese ihre Wahrheit durch wirklich Geschehenes ausspricht, während das integumentum seine Wahrheit durch Erfindung ausdrückt«. 1 ' 8 Wichtig wurde der Begriff 1.6 1.7
Cum ex debt to iniunctae sollicitudinis aliqua ex his quae in ordine nostra nostris miraculose gesta sunt . . . (Strange, I, S. i). Vgl. Brinkmann, Hermeneutik, S. i 6 $ f f . Brinkmann, Hermeneutik, S. 169.
temporibus
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des integumentum seit dem 12. Jahrhundert, um auch christliche Wahrheit in den antiken Philosophen finden zu können; nicht nach dem Literalsinn seien sie zu lesen, sondern nach dem sensus parabolicus. Die Fiktion der fabula ist eine Verhüllung der Wahrheit; sie besitzt einen Zeichenwert, der figurativ auf das Verborgene deutet. Figura . . . est oratio quam involucrum dicere solent. Hec autem bipartita est: partimur namque eam in allegoriam et integumentum. Est autem allegoria oratio sub historica narratione verum et ab exteriori diversum involvens intellectum, ut de lucta Iacob. Integumentum vero est oratio sub fabulosa narratione verum claudens intellectum, ut de Orpheo. Nam et ibi historia et hie fabula misterium habent occultum, quod alias discutiendum erit. Allegoria quidem divine pagine, integumentum vero philosophice competit Die göttliche Wahrheit wird über die Allegorie erschlossen, die philosophische über das Integumentum. Der Unterschied scheint darin zu liegen, daß das göttliche Zeichen von Gott faktisch gesetzt werden kann und über seine Dingwirklichkeit auf den verborgenen Sinn deutet, daß das >philosophische< Zeichen diese Möglichkeit natürlich nicht besitzt, aber gleichsam unter Verzicht auf das ontologische Zeichen auch auf einen spirituellen Sinn verweisen kann und dadurch Wahrheit, allerdings eben einer anderen Ordnung, besitzt. Wenn Hartlieb also auf Zweifel eingeht, daß die Wundererzählungen des Caesarius im faktischen Sinne nicht wahr seien, und eine solche Behauptung eigentlich nicht streng verneint, dann erklärt er doch gleichzeitig, daß dies für ihre tropologische Wahrheit unwichtig sei, weil eben eine derartige Wahrheit prinzipiell auch durch Dichtung bezeichnet werden könne. Denn, das scheint mir der explizite Hinweis Hartliebs auf die Parallelität zu den von Gott gesetzten Exempeln sagen zu wollen, die figurative Erschließbarkeit dieser intendierten Wahrheit ist hier unabhängig von dem Charakter der Erzählungen als historia oder als fabula, wenn auch — auch das scheint mir zum Ausdruck zu kommen — die historische Wahrheit doch noch eine andere, höhere Qualität hätte. ' " B e r n h a r d Silvestris in seinem K o m m e n t a r zu Martianus Capeila; zitiert nach Brinkmann, Hermeneutik, S. 169. [Figura ist eine Redeweise, die gewöhnlich das Verhüllte ausdrückt. Sie ist zweifacher Art: wir teilen sie nämlich in allegoria und integumentum. Die allegoria ist eine Redeweise, die die wahre Erkenntnis unter der geschichtlichen Erzählung des Äußerlichen verhüllt, so wie v o m K a m p f Jakobs. Integumentum ist eine Redeweise, die die wahre Erkenntnis hinter fabulöser Erzählung verschließt, w i e v o n Orpheus. S o w o h l historia wie fabula besitzen ein verborgenes G e heimnis, das zu erforschen ist; allegoria aber gehört der H l g . Schrift zu, integumentum der natürlichen Erkenntnis.]
180
In der Übersetzung folgt Hartlieb dem lateinischen Text recht genau; es erscheinen zwar einige textuale Kürzungen, wobei aber nicht zu entscheiden ist, ob diese schon die Vorlage hatte. Hartlieb übersetzt auch — anders als die neueren Übersetzer — die tropologischen K o m mentare des Mönchs und die initiierenden Fragen des Novizen; es kommt ihm also durchaus auch, wie es aus dem Prolog zu erwarten ist, auf die Modelle der moralischen Sinnerschließung an. Auffällig ist, daß er bis zum 48. Kapitel der neunten Distinktion die lateinischen Incipits der Kapitel seiner Übersetzung voranstellt, während er von da an die Überschriften übersetzt, die er vorher unterschlagen hatte. Ich habe dafür keine Erklärung; denkbar wäre, daß die Incipits einen schnellen Zugriff auf die jeweiligen Kapitel der lateinischen Vorlage gewährleisten sollen — dies hieße, daß die Übersetzung weiterhin auf die lateinische Fassung verwiese —, möglich wäre aber auch, daß, ähnlich wie die Übernahme der Psalmen in ihrem lateinischen Wortlaut im >BrandanDialogus< wie bei dem >Alexander< für Hartlieb um einen sakrosankten Text handelt, der seine Funktion nicht mehr erfüllen könnte, würde man ihn ändern und sein Verständnis ins Belieben des Lesers stellen. Die Gebrauchsfunktion der Übersetzung ist aber dieselbe wie die der Vorlage: sie verlangt die Erschließung der tropologischen Sinnschicht und bietet so ein Modell der imitatio.
4.2.3. Rezeption Zur Rezeption der >DialogusSecretaDialogus< den Adressatenkreis seiner übrigen Schriften. Hans Püterich der Jüngere ist als Bürgermeister der Erste in der Stadt München, so wie es der Fürst in seiner Herrschaft ist; und demgemäß kommt auch ihm die Vorbildfunktion zu, die Hartlieb in dem Prolog des >Alexander< dem Fürsten zuspricht. Man darf sich nicht durch das Attribut purger χμ manchen, das Hartlieb Püterich beilegt, dazu verleiten lassen, hier einen >bürgerlichen< Rezeptions räum zu vermuten; dieses Attribut ist Bezeichnung des rechtlichen Status,' 66 nichts weiter. Tatsächlich ist die Hochfinanz Münchens, an deren Spitze der eine wie der andere Hans Püterich steht, eng mit dem Hof assoziiert; gerade aufgrund ihrer Kapitalkraft wird sie in den herzoglichen Rat berufen.' 67 Hartlieb übersetzt den >Dialogus< also nicht für »einen Bürger«; von Stand und politischem Gewicht aus gesehen gehört Püterich in die Nähe des Fürstenhofes; von der Funktion, die ihm Hartlieb als Vermittler der Lehren des >Dialogus< beilegt, hat er die gleiche Stelle inne wie der Fürst: beide, so die Prologe des >Dialogus< wie des >AlexanderDialogus< in dieser Hinsicht interpretieren; ,6
' Drescher, Caes., S. X I X . Der Umfang des >Dialogus< scheint eher zu einer exzerptartigen Überlieferung zu führen. Es ist eine recht breite Streuüberlieferung festzustellen; ohne gezieltes Suchen sind mir Exzerpte in folgenden Hss begegnet: cgm 3 7 1 ; cgm 523; cgm 275; München UB, z° Cod.ms. 677; Stuttgart L B , H B III 35,; Nürnberg G N M Hs 16567; Wolfenbüttel Cod. Guelf. 302.1. Extr.; Brit. Lib. add. 24946. ,6) Vgl. oben Kap. 2. 161
164
Ursula Freyberg zu Aschau heiratet 1459 Püterich zu Reichertshausen, Margarethe Gumppenberg 1459 Püterich zu Fußberg, Magdalena Kammerberg 1497 Püterich zu Harlanden, Sigaun Torer zu Eurasberg (f 1380) ist verheiratet mit Püterich aus München. Insgesamt haben die Püterich zwischen 1380 und 1 5 1 8 elfmal innerhalb des hohen und niederen Adels geheiratet. (Lieberich, Landherren, S. 66ff.) ,6 ' Lieberich, Landherren, S. 149. 166 167
Vgl. Anhang I, passim. Lieberich, Landherren, S. 1 5 1 .
182
dazu wird er von der normierenden Rezeptionsvorgabe Hartliebs gedrängt. Diese Vorgabe scheint sich gegen eine Verstehensweise zu richten, die den >Dialogus< tatsächlich nur mehr als unterhaltendes Werk lesen will; eine Lösung dieser Art des >Dialogus< aus seiner ursprünglichen Gebrauchsfunktion scheint Hartlieb verhindern zu wollen.
4.3.
D i e Brandanlegende
4.3.1. Die Vorlage: Der >Brandan< eine Legende? >Brandans Meerfahrt< wird als eine legendarische Reisebeschreibung bezeichnet, die an die Vita des Heiligen Brendan anknüpft. 168 Sie ist in zwei Hauptredaktionen überliefert, der lateinischen >Navigatio Sancti Brendani< und der dt./ndl. Sonderform der sog. Reisefassung. 169 Hartlieb übersetzt die >NavigatioReise< durch ihre Symbolhaftigkeit ausgezeichnet ist: Brandan wird durch die Erzählung eines ihn besuchenden Abts veranlaßt, die Terra Repromissionis Sanctorum zu suchen, und verläßt sein Kloster gemeinsam mit sieben von ihm ausgesuchten Mitbrüdern und drei Brüdern, die ihn um Mitnahme bitten, aber nicht zurückkehren werden. E r begibt sich auf eine siebenjährige Meeresfahrt, die ihn zu den alljährlichen Osterfesten immer wieder zu den selben Inseln führt, wo er vierzig Tage verharren muß; wobei in der Erzählung jeweils der erste Besuch dieser Orte erzählerisch gestaltet, die Fahrt der nächsten fünf Jahre aber nur zusammengefaßt wird. Im siebten Jahr erreicht er das in Nebel verhüllte Paradies und kehrt dann in sein Kloster zurück, um den Tod zu erwarten. Brandan ist auf dieser >Lebensfahrt zum ParadiesNavigatio< weder als Vita Brandans und wohl auch nicht als Episode seines Lebens interpretiert werden kann — die Kategorien der Definition rein deskriptiv gewonnen werden, in der zweiten Definition sogar nur von dem subjektiven Wahrheitsgefühl des Betrachters abhängig sind und demnach nichts über die mittelalterliche Gattungspoetik der Legende aussagen; nur diese aber kann für den Erwartungshorizont des mittelalterlichen Lesers aussagekräftig sein. Hier scheint mir der Ansatz von Schulmeister ergiebiger, der aus den lateinischen Legendenprologen mit Hilfe einer Untersuchung reichen patristischen und scholastischen Materials den Nachweis einer >intentionalen Gattungspoetik der Legende< führt. 1 7 ' Über den Nachweis, daß auch die mittelalterlichen Heiligenviten der Exegese des vierfachen Schriftsinnes unterliegen, zeigt Schulmeister, daß für diese gerade das tropologische Sinnangebot das bestimmende sei, das, so sein Fazit, nicht nur dazu auffordert, zu ' 7 ' Selmer, S. 1 4 5 . 172
Hellmut Rosenfeld: Legende. 4. A u f l . Stuttgart 1 9 8 2 , S. 1 5 .
"» ebd., S. 16. 174
Hellmut Rosenfeld: >LegendeηDialogus miraculorumLiber numerorum< des Isidor präsent gewesen ist: Septenarius numerus a nullo nascitur nec generat nec generatur. (PL 85, Sp. 186) 1,1 Im übrigen würde die Verminderung der 40 um die 7 genau auf die 53 führen, also gerade die Zahl, die auf die Lebensjahre Christi verweist und dadurch im Mittelalter besonders geheiligt ist (Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, z. Aufl. Bern 1954, S. 495). Die zahlenmäßige Struktur des >Brandan< impliziert sicherlich weitere Allegorien, die zu entfalten hier nicht notwendig ist; daß aber die Allegorese grundsätzlich auf das Leben Christi hin ausgelegt ist, bedarf sicherlich keines weiteren Beweises.
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E s ist hier nicht der Ort einer eingehenden Werkinterpretation; wichtig ist folgendes: Die >Navigatio< gehört eindeutig in die mit mittelalterlichen Kriterien differenzierte Gattung der Legende. Die von dieser Legende gebotene Sinnperspektive ist tropologisch zu erfassen; der Leser wird zu einem Leben angehalten, in dem er sich vertrauensvoll der Führerschaft Jesu unterwirft. Exemplarische Stationen des Zweifels und der Versuchung werden während der Seefahrt durchlaufen und gezeigt; aus der Lösung dieser Situationen kann der Leser eigene Handlungsanweisungen erschließen. Die Zahlensymbolik der >Navigatio< bindet die Legende auf der einen Sinnschicht ein in die H o f f n u n g auf das jenseitige Leben, auf der anderen Sinnschicht in das Heilsversprechen durch die Ankunft Jesu; die Legende insgesamt verweist also über Brandan auf die Hilfe und den Beistand Jesu auch in Situationen des tiefsten Zweifels mit dem Ziel der Erlangung des himmlischen Heils. 4.3.2. Intention Die Brandanlegende ist von Hartlieb für Herzogin Anna von Braunschweig übersetzt worden, die Gemahlin Albrechts III. Die Ubersetzung geht auf einen Wunsch der Herzogin zurück: 182 Ο haiige hoche unbegreifliche trinitat, aus dir enspriessen vnd fHessen alle genad, In dir gemessen, gewegen vnd geaalt sindt alle ding, dw behaltest all Sinn in beschliessung deiner bechennschafft. verleich mir armen, das leben vnd die legend sand Brandan dewt^schen durch vleissige anhangende pet der hochgepornen fürstin frawen anna von brawnsweitgemachel des durchleichtigen hochgeporen fürsten hert^og albrecht pfalt^graue bej rein hert^og in Bairen vnd Graue vohburg etc. wan seid nu ich doctor iohannes hartlieb der hochgeporen furstin mit versprochen diensten verpunden pin, vnd sj in jren jungen jaren mit jren rainen keuschen weiblichen Worten vnd geparden mich solang angedingt vnd gepetten hat, darjnn ich lauter verstee, wie wol ir auser gepärde weltlich vndfrölich sindt, als sj dan die ewig weishait mit aller gebier geschaffen hat, vern fur ander lewt mit allen dingen geplüemit vnd gepildet, das doch ir jnwendig gedencken vnd betrachten allain ^u der ewig weishait stendt, sejd ir jnnder vnuerkerter wil all %eit stätt solich ewig vn^ergancklich ding betrachten, wan ,8i
Die Edition von Zaenker lag mir noch nicht vor; vgl. oben Kap. 2. Die Zitate daher im folgenden nach cgm 689; der Abdruck folgt dem Wortlaut der Handschrift, es werden lediglich die vorkommenden Abbreviaturen aufgelöst und eine Interpunktion nach heutigem Gebrauch vorgenommen.
187
wie manigfeltig frewd, red, tentζ, türnier vnd vnf(allich sayttenspil, Simphony vnd musigk vor ir getriben sindt, jedoch so hat sj mich rtye erlassen flehenn, des deutschen sand brandan, daraus£ ich lauter kjess vnd verstee iren willen vnd gemüet mer genaigt sein gotes wunder wercken dan £u weltlicher vppigkait. Das selb der gotlich mund in dem haiigen (85v) ewangelio gesprochen hat: »wer vom himel ist, der redt himelisch, vnd wer von der weit ist, der redt von jrdischen dingen.« Auch aristotiles, der weis haiden jn der natürlichen bewärten geschrifft, hat gesprochen: »wer ain yedlicher ist, das selb treibt er mit Worten vnd wercken.« darvmb so pin ich solichem eberen pitten genaigt vnd gehorsam vnd vach an, das puch sand Brandan deutschen jn dem namen ihesu.
Der Prolog wird eingeleitet mit dem Anruf an die Heilige Trinität, wie er ähnlich auch zu Beginn des >Buchs aller verbotenen Kunst< zu finden war. Eine solche Schöpferinvokation besitzt seit dem 12. Jahrhundert eine besondere Tradition gerade in geistlicher Dichtung: »Gott gewinnt, gerade in seiner Eigenschaft als Weltschöpfer und Verkörperung des Anfangs, eine besondere Zuständigkeit am Anfang eines frommen Werks.«183 Durch diese Bitte versichert sich Hartlieb des göttlichen Beistandes, er definiert dadurch aber auch, so wie auch im >BuchLegende< benennt. E r rekurriert also schon in der Bezeichnung auf ein Gattungsbewußtsein, das es ihm erlaubt, die Legende als >Legende< zu erkennen; es ist zu vermuten, daß ihm auch die Gattungskonstituenten gegenwärtig sind. Im folgenden differenziert Hartlieb das Vorhaben, es geht um die Verdeutschung f ü r d i e H e r z o g i n . Hier nun scheint es sich wieder hinsichtlich des Rezipienten um ein erst zu legitimierendes Vorhaben zu handeln: Hartlieb muß also zeigen, daß das Verlangen Annas nach einer Verdeutschung berechtigt ist, daß es tatsächlich ernsthaftem Bestreben entspringt. Vordergründig steht das Verhalten Annas dem entgegen, sie fallt vor allem dadurch auf, daß sie weltliche Dinge, frewd, red, tent türnier vnd vn^allich sayttenspil, simphony vnd musigk, liebt. Dieser Anschein der auser gepärden wird von Hartlieb durch eine Sentenz aus dem Evangelium' 84 und aus Aristoteles ins Gegenteil gekehrt — die aristotelische 183
184
Vgl. dazu C. Stephen Jaeger: Der Schöpfer der Welt und das Schöpfungswerk als Prologmotiv in der mhd. Dichtung. Z f d A 71 (1978), S. 1—18; hier S. Lukas 6,45.
188
Sentenz ist schon aus dem >Dialogus< bekannt: der wahre Charakter des Menschen zeige sich in seinen Worten. Da nun die Herzogin Hartlieb immer wieder um eine Verdeutschung gebeten habe, manifestiere sich hier ihr jnnder vnuerkerter wil, der über das nur äußere, bloß akzidentelle Verhalten regiert. Damit wäre die Verdeutschung für Anna gerechtfertigt. Durch das in dieser Argumentation benutzte Gegensatzpaar >weltlichgeistlich< wird nun die zu verdeutschende Legende eindeutig in den Bereich der sakralen Literatur eingeordnet; ein Interesse an der Legende, das sich aus Funktionen der profanen Literatur speiste: Unterhaltung und Zerstreuung, frewd vnd red, wäre hier nicht nur inadäquat, es würde die Übersetzung verbieten. Es scheint doch nun so, daß dieses Beharren auf dem sakralen Charakter der Legende für Hartlieb zum Problem wird, wenn er den lateinischen Text verdeutschen soll. Das heißt ja nicht nur, daß der Wortlaut selbst verändert wird - sakrale Dinge sind sakrosankt —, sondern auch, daß hier ein Text in einen laikalen Verständnisraum transponiert wird, in dem prinzipiell nicht erwartet werden kann, daß dort die Intentionen des Textes auch erkannt und verwirklicht werden. Schaut man unter dieser Prämisse auf den Adressaten des Prologs — dies ist ja formal nicht die Herzogin, von ihr wird durchgängig in der dritten Person geredet, sondern die göttliche Trinität! —, so wird klar, daß sich Hartlieb mit seiner Argumentation die Unterstützung und die Erlaubnis Gottes einholt: sich also in dem folgenden Unterfangen dadurch legitimiert, daß er, indem er sich der einzig adäquaten Verstehensperspektive der Herzogin versichert, darauf hinwirkt, den intentionalen Gehalt der lateinischen Vorlage auch in der deutschen Übersetzung wahren zu können. Die Sinnperspektive der Legende muß — vor der Instanz Gottes — also auch von der Übersetzung geboten und eingehalten werden; dabei ist interessant, daß Hartlieb hier nur den Adressaten der Übersetzung, aber nicht die Übersetzung problematisiert. Dies scheint erst im Epilog des >Brandan< zu erfolgen: Aller genädigste für stin, das püch sej gedeuscht^ Got χμ lob vnd durch ewr vleissigen anhebig gebiet ten. vnd wo ich darinne verirret sej, das enpfelch ich ewr er hochen t i e f f trachtenden vernüfft pessern.l8'
Überraschend ist in der Schlußrede, daß die Instanz wechselt, nun ist es die Herzogin, die angesprochen wird und die Hartliebs Übersetzungsleistung beurteilen soll. Nach dem in dem Prolog entwickelten Legitif. n6r. 189
mierungsgedanken wäre dies nicht zu erwarten, da Hartlieb sich nur vor Gott rechtfertigt; und es wäre für die Herzogin auch nicht möglich, da sie kein Latein versteht. Diesen Schluß nur als Bescheidenheitstopos zu verstehen, griffe zu kurz. Die verirrung muß sich also noch in einem anderen Aspekt aufzeigen als nur in der technischen Seite des Übersetzens; da auf die Vernunft der Herzogin Bezug genommen wird, muß sie durch intellektuelle Leistung erkannt werden können. Hier drängt sich nun wieder der Gedanke an die tropologische Sinnschicht der Legende auf, die nur durch bewußte Interpretation erschlossen werden kann; oder umgekehrt: wird es der Vernunft der Herzogin nicht gelingen, in der Übersetzung Hartliebs diesen Sinn zu gewinnen, so ist seine Übersetzung fehlgeschlagen, die im Lateinischen vorhandene Sinnperspektive wäre verlorengegangen. Hartlieb definiert also die Übersetzungstechnik ex negativo: so wie durch ein >falsches< Interesse die Intention der Legende nicht verfehlt werden darf, so darf auch nicht durch eine >falsche< Übersetzung dem richtigen Interesse der Weg verbaut werden. Drescher hat Hartliebs Übersetzungsleistung untersucht, er beurteilt sie als die beste Arbeit Hartliebs und begründet dies mit seinem einfachen und flüssigen Stil. 1 8 6 Nun ist allerdings die >Navigatio< selbst in einem sehr einfachen Latein geschrieben, das auf kunstvoll-hypotaktischen Satzbau verzichtet und einen reihenden Erzählstil gebraucht. Hartlieb folgt dem Latein sehr eng, wobei er die typischen lateinischen Konstruktionen wie A c l , Partizipialbildung und Ablativus absolutus in einfache Haupt- und Nebensätze auflöst. 1 8 7 Die v o n Drescher als wichtigstes Stilmittel der Anschaulichkeit herausgearbeitete Mehrgliedrigkeit scheint mir aber in ihrem Gebrauch hier, im Vergleich etwa zu den frühhumanistischen Übersetzern, durchaus beschränkt; Drescher übersieht hier die schon in der lateinischen Vorlage recht häufig vorhandene Zweigliedrigkeit. 1 8 8 Angesichts des Fehlens der direkten Vorlage Hartliebs ist nicht zu entscheiden, ob diese Mittel wirklich in ihrer 1.6 1.7 188
Drescher, Euph. 2 ; , S. 569. Vgl. dazu Drescher, Euph. 25, S. 569-575. Wobei es insgesamt Dreschers Untersuchung daran mangelt, daß er nur eine Handschrift heranziehen konnte, die, wie er nachwies, zwar der lateinischen Vorlage Hartliebs nahestehen muß, er die direkte Vorlage aber nicht kannte. In diesem Fall ist aber letztgültig nie zu entscheiden, ob ein sprachlich-stilistisches Mittel Hartliebs Eigenleistung oder tatsächlich nur Übersetzung ist. In einigen Fällen sind allerdings Dreschers Schlüsse auch ohne die Kenntnis der Vorlage zurückzuweisen. So etwa im Falle des immer wieder gern erwähnten angeblichen Judenhasses Hartliebs, den Drescher im >Brandan< sich dadurch manifestieren sieht, daß Hartlieb jede Nennung Israels oder Sions der Vorlage in seiner Übersetzung unterdrückt (Drescher, Euph. 2 ; , S. 584). Dies stimmt einfach nicht: Schröder, S. 23,
28: et videbmt syon.
190
Deum Deorum in Syon; cgm 689, f. 103": vnd sy werden sechen got aller got jn
Gesamtheit auf Hartlieb zurückgehen, zumal er auf der anderen Seite auch mehrgliedrige Ausdrücke der >Navigatio< vereinfacht. Auffällig ist die enge Anlehnung an die Vorlage im Bereich der für Hartlieb gerne postulierten inhaltlichen Erweiterungen. Ich habe, verglichen mit dem Schröderschen Text, nur neun Einschübe feststellen können, die aber wiederum angesichts ihrer erzählerischen Zugehörigkeit einerseits, und der Tatsache andererseits, daß in der Ubersetzung auch zwei kurze Passagen fehlen, schon Eingriffe der Vorlage sein können.' 89 Insgesamt scheint Hartlieb sowohl im sprachlich-stilistischen als auch erzählerischen Bereich genau der >Navigatio< zu folgen; er erlaubt sich keinerlei Digression. Dies geht so weit, daß er sakrale Ausdrücke und Wendungen n i c h t übersetzt: die von den drei Scharen der insula virorum fortium gesungenen Psalme werden mit
ihren lateinischen Eingängen wiedergegeben.' 90
Beurteilt man diesen Befund der stilistischen Einfachheit zusammen mit den in den Begleitreden gemachten Aussagen, so scheint es, daß die enge Anlehnung Hartliebs an die Vorlage begründet ist durch die Forderung nach Wahrung der legendarischen Sinnperspektive. Denn die stilistische Einfachheit der lateinischen >Navigatio< ist nicht, wie Drescher zu meinen scheint, Folge des Unvermögens des Autors, 191 sondern Stilmittel der Gattung überhaupt:'92 Simplicitas wird in den asketisch-religiösen Bewegungen seit dem 10./11. Jahrhundert der Weltklugheit entgegengesetzt, denn der dort sich ergebende Verlust der Humilitas kann nur durch die wahre Weisheit verhindert werden, die sich auf Gott richtet.195 »Im eigentlichen Sinne ist nämlich die Einfalt das vollkommen auf Gott gerichtete Wollen, eines von Gott erbittend, dies erstrebend, nicht aber darum werbend, in der Welt vervielfältigt und erhoben zu werden. Und Einfalt im Lebenswandel ist die wahre Demut, die mehr auf das Bewußtsein der Tugend hält als auf Ruhm.«194 In der Legende wird die Simplicitas zum bewußt eingenommenen Erzählstil, sie verweist tropologisch auf das Ideal der Demut und der Ausrichtung auf Gott und dient so der Intention der Gattung. Beispiele eines anderen Bereichs wären die Ersetzungen: so steht bei Hartlieb die Bitte der Mitbrüder, Gott solle sie vor dem vnsäglich groß merwunder retten wie jonam vor dem walvisch (f. 102'), in der >navigatiorannt maister< bezeichnende Matthias Prötzl gemeint ist.
194
Brandanlegende, dann folgen Mandevilles Reisebeschreibung in der Übersetzung von Michael Velser, die deutsche Übersetzung der >Reise nach China< des Odorico de Pordenone und Hans Schiltbergers Reisebuch. 211 In der Vorrede zu dem Codex auf f.I r -II r ist ein Inhaltsverzeichnis eingefügt, nach dessen Wortlaut ursprünglich noch beigebunden waren: 212 Item bans tuecher von Nuermberg noch dy Zeit alls diss puech ersamlet ist gelebt hat vnd frolichen gesunthait anno 1488 vnd in allem Reich ain glaubwirdiger frumen man erkant ist21' Item vnd Brueder Petern der myndtern prueder merfart der vil %eit [. . .] enhalbsyors in der haydenschafft gewandelt hat214 (f.Iv) Beide Angaben sind von späterer Hand durchgestrichen; die Abschriften oder wahrscheinlicher Drucke scheinen aus dem Codex entfernt worden zu sein, er enthielt also eine Sammlung von Reiseberichten, die vordergründig die Neugier auf das Fremde befriedigen sollten; der >Brandan< hätte so seine tropologisch-moralische Sinnperspektive verloren. Der Codex aber bietet in einem vorangestellten Vorwort des A u f traggebers den recht singulären Fall, daß dessen Interesse an den Texten erläutert wird und wir so aus erster Hand den Erwartungshorizont des Rezipienten kennenlernen: In dem Namen der gebenedjten vnuermailigten Junckfrawn vnd mueter got^ der ewigen magt. Aristotiles spricht in dem ersten puech Ethicorum, das dem menschen aus naturlieber naygung frolich vnd lustlieh sey hören newe vnd fromde ding. Wann es erfreyd das gehorde, nymbt schberes gemuet vnd erlust dj begirde. darumb hab ich, *" Aus dieser Handschrift ediert: Hans Schiltbergers Reisebuch. Nach der Nürnberger Handschrift herausgegeben von Valentin Langmantel. Stuttgart 188;. (BLV 172) 1,1 Inhaltsverzeichnis und Vorwort Prätzls sind bei Strasmann nicht abgedruckt. Hans Tucher starb am 24. Februar 1491 in Nürnberg; seine >Beschreibung der Reyß ins Heylig Land< beschreibt seine Pilgerfahrt im Jahr 1479. Tucher selbst hat 1482 eine von ihm berichtigte Druckausgabe seines Reiseberichts veranstaltet (Hans Schönsperger in Nürnberg, Hain 15664, nach Hain 15663); andere Ausgaben folgten noch 1483, 1484 und i486 (Hain 15665—15667). Wahrscheinlich war eine dieser Inkunabeln der Handschrift beigebunden. * u Die genannte »Mehrfahrt Bruder Peters< ist nicht eindeutig zu identifizieren. Es könnte sich um das allegorische Gedicht >Die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs< des Guillaume de Deguileville handeln (Vgl. V L 3, Sp. 897—900), deren Kölner Ubersetzung von Peter de Merode stammt (ebd., Sp. 899). Wahrscheinlicher ist aber, daß das >Reisebuch< des Ludolf von Sudheim gemeint ist (Vgl. *VL 5, Sp. 984—986). Ludolf von Sudheim wird in den ältesten hochdeutschen Übersetzungen auch Petrus genannt. Von Ludolfs >Reisebuch< in der hochdeutschen Übersetzung sind ebenfalls Frühdrukke erfolgt (Hain 1 0 3 1 0 - 1 0 3 1 1 * ) , s o daß eine dieser Inkunabeln der Handschrift hätte beigebunden sein können.
*95
Matheus
Brat^l,
pfallt^nngrauen
des durchleuchtigen hochgeborn fursten
vnd herrn, herrn
bey Rein, hert^og in Obern vnd Ν idem Bajrn
etc.,
Alhrecht,
Ranntmaister,
Zwsammen ersuecht vnd schreiben lassen in disem puch dy, dy solich wunder auf wasser vnd land, mit ail, mue, not vnd vleys manig wunderlich lannd vnd Jnsel mit fremden Siten, vnderschaid der glauben, sprach vnd verkerung der menschen vnd Tier erfaren vnd gesehen haben, dj vnns in disen lannden vnglaubig peduncken. monstra, allso nennt sy dy heylig geschrifft, allmachtigkait
Vnd doch solich fremde
ain pe^ewcknuss geben der gewalltigen
gotes, als der prophet spricht: got dw pist wunderlich in deinem werck
vnd dein weg sind vnerspurlich. dem er, gnad vnd glory sey gesagt fmmer
von eben
eben. Amen.""' (I r ) [Es folgt das Inhaltsverzeichnis.] Noch
so weren Ir etwar uil, dy sich den genanten puechrn wol vergleichten, als
xander,
liberius eyger von Temremarckh,2'6
prueder,2'7
dy merfartt gotfrides,218
Ale-
prüder peter des Ordens der myndren
dietmar,2'9
dy legent der heiligen drey
kunig,110
Vnd noch mer, der ich nach den mereren tail Jn meiner gewalt hab. die ich darumh nicht χμ> disen hab pinten lassen, Vmb das es ain puech nit fueglich verfassen mag. Vnd ich hab dj genenten puecher darumb ersamelt vnd s>w samen verfuegt durch ain vast kunstige auch kost liehe Mappa,
dj ich mir hab lassen machen mit gar grossem vnd sunder m vleys
vmb des willen, wo dj schauenden diser Mappa Jrren,
das dy geschrifft
der wandler
an^aygen vnd pericht geben der vnpekanten lender, Siten vnd gewonhaiten. widerumb wo der geschrifft mit fr an^aigen erklar
wenig hette, das dann dy perurt Mappa procedir vnd
mit dem der Sin diser mappa vnd geschrift
veraintlich concrediern vnd den
lauttern weg an^aigen vnd £uuertan geben etc. Es
war auch mein pegern vnd maynung, wellichen nach mir aus meinen Erben
freunden dise mein Mappa
vnd
sol werden, das dis puch darbey pleiben sollt vnd ains von
dem anndern nymmer getailt wurd. ( I I r )
Matthias Prätzl hatte 1488221 den Codex zu eigenem Gebrauch anlegen lassen, wie die angefügte Mahnung an seine Erben deutlich zeigt. 222 Prätzl, aus dessen Besitz mit egm 44 noch die einzige Handschrift von Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst erhalten ist, begründet sein InDies scheint mir eine Zusammenziehung aus O f f b g . 15,3 und Rom. 11,33 z u sein. Nicht zu identifizieren. " 7 Gegen das >Reisebuch< Ludolfs von Sudheim spricht, daß dieses ja tatsächlich schon dem Codex beigebunden war. " 8 Nicht zu identifizieren. Nicht zu identifizieren. Wohl die >Historia trium regum< des Johannes von Hildesheim, der selbst wieder den Reisebericht Ludolfs von Sudheim ausgeschrieben hatte (Vgl. 2 V L 4, Sp. 638—647). Auch von der ins Deutsche übersetzten >Historia< sind zwei undatierte Frühdrucke erfolgt (Hain 9400—9401). 2,6
221 222
Vgl. das zitierte Inhaltsverzeichnis und die auf f. i86 r eingetragene Jahreszahl 1488. Die in der Beschreibung Strasmanns, S. 30, zu findende Behauptung, Prätzl habe »den Codex im Auftrag Albrechts III. von Bayern [. . .] ζ)νsamen ersuecht vnd schreiben lassen«, ist also in zweifacher Hinsicht falsch: Albrecht III. war zum Zeitpunkt der Zusammenstellung 1488 schon 28 Jahre tot, und der angebliche fürstliche Auftrag entstammt wohl der irrtümlichen Lesung Strasmanns und dem dadurch falschen syntaktischen Bezug von d j begirde auf des durchleuchtigen hochgeborn fursten etc.
196
teresse an den versammelten Texten, also auch an dem >BrandanAlexanderAlexander< meint. Man hätte dann ein primäres Zeugnis dafür, wie der >Alexander< in dem Kontext rezipiert wurde, wie er oben durch die mitüberlieferten Reiseberichte Mandevilles etwa abgesteckt wurde. Die Verstehensperspektive hätte sich zwar verschoben: von der Exempelfunktion der Taten Alexanders hin zu einem Bericht über fremde Länder und Monstrositäten. Dieser Bericht aber hatte, anders als es oft behauptet wird, nicht reine Unterhaltungsfunktion, sondern dient immer noch einem primär religiösen Bedürfnis. 22 ' Insgesamt ist festzustellen, daß die von Hartlieb intendierte Tradierung des legendarischen Sinnangebots in den drei Handschriften der BSB übernommen wurde; deren gesamter Kontext weist auf ein unverändertes Verständnis hin. Uberraschend ist die Tatsache, daß diese Textzeugen sämtlich klösterlichem Verbreitungsraum zu entstammen scheinen. Es sieht so aus, als hätte hier der >Brandan< den Weg hin zu Die Zusammenstellung von >Brandan< und >AlexanderHistoria de preliisHistoria destructionis Trojae< des Guido de Columna, die >Historia orientalist des Haithon und die >Navigatio S. Brandani« enthält. Würde der >Brandan< nicht mit abgeschrieben worden sein, könnte man die Handschrift mit Winter sicher als chronikalische Sammelhandschrift bezeichnen; der >Brandan< aber scheint mir für einen Erwartungshorizont im Sinne Prätzls zu sprechen. Daß die »Auswahl offensichtlich dem Linterhaltungsbedürfnis des Besitzers Rechnung getragen« hat (Winter, S. 219), scheint mir zu kurz gegriffen.
*97
laikaler Rezeption wieder umgekehrt beschritten; es wäre allerdings auch möglich, betrachtet man die ebenfalls verzeichneten Exempel und Predigten, Beicht- und Gebetsspiegel, die allesamt zu pastoralem Gebrauch auch verwendet werden können, daß die Legende nicht zur eigenen Erbauung, sondern als >Fundgrube< seelsorgerischer Praxis benutzt wurde. Wie dies auch zu entscheiden ist, es bleibt festzuhalten, daß Hartliebs Sinnangebot durch diese Rezeption akzeptiert und nicht verändert wurde. Der Erwartungshorizont Prätzls stellt den Brandan in einen anderen Kontext, ohne allerdings ganz auf eine Einordnung innerhalb eines heilsgeschichtlichen Rahmens zu verzichten; auch hier sind die >Erlebnisse< Brandans schließlich nichts anderes als Zeichen der Allmacht Gottes und zielen auf einen hauptsächlich religiös begründeten Erwartungshorizont. 224
4.4.
D i e >Secreta mulierum
Secreta mulierum< ist Hartliebs letzte und, wenn man das >Kräuterbuch< ausklammert, einzige dem medizinischen Fachschrifttum entnommene Übersetzung. Nach Bosselmann-Cyran, 225 dem ich hier im weiteren folge, benutzt Hartlieb als Vorlage eine kommentierte Fassung des lateinischen >Secreta mulierumGynaecia MuscionisSomnium ScipionisCompendium medicinae< des Gilbertus Anglicus, das auch unter dem Titel >Rosa anglicana< rezipiert wurde, und um das >Buch TrotulaSecreta< des öfteren gefunden wird, 2,1 »eignet der Schrift ganz gewiß nicht«, so Ferckel; 232 der Großteil des >SecretaSecreta mulierumBrandan< verarbeitet wurde — es stehen sich Weisheit und weltliche Vergnügungen gegenüber —, läßt es eher als wahrscheinlich erscheinen, daß der Prolog der >Secreta< nicht eine Erwartungshaltung des Rezipienten korrigieren will, sondern die beiden möglichen Verstehensperspektiven des Textes anhand religiösmoralischer Begrifflichkeit definiert und so, sich der dort vorgegebenen Wertung von Tugend und Sünde bedienend, die intendierte Verstehensperspektive normieren kann. Die >Secreta< werden damit als wissenschaftlicher Text definiert; jede Sinnerschließung aus anderer Intention wird ausgeschlossen. Demgemäß bemüht sich Hartlieb auch um eine kritische Fassung des Textes; hierauf zielt der zweite Teil des Prologs ab. Dieser nennt die Kritik an dem eigentlichen >SecretaBuch aller verbotenen KunstWissenschaftscharakter< des Textes und die Festlegung auf die Ehe als Gebrauchsraum. Hartlieb scheint dabei zwischen zwei Forderungen abwägen zu müssen. Die Informationspflicht verlangt es, die >Secreta< zu bessern und zu kommentieren, da sonst der Text beschrotten und vast vnverstentlich würde, gleichzeitig eröffnet er damit Möglichkeiten, die nicht von der kristnlichen kyrchen erlaubt sind. E r befindet sich also in 202
der gleichen L a g e wie Pseudo-Albertus M a g n u s , über dessen L a g e bei der A b f a s s u n g der >Secreta< Hartlieb reflektiert: Warumb er solichs [das vollständige Wissen] verschwigen vnd nit gemelt hat, dar]J nyemant sprechen, das er solichs nit gewist hab, wann sunder c^beyfel er ist gar ein grosser, kunstreycher man gewisen, vnd ich main, er hab das darvmb gelassen, das er besorgt hab, die hoch gehaim vnd kunst werdt müsbraucht vnd c^we vnc^ym lieber mynn vnd buelschafft gepraucht vndgenuc^t. (ι 11,111) Hartlieb stellt sich demnach gegen Albertus und teilt das v o n diesem verschwiegene Wissen mit; die Verpflichtung der G e h e i m h a l t u n g w i r d v o m A u t o r auf den Rezipienten übertragen. D u r c h diese Verpflichtung allerdings w i r d der Text gleichsam privatisiert. Zielen das >BuchAlexander< und der >Brandan< jeweils auf den Rezipienten als Fürsten in seiner öffentlichen F u n k t i o n , so w i r d hier der öffentliche R a u m abgeschnitten. Z w a r w i r d auch hier die Weisheit als Fürstentugend, also in der Relation des Rezipienten zu den Untertanen, eingeführt, sie w i r d aber nur manifest in dem Interesse an dem Text und nicht v o n dem Text selbst gefördert. D i e Version des Prologes f ü r den K a i s e r unterscheidet sich, außer in den durch den anderen Adressaten bedingten Ä n d e r u n g e n , nur in zwei inhaltlichen E r w e i t e r u n g e n und einer Unterlassung. D e r zweite Teil der Antithese >Weisheit — Unkeuschheit< w i r d in der Kaiser-Version fallengelassen, stattdessen w i r d das L o b der Weisheit als Fürstentugend auf den K a i s e r bezogen und nicht mehr nur durch den Spruch Salomos, sondern auch durch Cicero und die instituta238 belegt (102,28). A u ß e r dem w i r d der K a i s e r selbst als ain warer liebhaber aller wejßhaytt vnd ain gehaim trager aller kunst vnd hiipschaytt angesprochen, dem der Traktat in seine hoche vernunfft vnd trewes tugentreichs hert% empfohlen w i r d (108,96). Eine Veränderung der Argumentation findet also nicht statt. 2 ' 9 D i e Weisheit als Fürstentugend w i r d durch die H ä u f u n g der Zitate allerdings stärker betont, was jedoch nicht zuletzt durch den höheren Stand des Adressaten bedingt sein kann. 1)8
' v>
Die >instituta< (als dann instituta sagen, hayserlich magestat ist nit allain bey Waffen, sunder bey weyßhayt get^yert 102,33) nieinen hier natürlich nicht, wie Bosselmann-Cyran S. 259 anmerkt, die >Sitten< oder den >Brauch< (er glossiert »instituta« mit »wie man gemeinhin sagt«), sondern die Justinianischen >InstitutionesLeibeslust-Weisheit< in dem Prooemium der Kaiser-Version noch durch die Zugabe von fraßbayt und trungkenbayt erweitert; sollte dies dann auf den Kaiser zu beziehen sein? Frasshait wird in dem oben erwähnten Katechismuskommentar als siebte Todsünde der siebten Gabe des Hlg. Geistes Verstanntnüs mit rainigkait gegenübergestellt.
203
Hartlieb will also die Secreta als fachmedizinischen Text verstanden wissen. Jede andere Verstehensperspektive wird durch den Prolog ausgeschlossen; die Teilnahme der Adressaten an dieser Perspektive wird als Manifestation der fürstlichen Weisheit interpretiert und legitimiert die Übersetzung. Die letztendliche Legitimation aber gewinnt Hartlieb durch antithetische Setzungen, die der christlichen Tugendlehre entnommen sind; auch hier also wird ein umfassender religiöser Bezugsrahmen konstruiert. Zum anderen wird der Text durch die Ermahnungen des zweiten Prologteils privatisiert: Wissenschaft dieses Gebiets bewegt sich nicht im öffentlichen Raum. Damit besitzt der Text allerdings auch keine Funktion als Fürsteninstruktion, das von dem Text vermittelte Wissen kann nicht von dem Adressaten in seiner Funktion als Fürst benutzt werden; der Adressat ist letztlich nicht der Fürst als Fürst, sondern als interessierter Dilettant. 4.4.3. Rezeption Die >Secreta< sind in der Herzog-Version mit sieben Handschriften, in der Kaiser-Version mit einer Handschrift überliefert. Fünf Handschriften verzeichnen nur das >Buch TrotulaBuch Trotula< ist in drei medizinischen Sammelhandschriften vollständig und in zwei Handschriften fragmentarisch überliefert. Auffallenderweise stammen bis auf die Münchner und die Berliner Handschrift, die Singulärüberlieferungen also, sämtliche Handschriften aus dem 16. Jahrhundert. Die Handschrift der Johns Hopkins Library aus dem späten 16. Jahrhundert hat den Besitzvermerk Christopherus Baro ä VVolcKhenstain & Rodnegg, etc. M.D.XCIIIl·, über die Provenienz sämtlicher anderer Handschriften ist nichts bekannt. Die Umgebung in den Sammelhandschriften ist rein medizinisch: in allen Handschriften steht ein medizinisch-gynäkologisches Fragenkompendium, in vier Handschriften zusätzlich ergänzende Fragen zu dem Menschen und seinen Gliedern; in zwei Handschriften dazu zusätzlich die Proble240
Vgl. Bosselmann-Cyran, S. 39-67.
204
mata Aristoteles. Der Textcorpus ist also relativ konstant; die jeweiligen Erweiterungen scheinen immer in der Abschrift — die Handschriften selbst sind wohl voneinander abhängig — hinzugefügt und dann weiter tradiert worden zu sein. Die Textzeugen haben also den medizinischen Rahmen nicht verlassen, eher noch verstärkt: die >Secreta< wurden tatsächlich n u r als medizinischer Text rezipiert.
4.5.
Resümee
Nach den Untersuchungen zu den von Hartlieb intendierten Funktionen der einzelnen Werke kann nun versucht werden, die gefundenen Fäden zusammenzuführen. Das >BuchBrandanlegende< und der >Dialogus< entstammen eindeutig dem Bereich der religiösen Erbauungsliteratur; ihre Funktion ist die Anleitung des Lesers zur Erschließung des tropologischen Sinngehaltes und zur anschließenden Imitatio. Die >Secreta< gehören zur medizinischen Fachliteratur; auffallend ist, daß die Begriffspaare, die Hartlieb in seinem Prolog gebraucht, katechetischem Kontext zu entstammen scheinen. Es bleibt der A l e xandere Hier wurde festgestellt, daß nicht der Alexanderroman als Fürstenspiegel zu lesen ist, sondern nur der Prolog; der Roman selbst stellt sich wiederum, wie der >DialogusSecretaBrandan< ist die Antwort am leichtesten zu finden; von ihm aus kann auf die anderen Werke eingegangen werden, die sich mit ihm durch ähnliche Argumentationsstrukturen und -inventare verbinden. Hartlieb bezeichnet den >Brandan< selbst als Legende; ein zumindest implizites Gattungsbewußtsein kann bei ihm vorausgesetzt werden. Diese Vermutung ist durch den Eingang des Prologs bestätigt worden. 205
Friedrich Ohly hat im Rahmen seiner Interpretation des WillehalmEingangs 241 eine Reihe von lateinischen Legendenprologen untersucht; er ist zu dem Ergebnis gekommen, daß es für die mittelalterliche Legende geradezu konstitutiv sei, den Prolog mit einem Gebet um die Hilfe Gottes zu beginnen, in dem vornehmlich an den Heiligen Geist die Bitte um die Gnade des sensus als Befähigung zur Durchführung des Werks gerichtet wird/ 42 Der dahinterstehende Gedanke ist der, daß die exegetische Erkenntnis des sensus spiritualis der göttlichen Inspiration bedarf; der sensus wird nur durch den von dem Heiligen Geist erleuchteten sin erfaßt. Die Legende nun wird nicht als poetische Fiktion aufgefaßt, sondern als »inspirierte Bezeugung der weiterwirkenden Wunderkraft Gottes nach Christus«; 24 ' für den Legendenschreiber gilt es, die Heiligenviten als Ereignisse einer historischen Wahrheit darzustellen, die aber eben als Zeugnis göttlicher Offenbarung eine Wahrheit anderer, höherer Stufe besitzt. Der Dichter hat hinter dem göttlichen Zeugnis zurückzustehen; seine Aufgabe ist die >demütige Treue< zur schlichten Wahrheit der Geschichte, um nicht den Zugang zum sensus der von der Legende bezeugten Offenbarung zu verbauen. In Folge hat er sich eines >demütigen Stils< zu bedienen; dies bedeutet Verzicht auf poetische Ausschmückung, Kürzung und Erweiterung, Gebrauch höherer Stilarten. 244 Der Legendendichter ist also nur Mittler zwischen göttlicher Offenbarung und Empfänger; die Legende selbst ist der Träger des offenbarten sensus: Um die Vermittlung des sins zu gewährleisten, bedarf der Mittler selbst der göttlichen Inspiration, um die er in dem Eingangsgebet bittet. Dies deckt sich mit dem Ergebnis der Untersuchung von Hartliebs >Brandanarme< Sünder. Die Bitte um den rechten >sinBrandan< eines einfachen, vorlagengetreuen sermo bumilis bedient, wurde schon oben erwiesen. Sein Eingang gehorcht ebenfalls den Gattungsgesetzen der Legende: Auf die Anrufung der hocben vnbegreiflichen trinitat, die all sin behaltet, folgt die Bitte, mir armen die Gnade verhieben, das leben vnd die legend sand Brandan verdeutschen zu können. Auch hier zeigt es sich wieder, daß Hartlieb sich bewußt, sowohl durch die gewählte Stillage als auch durch den gewählten, für die Gattung typischen Prologeingang, in den Kontext der Legendentradition stellt: er selbst sieht sich nur als Mittler des in der Legende verschlossenen Sinnes. Der >Brandan< also ist, alles spricht dafür, von Hartlieb als religiöse >Erbauungsliteratur< intendiert, der den Leser über die Erschließung der tropologischen Sinnschicht an der Offenbarung Gottes teilhaben läßt und ihn zur Imitatio aufruft. Nun weist aber der Prolog des >Brandan< über zwei Punkte weiter zu dem >Dialogus< und zu dem >BuchDialogus< zum Argumentationspunkt; genau auf diesen >höheren< Wahrheitssinn scheint er zu rekurrieren, wenn er gegen den Auftraggeber die Wahrheit der Caesarianischen Exempel selbst dann bestätigt, wenn sie im geschichtlichen Sinne nicht wahr wären: in bezug auf den in ihnen offenbarten sensus spiritualis sind sie es dennoch. Bezeichnend ist, daß er als Beweis gerade die Exempel aus der Heiligen Schrift anführt; und daß er auf den tropologischen sensus abhebt, nicht etwa auf den allegorischen oder anagogischen Sinn, wenn er sagt, daß Gott die Beispiele gesetzt habe, uns^ arme kristen damit under wejsen. Auch der 207
>Dialogus< ist daher über die Intention des >Brandan< zu verstehen; er ist religiöse, zur Imitatio einladende Erbauungsliteratur. Das >Buch< wiederum ist dem >Brandan< durch denselben Eingang verbunden; hier findet sich ebenfalls das Gebet an die Göttliche Majestät, die um Hilfe bei dem folgenden Vorhaben angegangen wird/ 45 Natürlich gehört das >Buch< einer anderen Textsorte an; dadurch, daß Hartlieb hier aber am Anfang des Prologs — und völlig abweichend von seiner lateinischen Vorlage, dem >Tractatus de superstitionibus< — einen für geistliche Dichtung typischen Eingang wählt, definiert er sich auch hier nur als Mittler zwischen göttlichem Auftrag und Rezipienten. Ebenso gewinnt er damit die Legitimation für die Durchführung des >Buchs< selbst, das ja prinzipiell nicht ungefährlich ist; und er stellt auch das >Buch< in einen religiös definierten Kontext, der weiterhin durch den Verweis auf tropologische Texte zur Imitatio auffordert, die in dem >Buch< gegebenen Warnungen also als Exempla a partem malam verstanden wissen will. Auf die Nähe zu den Intentionen des >Brandan< und des >Dialogus< deuten schließlich auch die in das >Buch< eingefügten Exempel aus dem >DialogusBuchDialogus< und >Brandan< sind daher wohl eindeutig als religiöse Erbauungsliteratur zu verstehen, die den Leser über Exempel auf der einen Seite, über scholastisch-theologische Aufklärung auf der anderen Seite zu einem Verhalten anleiten will, das über das Vorbild der exemplarisch gesetzten Figuren im >Brandan< und im >Dialogus< einerseits, über im scholastischen Diskurs entwickelte Normen andererseits erschlossen wird. Stets sieht sich Hartlieb dabei nur als Mittler einer in den Exempeln auch des >Buchs< geoffenbarten Wahrheit; da diese Offenbarung aber nur über eine vom Leser selbst zu leistende Sinnerschließung ergriffen werden kann, versteht er es auch als seine Pflicht der in den Texten verborgenen Wahrheit gegenüber, diese Sinnerschließung als einzige den Texten adäquate Verstehensperspektive zu normieren. Dieser Normierung dienen die in allen Prologen ähnlichen Argumentationsstrukturen: immer wird durch eine geschickte Einbeziehung des Auftraggebers darauf hingearbeitet, daß dieser nicht allein dem Literalsinn der Texte verhaftet bleibt: im Falle des >Dialogus< also nicht den Text als >unwahre< Sammlung von Erzählungen liest, den >Brandan< nicht lediglich als Unterhaltungslektüre und das >Buch< nicht 241
Zum Teil sogar in wörtlicher Übereinstimmung: Ewige weißhait . . . von der entspriessen vnd fliessen genad hail säld Vernunft vnd aller kunst maisterschaft (>BuchBrandanAlexanderAlexander< in die Nähe der anderen drei Werke. Wie die Untersuchung des vor allem theologisch geprägten Erwartungshorizontes gezeigt hat, wird aber auch die Geschichte Alexanders in den heilsgeschichtlichen Ablauf eingebunden. Für Hartlieb geht es darum, daß er sie auch den Herzog im Verständnis der alten coronicken und gesta lesen läßt: und was guttes darinn s e j , dem f o l g t , und was rechtem adel nicht %uste und %-ugehör, das verwerft, die Taten Alexanders also als Exempla sowohl a partem bonam et malam sieht. Die Erkenntnis des jeweiligen Exempelwertes und die Imitatio des Guten liegt dann in der Vernunft des Fürsten, die aber dem Fürsten der war, ewig lebentig got durch sein sun Jesum Christum verliehen hat. Auch hier also: die Erschließung des tropologischen Sinngehalts im christlichen Kontext gelingt nur durch die göttliche Erleuchtung; durch die göttliche Erleuchtung aber wird auch erst dem Leben Alexanders eine christlich >verwertbare< Sinnschicht beigelegt. Das Leben Alexanders stellt sich so dar als ein von Gott gesetztes Exempel, über das Gott sich, allerdings erst für den christlichen Rezipienten, offenbart. Insgesamt neigt man dazu, die Taten Alexanders als Beispiel für die Überschreitung der menschlichen Grenzen, die aus dem Fehlen einer christlichen Orientierung resultiert, zu interpretieren: letztlich also als Negativ-Präfiguration eines christlichen Fürsten. Die Überlieferung schließlich, die die Dindimus-Episode aus dem >Alexander< ausgliedert, scheint diese Vermutung zu bestätigen. Ein Befund der Disparatheit des Hartliebschen CEuvres kann jetzt nicht mehr aufrechterhalten werden, im Gegenteil: alle Texte der 209
Münchner Zeit, sieht man ab von den fachliterarischen >SecretaTischgebeteFürstenregel< oder den >Traktat von dreierlei Wesen< geschrieben hatte; er korrespondiert mit der biographisch erschlossenen Nähe zu Johann und mit der geistlich-theologischen Ratgeberrolle Hartliebs am Münchner Hof. Hartlieb ist demnach mit seinen Werken primär weder Literat noch Übersetzer, sondern geistlicher Führer, dem diese Rolle allerdings nicht aufgrund eines Amtes, sondern durch theologisches Wissen, durch eine artistische Ausbildung und wahrscheinlich auch durch persönliche Integrität zugefallen ist. Auf diese Rolle scheint sich dann auch wohl die Bezeichnung Hartliebs durch Albrecht III. als »Unser Ratmeister« zu beziehen. Die so festgestellte Gebrauchsfunktion der Münchner Werke ist die der aedificatio\ sie scheinen für einen durch den religiös bestimmten Erwartungshorizont des Hofes definierten Gebrauchsraum geschrieben zu sein.247 Auffallig ist allerdings, daß 146
!47
An dieser Stelle ist vielleicht auch noch darauf hinzuweisen, daß natürlich auch, wie zu erwarten, der >DialogusBrandan< und die >Secreta< in den Bibliotheken der Zeit zu finden sind. Die Untersuchung ihres Rezeptionskontextes allerdings ist nicht in dem Maße ergiebig wie im Falle des >AlexanderAlexanderAlexander< stehen 11 Nennungen des >Dialogus< (MBÖ V , S. 109; M B Ö I, S. 231, S. 247, S. 333, S. 594; M B D III, S. 1 1 3 , S. 272, S. 488, S. 517, S. 801; M B D I, S. 28), 1 1 der >Secreta< (MBÖ V , S. 48; M B Ö I, S. 378; M B D III, S. 62, S. 385, S. 389, S. 496, S. 504; M B D II, S. 40, S. 4 1 , S. 167; M B D I, S. 323) und nur zwei des >Brandan< ( M B D II, S. 433; M B D III, S. 392) gegenüber. Angesichts dieses Zahlenverhältnisses wäre grundsätzlich zu fragen, wie die anhand der starken Uberlieferung der Hartliebschen >AlexanderVoiksbuch< aufrecht zu erhalten ist, wenn eine solch im Verhältnis starke Überlieferung des Alexander-Stoffes genauso schon vor der deutschen Übersetzung im theologisch geprägten klösterlichen lateinischen Rezeptionsraum auszumachen ist: kann dann der >VolksbuchChiromantie< an Hartlieb; abgesehen davon, daß die Prologstruktur der Chiromantie allen festge-
2IO
Hartlieb in seinen Rezeptionsvorgaben, besonders deutlich etwa im >DialogusBürgerlichkeitBürgerlichkeit< in den Texten selbst zu finden, an den Entstehungs- und Verbreitungsbedingungen mittelalterlicher Literatur zu überprüfen — »Vor allen Folgerungen wird es notwendig sein, zu den sozialgeschichtlichen Faktoren zurückzukehren.« 2 - und dann erst nach den Reflexen eines sozialgeschichtlich erschließbaren >bürgerlichen< Lebensgefühls in Literatur zu suchen. In seiner Untersuchung der >Verschränkung< von Münchner Hof und Bürgertum — als >Bürger< kommen für ihn vor allem Hartlieb, Hans und Jakob Püterich und schließlich Ulrich Fuetrer als Adressaten und Produzenten von Literatur in den Blick - kommt Grubmüller dann zu dem Ergebnis, »daß die Stadt den Lebensraum bereitstellt, auch die produktiven Akteure, der Hof aber die literarischen Aktivitäten stimuliert«,' an anderer Stelle spricht er von dem >Stimulationspotential< des Hofes. 4 Sein Fazit ist, daß in München eine »literarisch erreichbare Öffentlichkeit [entsteht], die die einzelnen (ständisch bestimmten) Gruppen überschreitet und zusammenfaßt. Wohl lassen 1
Klaus Grubmüller: Der Hof als städtisches Literaturzentrum. In: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Festschrift Hans Fromm. Hrsg. von Klaus Grubmüller u. a. Tübingen 1979. S. 405-4272 Grubmüller, Hof, S. 408. ' Grubmüller, Hof, S. 418. * Grubmüller, Hof, S. 421. 212
sich Schwerpunkte in der Art der Beteiligung von Hof und Bürgertum erkennen, aber keine Grenzen. Wir beobachten von den Voraussetzungen her höfische Stadtliteratur ebenso wie städtische Hofliteratur: die alten Etiketten werden in der Tat paradox, sie versagen.« 5 Mir scheint, daß Grubmüller zu diesem Ergebnis nur mit Hilfe dreier Unscharfen kommen kann. Zum einen faßt er das von ihm soziologisch gemeinte Kriterium der Bürgerlichkeit nicht exakt. Hartlieb ist für ihn » b ü r gerlichen Literat des Fürsten in der Stadt«; 6 da er schon vorher konstatierte, daß Hartlieb in seiner beruflichen Tätigkeit auf den Herzogshof hin orientiert und Mitglied der Hofgesellschaft war, muß für Grubmüller die >Bürgerlichkeit< Hartliebs darin liegen, daß er »unter den Bürgern der Stadt lebte und ohne Zweifel nichtadeliger Abstammung war«. 7 Wenn das Frageinteresse vor allem darauf hinzielt, wie sich bürgerliches Lebensgefühk in Literatur manifestiert, dann wäre zuallererst einmal genauer zu bestimmen, ob sich Hartlieb selbst als Mitglied der Stadt- oder der Hofgesellschaft verstand. Die zweite Unschärfe folgt aus der ersten: Es greift zu kurz, wenn aus der Tatsache, daß >Bürger< Literatur für den Hof geschrieben haben, gefolgert wird, hier habe der Hof Literatur im bürgerlichen Raum stimuliert. Gerade durch die Beschränkung auf die sozialgeschichtlichen Fakten wird die Funktion der Literatur, die, wie oben zu zeigen versucht wurde, nur aus der gemeinsamen Analyse von Erwartungshorizont und Rezeptionsvorgabe erschlossen werden kann, nicht getroffen. Dadurch, daß der >Bürger< Hartlieb für den Hof schreibt, ist diese Literatur in ihrer Funktion nicht genuin bürgerlich. Eine dritte Unschärfe scheint mir in dem verwendeten Literaturbegriff zu liegen. In seiner zweiten Untersuchung zu Hartlieb 8 unterscheidet Grubmüller zwischen zwei Erwerbsquellen Hartliebs: seiner »bürgerlichen Existenz« und seiner »Schriftstellerei«. 9 >Schriftstellerei< meint hier das gesamte (Euvre Hartliebs; dies aber differenziert Grubmüller wieder in zwei Bereiche »literarischer Tätigkeit« Hartliebs, in »deutsche Fachliteratur« und »deutsche Erzähltexte«. 10 Obwohl Grubmüller hier darauf insistiert, daß auch die sogenannte »schöne« Literatur des Mittelalters Lebensnormen und Wissen vermitteln will — »Genau in diesem Punkt löst sich ja auch die Rede von Hartliebs »Belletristik« auf: sie ist Lehrprosa, die über die Erzählung historisches, naturkundliches, geistliches Sachwissen [. . .] vermittelt«" —, legt doch sein sonstiger terminologischer Gebrauch 12 die Vermutung nahe, daß sein Li' Grubmüller, H o f , S. 4 2 5 . 6
Grubmüller, H o f , S. 4 1 4 .
7
Grubmüller, H o f , S. 4 1 2 .
8
Klaus Grubmüller: E i n A r z t als Literat: Hans Hartlieb. In: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. W ü r z b u r g e r Colloquium 1 9 7 8 . H r s g . von Volker Honemann u. a. W ü r z b u r g 1 9 7 9 . S. 14—36.
9
Grubmüller, Arzt, S. 30. Grubmüller, Arzt, S. 22.
" Grubmüller, Arzt, S. 23f. 12
Grubmüller spricht von »Erzähltexten« und von »Erzählungen fiktiver oder der Fiktion naher Begebenheiten« (S. 22), v o n allerdings in Anführungszeichen
gesetzter
»schöner« Literatur und v o n »Poesie« (S. 2 1 ) , v o n »Schriftstellerei« (S. 32) und von »literarischer Tätigkeit«; kurz, v o n dem »Arzt als Literaten« (S. 34).
213
teraturbegriff unterschwellig die Idee einer ästhetischen Autonomie reflektiert und die Lehrfunktion auch >schöner< Literatur des Mittelalters nur als sekundäres Phänomen auffaßt. Alle drei Unschärfen scheinen mir dafür verantwortlich zu sein, daß hier die Frage, wie Hartliebs >bürgerlicher< Status als Arzt sich auswirkt auf seine literarische Tätigkeit^ zu einer nur partiell richtigen Antwort gelangt. Grubmüller meint, daß mit seiner Selbstnennung als >Doktor der Medizin< in allen Werken Hartlieb die Distanz zwischen seinen beiden Tätigkeitsbereichen verringere, 13 daß er mit dieser Nennung Anspruch auf Gelehrsamkeit und Bildung reklamiere und damit seinen Status als Autor definiere. 14 Wird aber so der Eindruck erweckt, als ob die von Hartlieb geschriebenen Übersetzungen a priori nichts mit seinem beruflichen Status zu tun hätten — es werden »berufliche Qualifikationen vorgezeigt [ . . . ] , die jenseits der Anforderungen des literarischen Gegenstandes liegen« 1 ' —, so hat die vorliegende Arbeit über die Analyse der Funktion der Werke zu zeigen versucht, daß Hartlieb gerade in seiner Tätigkeit nicht nur als Arzt, sondern als geistlicher Berater seine Ubersetzungen verfaßt hat. Uber seine berufliche Tätigkeit für den H o f , die in keiner Weise >bürgerlich< ist, qualifiziert Hartlieb sich genau für seine >literarische< Tätigkeit, die allerdings keine literarische, sondern eine >pastorale< ist. Der Ansatz von Grubmüller wäre also modifiziert so zu formulieren: Wenn Hartliebs Tätigkeit für den H o f Texte einer bestimmten Funktion entspringen, ist dann diese Funktionalität nur im Bereich des Hofes oder auch im Bereich außerhalb, etwa des Stadtbürgertums, gültig? Gibt es im höfischen wie im stadtbürgerlichen Raum andere Texte gleicher oder anderer Gebrauchsfunktionen? Und schließlich: Wenn es für Hartlieb tatsächlich eine außerhöfische, >bürgerliche< Existenz zu konstatieren gibt, gibt es dann für ihn in diesem Raum andere Funktionen von Texten? Z u r Beantwortung dieser Fragen soll im folgenden von dem oben gewonnenen Ergebnis ausgegangen werden, daß Hartlieb für den H o f Texte spezifisch pastoral-erbaulicher Funktion geschrieben hat. Es ist zu untersuchen, ob sich diese Texte einer Gesamtfunktion von Literatur am Hofe einordnen, die sich aus einer Grundstimmung der Frömmigkeit ergibt. Dazu kann auf die Rolle Albrechts rekurriert werden, die er in der bayerischen Klosterreform innehatte; weiter auf die Stellung des Johannes von Indersdorf als Rat Albrechts, mit dem ja Hartlieb in Korrespondenz stand. Eine solche Grundstimmung einer allgemeinen Frömmigkeit könnte verifiziert werden durch die Haltung des Hofes gegenüber anderen Literaturfunktionen, wie sie etwa von
'' Grubmüller, Arzt, S. 32. 14 Grubmüller, Arzt, S. 33. '' Grubmüller, Arzt, S. 34. 214
J a k o b P ü t e r i c h v o n R e i c h e r t s h a u s e n in d e s s e n >Ehrenbrief< p r o p a g i e r t werden.
Schließlich wäre noch kontrastiv nach d e m
Gebrauchsraum
v o n L i t e r a t u r in d e r S t a d t zu f r a g e n , w o b e i m a n hier, d a direkte A u s sagen ü b e r das d o r t i g e L e s e i n t e r e s s e f e h l e n , a u f die U n t e r s u c h u n g d e r Ü b e r l i e f e r u n g v e r w i e s e n ist. D a z u bietet sich an, v o n den nungen
des K o l l e g e n
Hartliebs,
Sigmund
Gotzkircher,
Aufzeich-
auszugehen,
v o n d o r t die literarische T ä t i g k e i t d e r b e n a n n t e n P e r s o n e n zu e r f o r schen u n d schließlich die H a n d s c h r i f t e n d e r B a y e r i s c h e n
Staatsbiblio-
thek n a c h P r o v e n i e n z e n aus d e m M ü n c h n e r B e s i t z d e r Z e i t
durchzu-
sehen. H a r t l i e b s erste u r k u n d l i c h b e l e g t e T ä t i g k e i t f ü r A l b r e c h t I I I .
war
e r s t a u n l i c h e r w e i s e nicht die ärztliche B e t r e u u n g des H e r z o g s , s o n d e r n die Ü b e r n a h m e
von
Mittlerdiensten z w i s c h e n
Albrecht
und
Johann
v o n I n d e r s d o r f in F r a g e n der K l o s t e r r e f o r m . J o h a n n w a r zu dieser Z e i t B e i c h t v a t e r A l b r e c h t s I I I . , w i e a u c h s c h o n z u v o r bei H e r z o g W i l h e l m I I I . ' 6 I m A u f t r a g des H e r z o g s E r n s t hatte er 1 4 3 5
die >Tobiaslehre< 1 7
v e r f a ß t ; sie sollte als T r o s t s c h r i f t f ü r A l b r e c h t I I I . d i e n e n u n d ihn d a z u f ü h r e n , sich m i t seinem V a t e r zu v e r s ö h n e n , d e r ja f ü r die E r m o r d u n g ' 6 Ich beziehe mich im weiteren auf Bernhard Haage: Der Traktat »Von dreierlei Wesen der Menschen«. Diss. Heidelberg 1968, S. 147—17;; vgl. auch Haage: Johann von Indersdorf. In: ! V L 4, Sp. 647—651. Johannes Rothuet von Indersdorf (1382-1470) trat 1413 auf Drängen seines Stiefbruders Erhart Brunner in das Augustinerchorherrenstift Indersdorf ein; er sollte seinen Bruder, Probst dortselbst seit 1 4 1 2 , in der Reform des Stifts unterstützen. Schon 1413 wurde Johann Dekan, 1 4 1 7 führte er die Statuten des Chorherrenstifts Raudnitz ein, wobei es sich letztlich um eine Wiederinkraftsetzung handelte, da doch die Raudnitzer Statuten von denselben Marbacher Chorherren stammten, die auch 1126 nach Indersdorf kamen. 1426 wurde Johann dem Freisinger Generalvikar J o hannes Grünwalder, Stiefbruder der Herzöge Ernst und Wilhelm, auf dessen Klostervisitationsreise durch Bayern als Reformer der Augustinerstifte beigegeben; Reformer der Benediktinerklöster wurde Petrus von Rosenheim aus Melk (Vgl. Franz X . Thoma: Petrus von Rosenheim OSB, ein Beitrag zur Melker Reformbewegung. Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 4; [NF 14 1927], S. 94—222). Die Reform der Benediktinerklöster ging von Melk aus, in das Albrecht V . von Österreich mit Erlaubnis des Konstanzer Konzils Benediktiner aus Subiaco geholt hatte. In Bayern wurde das Kloster Tegernsee zum Zentrum der Benediktinischen Reform (Vgl. Redlich, pass.); durch Petrus von Rosenheim wurde eine direkte Beziehung zwischen Tegernsee und Subiaco geschaffen. Die Klosterreform in Bayern wurde also sowohl von Augustinern als auch Benediktinern in unterschiedlicher Weise getragen; wichtig wird das im Falle der Gründung des Klosters Andechs (Vgl. Benedikt Kraft: Andechser Studien. 1. Bd. München 1937 [OA 73], S. 204—225), in der auch Hartlieb eine Rolle gespielt hatte. 17
Die Fürstenlehren des Johannes von Indersdorf für Herzog Albrecht III. von BaiernMünchen (1436—1460) und seine Gemahlin Anna. Hrsg. von Eugen Gehr. Freiburg 1926. Die Tobiaslehre ediert von Gerhard Eis: Die »Tobiaslehre« des Johann von Indersdorf. Neophilologus 47 (1963), S. 198—209.
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der Agnes Bernauerin verantwortlich war. Die >Tobiaslehre< wurde so zu einer »ganz bestimmten seelsorgerischen Aufgabe verfaßt«: 18 in ihr wird mit Hilfe alttestamentarischer Königsbeispiele Albrecht vor Augen geführt, daß er durch seine nicht standesgemäße Heirat mit der Agnes Bernauerin selbst die Strafe auf sich geladen hatte, als die nun die Ertränkung der Bernauerin interpretiert wurde.' 9 Mit Albrechts Heirat mit Anna von Braunschweig 1436 und seinem Antritt der Alleinregentschaft 1438 wurde Johann zum Beichtvater des Fürstenpaars, 1438 auch zum Geheimen Rat. 1440 ist der >Traktat von dreierlei Wesen der Menschheitol genaygt besunder geistlicher %wchtt vnd Ordnung jn den klostem dye selben wider pringen in den ersten anfanckch yr stifftung vnd Ordnung dye fast abkomen was durch vnfleys der öbrär geistlichs vnd weltlichs gewalts vnd an vil enden gant% erlöschen, (clm 1807, f. I74v) ' 1439 Bestätigung durch den Bischof von Augsburg. (Riezler III, S. 837)
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Da er aber in geistlichem gewalt nicht abganck oder durch nyemant gehindert mocht werden erlangt er mit dymutigem pett auff sein selbs %erung vnd gab gewalt von dem heyligen Concily Basel alle Klöster vnd Got^hawser seiner landt reformieren darinn gant^er gewalt enpfolchen ward den erwirdigen vättern herren Caspar abt Tegernsee herrn peter Brobst rörr vnd Johannsen dye weil Techant dar nach brobst v>w vndensdorff vnd ir iglicher yn sünderhayt dye Bull ward hantt praucht als hernach begriffen wird, (clm 1807, f. 176') Vgl. a. Riezler III, S. 83 5ff.
. . . man ym für enstlich dan hin s t i f f ten vnd setzen geystlich körherren nach der regel des heyligen hawpt lerers Sand augustin vnd vermaint dy gelegenhayt des pergs dem selbigen orden füglicher war dan sand benedicten orden. (clm 1807, f. 18ov) Kraft, S. 207.
Vnd also patt der o f f t genannt fürst seinen lieben peichtuater deryt^und prelat was \n> vndensdorff das er sich des pergs vnderwundt vnd den ordelich nach klosterlichen sitten pawett auch prüder seines ordens da set^ett. (clm 1807, f. i8ov)
» Vgl. Kraft, S. 20 7 f.; Riezler III, S. 837.
do nün der benannt preladt des pergs vnd pawes sich nit vnderwinden wolt vnd der fürst vnderweist ward das vor %eytten Sand benedicten orden auff dem perg gewesen vnd g e s t i f f t was nam er ym für mit ratt den selben orden da hin s t i f f t e n vnd also durch erlaubnüss des heyligen vater vnd bäbst Nicolay des wirden hüb er an mit Gottes h i l f f pawen das kloster eren der heyligen driualtikayt vnd dem heyligen btschöff Nicoiao auch wirden dem grossen schat^ vnd heyltung da selbs. (clm
,0 51
1807, f. 18o v ) clm 1807, f. 179".
Siehe Anhang I, Nr. 8. Vgl. a. oben Kap. 1, S. 17.
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Die Übersetzung lautet: Johannes hartlieb doctor medicine Ersamer geistlicher lieber getrewer herr vnd vater. Ich lass euch wissen, das mein genädiger herr hert^og Albrecht durch einsprechen des heyligen geist vast genaigt ist, c%e reformieren d j klöster in seinen landen, vnd hat yt^undt geschickt jn das heylig concilj Basel vmb vollen gewalt. vnd aus besunderm woltrauen redt sein gnad mir mündlich dise wortt: Wie gefeit es dir, ich han mir fürgenomen festiklich, das mein sün auff dem heyligen perg andächs süllen gezogen vnd vnterweist werden, pis sy kämen c^w iren vernüftigen jaren. vnd vermain gantsjich, das der dechant %w vndensdorff da selbs still ein kloster pawn vnd seins ordens brüder da hin sec^en. dem wil ich befelchen mein sün, das sy nit also pey der weit aufgeflogen werden. Ich hoff sy erlangen besunder grosse gnad vnd andacht da selbs von Gott von des heyltungs wegen, da selb diser erfrewtt ich mich vnd andtwurtt: Gnädiger herr, der almächtig Gott bestätt ewr gnad in dem vnd in allem guttenS*
Auffallig ist nun, daß in diesem Bericht Hartliebs an Johann von Indersdorf über sein Gespräch mit Albrecht nicht nur davon die Rede ist, daß Albrecht seine Söhne in dem noch zu gründenden Kloster Andechs erziehen lassen will," sondern daß hier, zumindest nach dem Bericht Hartliebs, in diesem Gespräch der Herzog das erste Mal überhaupt den Gedanken äußert, das Stift Andechs zu einem Kloster umzuwidmen! Hartlieb stellt sich in diesem Brief mit der Darstellung seiner Rolle bei Albrecht auf eine Stufe mit Johann; er ist es, mit dem Albrecht zuallererst von seinen Plänen spricht, und er ist es auch, der diese Pläne an Johann weiterleitet. 54 Er zeigt sich so als enger Vertrauter des Fürsten; in seiner Nähe zu Albrecht und in der Einbindung in dessen Entscheidungsprozesse ist er Johann mindestens gleichrangig. Wenn aber Hartlieb als Ratgeber des Fürsten in gleichem Maße wie dessen Beichtvater herangezogen wird, dann ist zu erwarten, daß sie aus gleicher Position heraus argumentieren. Nun ist bekannt, daß Albrecht in allen seinen Entscheidungen von einer starken Frömmigkeit geleitet wurde; diese gleichberechtigte Einbindung Hartliebs in den fürstlichen Rat spräche schon allein für eine Interpretation seiner Ubersetzungen, >l
clm 1 8 0 7 , f. i79 r f.
" Unter diesem A s p e k t wird der Brief v o n der Forschung ausgewertet. Vgl. K r a f t , S. 206. 34
T h o m a , S. 1 6 7 spricht anläßlich der Rolle H e r z o g Albrechts in der Klosterreform davon, daß Albrechts Berater J o h a n n v o n Indersdorf und Hartlieb gewesen seien. Hartlieb soll dabei auch nach T h o m a mit Johannes v o n E i c h , Bischof von Eichstätt, in Briefwechsel gestanden haben. D a T h o m a diese A n g a b e nicht verifiziert und ein solcher Briefwechsel auch weiter nicht bekannt ist, nehme ich an, daß hier eine Verwechslung mit dem oben angeführten Briefwechsel zwischen Hartlieb und Johann v o n Indersdorf vorliegt.
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die diesen eine Rolle innerhalb der pastoralen Führung Albrechts zuweist. Gestützt wird dies jedoch auch durch die Leitideen einer fürstlichen Herrschaft, die Johann in seiner Fürstenlehre entwickelt, und die eine starke Übereinstimmung mit der zentralen Topik des >AlexanderTobiaslehre< und zwei weiteren Fürstenregimina. Die einzelnen Teile der Fürstenlehre begegnen in den Handschriften nicht in immer der gleichen Anordnung;' 6 das spricht dafür, daß die Lehre nicht als festes Corpus, sondern als Fundgrube moralisch-didaktischer Anweisungen gesehen wurde. Die Teile besitzen den Charakter von Spruchsammlungen, der für eine gewisse Austauschbarkeit und Beliebigkeit der Reihenfolge sorgt. Zentrales und immer wiederkehrendes Argument ist die Ermahnung an den Fürsten, die Weisheit zu begehren,' 7 wobei aber dieser höchsten Tugend die Laster gegenübergestellt werden.' 8 >Weisheit< ist natürlich Zentralbegriff einer jeden Fürstenlehre, gewinnt aber hier durch die Einbindung in den katechetisch tradierten Tugend- und Lasterkatalog einerseits' 9 und der Ausrichtung auf die Erlangung des Seelenheils andererseits eine spezifisch religiöse Dimension. Insgesamt wird bei Johann das richtige Herrscherverhalten bestimmt durch das richtige Verhalten vor Gott; der Fürst ist also letztlich Mittler zwischen Volk und Gott. Diese Einbindung in den göttlichen Ordo bestimmte auch, wie gezeigt wurde, die Werke Hartliebs für das Herzogspaar. Den pastoralen und belehrend-erbaulichen Funktionen, die Hartliebs Übersetzungen zu erfüllen hatten, ordnen sich auch die Werke Johannes von Indersdorf unter; das (Euvre beider Männer gewinnt so eine einheitliche Prägung durch spezifisch religiöse Erwartungen an " Die im übrigen auch Hartlieb kennt; er erwähnt die daraus stammende >Physiognomie< sowohl im >Alexander< (65,10) als auch im >Buch aller verbotenen Kunst< (59,6). ,s Vgl. Gehr, S. 21-38. 57 Ο allexander, dir ist mercken, das% verstantnus^ ist ain haupt des fursten vnd des regiment, sy ist ain hail der sei, ein behaltnus^ der tugent, ein speher der laster. In der verstantnus% sehen mir, dye S(e meiden sind vnd auffnemen, dy da erwelen sind, verstantnusξ ist ein vrsprung der tugent, ein wurc% aller guter loblicher vnd erlicher sach. (Gehr, S. 4,78) 38 Ο edler vnd guttiger fürst, naig dich nicht vnkeuschen werchen, wann es ist ain aigenschafft der schwein. was% glori vnd er volgt dir nach, ob du wurckest den tieren geleich? (Gehr, S. 1,15) " Der Fürst sol einnfeind sein allen sunden, besunder hochfart, Geitikayt vnd vnkeusch, Also das^ kain haubtsünd gewald hab über in. Ainsinnikayt, dye manigem menschen grosζ schaden pringt, sol er nit pflegen. Weyshayt sol er taglich von got begeren, dar durch er nit allain weltlich sach, auch Geistiichs wesen in seinem land, als% νer er mag, got lob fuderen mug vnd widerpringen. (Gehr, S. 11,235) 219
Literatur. Daß diese nun nicht nur allein dem Herzogspaar, sondern dem gesamten Hof eignen, zeigt die selbtironisch dargestellte Verteidigung der Leseinteressen des Jakob Püterich von Reichertshausen in seinem >EhrenbriefEhrenbriefsalten Schriften< bezogen habe.41 Die Frage — die allerdings explizit noch nicht gestellt wurde — ist, ob sich der Spott aus einem Literaturverständnis speist, das mit den alten mittelhochdeutschen Versepen nichts mehr anzufangen weiß, weil es schon >neue< Literatur rezipiert: hier kommen der Forschung die an den Höfen Mechthilds oder Eleonores gelesenen >Prosaauflösungen< oder aber die Werke des deutschen Frühhumanismus in den Sinn. Von einer solchen Literatur ist aber am Münchner Hof und in der Münchner 4
° Jakob Püterich von Reichertshausen soll nach Meinung der Forschung persönlich mit Hartlieb bekannt gewesen sein. Aus dem >Ehrenbrief< ist eine solche Bekanntschaft nicht zu erschließen; Püterich nennt zwar einige Mitglieder des Hofs Albrechts III., nicht aber Hartlieb. Grubmüller (Grubmüller, Hof, S. 421) beruft sich mit Drescher auf eine Stelle in cgm 733, der Abschrift des Bäderbuchs, f. 43": das ist mir doctor hartlip vnd jocob puttrichen nit alsso wann vns mit guetten wein vnd fut vnd tewfel. Dieser Vermerk aber steht in Abhängigkeit von einer Marginalie in cgm 732, f. 84': aber mir doctor hartlieb nur »ein ja vnd djfutt %um teufl, die selbst nur Korrektur eines dort zu findenden Schreibervermerks ist: das ist doch ein wunder vnd mir Schreiber nun wein vnd fudt an teufl (Vgl. dazu Fürbeth, S. 301 u. 287). Da die Ubersetzung des Bäderbuchs nicht von Hartlieb stammt, cgm 732 erst 1474 geschrieben ist, kann diese Marginalie nicht von Hartliebs Hand kommen, wie auch der Schriftvergleich zeigt; sie ist also als eine der späteren Hyperkorrekturen zu verstehen, wie sie für die Uberlieferung des Bäderbuchs typisch sind (Vgl. Fürbeth, S. 293ff.). Vielleicht sind hier auch gar nicht Johannes Hartlieb und Jakob Püterich III. gemeint, sondern der Leonard Hartlieb de monaco, der sich in Wien 1454 immatrikulierte (MUW II, S. 26) und es vielleicht auch zum Doktorat gebracht haben wird, und der Sohn Jakob Püterichs (Er ist 1 5 1 0 Rentmeister zu Burghausen; Schmidtner, S. 156 u. 159). Wie auch immer: einen gesicherten »urkundlichen Nachweis« für eine Bekanntschaft Hartliebs mit Jakob Püterich gibt es nicht, was natürlich prinzipiell nicht gegen eine solche Bekanntschaft spricht. Schließlich waren die Püterichs aller drei Linien eng miteinander verbunden (Vgl. etwa die Urkunde H G S Nr. 320 vom 22. Januar 1450, in der gemeinsam Jakob Püterich, der von Gotzkircher bekannte Magister Ernst Püterich und die über den >Dialogus< schon eingeführten Hans Püterich d. Ä. und Hans Püterich d. J . erscheinen), so daß Hartlieb über Ernst und Hans Püterich wohl auch Jakob gekannt haben wird.
41
doch mer die alten puecher, der neuen acht ich nit %ue kheiner stunden (Str. 122). Der Ehrenbrief ist ediert durch Arthur Goette: Der Ehrenbrief des Jakob Püterich von Reichertshausen an die Erzherzogin Mechthild. Straßburg 1899, und durch Fritz Behrend und Rudolf Wolkan: Der Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen. Weimar 1920. Ich zitiere nach Goette.
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Oberschicht dieser Zeit nichts zu finden; und auch die Exponenten dieses Spottes, die Püterich nennt,42 sind mit dieser Literatur nicht in Verbindung zu bringen. Es scheint die Herzogliche Kanzlei gewesen zu sein, die sich hier geschlossen gegen Püterich stellt: der von ihm erwähnte Jan Sedlitz etwa war bis 1448 herzoglicher Rat,45 Johann Rosier 1443 und 1455—1485 Kanzler 44 und 1450 bis 1476 herzoglicher Rat,45 Thoman Rosstaler war von 1460 bis 1475 Kanzleischreiber, 46 Konrad Ermreicher war von 1460 bis 1467 Kanzleischreiber, 47 Ulrich Halder ebenfalls von 1460 bis 1467 Kanzleischreiber. 48 Beim Regierungsantritt von Johann und Sigmund 1460 wurden der Kanzler Rosier, der Kanzleischreiber Rosstaler, die Kammerschreiber Halder und Ermreicher als Räte vereidigt; 49 1467 wurde von Albrecht IV. Veit von Eglofstein zum täglichen Rat bestellt, der schon ab 1455 Rat Herzog Albrechts III. gewesen war.' 0 Nun waren gerade auch die süddeutschen Kanzleien die Träger des Frühhumanismus, wie es oben schon an dem Beispiel des Andreas Baier zu sehen war; hier in München findet sich aber nichts dergleichen. Zwar nicht Ulrich Halder, aber Burkhard Halder, vielleicht sein Bruder,' 1 gibt 1459 den Auftrag, für ihn die deutsche >Summa confessorum< des Berthold von Freiburg abzuschreiben;' 2 Veit von Eglofstein besaß Rechtsliteratur: den Schwabenspiegel, die Goldene Bulle, den Mainzer Landfrieden Friedrichs I I . " und eine Handschrift mit erbaulicher Literatur. 54 Es ist daher zu vermuten, daß der Spott nicht einer Dichotomie »>alte< versus >neue< Literatur« entspringt, sondern einer Dichotomie, die dem literarischen Erwartungshorizont Püterichs eine gänzlich andere Auffassung von den Aufgaben der Literatur entgegenstellt: nach 41
Str. 123—125. Püterich nennt Jan Sedlitden Kanzler Rosler, einen Halter, einen Rostal, einen Nadler und Khunrad Erenreicher. 4 ' Lieberich, Landherren, S. 130 u. Anm. 685. Der Vater (?) Hans von Sedlitz war von 1 4 1 7 - 1 4 3 6 Hofmeister Albrechts III. und dessen besonderer Vertrauter. 44
Lieberich, Kanzlei, S. 244 u. 249. Lieberich, Landherren, S. 132. 46 Lieberich, Kanzlei, S. 245 u. 249. 47 ebd., S. 245 u. 248. ebd., S. 245 u. 248. 49 Lieberich, Landherren, S. 133. Lieberich, Landherren, S. 1 3 2 u. 134. '' Solleder, S. 25 erwähnt einen Burkhard Halder d. Α., der 1409 eine Summe Geldes von der Stadt München erhält, cgm 226. " Alles in der Shs. cgm 555. 14 cgm 273: Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat; der Stricker: Bispelreden; >Vom Antichrists Vgl. auch cgm 255. 41
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den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung ist zu vermuten, daß die Kritik des Münchner Hofes aus einer Erwartungshaltung erwächst, die von Literatur moralisch-geistliche Erbauung verlangt. Püterichs Ehrenbrief selbst spiegelt eine Dichotomie dieser Art wider: Nach der Aufzählung der Werke aus Mechthilds Besitz, die er noch nicht kannte, in Str. 98 und 99 folgt die Auflistung der Werke seiner Bibliothek, angefangen mit dem >Titurel< bis zu dem >Frauendienst< Ulrichs von Lichtenstein." Danach folgt eine Beschreibung der geistlichen Literatur aus seinem Besitz: Zuerst nennt er das Hohelied und eine Psalter-Glosse des Nicolaus de Lyra, dann die >Erkanntnus der sünd< des Heinrich von Langenstein, also einen Text der Wiener Schule. Schließlich führt er an die >Vierundzwanzig Altem des Otto von Passau, die >Tochter von Syon< des Bruder Lamprecht, eine Servatiuslegende, die Püterich Heinrich von Veldeke zuschreibt, das Heiligenleben des Hieronymus< des Johann von Olmütz und das gleiche des Johann Andreae, >Der Seele Rat< des Heinrich von Burgeis und zuletzt den >Georg< des Reinbot von Dorn.' 6 In der folgenden Strophe liefert Püterich dann eine hier höchst bemerkenswerte Entschuldigung: Ist das von hof getan, das es mir ie beschach, das ichs versehen han, das ich die weltlich puech \ue ersten sprach und nit die geistlich puech hah für geruckhet, gebt im das hütel wider! er hat ie das ^ue ser halt übertuekhet. Vergeben sei mir das und noch vil manigs mer. das alter macht mir lass die sinne mein, darum betürft ich ler, wolt fürbass ich die weite lenger bauen. lat stan! lat stan! ja leider mir ist halt worden ser ob ir nur grauen. Puech der ritterleichen der hab ich, frau, nit mer. " Str. i o o - i i o ; die Verifizierungen der v o n Püterich genannten Werke finden sich bei Wilhelm Scherer: D i e Anfange des deutschen Prosaromans. Straßburg 1877, S. 16—19; Goette, S. 98ff.; und auch bei Christelrose Rischer: Literarische Rezeption und kulturelles Selbstverständnis in der deutschen Literatur der >Ritterrenaissance< des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 1973· (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 29), S. 87 u. 9of. ' 6 Str. 1 1 1 - 1 1 6 .
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mir nun hass geistlichen %ue lesen vil, dan ritterliche er. doch denkhen macht, das ich schau dickh hinhinder an die vergangne teg. darum mein khlag ist vil nun dester gschwinderS1 A u f den ersten Blick scheint es sich hier u m die Darstellung einer in der Alterserfahrung begründeten Weltabkehr zu handeln, die den resignativen Verzicht auf die >ritterlichen Bücher< und die H i n w e n d u n g zu den dieser Lebensstufe adäquaten >geistlichen Büchern< nach sich zieht. D i e se Darstellung darf aber nicht wörtlich g e n o m m e n werden; es ist ja auffallend, daß Püterich sich hier des literarischen T o p o s der Altersklage bedient und diesen in eine Versdichtung einmontiert, die eben in der f ü r ihn f ü r die »ritterlichen Bücher< typischen Titurelstrophe abgefaßt ist, er also in doppelter Weise formal auf die D i c h t u n g s m o d i rekurriert, v o n denen er sich nun abwenden will. D i e Altersklage erscheint also in dem K o n t e x t des gesamten Ehrenbriefs ironisch gebrochen, sie ist nicht ernst gemeint, sondern Parodie einer v o n Püterich nicht gebilligten Haltung.' 8 Unter dieser Voraussetzung ist die implizit gemachte A u s s a g e , die geistliche D i c h t u n g stünde dem Alter, die ritterliche der J u g e n d an, nur als ironische Ü b e r h ö h u n g einer A u f f a s s u n g zu verstehen, die die ritterliche D i c h t u n g dem unreifen, die geistliche Dichtung aber dem ernsten, gereiften Menschen zuweisen will. G e g e n eine solche A u f f a s s u n g scheint Püterich hier anzugehen, wenn er etwa die v o n ihm gewählte O r d n u n g des Literaturkatalogs als V e r f e h l u n g darstellt, w e g e n der ihm nun das hütel wider
geben59 ist, als unernst-
57
Str. 117—119. Rischer interpretiert den gesamten Ehrenbrief als »literarische Selbstinszenierung«, die in einem literarischen Rollenspiel einzuordnen ist, in dem Püterich sein Verhältnis zu Mechthild entwirft und in dem Püterich sich in der Beschreibung seiner Sammelleidenschaft selbst karikiert (S. 89). " Die Strophe 1 1 7 bietet einige Übersetzungs- und Interpretationsschwierigkeiten. Behrend/Wolkan und Rischer haben diese drei Strophen übergangen; Goette, S. 109 merkt nur an: »Die Redensart >gebt im das hüetl wider< wusste ich nicht zu belegen. Sollte es vielleicht soviel heissen als: >setzt ihm das Kinderhütchen wieder auf?«< Hedwig Heger, die in dem von ihr herausgegebenen Textband zum Spätmittelalter (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Texte und Zeugnisse. München 1975) die Strophen 100—122 des Ehrenbriefs abdruckt (S. 187—193), übersetzt diese >Redensart< mit »erkennt ihn wieder als ersten an« (S. 192), und scheint damit dem Grimmschen Wörterbuch, Sp. 1991 zu folgen, das unter dem Stichwort >Hütlein< diese Bedeutung mitteilt, allerdings nur mit eben diesem Beleg aus dem Ehrenbrief. Die Übersetzung in diesem Sinne wird also durch nichts gestützt; und sie ergibt auch keinen Sinn: Wer soll hier wieder als erster anerkannt werden? Püterich gebraucht sonst in dieser Strophe für sich das Pers.Pronom. 1. Pers.Sg., er kann sich hier also nicht selbst meinen. Das >ihm< müßte sich demnach auf ein anderes vorhergehendes Substantiv beziehen, hier bietet sich aber nur der »hof« an, was wiederum unsinnig
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weibische Bevorzugung der Ritterbücher also. Gerade die ironisch zu verstehende Selbstdarstellung als unreifer, immer das richtige Maß und die richtige Ordnung verfehlender Mensch, die ja durch das faktische Beharren an der >falschen< Ordnung, hier der Höherbewertung der weltlichen vor der geistlichen Literatur, konterkariert wird, muß so als aggressive Verteidigungsstrategie gegen jene Ordnung gelten, die der Ritterdichtung nur marginalen Wert, der geistlichen Dichtung aber den zentralen Platz einräumt. Da auf diese ironische Inszenierung die Nennung jener Kanzleigruppe folgt, deren Spott von Püterich zitiert wird, ist anzunehmen, daß von dieser Gruppe, die wohl als repräsentativ für den Hof gelten kann, eine solche literarische Gewichtung vertreten wurde, daß also am Münchner Hof der geistlichen Literatur ein wesentlich höherer Gebrauchswert als der höfischen Literatur eingeräumt wurde. Eines ist dazu allerdings noch anzumerken: Püterich selbst geht es nicht um einen grundsätzlichen Kampf >geistliche< gegen >höfische< Literatur. Er besitzt ja, wie sein Literaturkatalog zeigt, eine Anzahl der geistlichen Werke, die auch bei anderen Mitgliedern der Münchner Oberschicht zu finden waren, aus seinem Besitz sind Predigthandschriften erhalten,60 er ist mit seinem Besitz, wie das Werk Heinrichs wäre. Ich nehme eher an, daß Püterich einen Ausspruch von anderer Seite über seine Person hier einmontiert, daß also tatsächlich er gemeint ist und daß daher diese beiden Verse in Anführungszeichen zu setzen sind. Zur Bedeutungsklärung kann nun weiter der >Jüngere Titurek Albrechts von Scharfenberg herangezogen werden: Goette hat daraufhingewiesen, daß Püterich die Strophe 59 aus zwei Zitaten aus dem Jüngeren Titurel zusammengesetzt hat (Vgl. Goette, S. 88), wie ja die gesamte Abfassung des >Ehrenbriefs< in Titurelstrophen auf Wolfram von Eschenbach und Albrecht verweisen will. Nun findet sich genau im Jüngeren Titurel, Str. 4161/62, die Wendung einem den huot gucken, dort im Kontext einer Auslassung über die Züchtigkeit der Frauen: Wie vrowen tragen hüte, da^ mrt hie nicht gelenget, ir wat deheiner gute pfliget an hut, darinne si sich menget, weder sie ge %ykirchen oder strafe. hat si gebrest an hüte, ir lop, da% wirt gewegn in ringer mas^e. Ob ir den hut wil gucken Age%, ein meister diebe, oder liht entwerhes rucken, da% über sehes durch hassen noch durch Hebe. Age%, der soll ir mantel nicht vertriben, der mant si aller wirde; mantel, hut sind eren cleit den wiben. (Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Bd. II/2. Nach den ältesten und besten Handschriften hrsg. von Werner Wolf. Berlin 1968. [ D T M L X I ] ) Der Hut ist hier eindeutig Attribut des Weiblichen. Die beiden Verse bei Püterich sind also so zu verstehen, daß er hier, selbstironisch, den Spott der Hofgesellschaft zitiert, die ihm ein weiblich-weibisches Kleidungsstück zuordnet. Dies wirft das entscheidende Licht auf die Einschätzung der >weltlichen< Literatur von Seiten des Hofes: sie ist eindeutig Frauenlektüre. 6
° cgm 305: >Grieshabersche PredigtsammlungGrieshabersche PredigtsammlungDer Heiligen LebenGrieshaberschen Predigtsammlung< handelt es sich um Heiligenpredigten, die aus der >Legenda Aurea< des Jacobus de Voragine gezogen sind; der Name
224
v o n Langenstein beweist, auf der H ö h e der zeitgenössischen theologis c h e n L i t e r a t u r : 6 1 i h m g e h t es u m eine U m o r i e n t i e r u n g des z u seiner Z e i t a m M ü n c h n e r H o f h e r r s c h e n d e n literarischen W e r t e k a t a l o g s , d e r d e r w e l t l i c h e n D i c h t u n g k e i n e n Platz e i n r ä u m t . E s scheint n u n , daß P ü t e r i c h in d i e s e m Interesse n i c h t v o n
städti-
scher L i t e r a t u r r e z e p t i o n hätte stimuliert w e r d e n k ö n n e n ; es fällt ja a u f , daß P ü t e r i c h sich m i t seinen literarischen W ü n s c h e n n a c h a u ß e r h a l b , an M e c h t h i l d v o n R o t t e n b u r g , w e n d e t . A u f s c h l u ß ü b e r den raum v o n
Gebrauchs-
L i t e r a t u r in der S t a d t g i b t n u n d e r B u c h a u s t a u s c h
>Kollegen< H a r t l i e b s , des M ü n c h n e r S t a d t a r z t e s S i g m u n d
S i g m u n d G o t z k i r c h e r w a r m i t U n t e r b r e c h u n g e n v o n 1 4 4 0 bis in
München
als
Stadtarzt
angestellt. 6 2
In
seinen
eines
Gotzkircher.
Notizen
in
1475 Haus-
h a l t s a u f z e i c h n u n g e n u n d H a n d s c h r i f t e n ü b e r die P e r s o n e n a u s s e i n e m M ü n c h n e r U m k r e i s , die er ärztlich b e h a n d e l t e u n d mit d e n e n er in intellektuellem U m g a n g stand, e r s c h e i n e n eine g r o ß e Z a h l
bekannter
N a m e n der M ü n c h n e r Oberschicht, darunter auch derjenige Hartliebs; es f i n d e n sich a b e r a u c h N a m e n , d e n e n b i s l a n g n o c h n i c h t n a c h g e g a n g e n w u r d e . Interessant sind diese N o t i z e n a b e r v o r allem d e s h a l b , w e i l sie nicht n u r die p e r s o n a l e n B e z i e h u n g e n i n n e r h a l b M ü n c h e n s w i d e r -
61
61
stammt von dem ersten Herausgeber Franz Karl Grieshaber: Deutsche Predigten des X I I . Jahrhunderts. Stuttgart 1844/46 (Vgl. Johannes Daehring: Die Überlieferung der Grieshaberschen Predigten. Diss. Halle 1909). Rischers Urteil, S. 91, »Sein Interesse an der geistlichen Literatur ist ein antiquarisches, zeitgenössische Werke tauchen nicht auf«, ist völlig falsch und kann nur der Unkenntnis der zeitgenössischen, d.h. der zu dieser Zeit rezipierten geistlichen Literatur entspringen, gerade Heinrich von Langenstein ist hochaktuell. Mit seinem Besitz an geistlicher Literatur ist Püterich mit dem Hof und der Münchner Oberschicht völlig kongruent; er unterscheidet sich allein durch den Stellenwert, den er ihr im Vergleich zur >weltlichen< Literatur beimißt. Als Stadtarzt erscheint Gotzkircher in den Kammerrechnungen Münchens erst 1450 (vgl. Moritz Johan Elsas: Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. I. Leiden 1936, S. 760ff.: Gehälter der Stadt-Leibärzte Münchens aus den Kammerrechnungen der Stadt München. »Maister Sigmmdt statarc^t, den hat man wider bestellt Conceptionis virginis Marie anno ;o« [S. 76z]). Sehr ergiebig für die Biographie Gotzkirchers und erstaunlicherweise weder von Lehmann noch von Dressendörfer im Ganzen ausgewertet sind die Briefe Gotzkirchers, von denen er selbst Abschriften in der Handschrift der Münchner UB 40 Cod.ms 810 aufgezeichnet hat (f. I(K)"-\JI\ 187"—188', 244—248v). Diese Briefe datieren von 1431 bis 1459 und sind von Gotzkircher wohl im Sinne einer Briefmustersammlung angelegt worden. Die Sammlung wäre eine eigene Untersuchung und Edition wert. Hier ist auch das früheste Datum seiner Anstellung als Stadtarzt zu finden; f. 24;" unterschreibt er einen Brief von 1440 als Sigismundus phisicus civitatis Monacensis. In einer Urkunde vom 7. Juni 1446 siegelt er als Maister Sigmunt Walch, der Stat München -Ar%t (StdtA München Β II c 312).
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spiegeln, sondern weil sich Gotzkircher auch Aufzeichnungen macht, welche Texte diese Personen besitzen; hier kann also einiges über das dort herrschende Literaturinteresse erfahren werden. Auf Sigmund Gotzkircher hat erstmals Paul Lehmann aufmerksam gemacht; er entdeckte zwei Handschriftenfragmente von der Hand Gotzkirchers in der BSB, 6 ' die er als dessen >Haushaltsaufzeichnungen< identifizierte. In einem Nachtrag zu seinen Untersuchungen wies Lehmann auf zwei Handschriften in der UB München hin, die wie die schon vorher bekannten, von Rose ausführlich beschriebenen Handschriften der heutigen SBPK aus dem Besitz Gotzkirchers stammen.04 Werner Dressendörfer schließlich konnte zwei Codices der UB Graz als Handschriften Gotzkirchers identifizieren.6' Aus den Haushaltsaufzeichnungen Gotzkirchers und seinen Handschriften versuchte zuerst Lehmann, einiges zu Gotzkirchers Lebensgang zu rekonstruieren; Bauer hat dazu Urkundliches nachgetragen, Dressendörfer die Grazer Handschriften ausgewertet.66 Gotzkircher hat nach den Forschungen Lehmanns 1442 in Padua das Doktorexamen abgelegt;67 allerdings konnte der Nachweis dieses Promotionsdatums bei Lehmann nur mit Hilfe einer Indizienkette erfolgen. In den Haushaltsaufzeichnungen schreibt Gotzkircher sich als >Sigmund Gotzkircher^ während in den Münchner Kammerrechnungen ein Stadtarzt Maister Sigmund Walch genannt wird.68 Lehmann Schloß aus der Kongruenz dieser Erwähnungen und weiter aus der Tatsache, daß im München des 15. Jahrhunderts kein weiterer Arzt Sigmund bekannt ist, daß Sigmund Walch und Sigmund Gotzkircher identisch sein müssen. Lehmann erklärte daraufhin >Gotzkircher< als Familienname und >Walch< als »Beiname, den ihm seine Landsleute zugelegt hatten«.6' In dem Register der Paduaner Universitätsakten fand nun Lehmann den Vermerk über einen Sigismund de Alemannia, hinter dem er Gotzkircher vermutete.70 Lehmann übersetzte Italicus mit 6)
64
6)
elm 29105 s (ed. in M B D I V , 2 , S. 696-700). Vgl. Paul Lehmann: Haushaltsaufzeichnungen und Handschriften eines Münchner Arztes aus dem 15. Jahrhundert. In: Lehmann, Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze. III. Stuttgart i960. S. 247—287. Im folgenden wird nach dem Abdruck der Haushaltsaufzeichnungen ( H A Z ) durch Lehmann S. 2 4 8 - 2 5 7 zitiert. S B P K Ms.lat.fol. 60 ( = R o s e Nr. 909) und Ms.lat.fol. 88 ( = R o s e Nr. 908); U B München 4 0 Cod.ms. 808 und 4 0 Cod.ms. 810. U B Graz Cod. 3 1 1 und Cod. 594. Vgl. Werner Dressendörfer: Spätmittelalterliche Arzneitaxen des Münchner Stadtarztes Sigmund Gotzkircher aus dem Grazer Codex 3x1. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des süddeutschen Apothekenwesens. Pattensen/Han. [1978]. ( W M F 15)
66
Anton Bauer: Neues über den Münchner Stadtarzt Dr. Sigmund Gotzkircher. O A 93 (1971), S. 54—55; und die angeführte Dissertation Dressendörfers. Die Dissertation Dressendörfers und sein Artikel im Verfasserlexikon (Werner Dressendörfer: Gotzkircher, Sigismund. In: 2 V L 3, Sp. 202—204) geben den letzten Stand der Forschung.
67
Lehmann, H A Z , S. Lehmann, H A Z , S. Lehmann, H A Z , S. MCCCXLII. Ind. Italicus, et examen et
68 69 70
226
270. 269. 270. V incipiendo primo mensis Januarii. Sigismondus de Alemannia dictus conventum eins in medicinis a carta 0 in libro ebd.
Walch und erklärte diesen Beinamen damit, »daß der deutsche Arzt Sigmund lange in Italien gelebt, viel Italienisch gesprochen und geschrieben und sonst italienische Beziehungen gepflegt hat. Alles das trifft bei unserem Sigmund Gotzkircher-Walch zu«. 7 ' Das Lehmann unbekannte Examensprotokoll findet sich in den >Acta Graduum Academicorum< unter den Nummern 15 71 und 1572. In der ersten Notiz vom 15. Januar 1442 wird mitgeteilt, daß Sigismundus Italicus de Alemania in der Medizin geprüft wurde, 7 2 in der zweiten v o m 16. Januar 1442, daß er zum Doktor der Medizin promoviert worden sei. 75 In der zweiten Eintragung erscheint er jetzt tatsächlich als Sigmund Walch de Ayblinga, so daß die Vermutung Lehmanns sich bestätigt. Allerdings erhält Sigmund Gotzkircher damit einen weiteren, bislang unbekannten Beinamen, der sich auf seine Herkunft aus dem bayerischen Aibling bezieht. Dieser Beiname wiederum macht die Identität Gotzkirchers mit jenem Sigismundus Walich de Eyblinga sehr wahrscheinlich, der sich im Sommersemester 1427 in Wien immatrikuliert. 74 Daß, um einen möglichen Zweifel auszuräumen, mit >Sigmund Gotzkirc h e r und >Sigmund Walch< wirklich dieselbe Person benannt wird, zeigt schließlich die Eintragung von Gotzkirchers eigener Hand in der Münchner Handschrift 4 0 810 aus dem ehemaligen Besitz Gotzkirchers. Dort hat er auf f. 4o v das Walch der Namensnennung egregio medicine doctorj magistro sigismundo walch phisico monacensi durchgestrichen und durch ein übergesetztes got^chircher ersetzt. Nach der Martrikeleintragung in Wien trägt Gotzkircher also schon 1427 den Beinamen >WalchTractatus secundus< des Gentile (SBPK Ms.lat.fol. 88, f. m Y - z ^ o ' und Ms.lat.fol. 60, f. 1 0 6 107'), den auch Hemmerli in seinem Tractatus de balneis, den sich Schedel bald beschaffte, benutzt (Vgl. Fürbeth, S. 291). Unter den Münchner Medizinern dürfte die Beschäftigung mit der balneologischen Therapie nicht abgerissen sein; nicht zuletzt daraus ist auch das starke Interesse abzuleiten, das Hartlieb nach der Vorrede in clm 8244 der für ihn wohl neuen Schrift Hemmeriis 1467 entgegenbrachte. Um so unbegründeter mußten den Münchnern die medizinfeindlichen Attacken Hemmeriis erscheinen, von deren Zurückweisung die Einschübe Tömlingers in dessen Übersetzung zeugen (Vgl. Fürbeth, S. 293). habet units liber nuncupatur vita philosophorum (SBPK Ms.lat.fol. 88, f. 243', Rose S. 1095). rescribere legendam Karoti Magni (Lehmann, H A Z , S. 250, Z. j}f-)ebd.
'' Item rescribere cronicam de sancto Emmeramo Ratisbone de imperatoribus et potitificibus usque ad imperatorem Sigismundum de domino Hermanno (Lehmann, H A Z , S. 250, Z. 29^). Unter den Büchern Hartmann Schedels befand sich ein >Liber historiarum in quo Cronica summorum pontificium et imperatorum continentur< (Stauber, S. 116). 92 scribat quartam fen primi et primam fen quarti (Lehmann, H A Z , S. 2 jo, Z. 54). 95 Receptas ex libro Hundertpfund (Lehmann, H A Z , S. 252, Z. 82), Liber de simplicibus plebani Hundertpjunt (UB München 40 Cod.ms. 810, f. io6r). 94 Complere psalterium magistri Petri Frid. . . (Lehmann, H A Z , S. 251, Z. 57). " Rescribere herbas in uilgari de naturis rerum Petri Schiuder (Lehmann, H A Z , S. 251, Z. 58). 9 ' eciam Georius Scharpp habet et Tömlinger (Lehmann, H A Z , S. 251, Z. 60). 97 ebd. 98 Liber de rerum naturis Putreich (UB München 40 Cod.ms. 810, f. 106'). 99 Rosam Anglicam, Hartlipp et minores eciam habent (Lehmann, H A Z , S. 249, Z. 20), Serapionen de simplicibus habet Hartlipp (Lehmann, H A Z , S. 249, Z. 23), Stat antidotarium Arnoldi de Villa Nova, circa minores in libraria eciam habet Hartlipp (Lehmann, H A Z , S. 252, Z. 78). 100 Racionale divinorum sancti Gregorii pape circa Augustinenses et theologicon, eciam ibidem (Lehmann, H A Z , S. 249, Z. 15f.). ,0 ' Lehmann, HAZ, S. 249, Z. 20. 2Z9
Die Personen sind, soweit identifizierbar, dem Patriziat Münchens oder der akademisch gebildeten Oberschicht zugehörig: Johannes Fiechtmayr, der sich de Terching oder auch de Monaco nennt, immatrikuliert sich zum Wintersemester 1434 in Wien. 10 ' 1436 in vigilia sanctorum petri et pauli unterzieht er sich der Bakkalaureatsprüfung'° 4 und wird am 6.12.1436 zum Bakkalar promoviert. ,0! In die sancti gregorii 1439 e f hält er die artistische Lizenz. 106 Vor 1462 wird er Pfarrer zu Sulzemoos, am 20. März 1462 siegelt er als Kaplan zu Unser Lieben Frau in München, 107 dort erscheint er auch schon 1452 als Geselle. 108 Ein Hans Ettenhofer studiert ab 1432 in Wien. 109 Am 2. März 1435 wird er zum Bakkalaureat präsentiert 110 und in die sancti vdalrici 1435 promoviert." 1 Die Lizenz scheint er nicht zu erhalten. Am 10. August 1448 ist er Propst zu Andechs, 112 und als solcher erscheint er 1449 an der Universität Padua" 5 und verbleibt dort mindestens bis zum 1. Dezember 1450. 114 Peter Frid[. . .] könnte jenen Petrus de Fridland meinen, der 1423 an der Universität Wien nachweisbar ist,"' Jörg Scharpp soll Barbier gewesen sein." 6
101
tres quinterni de Vincencio in speculis et habetur in Tegernsee (Lehmann, H A Z , S. 250, Z. 3 9 f.). ,0 > M U W I, S. 186. 104 A F A Wien II, f. iz6 v . "" A F A Wien II, f. 127". '°6 A F A Wien II, f. 13 3 v . So auch die Matrikel der Rheinischen Nation (Archiv der Universität Wien, >Protocollum incl. nationis Rhenanae ab anno 1417 usque ad anno ι;82 Geiß, S. 10. " 6 StdtA München D I e 1 - X I 12. Vgl. a. die Urkunden D I e 1 V I 17 (21. August 1482, Pfarrer zu U. L. F.), C I X c 16 - 13 (14. Nov. 1487, Pfarrer zu U. L. F.), C I X c 7 - 82 (23. Juni 1497, Dechant zu U. L. F.). " 7 Geiß, S. 10. ,2
Bei Schmidtner, S. 163 unter der Nummer 26 erwähnt. U B München 4 0 Cod.ms. 808, f. 17 5v: plebanus mag. Ernestus. 129 Schmidtner, S. 163, Nrr. 26 u. 27. A F A Wien II, f. 107'. A F A Wien II, f. 119'. 1,2 A F A Wien II, f. 129". "» M U H I, S. 273. 134
,JI 136
Als maister Ernst Pittrich, waculaurius der heiligen geschrift, siegelt er am 1. Oktober 1461 (HGS Nr. 36;). S. unten. Vgl. Fritz Koller: Der Eid im Münchner Stadtrecht des Mittelalters. München 1953. (Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München 5), S. 78.
232
te. 1 ' 7 Schon daher ist auf eine enge berufliche Verbindung zwischen Niklas Hartlieb und Gotzkircher zu schließen. Allerdings ist auch von Hartlieb selbst eine Arzneimittelpreisliste aus dem Jahr 1453 in einer Handschrift Gotzkirchers überliefert,' 38 die Hartlieb, so die Vermutung Dressendörfers, auf Veranlassung der Stadt München als Vorarbeit für eine öffentliche Taxe zusammengestellt haben soll. 1 ' 9 Auch spricht Hartlieb in seinem >Buch< von einem in seinem Dienst stehenden Apothekergesellen, so daß wohl anzunehmen ist, daß die Funktionen von Arzt und Apotheker außerhalb des vom Stadtrecht bestimmten Raumes so klar nicht zu trennen sind, wie es ja in der Person Gotzkirchers selbst deutlich zu sehen ist. Auf jeden Fall ist Gotzkircher mit Johannes Hartlieb gut bekannt; dies zeigen die Notizen in dem Berliner Codex. 140 Hartlieb erscheint in der Wunschliste Gotzkirchers nur mit medizinischen Texten. Zwei Arzneibücher, das >Antidotarium< des Arnold von Villanova und den >Liber de medicamentis simplicibus< des Serapion, und die >Rosa anglica< des englischen Arztes Johannes von Gaddesden, ein medizinisches Kompendium a capite ad pedes,1*1 will Gotzkircher von ihm ausleihen. Das Antidotarium findet er auch bei den Minoriten, den Serapion bei dem Plebanus Hundertpfund: es scheinen also diese Arzneibücher auch von medizinischen Laien als pharmazeutische Hausbücher benutzbar zu sein. Von Hundertpfund erhält er auch ein Rezeptbuch. Wohl Gotzkirchers Bruder Ulrich schreibt für Gotzkircher Teile aus dem berühmtesten mittelalterlichen medizinischen Werk ab, dem >Kanon< des Avicenna. Aus den fünf Büchern benötigt Gotzkircher die vierte Fen — über die allgemeine Therapie — des ersten Buchs und die erste Fen — über die Fieber — des vierten Buchs. Deutschsprachige Aufzeichnungen über Kräuter finden sich bei Peter Schiuder, J ö r g Scharpp und bei Tömlinger. Der Pfarrer Ernst Püterich besitzt ein Buch de rerum naturis, das nicht zu identifizieren ist, aber sicherlich aus seiner Wiener Lehrtätigkeit stammen könnte, in der er ja bei den Artisten über die Physik des Aristoteles lesen mußte.
ebd. Vgl. oben K a p . 2 . 2 . 1 . ' " Dressendörfer, S. 66f. '4° Ille idem dixit magistro Iohanni hart lieb quod pro 1 lb reubarbari Veneciis darentur duo ducati et non valeret plus quam duos ducatos libra reubarbari. Actum Anno domini 14)4. S B P K Ms.lat.fol. 88, f. 5' (Rose, S. 1090). ,4 ' Vgl. H H V , II, S. 6 5 1 . ,>8
2
33
Neben der medizinischen Literatur sind es nur chronikalische und theologische Werke, denen Gotzkircher sein Interesse zuwendet. Von Jörg Kazmair und von dem Propst des Klosters Andechs wünscht er die Legende Karls des Großen, von Hermann (Schedel?) die Chronik der Kaiser und Päpste. In dem Augustiner-Kloster weiß er das Nationale divinorum offlciorum< des Wilhelm Durandus d.Ä., eine liturgische Summa; in dem Kloster Tegernsee das >Speculum historiale< des Vincenz von Beauvais. Psalmen will Gotzkircher aus dem Psalterium des Magisters Peter Frid[. . .] abschreiben. Medizin, Theologie und Chronik sind auch die Bereiche, aus denen die anderen von Gotzkircher verzeichneten, aber keinem Besitzer zugeordneten Werke stammen. Neben dem Großteil der medizinischen Titel stehen das Catholicon des Johannes Januensis, 142 ein Missale,143 ein Passionale, also eine Heiligenlegendensammlung, 144 eine deutsche Legende des Heiligen Georg, 14 ' eine wohl liturgische Tafel der Feste über das ganze Jahr, 146 ein Buch mit Wundererzählungen, 147 ein Paternoster148 und die Predigten des Nikolaus von Dinkelsbühl. 149 Ein Fürstenspiegel, das Buch >de regimine principum< des Aegidius, ist ebenfalls verzeichnet." 0 Um wieder zu den personalen Beziehungen zurückzukommen: Gotzkircher und mit ihm Hartlieb ist in einen Personenkreis eingebunden, der sich einerseits aus Mitgliedern des städtischen Patriziats, andererseits aus Mitgliedern der akademisch gebildeten Schicht der Kleriker und Verwaltungsbeamten zusammensetzt. Dieser Personenkreis wird durch berufliche, aber auch intellektuelle und im Falle Hartliebs, wie noch gezeigt werden wird, verwandtschaftliche Beziehungen verklammert. Gotzkircher vermerkt in den Haushaltsaufzeichnungen und in seinen Handschriften Rezepte für bestimmte Empfanger: so für Simon Sänftl, 1 ' 1 Mathias Potschner, 1 ' 2 Balthasar Ridler, 1 ' 3 eine Ligsalczin, 1 ' 4 '4* Lehmann, H A Z , S. 249, Z . 22. ' 4 i ebd., S. 250, Z . 33. 144 ebd., S. 250, Z . 36. ebd., S. 2 5 1 , Z . 62. 146
ebd., ebd., ,4 " ebd., ""ebd., ''"ebd., 147
S. S. S. S. S.
2ji, 252, 252, 250, 249,
Z. Z. Z. Z. Z.
64. 80. 81. 31. 17.
ebd., S. 252, Z . 83. " ' e b d . , S. 252, Z . 86. "» ebd., S. 252, Z . 87. " " S B P K Ms.lat.fol. 88, f. 6 4 v .
234
einen Altman,'" eine Chaczmayrin,'' 6 Erasmus Torringer, 1,7 Oswald Torringer,'' 8 Lorenz Schrenck, 1 ' 9 Johannes Stupf, ,6 ° Balthasar Pötschner,' 6 ' Jörg Endelczhawser;' 62 schließlich für die Herzöge Albrecht III. 163 und Sigmund.' 64 Die Sänftl, Ridler, Pötschner, Ligsalz, Torringer, Schrenck, Kazmair sind wiederum alte Münchner Patriziergeschlechter; 16 ' ein Hans Endelshauser ist bis 1457 als Münchner Unterrichter nachweisbar, 166 ein Hans Altmann ist 1467 gemeinsam mit Hans Stupf Rentmeister des Herzogs,' 67 Balthasar Pötschner ist 1490 Bürgermeister und Herzoglicher Rat,' 68 aber schon zur Zeit Gotzkirchers urkundlich aufgetreten. 169 Gotzkirchers Patientenkreis also entspricht dem Personenkreis seines intellektuellen Umgangs: auch hier ist dieselbe Mischung aus Patrizierund Verwaltungsschicht der Stadt und des Hofes festzustellen. Aufschlußreich ist nun, daß Hartlieb nicht nur durch geschäftliche oder intellektuelle Kontakte, sondern sogar durch verwandtschaftliche Beziehungen mit der Münchner Oberschicht verbunden ist. Der Rentmeister Hans Stupf oder dessen Vater schließt 1426 einen Vertrag mit dem Patrizier Hans Tichtl zur Ausbeutung von Silberbergwerken. 170 Dieser Hans Tichtl ist wohl der Vater jenes Wilhelm Tichtl, der urkundlich als der Ehemann von Dorothea, der Schwester von Gothart Hartlieb, erscheint;' 7 ' Wilhelm Tichtl, der 1483 Bürgermeister von München ist,' 72 ist also der Schwiegersohn Hartliebs. Sigmund Fünsinger,' 75 Metschenk und Ehemann von Barbara, der Cousine Hartliebs, ist der Taufpate von Anna Kaspar Hundertpfundin, ebd., f. 7 9 v . ebd., f. 84", 8;'. 1.7 ebd., f. 8 4 v . 8 " ebd., f. 26Γ. "'ebd., f. 211'. ,6 ° UB München 40 Cod.ms. 808, f. 185'. ebd., f. 185'. ebd., f. 185'. ,6) SBPK Ms.lat.fol. 88, f. 5Γ. ,δ4 ebd., f. 2io v . ,6 ' Vgl. Solleder, passim. ,,ίι5 Vgl. HGS, Nr. 360. 167 Solleder, S. 70. ,6! Solleder, S. 66. 169 HGS, Nrr. 324, 381, 582. ,7 ° Solleder, S. 42. 1.6
171 171
Vgl. Anhang I, Nr. 55 aus dem Jahr 1480. Solleder, S. 393. In der Urkunde HGS, Nr. 454 wird er als Sygmund Grymm von Fuensing bezeichnet; er stammt demnach vielleicht aus dem Ort Finsing im Landkreis Erding.
235
einer geborenen Sänftl.' 74 Kaspar Hundertpfund wieder ist mit dem wohl von Gotzkircher in den Haushaltsaufzeichnungen gemeinten Balthasar Hundertpfund, decretorum doctor, verwandt. Die hier vorherrschenden Literaturinteressen sind nun über die erhaltenen Handschriften dieser Provenienz zu erschließen. Am sammeleifrigsten scheint dabei Hans Stupf gewesen zu sein. Von ihm sind vier Codices erhalten; 17 ' ein deutsches Brevier ist darunter, ein >Traktat vom Leiden ChristiBuch der Natur< von Konrad von Megenberg. Aus dem Besitz der Maria Ridler stammt cgm 58 mit den Evangelien und Episteln für das ganze Jahr; von Gabriel Ridler eine Historienbibel und ein >MarienlebenBayerische Chronik< und sein >Buch der Abenteuer< am Hof Albrechts IV. In: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposium. Hrsg. von Peter Wapnewski. Stuttgart 1986. S. 10—}i) weist daraufhin, daß Fuetrers »Bayerische Chronik< und das >Buch der Abenteuer< nicht als Zeugnis einer literarischen Ritterrenaissance zu sehen sind, sondern spezifische herrschaftslegitimierende Funktion hatten. Die »Bayerische Chronik< — ebenso wie das »Buch der AbenteuerBuch aller verbotenen Kunst< zeugt, könnten dies vermuten lassen —, beschäftigt er sich allemal mit theologischen Fragen; seine Aufgaben reichen weit über das SpeziellMedizinische hinaus. Nun ist oben in dem Bekanntenkreis Gotzkirchers und damit auch Hartliebs eine Reihe von Theologen benannt worden; es sei an Ernst Püterich erinnert, an Johannes Fiechtmayr, an Hans Ettenhofer und Balthasar Hundertpfund. Sie verbindet alle eine ähnliche Karriere; sie haben in Wien studiert, einige sind nach Italien gegangen, und schließlich hat jeder eine Pfründe in oder bei München erlangt. Das Studium in Wien läßt eine starke Vertrautheit mit den theologischen Ideen der Wiener Schule als sicher erscheinen; von da aus kann angenommen werden, daß der Impetus einer laientheologischen Unterweisung von ihnen auch nach München getragen wird. Mit ihnen besitzt Hartlieb denselben universitär-intellektuellen Bildungshintergrund; wenn also eine soziologisch unterscheidbare Gruppe in München festzustellen ist, 239
die sich differenziert von dem Patriziat oder dem Bürgertum Münchens, dann diese von Münchner Intellektuellen. Es scheint so, als habe Albrecht III. sich dieses akademischen Potentials bedient, wenn er Hartlieb und andere als Berater einstellt, so wie er auch juristisch-universitär Gebildete als Hofräte übernimmt. Die Frage aber ist nun, weshalb in diesem Intellektuellenkreis, anders etwa als in Wien um 1450, anders auch als in Nürnberg oder Augsburg, sich keinerlei Spuren der Beschäftigung mit humanistischem Gedankengut finden lassen, obwohl doch, wenn auch nur über den Umweg über andere Humanisten wie Bernhard von Kraiburg oder Andreas Baier, zu erschließen ist, daß Hartlieb mit den Protagonisten des süddeutschen Humanismus derart bekannt war, daß auf ihn sogar ein humanistisches Lobgedicht geschrieben wurde? Diese Frage kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht beantwortet werden; es soll aber im letzten Kapitel zumindest eine Möglichkeit der Beantwortung angedeutet werden.
240
6.
Laienfrömmigkeit und Frühhumanismus
Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung ist keineswegs überraschend. Wenn man Hartliebs Münchner Werke als erbaulich-unterweisende Literatur faßt, die in einem spezifisch religiös gestimmten Gebrauchsraum ihre Funktion zu erfüllen hatte, dann sind sowohl die Werke als auch der Erwartungshorizont, vor dem sie geschrieben und rezipiert wurden, nichts Außergewöhnliches in der Literatursituation des Spätmittelalters. Das 15. Jahrhundert ist als einer der frömmsten Zeitabschnitte des Mittelalters überhaupt bezeichnet worden; Massenwallfahrten, die große Zahl von Meßstiftungen und inbrünstige Heiligenverehrung sind nur einige Anzeichen dieser Frömmigkeit. 1 Auch von Hartlieb sind die Zeugnisse solcher Frömmigkeit bekannt; es ist, um nochmals darauf hinzuweisen, völlig unnötig, etwa die von ihm gestiftete Marienkapelle und den dafür erwirkten Ablaß als Sühneversuch seiner angeblichen mantischen Praktiken zu interpretieren. Stiftungen dieser Art entspringen einer intensiven Heilssehnsucht der Zeit; man versucht mit allen Mitteln, »sich eine Garantie für das Heil zu erzwingen«. 2 Ein breiter Strom innerhalb dieser überall zu beobachtenden Frömmigkeit ist die schon öfters angesprochene Bewegung der Klosterreform, die das monastische Leben im Sinne einer wieder zuchtvoll-asketischen Religiosität erneuern will und auch auf das geistliche Leben der Laien hinwirkt. Ebenfalls innerhalb dieser Bewegung einer religiösen Erneuerung sind die Versuche der Wiener Theologie zu sehen, die zu einer höchst abstrakten Wissenschaft gewordene Theologie auch der Frömmigkeit wieder nutzbar zu machen; man denke an die deutschsprachigen katechetischen und exegetischen Traktate eines Heinrich von Langenstein oder eines Nikolaus von Dinkelsbühl. ' B e r n d Möller: Frömmigkeit in Deutschland um i ; o o . Archiv für Reformationsgeschichte 56 (1965), S. 5-30. 2 Möller, S. 13. Möller erwähnt in diesem Zusammenhang »manche in ihrer Art geradezu ergreifenden Gewaltanstrengungen reicher Leute, die für sie durch die spätmittelalterliche Kirche eröffneten Möglichkeiten bis zum Letzten auszuschöpfen«, und nennt das Beispiel des Kardinals Albrecht von Brandenburg, der sich fast 40 Mill. Jahre Ablaß gesichert hatte (ebd.).
241
Berndt Hamm hat sich mit der spätmittelalterlichen Frömmigkeit unter begrifflich-methodischem Aspekt beschäftigt.' E r unterscheidet zwischen >Frömmigkeitspraxis< und >FrömmigkeitstheorieReflexion< und >Anweisung< abgesteckt wird. Als einen Teil der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheorie nennt Hamm nun gerade die von ihm so genannte >Frömmigkeits-< oder >Reformtheologie< des 15. Jahrhunderts. Bezeichnend sei das Bestreben, das Auseinanderfallen von Schultheologie und Frömmigkeit zu überwinden: »Das theologische Nachdenken wird ein Ferment des moralisch-praktischen Appells und umgekehrt der moralisch-praktische Appell ein Ferment, ein nicht wegzudenkendes Element der theologischen Reflexion.« 6 Hamm nennt hier den maßgebenden Theologen der Wiener Universität, Nikolaus von Dinkelsbühl, und Johannes Gerson als den >Bahnbrecher< dieser Reformtheologie. Es wurde oben gezeigt, wie oft der von Hartlieb benutzte >Tractatus de superstitionibus< des Nikolaus Magni zusammen mit Texten der Wiener Schule abgeschrieben wurde 7 und 3
Berndt
Hamm:
Frömmigkeit als Gegenstand
theologiegeschichtlicher
Forschung.
Methodisch-historische Überlegungen am Beispiel v o n Spätmittelalter und Reformation. Z f T h K 74 ( 1 9 7 7 ) , S. 464—497. 4
» W o man v o n Frömmigkeit sprechen kann, geht es immer - entweder in der Gestalt theoretischer Reflexion oder in der Gestalt praktischer Realisierung — um die Verwirklichung bestimmter christlicher (bzw. andersgläubiger) Verkündigungen, Lehren, Ideen, Wertvorstellungen, H o f f n u n g e n , G e b o t e , Anleitungen, Traditionen oder G e wohnheiten im konkreten Lebensvollzug durch eine bestimmte
Lebensgestaltung.
[. . .] Entscheidend für den Begriff der Frömmigkeit ist der mittelbare (Frömmigkeitstheorie) oder unmittelbare (Frömmigkeitspraxis) Bezug zu einer bestimmten Lebensgestaltung«. ( H a m m , S. 466) ' H a m m , S. 4 6 7 . H a m m , S. 4 7 9 .
s
7
N i c h t zuletzt hat Heinrich v o n Langenstein selbst eine lateinische >Quaestio über Anfechtungen
des Teufels und
Hilfen gegen
diese< geschrieben
(ed.
Hohmann,
S. 1 7 4 - 2 2 3 ) , die von Nikolaus v o n Dinkelsbühl bearbeitet und v o n einem anonymen Bearbeiter, w o h l einem Wiener Theologen, wahrscheinlich für eine D a m e des Wiener Hofes übersetzt und erweitert wurde (Hohmann, S. 158). Die lateinische Quaestio
242
wie häufig gerade auch die Namen von Nikolaus und Gerson zu finden waren: der >Tractatus< ist, so wurde er analysiert, ein Werk, das theologische Superstitionentheorie in Handlungsanweisung für die Lebenspraxis umsetzt, er illustriert also geradezu exemplarisch die von Hamm angeführte Verschränkung von praktischem Appell und theoretischer Reflexion. Nicht anders die Übersetzung und Erweiterung Hartliebs, mit einer wichtigen Verschiebung allerdings: Mit dem Argument wan es dem laien kain frucht bringt hatte er die Verästelungen scholastischer Argumentation gekappt und sie durch Erfahrungen seiner eigenen Lebenspraxis ersetzt. Dies ist nichts anderes als die Anpassung des Magnischen Traktats an einen laikalen Adressaten; die Intention jedoch und damit auch die Struktur des Textes hat sich nicht prinzipiell geändert. Auch Hartliebs >Buch aller verbotenen Kunst< kann als Ergebnis frömmigkeitstheoretischer Überlegungen gelten, das sich jedoch nicht allein mit der Reflexion über Praxis begnügt, sondern Reflexion in Anweisung umsetzt. Gleiche Intentionen verfolgen die anderen drei Werke der Münchner Zeit; selbst der >AlexanderTractatus de superstitionibus* aus Wilhelm v o n Paris. Allerdings geht es bei diesen sieben Anfechtungen nicht um die Rolle des Teufels bei superstitiösen Praktiken, sondern allgemeiner um Glaubenszweifel,
Standesanma-
ßung, übertriebene Askese und Sündhaftigkeit, die v o n dem Teufel angereizt und ausgenutzt werden. Auch an der Übersetzung ist aber sehr schön zu sehen, wie die scholastische Entfaltung der Quaestio dann umgesetzt wird in praktische Anweisungen, den Anfechtungen zu entgehen. 2
43
lieb war mit dem Kloster Tegernsee verbunden, von Tegernsee gingen ihm jährlich Weihnachtsehrungen zu, und es darf angenommen werden, daß wohl auch er zu der Tegernseer Verbrüderung gehörte. In dem >Tegernseer Verbrüderungsbuch aus dem Jahr 145 κ , das alle dem Kloster sich geistig und religiös verbunden Fühlende verzeichnet,8 nimmt unter den seculares des Münchner Raums das bayerische Herzogspaar die erste Stelle ein, und wenn gerade hier das Buch nicht lückenhaft wäre, würde wohl auch Hartliebs Name zu finden sein. In den Weihnachtsehrungen jedenfalls wird er bedacht; und auch die anderen Namen der höfischen Kanzlei und des Münchner Klerus erscheinen: Eglofsteiner, Halder, Rosler, Rostaler, Ernreich, Ernest Püterich, Hans Fiechtmayr, Hans Kirchmair und andere.9 Wenn die Weihnachtsehrungen zu einem gewissen Teil auch aus politischen Gründen nach München gingen, so spiegeln sie doch auch die enge intellektuell-religiöse Verbindung zwischen dem Hof und der Oberschicht Münchens und dem Kloster wider. Der Herzog selbst hat wohl schließlich Tegernsee die Rolle als geistiges Zentrum Bayerns eingeräumt; als Beispiel mag nur der von ihm 1452 engagierte Prinzenerzieher gelten. Es handelt sich bei ihm um Ulrich Greimolt, der von Riezler eher beiläufig erwähnt wurde. 10 Aus dem Besitz Greimolts sind vier Handschriften erhalten, die sich heute in der B S B befinden." Die lateinischen Handschriften sind ehemaliger Tegernseer Provenienz, was vermuten läßt, daß Greimolt sie selbst dem Kloster geschenkt hat. Die Handschriften stammen zum Teil von Greimolts eigener Hand. In clm 19848 sind auf f. i86f. und 2 5 2f. autobiographische Notizen zu finden, die von seiner Geburt im Jahre 1413 bis zu dem Zeitpunkt der letzten Notiz 1485 reichen. Die Handschrift selbst hat Greimolt in Wien geschrieben, w o er sich am 14. April 1435 an der Universität immatrikulierte. 12 Bei den Texten handelt es sich um die Mitschrift einer Vorlesung des Thomas de Buldersdorf über die aristotelischen >Libri ethicorum< aus dem Jahr 1439 u n d um 8
Vgl. >Das Tegernseer Verbrüderungsbuch vom Jahre 145 κ , abgedruckt bei Redlich, S. 220-241, hier S. 237. »Gerade bei Tegernsee waren die Verbrüderungen keine Modesache, sondern weisen uns jedesmal den Weg zu ganz bestimmten, und zwar sehr realen Beziehungen wirtschaftlicher, künstlerischer oder bibliotheksgeschichtlicher Art und zeigen auch genau den Reformkreis an, den Tegernsee gezogen hat.« (Redlich, S. 7)
» Spiller, S. 289. Riezler III, S. 918. " cgm 739, clm 19651, clm 19672, clm 19848. 12 MUW I, S. 188.
244
die Abschrift eines >Tractatus novus de anima< von 1440; diesen beiden Texten sind Auszüge aus den >Gesta romanorum< und aus der >Historia Septem sapientium< angefügt. Bei clm 19672 handelt es sich um eine Sammelhandschrift mit Texten der Logik; es sind der >Tractatus de logica< des Petrus Hispanus, die >Parva logica< des Ulrich von Tübingen, die >Sophismata< des Tysberus und die >Summa de proprietatibus terminorum< des Johannes Muntzinger zu finden. Auf f. 3 1 4 - 3 1 6 hat Greimolt eine Disputatio niedergeschrieben, die er selbst 1441 über die >Sophismata< gehalten hat. Cgm 739 bietet mathematisch-astronomische Texte; die Handschrift ist aus zwei Teilen zusammengebunden, wobei der erste Teil, f. 1—30, von Greimolt stammt. Hier stehen Tafeln zur Auffindung des Aszendenten, der >Kalender< des Wiener Professors Johannes von Gmunden, komputistische Merkverse und Intervalltafeln; eine dieser Tafeln stammt von Johannes Keck, die dieser in Briefform an Kardinal J o hannes Grünwalder, den Halbbruder Herzog Albrechts III., geschrieben hatte. Hier wird eine erste Beziehung Greimolts nach Tegernsee greifbar. Johannes Keck ist schon genannt worden; von seiner Hand stammt die Paternoster-Übersetzung auf dem Vorderspiegel von cgm 385, der die >Brandanlegende< enthält, er half Ernest Püterich, dem späteren Pfarrer von U.L.F. in München, bei der Ausarbeitung einer Wiener Disputation. Keck war seit 1437 Beichtvater Albrechts III. E r wurde 1426 in Wien immatrikuliert, wo er seit 1429 magister artium regem war und 1434 das Bakkalaureat der Theologie erlangte. 1434 bis 1441 war Keck Pfründner an der Münchner Peterskirche; von dort aus ging er 1441 auf Veranlassung Johannes Grünwalders an das Basler Konzil, wo er 1442 an der Basler Universität zum Doctor theologiae promoviert wurde. Im gleichen Jahr ist er in das Kloster Tegernsee eingetreten, 1449 wurde er nach Rom berufen, wo er 1450 starb. 1 ' Kecks literarisches Werk besteht hauptsächlich aus Gelegenheitsschriften zu konziliaren, kirchenpolitischen und -rechtlichen Fragen und Fragen der Klosterreform, aus Predigten und aus Schriften zur kontemplativen Theologie. Von dem Basler Konzil brachte er nach Tegernsee eine Mitschrift der dort gehalte'* Vgl. Heribert Rossmann: Johannes Keck. In: 2 V L 5, Sp. 1090— 1 1 0 4 ; und neuerdings: Wilhelm Baum: Johannes Kecks Traktat über Klosterleben und Eremitentum für den Einsiedler Hans Frankenfurter im Halltal (1447). Ein Beitrag zur Geschichte des Klosters Tegernsee und zur Biographie des Nikolaus von Kues. StudMittOSB 97 (1986), S. 444—461.
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nen Rede des italienischen Humanisten Hugolino Pisano de Parma mit, ebenso Leonardo Brunis Übertragung des Büchleins Basilius' des Großen über das Studium der heidnischen Schriftsteller. 14 Bei Keck verbindet sich also eine Prägung durch die Wiener Theologie und durch die theologisch-politischen Fragen der Zeit mit einem erwachenden Interesse an dem italienischen Humanismus. Greimolt schreibt in dem genannten Codex ein weiteres Werk Kecks ab, ein Gutachten zu konziliaren Fragen, dies läßt ein besonderes Interesse an den Schriften Kecks vermuten. Keck stand 1447/48 mit Johannes Schlitpacher, der in Wien studiert hatte, seit 1434 dem Kloster Melk zugehörig war und in den vierziger Jahren mit der Reform der Benediktinerklöster zu Augsburg, Ettal und Mariazell betraut war, 1 ' in einer brieflichen Kontroverse über die Beilegung des Schismas. Von Schlitpacher hat nun Greimolt nach einer Notiz in dem vierten Codex clm 19651 — in dem auch die Bemerkung zu finden ist, daß er 1452 zum Prinzenerzieher angestellt worden sei - sich 1450 eine Abschrift des >Tractatus pro rege Ladislao< von Aeneas Silvius erbeten, dessen Abschrift in diesem Codex zu finden ist. Greimolt hat also Schlitpacher persönlich gekannt; vielleicht aus Wien, vielleicht aber auch über ihre Familien, beide stammen aus Weilheim; über Schlitpacher wird er vielleicht auch mit Keck in Kontakt gekommen sein. Während sich nun die drei oben aufgeführten Codices als Sammlungen des artistischen Lehrstoffes darstellen, als Lehr- und Übungsbücher, die Greimolt zum Teil noch in Wien geschrieben oder sich besorgt hatte, scheint clm 19651 für Greimolts Hoftätigkeit zusammengestellt worden zu sein. Auffallend der Auszug aus dem >Liber de regimine principum< des Aegidius, der sich auch in der Bibliothek Gotzkirchers befand, weiter Exzerpte aus dem >Barlaam et Josaphat des Johannes Damascenus und aus den pseudo-catonischen >DistichaDas Tegernseer Verbrüderungsbuch vom Jahre 145 κ , S. 241: Magister Udalricus
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seinen gesamten Besitz, darunter die ihm aus der Erziehertätigkeit zustehende Pension und seine Bibliothek. 19 Zwei Handschriften allerdings hatte er schon vorher dem Kloster Andechs geschenkt. 20 Die Handschriften seiner Bibliothek zeigen den Einfluß der Wiener Schule; es finden sich hauptsächlich Werke des Nikolaus von Dinkelsbühl und des Heinrich von Langenstein. Die Person Greimolts mag paradigmatisch für die Verflechtung zwischen Wien, Melk, Tegernsee und München stehen. In Wien während des Studiums in Kontakt gekommen sowohl mit der Wiener Theologie als auch, und darauf ist besonders aufmerksam zu machen, mit dem Wiener Humanismus, hat er persönliche Verbindung zu einem wichtigen Vertreter der Melker Reform und zu Tegernsee; wenn nun Albrecht gerade einen solchen Mann zum Erzieher seiner Söhne machte, so darf das durchaus auch als die programmatische Wahl eines durch Greimolt repräsentierten, von Wien und Tegernsee geprägten Bildungsziels verstanden werden. Seit der umfassenden und grundlegenden Untersuchung von Redlich ist bekannt, daß Tegernsee die zentrale Stelle als Mittler zwischen der Melker Reformbewegung und Wiener Theologie auf der einen Seite und der Klosterreform in Bayern auf der anderen Seite innegehabt hat. Die große Anzahl von Texten der Wiener Professoren, die zum Teil direkt aus Melk angefordert wurden/ 1 die zahlreichen ehemaligen Wiener Studenten, die in Tegernsee Profeß genommen haben, das Beispiel Bernhards von Waging, der von Indersdorf nach Tegernsee flüchtete, weil nur dort er zu einem intellektuell-kontemplativen Leben finden konnte, der von den Äbten Airinschmalz und Ayndorfer stetig vorangetriebene Ausbau der Bibliothek: all das zeigt, daß das Kloster eine zentrale Stelle im geistig-religiösen Leben Bayerns eingenommen hat. Nun hat jüngst Winfried Müller in einer Studie auch auf die Anfange der Humanismusrezeption in dem Kloster Tegernsee hingewiesen;" Greymoldt de Weylhaim, plebanus Schongaw. Olim noster plebanus in Purktor. Hic ordinavit cande(la)bra lignea deaurata ad ewangelium in matutinis. ' ' clm 18255, 18617, 18637, 18647, 18662, 18888, 19623, 19651, 19817, 18727, 18728, 18751, 19602, 19826, 19848, Inc.s.a. 20030 (Vgl. Redlich, S. 67, Anm. 286). 10 clm 3017 (Hohelied-Auslegung des Bernhard von Clairvaux), 3076 (Alanus ab Insulis: Distinctiones; Johannes Keck: Tractatus de sacro Basiliensi concilio; Johannes Nider: Manuale confessorum) (Vgl. Redlich, S. 67, Anm. 283). " Vgl. P. Lindner: Familia S. Quirini in Tegernsee. Die Äbte und Mönche der Benediktiner-Abtei Tegernsee von den ältesten Zeiten bis zu ihrem Aussterben (1861) und ihr literarischer Nachlaß. O A 50 (1897), S. 18—130, hier S. 95ff. " Winfried Müller: Die Anfange der Humanismusrezeption in Kloster Tegernsee. StudMittOSB 92 (1981), S. 28-90.
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Greimolt etwa, den Müller allerdings nicht näher identifizieren kann, 2 ' hatte ja schon Aeneas Silvius abgeschrieben. Müller geht solchen handschriftlichen Zeugnissen einer bewußten Aneignung von humanistischen Texten in Tegernsee nach. Wie es aber auch bei Greimolt zu sehen ist, sind die Verbindungen zum Wiener Humanismus durchaus auch oft nur rein personal zu fassen; Müller nennt hier Johannes Tröster, der für das Kloster zwei Handschriften und einen Druck erwarb, 24 eine Handschrift davon, die Briefe Cyprians, 1462 in Venedig. Nun ist Johannes Tröster der Literaturgeschichte bekannt durch seinen Dialog >De remedio amorisde amore6 Gotzkircher verdankt einem Magister Johannes Trost die Mitteilung eines Rezepts (Vgl. UB München 40 Cod.ms. 808, f. 184"). 17 Vgl. Eckhard Bernstein: Die Literatur des deutschen Frühhumanismus. Stuttgart 1978. Johann von Eich etwa gilt Bernstein, S. 65, als »dem Humanismus freundlich gesinnt«. Bernhard von Kraiburg und Andreas Baier dagegen kennt er nicht. Ebenso Burger (Heinz Otto Burger: Renaissance. Humanismus. Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg-Berlin-Zürich 1969. [Frankfurter Beiträge zur Germanistik 7]), der auch Johannes von Eich nicht erwähnt. Besonders deutlich ist dies bei Bernhard von Kraiburg, w o außer den Arbeiten von Joachimsen: Bernhard von Kraiburg, und Paul Ruf: Eine altbayrische Gelehrtenbibliothek, sich erst neuerdings wieder Werner M. Bauer mit Bernhard beschäftigt hat (Werner M. Bauer: Die Schriften des Bernhard von Kraiburg. Ein Beitrag zur Entwicklung der frühhumanistischen Rhetorik in Österreich. Sprachkunst 2 [1971], S. 1 1 7 - 1 7 2 ) . Zu Johannes von Eich fehlt überhaupt eine Monographie; Ernst Reiter faßt in seinem VL-Artikel (Ernst Reiter: Johann von Eych. In: ! V L 4, Sp. 591—595) die handschriftliche Uberlieferung der Werke Johanns und die Erwähnungen in der Sekundärliteratur zusammen. Die einzige Schrift, die sich eigens mit Johann befaßt, stammt bezeichnenderweise aus dem Jahr 1 9 1 1 : F. X . Buchner: Johann III., der Reformer des Bistums. Eichstätt 1 9 1 1 (Forschungen zur Eichstätter Bistumsgeschichte. 1. Bd). Neuerdings sind in der Arbeit von Monika Fink-Lang: Untersuchungen zum Eichstätter
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haben und miteinander in Verbindung standen, und daß diejenigen, die auf dem Basler Konzil gewesen waren, wie Johannes von Eich, oder die in Wien studiert hatten, wie Bernhard von Kraiburg, auch jeweils mit den dortigen Vertretern des Humanismus in Berührung gekommen sind. Aeneas Silvius widmete 1444 Johannes von Eich seinen Brief >Über das Elend der HofleuteEpistula impugnatoria< des Johannes von Eich ist, »ob es dem in der Seelsorge oder in geistlicher Würde stehenden Menschen nützlicher und angemessener sei, Gott dadurch zu dienen, indem er nach der Ruhe des Klosters verlangt oder indem er zum Gewinn der Seelen die Sorge für das anvertraute Volk nicht aufgibt«, 4 ' der von ihm vertretene Standpunkt, daß »zu der jetzigen Zeit die Vita activa nützlicher, fruchtbarer und heilbringender sei als die Vita contemplativa«.46 Ausschlaggebend ist für Johannes von Eich der Zustand der Welt nunc temporis; die Kirche ist verwahrlost und heruntergekommen, das Volk aufrührerisch und ungehorsam. 47 Während dieser Zustand aber für Bernhard in seinem >Speculum pastorum< gerade der Grund war, die Welt zu fliehen, da der Seelsorger in dieser Welt, die das Operationsfeld des Teufels ist, sich betätigen und er dabei sein eigenes Seelenheil vernachlässigen muß,48 fordert für Johann das Gebot der christlichen Nächstenliebe, nicht allein das eigene Heil in der Vita contemplativa zu suchen, sondern eben dem den Wirrnissen der Zeit ausgelieferten Mitmenschen beizustehen.49 Die Vita contemplativa hat zwar secundum se den höheren Wert ad salutem, nicht aber secundum quid: »Jetzt nämlich herrscht ein Zustand, wo wir gezwungen werden, die Kontemplation aufzugeben und zum Handeln überzugehen!«50 Die Kontroverse birgt in nuce die Problematik der Zeit: die Verwilderung in Kirche und Klöstern, die daraus resultierende Heilsunsicherheit gerade auch in der Laienschaft, der Versuch der Heilssicherung auf kontemplativem, mystischem Weg einerseits, andererseits aber auch das soziale Verantwortungsgefühl der Reformbewegung. Um Ähnliches ging es in einer Auseinandersetzung, an der Johannes Wenck, ein Heidelberger Theologe, der schon erwähnte Tegernseer Johannes Keck und schließlich Nikolaus von Kues beteiligt waren. Sie entzündete sich an dem Fall des Einsiedlers Hans Frankenfurter im Halltal, gegen den Wenck wegen seines abgescheiden leben heftig polemisierte.' 1 1447 antwortet Johannes Keck auf eine Anfrage des Eremiten Johannes im Inntal, ob das Eremitenleben dem Klosterleben vorzuziehen sei, mit fünf Propositionen,' 2 wobei die zweite meint, daß 41
Vgl. Riemann, S. 102, Z . 4fr. Vgl. Riemann, S. 102. 47 Riemann, S. 119. 41 Vgl. die Zusammenfassung der Argumentation bei Riemann, S. 3?6ff. " ' V g l . Riemann, S. 345ff. ' " V g l . Riemann, S. 120, Z . jf. " Vgl. Baum, S. 446ff. Ed. Baum, S. 451—453. 46
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der Mensch die Vollkommenheit auf zweierlei Weise erreichen könne: vel divino munere vel virtutum seu virtuosorum actuum exercitatione,'5 der Mensch sich demnach zuerst durch die Übung des Klosterlebens auf das Eremitentum vorbereiten solle. Interessant hier, daß das gleiche Argument wie bei Johannes von Eich verwendet wird. Dient aber die Höherbewertung der Übung vor dem Sein bei dem Mönch Keck dazu, die Präponderanz des Klosterlebens zu beweisen, so dann bei dem Bischof Johannes von Eich diejenige des pastoralen Dienstes. Nikolaus von Kues schließlich entwarf eine Eremitenregel für jene Waldbrüder. Wie Baum vermutet, hatte Keck die Beziehung zu Nikolaus angebahnt,' 4 die schließlich in einen engen Kontakt mit dem Kloster Tegernsee mündete. Nikolaus besuchte das Kloster 1452 als Bischof von Brixen und verlieh ihm bei dieser Gelegenheit verschiedene Ablässe." Schon seit 1451 stand Nikolaus mit dem Abt Kaspar Ayndorffer im Briefwechsel. Jetzt aber lernte er Bernhard von Waging kennen, der schon im Jahr zuvor die >Docta ignorantia< des Nikolaus gelesen hatte. Im folgenden entwickelte sich eine Korrespondenz zwischen Nikolaus und Bernhard um Fragen zu der Idee der affektiven Mystik, die Nikolaus vertritt und die in der von Nikolaus dem Kloster Tegernsee gewidmeten Schrift >de visione dei< einerseits, und dem von Bernhard geschriebenen >Defensorium doctae ignorantiae< andererseits mündet.' 6 Redlich macht den Einfluß des Nikolaus von Kues dafür verantwortlich, daß Tegernsee sich nun in seiner Geisteshaltung von den Einflüssen Wiens ab- und sich der mystischen Bewegung zuwendet;' 7 vielleicht war es diese Umkehr zu einer mystischen Innerlichkeit, die Johannes von Eich zu seiner Kontroverse mit Bernhard von Waging herausforderte. Für Bernhard von Kraiburg kann eine Beziehung zu Tegernsee, außer in dem Umweg über Johannes Tröster, nicht nachgewiesen werden;' 8 sie dürfte aber fast als selbstverständlich vorausgesetzt werden. " Baum, S. 4 ; 2. 54
Baum, S. 4 4 8 , S. 450.
" Die beiden Urkunden abgedruckt bei Baum, S. 45 5f. ,s
Vgl. Redlich, S. 95ff.
17
Redlich, S.
>s
Redlich, S. 168 spricht allerdings v o n der Freundschaft zwischen Bernhard v o n Wa-
99f.
ging und Bernhard von K r a i b u r g , entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit führt er dafür aber keinen urkundlichen oder handschriftlichen N a c h w e i s an. K o n r a d Airinschmalz hatte in den fünfziger Jahren an Bernhard v o n K r a i b u r g in dessen Eigenschaft als Kanzler des Salzburger Erzbischofs Vorschläge für eine Vereinigung der drei Benediktiner-Observanzen geschickt (Redlich, S. 1 1 1 ) ; andere K o n takte sind nicht bekannt.
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Dafür spricht nicht nur sein Studium in Wien, die Bibliothek Tegernsees, in der eine Schrift Bernhards vorhanden war,' 9 sondern auch Bernhards Bekanntschaft mit Nikolaus von Kues. Nikolaus wollte Bernhard 1460 für die Administration des Bistums Brixen gewinnen, Bernhard scheint aber abgelehnt zu haben.60 Am deutlichsten manifestiert sich aber die Beziehung zwischen Nikolaus und Bernhard in der Tatsache, daß Nikolaus Bernhard von Kraiburg neben Johannes Andreas Vigerius, Abt von St. Justina in Österreich, zu seinem Mitunterredner in dem 1460 entstandenen >Trialogus de possest< gemacht hat.6' Aufschlußreich ist nun, daß Bernhard den Trialog mit der Bitte an Nikolaus eröffnet, ihm eine Stelle aus dem Römerbrief des Apostel Paulus zu erklären: Invisibilia enim ipsius a creatura mundi per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur, sempiterna quoque eius virtus et divinitas.62 Dieser Gedankengang des Paulus, den Nikolaus zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt, ist nun nichts anderes als die Paraphrasierung von Rom. 1 1 , 3 3 , jenem Zitat, das, wie oben erwähnt wurde, Matthias Prätzl seiner Abschrift zur Definition der Gebrauchsfunktion des >Brandan< vorangestellt hatte. Sic sensibile a se non est, sed est ab alteriore virtute. Ideo apostolus dicebat >a creatura mundiConceptum pro scientie rhetorice aggressione< (Ruf, S. 225). 6 ° Ruf, S. 222. 6 ' Nicolai de Cusa Trialogus de possest. Edidit Renata Steiger. Hamburg 1973 (Nicolai de Cusa Opera Omnia, XI,2). ' R o m . 1,20. Steiger, S. 4, Z. }ff. [Denn sein Unsichtbares wird von der Schöpfung der Welt her erblickt durch das, was geworden und als solches erkannt ist; so auch seine ewige Kraft und Gottheit.] 6) Steiger, S. Z. 5 ff. [io ist auch das Sinnliche nicht aus sich, sondern von einer höheren Kraft her. Deshalb sagte der Apostel >von der Schöpfung der Welt heralten< und >jungen< Magistern an der Wiener artistischen Fakultät in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts, w o er als Ursache dieses Streites »Generationenspannung und wohl ein wenig Brotneid« ausmacht. Der zeitgenössische Dominikaner
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nellen Wege zu beschreiten, sondern gegen den etablierten Fächerkanon ein neues Fach zu setzen; also sich dergestalt selbst einen neuen Karriereweg zu schaffen. Das Vorbild eines solchen Aufstiegs der Vertreter einer universitären Disziplin zu einem eigenen, mit vielfaltigen Privilegien ausgestatteten Stand hätten die doctores iuris liefern können, die im Spätmittelalter durch die Rezeption und Ausbreitung des gelehrten Rechts in ganz Europa in sämtlichen Bereichen des Rechtslebens und der Verwaltung unentbehrlich wurden. 76 Während aber die zunehmende Bedeutung der Juristen sich einer tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung verdankte, mußte eine Erweiterung der universitären Fächer um die studia humanitatis sich ihre eigene Legitimation erst schaffen. In diesem Sinne haben die Humanisten der Zeit also im Hinblick auf eine möglichst effiziente Legitimationsstrategie mit einem doppelten Problem zu kämpfen: mit der Durchsetzung eines völlig neuen Gegenstandsbereichs und mit der Begründung dieser Durchsetzung, die sich, um erfolgreich zu sein, nicht damit begnügen kann, ihre Gegenstände als Erweiterung der alten artistischen Lehrgegenstände einzuführen, sondern auch die alte Lehrmethode disqualifizieren muß. Das Paradigma der humanistischen Fächer, d. h. der methodische Zugriff auf den Gegenstandsbereich, und der Gegenstandsbereich selbst sind also voneinander abhängig. In diesem Sinne gehen die humanistischen Bestrebungen einen Schritt weiter als etwa die Kämpfe, die die via antiqua an der Heidelberger Universität um eigene Lehrstühle führte. 77 Sie benötigen eine Legitimation doppelter Richtung: gerade dazu dienen die bekannten humanistischen Fehden und Traktate. In diesen Texten, das sei hier vorläufig als Behauptung ohne den Versuch einer Einlösung behauptet, werden durch geschickte Wahl von narrativen Strukturen und korrelierenden Isotopien78 die humanistischen Franz von Retz klagt über »die Geldgier der Magister und die bloß um der Karriere willen studierenden Scholaren«. (Lhotsky, S. 9 ; , A n m . 236) 76
V g l . Ingrid Baumgärtner: » D e privilegiis doctorum«. Über Gelehrtenstand und D o k -
77
V g l . dazu Gerhard Ritter: Die Heidelberger Universität. E i n Stück deutscher G e -
torwürde im späten Mittelalter. Historisches Jahrbuch 106 (1986), S. 298—552. schichte. I. Das Mittelalter ( 1 3 8 6 - 1 5 0 8 ) . Heidelberg 1 9 5 6 , S. 3 7 j f f . 7
* Ich benutze hier den von dem Strukturalisten Julien Greimas eingeführten Begriff der Isotopie (Zuerst in Algirdas Julien Greimas:
Semantique structurale. Paris
S. 09ff.; v g l . a. Algirdas Julien Greimas/Joseph Courtes: Semiotique.
1966,
Dictionnaire
raisonne de la theorie du langage. Paris 1 9 7 9 , Artikel >Isotopiehumanistischen Soziolektmodernen< und den >antiken< Literaten spricht. Mir scheint, daß hier eine spezifische Isotopie nicht nur dieses Textes, sondern des humanistischen Soziolekts insgesamt auszumachen ist. Sie besteht aus den konträren semantischen Merkmalen >alt< und >modern< und könnte nach der Rolle, die diese >Begriffe< im Mittelalter gespielt haben,82 als Isotopie der Autorität, also geradezu als Legitimationsisotopie bezeichnet werden. Wenn »Rezeptivität, Autorität und Tradition« die »Wertmaßstäbe des mittelalterlichen Denkens« sind, 8 ' dann besitzen sie als klassifizierendes Merkmal das 81
Lhotsky, S. 124. Vgl. dazu Johannes Spörl: Das Alte und das Neue im Mittelalter. Studien zum Problem des mittelalterlichen Fortschrittsbewußtseins. Historisches Jahrbuch 50 (1930), S. 298—341 u. S. 498-524. *' So das Fazit Spörls, S. 524.
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>altevia antiquaalten Wienern< spricht, von der >alten Literatur< und von den >modernen Literatenalten< für die Antike als das wahre Alte zu okkupieren suchen; das humanistische Postulat des >reinen< Lateins scheint die Konnotation von »rein« geradezu mit Hilfe von >alt< zu konstituieren. Säldners Text ist nichts anderes als die Rekonnotierung einer vorher erfolgten Umkonnotierung bestimmter Begriffe; deutlich im Vordergrund die Sieben freien Künste, besonders die Grammatik und die Rhetorik. Es ist offensichtlich, daß Säldner und Gossembrot Wörter wie >Rhetorik< jeweils anders lesen, bedingt durch die Isotopien ihrer Diskurse, es ist aber auch klar, daß sich Säldner dessen eher bewußt war als Gossembrot. Das heißt aber, daß es nicht, wie Lhotsky meint, Säldner war, der in diesem Disput einem Mißverständnis erlag — er weist ja regelrecht den humanistischen Versuch einer Legitimation ihrer Fächer zurück sondern Gossembrot, der recht naiv die Gruppeninteressen übersieht, die hinter dem Verlangen nach der Kenntnis der >antiken Autoren< stehen, und unter dem >klassischen Latein< nur eine »neue Zierde« versteht. Dieses Beispiel scheint mir deutlich zu zeigen, daß das Eindringen der humanistischen Fächer in die Universität einhergeht und bedingt ist durch die Konstituierung eines Soziolekts, der durch die eigeninteressenhafte Verwendung bestimmter Isotopien sich selbst und damit auch den Anwendungsbereich dieses Soziolekts erst legitimiert; daß andererseits dieser Versuch von den Teilnehmern schon bestehender Soziolekte zumindest intuitiv erkannt und zurückgewiesen wird. Als erfolgreiche Zurückweisung mag die völlig resonanzlose Disputation des Aeneas an der Wiener Universität gelten; sein Versuch der Transponierung seines Soziolekts in einen durch stark universitäre Konventionen geprägten Diskurstyp, den der Disputation, ist wohl noch auf völliges Unverständnis gestoßen. Es ist bezeichnend, daß die Etablierung dieses Soziolekts in der Wiener Reichskanzlei den Umweg über außer-universitäre akademische Kreise nehmen mußte, ehe er Eingang in die Universität fand. Der Grund läßt sich nicht exakt angeben; es ist aber zu vermuten, daß er in der Tatsache zu finden ist, daß eben an der Reichskanzlei durch deren 261
expandierenden Verwaltungsbedarf eine Gruppe universitär gebildeter Kleriker und Juristen Karrieremöglichkeiten fand und den humanistischen Soziolekt als Möglichkeit aufnahm, sich als Gruppe auch innerhalb des traditionellen, v o n Adeligen gebildeten Verwaltungsapparats zu konstituieren und zu differenzieren. Mit diesem hier nur hypothetisch eingeführten Erklärungsmodell ließe sich nun endlich auch die oben gestellte Frage nach der Einbindung Hartliebs in den süddeutschen Frühhumanismus beantworten. Dazu noch einmal zurück zu dem Epigramm des Andreas Baier. Baier stand in Korrespondenz mit wesentlichen Vertretern des süddeutschen und des Wiener Humanismus; seine Briefe und seine Gedichte weisen ihn eindeutig als Mitglied dieser durch den humanistischen Soziolekt konstituierten Gruppe aus. Sein Epigramm auf Hartlieb könnte nun als Versuch gewertet werden, Hartlieb ebenfalls in diese Gruppe einzubinden; der Gedanke, der dahinterstehen mag, könnte der Versuch sein, über die Reputation eines relativ renommierten Vertreters des bayerischen politischen und intellektuellen Lebens Legitimation für die eigene Gruppe zu gewinnen. Die narrative Organisation des Gedichts ist statisch; es lassen sich zwei Protagonisten unterscheiden, Baier und Hartlieb, die sich jeweils durch die Teilhabe an bestimmten Bereichen positiv oder negativ auszeichnen. Die Eingangsverse Baiers könnten rhetorisch als Bescheidenheitstopos gedeutet werden; sie meinen aber mehr: Baier bereitet mit seiner Behauptung, »musische Inspiration nicht zu besitzen, die Transformation seiner tatsächlichen Teilhabe vor. Der folgende Lobpreis ordnet Hartlieb die Kenntnis der Sieben freien Künste und der Medizin zu, wobei aber eine Relation zwischen Baier und Hartlieb auf narrativer Ebene nicht hergestellt wird. Uber die syntaktische und lexikalische Organisation des Epigramms wird nun aber eine den gesamten Text bestimmende Isotopie eingeführt, die gebildet wird durch ein Merkmalpaar >humanistisch< vs. >nicht-humanistischhumanistischToposKenntnis der 262
Sieben freien Künste< das Merkmal >humanistisch< zugeordnet, Hartlieb besitzt also nicht mehr (nur) dieses Objekt, sondern das der >Antike< überhaupt.
In diesem Epigramm wird also nicht nur lediglich auf Hartlieb ein Lobpreis >in humanistischer Manien gesungen: es wird versucht, ihn für den humanistischen Soziolekt zu vereinnahmen. Dies ist sicherlich erklärbar aus den existentiellen Nöten Baiers, der in Landshut durchaus Unterstützung durch Hartlieb hätte gebrauchen können; es erklärt aber gleichzeitig auch, warum von Hartlieb selbst keine humanistischen Zeugnisse erhalten sind. So wie bei Johannes Roth oder Bernhard von Kraiburg ihre humanistische Betätigung aufhört oder zur dilettierenden Beschäftigung wird, sobald sie sich eine Existenz in der kirchlichen Hierarchie gesichert hatten, sie also die humanistische Gruppenzugehörigkeit nicht mehr >benötigtenDe amoreDe amoreEinführungsgeschenk< mit nach Österreich gebracht habe.84 Dies wäre möglich auch unter der Annahme, daß eben vor 1439, dem Datum der Promotion Hartliebs, er den Traktat übersetzt habe; Hartlieb wird sicherlich auch während seines Studienaufenthalts in Italien in die Heimat zurückgekehrt sein. Allerdings hieße dieser Rezeptionsweg, daß in dem Verständnis des Traktats etwas von dem Paradigmawechsel aus84
Karnein, 1985, S. 258, Anm. 160. 263
zumachen sein müßte, den Karnein für das 14. Jahrhundert in Oberitalien konstatiert. 8 ' Der Traktat verliert hier in den italienischen Übersetzungen seine moraltheologischen Konnotationen; er wird säkularisiert. Dies macht Karnein aus auch an der >amorEinsamkeit< des Übersetzers [. . .], der über keinen anderen minnedidaktischen Kontext verfügte, welcher die Wiedergabe in Deutsch hätte stärker beeinflussen können«,88 nicht also mit einer bewußten Entscheidung für die theologische, sondern einfach mit dem Mangel an nicht-theologischen Perspektiven. Eine andere Erklärung aber wäre denkbar. Von einem der oben genannten Vertreter des Frühhumanismus, Johannes von Eich, späterer Bischof von Eichstätt, ist durch Aeneas Silvius bekannt, daß er vor 1444 Ratgeber Herzog Albrechts VI. war. Johannes von Eich führte die erwähnte Kontroverse mit Bernhard von Waging; er ist also als theologischer Schriftsteller bekannt. Mit ihm gehört Johannes Roth zu dem Kreis um Aeneas Silvius, auch er ist als späterer Bischof von Breslau Theologe. In seiner Bibliothek nun findet sich eine Abschrift des >De amorePamphilus de amore< überliefert, ein Text also, der mit Andreas dieselbe Perspektive auf die Liebe teilt.92 Es darf also vermutet werden, daß hier bei Roth der Traktat tatsächlich auch noch in dem moraltheologischen Sinne des Andreas verstanden wurde; daß außerdem in der ähnlichen Situation bei Albrecht - der spätere Bischof ist Ratgeber - eine ähnliche Verstehensperspektive vorhanden war. Eine solche Ambiguität des Textes, wie sie vor allem poetischen Texten eigen ist, scheint in dem vorliegenden Fall hervorgerufen zu sein durch die Einordnung in zwei differente größere, intertextuelle Zusammenhänge: einen moralisch-theologischen und einen humanistischen Kontext. J e nach intertextuellem Kontext wechseln die das Verständnis bestimmenden Isotopien; man könnte also diese erste Übersetzung Hartliebs geradezu als Zeichen dafür deuten, daß er sich zu diesem Zeitpunkt, also in seiner akademischen Ausbildung, noch keiner Gruppe eingebunden fühlte: er schwankte zwischen theologischem und humanistischem Soziolekt. Der >De amoreDas buch der tugendenSumma theologiae< II-II des Thomas von Aquin und anderen Werken der Scholastik und Kanonistik. I. Einleitung. Mittelhochdeutscher Text. Hrsg. v. Klaus Berg u. Monika Kasper. Tübingen 1984. Berges, Wilhelm: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. Stuttgart 1938. (Schriften des Reichsinstitutes für ältere deutsche Geschichtskunde. M G H 2) Bernstein, Eckhard: Die Literatur des deutschen Frühhumanismus. Stuttgart 1978. Bolongaro-Crevenna, Alfred-Hubertus: Johannes Hartlieb. In: BolongaroCrevenna, Münchner Charakterköpfe der Gotik. München 1938. S. 47—59. 287
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