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German Pages 548 [549] Year 2008
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Berndt Hamm in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Volker Leppin (Jena), Jürgen Miethke (Heidelberg) Heinz Schilling (Berlin)
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Tim Lorentzen
Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge
Mohr Siebeck
Tim Lorentzen, geboren 1973; Studium der Theologie und Germanistik mit Philosophie und Pädagogik in Kiel und Greifswald; 2007 Promotion; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Kirchengeschichte, Ev.-theol. Fakultät der LMU München.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. ISBN 978-3-16-149613-4 / eISBN 978-3-16-158581-4 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2008 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, von GuldeDruck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Wir sind Bettler: hoc est verum. (Luthers letzter Zettel; WA 48, 241)
Meiner bezaubernden Mutter und der bleibenden Erinnerung an meinen Vater
Vorwort In diesem Buch wird der Fall eines arbeitslosen Theologen erwähnt, der wegen Heirat und evangelischer Predigt seine Kanzel hatte verlassen müssen und mit seiner schwangeren Frau in Straßburg landete, wo er sich zunächst im Haus eines befreundeten Kollegen mit improvisierten Vorlesungstätigkeiten über Wasser halten konnte. Während ich jene Passage über Martin Bucers Straßburger Anfänge niederschrieb, wählten einige meiner früheren Kommilitonen aus anderen Gründen die Emigration, um dort ihrem Pfarrberuf nachgehen zu können. In Deutschland gab es für sie, wie für Millionen anderer Menschen, kaum Aussicht auf einen guten Arbeitsplatz. Die drohende Gefahr plötzlicher Erwerbslosigkeit und sozialen Abstiegs, die heftigen Debatten über prekäre Lagen in den Unterschichten und die anhaltende Suche nach Auswegen aus der ,Neuen Armut‘ formten in diesen Jahren mehr als nur das Außengeräusch meiner Studien – sie durchdrangen sie in vielfältiger Weise, und wenn ich mich an wenigen Stellen der Versuchung aktualisierender Bezüge nicht völlig enthalten konnte, so geschah es gerade um der Zeitlosigkeit willen, die dem Thema eignet. Unterdessen bin ich dankbar für die Arbeitsbedingungen eines Münchner Universitätsassistenten, unter denen das Buch entstehen konnte. Dabei handelt es sich um meine kaum veränderte Dissertation, die im Sommersemester 2007 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität angenommen wurde. Als Doktorvater hat Prof. Dr. Harry Oelke, mein langjähriger akademischer Lehrer, das Projekt von Anfang an empathisch gefördert und seinem oft eigenwilligen Mitarbeiter zugleich alle erdenklichen Freiheiten eingeräumt, ganz zu schweigen von seiner freundschaftlichen Begleitung während wechselvoller Jahre. Ihm gilt daher mein erster Dank. Das Korreferat übernahm dankenswerterweise Prof. Dr. Klaus Koschorke, der die Entstehung des Buches stets wohlwollend und hilfsbereit verfolgte. Auch der Emeritus an unserem Lehrstuhl, Prof. Dr. Reinhard Schwarz, nahm regen Anteil an meiner Arbeit, wofür ihm herzlich gedankt sei. Meinen früheren Lehrerinnen und Lehrern in Kiel und Greifswald an dieser Stelle ebenfalls Dank sagen zu können, bereitet mir beträchtliches Vergnügen. Stellvertretend nenne ich nur zwei Namen: Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhart Staats (Kiel) hat mich in einer entscheidenden Phase meines Theologiestudiums auf eine neue Stufe wissenschaftlichen Arbeitens geführt. Die so konzentrierten wie unkonventionellen Zusammenkünfte in seinem Oberseminar bleiben unvergessen. In der Germanistik war es besonders Prof. Dr. Ralf-Henning Steinmetz (Kiel), der mir in den letzten Jahren meines Studiums noch einmal ganz neue
VIII
Vorwort
Räume eröffnete und meine interdisziplinären Interessen mit der größten Aufmerksamkeit beantwortete, die man sich nur wünschen kann. Von zentraler Bedeutung für die vorliegende Studie war die Arbeit mit zeitgenössischen Archivalien. Bei der Recherche konnte ich von Erfahrungen profitieren, die ich als Student bei Verzeichnungsarbeiten im Nordelbischen Kirchenarchiv (Kiel) gesammelt hatte. Besonders bei Dr. Annette Göhres und Dr. Michael Kirschke möchte ich mich für das Erlernte herzlich bedanken. Als Benutzer in die Lesesäle zurückgekehrt, erhielt ich in den Archiven und Bibliotheken, den Museen und Kirchengemeinden stets bereitwillige Unterstützung, für die ich allen Beteiligten ausdrücklich danke. Wiederum stellvertretend soll hier die Greifswalder Archivarin Kirsten Klinitzke genannt werden, die mir im Pommerschen Landesarchiv mit intuitivem Geschick die Lektüre der Stolper Spitalakten anempfahl – ein quellenkundlicher Volltreffer, wie sich erst später herausstellte. So hat mich manches Wort auf die richtige Spur gebracht. Vieles muß hier ungenannt bleiben. Besonders danken will ich aber doch Dr. Sascha O. Becker (Stirling), André Bischoff (Berlin), Pfarrer Dr. Norbert Buske (Greifswald), Pfarrer Jens Corvinus (Süd Asse), Dr. Heiko Jadatz (Leipzig), Bgm. Sibylle Kempf (Altentreptow), Prof. Dr. Kersten Krüger (Rostock), Dr. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (Hamburg), Prof. Dr. Gottfried Maron (Kiel), Prof. Dr. Martin Onnasch (Greifswald), Pastor Dr. Karsten Petersen (Kappeln), Dr. des. Meike Rieckmann (Bonn), Dr. Miriam Rose (München), Prof. Dr. Kai D. Sievers (Kiel), Prof. Dr. Dr. HansGeorg Thümmel (Greifswald), Prof. Dr. Karl-Ewald Tietz (Greifswald) und Dr. Andreas Waschbüsch (München). Überdies bekam ich wiederholt Gelegenheit, Einzelergebnisse dieser Studien vortragsweise zur Diskussion zu stellen. Allen Gastgebern und Diskussionsteilnehmern in Barth, Braunschweig, Bretten, Goslar, Greifswald, Halle, Leipzig, München und Wittenberg sei herzlich gedankt. Und schließlich drängt es mich, auch meinen Studentinnen und Studenten an dieser Stelle gebührenden Dank abzustatten. Sie inspirieren mich immer wieder. Ich freue mich, Herrn Prof. Dr. Berndt Hamm (Erlangen) und den übrigen Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe Spätmittelalter, Humanismus, Reformation danken zu können. Auch das Zusammenspiel mit dem Verlag war so ersprießlich, daß ich nicht zögere, Herrn Dr. Henning Ziebritzki, Herrn Matthias Spitzner und den weiteren Mitarbeitern für ihre stets aufgeschlossene, kompetente und absolut zuverlässige Arbeit zu danken. Einen großzügigen Druckkostenzuschuß verdanke ich dem Förderungs‑ und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Den Erwerb von Bildrechten hat mir dankenswerterweise die Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern finanziert. Der größte Dank ist in der Widmung ausgesprochen. Er beansprucht nicht allein höheren, sondern ganz eigenen Rang. Z.Zt. Schönkirchen in Holstein, 22. Juli 2008
Tim Lorentzen
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII I. Einführung und historische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Annäherung: Evangelisches Christentum und öffentliche Fürsorge . . . . 2. Problemanzeige: Öffentliche Fürsorge in der Reformationszeit . . . . . . . 3. Quellenkunde und historische Grundlagen: Kirchenordnungen der Reformationszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Wittenberger Anfänge (1520–1528) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Bugenhagens Weg zum Reformator (1485–1526) . . . . . . . . . . . . . . . c. Drei Stadtordnungen: Braunschweig, Hamburg und Lübeck (1528– 1531) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Bugenhagens erste Territorialkirchenordnung: Herzogtum Pommern (1535) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Ein Universalmodell für Reich, Territorium und Stadt (1537–1543) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Martin Bucer in Ulm, Straßburg und Augsburg . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Heuristik: Weitere Quellen zur öffentlichen Fürsorge im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Forschungsbilanz: Johannes Bugenhagen „im Schatten Luthers“? . . . . . .
1 3 11 19 23 27 34 37 44 48 54
Erster Teil
Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation 63
II. Blüte der Jenseitsvorsorge und Krise der Armenfürsorge . . . . . . . . . . . 65 1. Almosenbretter und Opferstöcke als Dokumente der Geberfrömmigkeit 2. Verdienst und Genugtuung in der spätmittelalterlichen Almosentheorie . 3. Freiwillige und unfreiwillige Arbeitslosigkeit um 1500 . . . . . . . . . . . . . 4. Luxuskritik und Fürsorgemotivation bei Johannes Geiler von Kaysersberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 78 90 101
X
Inhalt
III. Theologische Probleme der Fürsorgemotivation in der Reformationszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Motivation der Guten Werke in Bugenhagens früher Theologie bis 1521 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rezeption von Bugenhagens Theologie Guter Werke bei Johannes Cochlaeus und Thomas Morus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Motivation der Guten Werke in Bugenhagens Sendbrief an die Hamburger (1526) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fürsorgemotivation in Bugenhagens Kirchenordnungen . . . . . . . . . . . . a. Glaube und Werke in der Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zum systematischen Ort der Fürsorgebestimmungen in den Kirchenordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Biblische Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Vom Stiftungswesen zum Gemeinen Kasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fürsorgemotivation in den oberdeutschen Reichsstädten . . . . . . . . . . . . a. Oberdeutsche Armenordnungen zwischen Mittelalter und Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Bucers Kirchenordnungen für Ulm, Straßburg und Augsburg . . . . . . c. Fürsorgemotivation in weiteren Schriften Bucers . . . . . . . . . . . . . . . d. Engagierte Fürsorgemotivation durch Lucas Hackfurt und Caspar Hedio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114 127 133 146 146 154 159 162 170 171 178 181 190
IV. Zwischenbilanz und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Policey und soziale Gerechtigkeit in Utopia und Wolfaria . . . . . . . . . . . 199 2. Säkularisierung der Nächstenliebe oder Sakralisierung öffentlicher Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 3. Normative Zentrierung und weltliche Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Zweiter Teil
Organisation und diakonische Leistungen von Bugenhagens Fürsorgemodell 209
V. Gemeine Kästen und Schatzkästen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. Aufstellung der Gemeinen Kästen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapital und Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Testamentarische Stiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Liegenschaften und Gerechtsame . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Spontane Einnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Renten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212 222 224 230 239 248
Inhalt
3. Verantwortung der Prediger für die Einzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Diakonat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Definition und Exklusion armer Unterschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Armenregister, Verteilungsbilanzen und Rechenschaftsberichte . . . . . . . a. Die Braunschweiger Armenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Stolper Armenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Spitalrechnungen und Matrikel der Geschworenen Bruderschaft der Hausarmen zu Kiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Unterstützungen aus dem Gemeinen Kasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Schatzkästen und ihre Bedeutung für die öffentliche Fürsorge . . . . .
XI 255 267 282 296 302 307 311 316 323
VI. Ordnung der Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 1. Dienst an Kranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Krankenbesuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Krankenfürsorge in Hospitälern und Pesthäusern . . . . . . . . . . . . . . . c. Ärztliche Pflege und medizinische Vorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dienst an Kriminellen und anderen Sündern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Beichte und Bann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Beichte und Mahlfeier der Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Eherecht und Verbrechensprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dienst an jungen Müttern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dienst an Schülern und Studenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Schule für Arm und Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Stipendien als Zukunftsinvestition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Mädchenbildung als öffentliche Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fürsorge an den Altgläubigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Besoldung und Dienstordnung der Prediger als öffentliche Fürsorge . . . 7. Kirchenordnung als fürsorglicher Akt der Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . .
329 330 338 349 353 355 364 368 373 386 389 399 404 407 416 428
VII. Ertrag und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 1. Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionstüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Reformation für Frauen und Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Primat christlicher Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
435 438 441 444 448
Quellen‑ und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 1. Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
454 455 470 496
XII
Inhalt
Abbildungsteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
I. Einführung und historische Grundlagen 1. Annäherung: Evangelisches Christentum und öffentliche Fürsorge Armut in Deutschland – in den vergangenen Jahren ist das Thema von Wissenschaft, Politik und Medien mit wachsender Aufmerksamkeit beobachtet worden. „Soziale Ungleichheit ist eine Tatsache“, so wird im zweiten Armuts‑ und Reichtumsbericht festgestellt, den die Bundesregierung 2005 unter dem Titel Lebenslagen in Deutschland erstattet hat, „und analog zur Entwicklung am Arbeitsmarkt ist sie in manchen Bereichen in den letzten Jahren gewachsen.“1 Anders als in früheren Debatten wird freilich heute betont, daß Armut nicht allein durch finanziellen Notstand gekennzeichnet ist, sondern in hohem Maße auch durch fehlende Teilhabe an der Gesellschaft, oft sogar durch den Ausschluß von ihr. Dem individuellen Unglück drohen gesellschaftliche Verwerfungen weit größerer Tragweite zu folgen.2 Nicht zuletzt deshalb haben sich auch die Kirchen an der Debatte beteiligt, die sich nach Inkrafttreten des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsplatz im Januar 2005 noch einmal deutlich intensivierte. Im Sommer 2006 veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die Denkschrift Gerechte Teilhabe, nachdem einschlägige Sozialworte beider Kirchen schon seit 1997 vorlagen.3 „Eine Kirche“, heißt es darin, „die auf das Einfordern von Gerechtigkeit verzichtet, deren Mitglieder keine Barmherzigkeit üben und die sich nicht mehr den Armen öffnet oder ihnen gar Teilhabemöglichkeiten verwehrt, ist – bei allem möglichen äußeren Erfolg und der Anerkennung in der Gesellschaft – nicht die Kirche Jesu Christi.“4 Diese Voraussetzung müßte
1 Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts‑ und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bericht. [Berlin 2005], veröff. unter http://www.bmas.bund.de/BMAS/Redaktion/Pdf/Lebens lagen-in-Deutschland-De-821,property=pdf,bereich=bmas,sprache=de,rwb=true.pdf (30. März 2007); S. 194. 2 Vgl. ebd.; S. 9–11 u. 194. 3 Vgl. jetzt zusammenfassend Das Soziale wie denken? Die Zukunft des Sozialstaats in der interdisziplinären Diskussion (hg. v. Birgitta Kleinschwärzer-Meister, Miriam Rose u. Patrick Becker). Münster i. W. u. a. 2007 (Beiträge aus dem Zentrum für ökumenische Forschung München 4). 4 Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland (hg. v. Kirchenamt der EKD). Gütersloh 22006; S. 15.
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I. Einführung und historische Grundlagen
freilich erfüllt sein, um Kirche der Zukunft sein zu können.5 Hierin kann sich der Rat mit vergangenen Epochen der Kirchengeschichte einig wissen. Diese Studie führt in die Reformationszeit. Ihr Ziel ist es, weit über die allzu greifbare Aktualität des Themas hinaus den Theologen Johannes Bugenhagen (1485–1558) als Reformator der öffentlichen Fürsorge zu interpretieren. Diese Formel freilich, die eins der Ergebnisse bereits in kürzester Form zum Ausdruck bringt, bedarf der Erläuterung. Unter ,öffentlicher Fürsorge‘ seien hier alle diejenigen Formen des Nächstendienstes verstanden, die in einer christlichen Gemeinde auf die eine oder andere Weise verabredet und geordnet werden müssen. Solche Dienste können mit Michael Schibilsky unter dem Sammelbegriff ,Diakonie‘ subsumiert werden, soweit hiermit eine „überindividuell organisierte oder institutionalisierte Form des Helfens“ im Sinne christlicher Zuwendung an Menschen in Not gemeint ist.6 Hierzu gehören demnach weniger die persönlichen Ausdrucksformen christlicher Nächstenliebe als die Armen-, Kranken‑ und Kriminellenfürsorge, aber auch der Dienst an jungen Müttern, die Unterstützung für Schüler und Studenten oder, speziell in der Reformationszeit, der Schutz von Klosterleuten, die ihr Konvent verlassen und die Versorgung solcher, die dies nicht tun. Der bewußt weitgefaßte Fürsorgebegriff trägt dem heutigen Modell der ,Teilhabegerechtigkeit‘ insofern Rechnung, als die früher auch in der historischen Forschung recht eng auf den materiellen Lebensstandard festgelegte Definition von Armut hierdurch auf gesellschaftliche Exklusionsphänomene genereller Art ausgeweitet werden kann, so daß komplexere Beziehungsgeflechte wie beispielsweise zwischen Krankheit und Verarmung, zwischen (selbstgewählter oder unfreiwilliger) Arbeitslosigkeit und Bettlerdasein oder zwischen Geschlecht, Bildungs‑ und Aufstiegschancen sinnvoller einbezogen werden können, wenn Theorie und Leistungen reformatorischer Fürsorgekonzepte angemessen beschrieben werden sollen. Als zu ordnender und geordneter Nächstendienst sind die hier in Betracht kommenden Formen von ,Fürsorge‘ stets Angelegenheiten einer Öffentlichkeit, sei es der Gemeinde, des geistlichen oder weltlichen Territoriums, eines Königreichs oder einer modernen Landeskirche. In der Reformationszeit war öffentliche Fürsorge daher selbstverständlich Gegenstand der Kirchenordnungen, denn dies war der Ort, an dem die Angelegenheiten der evangelischen Gemeinwesen für die Zukunft neu vereinbart wurden. Organisatorisches Kernstück reformatorischer Fürsorgepolitik war der Gemeine Kasten zur Integration und Zentralisation sämtlicher Finanzmittel einer Kirchengemeinde. Der Wittenberger Stadtprediger, Professor und Superintendent Johannes Bugenhagen hat als Verfasser 5 Vgl. die jüngste Kontroverse um das Schlagwort „Kirche der Freiheit“ beim Wittenberger Zukunftskongreß der Evangelischen Kirche in Deutschland: Redebeiträge zum Eröffnungsplenum (Auswahl), in: epd-Dokumentation 6/2007, S. 14–43; bes. 29 f. 6 Michael Schibilsky: Diakonie IV . Praktisch-theologisch, in: RGG 4 2 (1999), Sp. 798–801; hier 798.
I. Einführung und historische Grundlagen
3
evangelischer Kirchenordnungen für die Städte Braunschweig (1528), Hamburg (1529), Lübeck (1531) und Hildesheim (1542), für die Herzogtümer Pommern (1535) und Schleswig-Holstein (1542) und das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel (1543) wie auch für das Doppelreich Dänemark-Norwegen (1537) dieser Konzeption ein festes theologisches Fundament und eine charakteristische organisatorische Prägung verliehen, die nachhaltig gewirkt hat. Als eine der prominentesten Gestalten auf diesem Gebiet steht er für jenen Wandlungsprozeß, in dessen Verlauf die vielfältigen kirchlichen Nächstendienste durch obrigkeitlich verantwortete Kirchenordnungen eine Sache der ganzen Öffentlichkeit wurden. Freilich darf hier keine scharfe Trennung von Christengemeinde und Bürgergemeinde, erst recht keine ,Säkularisierung‘ oder gar ,Säkularisation‘ der Fürsorge unterstellt werden.7 Der Begriff des ,Öffentlichen‘ wäre in diesem Zusammenhang problematisch, wollte man ihn von vornherein mit dem ,Staat‘ identifizieren. Daß die Kirchenordnungen ihrem Selbstverständnis nach im Rahmen landesherrlichen Notrechts als Substitute der vorreformatorischen Rechtssetzung erlassen wurden und gerade nicht aus unmittelbar eigener Vollmacht der säkularen Obrigkeit, ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Auch davon wird noch zu sprechen sein. Ferner sei mit Rainer Wohlfeil darauf hingewiesen, daß der Begriff des ,Öffentlichen‘ in der Frühen Neuzeit generell noch nicht das Staatswesen bezeichnete, sondern das ,Offenbare‘ – dasjenige, was für jedermann transparent, was verbreitet und bekannt ist.8 Besonders dieser Aspekt der ,reformatorischen Öffentlichkeit‘ hat in Bugenhagens Fürsorgekonzeption erhebliches Gewicht bekommen.
2. Problemanzeige: Öffentliche Fürsorge in der Reformationszeit Soll Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge in Betracht kommen, so hängt dies vor allem von der kontrovers diskutierten Frage ab, inwiefern es überhaupt eine Reformation der öffentlichen Fürsorge gegeben habe. Daß nämlich die Reformation aus dem Evangelium heraus für eine theologische Neubewertung tätiger Nächstenliebe, für ihre institutionelle Neuorganisation und schließlich auch ihre juristische Verankerung innerhalb neuentstehender Kirchenverfassungen sorgen konnte, ist nicht unumstritten. Die Frage, ob sie auf diesem Feld überhaupt Neues schuf oder nicht vielmehr nahtlos an spätmittelalterliche und humanistische Reformbemühungen anknüpfte, etwa an die 7 So z. B. ausdrücklich Kai D. Sievers u. Harm-Peer Zimmermann: Das disziplinierte Elend. Zur Geschichte der sozialen Fürsorge in schleswig-holsteinischen Städten 1542–1914. Neumünster 1994 (Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins 30); S. 66 f. 8 Vgl. Rainer Wohlfeil: ,Reformatorische Öffentlichkeit‘, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit (hg. v. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann). Stuttgart 1984, S. 41–52.
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I. Einführung und historische Grundlagen
zahlreichen Armenordnungen und Bettelverbote des 14. und 15. Jahrhunderts oder an die vorreformatorischen Landes‑ und Policeyordnungen, ist forschungsgeschichtlich von erheblicher Tragweite gewesen – im 19. Jahrhundert zunächst vor konfessionellem Hintergrund. Der Katholik Georg Ratzinger meinte 1868 in seiner Geschichte der kirchlichen Armenpflege: „Soweit Luther und die Reformation beachtenswerte Grundsätze über Armenpflege aussprachen und in Kirchenordnungen formulierten, wiederholten und bestätigten sie nur alte katholische Lehren […]“9. Dagegen stellte sich die Entwicklung christlicher Nächstendienste in Gerhard Uhlhorns klassischem Werk Die Christliche Liebesthätigkeit (1882)10 dann umgekehrt als beständige Verfallsgeschichte dar – von einer durch funktionierenden Diakonat glanzvollen Periode in der Alten Kirche bis zum völligen Versagen angesichts des verbreiteten Massenelends im Spätmittelalter und nur leichter Linderung durch Armenordnungen und städtisches Hospitalwesen. Erst die Reformation habe nach einer „Zeit der Gärung“11 den Durchbruch erzielt, dem eine noch anhaltende Phase akzelerierter Erholung bis hinauf zu Theodor Fliedner gefolgt sei, Uhlhorns eigenem Lehrer. Der ,romanische‘ Katholizismus aber sei im Gegensatz zum ,germanischen‘ Protestantismus noch immer dem Mittelalter verhaftet geblieben.12 Auch das 19. Jahrhundert ist in weiten Zügen ein konfessionelles Zeitalter gewesen. Schon wenige Jahre später war zum Konsens geworden, die mittelalterliche Armenpflege sei „durch maß‑ und planloses Geben infolge der Anschauung von der Verdienstlichkeit der Almosen“ bestimmt gewesen. „Der Bettel ist dadurch in einem Maße groß gezogen worden, daß man seiner nicht mehr Herr wurde […]. Aber erst die Reformation stellte die Gedanken über Reichtum und Armut, Eigentum und Almosen, Arbeit und Beruf wieder richtig.“13 Das diakoniegeschichtliche Modell von altgläubiger Krise und reformatorischer Neubelebung der Fürsorge wurde fast bis in die Gegenwart immer wieder ungeprüft reproduziert.14 Wie sich allerdings aus einschlägigen Quellen 9 Georg Ratzinger: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. Stuttgart [zuerst 1868] 1884, Ndr. Frankfurt a. M. 2001; S. VIII. – Zur früheren Opposition evangelischer und katholischer Diakoniegeschichtsschreibung vgl. jetzt Theodor Strohm: Wege zu einer Sozialordnung Europas in der Aufbruchszeit des 16. Jahrhunderts, in: Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas (hg. v. dems. u. Michael Klein). Bd. 1, Heidelberg 2004 (VDWI 22), S. 14–58; hier 16–19. 10 Vgl. G[erhard] Uhlhorn: Die Christliche Liebesthätigkeit. Stuttgart [zuerst 1882] 21895. 11 Ebd.; S. 532. 12 Vgl. ebd.; S. 774 f. 13 H[einrich] Nobbe: Die Regelung der Armenpflege im 16. Jahrhundert nach den evangelischen Kirchenordnungen Deutschlands, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 10 (1889), S. 569–617; hier 574. Auszeichnung dort gesperrt. 14 Robert Stupperich etwa konnte 1979 gleich aus Uhlhorns Werk zitieren, ohne dies noch eigens kennzeichnen zu müssen: „Die Pflicht, dem Armen so zu helfen, daß er aus der Not herauskam und wieder lebenstüchtig wurde, lag außerhalb des Gesichtskreises des mittelalterlichen Menschen“ (Robert Stupperich: Armenfürsorge III. Mittelalter, in: TRE 4 (1979), S. 23–29; hier 28, 8–10. Die frei zitierte Stelle bei Uhlhorn 21895; S. 501). 2
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erweisen wird, hat es zwar ein tragfähiges fundamentum in re – aber aus anderen, weiter zu differenzierenden Gründen als früher angenommen. Die entgegengesetzte zweite Tendenz diakoniegeschichtlicher Forschung15 nivellierte das konfessionelle Moment umso stärker: In ihrer Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland erklärten Christoph Sachße und Florian Tennstedt 1980, „daß insbesondere evangelische Autoren diesen Einfluß zu hoch veranschlagt haben. Denn einmal liegen die Anfänge der Fürsorgereform weit vor der Reformation […]. Zum anderen aber bestehen auch in nachreformatorischer Zeit in reformierten und katholischen Gebieten keine grundsätzlichen Unterschiede in der Ausgestaltung der Fürsorge.“16 Dementsprechend räumen die Verfasser der Reformation nur wenige Seiten, dem Komplex ,Kirchenordnungen‘ überhaupt keine Beachtung ein. Schon nach 40 Seiten ist der Dreißigjährige Krieg erreicht. Besonders große Wirkung hatte der von Sachße und Tennstedt vertretene Ansatz aber durch die Interpretation spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Armenfürsorge als Ausdruck absolutistischer Sozialdisziplinierung, mithin als Versuch der weltlichen Obrigkeiten, ihren Zugriff auf die Unterschichten zu verstärken, indem die Fürsorge zu einem anonymisierten Verwaltungsakt wurde, ausgerüstet mit neuen Klassifikations-, Kontroll‑ und Sanktionsinstrumenten, die es unter dem Deckmantel christlicher Fürsorge erlaubt hätten, den Aktionsradius fahrender Leute einzuschränken und dagegen das erwünschte Sozial‑ und Arbeitsverhalten der ,eigenen‘ Armen zur Bedingung langfristiger Unterstützungsleistungen zu machen. Die evangelischen Kirchenordnungen fungierten im Rahmen dieses Modells nur als Fortsetzung spätmittelalterlicher Armenpolitik und gehörten insgesamt in die Familie der Landes‑ und Policeyordnungen. Dem ursprünglich von Gerhard Oestreich17 als Interpretament absolutistischer Herrschaft geprägten Begriff der ,Sozialdisziplinierung‘ war durch diese Adaption ein bemerkenswerter Erfolg beschieden, der bis heute anhält. Zunächst war damit nicht „die Wirkung oder Nicht-Wirkung von Institutionen und Behörden“ auf die Untertanen gemeint, sondern eine allmähliche „geistig-moralische und psychologische Strukturveränderung des politischen, militärischen, wirtschaftlichen 15 Vgl. hier auch den ausführlicheren Überblick bei Wolfgang von Hippel: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit. München 1995 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 34); S. 101–111. 16 Christoph Sachsse u. Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg. Stuttgart u. a. 1980; S. 37. 17 Vgl. Gerhard Oestreich: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969, S. 179–197. – Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), S. 265–302. – Stefan Breuer: Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault, in: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik (hg. v. Christoph Sachße u. Florian Tennstedt). Frankfurt a. M. 1986 (edition suhrkamp 1323), S. 45–69.
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Menschen“18 unter Einfluß obrigkeitlicher Autorität. Sobald die Territorialstaaten begonnen hätten, sich konfessionell zu identifizieren, habe auch die Normierung der kirchlichen Theorie und Praxis im Herrschaftsgebiet sozialdisziplinierende Wirkung entfalten können. Hier setzte ab 1981 das von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling so formulierte Forschungsparadigma ,Konfessionalisierung‘19 an, um die Sicherstellung einheitlichen Verhaltens in den Territorialstaaten im Kontext konfessioneller Normierungsbestrebungen zu beschreiben. Danach zog der entstehende frühmoderne Staat aus dem landesherrlichen Kirchenregiment erheblichen Machtgewinn20, für den jetzt ein effizientes Instrumentarium bereitstand.21 Die neuzeitliche Armenfürsorge ist folgerichtig in diese Bestrebungen eingeordnet worden.22 Robert Jütte etwa, der den Ansatz früh verarbeitete, meinte im städtischen Armenwesen ambivalente Disziplinierungsbestrebungen
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Oestreich 1969; S. 188. Argumentativ vorbereitet von Ernst W. Zeeden: Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Historische Zeitschrift 185 (1958), S. 67–112. – Heinz Schilling: Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh 1981 (QFRG 48). – Wolfgang Reinhard: Konfession und Konfessionalisierung in Europa, in: Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang (hg. v. dems.). München 1981, S. 165–189. – Allein die Entstehung der Modelle ,Konfessionsbildung‘ und ,Konfessionalisierung‘ ist inzwischen viele Male dargestellt worden; vgl. beispiels‑ und überblickshalber ders.: Sozialdisziplinierung – Konfessionalisierung – Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs, in: Die frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge (hg. v. Nada Boškova Leimgruber). Paderborn u. a. 1997, S. 39–55. – Ders.: Abschied von der „Gegenreformation“ und neue Perspektiven der Forschung, in: Zeitsprünge 1 (1999), S. 440–451. – Stefan Ehrenpreis u. Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002 (Kontroversen um die Geschichte); hier S. 62–79. 20 Vgl. Hans-Christoph Rublack: Reformation und Moderne. Soziologische, theologische und historische Ansichten, in: Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten. Beiträge zur gemeinsamen Konferenz der Society for Reformation Research und des Vereins für Reformationsgeschichte, 25.–30. September 1990, im Deutschen Historischen Institut, Washington, D. C. (hg. v. Hans R. Guggisberg u. Gottfried G. Krodel mit Hans Füglister). Gütersloh 1993 (ARG, Sonderbd.), S. 17–38. – Karlheinz Blaschke: Reformation und Modernisierung, ebd. S. 511–520. – Reinhard 1997. 21 Vgl. den bekannten Maßnahmenkatalog zur Herstellung konfessioneller Geschlossenheit bei dems.: Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983), S. 257–277; hier 263. 22 Vgl. nach Sachsse / Tennstedt 1980; S. 36–39 etwa Robert Jütte: Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln. Köln u. Wien 1984 (KHAb 31). – Ders.: Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfürsorge der Frühneuzeit, in: Soziale Sicherheit 1986, S. 101–118. – Wolfgang Wüst: Die gezüchtigte Armut. Sozialer Disziplinierungsanspruch in den Arbeits‑ und Armenanstalten der „vorderen“ Reichskreise, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 89 (1996), S. 95–124. – C[hristoph] S[achsse] u. F[lorian] T[ennstedt]: Armenfürsorge im Absolutismus: Repression und gesellschaftliche Disziplinierung, in: Bettler, Gauner und Proleten. Armut und Armenfürsorge in der deutschen Geschichte. Ein Bild-Lesebuch (hg. v. dens.). Frankfurt a. M. 1998, S. 90–107. 19
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durch die Obrigkeit feststellen zu können: „Kriminalisierung und Repression auf der einen Seite, Erziehung und Integration auf der anderen Seite“23. Eine gewisse Strenge dieser Systemlogik führte in einer dritten Phase diakoniegeschichtlicher Forschung zu Kritik und Revision des allzu statischen Modells.24 Besonders die Neigung, den staatlichen Repressionssapparat und seine Durchsetzungsfähigkeit gegenüber anderen frühneuzeitlichen Sozialsystemen zu überschätzen, hatte dazu geführt, daß Kategorien wie Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft, Subsidiarität und Solidarität unter dem verengten Blickwinkel staatlicher Disziplinierungsbemühungen schlechthin ausgeblendet worden waren.25 Martin Dinges konnte 1991 seine Kritik durch Archivalien aus Bordeaux stützen, deren Studium ein gänzlich anderes Bild ergab als es aus den normativen Texten obrigkeitlicher Armenpolitik den Anschein haben mochte. Dabei konnte im Sinne eines „Perspektivwechsels“ der hohe Stellenwert von Selbsthilfe und Gruppensolidarität in den betroffenen Unterschichten belegt werden, wo die repressive Gesetzgebung praktisch nicht angekommen war. Auch die notorische Gleichgültigkeit der Sozialdisziplinierungsforschung an der konfessionstypischen Prägung frühneuzeitlicher Fürsorge wurde dem Gegenstand kaum gerecht, so daß von Kritikern wieder stärkere Berücksichtigung theologie‑ und religiositätshistorischer Aspekte eingefordert wurde. Passend zu Thomas Kaufmanns neuerem Begriff der „Konfessionskulturen“26, der wieder mehr die konfessionellen Spezifika von Katholiken, Lutheranern und Reformierten beschreiben soll, nicht so sehr gemeinsame Gesetzmäßigkeiten eines parallel verlaufenden Modernisierungsprozesses, haben Ole Peter Grell und Andrew Cunningham seit rund einem Jahrzehnt eine gründliche Revision der europäischen Quellen zur frühneuzeitlichen und modernen Armen‑ und Krankenfürsorge im Blick, mit besonderer Aufmerksamkeit für konfessionsspezifische Entwicklungen.27 Vor allem Grell prononciert in diesem Zusammenhang wieder einen dezidiert „Protestant im23
Jütte 1986; S. 103. Vgl. hierzu und zum folgenden Martin Dinges: Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 5–29. – Walter Ziegler: Kritisches zur Konfessionalisierungsthese, in: Konfessionalisierung und Region (hg. v. Peer Frieß u. Rolf Kießling). Konstanz 1999 (Forum Suevicum 3) S. 41–53. – Ehrenpreis / Lotz-Heumann 2002; S. 68 f. 25 Nur ein Beispiel: „Das Armenwesen war also zuerst ein Mittel, um den Arbeitsmarkt und das Angebot an Arbeitskräften zu regulieren.“ Sievers / Zimmermann 1994, S. 339. 26 Kaufmanns Vorschlag zielt nach eigenen Worten auf den „Formungsprozeß einer bestimmten, bekenntnisgebundenen Auslegungsgestalt des christlichen Glaubens in die vielfältigen lebensweltlichen Ausprägungen und Kontexte hinein, in denen der allenthalben wirksame Kirchenglaube präsent war“. Thomas Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998 (BHTh 104); S. 7. – Einem Vortrag von Matthias Pohlig (Berlin) verdanke ich diesbezüglich wichtige Anregungen. 27 Vgl. die instruktive Einleitung von Ole P. Grell u. Andrew Cunningham: The Reformation and changes in welfare provision in early modern North Europe, in: Health Care and Poor Relief in Protestant Europe 1500–1700 (hg. v. dens.). London u. New York 1997, S. 1–42. 24
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perative of Christian care and neighbourly love“ und gelangt zu einer erneuten Würdigung reformatorischer Fortschritte, besonders der evangelischen Kirchenordnungen.28 Dem Ansinnen, im internationalen und interkonfessionellen Vergleich solcher und ähnlicher Ordnungstexte und Programme eine Neubewertung frühneuzeitlicher Fürsorgebemühungen erreichen zu können, trägt jetzt auch ein zweibändiges Studienbuch Rechnung, das 2004 vom Diakoniewissenschaftlichen Institut zu Heidelberg publiziert werden konnte.29 Hier sind neben einer Reihe neuer Studien vor allem einschlägige Programmschriften aus der zeitgenössischen Debatte unter Humanisten und Theologen, vor allem aber eine Auswahl europäischer Ordnungstexte in neuen Übersetzungen versammelt. Dabei wurde ausdrücklich auf Harmonisierung der Forschungspositionen und auf konfessionelle wie genealogische Hierarchisierung der Quellentexte verzichtet. Zuletzt erschien ein instruktiver Wittenberger Tagungsband zur Entwicklung von Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit, der das bisher Erreichte in vielfacher Hinsicht bündelt, künftige Arbeitsfelder benennt und neben medizinhistorischen Forschungen auch einschlägige Beiträge zur Geschichte von Armut und Armenfürsorge im frühneuzeitlichen Sachsen bietet. Auch hier werden die reformatorischen Spezifika besonders beachtet.30 Die Impulse dieser jüngsten diakoniegeschichtlichen Richtung aufgreifend, widmet sich mein eigener Beitrag also der Gestalt Johannes Bugenhagens und seiner Leistungen für die öffentliche Fürsorge – und zwar aus dezidiert theologischer Richtung. Wie sich herausstellen wird, gelangte der Reformator vom Evangelium her zu einem höchst charakteristischen Fürsorgekonzept, das ausdrücklich unter dem Primat christlicher Liebe stand und sich damit signifikant von stärker polizeilich geprägten Kirchenordnungen Südwestdeutschlands unterschied, erst recht von der säkularen Bettelgesetzgebung jener Zeit. Erstmals wird anhand einschlägiger Archivalien auch die tatsächliche Leistungsfähigkeit von Bugenhagens Plänen vor Ort nachgewiesen werden können. Über die Quellen meiner Arbeit wird freilich noch ausführlicher zu sprechen sein. Bereits auf der normativen Ebene wird sich in den von Bugenhagen beeinflußten Städten, Ter28 Vgl. Ole P. Grell: The Protestant imperative of Christian care and neighbourly love, ebd., S. 43–65. – Ders.: Medicine and Religion in Sixteenth-Century Europe, in: The Healing Arts. Health, Disease and Society in Europe 1500–1800 (hg. v. Peter Elmer). Manchester u. Milton Keynes 2004, S. 84–107. 29 Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas (hg. v. Theodor Strohm u. Michael Klein). 2 Bde., Heidelberg 2004 (VDWI 22 f.). Zum Programm vgl. dies.: Einführung, ebd., S. 7–11. – Nur am Rande sei ferner das noch laufende Teilprojekt B 3 im Trierer Sonderforschungsbereich 600 Fremdheit und Armut erwähnt, das sich Unterschieden und Gemeinsamkeiten bei katholischer und evangelischer Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit widmet. Freilich scheinen dabei doch weniger konfessionelle als regionale und lokale Spezifika in Betracht zu kommen. 30 Vgl. Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit (hg. v. Stefan Oehmig). Leipzig 2007 (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 6). Nur an wenigen Stellen des vorliegenden Buches habe ich Beiträge hieraus noch berücksichtigen können.
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ritorien und Reichen keine Tendenz zu einer ,Säkularisierung‘ des Armenwesens zeigen, keine Konkurrenz von ,Staat‘ und ,Kirche‘ und auch wenig Neigung, sozialdisziplinatorische Interessen der weltlichen Obrigkeiten zu bedienen. Diese werden in den Kirchenordnungen vielmehr unter warnendem Hinweis auf das Weltgericht in die Pflicht genommen, und wo die Akten ein genaueres Bild ergeben, zeigt sich, daß diese Pflicht dann meist auch getan wurde. Insofern darf Bugenhagen, wie es der Genitiv im Titel andeutet, als Reformator der öffentlichen Fürsorge bezeichnet werden. Diesen – hier nur sehr knapp vorweggenommenen – Ergebnissen liegen Vorüberlegungen zugrunde, die sich unmittelbar aus der skizzierten Problemlage der bisherigen Forschung ergeben. Soll vor dem Hintergrund einer allgemeinen Tendenz zur Regulierung des Fürsorgewesens im 15. und 16. Jahrhundert hier das konfessionsspezifische Profil von Bugenhagens Fürsorgemodell herausgearbeitet werden, so liegt es nahe, von der Rechtfertigungslehre und ihrer ethischen Wirkung auszugehen: Trifft der Eindruck der älteren protestantischen Forschung zu, daß die mittelalterliche Werkgerechtigkeit durch eine evangelische Freigebigkeit aus dem Glauben heraus abgelöst wurde, so wie es Luther von der Freiheit eines Christenmenschen erwartete? Oder führte der Glaube an die Erlösung allein durch Christus, allein aus Gnade Gottes, ohne Zutun der Werke, nicht vielmehr zu Stagnation, ja Niedergang christlicher Nächstenliebe31, wie nicht nur von katholischer Seite behauptet wurde? Das muß kritisch geprüft werden. Der Umstand, daß Bugenhagen sich schon vor der Reformation in hohem Maße für das Verhältnis von Glaube und Werken interessierte und sich dann in den zwanziger Jahren durch eine eigene Theologie Guter Werke profilierte, die im Laufe seiner Ordnungstätigkeit immer weiter geschärft wurde, ist dem Unternehmen insofern günstig, als seine theologische Eigenständigkeit in der diachronen Analyse naturgemäß besser erfaßt werden kann. Wie konnte in seinen Kirchenordnungen die Erfordernis christlicher Nächstenliebe neu motiviert werden, ohne hieraus wieder ein heilsnotwendiges Werk zu machen? Welchen Anteil hatten dabei eigene Bibelstudien, welchen die Vorbilder Luthers und Melanchthons, welchen dagegen die Auseinandersetzung mit anderen Theologen der Zeit? Kam, wie dann später zu fragen sein wird, sein ethisches Modell bei den Rezipienten an, oder lief der argumentative Aufwand ins Leere? Um ferner die motivatorische Leistung von Bugenhagens Theologie sachgerecht bewerten zu können, darf eine kritische Überprüfung jenes in der älteren Literatur postulierten Umbruchs von der mittelalterlichen zur evangelischen Fürsorgeethik nicht unterbleiben. Das oft ge31 Vgl. etwa Martin Stupperich: Die Neuordnung der Kirchenfinanzen im Zeitalter der Reformation und ihre Voraussetzungen, in: Die Finanzen der Kirche. Studien zu Struktur, Geschichte und Legitimation kirchlicher Ökonomie. München 1989 (FBESG 43), S. 602–681; hier 637. – Sebastian Kreiker: Armut, Schule, Obrigkeit. Armenversorgung und Schulwesen in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Bielefeld 1997 (Religion in der Geschichte 5); S. 65.
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brauchte Wort von der mittelalterlichen ,Werkgerechtigkeit‘ kann nicht aus sich selbst oder aus reformatorischer Polemik heraus begründet werden, ebensowenig wie die immer wieder ungeprüft kolportierte Erklärung, das spätmittelalterliche Almosensystem habe versagt, weil die Spender nur an ihr eigenes Seelenheil, nicht aber an die Not des Anderen oder gar an strukturelle Verbesserungen gedacht hätten. Der Fortschritt der Reformation auf diesem Gebiet kann aber nicht darin bestanden haben, daß erst sie echtes Mitleid erfunden hätte. Hier muß doch differenzierter vorgegangen werden, und zwar auf theologischem Wege, um die tatsächlich beobachtbare, bemerkenswerte Schwerfälligkeit spätmittelalterlicher Fürsorge und die argumentative Innovationsleistung reformatorischer Theologie einleuchtend erklären zu können. Daher setzt die Untersuchung weit vor der Reformation an und fragt zunächst nach Grundpositionen der mittelalterlichen Almosentheorie und ihrer Rezeption in der Volksreligiosität. Die hieraus gewonnenen Interpretamente, allen voran der von Peter Jezler geprägte Begriff der „Jenseitsvorsorge“32 werden sich als forschungsleitend für den weiteren Untersuchungsgang erweisen. Was dagegen die zweite Strömung diakoniegeschichtlicher Forschung und hier besonders das Modell der ,Sozialdisziplinierung‘ betrifft, so wäre zunächst zu bedenken, daß städtische Armenordnungen und Bettelverbote sich schon seit Mitte des 14. Jahrhunderts, verstärkt dann im 15. Jahrhundert, ausgebreitet hatten, bevor Bugenhagen sein Ordnungswerk begann. Ob die Reformatoren hier bloß weitergeführt hätten, was darin prinzipiell schon angelegt war, muß aufmerksam geprüft werden. Allen diesen Ordnungen war gemeinsam, daß unterstützungswürdige Arme durch ihre ausgesprochene Erwerbsunfähigkeit klassifiziert wurden, während fahrende, gesunde und betrügerische Bettler zunehmend bemißtraut und unter immer schärfere Sanktionen gestellt wurden. Diese Differenzierung haben prinzipiell auch die Reformatoren übernommen. Südwestdeutsche Kirchenordnungen folgten sogar nicht nur auffällig stark den Definitions‑ und Exklusionsmustern, die mittlerweile gang und gäbe geworden waren, sondern kannten auch ebenso strenge Sanktionsmaßnahmen gegen abweichendes Verhalten. Doch Ähnlichkeitsvergleiche auf der politisch-organisatorischen Ebene allein führen auch hier nicht weiter. Vielmehr muß der Untersuchungsweg auch in diesem Fall von der theologischen, speziell von der ethischen Seite her gegangen werden: Welche Folgen hatte Bugenhagens Theologie der Guten Werke für die organisatorische Gestalt seiner Fürsorgebestimmungen, auch im Vergleich mit anderen Reformatoren? Wie unterschied sich eine solcherart theologisch begründete Konzeption von einer vor‑ oder nachreformatorischen Stadt‑ 32 Peter Jezler: Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge – eine Einführung, in: Himmel Hölle Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Eine Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums in Zusammenarbeit mit dem Schnütgen-Museum und der Mittelalterabteilung des Wallraff-Richartz-Museums der Stadt Köln. Kat. v. dems. (hg. v. d. Gesellschaft f. d. Schweizerische Landesmuseum). München 21994, S. 13–26.
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oder Landesordnung, die aus noch näher zu bestimmenden Gründen auf religiöse Kategorien meist verzichtete? Auch sind lokale, territoriale und sogar internationale Spezifika bisher nicht ausreichend systematisiert worden, was mitunter zu Pauschalurteilen führte. Wenn diese drei Ebenen vom selben Reformator bedient wurden, verspricht der Vergleich beispielsweise Aufschlüsse über die im Vorfeld erwarteten Durchsetzungsperspektiven in Städten und auf dem flachen Land. Besonders reizvoll scheint es, die beiden Kirchenordnungen, die Bugenhagen 1537 für Dänemark-Norwegen und 1542 für Schleswig-Holstein redigierte, vor dem Hintergrund skandinavischer Traditionen mit seinem übrigen Ordnungswerk zu vergleichen. Und schließlich wird es unumgänglich sein, auch die Fürsorgemodelle weiterer, nichtlutherischer Reformatoren auf die Persistenz vorreformatorischer Argumentationsmuster oder auch auf innovative, aus dem Evangelium gewonnene Ordnungsmodule hin zu untersuchen und sie denen Bugenhagens probeweise gegenüberzustellen. Dies kann idealtypisch am Beispiel dreier oberdeutscher Reichsstädte getan werden, für die Martin Bucer († 1551) die Kirchenordnungen verfaßte, nämlich Ulm (1531), Straßburg (1534) und Augsburg (1537). Deren komparative Einbeziehung in den ersten Teil der Studie bietet sich auch deswegen an, weil in diesen drei Städten zusätzlich bereits die Entwicklung polizeilicher Armenordnungen in der vorreformatorischen Zeit trefflich studiert werden kann, und weil Diskurse zu Armut und Armenfürsorge hier in Oberdeutschland seit dem 15. Jahrhundert geführt wurden, etwa von Gestalten wie Sebastian Brant († 1521) und Johannes Geiler von Kaysersberg († 1510). Bis zu diesem Punkt waren die Anfragen und Vorüberlegungen noch nicht im engeren Sinne auf die Quellen selbst, auf ihre Auswahl und Lektüre gerichtet. Sie sollen in einem eigenen Abschnitt zur Sprache kommen. Soweit aber bis jetzt zu sehen war, scheint eine bloße Adaption vorgeblich feststehender Interpretationsmuster auf Bugenhagens Fürsorgekonzept nicht angeraten. Auch zeichnet sich nach den bisherigen Überlegungen ab, daß theologische, organisatorische und übrigens auch ökonomische Dimensionen der Neugestaltung öffentlicher Fürsorge grundsätzlich gemeinsam zu behandeln sind – zwar nicht immer an Ort und Stelle, aber doch in enger argumentativer Vernetzung, die in zahlreichen Querverweisen ihren Ausdruck finden wird.
3. Quellenkunde und historische Grundlagen: Kirchenordnungen der Reformationszeit Die zentralen – freilich bei weitem nicht die einzigen – Quellen zu Bugenhagens Fürsorgekonzeption sind seine Kirchenordnungen. Zunächst einige notwendige Bemerkungen zu Begriff und Eigenart dieser Textsorte. Zwar hatte sich Martin Luther in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre als Folge seiner Idee vom allgemeinen Priestertum aller Getauften deutlich für ein Recht der Gemeinden zur
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Pfarrerwahl und zur selbständigen Regelung ihrer Angelegenheiten ausgesprochen33, doch durch die zugleich scharfe Ablehnung des kanonischen Rechts, die Loslösung von der bischöflichen Hierarchie34 und anderseits durch die Erfahrung, daß der gemeine Mann die Freiheit eines Christenmenschen radikal und gewalttätig zu interpretieren vermochte, war nach 1525 fraglich geworden, wie künftig die reformatorischen Umstellungen koordiniert und beaufsichtigt werden könnten, ohne den Boden des Evangeliums wieder zu verlassen. Die Bischöfe der römischen Kirche fielen für diese Aufgabe aus. So sollten als Alternative, ausgehend vom Kurfürstentum Sachsen, verstärkt die evangelischen Territorialherren die Aufgaben bischöflicher Kirchenaufsicht wahrnehmen. Als reichsrechtliche Grundlage hierzu, ohne daß dies intendiert gewesen wäre, wurde der Reichstagsabschied von Speyer 1526 interpretiert, der den Ständen die Umsetzung des Wormser Edikts von 1521 anheimstellte. Von den Reformatoren wurde die landesherrliche Kirchenaufsicht, die faktisch bis 1918 andauerte, jedoch nur als Provisorium betrachtet. So begründete Luther 1528 die erste landesherrlich angeordnete Visitation mit dem sittlichen Niedergang des überkommenen Bischofsamtes und der an Kurfürst Johann († 1532) herangetragenen Bitte, „Das S(eine) K(ur) F(ürstlichen) G(naden) aus Christlicher liebe ‹denn sie nach weltlicher o(e)berkeit nicht schuldig sind› vnd vmb Gotts willen / dem Euangelio zu gut vnd den elenden Christen ynn. S(eine) K(ur) F(ürstlichen) G(naden) landen / zu nutz vnd heil / gnediglich wolten etliche tu(e)chtige personen zu solchem ampt foddern vnd ordenen.“35 Damit erhält die weltliche Obrigkeit nach Luthers Vorstellung nicht wiederum das geistliche Regiment zugesprochen, sondern übt nur provisorisch als Ausdruck der christlichen Liebe zu den Untertanen ihre Autorität zur Aufrechterhaltung des Evangeliums aus. Die Unterscheidung von weltlichem und geistlichem Regiment war damit grundsätzlich respektiert. In diesem Sinne sind die evangelischen Kirchenordnungen der Reformationszeit nicht allein „Rechtsetzungsmaßnahmen, die von der landesherrlichen oder städtischen Obrigkeit zur Regelung des Kirchenwesens erlassen wurden“36, und die „in den protestantischen Territorien, Städten und Gemeinden sämtliche kirchlichen Belange regelten und darüber hinaus eine Fülle von Vorschriften enthielten, die das mit der Kirche im Zusammenhang stehende öffentliche und 33 Vgl. Martin Luther: Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein‑ und abzusetzen. Grund und Ursach aus der Schrift, in: ders.: StA 3 (1983), S. (72–)75–84. 34 Vgl. Hans-Walter Krumwiede: Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregimentes in Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel. Göttingen 1967 (SKGNS 16); S. 53–56. 35 Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum Sachsen, in: Martin Luther: Studienausgabe (hg. v. Hans-Ulrich Delius). Bd. 3, Berlin [Ost] 1983, S. (402–)406–462; hier 409. – Vgl. Krumwiede 1967; S. 97–105. 36 Karla Sichelschmidt: Recht aus christlicher Liebe oder obrigkeitlicher Gesetzesbefehl? Juristische Untersuchungen zu den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995 (IusEcc 49); S. 10.
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private Leben normierten“37. Konstitutiv für diese Textsorte scheint mir darüberhinaus zu sein, daß das normsetzende Handeln der Obrigkeit hier funktional an die Stelle der alten bischöflichen und teils auch kanonischen Autorität tritt38 – gleichviel, ob der ursprüngliche Interimscharakter dieser Auffassung zu einer Dauerlösung wurde oder nicht. Eine evangelische Kirchenordnung im engeren Sinn sei daher verstanden als obrigkeitliche Anordnung mit dem Ziel, das kirchliche (und eng benachbarte gesellschaftliche) Leben im Zuständigkeitsbereich auf Grundlage des Evangeliums normativ zu regeln und durch diesen Akt die vorreformatorische Autorität der bischöflichen und kanonischen Rechtssetzung zu substituieren. Über diesen relativ engen Kirchenordnungsbegriff hinaus müßte auch ein weiterer, weniger scharf umrissener Kreis gezogen werden, denn hinzu kam eine Unzahl von Einzelbestimmungen zu unterschiedlichen Bereichen kirchlicher Theorie und Praxis, die oft unter demselben Begriff subsumiert werden. Daher differenzierte schon 1902 der Herausgeber der Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Emil Sehling: „Wer den Rechtsstand der evangelischen Kirche erkennen will, darf sich nicht mit einer Kenntnis der formell vom Landesherrn ausgegangenen Gesetze begnügen. Nur der Zusammenhalt aller aus so verschiedenen Quellen fließenden Normen gewährt ein richtiges Bild des kirchlichen Lebens jener Periode. Wir fassen daher für unsere Sammlung den Begriff ,Kirchen-Ordnung‘ im weitesten Sinne des Wortes und verstehen darunter alle zur Regelung der kirchlichen Verhältnisse bestimmten Verfügungen (mit Ausnahme natürlich der nur vorübergehenden Einzelzwecken dienenden Anordnungen).“39 Mit einem solchen „Sammelbegriff für verschiedene mit dem kirchlichen Leben verbundene Einzelordnungen, die auch je für sich unter ,Kirchenordnungen‘ mitverstanden werden“ operiert dementsprechend auch die Definition von Anneliese Sprengler-Ruppenthal.40 Der erweiterte Kirchenordnungsbegriff erscheint sinnvoll, weil auch Zeitgenossen verschiedene Ordnungsqualitäten und ‑ebenen noch nicht allzu streng differenzierten: Schul-, Stadt-, Landes-, Policey‑ und Reichsordnungen, Visitationsanweisungen, Agenden, Bestimmungen zur Ausbildung und Besoldung von Lehrkräften, Predigern und Hebammen, zur Für37
Kreiker 1997; S. 9. Soweit göttliches Recht nicht beschädigt wurde, waren kanonische Sätze weiterhin anwendbar, aber nicht aus eigener Autorität heraus. Vgl. zur Weitergeltung im evangelischen Kirchenrecht etwa Ernst W. Zeeden: Katholische Überlieferungen in den lutherischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Münster i. W. 1959 (KLK 17). – Anneliese SprenglerRuppenthal: Recht, kanonisches II. Geltung in den Kirchen der Reformation, in: TRE 28 (1997), S. 277–281. – Dies.: Das kanonische Recht in Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Eine Dokumentation, in: dies.: Gesammelte Aufsätze. Zu den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (hg. v. Martin Heckel). Tübingen 2004 (JusEcc 74), S. 298–373. 39 Emil Sehling: Vorwort, in: EKO 1 (1902), S. V –XXII ; hier VIII . 40 Anneliese Sprengler-Ruppenthal: Kirchenordnungen II . Evangelische 1. Reformationszeit, in: TRE 18 (1989), S. 670–703; hier 670. 38
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sorge an Armen, Kranken und Gefangenen, zum Umgang mit einheimischen und fremden Bettlern oder mit Klosterleuten, zum Trink-, Tanz‑ und Spielverhalten an Sonn‑ und Feiertagen und zahlreiche weitere Normen bestimmten die verfaßte Gestalt der Kirche in vielfältiger Weise. Das immense Inventar an Kirchenordungen, das hierdurch zustandekommt, bringt als Kehrseite freilich auch eine offenkundige Unübersichtlichkeit mit sich, die nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich bewältigt werden muß. Einige jüngere Studien zu „den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts“ versuchen folglich, die Einzelnormen unterschiedlichster Ordnungstexte pragmatisch zu harmonisieren. Darüber, nach welchen Kriterien diese Auswahl jeweils vorgenommen wird, oder aufgrund welcher Vorüberlegung württembergische und sächsische, territoriale und reichsstädtische Bestimmungen ebenso wie solche aus verschiedenen Phasen der Reformation in die Zusammenschau miteinbezogen werden dürfen, kann angesichts der Bestandsmasse kaum Rechenschaft gegeben werden. Eine gewisse Willkür in der Quellenauswahl ist dabei nicht zu verbergen.41 Die Beschränkung auf Kirchenordnungen eines einzigen Verfassers kann daher zunächst die erforderliche Systematisierbarkeit der Quellen gewährleisten, bevor die Hinzunahme weniger Ordnungstexte eines zweiten die Profile deutlicher hervortreten läßt und innerhalb relativ geschlossener geographischer Räume zu einem konzentrierten Vergleich führen soll. In einem dritten, weiteren Kreis wären Flugschriften und weitere zeitgenössische Quellen heranzuziehen. Über die Hintergründe und Inhalte der einzelnen Texte wird noch ausführlicher zu sprechen sein, daher an dieser Stelle nur soviel, wie für die Kenntnis des Quellenbestands maßgeblich ist: Johannes Bugenhagen wurde ab Mitte der zwanziger Jahre verstärkt um Mithilfe bei der Neuordnung kirchlicher Verhältnisse in einzelnen Städten und Territorien gebeten. So entwickelte er unter Verwendung bestehender Vorgaben, etwa des kursächsischen Unterrichts der Visitatoren (1528)42, an dem er selbst beteiligt gewesen war, in einem Zeitraum von 15 Jahren acht solcher Kirchenordnungen im engeren Sinne, wobei in charakteristischer Weise die intensive Vorbereitung vor Ort im Rahmen einer Gastprädikatur und damit auch die Anpassung der Normen an bestehende örtliche Gegebenheiten hinzugehörte.43 Den drei 41 Dieses Umstands sind sich die Verfasser auch bewußt: „Die Fülle von Quellen aus einem Zeitraum von fast achtzig Jahren hat den Vorteil, daß die kirchliche Rechtsetzung in ihrer Breite erfaßt werden kann. Freilich hat diese Perspektive den Nachteil, daß inhaltlich und räumlich nicht immer so präzise gearbeitet werden kann, wie das nach der Forschungssituation möglich und auch wünschenswert wäre. Eine solche Untersuchung würde freilich den Rahmen dieser Arbeit sprengen“; Sichelschmidt 1995; S. 10 f. „Die Anzahl evangelischer Kirchenordnungen und jener Regelwerke, die ihnen gleichzustellen sind, ist kaum zu überblicken“; Kreiker 1997; S. 10. Beiden Autoren gelingt es jedoch, einen idealtypischen Kernbestand herauszuarbeiten, was für die weitere Arbeit auf diesem Feld zweifellos sehr hilfreich ist. 42 Bereits zitierte Ausgabe: Unterricht 1528 (1983). 43 Vgl. überblicksartig Wilhelm Jensen: Johann Bugenhagen und die lutherische Kirchenordnung von Braunschweig bis Norwegen, in: Luther 29 (1958), S. 60–72.
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städtischen Ordnungen für Braunschweig (1528)44, Hamburg (1529)45 und Lübeck (1531)46, die auch inhaltlich einen geschlossenen Block bilden, folgte mit der Pommerschen Kirchenordnung (1535)47 sein erstes Konzept für ein ganzes Territorium. An der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz (1537)48, maßgeblich durch dänische Theologen auf Grundlage seiner städtischen Ordnungen und anderer Texte vorbereitet49, war er in mehreren Redaktionen beteiligt, ebenso wie an der SchleswigHolsteinischen Kirchenordnung (1542)50, die im wesentlichen eine Übersetzung der lateinischen Kirchenordinanz ins Niederdeutsche ist. Das so zustandegekommene Modell nutzte Bugenhagen dann zur Weiterarbeit an der Hildesheimer Kirchenordnung (verfaßt 1542, gedruckt 1544)51 und an der sehr ähnlichen für das Fürstentum 44 Zitierte Ausgabe: Johannes Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung 1528 (hg. v. Hans Lietzmann). Bonn 1912 (KlT 88). – Ferner ders.: Der erbarn stadt Brunswig christlike ordeninge to denste dem hilgen evangelio, christliker leve, tucht, frede unde eynicheit. Ock darunder vele christlike lere vor de borgere. Dorch Joannem Bugenhagen Pomeren bescreven. 1528, in: EKO 6/I/1 (1955), S. 348–455. 45 Zitierte Ausgabe: Johannes Bugenhagen: Der Ehrbaren Stadt Hamburg Christliche Ordnung 1529. De Ordeninge Pomerani (hg. v. Hans Wenn, m. Beitr. v. Martin Elze). Hamburg 21991 (AKGH 13). – Ferner [ders.:] Kirchenordnung für Hamburg von 1529, in: EKO 5 (1913), S. 488–540. 46 Zitierte Ausgabe: Lübecker Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1531. Text mit Übersetzung, Erläuterungen und Einleitung (hg. v. Wolf-Dieter Hauschild). Lübeck 1981. – Ferner ders.: Der keiserliken Stadt Lübeck christlike Ordeninge tho denste dem hilgen Evangelio, Christliker leve, tucht frede unde enicheit vor de jöget in einer guden Scholen tho lerende. Unde de Kerken denere und rechten armen Christlick tho versorgende. Dorch Jo. Bugen. Pom. beschreven. 1531, in: EKO 5 (1913), S. 334–368. 47 Zitierte Ausgabe: Die pommersche Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1535. Text mit Übersetzung, Erläuterungen und Einleitung (hg. v. Norbert Buske). Berlin [Ost] 1985. – Ferner ders.: Kercken-ordeninge des ganzen Pamerlandes dorch de hochgebaren försten und heren, heren Barnym unde Philips, beyde gevedderen, up dem landdage to Treptow, to eeren dem hilligen evangelio bestaten [sic]. Dorch Doc. Joannem Bugenhagen. 1535, in: EKO 4 (1911), S. 328–344. 48 Zitierte Ausgabe: Die lateinische Kirchenordnung für Dänemark, Norwegen und Schleswig-Holstein von 1537 (hg. v. Ernst Feddersen), in: Die lateinische Kirchenordnung König Christians III von 1537 nebst anderen Urkunden zur Schleswig-Holsteinischen Reformationsgeschichte (hg. v. Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte). Kiel 1934 (SVSHKG I, 18), S. 1–93. – Ferner: Ordinatio Ecclesiastica Regnorum Daniæ et Norwegiæ et Ducatuum Sleswicensis Holsatiæ etcet. Anno Domini M. D. XXXVII, in: Kirkeordinansen 1537/39. Det danske Udkast til Kirkeordinansen (1537). Ordinatio Ecclesiastica Regnorum Daniæ et Norwegiæ et Ducatuum Sleswicennsis Holsatiæ etc. (1537). Den danske Kirkeordinans (1539). Tekstudgave med inledning og noter (hg. v. Martin Schwarz Lausten). Kopenhagen 1989, S. 92–149. 49 Zitierte Ausgabe des Entwurfs: Udkast til den danske Kirkeordinants (hg. v. H. Knudsen), in: Kirkehistorisk Samlinger 1 (1849), S. 55–116. – Ferner: Det danske udkast til kirkeordinansen, 1537, in: Kirkeordinansen 1537/39 (1989), S. 45–91. 50 Zitierte Ausgabe: Die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung von 1542 (hg. v. Walter Göbell, übertr. v. Annemarie Hübner). Neumünster 1986 (SVSHKG I, 34). – Ferner: Die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung von 1542 mit einer ausführlichen Einleitung (hg. v. Ernst Michelsen). 2 Bde., Kiel 1909 u. 1920 (SVSHKG I,5 u. 10). 51 Zitierte Ausgabe: [Johannes Bugenhagen:] Christlike kerckenordeninge der löffliken stadt Hildenssem. Mit einer vörrede Antonii Corvini (hg. v. Anneliese Sprengler-Ruppenthal), in: EKO 7/II/2 (1980), S. 829–884.
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Braunschweig-Wolfenbüttel (1543)52. Für die Untersuchung von Bugenhagens Fürsorgekonzeption bilden diese acht Ordnungstexte den Kernbestand. Als oberdeutsches Pendant sind Bucers Kirchenordnungen für Ulm (1531)53, Straßburg (1534)54 und Augsburg (1537)55 heranzuziehen. Daß in beiden Fällen nur vereinzelt die monumentale Ausgabe der Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts zugrundegelegt wurde, die 1902 von Emil Sehling begonnen wurde und bis heute nicht abgeschlossen ist56, hat seinen Grund nur zum geringeren Teil in den dort noch bleibenden Lücken, zum größeren in neueren philologischen Überlegungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte57, die es für eine solche Untersuchung ratsam erscheinen lassen, jeweils diejenige Ausgabe zu wählen, die dem Originaldruck, erst recht dem niederdeutschen Text Bugenhagens, am nächsten kommt.58 Weitere Ordnungstexte vermögen das Bild zu ergänzen – und zwar sowohl im synchronen Vergleich mit normativen Texten anderer Herkunft, als auch in diachroner, also rezeptionsgeschichtlicher Perspektive. So wird es nicht allein aufschlußreich sein, die vor‑ und nachreformatorischen Armenordnungen und Bettelverbote nach Herkunft und Systematik der üblichen Versorgungs‑ und Ausschlußkriterien zu befragen, sondern auch, anhand einzelner Mandate aus 52 Zitierte Ausgabe: [Johannes Bugenhagen, Antonius Corvinus u. Martin Görlitz:] Christlike kerken-ordeninge im lande Brunschwig, Wulffenbüttels deles. 1543 Wittemberg (hg. v. Rudolf Smend u. Ernst Wolf), in: EKO 6/I/1 (1955), S. 22–81. 53 Zitierte Ausgabe: Martin Bucer u. a.: Ordnung, die ain Ersamer Rath der Stadt Ulm in abstellung hergeprachter etlicher mißpreuch in jrer Stat und gepietten zůhalten fürgenommen, wie alle sündtliche, widerchristliche laster (Gott dem allmechtigen zů lob, auch z Braiterung der liebe des nechsten) abgewendet, vermiten und wie die ubertreter derselben gestraft und gepůßt werden sllen. Anno Domini Tausent Fünffhundert dreyssig und ain jar, in: ders.: Opera Omnia. Series I: Deutsche Schriften (hg. v. Robert Stupperich, dann Gottfried Seebaß). Bd. 4, Gütersloh u. Paris 1975, S. (183–)212–305. 54 Zitierte Ausgabe: Martin Bucer: Ordnung und Kirchengebreuch für die Pfarrern und Kirchendienern zů Straßburg und derselbigen angehrigen uff gehabtem Synodo fürgenommen 1534, ebd., Bd. 5 (1978), S. (15–)24–41. 55 Zitierte Ausgabe: [Martin Bucer:] Kirchenordnung von 1537, in: EKO 12/2 (1963), S. 50–66. 56 Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI . Jahrhunderts (hg. v. Emil Sehling, fortgef. v. Insitut für evangelisches Kirchenrecht der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Göttingen, dann v. d. Heidelberger Akademie der Wissenschaften). Bisher 17 Bde., Leipzig u. Tübingen 1902–(2006). 57 Vgl. Franz Simmler: Prinzipien der Edition von Texten der Frühen Neuzeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit (hg. v. Lothar Mundt, Hans-Gert Roloff und Ulrich Seelbach). Tübingen 1992 (Beihefte zu editio 3), S. 36–127. 58 Insbesondere sind die niederdeutschen Texte für den Abdruck in den EKO zum Teil in sprachhistorisch unzulässiger Weise vereinfacht worden, so daß z. B. die Diphthongierung durch e superscriptum als ä, ö, ü wiedergegeben wird, was nicht dasselbe ist und anders behandelt werden muß als im Hochdeutschen. Wo es möglich ist, verwende ich daher bevorzugt die oben angegebenen Faksimiledrucke oder jedenfalls Editionen, die weitgehend auf solche Eingriffe verzichtet haben, sekundär dann die Editionen in den EKO. Vgl. im übrigen die Grundsätze meiner Textwiedergabe unten; S. 453 f.
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der Barockzeit zum Umgang mit Bettlern und Fahrenden die Persistenz solcher Normen weiterzuverfolgen. Wie sich zeigen wird, setzte ab etwa 1600 auch in den zuvor von Bugenhagen geprägten Gebieten eine strengere Politik ein, die gesunde, fahrende und betrügerische Bettler mit härteren Strafen bedrohte. Die mehr und mehr standardisierte Mandatspolitik frühneuzeitlicher Herrscher gehört in den Zusammenhang der ,guten Policey‘, die in jüngster Zeit auf größere Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaften gestoßen ist. Ausgehend vom Axiom des ,gemeinen Nutzens‘, galt in der Frühen Neuzeit als ,gute Policey und Ordnung‘, was in einer Stadt, einem weltlichen oder geistlichen Territorium oder auf Reichsebene ein sittliches und friedliches Zusammenleben des Gemeinwesens, der ,politeia‘, sicherstellen konnte.59 Als Maßnahmen zur Optimierung des öffentlichen Lebens konnten sich daher die Policeyordnungen auf sämtliche Ebenen und Aspekte gesellschaftlicher Lebensvollzüge beziehen. „Entsprechend ausgedehnt und vielfältig sind die Gegenstände, Materien und Delikte: Ob Gotteslästerung, Sonntagsheiligung, Aufwand und Luxus, gesellschaftliche Randgruppen und Unterschichten, Sexualität, Ehe und Familie, Vormundschafts‑ und Erbschaftswesen, Glücksspiel, Tanzen und Festkultur, öffentliche Sicherheit, Zensur, Gesundheits‑ und Erziehungswesen, Schule und Ausbildung, Armenwesen und Bettel, Landwirtschaft, Forst‑ und Bodennutzung, Produktion und Arbeitsordnung, Handwerk und Gewerbe, Handel und Dienstleistungen, Geld‑ und Kreditwesen, öffentliche Einrichtungen oder Bauwesen – zu all diesen und mehr Bereichen finden sich detaillierte und differenzierte Policeynormen.“60 Weil diese Normierung mithin weit in den Alltag hineinreichte (oder besser hineinreichen sollte), ist das aktuelle Interesse am Policeybegriff unmittelbar mit der Konjunktur von ,Sozialdisziplinierung‘ und ,Konfessionalisierung‘ verknüpft. Damit schließt sich der Kreis: Wenn sich weltliche Policey und Kirchenordnung in ihrem gesamtgesellschaftlichen Geltungsanspruch so sehr ähnelten – jedenfalls, was die zu ordnenden Rechtsgegenstände betrifft – dann scheint dies doch zwangsläufig nahezulegen, daß beide als Teil eines Sozialdisziplinierungsprozesses interpretiert werden müssen, dem sich kein Bereich des Alltags entziehen konnte. Die besondere Innovationsleistung der evangelischen Kirchenordnungen wäre damit nichts als theologisches Konstrukt. Vom Standpunkt der Juristin Karla Sichelschmidt „läßt sich die Frage, ob das evangelische Kirchenrecht des 16. Jahrhunderts eine besondere Qualität oder Dignität gegenüber anderem oder frühe59 Vgl. Eckart Pankoke: Von „guter Policey“ zu „socialer Politik“. „Wohlfahrt“, „Glückseligkeit“ und „Freiheit“ als Wertbindung aktiver Sozialstaatlichkeit, in: Soziale Sicherheit 1986, S. 148–177. – Zur älteren Begriffsbestimmung vgl. auch Gerhard Oestreich: Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat, in: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel (hg. v. Albrecht Schöne). München 1976, S. 10–21. 60 Karl Härter und Michael Stolleis: Einleitung, in: Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit (hg. v. dens.). Bd. 1, Frankfurt a. M. 1996, S. 1–36; hier 3.
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rem Recht hat, letztendlich verneinen. Weder in ihrem äußeren Aufbau noch in ihrem inhaltlichen Regelungsbereich unterscheiden sich die Kirchenordnungen bezüglich der zugrundeliegenden Rechtsauffassung vom weltlichen Recht der Zeit oder von früherem Kirchenrecht.“61 Das will sorgfältig geprüft werden! Die öffentliche Fürsorge, von Sichelschmidt kaum beachtet62, böte sich dafür besonders gut an, denn gerade auf diesem Feld stand das Verhältnis der christlichen Liebe zum geschriebenen Recht in idealtypischer Weise zur Debatte. Wie sich zeigen wird, neigte besonders Johannes Bugenhagen dazu, im Namen der Liebe allzu feststehende Rechtstitel eher konziliant zu behandeln und ermunterte dazu auch die Beteiligten. Dieser Grundton, der erneut als Produkt seiner biblischen Theologie angesprochen werden kann, unterschied diesen Reformator von anderen Ordnungstraditionen, wo juristische Kategorien viel größeres Gewicht hatten. Die Textpassagen zur öffentlichen Fürsorge allein würden freilich kaum ausreichen, um den Rechtscharakter dieser Kirchenordnungen als Ganzes beurteilen zu können. Doch im Laufe der Untersuchung wird allmählich zu sehen sein, daß nicht nur der scheinbar eng begrenzte Bereich diakonischen Handelns, der um den Gemeinen Kasten und seine Diakone herum angesiedelt war, in Bugenhagens Texten deutlich vom Primat christlicher Liebe geprägt war, sondern daß die Ordnungen von mannigfachen Aspekten des Helfens, der Zuwendung an Schwache, der Ermunterung zu dienstlicher Toleranz und damit der öffentlichen Fürsorge (in einem sehr weitem Sinne) geradezu durchsetzt waren, ja daß diese Texte nicht nur jeweils partiell, sondern sogar insgesamt als Akte obrigkeitlicher Fürsorge am christlichen Gemeinwesen interpretiert werden können. Dies wird der Schluß zu verstehen geben. Im folgenden kann es nicht darum gehen, die Reformationsgeschichte der einzelnen Städte, Territorien und Reiche im begrenzten Rahmen einer Einleitung noch einmal zu entfalten, nicht einmal die jeweils unterschiedlichen Entwicklungen von Kirchenregiment und Kirchenverfassung. Hierfür sei auf die angegebene Literatur verwiesen. Es soll jedoch auf knappem Raum eine Orientierung über Gruppen und Familien derjenigen Kirchenordnungen ermöglicht werden, die der Untersuchung zugrundeliegen. Eingeflochten werden Stationen von Bugenhagens reformatorischem Wirken, soweit es die Prozesse der Kirchenrechtsbildung betrifft. Einzelfragen zu seiner Biographie, mit der die kirchenorganisatorischen Tätigkeiten untrennbar zusammenhängen, sind in der Bugenhagen-Literatur angesprochen, auf die überblickshalber die Forschungsbilanz (I.5) hinweist.
61 62
Sichelschmidt 1995; S. 186. Vgl. nur den knappen Abschnitt ebd.; S. 176–178.
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a. Wittenberger Anfänge (1520–1528) Gleich der erste Text, der als reformatorische Ordnung angesprochen werden kann, widmete sich der „erhaltung Hauß vnnd ander armen bedurfftigen leutthen“ einer Stadt: die Wittenberger Beutelordnung, entstanden in der zweiten Jahreshälfte 1520, von Luther billigend begutachtet, einem Zeugen zufolge sogar von ihm angeregt und vom Rat beschlossen.63 Darin war die Einrichtung eines zentralen Armenkastens vorgesehen, der sich aus regelmäßigen Geldsammlungen speisen sollte, und insbesondere zu „christlicher lieb“ aufgerufen, „die ein jder jegen dem Andern tragen sall etc.“64. Im Dezember gab der Rat bei einem Schreiner den „gemeynenn Kastenn“65 in Auftrag, und schon im Frühjahr exportierte der Pfarrer Jakob Seidler das Modell als evangelische Neuerung nach Glashütte, ohne es dort in Geltung setzen zu können.66 Offensichtlich war indes noch nicht geplant, im Kasten auch gewinnbringendes Kapital zu dessen langfristiger Stabilisierung liegen zu lassen, etwa Kloster‑ und Hospitalgüter. Doch bereits ein Jahr später, im Januar 1522, wurde in Luthers Abwesenheit eine neue Stadtordnung67 erlassen, teils mitgestaltet von Andreas Bodenstein von Karlstadt († 1541). Auch ihr Schwerpunkt lag auf dem Gemeinen Kasten, doch waren die Bestimmungen ausführlicher. So sollten die Klöster geräumt und ihre Güter in den Kasten integriert werden, zusammen mit den Einkünften der Kirchen, Priesterschaften und anderer Institutionen, so daß nun wirklich eine zentrale Gemeindekasse mit verzinsbarem Kapital entstand, aus der alle Kosten bezahlt werden konnten. Gerade dieses Kriterium kann zur Unterscheidung von älteren Armenordungen herangezogen werden, die die üblichen Almosen nur zentralisierten und von dieser Schaltstelle aus auch wieder auszahlten, um nur registrierte Bettler berücksichtigen zu müssen. Von diesem früheren Typ wird noch ausführlicher die Rede sein.68 Ferner versetzte die Ordnung die Priester in ein Zahlungsverhältnis, für das nun der Kasten aufkam, aus dem auch Darlehen für arme Handwerker und Waisenfürsorge bewilligt werden sollten. Stefan Oehmig hat die finanzielle Leistungsfähigkeit des Wittenberger Kastens anhand der seit 63 Zusatz zur Wittenberger Beutelordnung. 1520 oder 1521, in: WA 59 (1983), S. (62–)63– 65; hier 63. – Übertragung: ,… Erhaltung Hausarmer und anderer armer bedürftiger Leute‘. – Vgl. Otto Winckelmann: Über die ältesten Armenordnungen der Reformationszeit, in: Historische Vierteljahrsschrift 17 (1914), S. 187–228, 361–400; hier 205–208. – Stefan Oehmig: Die Wittenberger Bewegung 1521/22 und ihre Folgen im Lichte alter und neuer Fragestellungen. Ein Beitrag zum Thema (Territorial‑)Stadt und Reformation, in: Siebenhundert Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation (hg. v. dems.). Weimar 1995, S. 97–130; hier 100–103. 64 Wittenberger Beutelordnung 1520 (1983); S. 65. – Übertragung: ,… christlicher Liebe, die jeder zum andern haben soll etc.‘ 65 Oehmig 1995; S. 101. 66 Vgl. ebd.; S. 101 f. 67 Vgl. Ordnung des Rates der Stadt Wittenberg vom 24. Jan. 1522, in: Luther: StA 2 (1982), S. 525–529. 68 Vgl. unten; S. 173 f.
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1526 regelmäßig erhaltenen Rechnungen eindrücklich belegen können.69 Der Bettel hingegen wurde jetzt verboten, so wie es Luther bereits in der Adelsschrift gefordert70 und wie es zahlreiche vorreformatorische Ordnungen schon eingeleitet hatten, ohne dafür bislang auf eine stabile Gemeindekasse verweisen zu können.71 Und schließlich wurde durch die Ordnung auch eine Gottesdienstreform nach evangelischem Verständnis eingeleitet, wozu auch die von Karlstadt geforderte Beseitigung aller Bilder gehörte.72 Gewalttätiger Bildersturm jedoch, ein versuchtes Klosterbrechen und die überstürzte Einführung des evangelischen Abendmahls im Dezember bewogen freilich den benachrichtigten Luther, am 1. März vorzeitig aus seinem Versteck auf der Wartburg zurückzukehren und in der Invokavitwoche durch tägliche Predigten zu Besonnenheit und gegenseitiger Toleranz zu mahnen.73 Das zeigte bei den Hörern Wirkung und hat nicht zur Rücknahme, sondern zur gemäßigten Umsetzung der Ordnung geführt.74 Nicht die Änderungen selbst, aber ihre eilige und kompromißlose Durchsetzung störte ihn.75 Jede zwanghafte Ordnung war Luther zuwider – „der glaüb wil nit gefangen noch gebund seyn / noch durch ordnung an ein werck gertet sein / da richt dich nach“76. Damit war eine Parole ausgegeben, die ihrerseits als Ordnung höheren Ranges eingestuft werden konnte: Die Liebe zum schwachen Bruder hätte es verbieten müssen, ihm Gebote und Verbote zu erteilen, die nicht zu halten waren, auch wenn das Ansinnen richtig gewesen sein mochte. Gegen die neue Armenordnung hatte Luther nichts einzuwenden – von ihr ging nicht so sehr die Gefahr einer überstürzten Bevormundung aus wie von der neuen Meßordnung, die zögerliche Gemeindeglieder schreckte.
69 Vgl. Stefan Oehmig: Der Wittenberger Gemeine Kasten in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten seines Bestehens (1522/23 bis 1547): seine Einnahmen und seine finanzielle Leistungsfähigkeit im Vergleich zur vorreformatorischen Armenpraxis, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 12 (1988), S. 229–269. – Ders.: Der Wittenberger Gemeine Kasten in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten seines Bestehens (1522/23 bis 1547): seine Ausgaben und seine sozialen Nutznießer, ebd. 13 (1989), S. 133–179. – Vgl. jetzt auch ders.: Über Arme, Armenfürsorge und Gemeine Kästen mitteldeutscher Städte der frühen Reformationszeit, in: Medizin und Sozialwesen 2007, S. 73–114. – Albrecht Steinwachs: Der Gemeine Kasten. Eine oft übersehene soziale Leistung der Reformation, in: Luther 78 (2007), S. 32–34. 70 Vgl. Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, in: ders.: StA 2 (1982), S. (89–)96–167; hier 146. 71 Vgl. unten; S. 94 f. 72 Vgl. zu den Einzelbestimmungen auch Oehmig 1995; S. 109. 73 Vgl. Acht Sermone D. M. Luthers von ihm gepredigt zu Wittenberg in der Fasten (Invocavitpredigten vom 9.–16. März 1522), in: ders.: StA 2 (1982), S. (520–)530–558. – Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 2, Stuttgart 1994; S. 50 f.; 66–72. 74 Vgl. Oehmig 1995, S. 112. 75 Vgl. Luther: Acht Sermone 1522 (1982); S. 531. 76 Ebd. – Übertragung: ,Der Glaube will nicht gefangen oder gebunden, noch durch Ordnung an ein Werk gefesselt sein. Danach richte dich.‘
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Die Ambivalenz des evangelischen Freiheitsbegriffs, der nach den zurückliegenden Erfahrungen also auch zu Tumult und Willkür führen konnte77, anderseits aber nicht durch rigides Ordnungsstreben unterdrückt werden durfte78, galt es in den folgenden Jahren zu berücksichtigen, wenn es verstärkt nötig wurde, die Sakramente, die Liturgie, die Dienstverhältnisse der Pfarrer, die kirchlichen Finanzen und damit auch das Armenwesen behutsam in einheitliche Verhältnisse zu überführen.79 Die Bräuche und Ordnungen, die jetzt allmählich in Wittenberg verbindlich wurden, gingen stets auch in gedruckter Form aus und wurden vorbildlich für die Umgestaltungen an anderen Orten. So übernahm 1522 die Reichsstadt Nürnberg das evangelische Modell eines Gemeinen Kastens in ihre Armenordnung, versehen mit einer biblisch orientierten Vorrede Lazarus Spenglers († 1534).80 Der Abendmahlsgottesdienst wurde 1523 durch Luthers Formula missae et communionis81geregelt. Im selben Jahr erging sein Vorschlag Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeinde82. Der Stadt Leisnig empfahl er Anfang 1522, Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein‑ und abzusetzen83 – und im Herbst wirkte er dort beratend an der Ordnung eines Gemeinen Kastens84 mit, die er im Jahr drauf mit einer eigenen Vorrede publizierte, um sie anderen Gemeinden als Vorbild zu empfehlen. Tatsächlich kam der Gemeine Kasten als zentrale kirchliche Kasse einer Stadtgemeinde durch diese Publizität bald in etlichen anderen Städten zur Geltung, zunächst in Kursachsen. Dort muß diese Einrichtung schon 1525 so bekannt gewesen sein, daß der Kurfürst sich in einem Ausschreiben erkundigte, wo sie schon verbreitet und wie sie im einzelnen geordnet sei.85 Von der Ausbreitung dieses Modells wird noch zu sprechen sein.86 In die Reihe der Ordnungstexte, die noch eher empfehlenden Charakter hatten, gehört schließlich auch Luthers Denkschrift An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen
77 Vgl. Martin Luther: Eine treue Vermahnung Martin Luthers an alle Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (1522), in: WA 8 (1889), S. (670–)676–687. Die Schrift war bereits auf der Wartburg entstanden. 78 Vgl. auch Heiko Jadatz: Die evangelischen Kirchenvisitationen in Sachsen 1524–1540, in: Glaube & Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze (hg. v. Harald Marx u. Cecile Hollberg). Kat. Torgau; Dresden 2004, S. 70–79; hier 70. 79 Vgl. bes. Reinhard Schwarz: Luther. Göttingen 32004 (UTB 1926); S. 145–155. 80 Vgl. unten; S. 175 f. 81 Vgl. Martin Luther: Formula missae et communionis pro ecclesia, in: ders.: StA 1 (1979), S. (365–) 369–386. 82 Vgl. ders.: Von ordenung gottis diensts ynn der gemeyne, in: WA 12 (1891), S. (31–) 35–37. 83 Vgl. ders.: Versammlung 1522 (1983). 84 Vgl. ders.: Ordnung eines gemeinen Kasten. 1523, in: ClA 2 (1934), S. 404–423. 85 Vgl. Joachim Bauer: Gemeine Kästen in Kursachsen 1525 bis 1531, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 12 (1988), S. 207–227; hier 209. 86 Vgl. unten; S. 175 f.
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aufrichten und halten sollen87 von 1524. Auch das hier entfaltete Programm verbreitete sich rasch und ging in zahlreiche spätere Kirchenordnungen ein.88 Alle diese Schriften vertrauten noch auf die Kompetenz der einzelnen Gemeinde, ihre Angelegenheiten aus einem ernsthaften Verständnis des Evangeliums heraus selbst regeln zu können. Zu stärkerer Vereinheitlichung kam es in Kursachsen und in anderen Territorien erst nach dem Bauernkrieg, der den Optimismus der ersten Jahre nachhaltig schwächte. Zum wirksamsten Mittel obrigkeitlicher Kirchenorganisation wurden jetzt die Visitationen. Bereits erste Kontrollen bei einzelnen Gemeinden in den Jahren 1526–1527 brachten zum Teil niederschmetternde Ergebnisse, was Bibelkenntnis, Predigt‑ und Seelsorgekompetenz der Pfarrer, Religiosität und Lebenswandel der Bevölkerung wie auch die ökonomische Situation der Gemeinden betraf.89 Auf Drängen Luthers wurde eine Visitationskommission gebildet, die im Juni 1527 ihre Arbeit aufnahm und sich für das weitere Vorgehen zunächst eine kurfürstliche Instruktion erteilen ließ. Wohl schon während der ersten Kontrollen im Sommer verfaßte Philipp Melanchthon († 1560) seine Articuli de quibus egerunt per Visitatores in Regionae saxonicae, die in mehreren Redaktionen durch Luther und Bugenhagen 1528 zu einem endgültigen Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum Sachsen ausgestaltet wurden, als Richtlinie für die erste allgemeine Visitation in Kursachsen .90 Dieser Text, der seinerseits überaus stark in späteren Kirchenordnungen rezipiert wurde, erweiterte die kurfürstliche Visitation vor allem um Kriterien der Lehre, indem die Pfarrer zur rechten Predigt von Gesetz und Evangelium angehalten, über Sakramente, Buße, Vergebung und Bann aufgeklärt wie auch zur homogenen Predigt über den freien Willen, den Mißbrauch evangelischer Freiheit und den Türkenkrieg aufgefordert werden sollten. Als eigener organisatorischer Teil folgte eine ausführliche Schulordnung, doch ökonomische und diakonische Bestimmungen fehlten hier ganz, während sie in der Instruktion vom Vorjahr noch die Hälfte des Textes ausmachten; besonders die regelmäßige Einrichtung Gemeiner Kästen war dort angeordnet.91 Der Unterricht war auch deshalb ein besonders nachhaltiger Impuls für die reformatorischen Kirchen, weil er auf der argumentativen Basis landesherrlichen Notrechts aus christlicher Liebe endlich zu geordneten kirchlichen Strukturen führen konnte, die nun auch ekklesiologisch von der alten Bischofskirche unabhängig waren. 87 Vgl. Martin Luther: An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524), in: WA 15 (1899), S. (9–)27–53. 88 Vgl. unten; S. 387. 89 Vgl. Jadatz 2004; bes. S. 71. 90 Vgl. Philipp Melanchthon: Articuli de quibus egerunt per visitatores in regione Saxoniae. Wittembergae 1527, in: CR 26 (1858), Sp. 7–28. 91 Vgl. zu diesem Punkt Bauer 1988; S. 213. – Zum Ganzen auch Michael Beyer: Die Neuordnung des Kirchengutes, in: Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen (hg. v. Helmar Junghans). Leipzig 22005, S. 93–114; bes. 103.
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b. Bugenhagens Weg zum Reformator (1485–1526) Die Wittenberger Unruhen im Winter 1521/22, die zugleich radikale Verbotspolitik und schließlich den ausgleichenden Ordnungsruf Luthers in der Invokavitwoche – all dies hat auch Johannes Bugenhagen mitbekommen, der im Frühjahr 1521 in die Stadt gekommen war, um Theologie zu studieren. Zu dieser Zeit war er freilich schon 35 Jahre alt und hatte soeben eine Karriere als Priester und Schulleiter in Pommern abgebrochen.92 Dort am 24. Juni 1485 zu Wollin geboren, hatte er sich 1502 an der Greifswalder Universität immatrikuliert, aber sicher nur die Artes erlernt, ohne ein Theologie‑ oder ein anderes Studium abzuschließen.93 Stattdessen scheint er unmittelbar nach Verlassen der Universität 1504 Rektor der Ratsschule zu Treptow an der Rega geworden zu sein.94 Einschlägige Erfahrungen als kirchlicher Notar, die daneben ab 1505 nachweisbar sind, könnten ihm bei seiner späteren Organisationstätigkeit genützt haben.95 Zudem war er ab 1509 geweihter Priester an der Stadtkirche96 und seit 1517 auch Lektor des neugegründeten Priesterseminars am benachbarten Prämonstratenserkloster Belbuck97, das stets in enger Verbindung zur Ratsschule gestanden hatte. Die Treptower Zeit war von intensiven autodidaktischen Studien geprägt, besonders von der Lektüre der Kirchenväter und von bibelhumanistischen Anfängen, wovon ein 1512 geführter Briefwechsel mit dem Münsteraner Humanisten Johannes Murmellius († 1517) zeugt, dessen Grammatik er drei Jahre später mit einer eigenen Vorrede publizierte.98 Auf seinen Rat hin ergänzte Bugenhagen seine Vorkenntnisse durch Lektüre von Schriften Erasmus’ von Rotterdam († 1526). Dessen Vorbild macht sich besonders in einem großangelegten Auftraggswerk bemerkbar, der für Herzog Bogislaw X. († 1523) abgefaßten, indirekt 92 Vgl. Hans-Günter Leder: Johannes Bugenhagen Pomeranus. Leben und Wirken [zuerst 1984], in: ders.: Johannes Bugenhagen Pomeranus – Vom Reformer zum Reformator. Studien zur Biographie (hg. v. Volker Gummelt). Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Greifswalder theologische Forschungen 4), S. 13–42; hier 19 f. – Zur biographischen Literatur vgl. im übrigen unten; S. 57 f. 93 Vgl. ders.: Bugenhagen und die „aurora doctrinarum“. Zum Studium Bugenhagens in Greifswald [zuerst 1984], ebd. S. 43–93; hier S. 44–48. 94 Vgl. ders.: „Sacerdos Christi, Ludimagister Treptovii“. Johannes Bugenhagen in Treptow bis zu seinem Anschluß an den Schul‑ und Bibelhumanismus (1504 bis ca. 1515) [zuerst 1995], ebd. S. 95–121; hier 95–97. 95 Vgl. ebd.; S. 99. 96 Vgl. ebd.; S. 99–106. 97 Vgl. ders.: Bugenhagens „reformatorische Wende“. Seine Begegnung mit Luthers Schrift „De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium“ [zuerst 1984], ebd. S. 147–181; hier 151 f. 98 Vgl. Leder 1995 (2002); S. 107–121. – Dr. Johannes Bugenhagens Briefwechsel (hg. v. Otto Vogt, dann Eike Wolgast m. Hans Volz). Hildesheim 1966, Nr. 2; hier S. 6. – *Grammatice regule Joannis Murmellij quibusdam a Joanne Bugenhagenio additis. Ohne Ort: ohne Drucker 1515; fol. A1 v°. – Mit einem Asteriskus (*) werden künftig diejenigen Alten Drucke versehen, die ich selbst benutzte (z. T. in Kopie oder Microform); sie erscheinen daher in den Fußnoten lediglich in leicht normalisierter Form, im Quellen‑ und Literaturverzeichnis jedoch mit einer präzisen Titelaufnahme.
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aber durch Kurfürst Friedrich den Weisen († 1525) angeregten Pomerania99 von 1517/18. Urkundliches Material zu dieser ersten pommerschen Landesgeschichte trug Bugenhagen auf einer Archivreise zusammen – ein Unternehmen, das ihm bei späteren Visitationen ebenfalls genützt haben mag.100 Über diese Schriften wie auch die nachfolgenden Ereignisse wird im theologischen Teil der Studie noch ausführlicher zu sprechen sein. Im Zeitraum zwischen 1519 und 1520/21 vollzog sich jene Wende, die den mittlerweile geübten Bibelhumanisten unter dem Eindruck eines weiteren Buchs, nämlich Luthers Schrift De captivitate Babylonica Ecclesiae praeludium (1520) für dessen Theologie begeisterte. Dabei braucht nicht an ein plötzliches Bekehrungserlebnis gedacht zu werden, wie es in der Literatur oft zu lesen ist. Anneliese Bieber konnte vielmehr demonstrieren, daß Bugenhagen während dieser Zeit, als er in Treptow an einem Matthäuskommentar arbeitete, einen schrittweisen Wandlungsprozeß durchmachte, der unter dem neuen Lektüreeindruck schließlich zur völligen Absage an die alte Heilsfrömmigkeit führte: „Plenas dedit mihi Christus indulgentias, et ego sinam pro hominum commenta mihi eas auferri?“101 Dieser Bruch führte zu neuem Klärungsbedarf. Bugenhagen scheint zunächst Kontakt mit Luther aufgenommen zu haben, bat ihn um eine Lebensregel und erhielt von ihm ein Exemplar seiner Freiheitsschrift (1520), wohl brieflich von dem Hinweis flankiert, daß ein Christenmensch keine Moralgebote brauche, weil der Geist des Glaubens ihn zu allem hinführe, was Gott und die brüderliche Liebe verlangen.102 Aus der Perspektive späterer Kirchenordnungen hat dieses Wort gleichsam Schlüsselfunktion. Ich werde auch hierauf zurückkommen.103 Bugenhagen zog wohl in der zweiten Märzhälfte 1521 zum Studium nach Wittenberg, wo er Luther vor dessen Abreise zum Wormser Verhör noch getroffen haben soll.104 Vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Prozesses schrieb er seinen Treptower Schülern einen Sendbrief, in dem er ihnen die neue Theologie 99 Johannes Bugenhagens Pomerania (hg. v. Otto Heinemann). Stettin 1900 (Quellen zur pommerschen Geschichte 4; Ndr. (hg. v. Roderich Schmidt), Köln u. Wien 1986 (MDF.S 7). – Hans-Günter Leder: Johannes Bugenhagens „Pomerania“. Humanistische Einflüsse auf die frühe Landesgeschichtsschreibung in Pommern [zuerst 1994], in: ders.: Johannes Bugenhagen Pomeranus 2002, S. 123–146. 100 Vgl. Bugenhagen: Pomerania (1900, 1986); S. XXI –XXV . 101 Anneliese Bieber: Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation. Die Entwicklung seiner frühen Theologie anhand des Matthäuskommentars und der Passions‑ und Auferstehungsharmonie. Göttingen 1993 [a] (Forschungen zur Theologie‑ u. Dogmengeschichte 51); S. 277. – Übersetzung: ,Vollen Ablaß gab mir Christus – und ich sollte zulassen, daß mir dieser Ablaß genommen und nur das gegeben würde, was Menschen ausgedacht haben?‘ – Zur Datierung vgl. ebd.; S. 22. – Generell, auch zur Frage der ,Reformatorischen Wende‘, vgl. im übrigen unten; S. 121–123. 102 Vgl. Bugenhagen: Briefwechsel (1966); S. 8, Nr. 3. 103 Vgl. unten; S. 123 f. 104 Vgl. Philipp Melanchthon: De vita Bugenhagii, in: CR 12 (1844), Sp. 295–307; hier 299.
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in elementarisierter Form nahezubringen suchte, um seinen Fortgang zu erläutern und die dortigen Anfänge reformatorischen Denkens zu unterstützen.105 Noch im Herbst folgte ein weiterer, diesmal gedruckter Sendbrief nach Pommern und bereits erste Vorlesungen, zunächst im Privatkreis, vom Wintersemester an in der Universität. Gleich die Psalmenvorlesung wurde 1524 auf Drängen Luthers gedruckt und verhalf dem erst 1533 Promovierten zu einiger Bekanntheit. In den ersten Jahren reihten sich seine biblischen Vorlesungen praktisch ohne Unterbrechung aneinander.106 Zusätzlich brachte Luther ihn, der 1522 geheiratet hatte, im folgenden Jahr ins Amt des Stadtpfarrers.107 In diese Jahre fiel der Beginn der Abendmahlsauseinandersetzungen mit Zwingli und seinen Anhängern in der Schweiz und in Oberdeutschland. Bugen hagen eröffnete die eigentliche Debatte im Sommer 1525 durch eine Flugschrift Contra novem errorem de Sacramento, in der Zwinglis zeichenhafte Auffassung erstmals beim Namen genannt und von der Wittenberger Lehre eindeutig geschieden war. Mit sechs lateinischen und fünf deutschen Ausgaben war dies der auflagenstärkste Beitrag zum Abendmahlsstreit bis 1528 und provozierte auf Seiten der Gegner, besonders in Straßburg, publizistische Gegenreaktionen.108 Im Winter, als gerade unter Bugenhagens maßgeblicher Beteiligung in Wittenberg ein klärendes Abendmahlsgespräch mit Caspar Schwenckfeldt († 1561) stattgefunden hatte109, erschien zu Basel sein Psalmenkommentar in deutscher Übersetzung durch Martin Bucer. Dieser hatte vom Verfasser eine Lizenz zu freier Wiedergabe erhalten, die er nutzte, um bei Psalm 111,5 seine eigene Abendmahlstheologie zu interpolieren und unter dessen Namen zu verbreiten.110 Derart bloßgestellt, mußte sich Bugenhagen mühsam von der Stelle distanzieren, woraus weitere Flugschriftenwechsel und publizistische Aufmerksamkeit bis in die Niederlande resultierten.111 Auch seine schmale Epistola ad anglos hatte 1525 rasch weite Kreise gezogen und forderte, ungeachtet ihrer Harmlosigkeit, umfangreiche Entgegnungen durch Johannes Cochlaeus († 1552) und – vorerst unpubliziert
105 Vgl. Johannes Bugenhagen: Sendbrief an die Schüler zu Treptow. Aus einer gleichzeitigen Handschrift mitgetheilt von Carl E. Förstemann, in: Zeitschrift für die Historische Theologie 7 (1837), S. 139–155. – Wolf-Dieter Hauschild: Johannes Bugenhagens Entwicklung zum Reformator und der Einfluß Luthers, in: Luthers Wirkung. Festschrift für Martin Brecht (hg. v. Wolf-Dieter Hauschild u. a.). Stuttgart 1992, S. 63–82. 106 Vgl. Leder 1984 (2002) a; S. 22 f. 107 Vgl. ders.: Die Berufung Johannes Bugenhagens in das Wittenberger Stadtpfarramt [zuerst 1989], in: ders.: Johannes Bugenhagen Pomeranus 2002, S. 183–214. 108 Vgl. Ernst Koch: Johannes Bugenhagens Anteil am Abendmahlsstreit zwischen 1525 und 1532, in: Theologische Literaturzeitung 111 (1986), Sp. 705–730. – Thomas Kaufmann: Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528. Tübingen 1992 (BHTh 81); S. 282–284. 109 Vgl. Koch 1986; Sp. 709–713. 110 Vgl. Kaufmann 1992; S. 310–318. 111 Vgl. Koch 1986; Sp. 714–716.
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allerdings – durch Thomas Morus († 1535) heraus. Davon wird im theologischen Teil noch die Rede sein.112 Bugenhagens Bekanntheit machte ihn zu einem gefragten Gutachter und Berater. Bald wurde er auf auswärtige Pfarrstellen gebeten, 1524 nach Erfurt und Hamburg, 1525 nach Danzig.113 Die auf ein halbes Jahr befristete Berufung auf die vakante Pfarrstelle der Hamburger Nikolaikirche war dort bereits ein eindeutiges reformatorisches Signal – der altgläubige Rat stellte sich ihr folglich unter Bezug auf das maßgebliche Wormser Edikt (1521) entgegen. Bugenhagen respektierte die Entscheidung, weil er meinte, unter diesen Umständen dort allenfalls bewirken zu können, „dat velichte umme mynet willen de borgere sick umme de koppe mochten slaen“114. Doch schrieb er im nächsten Jahr einen umfangreichen Sendbrief, um die reformatorische Bewegung aus der Ferne zu unterstützen, „alse ock de hylge Paulus vnde andere Apostele deden / wor se nycht konden lfflyck hen kamen / dar hen quemen se doch drch re Epistelen edder breue.“115 Mit diesem Anspruch eines apostolischen Sendschreibens wurde die Schrift 1526 gedruckt: Vom Christenglauben und rechten guten Werken, wider den falschen Glauben und erdichtete gute Werke – dazu, wie man es mit guten Predigern anstellen soll, damit solche Liebe und Werke gepredigt werden. Der Titel bereits läßt das theologische Programm erkennen, eine Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken wie auch der Praxis, die hieraus resultieren müßte. Diesem letzten Punkt war ein eigener Anhang mit organisatorischen Vorschlägen zugedacht, der bereits drei Dimensionen reformatorischer Umgestaltung unterschied: „Van den prdyckeren“116 – „Van der schole“117 – „De gemene kaste“118. Für die weitere 112
Vgl. insgesamt unten; S. 127 ff. Vgl. Karl A. T. Vogt: Johannes Bugenhagen Pomeranus. Leben und ausgewählte Schriften. Elberfeld 1867 (LASLK 4); S. 97. 114 Bugenhagen: Briefwechsel (1966); Nr. 10. – Übertragung: ,… daß die Bürger sich vielleicht meinetwegen die Köpfe einschlagen.‘ 115 Ders.: Van dem Christen louen vnde rechten guten wercken / wedder den falschen louen vnde erdichtede gude wercke. Dar tho / wo me schal anrichten myt guten prdickeren / dat suelck loue vnd wercke geprdiket werden. An de ehrentrike stadt Hamborch. Drch Johannem Bugenhagen Pomeren. Wittemberch. M. D.xxvj, in: Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts (hg. v. Hans-Joachim Köhler, Hildegard Hebenstreit-Wilfert u. Christoph Weismann). Serie 5, Zug 1982, Nr. 2106; hier fol. A2 r°. – Übertragung: „[…] als auch der heilige Paulus und andere Apostel thaten; wo sie nicht konnten leiblich hinkommen, dahin kamen sie durch ihre Episteln oder Briefe.“ Ders.: Von dem christlichen Glauben und rechten guten Werken wider den falschen Glauben und erdichtete gute Werke, dazu, wie man’s soll anrichten mit guten Predigern, daß solch Glaube und Werke gepredigt werden, an die ehrenreiche Stadt Hamburg durch Johannes Bugenhagen Pommer. Wittenberg 1526, in: Vogt 1867, S. 101–267; hier S. 102. – Zum Hergang vgl. auch Rainer Postel: Die Reformation in Hamburg 1517–1528. Gütersloh 1986 (QFRG 52); hier 204–209 et passim. 116 Vgl. Bugenhagen: Van dem Christenloven 1526 (1982); fol. Z1 r° – b3 r°. – Ders.: dass. (1867); S. 240–257. 117 Ders.: dass. (1982); fol. b3 r° – b4 v°. – Ders.: dass. (1867); S. 257–261. 118 Ders.: dass. (1982); fol. b4 v° – c1 v°. – Ders.: dass. (1867); S. 261 f. 113
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Arbeit an den Kirchenordnungen war diese Schrift grundlegend. Besonders auf die hier entfaltete Theologie der Guten Werke ist zurückzukommen.119 c. Drei Stadtordnungen: Braunschweig, Hamburg und Lübeck (1528–1531) Im November jenes Jahres 1525, in dem Bugenhagen am Sendbrief arbeitete120, erließ der Rat der Hansestadt Stralsund eine reformatorische Ordnung, die nach demselben Aufbau konzipiert war: „Van den predigern“ – „Van der schole“ – „Van den gemenen kasten“.121 Verfaßt war sie durch Johannes Aepinus († 1553), der schon in Treptow zu Bugenhagens Schülern gehört hatte. Weil der organisatorische Anhang des Hamburger Sendbriefs jedoch aus den umfänglichen theologischen Ausführungen Bugenhagens resultierte, ja geradezu nur als deren notwendiges Produkt plausibilisiert wurde, während Aepinus ohne theologische Herleitung auskam, steht doch – bei aller gebotenen Vorsicht – zu vermuten, daß Bugenhagens Entwurf die Priorität zukommt. Beide werden sich darüber verständigt haben. Die Stralsunder Ordnung sollte eine jahrelange Phase politischer und religiöser Turbulenzen beenden: 1523 hatte sich eine Bürgeropposition gebildet, die sich aus Protest gegen hohe Steuerbelastung dem Rat gegenübergestellte, deren religiöse Sympathie aber noch bis 1525 „zwischen einem aktiv antireformatorisch auftretenden [Franziskaner‑]Orden und evangelischen Bestrebungen oszillierte“. Erst der aus einem Mißverständnis hervorgebrochene Kirchen-, Kloster‑ und Bildersturm vom 10. April 1525 zwang gleichsam „als Katalysator für die Herstellung neuer Bündnisse“ den Rat zu einer ausgleichenden Ordnung, die nunmehr verbindlich vom Evangelium gestützt werden sollte.122
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Vgl. unten; S. 133 ff. Die Arbeit am Sendbrief begann im Frühjahr 1525 und erstreckte sich bis Anfang 1526 – so rekonstruiert von Ralf Kötter: Johannes Bugenhagens Rechtfertigungslehre und der römische Katholizismus. Studien zum Sendbrief an die Hamburger (1525). Göttingen 1994 (FKDG 59); S. 168–170. 121 Johannes Aepinus: Kirchen‑ und Schulordnung für die Stadt Stralsund vom Jahre 1525, in: EKO 4 (1911), S. 542–545. – Vgl. Anneliese Sprengler-Ruppenthal: Bugenhagen und das protestantische Kirchenrecht, [zuerst 1971], in: dies.: Aufsätze 2004; S. 126, Anm. 17. – Wolf-Dieter Hauschild: Biblische Theologie und kirchliche Praxis. Die Kirchenordnungen 1528–1543 in Bugenhagens Gesamtwerk, in: Kirchenreform als Gottesdienst. Der Reformator Johannes Bugenhagen 1485–1558 (hg. v. Karlheinz Stoll). Hannover 1985, S. 44–91; hier 53 f. 122 Vgl. zu den Vorgängen Werner Trossbach: Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Durchsetzung der Reformation in den Hansestädten Wismar, Rostock und Stralsund, in: Archiv für Reformationsgeschichte 88 (1997), S. 118–165; die Zitate 140 f. – Ferner Norbert Schnitzler: ,Kirchenbruch‘ und ,lose Rotten‘. Gewalt, Recht und Reformation (Stralsund 1525), in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600 (hg. v. Bernhard Jussen u. Craig Koslofsky). Göttingen 1999 (VMPIG 145), S. 285–315. – Roderich Schmidt: Pommern, Cammin, in: Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650 (hg. v. Anton Schindling u. Walter Ziegler). Bd. 2, Münster i. W. 1993 (KLK 50), S. 182–205; hier 190 f. 120
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Auch in Braunschweig, Hamburg und Lübeck trugen Bürgerausschüsse wesentlich zur Festigung und Legalisierung der Reformation bei, nachdem bereits jahrelang evangelisch gepredigt worden war. Gegen die Deutung Bernd Moellers123, wonach die reichsstädtischen Reformationsvorgänge von einer Art Frömmigkeitsgenossenschaft geprägt worden seien, welche die religiöse Neufundierung der spätmittelalterlichen Kirche als gemeinsames Anliegen verfolgt habe, ist seit den siebziger Jahren vor allem das Konfliktpotential solcher bürgerlicher Oppositionsbewegungen hervorgehoben worden, die der Reformation in etlichen Städten erst im weiteren Verlauf der Verhandlungen zum Durchbruch verholfen hätten.124 Ohne die Auseinandersetzung an dieser Stelle vertiefen zu können, sei aber darauf hingewiesen, daß in den genannten drei Städten die Forderung nach einem Gemeinen Kasten und damit nach einer dezidiert evangelischen Fürsorgepolitik stets durch die Bürgerausschüsse an prominenter Stelle erhoben wurde. Wäre es primär um Reduktion der Steuerlast oder um ein Bettelverbot gegangen, so bliebe fraglich, warum die sozialen Anliegen gleichsam als Gewinn für die ganze Stadt, als Wiederherstellung ihres Friedens, so ostentativ mit dem Evangelium begründet wurden. In Braunschweig125 hatten sich nach sehr frühen reformatorischen Bestrebungen von Bürgern und der allmählichen Verbreitung und Akzeptanz evangelischer Predigt bis ins Frühjahr 1528 erste Bürgerversammlungen gebildet, um beim Rat die Anordnung solcher Predigt auf dem Eingabeweg durchzusetzen. Anders als der Landesherr, Herzog Heinrich d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel († 1568), der sich weiter ans Wormser Edikt hielt, machte sich der Rat der autonomen Landstadt die lutherischen Forderungen der Bürger schrittweise zu eigen und legte im März beim Frühjahrsratschlag mit den Gemeinden und Gilden ein eigenes Reformprogramm vor, das in erster Linie der unverfälschten Predigt des Evangeliums galt, dann einer Gottesdienstreform, Einigkeit mit den Religiosen und Geduld mit Schwachgläubigen. Die Bürger stellten aber noch weitergehende Forderungen, wie sich aus den gut dokumentierten Debatten und Antworten ergibt. Bewohner des Weichbilds Hagen formulierten ein ausführliches Reformprogramm, dem sich auch die Altewiek anschloß, und das eröffnet wurde mit dem Wunsch, „nachdem wir uns des Evangeliums rühmen, daß wir auch die Vollbringung desselben vornehmen, nämlich: einen ,gemeinen Kasten‘ ein-
123 Vgl. Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation [zuerst 1962]. Bearbeitete Neuausgabe. Berlin [Ost] 1987. 124 Vgl. Ehrenpreis / Lotz-Heumann 2002; S. 30–35. 125 Vgl. zum folgenden v. a. Klaus Jürgens: Um Gottes Ehre und unser aller Seelen Seligkeit. Die Reformation in der Stadt Braunschweig von den Anfängen bis zur Annahme der Kirchenordnung 1528, in: ders. u. Wolfgang Jünke: Die Geschichte der Reformation in der Stadt Braunschweig. Wolfenbüttel 2003 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig 13), S. 5–82.
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zurichten“126, was vom Rat umgehend gebilligt wurde127. Das Reformprogramm der Hägener sollte zur Grundlage einer umfassenden Neugestaltung im Rahmen einer evangelischen Stadtordnung werden. Im April wurden Ratsdelegierte nach Wittenberg gesandt, um dafür Johannes Bugenhagen zu gewinnen, der am 20. Mai eintraf.128 Dieser konfliktarme Prozeß ist vor allem durch die frühe Ausbildung eines reformatorischen Bewußtseins im Bürgertum zu erklären. Durch intensive Lutherlektüre und eine bibelhumanistisch bestimmte Christusfrömmigkeit schon vorgebildet, hatten sich bedeutende Gruppen gesammelt, die außerhalb der Stadt (z. B. in Lüneburg) das evangelische Abendmahl suchten. So kann die Braunschweiger Reformation wirklich als Ausdruck eines Frömmigkeitswandels gewertet werden, nicht als politisches Ergebnis einer Opposition von Bürgerausschüssen und Rat.129 Auch die einzigartige Anlage der Stadt in fünf Weichbilden, die um Siedlungskerne herum entstanden waren und unter einem gemeinsamen Rat jeweils eigene Verwaltungsorgane hatten130, trug sicher zu Ausgleichsdenken und Stabilität bei. Auch in Hamburg131 stand die Einrichtung eines Gemeinen Kastens an erster Stelle der reformatorischen Agenda – abgesehen davon, daß der eingeladene evangelische Prediger vom Rat nicht geduldet wurde. Die reformatorische Bewegung hatte sich schon so weit entwickelt, daß die Veränderungen ganz aus der Gemeinde heraus unternommen werden konnten, zunächst aus der Nikolaigemeinde. Schon Anfang 1526 wurde ein Gemeiner Kasten gefordert.132 Diese ersten Pläne und Bugenhagens Vorschläge im Sendbrief aufgreifend, installierte man dort im August 1527 eine Gotteskiste und gab dieser Einrichtung eine ausführliche Grundordnung, die auch auf andere Fragen des Gemeindelebens einging.133 Umgehend wurden nach dem Vorbild der Apostel zwölf Diakone ge126
Ebd.; S. 53. Ebd.; S. 58. 128 Vgl. Hans-Günter Leder: „Quackelprediger haben wir genug gehabt …“. Bugenhagen in Braunschweig (Mai bis Oktober 1528), in: ders.: Johannes Bugenhagen Pomeranus 2002, S. 215–253. 129 Siegfried Bräuer: Der Beginn der Reformation in Braunschweig. Historiographische Tradition und Quellenbefund, in: Braunschweigisches Jahrbuch 75 (1994), S. 85–116. 130 Vgl. G[udrun] P[ischke]: Braunschweig um 1200, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235. Katalog zur Ausstellung (hg. v. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff). Bd. 2, Braunschweig 1995, S. 557–559. 131 Grundlegend: Postel 1986. – Vgl. auch Frank Hatje: „Gott zu Ehren, der Armut zum Besten“. Hospital zum Heiligen Geist und Marien-Magdalenen-Kloster in der Geschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Hamburg 2002 [a]; S. 180–213. – Hans-Günter Leder: „Sudatum est“. Bugenhagen in Hamburg (Oktober 1528 bis Juni 1529), in: ders.: Johannes Bugenhagen Pomeranus 2002, S. 255–286. 132 Vgl. Hatje 2002 a; S. 194. 133 Ich benutzte eine Kopie der Handschrift in Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 68; hier Gotteskastenordnung. – Nicht präzis abgedruckt, aber verwendbar ist ferner die *Gottes-Kasten-Ordnung, in: Nicolaus Staphorst: Historia ecclesiæ Hamburgensis diplomatica, das ist: Hamburgische Kirchen-Geschichte aus Glaubwrdigen und mehrentheils noch ungedruckten 127
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wählt, und noch im Dezember schlossen sich die übrigen drei Kirchspiele diesem System an. Die 48 Diakone der Stadt sollten künftig mit 96 weiteren Bürgern dem Rat zur Seite gestellt werden. Dieses Element „bürgerlicher Mitsprache“134 wurde im September noch verstärkt durch die Gründung eines fünften Kastens, der die städtischen Hospitäler integrieren und zentrale Aufgaben der Fürsorge übernehmen sollte, denn ihm waren die drei Ältesten Diakone jedes Kirchspiels zugeordnet und wurden fortan zu Verhandlungsführern gegenüber dem Rat. Auf der Ebene der öffentlichen Fürsorge waren also von den Gemeinden aus schon so weitgehende Tatsachen geschaffen worden, daß der Rat auf Grundlage der Vorgespräche im Februar 1529 den Langen Rezeß verabschiedete, ein neues Stadtrecht mit verfassungsähnlicher Funktion.135 Zur ausgleichenden Ratspolitik gehörte auch die Einladung zu zwei theologischen Disputationen, die die heftigen Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen in geordnete Bahnen lenkten. Schon vor dem Langen Rezeß, im Sommer 1528, konnte man – jetzt vom Rat gestützt und befördert – Johannes Bugenhagen erneut um sein Kommen bitten. Er traf am 8. Oktober aus Braunschweig ein, wo die neue Ordnung kurz zuvor verabschiedet worden war.136 Eine öffentliche Disputation war 1530 in Lübeck137 zwar anberaumt worden, doch waren die Altgläubigen der Einladung nicht gefolgt. Nun berief der Rat die ganze Gemeinde ein. Als oppositioneller Bürgerausschuß gründeten sich die Vierundsechzig, die jetzt auch die Einnahmestelle einer kürzlich eingeführten Sondersteuer, die umstrittene ,Kiste‘, verwalten sollten. Ihren Protest gegen diese Steuer zur Deckung zurückliegender Kriegskosten hatte die Gemeinde 1528 geschickt mit der Forderung nach evangelischer Predigt verknüpft. Hier waren also politische und religiöse Anliegen zu einer oppositionellen Bürgerbewegung verschmolzen, die der religiös unentschlossene Rat entschärfen mußte. Die Einsetzung der Vierundsechzig eröffnete wie auch in anderen Städten jetzt die Möglichkeit, religiöse Fragen von der evangelischen Gemeinde aus zu verhandeln, unabhängig vom Engagement des Domkapitels. Gegen die Drohung des Urkunden […]. Teil 2, Bd. 1, Hamburg: Felginer Witwe 1720, S. 112–123. – Vgl. Postel 1986; S. 276–288. 134 Rainer Postel: Reformation und bürgerliche Mitsprache in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 65 (1979), S. 1–20. – Vgl. zu dieser politischen Dimension der Armenfürsorge Frank Hatje: Kommunalisierung und Kommunalismus. Frühneuzeitliche Armenfürsorge als „Politikum“, in: Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung. Umbrüche und Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert / De l’assistance à l’assurance sociale. Ruptures et continuités du Moyen Age au XXe siècle (hg. v. Hans-Jörg Gilomen, Sébastien Gueux u. Brigitte Studer). Zürich 2002 [b] (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts‑ und Sozialgeschichte 18), S. 73–90. 135 Vgl. C[arl] H. W. Sillem: Die Einführung der Reformation in Hamburg. Hamburg 1886 (SVRG 16); S. VII. – Bernhard Lohse: Hamburg, in: TRE 14 (1985), S. 404–414; hier 406. 136 Vgl. Leder 2002 b; S. 258–260. 137 Vgl. zum folgenden Wolf-Dieter Hauschild: Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten. Lübeck 1981; hier S. 175 f., 182–186.
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Kaisers nach dem Augsburger Reichstag 1530, Rat und Altgläubige militärisch zu unterstützen, organisierte die Gemeinde eine Bürgerwehr an den Toren der Stadt. Im Juli reisten zwei Delegierte der Vierundsechzig zum Reichstag, um vom sächsischen Kurfürsten Bugenhagens erneute Freistellung auszubitten, zu dem sie unterwegs in Wittenberg erste Kontakte geknüpft hatten. Im Oktober, kurz bevor er in Lübeck eintraf, erzwang die Gemeinde weitere Verhandlungen mit dem Rat, basierend auf 26 Artikeln, in denen weitgehende politische Mitbeteiligung der Vierundsechzig und der Kirchgeschworenen, eine evangelische Umgestaltung des Gemeinwesens – und wiederum die Einrichtung von Gotteskästen gefordert wurden.138 Doch eine förmliche Annahme der Artikel erfolgte nicht, denn noch taktierte der Rat hinhaltend, obwohl die Umgestaltung der kirchlichen Verhältnisse – ähnlich wie in Hamburg – bereits von der evangelischen Gemeinde aus in vollem Gange war. So trug der Rat nach Einschätzung Wolf-Dieter Hauschilds „die Schuld daran, daß die anfänglich unpolitische evangelische Bewegung zu einer religiös motivierten politischen Emanzipationsbewegung wurde.“139 In der Folge kam es – anders als in Braunschweig und heftiger als in Hamburg – hier auch zu einschneidenden politischen Veränderungen. Nachdem die Bürger Anfang 1531 eine Annäherung an den Schmalkaldischen Bund erzwungen hatten, flohen heimlich die altgläubigen Bürgermeister Nikolaus Brömse († 1543) und Harmen Plönnies († 1533). Nun schlossen die Bürger die Tore und stellten die restlichen Ratsherren unter Hausarrest, bis im April die Zahl der Ratssitze zu ihren Gunsten erweitert war. Damit konnten evangelische, zuvor nicht ratsfähige Bürger nun auch direkt auf den Fortgang der Dinge einwirken. Dieser neue Rat verabschiedete einen Monat später Bugenhagens fertig ausgearbeitete Kirchenordnung. Ironischerweise führte das Regiment des 1533 gewählten evangelischen Bürgermeisters Jürgen Wullenwever († 1537) nur wenig später dazu, daß weite Teile der Kirchenordnung, besonders ihre politischen Anteile, aber auch die Bestimmungen zur öffentlichen Fürsorge, in ihrer Wirkung drastisch ausgebremst wurden, denn Wullenwever trat sogleich in einen überaus riskanten Seekrieg gegen Dänemark ein, den er vorrangig aus Kirchengut finanzierte. Der Krieg ging verloren, Brömse kehrte als Bürgermeister zurück, und die alte Ratsverfassung wurde wiederhergestellt. Eine Rückkehr zur alten Kirche war freilich ausgeschlossen, doch nahm der Rat jetzt faktisch das Kirchenregiment an sich, um Radikalisierungen fortan zu vermeiden. Die Kirchenordnung blieb seit 1535 nur in stark reduzierter Form gültig. Trotz der unterschiedlichen Heftigkeit und politischen Tragweite dieser drei Gemeindereformationen war deren Struktur doch ähnlich – sowohl was die Initiative der evangelisch vorgebildeten Bürger, ihr Beharrungs‑ und Durch138 Vgl. ferner Wilhelm Jannasch: Reformationsgeschichte Lübecks vom Petersablaß bis zum Augsburger Reichstag 1515–1530. Mit neun Abbildungen. Lübeck 1958 (VGHL 16); S. 338 f. 139 Hauschild 1981; S. 186.
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setzungsvermögen gegenüber den hergebrachten Kräften betraf, als auch hinsichtlich der Ausführung der drei Stadtordnungen, die nun durch Bugenhagen erarbeitet wurden. Die Braunschweiger Ordnung gab sich im Titel expressis verbis als „Der Erbarn Stadt Brunswig Christlike ordeninge / to dnste dem hilgen Euangelio / Christliker lue / tucht / frde vnde eynicheit“140, entsprechend auch die Lübecker Ordnung – weshalb hier und im folgenden auch nicht von Braunschweiger oder Lübecker Kirchenordnung die Rede sein wird. In jedem Fall waren die geforderten Veränderungen schon Jahre vor den kodifizierten Ordnungen als Folgen des recht verstandenen Evangeliums von den reformatorisch informierten Kirchengemeinden aus auf das gesamte christliche Gemeinwesen gerichtet, in jedem Fall dann durch die Stadtordnungen eine „Reformation der Kirche und der Gesellschaft auf kommunaler, gemeindlicher Grundlage“ erreicht worden.141 In keinem Fall hingegen hat der Rat als Obrigkeit selbst die Initiative ergriffen und sich das kirchliche Leben zu eigen gemacht. Die politischen Organe haben aber von einem gewissen Zeitpunkt an die reformatorische Bewegung legalisiert und sie juristisch, organisatorisch und auch theologisch getragen, sie also zur Angelegenheit der ganzen Stadt gemacht. So kann hier wirklich von Gemeindereformationen gesprochen werden. Von Bugenhagens Aufenthalten in den drei Städten, von seiner Arbeit vor Ort, die stets von Gastprädikaturen begleitet war, von den Verhandlungs‑ und Beschlußverfahren braucht an dieser Stelle nicht gesprochen zu werden. HansGünter Leder hat besonders am Braunschweiger Beispiel, für das ein Reisetagebuch des Reformators vorliegt, ein anschauliches Bild von dessen Arbeitsalltag zeichnen können.142 In allen drei Städten konnte Bugenhagen auf die bestehenden Forderungskataloge aufbauen und paßte die Ordnungen an örtliche Gegebenheiten an, legte ihnen jedoch ein gemeinsames Muster zugrunde. Das dreiteilige Konzept aus dem Hamburger Sendbrief blieb in veränderter Reihenfolge erhalten: Schulordnung – Dienstordnung der Prediger – Kastenordnung. Bemerkenswert ist, daß in Braunschweig die Taufe und das Hebammenwesen noch vor den Schulen behandelt wurden, gleich an erster Stelle nach der Einleitung – ein deutliches Signal gegen die radikalen Täufer.143 In Lübeck verband Bugenhagen 140 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 2. – Übertragung: ,Der ehrbaren Stadt Braunschweig christliche Ordnung zum Dienst am heiligen Evangelium, an christlicher Liebe, Zucht, Frieden und Eintracht.‘ – Ähnlich ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); Abb. 1. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 1. – Erst die späteren Ordnungen heißen ,Kirchenordnung‘: Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 79. – DänischNorwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 3. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 1. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 829. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 22. 141 Vgl. soweit Peter Blickle: Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil. München 1985; bes. S. 110–114, das Zitat S. 112. 142 Vgl. Leder 2002 a. – Für Hamburg vgl. ders. 2002 b. 143 Vgl. Yvonne Brunk: Die Tauftheologie Johannes Bugenhagens. Untersuchung zur Tauftheologie Johannes Bugenhagens anhand ausgewählter Druckschriften ab 1525. Hannover 2003
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ferner das Singen und Lesen der Schulkinder in den Gottesdiensten und gleich darauf die Meßordnung thematisch mit dem Schulwesen. Als zweiter Block war eine ausführliche Dienstbeschreibung der Prediger und Superintendenten (oder ‑attendenten) gegeben: Hier stand an erster Stelle die Predigt als Lehramt, besonders unterschieden nach Wochentagen und Festzeiten im Jahr, dann folgten erst in Lübeck die Taufanweisungen, in Braunschweig und Hamburg Beichte und Abendmahl, gemeinsam der Besuch bei Armen und Kranken, die Aufsicht über Ehefragen, die Anwendung des Banns, Fragen der Weihe, der Besuch bei Missetätern und für Hamburg schließlich an dieser Stelle die Taufordnung. Zur Dienstordnung gehörten ferner Besoldungsfragen, der Status der Küster, Organisten und Hebammen als Gemeindeämter, der Umgang mit Bildern und mit dem traditionellen Geläut für Verstorbene. In Braunschweig und Hamburg schlossen sich dann das Singen und Lesen der Kinder in den Gottesdiensten und eine ausführliche Meßordnung an. Im dritten Teil, der Kastenordnung, war nach einem Gemeinen Kasten, der ausschließlich der Armen‑ und Krankenfürsorge vorbehalten war, und einem Schatzkasten unterschieden, aus dem die laufenden Kosten der Kirchengemeinde, besonders die Personalausgaben und die Kirchenfabrik, bezahlt werden sollten. Beiden Kästen waren detaillierte Anweisungen für die Diakone beigegeben, die zum Teil verfassungsartigen Charakter bekamen. Alle diese Themen stellen sich als unmittelbare oder mittelbare Resultate theologischer Arbeit dar. Dies hat insbesondere Wolf-Dieter Hauschild an Bugenhagens theologischer Entwicklung und an seiner exegetischen Fundierung der Notwendigkeit sowohl von Kirchenverfassung schlechthin wie auch ihrer einzelnen Ordnungsartikel ausführlich dargelegt.144 Sprachlich und argumentativ mehr der Predigt verwandt als dem Gesetz, lehren Bugenhagens Kirchenordnungen, daß christliche Existenz mit der Annahme von Gottes erlösendem Wort eine grundsätzliche Wende erfährt, die zweifellos zu Früchten des Glaubens, mithin zu Nächsten‑ und Feindesliebe, bürgerlicher Solidarität und sozialer Gerechtigkeit führen kann, ganz abgesehen davon, daß einem funktionierendem gottesdienstlichen Gemeindeleben viel zugetraut wird.145 Deshalb heißt jeder dieser Texte „Christlike Ordeninge“146, bestimmt für eine Stadt, und dies konnte aus (Reformation und Neuzeit 1); S. 49–55. Angesichts der Tatsache, daß 1528–1529 rund 40 %, zwischen 1527 und 1530 gar 80 % aller Täuferhinrichtungen der Reformationszeit stattfanden (vgl. ebd.; S. 52), ist nicht fraglich, warum sich Bugenhagen in Braunschweig mit einer besonders exponierten Stellung der Taufpassage gegen diese Gruppierungen richtete. Auffällig ist doch vielmehr, daß diese Betonung in den späteren Ordnungen dann wieder aufgegeben wurde. – Vgl. ferner Hauschild 1985; S. 76–79. 144 Vgl. Hauschild 1985. 145 Vgl. zusätzlich ders.: Reformation als Veränderung christlicher und bürgerlicher Existenz bei Johannes Bugenhagen, in: Zwischen Renaissance und Aufklärung. Beiträge der interdisziplinären Arbeitsgruppe Frühe Neuzeit der Universität Osnabrück/Vechta. (hg. v. Klaus Garber u. Wilfried Kürschner). Amsterdam 1988 [a] (Chloe 8), S. 49–71. 146 So etwa Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 1. – Vgl. Hauschild 1985; S. 49.
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Bugenhagens Sicht nur das ganze christliche Gemeinwesen sein, ohne zwischen Kommunal‑ und Kirchengemeinde zu trennen.147 Mit besonderem Blick auf die Guten Werke und ihre Motivation aus dem Evangelium wird uns die Theologie Bugenhagens noch ausführlich beschäftigen. Noch 1531 ließ Bugenhagen in Wittenberg ein Kompendium drucken, das er unter dem Titel Von mancherley christlichen sachen trstliche leren aus den drei Stadtordnungen zusammengestellt hatte. Es waren solche Abschnitte ausgewählt, die „keiner Stadt jnn sonderheit zukomen / sondern allen Christen jnn der gemeine / Darumb sie auch allen leuten werden hierinn furgelegt.“148 Das aus der Theologie des Hamburger Sendbriefs gewachsene Ordnungskonzept, das in den drei Städten Braunschweig, Hamburg und Lübeck Gestalt gewonnen hatte, wurde mithin schon jetzt von seinem Verfasser selbst als modellhaft eingeschätzt und anderen zur Nachahmung empfohlen. Als er wenige Jahre später in Kopenhagen die Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz in ihre endgültige Form brachte, bearbeitete er damit tatsächlich eine Textvorlage, die dänische Theologen wohl im wesentlichen anhand dieses Kompendiums verfaßt hatten.149 d. Bugenhagens erste Territorialkirchenordnung: Herzogtum Pommern (1535) Die Pommersche Kirchenordnung von 1535 unterschied sich in Anspruch und Aufbau signifikant von den ersten drei Stadtordnungen, die relativ homogen waren. Hier war ein weitläufiges Territorium zu bedenken, dessen reformatorische Vorgeschichte auch grundsätzlich anders verlaufen war als in den Städten.150 Unter der fast fünfzigjährigen Regierung Herzog Bogislaws X. (1474–1523) war das Land seit 1478 wieder in einer Hand vereinigt und entwickelte fortan ein hohes territorialstaatliches Selbstbewußtsein, das auf Gleichrangigkeit mit den übrigen deutschen Fürstentümern zielte. Der vergleichsweise frühe Ausbau einer landesherrlichen Kirchenpolitik in diesem Rahmen wurde durch den Umstand erleichtert, daß das exemte Pommersche Bistum, wie es zunächst hieß (später Bistum Kammin), in weiten Zügen der Ausdehnung des Landes entsprach, innerhalb 147 Vgl. etwa ders. 1988 a; bes. S. 68 f. – Gerhard Müller: Anwalt der Schwachen. Bugenhagens Bedeutung für die evangelische Kirchenrechtsbildung, in: Lutherische Monatshefte 7 (1986), S. 312–314; hier 314. 148 * Johannes Bugenhagen: Von mancherley christlichen sachen / trstliche leren / sonderlich von beiden Sacramenten nemlich der Tauffe / vnd des leibs vnn bluts Jhesu Christi / wider die jrrigen Secten / gezogen aus der Lbeker / Hamborger vnd Brunswiger Ordenunge. Wittenberg: Lufft 1531; hier fol. [A1]v°. – Dies wird die editio princeps sein, nicht der niederdeutsche Druck desselben Jahres; vgl. Geisenhof 1908; S. 305. 149 Vgl. Ernst Michelsen: Einleitung, in: Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542, Bd. 1 (1909); S. 99. 150 Vgl. zum folgenden Norbert Buske: Die Reformation im Herzogtum Pommern unter besonderer Berücksichtigung der Gebiete der späteren Superintendentur Greifswald, in: ders. u. Hans-Günter Leder: Reform und Ordnung aus dem Wort. Johannes Bugenhagen und die Reformation im Herzogtum Pommern. Berlin [Ost] 1985, S. 46–133. – Schmidt 1993.
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dessen das bischöfliche Stiftsgebiet nahezu wie ein Vasallenstaat behandelt werden konnte, bis in die Besetzung des Bischofsstuhls hinein. Dieser landesherrliche Anspruch wird exemplarisch auch daran sichtbar, daß Bogislaw das Prämonstratenserkloster Belbuck, das schon seit 1502 unter seiner Schirmherrschaft stand, im Dezember 1521 kurzerhand der herzoglichen Vermögensverwaltung unterstellte, als es dort erste reformatorische Predigten mit anschließenden Festnahmen gegeben hatte. Dieser Akt ist als „Säkularisierung“151 im materiellen Interesse nicht ausreichend erklärt, sondern geschah sicher „auch, um geordnete Zustände, da wo sie gefährdet erschienen, herbeizuführen.“152 Erste Auflösungserscheinungen waren ja schon zu erkennen. Im Frühjahr hatte bereits der Lehrer Johannes Bugenhagen das Lektorium verlassen, und weitere folgten ihm. Doch zunächst blieb die reformatorische Bewegung in den Städten ohne größere Konsequenzen für das Land, obwohl sie erhebliche Unruhe verursachte. Erst zwei Jahre nach der erneuten Landesteilung von 1532 verständigten sich die Herzöge Barnim IX. († 1569), der in Wittenberg studiert und der Leipziger Disputation beigewohnt hatte, und sein Neffe Philipp I. († 1560), auf einem Landtag im Dezember 1534 die Religionsfrage zu beraten. Für diesen Landtag zu Treptow an der Rega wurde neben prominenten Theologen des Landes auch Johannes Bugenhagen aus Wittenberg gerufen. Als Ergebnis der Vorverhandlungen wurde ein theologisches Gutachten vorgelegt, in dem bereits die wichtigsten Punkte einer reformatorischen Neuordnung benannt wurden, und das später irreführend als Avescheit (Abschied) bezeichnet wurde. Es lieferte unter anderem Begründungen für ein landesherrliches Vorgehen in Kirchenfragen, insbesondere für die herzogliche Verwaltung des Klostergutes, doch rechnete man ernsthaft noch bis April damit, daß der Kamminer Bischof Erasmus von Manteuffel († 1544) die geistliche Aufsicht der neuen Landeskirche übernehmen könnte. Zwar fand er sich bereit, den evangelischen Glauben zu dulden, wollte aber nicht auf seinen weltlichen Herrschaftsanspruch verzichten. Die Herzöge eröffneten den Landtag mit der Erklärung, die Reformation einführen zu wollen, wogegen die Stände unter Hinweis auf geltendes Reichsrecht zunächst noch protestierten. Sie willigten später in die Beseitigung aller Mißbräuche ein und erwarteten im übrigen die weiteren Verhandlungen. Diese platzten aber, als es wegen der geplanten Sequestration der Landklöster, die zu Versorgungsanstalten für unverheiratete Töchter der Adelsfamilien geworden waren, zu einem Eklat der Ritterschaft kam. Ein gültiger Landtagsabschied setzte freilich Beschlußfähigkeit voraus. Dennoch wurde die wichtigste der getroffenen Vereinbarungen, daß nämlich Bugenhagen eine Kirchenordnung ausarbeiten solle, prompt ins Werk gesetzt. Diese wurde später auch als „Treptowische Kirchenordnung“ bezeich151 Buske 1985; S. 60. – Freilich ließen die Herzöge Georg I. und Barnim IX . später die Klostergüter im Land inventarisieren und in Sicherheit bringen, wie es hieß, um sie bei der Landesteilung 1532 unter sich aufzuteilen. Vgl. Schmidt 1993; S. 192 f. 152 Schmidt 1993; S. 187.
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net, ganz als wäre sie vom Landtag verabschiedet worden. Sie erschien Anfang 1535. Der Erwartung, daß die evangelische Landeskirche auf das Kamminer Bistum gegründet sein könnte, entsprach der Titel der Kercken Ordeninge des gantzen Pamerlandes: Nicht eine christliche Landesverordnung war geplant, analog zu den ersten drei Stadtordnungen, sondern eine Kirchenordnung. Doch Manteuffel blieb bei einer stillschweigenden Duldung, lehnte indes einen Übertritt strikt ab. Als er 1544 starb, trug man Bugenhagen das Bischofsamt an, der aber in Wittenberg bleiben wollte. Die Kirchenordnung hatte drei Teile und einen Anhang: Eröffnet wurde sie nicht mehr von der Schulordnung, sondern von den Dienstbestimmungen für die Prediger. Das weist auf den beabsichtigten Gebrauch der Ordnung bei den Visitationen hin. Dieser erste Teil schloß Ausführungen zur rechten Lehre und Sakramentsverwaltung, zu den Predigten, zu Taufe, Abendmahl und Beichte, zur Anwendung des Bannes, zur Trauung und zu den Ehesachen ein, bevor in der zweiten Hälfte desselben Teils zu dem Ämtern übergegangen wurde, zuerst des Superattendenten und der Examinatoren, später auch der Visitatoren und Exekutoren. Dazwischen war jetzt ein Block über das neuzuordnende Schulwesen eingeschoben. – Der zweite Teil der Ordnung galt der Finanzverwaltung. Auch hier war zwischen Gemeinen Kästen und Schatzkästen unterschieden, für die jeweils eigene Diakone zuständig sein sollten. – Als dritter Teil schließlich waren Anweisungen für die Zeremonien gegeben: Messe, Abendmahl, Krankenabendmahl, Begräbnis und die Reduktion der Festtage. Dieser gedrucken Ordnung folgte mit halbjährigem Abstand Bugenhagens Pia et vere catholica ordinatio, eine neue Zeremonialordnung für Mönche und Kanoniker, die ursprünglich als Anhang konzipiert und auf dem letzten Druckbogen auch so angekündigt war. An ihr sollten sich diejenigen Klosterleute orientieren, die sich zum Bleiben entschlossen hatten.153 Selbst wenn dieser Anhang hinzugerechnet wird, bleibt die Pommersche Kirchenordnung ihrem Umfang nach weit unter der Hälfte der Braunschweiger Ordnung. Im weitläufigen Territorium konnten selbstredend viele Bestimmungen nicht so präzis geregelt, geschweige denn an lokale Gegebenheiten angepaßt werden. So waren die unterschiedlichen Entwicklungen, die die reformatorische Bewegung in den Städten gemacht hatte, unberücksichtigt geblieben. Dennoch war die Pommersche Kirchenordnung mehr als bloße Absichtserklärung der Herzöge. Dies zeigt erstens der exponierte Stellenwert der Pfarrordnung, die hier ganz am Anfang stand und bei den Visitationen als Rechtsgrundlage für die weitere Ordnung der Gemeinden dienen konnte, indem die Ortspfarrer hierfür in die Pflicht genommen wurden. Zweitens wird der verbindliche Charakter 153 Vgl. Johann Bugenhagens Gottesdienstordnung für die Klöster und Stifte in Pommern 1535 (Pia ordinatio caeremoniarum) (hg. v. Alfred Uckeley), in: Archiv für Reformationsgeschichte 5 (1907–1908), S. (113–)132–170. – Ders.: Pia et vere catholica et consentiens veteri ecclesiae ordinatio caeremoniarum in ecclesiis Pomeraniae. 1535, in: EKO 4 (1911), S. 344– 353.
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der landesweiten Kirchenordnung durch die besonders ausgeführte Ämterstruktur augenfällig. Nach der Reformation spannte sich bald ein Netz von Superintendenturen, vorgesetzten Generalsuperintendenturen und für die Gerichtsbarkeit zuständigen Konsistorien über das Land.154 Am Beispiel der öffentlichen Fürsorge wird sich trefflich zeigen, daß die relativ unspezifischen Vorgaben der Kirchenordnung sich doch als Richtlinie für die organisatorischen Aufgaben vor Ort eigneten. e. Ein Universalmodell für Reich, Territorium und Stadt (1537–1543) Wieder anders verlief die Entwicklung in Dänemark-Norwegen und SchleswigHolstein.155 Trotz früher evangelischer Predigt und einem jahrzehntelang zunehmenden Nebeneinander von altem und neuem Glauben, das besonders durch den toleranten König Friedrich I. († 1533) befördert worden war, ist die Reformation in diesen Gebieten doch als echte Fürstenreformation zu bezeichnen, die durch einen einzelnen Herrscher auf der Grundlage persönlicher Glaubensüberzeugung für sein gesamtes Herrschaftsgebiet auf administrativem Wege durchgeführt wurde. Dieser Herrscher war König Christian III. († 1559) von Dänemark-Norwegen, zugleich Herzog von Schleswig und Holstein. In Worms hatte Luther 1521 großen Eindruck auf den jungen Prinzen gemacht, der ein „Lutheraner aus Überzeugung“ wurde, wie Martin Schwarz Lausten ihn charakterisiert hat, „ein typischer bibelgebundener fürstlicher Laientheologe, ein Betfürst.“156 Ab 1524 hatte Friedrich seinem Sohn die südjütischen Ämter Hadersleben und Törninglehn als Krongut übertragen.157 Hier leitete Christian wie an einem Modell sehr rasch eine entschieden reformatorische Politik ein, die zunächst in der Auseinandersetzung mit dem zuständigen Ripener Bischof, dann in einer gezielten 154 Vgl. Norbert Buske: Kirchenorganisation und Bekenntnisstand nach der Reformation in Mecklenburg und Pommern, in: Historischer und geographischer Atlas von Mecklenburg und Pommern (hg. v. Werner Buchholz u. a.). Bd. 2, Schwerin 1996, Karte 8. 155 Vgl. zum folgenden Wolfgang Seegrün: Schleswig-Holstein, in: Territorien 2 (31993), S. 140–164. – Jens E. Olesen: Dänemark, Norwegen und Island, in: Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Nordische Königreiche und Konfession 1500 bis 1660 (hg. v. Matthias Asche u. Anton Schindling). Münster 2003 (KLK 62), S. 27–106. – Tim Lorentzen: Johannes Bugenhagen und die Kirchenordnung König Christians III., in: Christentum zwischen Nord‑ und Ostsee. Eine kleine ökumenische Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins (hg. v. Martin Lätzel u. Joachim Liß-Walther). Bremen 2004, S. 65–78 und die dort angeführte Literatur. 156 Martin Schwarz Lausten: Weltliche Obrigkeit und Kirche bei König Christian III . von Dänemark (1536–1559), in: Die dänische Reformation vor ihrem internationalen Hintergrund. The Danish Reformation against its International Background (hg. v. dems. u. Kai Hørby). Göttingen 1990 (FKDG 46), S. 91–107; hier 96 f. u. 106. – Vgl. ferner ders.: König und Kirche. Über das Verhältnis der weltlichen Obrigkeit zur Kirche bei Johann Bugenhagen und König Christian III. von Dänemark, in: Johannes Bugenhagen 1984, S. 144–167. 157 Vgl. Erich Hoffmann: Spätmittelalter und Reformationszeit, in: Geschichte SchleswigHolsteins (hg. v. Olaf Klose). Bd. 4/2, Neumünster 1990; S. 415.
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Personalpolitik, hauptsächlich aber in einem ersten Kirchenordnungswerk ihren Ausdruck fand, den 22 Haderslebener Artikeln von 1528, mit denen die Geistlichen seines Herrschaftsbereichs auf einheitliche lutherische Abendmahlspraxis und verbindliche Formulare für Taufe, Ehe und Krankenabendmahl eingeschworen, eine Reduktion der Feiertage, die Ausbildung der Küster, Schulbesuch und Fortbildung wie auch die Rolle der Superintendenten vereinbart wurden, die als unmittelbare Vertreter des Königs die Aufsicht über das Kirchenwesen führen sollten.158 Nach Friedrichs Tod 1533 brauchte Christian drei Jahre, um sich in blutigen Fehden die Krone zu sichern. Die Bischöfe hatten seine Wahl jedoch nicht unterstützt und verweigerten ihm auch eine Beteiligung an den hohen Kriegskosten; so ließ Christian sie am Rande des Kopenhagener Reichstags im August 1536 kurzerhand gefangensetzen, um sie zum Rücktritt zu zwingen. An ihre Stelle sollten evangelische Superintendenten als geistliche Beamte treten – ganz nach dem von Hadersleben aus erprobten Modell. Die bischöflichen Güter wurden der Krone einverleibt. Luther und Bugenhagen waren von Christian sofort über den Gang der Dinge informiert worden. Sie gratulierten zwar, warnten aber auch deutlich vor einer Entfremdung des Kirchenguts, wie auch schon früher Landgraf Philipp von Hessen († 1567), Christians Freund aus Jugendtagen, zu bedenken gegeben hatte.159 Die reformatorische Umgestaltung in den Reichen und Herzogtümern bedurfte jetzt einer tragfähigen Ordnung. Daher bat der König gleich nach seiner Aktion gegen die Bischöfe bei Kurfürst Johann Friedrich um die Entsendung Melanchthons oder Bugenhagens, den er 1529 bei der Flensburger Disputation gegen Melchior Hoffmann († 1543) kennengelernt hatte.160 Als der Kurfürst ablehnte, wurde auf dessen Rat hin zunächst eine Gruppe dänischer Theologen mit der Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragt, der dann von den Wittenbergern begutachtet werden könnte.161 Dieses Konzept, bei einer Synode in Odense begonnen, zu der neben 19 evangelischen auch elf altgläubige Delegierte geladen waren, dann in Hadersleben mit sieben weiteren evangelischen Predigern aus dem Herzogtum Schleswig vollendet, war an Wittenberger Vorlagen, etwa am kursächsischen Unterricht der Visitatoren, an Bugenhagens Kompendium Van 158 Vgl. Die Haderslebener Artikel von 1528 (hg. v. Walter Göbell u. Annemarie Hübner), in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte II, 39 f. (1983 f.), S. 9–61 u. 11 Tafeln. 159 Vgl. Martin Luther an König Christian III . von Dänemark. (Wittenberg,) 2. Dezember 1536, in: WA.Br 7 (1937), Nr. 3112. – Bugenhagen: Briefwechsel (1966); Nr. 60. – Wilhelm Jensen: Herzog Christian von Schleswig-Holstein und Landgraf Philipp von Hessen. Zur Geschichte der Reformation in Schleswig-Holstein, in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte II, 10/2 (1950), S. 8–19; bes. 12–15. 160 Vgl. Klaus Deppermann: Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation. Göttingen 1979; hier S. 109–116. 161 Vgl. zu den im folgenden nur skizzierten Vorgängen, speziell zu den Verfassern und zum redaktionellen Verfahren, im einzelnen Michelsen 1909; hier S. 55–70. – Martin Schwarz Lausten: Inledning, in: Kirkeordinansen 1537/39 (1989), S. 9–37; hier 15–22.
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menigherleie christliken saken, an Luthers liturgischen Schriften, aber ebenso an dänischen Quellen wie vor allem den Haderslebener Artikeln orientiert, die Vorlagen jedoch in charakteristischer Weise an skandinavische Traditionen angepaßt, wie sich am Beispiel der Fürsorge deutlich zeigen wird.162 Im April wurde der fertige Entwurf zur Begutachtung nach Wittenberg gesandt und dort gebilligt; auch konnte jetzt Bugenhagen für die Arbeit am Königshof beurlaubt werden. Zwei Jahre, von 1537 bis 1539, stand er im Dienst Christians III., den er noch im Sommer 1537 nach einem eigenen evangelischen Ritual krönte.163 In den ersten Wochen seines Aufenthalts sah Bugenhagen den lateinischen Entwurf zur Kirchenordinanz durch. Seine Streichungen, Ergänzungen und Korrekturen übersetzte man und trug sie in ein dänisches Exemplar des Entwurfs ein, das als Beschlußvorlage im Reichsrat diente. Dieser Redaktion muß eine weitere durch Bugenhagen gefolgt sein, deren Text von der gedruckten Ordinanz repräsentiert wird. „Man sihet wol darinnen“, so beurteilte er selbst das Ergebnis, „das wir so oft hinzuflicketen, doch ist sie gut und recht und sol so bleiben, Got sei gelobt in ewigkeit.“164 Ohne das ganze Werk für sich zu beanspruchen, schätzte er demnach seinen eigenen Anteil selbst als redaktionellen Sekundärbeitrag ein. Die fertige Ordinatio ecclesiastica regnorum Daniae et Norwegiae et ducatuum Slesvicensis, Holtsatiae etc. etc. wurde am 2. September 1537, dem Tag der Superintendentenordination, von Christian III. unterzeichnet. Eine dänische Übersetzung wurde 1539 vom Reichsrat als Gesetz verabschiedet.165 Für die Durchsetzung in den Herzogtümern jedoch waren längere Verhandlungen nötig, vor allem mit der Ritterschaft, und im Frühjahr 1542 konnte Bugenhagen auf mehrfache Bitte des Königs hin noch einmal zur Bearbeitung der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung gewonnen werden. Wohl auf Schloß Gottorf übersetzte er die lateinische Ordinanz ins Niederdeutsche und modifizierte nochmals etliche Passagen. Diese Ordnung wurde am 9. März 1542 vom Landtag zu Rendsburg verabschiedet.166 162
Vgl. etwa unten; S. 291 ff. Zu Bugenhagens vielfältigen Aufgaben in Dänemark vgl. insbesondere Hans-Günter Leder: Bugenhagens reformatorisches Wirken in Dänemark [zuerst 1991], in: ders.: Johannes Bugenhagen Pomeranus 2002, S. 357–408. – Über seine bemerkenswerte Beziehung zum dänischen König vgl. ders.: Bugenhagen und König Christian III. von Dänemark – Anmerkungen zu ihren Briefwechsel [zuerst 1992], ebd. S. 409–430. – Ferner Friedrich Bertheau: Bugenhagen’s Beziehungen zu Schleswig-Holstein und Dänemark [zuerst 1885], in: Wirkungen der deutschen Reformation bis 1555 (hg. v. Walther Hubatsch). Darmstadt 1967, S. 484–495. 164 Bugenhagen: Briefwechsel (1966); Nr. 68, S. 165. 165 Vgl. Den danske kirkeordinans, 1539 („Den rette ordinants“), in: Kirkeordinansen 1537/39 (1989), S. 150–244. 166 Vgl. neben der bereits genannten Literatur Wilhelm Jensen: Der Abschluß der Reformation in Schleswig-Holstein. Zur Annahme der schleswig-holsteinischen Kirchenordnung vom 9. März 1542 auf dem Landtage in Rendsburg, in: Zeitschrift der Gesellschaft für SchleswigHolsteinische Geschichte 70 f. (1943), S. 189–223. – Erich Hoffmann: Der Sieg der Reformation in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, in: Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte (hg. v. Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte). Bd. 3, Neumünster 1982 (SVSHKG I,28), S. 115–183. 163
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In Norwegen kam die politische Realisation der Kirchenordnung durch Superintendenten nur schleppend voran, auf Island wurde sie durch Bischof Gizur Einarsson († 1548) zwar übersetzt, scheiterte aber zunächst am Widerstand der Bevölkerung und wurde erst 1552 nach der Hinrichtung des katholischen Bischofs Jón Arason († 1550) auch in dessen Diözese angenommen, doch zog sich die konfessionelle Ablehnung, die in erster Linie der dänischen Herrschaft galt, noch weit bis ins 17. Jahrhundert hinein.167 Daß diese Texte so langwierige Redaktionsverfahren hinter sich hatten, ist schon an ihrem Aufbau abzulesen: Zwar werden gleich zu Beginn der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung168 sechs Hauptaufgaben angekündigt, die es zu ordnen gelte – erstens rechte Lehre, Sakramentsverwaltung und Katechismusauslegung bei den neuzuwählenden Pastoren, zweitens das Schulwesen, drittens einheitliche Zeremonien, viertens die Einrichtung von Gemeindekassen zum Unterhalt des Personals und zur Armendiakonie, fünftens eine umsichtige Kirchenleitung und sechstens schließlich ein Kanon rechtschaffener Literatur. Das gibt aber nicht die tatsächlich realisierte Reihenfolge wieder. Im Gegenteil, gemessen an Bugenhagens dreiteiligem Modell für die Hansestädte, das eine Dienstordnung für die Prediger, eine Schulordnung und eine Kastenordnung unterschied, muß sogar zunächst von einer Reduktion auf zwei Teile gesprochen werden, weil die Ordnung des Gemeinen Kastens hier – entgegen der Ankündigung – keinen eigenen Status neben den übrigen Themen beanspruchen kann. Zum ersten Aspekt, der Dienstordnung, gehören zunächst die Lehre (unterteilt in Predigt – Sakramentsverständnis – Katechismus), dann die Zeremonien, besonders eine Meßordnung, eine Predigtordnung, Formulare für Taufe, Beichte und Abendmahl, Trauung, Ordination und Anwendung des Banns. Dann wird in einem eigenen, geschlossenen Abschnitt von diakonischen Aspekten des Pfarrberufs gehandelt: vom Besuch bei Armen, Kranken und Missetätern, vom Begräbnis und vom Dienst der Hebammen wie auch von Unterweisung der Wöchnerinnen. Hier ist der systematische Anlaß, zum zweiten Teil, zur Schulordnung überzugehen, die in besonders ausführlicher Weise den geplanten Lateinschulen in den Städten gewidmet ist, bis hin zu detaillierten Lehrplänen. Dann folgen mit dem Gemeinen Kasten und den Hospitälern wieder zwei Aspekte der öffentlichen Fürsorge, die hier jedoch ihren Ort haben, weil sie nicht in den Zuständigkeitsbereich der Pfarrer hineingehören. Dieser zweite Teil wird abgeschlossen von einer Liste geeigneter Literatur, die in den Pfarrbibliotheken vorhanden sein sollte. Als dritter Teil kann – von speziellen Ausführungsbestimmungen und Ergänzungen für Norwegen (1537) bzw. für die Schleswiger Lateinschule (1542) abgesehen – jene Pia ordinatio betrachtet werden, die für das pommersche Klosterpersonal entstanden und nun beiden Ordnungen
167 168
Vgl. Olesen 2003; S. 71–75. Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 28 f.
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als geradezu integrativer Bestandteil eingefügt war – denn erst hiernach folgten weitere Ausführungs‑ und Schlußbestimmungen des Königs und Herzogs. Als letzten Beitrag hatte Bugenhagen schon 1537 in Christians Namen den sogenannten Königsbrief verfaßt, der als Vorrede der lateinischen Kirchenordinanz vorangestellt und dann auch in der niederdeutschen Kirchenordnung enthalten war. „Duplex est hic ordinatio“169, heißt es darin, diese Ordnung ist zweifacher Art: Sie enthält göttliches und menschliches Recht. Ihr göttlicher Charakter fordert, daß das Wort Gottes rein und lauter gepredigt, die Sakramente in der rechten Weise gespendet, daß die Getauften christlich unterwiesen und daß für Unterhalt des Personals und der Armen gesorgt werde. Somit folgt der König hier nur der Anordnung Gottes. Diese „ordinatio divina“ ist ewig und unveränderlich. Doch „altera autem ordinatio hic nostra etiam dici potest“170, die andere Ordnung kann auch ,unsere‘ genannt werden. Diese königliche Ordnung umfaßt alle Bestimmungen, die im Dienst der göttlichen erlassen sind, aber keinen autonomen Status beanspruchen können, wie personen-, zeit‑ und ortsbezogene. Sie bleibt daher grundsätzlich variabel. Beide Dimensionen, göttliche und königliche Ordnung, durchziehen die Theorie dieser Kirchenordinanz gleichsam in Längsrichtung und kreuzen so ihre sechs Hauptangelegenheiten Lehre, Schulwesen, Zeremonien, Finanzen, Kirchenleitung und Buchbestand. Zugleich entspricht das Konzept einer „duplex ordinatio“ dem für Bugenhagen so typischen Grundzug, daß Kirchenordnung stets unmittelbar aus dem Evangelium hervorgeht. Die sichtbare Kirche ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck und Wirkung von Gottes Wort in der Welt, dem sie zugleich mit ihrer veränderlichen Ordnung zu dienen hat. Dagegen darf die zweifache Ordnung nicht so mißverstanden werden, als könne sie über das Verhältnis von König oder gar ,Staat‘ (unter königlichem Recht) und ,Kirche‘ (unter göttlichem Recht) Auskunft geben.171 Der König regiert unter diesem Gesichtspunkt vielmehr das christliche Gemeinwesen, indem er ausspricht und umsetzt, was das Evangelium fordert. Dieses Kirchenordnungsmodell für Dänemark-Norwegen und SchleswigHolstein, maßgeblich vorbereitet von skandinavischen Theologen unter teilweiser Verwendung von Bugenhagens früheren Schriften und von diesem bis zum Druck redaktionell bearbeitet, dieses Modell hielt der Reformator selbst offenbar für geeignet, auch in anderen Maßstäben eingesetzt zu werden – im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel (1543), wo die Kirchenordnung nun gleich mit einer Erklärung der duplex ordinatio eröffnet wurde, und sogar in einer 169 Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 6. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 12. – Vgl. vor allem Oskar Skarsaune: Duplex est hic ordinatio. En tolkning av Kirkeordinansens „kongebrev“ (1537/39/42), in: Kirkehistoriske Samlinger 1991, S. 49–88. 170 Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 8. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 22. 171 Darauf weist mit Nachdruck Skarsaune 1991; S. 49 hin.
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Bischofsstadt, in Hildesheim (1542/44). Die Analogien betreffen freilich zunächst den Aufbau. Als Abweichung von größerer Signifikanz fällt zum einen ins Auge, daß die Dreiteilung in Pfarrdienst – Schule – Finanzen wiederhergestellt und auch ausdrücklich so benannt worden ist: „Dat drüdde deel düsser ordinantien ys vam gemenen kasten“172, heißt es in der Hildesheimer Kirchenordnung. In Braunschweig-Wolfenbüttel ist auch die Pia ordinatio anschließend beibehalten und nur geringfügig verändert worden. Da sie in der lateinischen Fassung zitiert und mit „Sequitur …“ eingeführt wird, hat sie eher den Charakter eines Anhangs als in der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung.173 Zweitens ist in beiden Fällen der deutlich ausgebaute Anteil der Lehre gleich zu Beginn der Kirchenordnungen bemerkenswert. Besonders stark ist dieser Aspekt in der Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung ausgebaut, in die zu Beginn ein umfangreicher Tractat von rechten guden Werken der Kinder Gades inseriert ist.174 Hier ist also das Thema der Guten Werke, das schon über anderthalb Jahrzehnte zuvor im Sendbrief an die Hamburger behandelt worden war, noch einmal aufgenommen. Im theologischen Teil unserer Untersuchung wird sich beim Vergleich dieser beiden Pole von Bugenhagens Kirchenordnungstätigkeit noch sehr deutlich zeigen, wie stark seine Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken sich im Laufe dieser Zeit profiliert hat.175 Was den Aufbau betrifft, ist also festzuhalten, daß einerseits der Gemeine Kasten im kleineren Fürstentum, erst recht in der überschaubaren Bischofsstadt, wieder mit erheblich genaueren Anweisungen seinen eigenen Status neben Pfarramt und Schulordnung erhielt, und daß zweitens die Lehre zu Beginn beider Ordnungen deutlich ausgebaut war. Form und Inhalt erklären sich in beiden Fällen aus den historischen Bedingungen: Im Juli 1542 fiel der Schmalkaldische Bund mit kursächsischen und hessischen Truppen im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel176 ein, wo der altgläubig gebliebene Herzog Heinrich d. J. versucht hatte, die evangelischen Städte Braunschweig und Goslar in seine Gewalt zu bekommen und sich in einem Flugschriftenkrieg mit Wittenberg zu einem unangenehmen Gegner der dortigen Reformatoren gemacht hatte. Gegen ihn war Luthers Schrift Wider Hans Worst (1541) gerichtet.177 Am 13. August eroberten die schmalkaldischen Truppen Wolfenbüttel und führten von dort aus ein hartes Regiment. Gegen die eilig 172 Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 877. – Entsprechend ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 76. – Übertragung: ,Der dritte Teil dieser Ordinanz handelt vom Gemeinen Kasten.‘ 173 Vgl. ebd.; S. 81. 174 Vgl. ebd.; S. 24–36. 175 Vgl. unten; S. 146 ff. 176 Zu Braunschweig-Wolfenbüttel vgl. im folgenden Walter Ziegler: Braunschweig-Lüneburg, Hildesheim, in: Territorien 3 (21995), S. 8–43; hier v. a. 24–27. – Horst Reller: Vorreformatorische und reformatorische Kirchenverfassung im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Göttingen 1959 (SKGN 10); hier zunächst S. 13–17. 177 Vgl. Martin Luther: Wider Hans Worst. 1541, in: WA 51 (1914), S. (461–)469–572.
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begonnenen Visitationen gab es in manchen Klöstern heftigen Widerstand. Zur raschen Durchsetzung des evangelischen Glaubens sollte nun auch sofort nach der Besetzung eine Kirchenordnung beitragen, für deren Ausarbeitung Bugenhagen bereits am 20. August Wittenberg verließ. Unterwegs wurde er freilich in Hildesheim178 gebraucht. Dort waren zwar schon seit 1519 Luthers Schriften rezipiert worden, doch unter dem altgläubigen Bürgermeister Franz Wildefüer († 1541) war die reformatorische Bewegung immer wieder ordnungspolizeilich eingedämmt worden. Einzelne Unruhen, die zum Teil mit der Forderung nach freier Predigt des Evangeliums verbunden waren, führten im Gegenteil zum einstimmigen Schwur auf den alten Glauben oder zu Stadtverweisen. Nach Wildefüers Tod zeichnete sich eine vorsichtige Hinwendung zur Reformation ab, die durch den schmalkaldischen Sieg in Wolfenbüttel deutlich stimuliert wurde. Seit 1533 vertraglich an Herzog Heinrich gebunden, hatte Hildesheim ihm gleichwohl die Hilfe versagt. Die einberufene Meinheit der Stadt beriet schon am 27. August über den Beitritt zum Schmalkaldischen Bund und die Berufung evangelischer Prediger. Alles weitere erwartete man von einer neuen Kirchenordnung. Bugenhagen traf hierzu am 30. August ein, hielt am 1. September die erste Predigt und machte sich auf der Grundlage des skandinavischen Musters rasch an die Arbeit, begleitet von Heinrich Winkel († 1551) und später Antonius Corvinus († 1553), der die Vorrede schrieb. Bereits am 26. September wurden die Bestimmungen der neuen Kirchenordnung einzeln beraten und wurden fortan als gültig betrachtet, wenngleich sich der Druck bis 1544 hinzog. Am 1. Oktober reiste Bugenhagen nach Wolfenbüttel weiter, wandte im wesentlichen dasselbe Ordnungsmodell an, stellte ihm jedoch jenen Tractat von rechten guden Werken voran, mit dem er den überstürzt reformierten Lesern in teils scharf polemischer Weise, doch mehr noch in langatmigen Wiederholungen immer desselben Gedankengangs die Grundlagen evangelischer Rechtfertigungstheologie einzuschärfen trachtete. Trotz der pädagogischen Bemühungen kam die Reformation im Fürstentum zunächst nicht über Ansätze hinaus und endete schlagartig, als Heinrich nach der Mühlberger Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 wieder zurückkehrte. Nach seinem Tod 1568 ging sein Sohn Julius prompt an die landesherrliche Einführung der Reformation und erließ 1569 eine von Martin Chemnitz und Jacob Andreae († 1590) aus anderen Quellen zusammengestellte Kirchenordnung. Ich konzentriere mich in der vorliegenden Studie auf das Umfeld von Bugenhagens Kirchenordnung und werde nur in Einzelfällen Ausblicke auf die spätere Phase unternehmen. Unabhängig von ihren direkten Wirkungen, die in den fünf Jahren der Schmalkaldischen Regierung selbstredend nur wenig greifbare Spuren hinter178 Zu den Vorgängen in Hildesheim vgl. Anneliese Sprengler-Ruppenthal: Stadt Hildesheim, in: EKO 7/II/2 (1980), S. 792–828. – Thomas Klingebiel: Die Hildesheimer Reformation des Jahres 1542 und die Stadtgeschichte: Eine Ortsbestimmung, in: Hildesheimer Jahrbuch 63 (1992), S. 59–84. – Ziegler 21995; S. 27–30.
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ließen179, wird sich aber gerade die Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung von 1542 als wichtige Quelle zur theologischen und konzeptionellen Entwicklung von Bugenhagens Fürsorgemodell erweisen. f. Martin Bucer in Ulm, Straßburg und Augsburg Die vergleichsweise Betrachtung dreier oberdeutscher Städte und ihrer von Martin Bucer verfaßten Kirchenordnungen soll es im Verlauf der Untersuchung erleichtern, das typische Profil von Bugenhagens Fürsorgekonzept herauszuarbeiten. Der hier geographisch und reformationshistorisch als ,Oberdeutschland‘ bezeichnete Rahmen sei im engeren Sinn jener schwäbisch-allemannische Bereich in Südwestdeutschland, in dessen vielgestaltigen Reichsstädten ein von Straßburg aus geprägter Typ der Reformation dominierte180 – wenngleich im Einzelfall die reformatorische Umgestaltung höchst unterschiedlich ablaufen konnte.181 Dieser „oberdeutsche Weg“182 kann unter anderem durch drei Merkmale abgesteckt werden, die für unsere Zwecke eine größere Rolle spielen: erstens durch den Anspruch, Gottes Wort auch im weltlichen Bereich normativ anzuwenden, so daß etwa die rebellierenden Bauern 1525 ihre Forderungen unmittelbar mit dem Evangelium zu begründen suchten; zweitens durch entschiedene Gegnerschaft zur Messe, deren Verbot in den Städten hier geradezu „den eigentlichen Zeitpunkt ihrer Reformation bezeichnet“183, und die einhergeht mit weitaus stärkerer Heiligen‑ und Bilderfeindschaft als im Norden; drittens die Bemühungen um eine einheitliche und vor allem entschlossene Kirchenzucht, die Martin Bucer in einem christlichen Gemeinwesen als unabdingbar betrachtete, weil der Ungehorsam an Christus zugleich den Ausschluß aus seiner Heilsgemeinschaft bedeute.184 Von der charakteristischen Entwicklung der Abendmahlstheologie bei 179 Vgl. Friedrich Koldewey: Die Reformation des Herzogthums Braunschweig-Wolfenbüttel unter dem Regimente des Schmalkaldischen Bundes 1542–1547, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 1868, S. 243–338. 180 Vgl. Rudolf Freudenberger: Der oberdeutsche Weg der Reformation, in: „… wider Laster und Sünde“. Augsburgs Weg in der Reformation. Katalog zur Ausstellung in St. Anna, Augsburg 26. April bis 10. August 1997 (hg. v. Josef Kirmeier, Wolfgang Jahn u. Evamaria Brockhoff). Köln 1997 (VBGK 33/97), S. 44–61; hier S. 45. 181 Vgl. Wilfried Enderle: Ulm und die evangelischen Reichsstädte im Südwesten, in: Territorien 5 (1993), S. 194–212; hier 207. 182 Freudenberger 1997; im folgenden v. a. S. 54–57. 183 Ebd.; S. 56. – So stellt es jedenfalls Blickle 195; S. 94 zur Diskussion. 184 Vgl. Martin Greschat: Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit. München 1990; S. 160. – Eike Wolgast: Bucers Vorstellungen über die Einführung der Reformation, in: Martin Bucer and Sixteenth Century Europe. Actes du colloque de Strasbourg (28–31 août 1991) (hg. v. Christian Krieger u. Marc Lienhard). Bd. 1, Leiden, New York u. Köln 1993 (SMRT 52), S. 145–159; hier 152–154. – Andreas Gäumann: Reich Christi und Obrigkeit. Eine Studie zum reformatorischen Denken und Handeln Martin Bucers. Frankfurt am Main u. a. 2001 (Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte 20); S. 359–406.
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den Straßburger Reformatoren185 braucht an dieser Stelle hingegen keine Rede zu sein, weil sich hieraus kaum Folgerungen für die Diakonie ergeben würden. Die genannten drei Punkte jedoch sind im Hinblick auf Theorie und Praxis der öffentlichen Fürsorge von einiger Bedeutung, wie sich zeigen wird. Die Messe wurde in Straßburg186 1529 abgeschafft, in Ulm187 1531, in Augsburg188 erst im Januar 1537. In Straßburg wurde freilich erst nach fünf Jahren eine evangelische Kirchenordnung erlassen, wogegen in den anderen beiden Städten die Neuordnung des Gemeindelebens rasch den übrigen Ereignissen folgte. Der Straßburger Rat hatte die frühe reformatorische Bewegung, die seit 1519 durch dort gedruckte Schriften Luthers nachweisbar ist, mit einem gewissen Interesse beobachtet, soweit antiklerikale Forderungen es jetzt erleichtern mochten, die alte Konkurrenz zwischen Reichsstadt und bischöflichem Hochstift zugunsten der Stadtherrn zu verlagern. So wurde seit 1522 zunehmend Druck auf die Kleriker ausgeübt, das Bürgerrecht zu erwerben, damit sie steuerpflichtig wurden.189 Doch eine klare Aussage zugunsten der Reformation wurde zunächst noch nicht getroffen. Dem Nürnberger Reichsabschied jenes Jahres190 folgend, wurden im Dezember 1523 alle Prediger Straßburgs verpflichtet, allein das heilige Evangelium zu verkünden, was auch den Altgläubigen genügend Spielraum ließ und den Rat noch nicht auf Polarisierungen festlegte.191 Drei Monate zuvor war bereits eine neue Almosenordnung in Geltung getreten, die deutlich dem evangelischen Vorbild Nürnbergs von 1522 folgte, auf eine biblische Begründung des Almosens und anderer Maßnahmen jedoch ganz verzichtete und allein die ordnungspolizeilichen Aspekte der Vorlage übernahm.192 Im wesentlichen bestand sie in der Einrichtung eines Gemeinen Kastens, hier sogar in Form eines selbständig geführten Büros, in dem die Finanzen der öffentlichen Fürsorge fortan zentralisiert waren – was anderseits ein absolutes Bettelverbot und strenge Kontrollen fahrender Leute plausibilisierte.
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Vgl. hierzu Kaufmann 1992. Vgl. im folgenden Francis Rapp: Straßburg. Hochstift und Freie Reichsstadt, in: Territorien 5 (1993), S. 72–95; hier 79. 187 Vgl. Greschat 1990; S. 120. – Vgl. im folgenden außerdem Enderle 1993. 188 Vgl. Gottfried Seebass: Die Augsburger Kirchenordnung von 1537 in ihrem historischen und theologischen Zusammenhang, in: Die Augsburger Kirchenordnung von 1537 und ihr Umfeld. Wissenschaftliches Kolloquium (hg. v. Reinhard Schwarz). Gütersloh 1988 (SVRG 196), S. 33–58; hier 34 f. – Ferner Herbert Immenkötter u. Wolfgang Wüst: Augsburg. Freie Reichsstadt und Hochstift, in: Territorien 6 (1996), S. 8–35. 189 Vgl. hier Greschat 1990; S. 64 f. 190 Vgl. DRTA .JR 3 (1901); S. 747 f. 191 Vgl.Gäumann 2001; S. 57. 192 Vgl. Otto Winckelmann: Das Fürsorgewesen der Stadt Strassburg vor und nach der Reformation bis zum Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Kultur‑ und Wirtschaftsgeschichte. Zwei Teile in einem Bd., Leipzig 1922 (QFRG 5); Teil 2, S. 97– 104. – Weiteres unten; S. 175 ff. 186
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Als Martin Bucer im Mai jenes Jahres als erwerbsloser, wegen Heirat und evangelischer Predigt exkommunizierter Priester aus Weißenburg nach Straßburg hinunterkam, war er mithin von der neuen Regelung noch nicht betroffen. Es gelang ihm, ohne sichere Position zunächst durch Vorlesungen im Haus seines Freundes, des Münsterpfarrers Matthias Zell († 1548), dann durch mehrere Flugschriften für Aufmerksamkeit zu sorgen. Erst im September des folgenden Jahres, nachdem die Aureliengemeinde ihn mit einiger Vehemenz zum Pfarrer bestimmt und den hierfür zuständigen Rat zu seiner Wahl gedrängt hatte, vermochte Bucer dann auch das Bürgerrecht zu erwerben.193 Der Rat war seit diesem Jahr mehrheitlich evangelisch und stützte die Durchsetzung neuer Gottesdienstformen, 1529 dann auch die völlige Abschaffung altgläubiger Messen. Gemeinsam mit Wolfgang Capito und Caspar Hedio wurde nun Bucer, der in diesem Jahr an die evangelische Hauptkirche St. Thomas wechselte, zum gefragten und äußerst eifrigen Reformator der Reichsstadt, die zu einem geordneten evangelischen Gemeinwesen unter der Autorität von Gottes Wort werden sollte. 1533 berief der Rat auf ihr Drängen eine Synode194 ein, die hierfür eine neue juristische Basis bereitstellen und die Einheitlichkeit der Gemeinde insbesondere gegenüber den religiösen Dissidenten sichern sollte, die sich wegen der zurückhaltenden Ratspolitik der zwanziger Jahre verstärkt in der Stadt niedergelassen hatten, und von denen der Apokalyptiker Melchior Hoffmann († 1543) und der Spiritualist Caspar Schwenckfeld nur die bekanntesten waren.195 Bucer war überzeugt davon, daß die Gemeinde Christi mit der Kommunalgemeinde deckungsgleich sein müßte, und daß der christliche Rat keine Andersgläubigen mehr bei sich dulden dürfe. Dementsprechend beklagte die im Juni 1534 maßgeblich von Bucer verfaßte Kirchenordnung gleich zu Beginn, daß eingedrungene „secten, rottungen und sonderungen“196 zu Brüchen innerhalb der Gemeinde geführt hätten, wogegen es die Synode auf Ordnung und Einigkeit abgesehen habe. In dieser Absicht legte der erste Artikel als allein gültige Bekenntnisse die Confessio Tetrapolitana197, die 1530 in Augsburg übergeben worden war, und Bucers 16 Artikel198, die der Synode vorgelegen hatten, zugrunde. Über die Lehre sollte eine Kommission aus Ratsverordneten und Predigern wachen. Der zweite Artikel regelte die Dienstordnung der Geistlichen, der dritte die Sakramente, wobei dem Krankenabendmahl besonderes Augenmerk galt. Der vierte Artikel ordnete die Katechese und das Schulwesen, der fünfte galt der Sonntagsheiligung und der Würde des Kirchenraums, der sechste der christlichen Ehe, der siebte und letzte schließlich 193
Vgl. Greschat 1990; S. 67 f. u. 71–73. Vgl. Gäumann 2001; S. 346–357. 195 Vgl. ebd.; S. 335–344. 196 Bucer: Straßburger Kirchenordnung 1534 (1978); S. 24. 197 Confessio Tetrapolitana (1525), in: ders.: Opera I,3 (1969), S. (13–)36–185. 198 Vgl. Handschriftliche Dokumente zur Synode, in: ders.: Opera I,5 (1978), S. 365–526; hier Nr. III, S. 388–392. 194
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der Anwendung der Straßburger Verhältnisse auf die Landgemeinden, denn die Reichsstadt hatte weitläufige Außenbezirke. Bereits in Ulm sollte die Kirchenordnung 1531 die Gefahr von Spaltungen verhüten helfen, und zwar „Gott dem allmechtigen zů lob, auch z Braiterung der liebe des nechsten“199. Auch hier war der Rat von Ablehnung und Distanz erst allmählich zur Duldung evangelischer Predigt und schließlich zum Anschluß an den Schmalkaldischen Bund gelangt, wofür eigens ein Referendum in den Zünften durchgeführt wurde. Dieser außenpolitisch durch den Ratsherrn Bernhard Besserer († 1538) sorgsam abgesicherte Entschluß führte dann auch zur Notwendigkeit einer Kirchenordnung, zu deren Ausarbeitung neben Bucer auch Ambrosius Blarer († 1564) und Johannes Oekolampad († 1531) geladen waren, und die wie in Straßburg aufgrund einer bekenntnisartigen Thesenreihe verhandelt wurde, die Bucer vorbereitet hatte.200 Die Vorgänge sind insofern bedeutungsvoll, als Bucer sich dabei „erstmals als einer der maßgeblichen Theoretiker evangelischer Kirchenordnung unter den Reformatoren des 16. Jahrhunderts – neben Johannes Bugenhagen in Wittenberg – gezeigt“201 hat. Ohne jeden Zweifel am Reformationsrecht des Rates, das hier nicht weiter begründet wird, setzt die Ordnung nach einer kurzen Vorrede mit der „Lehre“202 ein und inseriert dann jene 18 Artikel, die ihr vorbereitend zugrundelagen, als eine Art Glaubensbekenntnis und Statut der christlichen Gemeinde: aus der Lehre heraus wird alles andere entfaltet. Das gilt für die Dienst‑ und Amtsordnung der Geistlichen, für ihre Zusammenkünfte und Visitationen wie auch für die gemeindliche Schulordnung; das gilt in einem zweiten Teil für die Zeremonien, die nach oberdeutscher Weise radikal vereinfacht werden; das gilt insbesondere für den überaus großen Anteil der innergemeindlichen Zucht, den Bucer hier plante. Als eine Art geistlicher Policeyordnung sind im letzten Drittel Bestimmungen „Von Christlichem außschliessen“ angefügt.203 Ohne Bann, heißt es unmißverständlich, könne keine christliche Gemeinde bestehen.204 Kirchenzucht wird hier als „Abendmahlszucht“205 organisiert, insofern die Gemeinschaft derer, die am Tisch Christi essen und trinken, und die auf solche Weise teilhaben an seinem Leib und Blut, keinesfalls durch „Schwrn, Flůchen oder Gotßlstern“206, durch „Zůtrincken“207, durch „wůcher“208 oder durch „stoltz, pracht und hoffart“ im 199
Ders. u. a.: Ulmer Ordnung 1531 (1975); S. 212. Vgl. Enderle 1993; S. 200–202. 201 E[rnst]-W[ilhelm] Kohls: Einleitung, in: Bucer u. a.: Ulmer Ordnung 1531 (1975), S. 185–211; hier 185. 202 Bucer: Ulmer Ordnung 1531 (1975); S. 214–230. 203 Vgl. ebd.; S. 251–272. 204 Vgl. ebd.; S. 251. 205 Kohls 1975; S. 199. 206 Bucer: Ulmer Ordnung 1531 (1975); S. 255. 207 Ebd.; S. 257. 208 Ebd.; S. 259. 200
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öffentlichen Auftreten konterkariert werden dürfe. Ein Bruch mit der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft könnte folglich nur bedingungslosen Ausschluß bedeuten. Der Ulmer Rat hat diese Pläne zur innergemeindlichen Kirchenzucht nicht realisiert. In der Bischofsstadt Augsburg war es 1537 ebenfalls der Rat, der (vergeblich) Philipp Melanchthon und zugleich (erfolgreich) Martin Bucer zur Arbeit an einer Kirchenordnung einlud, um „nunmehr ainhellig christenlich kirchengepreuch in vnnser stat vffzurichten“209, und auch hier begründete man diesen Schritt damit, daß Spaltungen verhindert und so der Frieden bewahrt bleiben sollte. Das schien überfällig, denn seit Anfang der zwanziger Jahre waren evangelische Gottesdienste in höchst uneinheitlicher Weise gefeiert worden, und insbesondere um das Abendmahl hatte es in dieser Stadt äußerst heftige Debatten gegeben, wobei die Lutheraner längst im Hintertreffen waren.210 Bei den Vorverhandlungen galt es also, verschiedene lutherische wie zwinglianische Entwürfe zu debattieren, die etwa in der Anwendung des Lateinischen, in der Zählung des Dekalogs oder im Umgang mit den Bildern erheblich voneinander abwichen – Differenzen, die die Akzeptanz der mühsam erreichten Abendmahlskonkordie vom Vorjahr nun wieder zu gefährden drohten.211 Die letztlich beschlossene Kirchenordnung brachte in einem ersten Teil eine administrative Wahl‑ und Ämterordnung, die auch strenge Kirchenzucht durch die Pröbste und ein Superattendentenamt vorsah; zweitens eine ausführliche Dienstordnung der Prediger, die Predigt, Gebete und Lesungen und Katechese einschloß; schließlich eine Sakramentenordnung mit Taufe, Abendmahl, Gesang und Krankenfeier.212 Eine ausführliche Agende erschien erst 1545. Eine innerkirchliche Zuchtordnung hat sich freilich in keinem Fall durchsetzen können: Entgegen der ekklesialen Konzeption Bucers behielt in allen drei Städten der Rat die Disziplinargewalt; in Augsburg erließ er noch 1537 eine eigene Policeyordnung.
4. Heuristik: Weitere Quellen zur öffentlichen Fürsorge im 16. Jahrhundert Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts wurden zwar von der weltlichen Obrigkeit erlassen, in der Regel aber nicht von Juristen verfaßt, sondern von Theologen. Allein dieser Umstand verbietet es, ihre Einzelbestimmungen zu isolieren und wie städtische Kleiderordnungen oder Tanzverbote zu behandeln. Wenn im vorangehenden Kapitel von Bugenhagens und Bucers Kirchenordnungen die Rede war, so gilt für beide Autoren, daß sie zu dieser Arbeit als Theologen berufen worden waren und ihre Ordnungstexte selbstverständlich 209
Seebass 1988; S. 39. Vgl. ebd.; S. 36 f. 211 Vgl. ebd.; S. 49. 212 Vgl. Bucer: Augsburger Kirchenordnung 1537 (1963). 210
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aus ihrer Theologie heraus entwickelten. Hierzu sind weitere Quellen heranzuziehen. Neben Gelegenheitsschriften und Briefen beider Verfasser, die an Ort und Stelle eingeführt werden können, müssen hier vor allem ihre Flugschriften beachtet werden. Bekanntlich bezeichnet der Begriff – mit Hans-Joachim Köhlers mittlerweile klassischer Definition – eine „aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nichtperiodische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d. h. der Beeinflussung des Handelns) und/oder der Propaganda (d. h. der Beeinflussung der Überzeugung) an die gesamte Öffentlichkeit wendet.“213 Daher waren die Flugschriften, zusammen mit den illustrierten Flugblättern214, in hohem Maße an jenem „Kommunikationsprozeß“215 beteiligt, der in den frühen Jahren der Reformation über geographische, gesellschaftliche und intellektuelle Grenzen hinaus die öffentliche Meinungsbildung prägte, zumal die evangelische.216 Für unsere Zwecke sind die Spezifika dieser Textsorte insofern von großer Bedeutung, als sie auch in späteren Phasen den Blick auf weitere Rezipientenkreise ermöglichen: Waren die obrigkeitlichen Kirchenordnungen nämlich primär an das geistliche Personal gerichtet, so zeigt sich im Vergleich mit den Flugschriften, daß sowohl ihre theologischen Grundlagen als auch bestimmte praktische Anweisungen daneben weiten Bereichen der Bevölkerung bekanntgemacht werden sollten. Hierzu wurde gerade nicht ausschließlich das Medium der Predigt und damit die exklusive Vermittlung durch Geistliche angestrebt, sondern gleichzeitig die Rezeption über Massenmedien. Oft wurden über diesen Kanal theologische Lehren und praktische Handlungsvorschläge in Umlauf gebracht, die ursprünglich als Gelegenheitsschriften entstanden waren. Besonders Bugenhagen scheint diesen Weg regelmäßig gegangen zu sein. Da seine Flugschriften aufs Ganze gesehen noch zu wenig Beachtung gefunden haben, darf ihre Einbeziehung in unseren Zusammenhang auch als Hinweis für künftige Forschungen verstanden werden. Nicht alle davon sind in Hans-Joachim Köhlers großer Microfiche-Ausgabe217 zugänglich, so daß man daneben immer noch auf teils schwer erreichbare Originaldrucke angewiesen ist. 213 Hans-Joachim Köhler: Die Flugschriften. Versuch der Präzisierung eines geläufigen Begriffs, in: Festgabe für Ernst Walter Zeeden zum 60. Geburtstag am 14. Mai 1976 (hg. v. Horst Rabe, Hansgeorg Molitor u. Hans-Christoph Rublack), Münster 1976, S. 36–61; hier S. 50. 214 Vgl. Harry Oelke: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter, Berlin u. New York 1992 (AKG 57); zur Definition bes. S. 18. 215 Bernd Moeller: Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts (hg. v. Hartmut Boockmann), Göttingen 1994, S. 148–164 (AAWG.PH 3, 26), S. 148–164; bes. 149–151. 216 Richard G. Cole versteht diesen Vorgang als „Reformation in Print“, weil die altkirchliche Seite sich der neuen Medien zunächst kaum bedient habe; vgl. Richard G. Cole: The Reformation in Print: German Pamphlets and Propaganda, in: Archiv für Reformationsgeschichte 66 (1975), S. 93–102; bes. 95 f. 217 Vgl. Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts (hg. v. Hans-Joachim Köhler, Hildegard Hebenstreit-Wilfert u. Christoph Weismann). 10 Serien, Zug 1978–1987. – Erschließung durch Hans-Joachim Köhler: Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. Bisher 3 Bde.,
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Bis zu diesem Punkt kann also das theologische und normative Gerüst aus reichem Material zusammengestellt werden. Es wäre nun freilich unseriös, sich damit zu begnügen: Anhand der bisher genannten Quellen kann zwar sehr genau rekonstruiert werden, wie sich die Reformatoren eine Neugestaltung öffentlicher Fürsorge vorstellten – aber eine Aussage über ihre tatsächlichen Erfolge ist damit keineswegs möglich. „Denn Ordnung stellen und gestellete Ordnung halten sind zwei Ding weit von einander“, wußte schon Luther.218 Es ist seltsam, daß diese naheliegende Einsicht in der Forschung bislang nur wenig Beachtung fand, so daß allzuoft der Eindruck erweckt wird, mit den frühneuzeitlichen Ordnungstexten sei bereits der Schlußpunkt einer Entwicklung erreicht. Im Gegenteil, um die Innovationsleistung reformatorischer Kirchenordnungen bestätigen oder bestreiten zu können, darf auf die Frage nach ihren ganz konkreten Folgen, Erfolgen und Mißerfolgen nicht verzichtet werden: Wenn in einzelnen Städten, Territorien und Reichen die Installation Gemeiner Kästen angeordnet wurde, die künftig als zentrale Fürsorgekassen fungieren sollten – ist das dann auch geschehen? Nur selten wird daran gezweifelt, so daß sich in der Literatur mitunter Kästen finden, die es nie gegeben hat.219 Desweiteren: Funktionierte die Einnahme‑ und Ausgabepolitik solcher Einrichtungen, so wie es von Bugenhagen geplant war? Wie sahen die Bilanzen aus? Wie wurden Stifterfamilien ermuntert, den Gemeinen Kasten auch weiterhin zu unterstützen, und folgten diese dann auch der neuen Linie? Wurden tatsächlich Diakone eingesetzt, und füllten sie ihr Amt so liebevoll aus, wie es in den Kirchenordnungen erwartet wurde? Wie wurden die armen Leute versorgt? Speiste man sie mit einem Pfennig ab, disziplinierte, kontrollierte und bestrafte man sie, oder half man ihnen über Verschuldungen, Unfälle und Krankheiten hinweg? Welche Rolle spielten die Hospitäler? Wurden sie dem zentralen Institut des Gemeinen Kastens einverleibt, oder konnten sie ihren institutionellen Fortbestand wahren? Was geschah mit Altgläubigen, etwa mit Klosterleuten, die ihr Konvent verlassen wollten, und solchen, die dies nicht taten? Daß diese und Tübingen 1991–1996. – Für die Benutzung von Originaldrucken Bugenhagens ist noch immer hilfreich Georg Geisenhof: Bibliotheca Bugenhagiana. Bibliographie der Druckschriften des D. Joh. Bugenhagen. Leipzig 1908 (QDGR 6); Ndr. Nieuwkoop 1963. – Ferner VD 16: Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. (bearb. v. Irmgard Bezzel). Bisher 25 Bde. in 3 Abtt., Stuttgart 1983–2000, fortgef. unter www.vd16.de. 218 Luther an Kurfürst Johann. (Wittenberg), 12. Oktober 1527, in: WA .Br 4 (1933), Nr. 1158; hier S. 265. 219 Nur ein Beispiel: Für eine „gemeine Kiste“, die der Kieler Rat eingerichtet haben soll, gibt es offensichtlich nur einen einzigen Hinweis – nämlich die Anordnung einer solchen in der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung. Als hätte sie damit bereits Gestalt angenommen, wurde die Kiste durch die Literatur hindurchkolportiert bis zu Helmut G. Walther: Von der Holstenstadt der Schauenburger zur Landesstadt des holsteinischen Adels (1242 bis 1544), in: Geschichte der Stadt Kiel (hg. v. Jürgen Jensen u. Peter Wulf). Neumünster 1991, S. 13–58; hier 58 u. 482, Anm. 100. Vgl. dagegen im selben Band die richtigere, weil im Archiv gewonnene Lesart von Kersten Krüger u. Andreas Künne: Kiel im Gottorfer Staat (1544 bis 1773), ebd. S. 65–136; hier 111.
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viele andere Fragen sich nicht aus den Ordnungstexten selbst beantworten lassen, liegt auf der Hand. Für differenzierte Antworten sind Archivstudien nötig. Angesichts der enormen geographischen Verbreitung von Bugenhagens Kirchenordnungen habe ich mich für diese Untersuchung auf ausgewählte Archivkomplexe konzentriert, denen gleichwohl exemplarischer Charakter zukommt. Als Faustregel für den Untersuchungszeitraum gilt hierbei, daß Archivalien vom Jahr der jeweils geltenden Kirchenordnung bis ungefähr 1600 zu berücksichtigen wären, spätestens bis 1618, weil sich die soziale Lage auch in Norddeutschland durch den Dreißigjährigen Krieg wieder signifikant änderte. Durch diese Eingrenzung wäre es möglich, die unmittelbare Wirkung von Bugenhagens Fürsorgebestimmungen auf die nachfolgende Generation zu belegen. In Einzelfällen habe ich exemplarische Dokumente auch nach 1618 hinzugezogen, wenn sie Aufschluß über langfristige Strömungen im Fürsorgewesen, über Brüche und Probleme mit dem bisherigen Verfahren, vielleicht auch über Perspektiven zur Moderne hin geben könnten. Insgesamt ist auch zu bedenken, auf welchen institutionellen und administrativen Ebenen das gewünschte Material gespeichert wurde, ob also der Territorialfürst, der Stadtrat oder die Parochie zuständig waren, und ob mithin heute das Landesarchiv, das landeskirchliche, das städtische oder aber das kirchengemeindliche Archiv die einschlägigen Quellen halten. Die wichtigsten Stichproben seien kurz begründet und charakterisiert: (1.) Beispielhaft für die drei großen Städte Braunschweig (1528), Hamburg (1529) und Lübeck (1531), denen Bugenhagen seine frühesten drei Ordnungen widmete, vermag die besonders dichte und reiche Überlieferung im Braunschweiger Stadtarchiv die rasche und engagierte Umsetzung seines ersten kodifizierten Fürsorgekonzepts in allen fünf Weichbilden (Stadtteilen) höchst eindrucksvoll zu dokumentieren. Bislang ist dort erst einmal der Versuch gemacht worden, die Wirklichkeit der öffentlichen Fürsorge nach Bugenhagens Modell ansatzweise zu überprüfen, doch mit enttäuschender Ausbeute.220 Dabei sind die archivierten Rechnungen und Rechenschaftsberichte, Urkunden und Listen in besonders geschlossener, zum Teil geradezu akribisch geführter Form erhalten und können über die ganze Bandbreite der angesprochenen Themen immer wieder beredt Auskunft geben. Die Reichhaltigkeit des Materials macht hier sogar innerhalb der Bestände eine Auswahl nötig, freilich immer noch repräsentativ für Vergleiche zwischen den Fürsorgesystemen der einzelnen Weichbilde, aber auch für die ganze Stadt. (2.) Um demgegenüber den Vollzug der Fürsorgebestimmungen in einem so weitläufigen Territorium wie Pommern (1535) überprüfen zu können, lag es nahe, die Kastenrechnungen einer einzelnen Landstadt heranzuziehen, im Idealfall abseits vom politischen Zentrum. Im Pommerschen Landesarchiv zu Greifs220 Vgl. Frank P. Lane: Johannes Bugenhagen und die Armenfürsorge in der Reformationszeit, in: Braunschweigisches Jahrbuch 64 (1983), S. 147–156.
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wald ließ ich mir dazu raten, hierfür den umfangreichen Bestand von Armenregistern aus Stolp in Hinterpommern zu begutachten, ohne daß ich wissen konnte, ob die Papiere überhaupt aussagekräftig wären. Es zeigte sich aber, daß auch hier allein die Rechnungen ein farbiges und meist umfassendes Bild des städtischen Fürsorgewesens widerspiegeln, das die Geltung von Bugenhagens Plänen im Herzogtum eindrücklich bestätigen kann. (3.) Auch der dritte, maßgeblich von dänischen Theologen vorbereitete Kirchenordnungstyp, an dem Bugenhagen nur redaktionell beteiligt war, enthält für Dänemark-Norwegen (1537) und Schleswig-Holstein (1542) weit weniger präzise Angaben über die konkrete Gestaltung der öffentlichen Fürsorge als in den Städten. Wie wurde damit umgegangen? Es wird sich herausstellen, daß einerseits skandinavische Fürsorgetraditionen hier weiterhin Gewicht behielten und daß auf der anderen Seite teils lokalspezifische Organisationsformen entwickelt wurden, die offensichtlich pragmatisch begründet waren und sich nur zweitrangig an übergreifend gültigen Vorgaben orientierten. Zum Teil wurden die Bestimmungen der Kirchenordnung völlig ignoriert, zum Teil gelangte man zu selbständigen Lösungen, die dort nicht vorgesehen waren. Ich habe mich weitgehend auf den Modellfall Schleswig-Holstein konzentriert und auf eine wenig aussichtsreiche Flächenanalyse bis zum Nordkap hinauf verzichtet. Bei Studien im Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv zu Schleswig, im Kieler Stadtarchiv und im Nordelbischen Kirchenarchiv zu Kiel konnte dabei insbesondere die Lage in den Landstädten berücksichtigt, aber in vielen Fällen auch die Entwicklung der Fürsorge in dörflichen und landschaftlichen Milieus zumindest teilweise erhellt werden. Besonders für den ökonomischen und juristischen Umgang mit Kirchen‑ und Hospitalgut haben sich einschlägige Beispiele finden lassen. Auch kann an Kieler Rechnungsbeständen ein schlaglichtartiges Bild von der ausgesprochen heterogenen Fürsorgelandschaft dieser Stadt im 16. Jahrhundert gezeichnet werden – ein Gemisch aus vor‑ und nachreformatorischen Versorgungsformen, das als Folge der vergleichsweise offenen Bestimmungen aus der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung angesprochen werden kann. Weche Textsorten sind zu berücksichtigen? (1.) Die beste Auskunft ist von den Kastenrechnungen zu erwarten, die in der Regel durch Diakone oder ihre Schreiber geführt wurden, und die es nicht allein ermöglichen, die Bilanzverläufe zu rekonstruieren, sondern auch eine Fülle von Einzelinformationen über die Art von Einnahmen, Kapitalgeschäften und Ausgaben, den Kreis der Unterstützten, die konkreten Hilfsmaßnahmen, die Arbeit der Diakone selbst, ihre Stellung zur Obrigkeit und weitaus mehr zu erhalten. Hiervon zu unterscheiden sind die jährlichen Rechenschaften, mit denen die Bilanzdaten einem Rat zur Entlastung vorgelegt wurden. Einfacher als die detaillierten Einzelrechnungen ermöglichen sie die Betrachtung langfristiger Tendenzen. Wiederum anders wäre das Matrikelbuch einer Stiftung zu beurteilen, das eher Memorialcharakter hat, indem Angaben zu Wohltätern und Nutznießern, Kapitalentwicklung, Ein‑ und
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Ausgängen, Namen der Unterstützten usw. kompendienartig zusammengestellt sind. (2.) Als zweite größere Archivaliengruppe sind dreierlei Sorten von Urkunden anzusprechen: Urkunden zu Kapitalgeschäften aus dem Gemeinen Kasten, besonders Rentenhandel und Verpachtungen von Grundbesitz – Beurkundungen von nichtkommerziellem Geldverleih durch Diakone – Urkunden zu Stiftungstestamenten, ihrer Umwandlung oder Neuaufnahme, die oft auch Ausführungsbestimmungen enthalten. (3.) Briefwechsel und andere Akten administrativer Art, die etwa zu Vorgängen um Kirchen‑ und Hospitalgut oder zum Fürsorgeprofil einzelner Einrichtungen Auskunft geben können. In diese Gruppe gehören auch Supplikationsschreiben armer Leute um Hilfe oder Aufnahme beim Hospital, die sich oft an die Landesherren richteten und zum Teil auch mit entsprechenden Maßnahmen beantwortet wurden. (4.) In Einzelfällen konnten zusätzlich Visitationspapiere herangezogen werden. Wo diese nicht bereits gedruckt vorliegen, ist freilich die thematische Durchsicht mühsam und wenig ertragreich. Eine moderne Erschließung und Edition von Visitationsmaterial des 16. und 17. Jahrhunderts wäre insbesondere für Schleswig-Holstein ein dringendes Desiderat.221 (5.) Wenn sich die öffentliche Wahrnehmung von Armut und Bettel im Zuge längerfristiger Strömungen änderte – oder auch bewährte –, dann können wiederum normative Texte über solche Einstellungen Auskunft geben: Armenordnungen und Bettellizenzen, Mandate und Eide, sowohl in handschriftlicher Überlieferung als auch in Alten Drucken, sind mithin für die Überprüfung von Bugenhagens Wirkungsgeschichte keineswegs irrelevant. (6.) Von einer letzten Gruppe zeitgenössischer Quellen wird gleich zu Beginn des ersten Teils ausführlicher die Rede sein. Sie ist freilich weniger im Archiv als im Museum zu suchen. Durch volkskundliche Überlegungen zum Erkenntniswert von Sachgegenständen und Bildern für die Geschichte der Armut angeregt222 und von mir durch ikonologische und semiotische Mittel erweitert, läßt sich anhand spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Sammelgeräte für Geldopfer, die in typischer Gestalt im Untersuchungsgebiet Norddeutschland und Skandinavien verbreitet waren, auf besonders anschauliche Weise jener Wandel von der spätmittelalterlichen zur reformatorischen Almosenfrömmigkeit untersuchen, der in der älteren Forschung so ostentativ hervorgehoben worden war. Dabei wird so zu verfahren sein, daß die Objekte mit ihrer spezifischen ikonographischen Gestalt nicht allein zur Illustration bereits bekannter Sachverhalte, sondern dezidiert als Quellen ersten Ranges dienen. 221 Vgl. Annette Göhres: Vom „ungestümmelten evangelischen Gebrauch der Sacramente“ – Visitationen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Kirchliches Leben in Schleswig-Holstein im 17. Jahrhundert. Vorträge zu einer Ausstellung im Landesarchiv Schleswig-Holstein (hg. v. Marion Bejschkowetz-Iserhoht u. Reimer Witt). Schleswig 2003 (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 78), S. 185–205. 222 Vgl. Kai D. Sievers: Volkskultur und Armut, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 21 (1989), S. 5–24. – Ders.: Leben in Armut. Zeugnisse der Armutskultur aus Lübeck und Schleswig-Holstein vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Heide 1991.
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Gedrucktes Quellenmaterial kann die Originale in zahlreichen Einzelfällen ergänzen. Aus jeder der genannten Textsorten ist auch in lokal‑ und regionalgeschichtlichen Zusammenhängen hier und dort etwas publiziert worden, oft nicht einmal in der Absicht, hiermit der übergreifenden Reformations‑ oder Konfessionalisierungsforschung einen Dienst zu erweisen. Vielmehr können allein die Armenrechnungen, um nur dieses Beispiel zu nennen, sowohl als lokalgeschichtliche Miszellen fleißiger Pastoren und Lehrer223 erscheinen, als agrarhistorische Quellen224 wie auch als Beiträge zur Familienforschung225. Daß jedoch insbesondere für flächenübergreifendes und komparatives Arbeiten zur Geschichte der Fürsorge nicht genügend systematisch auswertbare Daten zur Verfügung stehen, macht es notwendig, in der geschilderten Weise stichprobenartig vorzugehen.226
5. Forschungsbilanz: Johannes Bugenhagen „im Schatten Luthers“? Im Blick auf die eigenen Schriften Johannes Bugenhagens stellt sich die Quellenlage höchst problematisch dar. Gewiß, die Kirchenordnungen liegen zum Teil in Emil Sehlings großer Ausgabe, zum Teil auch in Einzeleditionen und Faksimiles vor227, doch muß im übrigen das vielgestaltige Werk dieses Reformators noch immer zusammengesucht werden – was dessen Tragweite keineswegs gerecht wird. Anders als Martin Bucer, dessen umfangreiche Werkausgabe zügig vorankam228, ist Johannes Bugenhagen bislang nicht durch eine wissenschaftliche Edition repräsentiert229, obwohl eine solche seit zwei Jahrzehnten angekündigt wird230. Die gedruckten Flugschriften sind zwar weitgehend durch Hans-Joachim 223 Vgl. etwa C[hristian] Rolfs: Zur Geschichte des Armenwesens in Dithmarschen im 16. Jahrhundert, in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte II, 2 (1901–1903), S. 478–486. 224 Vgl. Klaus-J[oachim] Lorenzen-Schmidt: Armenausgaben im Kirchspiel Borsfleth 1643–1871, in: Archiv für Agrargeschichte der holsteinischen Elbmarschen 11 (1989), S. 47– 49. 225 Vgl. Otto Neumann: Das Kollmarer Armenbuch von 1615 bis 1964 als familiengeschichtliche Quelle, in: Zeitschrift für niederdeutsche Familienkunde 40 (1965), S. 107–110. 226 Zur Quellenlage vgl. zusammenfassend von Hippel 1995; S. 57–59. 227 Vgl. oben; S. 15 f. 228 Vgl. Martini Buceri Opera Omnia. Series I: Deutsche Schriften (hg. v. Robert Stupperich, dann Gottfried Seebaß). Bisher 17 Teilbde., Gütersloh u. Paris 1960–(2006). – Series II: Opera Latina (hg. v. Marc Lienhard u. a.). Bisher 7 Bde., Leiden u. a. 1954–(2000). – Series III: La correspondance de Martin Bucer (hg. v. Jean Rott u. a.). Bisher 4 Bde., Leiden u. a. 1979– (2006). 229 Eine winzige, aber brauchbare Auswahl ist: Johannes Bugenhagen (hg. v. Joachim Rogge). Berlin 1962 (Quellen 30/2). 230 „Johannes Bugenhagen: Werke (hg. v. Wolf-Dieter Hauschild u. Anneliese Bieber). Bd. 1: Reformatorische Schriften I, Göttingen 1989“; bereits als Quellennachweis angeführt bei Hauschild 1988 a; S. 56, Anm. 10.
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Köhlers Microfiche-Ausgabe erschlossen, wenn auch nicht komplett231, das vorreformatorische Frühwerk Bugenhagens zum Teil durch Einzelausgaben232, und etliche Predigten sind verstreut in älteren Sammelausgaben oder als Zeitschriftenbeiträge gedruckt233, wogegen die exegetischen Vorlesungen ganz fehlen. Vordringlich wären jedoch eine vervollständigte Neuausgabe von Bugenhagens Korrespondenz234 und – eher den Kirchenordnungen als den Flugschriften zuzurechnen – ein rascher und leichter Zugang zu seinem Titel Van menigherleie christliken saken, auf hochdeutsch Von mancherley christlichen Sachen, von 1531.235 Die problematische Quellensituation bereits spiegelt generelle Diskrepanzen in der Forschungsgeschichte zu Johannes Bugenhagen wider.236 Einer gewissen Popularität seines Namens – man denke an die vielen Patrozinien von Kirchen, Schulen und Gemeindehäusern – entsprach nämlich lange Zeit die wissenschaftliche Beschäftigung mit seiner Person und Theologie weder quantitativ noch qualitativ.237 Das hatte mit dem territorialkirchlichen Charakter des deutschen Protestantismus zu tun: Der Dominanz Wittenbergs als Zentrum entsprachen auf lokaler und regionaler Ebene die Leistungen Einzelner für die Durchsetzung 231
Vgl. oben; S. 25 f. Vgl. Bugenhagen: Pomerania (1900, 1986). – Ders.: Historia Des lydendes unde upstandinge / unses Heren Jesu Christi: / uth den veer Euangelisten. Niederdeutsche Passionsharmonie. Faksimiledruck nach der Barther Ausgabe von 1586 (hg. v. Norbert Buske). Berlin [Ost] u. Altenburg 1985. 233 Vgl. Eine Predigt von Johannes Bugenhagen, im Kloster Belbuck gehalten. Aus dem Originale mitgetheilt von Carl E. Förstemann, in: Zeitschrift für Historische Theologie 5 (1835), S. 229–247. – Ungedruckte Predigten Johann Bugenhagens aus den Jahren 1524 bis 1529. Zumeist aus Handschriften der Großherzoglichen Universitätsbibliothek zu Jena zum erstenmal veröffentlicht (hg. v. Georg Buchwald). Leipzig 1910 (QDGR 13). – Georg Buchwald: Bugenhagens Katechismuspredigten vom Jahre 1534. Ein Beitrag zur Geschichte der Katechismuspredigt in Wittenberg, in: Archiv für Reformationsgeschichte 17 (1920), S. 92–104. 234 Vgl. Bugenhagen: Briefwechsel (1966). – Eike Wolgast: Zum Briefwechsel Bugenhagens, in: Archiv für Reformationsgeschichte 58 (1967), S. 73–89. – Genannt sei von zahlreichen Neufunden nur Ernst Koch: Das Schicksal von Bugenhagens Visitationswerk in BraunschweigWolfenbüttel im Lichte eines unveröffentlichen Briefes an Bugenhagen, in: Johannes Bugenhagen. Gestalt und Wirkung. Beiträge zur Bugenhagenforschung. Aus Anlaß des 500. Geburtstages des Doctor Pomeranus (hg. v. Hans-Günter Leder). Berlin [Ost] 1984, S. 168–182. – Martin Schwarz Lausten: König Christian III. von Dänemark und die deutschen Reformatoren. 32 ungedruckte Briefe, in: Archiv für Reformationsgeschichte 66 (1975), S. 151–182. 235 Vgl. oben; S. 34. 236 Generell sei zur Forschung auf folgende Bibliographien und Literaturberichte hingewiesen, die für ältere Titel eine hilfreiche Grundlage darstellen, wenn auch eine Aktualisierung dringend geboten wäre: Klaus Harms: Bugenhagen-Literatur zum Jubiläumsjahr 1958, in: Kirche im Osten 2 (1959), S. 163–166. – Hans-Günter Leder: Bugenhagen-Literatur, in: Johann Bugenhagen. Beiträge zu seinem 400. Todestag (hg. v. Werner Rautenberg). Berlin [Ost] 1958, S. 123–137. Fortsetzungen von dems.: Zum Stand und zur Kritik der Bugenhagenforschung, in: Herbergen der Christenheit 10 (1977–1978), S. 65–100. Ders.: Zum gegenwärtigen Stand der Bugenhagenforschung, in: De Kennung 8 (1985), S. 21–43. – Horst Wernicke: Forschungen über Johannes Bugenhagen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 35 (1987), S. 440 f. – Vgl. auch die Einleitung bei Brunk 2003; hier S. 16–22. 237 Ähnlich die Diagnose von Hauschild 1985; S. 44. 232
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der lutherischen Reformation vor Ort. Das entscheidende Problem entstand, wenn solche Gestalten als Zentralfiguren zweiten Ranges isoliert wurden. Getragen von dem Wunsch, sie wissenschaftlich von der Vorrangstellung Luthers zu emanzipieren, drohte die allzu einseitige Konzentration auf ihre lokal‑ und regionalgeschichtlichen Leistungen doch wieder nur heimatkundliche Interessen zu bedienen.238 Sie hätten bislang, heißt es manchmal, „im Schatten Luthers“ gestanden.239 Nun hängt die Größe eines Schattens bekanntlich auch davon ab, wie man die Lampe hält: Daß Bugenhagen als treuer Erfüllungsgehilfe nur die praktische Durchführung von Luthers Reformation organisiert habe, galt zur Jahrhundertmitte als gesichert. „Eine eigentümliche Prägung hat Bugenhagen der reformatorischen Lehre nicht gegeben. Seine Theologie ist die Theologie Luthers, die er in aller Treue festhält“, meinte Robert Stupperich 1960. „Es ginge zu weit, wollte man von seiner theologischen Eigenständigkeit sprechen.“240 Die exegetischen Vorlesungen und Kommentare aus Bugenhagens Feder, seine Passionsharmonie, seine Flugschriften und Predigten waren bis dahin jedoch kaum wahrgenommen worden. Bugenhagenforscher selbst waren es also, die ihren Protagonisten unter einseitigem Interesse für seine lokal‑ und territorialreformatorischen Leistungen zunächst einmal in den „Schatten Luthers“ hineinstellten, aus dem er dann erst mühselig wieder hervorgeholt und ans Licht gebracht werden mußte. Erst seit den achtziger Jahren haben Forscher wie Hans Hermann Holfelder, Wolf-Dieter Hauschild, Anneliese Bieber und Ralf Kötter die bemerkenswerte Eigenständigkeit in Bugenhagens früher theologischer Entwicklung stufenweise herausarbeiten können.241
238 Vgl. Martin Brecht: Theologie oder Theologen der Reformation?, in: Reformation in Deutschland und Europa 1993, S. 99–117; hier 99. 239 Nur wenige Stichproben zur Anwendung der ,Schatten‘-Metapher auf Johannes Bugenhagen mögen hier genügen. Ernst Wolf: Johannes Bugenhagen. Gemeinde und Amt [zuerst 1935], in: ders.: Peregrinatio. I. Studien zur reformatorischen Theologie. München 21962, S. 257–278; hier 260. – Hans-Walter Krumwiede: Vom reformatorischen Glauben Luthers zur Orthodoxie. Theologische Bemerkungen zu Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung und zu Urbanus Rhegius’ formulae quaedam caute et citra scandalum loquendi, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 53 (1955), S. 33–48; hier 35. – Kurt D. Schmidt: Bugenhagens geschichtliche Bedeutung, in: Zum Gedenken an Johannes Bugenhagen 1485–1558 (hg. v. Hans Heesch). Hamburg 1958, S. 7–12; hier 7. – Friedrich-Wilhelm Krummacher: Geleitwort, in: Johann Bugenhagen 1958, S. 5 f.; hier 6. – Horst Beintker: Der Reformator Bugenhagen. Neuordnung der Kirche unter dem Einfluß reformatorischer Theologie, in: Theologische Zeitschrift 38 (1982), S. 532–554; hier 534. 240 Robert Stupperich: Johannes Bugenhagen und die Ordnung der Kirche im norddeutschen Raum, in: Kirche im Osten 3 (1960), S. 116–129; hier 119. – Ähnlich Krumwiede 1955; S. 40. Dieser korrigierte freilich später seine Einschätzung aufgrund neuerer Forschungsergebnisse; vgl. ders.: Kirchenverfassung und christliche Existenz bei Bugenhagen. Gemeindevortrag in Greifswald, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 84 (1986), S. 105–122. 241 Vgl. ausführlich unten; S. 115.
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Für eine vollständige Biographie242 muß unterdessen immer noch auf konfessionell geprägte ,Lebensbilder‘ aus dem 19. Jahrhundert zurückgegriffen werden243, wobei die umfangreichste Darstellung von Karl Vogt (1864) zwar in mancherlei Hinsicht überholt, aber durch ihre Quellennähe bis heute unverzichtbar geblieben ist. Das zu Bugenhagens 400. Todestag 1958 neuerwachte Interesse führte noch kaum über populärwissenschaftliche Gedenkliteratur hinaus244. Mit dem grundlegenden Lexikonartikel von Hans Hermann Holfelder245 im 7. Band der Theologischen Realenzyklopädie war 1981 dann auf knappem Raum die erste moderne wissenschaftliche Gesamtschau von Leben, Werk und Wirkung Bugenhagens gegeben. Parallel dazu wuchs, auch durch örtliche Reformationsjubiläen bedingt, das Interesse an Kirchenordnungen und Theologie dieses Reformators deutlich246, bevor der nachhaltigste Impuls dann vom Greifswalder BugenhagenJubiläum 1985 ausging. In diesem Jahr konnten der 500. Geburtstag des Reformators und das 450. Jubiläum seiner pommerschen Kirchenordnung zusammen gefeiert werden, eine Koinzidenz, die die evangelische Landeskirche geschickt für sich zu nutzen verstand. Gleichsam im Windschatten des erfolgreichen Luther-Jubiläums, das in der DDR zwei Jahre zuvor mit staatlicher Unterstützung begangen worden war, konnten die Veranstaltungen247 und Veröffentlichun242 Zur biographischen Bugenhagenforschung vgl. zusammenfassend Hans-Günter Leder: Aspekte, Probleme und Ergebnisse der Bugenhagenbiographie, in: De Kennung 13/2 (1990), S. 5–28. 243 Vgl. etwa Johann H. Zietz: Johannes Bugenhagen. Leipzig 1829. – Vogt 1867. – [Ernst] Zitzlaff: D. Johannes Bugenhagen, Pomeranus. Sein Leben und Wirken zum 400 jährigen Gedächtnis seiner Geburt erzählt. Wittenberg 1885. – Hermann Hering: Doktor Pomeranus, Johannes Bugenhagen. Ein Lebensbild aus der Zeit der Reformation. Halle 1888 (SVRG 22). 244 Vgl. Klaus Harms: D. Johann Bugenhagen. Bielefeld 1958. – Robert Stupperich: Dr. Pomer. Zum 400. Todestag des Reformators Johannes Bugenhagen, in: Luther 29 (1958), S. 48– 60. – Albrecht Wolfinger: Johannes Bugenhagen. Mitstreiter, Freund und Beichtvater Luthers. Stuttgart 1958. – Zum Gedenken an Johannes Bugenhagen 1485–1558 (hg. v. Hans Heesch). Hamburg 1958. – Johann Bugenhagen 1958. 245 Vgl. Hans H. Holfelder: Bugenhagen, Johannes (1485–1558), in: TRE 7 (1981), S. 354–363. 246 Vgl. etwa Hermann Kuhr: Dokumente zur Reformation. Bugenhagen 1528 in Braunschweig. Ausstellung im Städtischen Museum Braunschweig, Steintorwall 14, 17. September – 15. Oktober 1978. Braunschweig 1978. – Die Reformation in der Stadt Braunschweig 1528– 1978 (hg. v. Stadtkirchenverband Braunschweig). Braunschweig 1978. – Auch das Lübecker Reformationsjubiläum 1981 gehört in diese Reihe; Wolf-Dieter Hauschild publizierte aus diesem Anlaß seine Faksimileausgabe von Bugenhagens Lübecker Ordnung, in der hohen Qualität der Kommentare deutlich angelehnt an das prägende Hamburger Vorbild von Hans Wenn; vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981). 247 Vgl. Verpflichtendes Vermächtnis. Ökumenisches Bugenhagen-Gedenken in Greifswald aus Anlaß der Reformation im Herzogtum Pommern vor 450 Jahren und des 500. Geburtstages des Reformators D. Johannes Bugenhagen, Pomeranus. Dokumentation des Festtages am 24. Juni 1985 in Greifswald und Hinweise auf weitere Veranstaltungen zum Bugenhagen-Gedenken (hg. v. d. Evangelischen Landeskirche Greifswald). Greifswald 1985. – Zur Situation des Bugenhagen-Gedenkens 1985 im Kontext der DDR-Politik vgl. rückblickend Norbert Buske: 20
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gen248 zu diesem Anlaß für eine selbstbewußte Standortbestimmung der evangelischen Landeskirche im sozialistischen Staat genutzt werden. Hierfür konnte Bugenhagen geradezu als Chiffre eingesetzt werden.249 Besonders der Greifswalder Kirchenhistoriker Hans-Günter Leder intensivierte in diesem Zusammenhang seine biographischen Forschungen zu Johannes Bugenhagen, die auch später noch weitergeführt wurden und 2002 noch einmal in einer sehr hilfreichen Auswahlsammlung vorgelegt werden konnten.250 Sein Projekt einer umfassenden Biographie kam jedoch nie zum Abschluß.251 Was die Erforschung von Bugenhagens Kirchenordnungen betrifft, so war 1958 noch von erheblichem Aufholbedarf die Rede: „Als Bibelübersetzer, der Martin Luthers großes Werk ins Plattdeutsche übertrug, ist Bugenhagen auch im Bewußtsein unseres Volkes lebendig geblieben. Sein eigentliches Werk aber, die Schaffung der Kirchenordnungen im ganzen norddeutschen Raum, ist darüber beinahe vergessen.“252 Eine eingehende Studie darüber „wäre eine lohnende Aufgabe der kirchengeschichtlichen Forschung. Wir würden gerade aus unserem heutigen Verständnis der Kirche erst erkennen, welch zeitüberdauernde Leistung Johannes Bugenhagen damit vollbracht hat.“253 Dreieinhalb Jahrzehnte später gab Ralf Kötter eine genau entgegengesetzte Diagnose ab: „Lange Zeit konzentrierte sich das besondere Interesse der Bugenhagen-Forschung auf einen einzigen, ausgewählten Aspekt: Im Blickpunkt standen die Kirchenordnungen, die Bugenhagen als Kirchenorganisator im niederdeutschen und skandinavischen Jahre Arbeitsgemeinschaft Kirchengeschichte der Pommerschen Evangelischen Kirche. Schwerin 1995; hier S. 47–57. 248 Vgl. Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985). – Ders.: Historia 1586 (1985). – Johannes Bugenhagen. Gestalt und Wirkung. Beiträge zur Bugenhagenforschung. Aus Anlaß des 500. Geburtstages des Doctor Pomeranus (hg. v. Hans-Günter Leder). Berlin [Ost] 1984. – Ders. u. Norbert Buske: Reform und Ordnung aus dem Wort. Johannes Bugenhagen und die Reformation im Herzogtum Pommern. Berlin [Ost] 1985. – Einzeln erschien Hans-Dietrich Pompe: Johannes Bugenhagen Pomeranus. Stationen seines Glaubensweges, Schwerpunkte seines Wirkens. Zum Gedenken an seinen 500. Geburtstag am 24. Juni 1985, in: Baltische Studien 117/NF 71 (1985), S. 50–80. – Als westdeutsches Pendant dieses Jahres nennenswert: Kirchenreform als Gottesdienst. Der Reformator Johannes Bugenhagen (hg. v. Karlheinz Stoll). Hannover 1985. 249 Vgl. etwa die Thesen über Johannes Bugenhagen zu seinem 500. Geburtstag im Jahre 1985. Beschlossen von der Landessynode der Evangelischen Landeskirche Greifswald auf ihrer 8. ordentlichen Tagung der VII. Landessynode im [sic] Züssow, vom 1. bis 4. November 1984. – Wieder gedruckt in: Verpflichtendes Vermächtnis 1985, S. 74–82. 250 Vgl. ders.: Johannes Bugenhagen Pomeranus – Vom Reformer zum Reformator. Studien zur Biographie (hg. v. Volker Gummelt). Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Greifswalder theologische Forschungen 4). Zu den nicht enthaltenen Aufsätzen nach 1985 gehört: „Mein Lob ist Davids Harffe …“. Anmerkungen zum Wappen Johannes Bugenhagens, in: Baltische Studien 126 (1994), S. 25–35. 251 Vgl. Leder 1990; hier 15. – Er ist im Januar 2006 gestorben. 252 Kurd Schulz: Bugenhagen als Schöpfer der Kirchenordnung, in: Johann Bugenhagen 1958, S. 51–63; hier 51. 253 Ebd.; S. 63.
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Raum entworfen hat. Diese Quellen liegen ausnahmslos in kritischen Editionen vor. Darüber hinaus wurde dieses Thema zum Schwerpunkt zahlreicher Publikationen gemacht. Vernachlässigt wurde dagegen die Bedeutung, die der Pomeranus als Exeget und Theologe erlangte.“254 Doch zeigt sich anderseits bei genauem Hinsehen, daß in der Zwischenzeit Bugenhagens Kirchenordnungen keineswegs „zum Schwerpunkt zahlreicher Publikationen gemacht“ worden waren, so daß Anlaß zu Erschöpfung und Überdruß bestanden hätte. Unter den monographischen Arbeiten finden sich freilich bis heute einige, die einzelne Aspekte aus diesem Quellencorpus systematisieren, zum Teil unter Hinzunahme von Bugenhagens Flugschriften. So erschien bereits 1966 eine liturgiehistorische Untersuchung von Johannes Bergsma255, und 2003 legte Yvonne Brunk ihre Studie zu Bugenhagens Tauftheologie vor256. Die zahlreichen Aufsätze dagegen, in denen dieser Komplex thematisiert war, gingen selten257 über den Horizont lokal‑ und regionalgeschichtlicher Interessen hinaus und vermochten die Ordnungstätigkeit Bugenhagens kaum innnerhalb weitergesteckter Fragestellungen der Reformations‑ und Konfessionalisierungsforschung zu lokalisieren. Seltsam ist vor allem, daß die Debatten um ,Konfessionalisierung‘, ,Modernisierung‘ und ,Sozialdisziplinierung‘ nahezu spurlos an der Bugenhagenforschung vorbeizogen, ohne daß die hier aufgeworfenen Fragen einmal aus ihrer Richtung offensiv beantwortet worden wären. Das hätte freilich nahegelegen – gerade angesichts der Prominenz von Bugenhagens Kirchenordnungen und vor dem Hintergrund ihrer mittlerweile gut erforschten theologischen Grundlagen. Eine solche Aufgabe hätte freilich bedeutet, daß endlich einmal hätte überprüft werden müssen, welche konkreten Folgen diese Ordnungstexte eigentlich hatten. Einen – wenn auch bescheidenen – Beitrag hierzu soll die vorliegende Studie liefern. Speziell zur Armenfürsorge liegt bislang eine Dissertation des Amerikaners Frank Peter Lane258 vor, der bereits anhand von Bugenhagens Kirchenordnungen dessen besonderes Profil herausstellt. Ältere Debatten um die mögliche Abkunft reformatorischer Fürsorgemodelle aus humanistischen und säkularpolizeilichen Konzepten aufgreifend, stellt Lane heraus, daß Bugenhagen „poor relief as a basically religious problem“259 betrachtete und die Verpflichtung zur tätigen Nächstenliebe daher unmittelbar aus der Bibel und speziell aus der Rechtfertigungslehre ableitete. Diese Motivation zu leugnen und die Armenfürsorge, einen konstitutiven Bestandteil der reformatorischen Neuordnung, stattdessen mit rein 254
Kötter 1994 b; S. 11. Vgl. Johannes H. Bergsma: Die Reform der Meßliturgie durch Johannes Bugenhagen (1485–1558). Kevelaer 1966. 256 Vgl. Brunk 2003. 257 Positiv zu würdigen sind u. a. diverse Studien von Ernst Wolf, Wolf-Dieter Hauschild, Georg Kretschmar und Anneliese Sprengler-Ruppenthal. 258 Frank P. Lane: Poverty and Poor Relief in the German Church Orders of Johannes Bugenhagen, 1485–1558. Ann Arbor 1974. 259 Ebd.; S. 234. 255
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säkularen Interessen zu begründen, würde im Umkehrschluß bedeuten, den Reformatoren insgesamt das religiöse Fundament abzusprechen, „and I am not prepared to take the position that the Reformation was a humanist and/or secular movement in its origins and intent.“260 Das ist ausdrücklich gegen eine Interpretation reformatorischer Armenfürsorge als Teil eines Säkularisierungsprozesses durch die weltliche Herrschaft gerichtet, wie sie zu Beginn des Jahrhunderts in der einflußreichen Arbeit von Leonhard Feuchtwanger zur Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation vertreten worden sei.261 Anderseits hatte Feuchtwanger gerade „die Bugenhagenschen Kastenordnungen als glückliche Ansätze zu einer allgemeinen, über die Zwecke und Leistungen kirchlicher Stiftungen hinausgehenden, obrigkeitlichen Regelung des Unterstützungswesens“262 gewürdigt, weil sie den Mittelweg zwischen rein weltlichen und „religiös-kommunistischen“ Ansätzen hergestellt hätten. Und doch hätten die Reformatoren bloß „die Ideen und Einrichtungen der katholischen Humanisten auf einen gesunderen Boden verpflanzt“263 – hier versucht Lane, die evangelischlutherischen Spezifika in Bugenhagens Fürsorgemodell stärker zu profilieren. Freilich bleibt auch er streng den tradierten Begriffen von poverty und poor relief verpflichtet, ohne das Fürsorgekonzept inhaltlich auszuweiten. Dem entspricht ein recht enger Quellenbegriff, der kaum über das früher schon Behandelte hinausreicht. Und nicht anders als in älteren Arbeiten bleiben die tatsächlichen Folgen der normativen Texte ausgeblendet. Jedenfalls ist das wirkungsgeschichtliche Problem ansatzweise erkannt worden.264 Diese Einschränkungen gelten für weitere Arbeiten, die sich mehr oder weniger konzentriert der Fürsorgekonzeption Bugenhagens zuwenden. Sebastian Kreiker hat in seiner 1996 erschienenen Dissertation zu Armenversorgung und Schulwesen in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts deren immensen Bestand zu systematisieren versucht und hieraus eine beachtliche Gesamtschau zusammengestellt, die zum Teil auch regionale Unterschiede einbezieht. Der durchdachte Aufbau ermöglicht die Benutzung als Handbuch zu Fürsorge‑ und Schulkonzeptionen im 16. Jahrhundert und berücksichtigt bereits auf der Gliederungsebene diakonische Funktionen auch außerhalb des materiellen Armutsbegriffs: So werden die „Hausarmen“, „Alte, Kranke und Kinderreiche“, „Witwen“, „Knechte und Mägde“, „Schwangere“ und „Kinder“ als Objekte der 260
Ebd.; S. 230. Vgl. ebd.; bes. S. 99 u. 229. – L[eonhard] Feuchtwanger: Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation. Teil I, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 32 (1908), S. 167–204. – Ders.: dass. Teil II, ebd. 33 (1909), S. 191–228. – Von „Säkularisierung des Armenwesens“ durch die SchleswigHolsteinische Kirchenordnung sprechen etwa auch Sievers / Zimmermann 1994; S. 66. 262 Feuchtwanger 1909; S. 197 f. 263 Ebd.; S. 199. 264 Vgl. den Versuch bei Lane 1983; S. 154 f. 261
I. Einführung und historische Grundlagen
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Fürsorge differenziert.265 Im Zentrum steht jedoch weiterhin der Gemeine Kasten. Was die Folgen der mannigfaltigen Ansätze betrifft, so mag aus der ständigen Wiederholung von Bettelverboten abzulesen sein, daß ihre Durchschlagskraft nur gering war, doch entscheidend sei Kreiker zufolge die langfristige Geltung von Normen, die zum Teil bis heute prägend weitergewirkt hätten, „wie zum Beispiel das Subsidiaritätsprinzip der öffentlichen Fürsorge.“266 Auch hier erscheinen die Kirchenordnungen „nicht als bloße obrigkeitliche Verordnungen“, zumal sie von christlich überzeichneten Idealbildern bestimmt gewesen seien, „die es im wirklichen Leben kaum geben konnte.“267 – Zuletzt hat Anneliese SprenglerRuppenthal268, die sich den kirchenrechtlichen Dimensionen von Bugenhagens Ordnungstexten schon mehrfach zugewandt hatte, im Rahmen eines Beitrags Zur Entwicklungsgeschichte der reformatorischen bzw. reformierten Kirchen‑ und Armenordnungen auch Bugenhagens Pläne berücksichtigt, bleibt dabei jedoch ebenfalls in ungewöhnlich simplifizierender Vorgehensweise auf der normativen Ebene und vermag zu den leicht in den Ordnungstexten nachlesbaren Einzelbestimmungen nicht viel Neues beizutragen. Schon durch die Komplexität der „Kastenordnungen“269 überfordert, weitet sie den Blick auch keinesfalls auf abgelegenere diakonische Aufgaben und gelangt so kaum ansatzweise zu einem schlüssigen Gesamtbild.
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Kreiker 1997; S. 5. Ebd.; S. 237. 267 Ebd.; S. 236. 268 Anneliese Sprengler-Ruppenthal: Zur Entwicklungsgeschichte der reformatorischen bzw. reformierten Kirchen‑ und Armenordnungen, in: Entstehung einer Ordnung 1 (2004), S. 180–210. 269 Auffällig ist die durchgängige Rede von „Bugenhagens Kastenordnungen“ (ebd.; S. 190), „Hamburger Kastenordnung“ (ebd.), „Lübecker Kastenordnung“ (191) usw., als wäre damit das ganze Konzept abgedeckt. Ferner: „Die Regelung der Aufgaben, Aufgabenbereiche, Dienstzeiten der Diakone und dergleichen ist sehr kompliziert und detailliert beschrieben und zum Teil ortsabhängig“ (190). Zweifellos. 266
Erster Teil
Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation Aus den Vorüberlegungen folgt für das weitere Unternehmen, daß zwei Wegstrecken zu gehen sind: In einem ersten Teil sollen die theologischen Dimensionen der öffentlichen Fürsorge mit konzentriertem Blick auf die Motivation Guter Werke vor und nach der Reformation zur Darstellung kommen, in einem zweiten die organisatorischen Pläne und diakonischen Leistungen von Bugenhagens Kirchenordnungen. In theologischer Hinsicht soll zunächst jenem in der Forschung so oft postulierten Wechsel von mittelalterlicher ,Werkgerechtigkeit‘ zu freier Hilfsbereitschaft aus ,christlicher Liebe‘ nachgegangen werden, denn hierauf beruhte ja die Annahme, das chaotisch und aus blankem Eigennutz gegebene Almosen sei mit der Reformation durch organisierte Nächstenhilfe abgelöst worden, die erstmals den wirklichen Nöten der Menschen hätte abhelfen können, weil sie ,um Gottes Willen‘ geschehen sei. In einem Vergleich vor‑ und nachreformatorischer Sammelgeräte für Opfergaben scheint sich der motivatorische Wandel zunächst ikonographisch und religiositätsgeschichtlich zu bestätigen [II.1], was freilich an der mittelalterlichen Almosenlehre geprüft werden muß [II.2]. Tatsächlich ist es im Spätmittelalter zu einer Krise der überkommenen Fürsorgemotivation gekommen, doch aus Gründen, die mit dem vorreformatorischen Ordnungsstreben, den Bettelverboten und Armenordnungen zusammenhingen und die religiöse Motivation des Almosens gleichsam konterkarierten. Beide Entwicklungen steigerten sich, zunächst voneinander kaum berührt, vor dem Hintergrund akzelerierter Heilssehnsucht, bis um 1500 verstärkt Blockaden wahrgenommen wurden. Das wird an oberdeutschen Quellen zu illustrieren sein, etwa Sebastian Brant und Johannes Geiler von Kaysersberg in Straßburg [II.3–4]. Im weiteren Verlauf sollen argumentative Probleme der Fürsorgemotivation gesichtet werden, die mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre eintraten. Als fortgesetzter Lösungsweg in dieser Hinsicht kann Johannes Bugenhagens theologische Entwicklung gesehen werden – vom vorreformatorischen Bibelhumanismus über die gewissenhafte Adaption von Luthers Theologie bis hin zur Emanzipation einer eigenen optimistischen, stark praktisch orientierten Ethik, die unmittelbare Auswirkungen auf die verfaßte Gestalt von Kirche und öffentlicher Fürsorge haben sollte [III.1–4]. Schließlich wird der Blick noch einmal nach Oberdeutschland gehen, um vergleichshalber zu sehen, wie in den reformatorischen Reichsstädten Ulm, Straßburg und Augsburg der geänderten Situation im Fürsorgewesen argumentativ
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
begegnet wurde, wo erneuerte Armenordnungen im Geiste des Spätmittelalters galten. Martin Bucers theologische und kirchenorganisatorische Beiträge werden hier ebenso zu bedenken sein wie der motivatorische Einsatz anderer Geistlicher für das Straßburger Fürsorgewesen [III.5].
II. Blüte der Jenseitsvorsorge und Krise der Armenfürsorge 1. Almosenbretter und Opferstöcke als Dokumente der Geberfrömmigkeit Im Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum auf Schloß Gottorf wird seit 1900 ein Gegenstand (Abb. 1) aufbewahrt, der besonders einprägsam die Almosenkultur am Vorabend der Reformation widerspiegelt1: Es handelt sich um eine flache Eichenholzlade von 24 cm Länge und 18 cm Breite, zur Hälfte durch ein dünnes Brettchen abgedeckt und mit einem runden Griff versehen, so daß sie im Gottesdienst oder vor der Kirche herumgetragen werden konnte, um darin Opfergeld für Bedürftige einzusammeln. Am hinteren Rand ist eine kleebogenförmige Sichtblende aufgerichtet, die auf der Rückseite mit einem verzierten Glöckchen versehen ist. Zum Spender weisend, zeigt sie in reliefartiger Darstellung die Vollfiguren der Apostel Petrus und Paulus, kenntlich an ihren Attributen, Schlüssel und Schwert. Beide sind in lange rote Gewänder und blaue Mäntel gekleidet und beide durch ein Buch ausgewiesen. Die Farbfassung ist an etlichen Stellen durch eine Goldauflage ergänzt. Das Stück gehört zu einer Sachgruppe von Sammelgeräten2, die vom 13. bis ins 19. Jahrhundert hinein primär in Norddeutschland und im Ostseeraum verbreitet 1 Vgl. Richard Haupt: Noch ein paar Bettelbretter, in: Zeitschrift für Christliche Kunst 12 (1899), Sp. 75–80. – K[ai] D. S[ievers]: Seit dem Spätmittelalter bediente sich die Kirche beweglicher Geräte, um während des Gottesdienstes Opfergaben für Bedürftige einzusammeln. Almosenbrett, in: Glauben. Nordelbiens Schätze 800–2000 (hg. v. Johannes Schilling). Ausstellungskatalog Kiel 2000; Neumünster 2000, S. 64 f. – Tim Lorentzen: Zeugnisse mittelalterlicher Religiosität im Lande, in: Christentum zwischen Nord‑ und Ostsee. Eine kleine ökumenische Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins (hg. v. Martin Lätzel u. Joachim Liß-Walther). Bremen 2004, S. 31–41; hier 39 f. – Mehrere Autopsien dieses und anderer Stücke in den Ausstellungsräumen und Magazinen von Schloß Gottorf verdanke ich Dr. Jan Drees (Schleswig). 2 Vgl. Hans Wentzel: Schleswig-Holsteinische Bettelbretter und andere Almosengeräte, in: Die Heimat 46 (1936[a]), S. 140–143. – Ders.: Bedel, in: RDK 2 (1948), Sp. 167–172. – Renate Kroos: Opfer, Spende und Geld im mittelalterlichen Gottesdienst, in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 502–519; hier S. 510 f. – Kai D. Sievers: Leben in Armut. Zeugnisse der Armutskultur aus Lübeck und Schleswig-Holstein vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Heide 1991; S. 97–102. – Zum Ganzen jetzt auch Tim Lorentzen: Almosenbretter, Opferstöcke und Gemeine Kästen – Quellen zur Armenfürsorge vor und nach der Reformation, in: Luthers Lebenswelten [Arbeitstitel]. Halle 2008 (Veröffentlichungen des Landesamtes für Archäologie Sachsen-Anhalt 62) [im Druck].
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
war und vor allem unter dem Titel der Almosenbretter bekannt ist; andere geläufige Bezeichnungen sind Armenbrett, Almosenschaufel, Klappe, Bede(brett), Bedel(brett), Belt oder schlicht Brede bzw. Brett, wofür in den lateinischen Quellen tabula steht.3 In der Regel handelt es sich um schaufelförmige Kästchen, die mit einer ikonographisch gestalteten Sichtblende und einem Griff oder einer Stange versehen sind und in den Gemeinden zum Einsammeln von Almosen herumgetragen werden konnten. Damit können sie zurecht als Vorläufer der heute verbreiteten Klingelbeutel gelten, zumal etliche von ihnen, wie das Beispiel zeigt, bereits mit einem Glöckchen ausgestattet waren, so daß niemand einzeln zur Spende aufgefordert werden mußte. In manchen Gegenden waren sowohl Almosenbretter als auch Klingelbeutel in Gebrauch.4 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, vereinzelt auch noch später, sind zu diesem Zweck weiterhin neue Almosenbretter hergestellt worden. Aus kunstwissenschaftlicher, volkskundlicher und kirchenhistorischer Sicht sind die Almosenbretter allerdings bisher nur eingeschränkt wahrgenommen worden.5 Während sich die traditionelle Kunstwissenschaft in erster Linie für Qualität und Klassifikation der ikonographischen Darstellungen interessierte6, sind die Almosenbretter von Volkskundlern primär als Sachzeugnisse der Armenkultur betrachtet worden7, so daß hier Fragen der konkreten Benutzung im Vordergrund standen. Besonders die Kirchengeschichtsschreibung hat hier jedoch großen Aufholbedarf. Soweit solche Objekte bisher überhaupt ins Blickfeld gekommen sind, standen auch hier ihre äußere Entwicklung und praktische Verwendung im Vordergrund.8 Das entspricht einem generellen Desiderat in den Geschichtswissenschaften, die sich seit dem 19. Jahrhundert vorrangig auf das geschriebene Wort konzentriert hatten. Bilder, Architektur oder Gebrauchsgegenstände standen im Sinne der ,positiven‘ Historiographie allenfalls als Illustrationen zur Ereignisgeschichte zur Verfügung, ohne jedoch eigenen Quellenwert beanspruchen zu dürfen. Brauchbare Modelle für eine historische Bildwissenschaft hingegen, die 3
Vgl. Kroos 1985; S. 511, mit Nachweisen. Vgl. zur reformatorischen Verwendung unten S. 243. 5 Ähnlich der Befund von Wolfgang Glüber: Darstellung von Armut und bürgerlicher Armenfürsorge im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Kunsthistorische Interpretation von Altargemälden, Almosentafeln und Illustrationen. [CD-ROM,] Frankfurt a. M. 2000; S. 172. 6 Ein für diese ästhetisch klassifizierende Tradition typisches Urteil ist die Einschätzung des hier dargestellten Exemplars als einer „übrigens sehr unvollkommenen Arbeit“ durch den Schleswig-Holsteinischen Landeskonservator Haupt 1899; Sp. 76. 7 Vgl. v. a. Sievers 1991; 91–116. – Wenn das Geld 2005. 8 So vermochte Ernst Schubert zur Entwicklung des Klingelbeutels aus dem Almosenbrett viel beizutragen, sah aber keine darüberhinausgehende Bedeutung dieser Gegenstände als Quelle für sein spezifisches Erkenntnisinteresse; vgl. Ernst Schubert: Die Antwort niedersächsischer Kirchenordnungen auf das Armutsproblem des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 89 (1991), S. 105–132; hier 118 mit Anm. 62. – Eine reflektierte Auswertung von Bildmaterial zur Geschichte der Armut wird auch angemahnt und methodisch erprobt von Glüber 2000; zunächst S. 4–9. 4
II. Blüte der Jenseitsvorsorge und Krise der Armenfürsorge
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im 20. Jahrhundert vornehmlich von Kunsthistorikern wie Aby Warburg9 und Erwin Panofsky10 vorbereitet worden waren, sind von den Geschichtswissenschaften nur zögernd aufgenommen worden. Trotz einzelner Vorstöße auf diesem Gebiet11 meldete 1982 der Hamburger Historiker Rainer Wohlfeil in dieser Hinsicht erneut Klärungsbedarf an12 und stellte ein Jahrzehnt später in seinen Methodischen Reflexionen zur Historischen Bildkunde13 ein Modell vor, das es ermöglichen sollte, Bilder als Quellen ersten Ranges für neue geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen, nicht allein zur Illustration bereits bekannter Sachverhalte. Unabhängig vom künstlerischen, ja ästhetischen Wert kann nach Wohlfeils Überlegungen jedes Bild auf seinen „historischen Dokumentensinn“ befragt werden, soweit jedes „nicht nur geprägt ist durch seinen Schöpfer, sondern wesentlich auch bestimmt durch dessen Einbindung sowohl in Traditionen und Konventionen als auch in sein soziales Umfeld.“14 Parallel hierzu hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die aufblühende Semiotik dazu beigetragen, auch weitere Kommunikationsformen als Zeichenkomplexe zu erschließen15 und historiographisch auszuwerten. So dürfen heute auch Architektur und Gebrauchsdesign als Ausprägung zeitspezifischer Funktionen in die geschichtswissenschaftliche Quellenlektüre einbezogen werden, ohne daß die Ergebnisse nur zur Illustration bereits bekannter Sachverhalte zu dienen bräuchten, und ohne daß damit bloß volkskundlich interessante Fragen der Alltagsarchäologie beantwortet würden. 9 Vgl. Edgar Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik [zuerst 1931], in: Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme (hg. v. Ekkehard Kaemmerling). Köln 1979 (DuMont-Taschenbücher 83; Bildende Kunst als Zeichensystem 1), S. 165–184. 10 Vgl. v. a. Erwin Panofsky: Einführung. Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin, in: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Viaual Arts). Köln 1978 (DuMont-Taschenbücher 33), S. 7–35. – Ders.: Ikonographie und Ikonologie. Einführung in die Kunst der Renaissance, ebd. S. 36–67. 11 Ich nenne hier bloß Reinhart Staats: Theologie der Reichskrone. Ottonische „Renovatio Imperii“ im Spiegel einer Insignie. Stuttgart 1976 (MGMA 13); zur theologiegeschichtlichen Relevanz der ikonologischen Arbeit bes. S. 1–18. 12 Vgl. Rainer u. Trudl Wohlfeil: Landsknechte im Bild. Überlegungen zur ,Historischen Bilderkunde‘, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag am 23. Mai 1982 (hg. v. Peter Blickle). Stuttgart 1982, S. 104–119; bes. 112 mit Blick auf die Flugblattforschung. 13 Vgl. Rainer Wohlfeil: Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in: Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (hg. v. dems. u. Brigitte Tolkemitt). Berlin 1991 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 12), S. 17–35 14 Ebd.; S. 22. – Bei Erscheinen der Historischen Bildkunde 1991 klagte Wohlfeil noch über geringes Interesse der Historiker an einer brauchbaren Bildwissenschaft. Über fünfzehn Jahre später hat sich auf diesem Gebiet einiges getan. Vgl. exemplarisch Oelke 1992 und Werner Steinwarder: Romanische Kunst als politische Propaganda im Erzbistum Lund während der Waldemarzeit. Studien, besonders zum Bild der Heiligen Drei Könige. Frankfurt a. M. u. a. 2003 (Beihefte zur Mediaevistik 3). 15 Vgl. bes. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe von Jürgen Trabant. München 81994 (UTB 105); hier speziell 293–356, wo Architektur als Zeichenkomplex beleuchtet wird.
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
In diesem Sinne eignen sich die vor‑ und nachreformatorischen Almosenbretter und Opferstöcke idealtypisch zur Aufhellung jenes kontrovers beurteilten Umbruchs von der mittelalterlichen zur reformatorischen Armenfürsorge, waren doch die ikonographischen Darstellungen auf diesen Objekten unmittelbar verknüpft mit ihrer Gebrauchsfunktion beim Einsammeln von Spenden. Bild und Benutzung fügten sich zusammen in eine Handlungs‑ und Kommunikationssituation, deren zugrundeliegendes Zeichensystem allen Beteiligten bekannt war. Daß das Mittelalter eine weit verbreitete Bildhermeneutik entwickelt hat16, die sogar die Codes des Lateinischen, der Volkssprachen und des Alphabets zu überschreiten vermochte, darf bei diesen Überlegungen vorausgesetzt werden. Das hier vorgestellte Almosenbrett im Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum stammt aus der Kirchengemeinde zu Oldesloe in Stormarn und wird heute auf das 16. Jahrhundert datiert.17 In einem dortigen Kircheninventar aus dem Jahr 1489 werden freilich schon zwei solcher Instrumente aufgeführt: „Item ij bede brede. vppe deme ene is sunte peter vnde pawel, vppe deme anderen vnse leue vrouwe.“18 Ob das erwähnte Stück bereits mit unserem Exemplar identisch ist und somit früher datiert werden kann, muß bezweifelt werden. Vielleicht ist es, wie Richard Haupt19 vermutet hat, in der Frühen Neuzeit abbildgetreu nachgestaltet worden. Aber zumindest ein ganz ähnliches Brett hat es nach Ausweis des Oldesloer Kircheninventars dort vor der Reformation gegeben. Typisch für die mittelalterlichen Almosenbretter seit den Anfängen war der kleebogenförmige Abschluß des Rückenbrettchens, der auch hier bewahrt ist, typisch vor allem die kleine Doppelplastik, „insoweit bei allen derartigen Opferbrettern die die Hand verdeckende Rücktafel mit einem Heiligenstatuettchen verziert ist, wohl dem Patron der Kirche oder der Bruderschaft, für welche die Gaben gesammelt werden“20. Tatsächlich war die Oldesloer Kirche seit der Gründung durch Bischof Vicelin dem Heiligen Petrus geweiht, den auch das Stadtwappen zeigt, später auch dem Heiligen Paulus. So wäre die Ikonographie dieses Stückes hinreichend geklärt – aber nicht notwendig. Warum denn die Kirchenpatrone, so bedeutend ihre Rolle für die Identität einer mittelalterlichen Gemeinde auch gewesen sein mochte, ausgerechnet auf dem Almosenbrett in so prächtiger Ausführung dargestellt waren, verlangt nach weiterer Erklärung.
16 Vgl. Friedrich Ohly: Probleme der mittelalterlichen Bedeutungsforschung und das Taubenbild des Hugo de Folieto, in: ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 32–92. 17 Vgl. Sievers 2000. 18 Friedrich Bangert: Das Oldesloer Kerkswarenbock, in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte II, 3 (1904), S. 113–192; hier 122. Übertragung: ,Desgleichen zwei Bedebretter; auf dem einen sind Sankt Peter und Paul, auf dem anderen unsere liebe Frau.‘ 19 Haupt 1899; Sp. 76. 20 Schnütgen 1898; Sp. 146.
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Hier kommen die Kommunikationsfunktionen des Almosenbretts ins Spiel. Wurde es zum Einsammeln von Spenden im Gottesdienst oder vor der Kirche herumgetragen, so verband sich mit dem Vorgang die Aufforderung an jeden Einzelnen, sich mit einem eigenen Geldbetrag zu beteiligen. Diese Aufforderung wurde funktional gestützt durch das Umhergehen des Sammlers, durch die allgemeinverständliche Gebärde der ausgestreckten Hand, die durch die Lade sogar noch verstärkt wurde, durch das Klingeln des Glöckchens, vielleicht durch eine leichte Berührung mit dem Brett (in Leer in Ostfriesland hieß ein Almosenbrett darum im Volksmund „Rippenstößer“21!) und möglicherweise durch den Umstand, daß sich in der Lade bereits Münzen anderer Spender befanden. Alle diese Elemente vermochten den Spender nun zwar zu einer Entscheidung zu bewegen, aber doch nicht so nachhaltig zu motivieren wie die ikonographische Gestaltung der Sichtblende. Durch ihre Attribute waren die dargestellten Figuren für jedermann als Kirchenpatrone Petrus und Paulus kenntlich und damit, semiotisch gesprochen22, eindeutig denotiert. Und die Anwesenheit dieser Heiligen im Bild konnotierte zugleich mit dem Akt des Spendens – weil dabei nicht bloß historische Gestalten gezeigt wurden, sondern eben Heilige – eine eindeutige Heilszusage an den Spender, der sich durch die Gabe mit gleichzeitigem Blick auf Petrus und Paulus der Fürsprache dieser Heiligen im Jenseits sicher sein konnte. Das Almosen für die Armen zählte stets (nach Mt 25,31–46) zu den Guten Werken der Barmherzigkeit.23 Daher konnte der Spender mit dem Wohlwollen der Heiligen und mit einer Kompensation von ihrer Seite rechnen. Analog zur Spende aus seinem eigenen Vermögen erfolgte diese Kompensation ihrerseits aus dem Schatz der Heiligen. Die Vorstellung, daß die zeitlich begrenzte Sündenstrafe, die jeder Einzelne im Fegfeuer zu verbüßen habe, durch Abgeltung aus dem unermeßlichen Heilsschatz, den Jesus Christus und die Heiligen angesammelt hätten, reduziert werden könne, und zwar aktiviert durch Gute Werke, war seit 1343 durch päpstliche Lehrentscheidung verankert. Ich werde darauf im nächsten Abschnitt ausführlich zu sprechen kommen. Für den fraglichen Zusammenhang ist entscheidend, daß der Akt der Geldspende für den Geber sichtbar mit dem Versprechen der Heilszuwendung aus dem jenseitigen Schatz verbunden war, und daß hierfür die heiligen Schutzpatrone der eigenen Kirchengemeinde in einem performativen Zeichenakt einstanden. Darüberhinaus konnotierten Schwert und Schlüssel, die als Attribute beide Heilige eindeutig identifizierten, zugleich die strafende und die lösende Gewalt der Kirche. Der im Evangelium (Mt 16,19) bezeugten Schlüsselübergabe an Petrus24 entsprechend, hatte sich be21
Vgl. Wentzel 1948; Sp. 169. Sievers 1991; S. 99. Vgl. Eco 81994, S. 101–113. Ders.: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte (übers. v. Günter Memmert). Frankfurt a. M. 21981 (edition suhrkamp 895); S. 99– 102. 23 Vgl. ausführlich unten S. 79 f. 24 Vgl. J[oachim] Poeschke: Schlüsselübergabe an Petrus, in: LCI 4 (1972), Sp. 82–85. 22
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reits in der Antike die Vorstellung einer Gesetzesübergabe an Paulus25 entwickelt, was im Bildprogramm der Traditio legis kulminierte: Der thronende Christus übergibt einen Schlüssel oder ein Schlüsselpaar an Petrus sowie eine Gesetzesrolle oder einen Codex an Paulus. Im mittelalterlichen Norddeutschland und Skandinavien hat die Traditio legis überaus weite Verbreitung gefunden.26 Wo immer beide Heilige zusammenstanden, dazu mit Buch, Schwert und Schlüssel gekennzeichnet, waren diese Zusammenhänge mitzubedenken. Petrus und Paulus repräsentierten hier also nicht allein die Kirchengemeinde als deren Patrone, sondern die Kirche schlechthin, indem sie als Apostelfürsten auf deren Macht hinwiesen, stellvertretend für Gott den Sünder zu bestrafen und den Reumütigen zu erlösen. Das war eine zwingende Alternative, die bei der Konfrontation mit dem Almosenbrett bedacht sein wollte. So zeigt auch das Almosenbrett von Sieverstedt in Angeln (Abb. 2), das wohl aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammt und heute ebenfalls auf Schloß Gottorf aufbewahrt wird, auf der Sichtblende die aufgemalte Einzelfigur des Apostels Petrus, diesmal mit einem überdimensionalen Schlüssel als besonders deutlichem Hinweis auf die Binde‑ und Lösegewalt der Kirche.27 Der Spender stand angesichts der ihm entgegengehaltenen Tafel in einem Mitteilungs‑ und Entscheidungszusammenhang, der seiner Spende eine eschatologische Perspektive verlieh, indem ihm für Gute Werke die Fürsprache der Heiligen im Jenseits zugesichert wurde. Ein weiteres Beispiel mag den Zusammenhang von Jenseitsvorsorge und Almosenmotivation verdeutlichen. Auch die Kirchengemeinde zu Süsel in Ostholstein, die ebenfalls im 12. Jahrhundert durch Vicelin gegründet worden war, hatte bereits im 15. Jahrhundert ein figürlich gestaltetes Almosenbrett (Abb. 3).28 Die kleine Plastik vor der Sichtblende zeigt, wie in der bislang spärlichen Literatur richtig erkannt wurde, einen Diakon, kenntlich an seiner Dalmatica, dem langen weißen Gewand der Diakone im Hochmittelalter29, das unter dem kürzeren Mantel förmlich hervorquillt. „Der Diakon“, ist zu lesen, „war für die Armenpflege zuständig. Deshalb erscheint er hier als Relief auf dem Sammelgerät.“30 Warum das Herumtragen der Lade notwendig durch die Abbildung eines Diakons auf dem Sammelgerät unterstützt werden sollte, leuchtet jedoch nicht ein. Auch dieses Stück ist nicht isoliert von seinem Gebrauch zu interpretieren. Dargestellt ist kein beliebiger Diakon, wie sich aus der Haltung der rechten Hand ergibt. Der dort fehlende Gegenstand kann nur ein Rost gewesen sein, würde er doch die verbreitete Ikonographie des Heiligen Laurentius vervollständigen. Als 25
Vgl. W[alter] N. Schuhmacher: Traditio legis, ebd., Sp. 347–351. Vgl. nur für das Erzbistum Lund die Nachweise bei Steinwarder 2003; S. 106–119. 27 Vgl. Sievers 1991; S. 100, Abb. 171. 28 Vgl. ebd.; S. 99, Abb. 170. 29 Vgl. B[enedikt] Kranemann: Kleidung II . Liturgischer Bereich, in: LMA 5 (1999), Sp. 1201–1203; hier 1202. 30 Sievers 1991; S. 99, Abb. 170. 26
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Diakon mit Buch und Rost wird dieser seit der Antike dargestellt, wobei sich das Buch auf die bibliothekarischen Nebenaufgaben des Diakonats, der Rost auf das legendarische Martyrium des Laurentius bezieht.31 Wiederum handelt es sich um den Kirchenpatron. Auch in diesem Fall übernahm seine Darstellung jedoch weiterreichende Funktionen im Kontext der Almosensammlung und ergab sich nicht allein aus dem Pfarrpatrozinium. In der Legende des Heiligen Laurentius wird berichtet, dieser sei im zweiten Jahrhundert mit dem beginnenden Pontifikat des römischen Bischofs Sixtus II. zum Archidiakon bestimmt worden; damit war er für die Verwaltung des Kirchenschatzes wie auch für die Armenfürsorge zuständig.32 Während der Valerianischen Christenverfolgungen (257–258) habe Sixtus kurz vor seinem eigenen Martyrium Laurentius mit der raschen Verteilung des Kirchenguts bei den Armen beauftragt; auch das Kirchengerät sei zu diesem Zweck zu verkaufen. Ohne von dieser Aktion zu wissen, soll gleich darauf der habgierige Präfekt versucht haben, Laurentius zur Herausgabe der Reichtümer zu zwingen, der seinerseits als Antwort die Armen der Stadt zusammengebracht und ihm vorgeführt habe: „Sie sind die Schätze der Kirche, die ich dir zu zeigen versprochen habe!“ Daraufhin sei der Diakon in einem besonders qualvollen Verfahren auf dem glühenden Eisenrost hingerichtet worden. Die gewissenhafte Ausübung des Diakonats einerseits und das Feuermartyrium anderseits haben auch seine Verehrung33 bestimmt. So ist er zum Schutzheiligen der Armen geworden (und der Bibliothekare), zugleich aber auch zum Patron etlicher Berufe und Notlagen, die mit Feuer zu tun haben. Wichtiger jedoch, als daß er wie Florian vor Brandgefahr schützen soll, ist der Umstand, daß er in besonderer Weise zur Bewahrung vor den Qualen des Fegfeuers einsteht. Im Volksglauben ist etwa die Ansicht verwurzelt, jeden Freitag steige Laurentius ins Fegfeuer (wofür er wegen seiner Schmerzlosigkeit beim Martyrium besonders geeignet ist), um von dort eine Seele zu befreien. Das Almosenbrett zu Süsel dokumentiert daher auf vierfache Weise den Zusammenhang von Jenseitsvorsorge und Armenfürsorge, der auch in diesem Fall im Vorgang des Spendens in Erinnerung gerufen und aktiviert werden konnte: Nicht nur als Heiliger unter Heiligen konnte Laurentius den potentiellen Spender motivieren, indem das Gute Werk aus dem Schatz der Heiligen kompensiert werden konnte; nicht nur als Schutzpatron der eigenen Kirchengemeinde konnte er hierfür in besonderer Weise einstehen und dem barmherzigen Gemeindeglied durch seine Fürsprache Barmherzigkeit erweisen. Durch den heute verlorenen Rost, der das Martyrium des Heiligen kennzeichnet, war drittens auch die Vorbildlichkeit einer entschiedenen Armenfürsorge konnotiert, die selbst den qualvollen Tod nicht scheute: Um wieviel mehr müßte der Angesprochene bereitwillig einen 31
Vgl. L[eander] Petzoldt: Laurentius (von Rom), in: LCI 7 (1974), Sp. 374–380. Vgl. Gottfried Hammann: Die Geschichte der christlichen Diakonie. Praktizierte Nächstenliebe von der Antike bis zur Reformationszeit. Göttingen 2003; S. 65–69. 33 Vgl. Petzoldt 1974; Sp. 374 u. 379. 32
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
kleinen Betrag aus seinem Vermögen geben können! Am wichtigsten war viertens jedoch der Umstand, daß Laurentius in besonderer Weise, mehr als andere Heilige, den Spender vor den Qualen des Fegfeuers bewahren konnte, insofern seine Leidensfähigkeit auf der Glut ihn in der Volksreligiosität dafür bestimmte, das Fegfeuer betreten und wieder verlassen zu können, um von dort Arme Seelen zu retten – ein besonders triftiger Grund, sich bei diesem Heiligen durch Gute Werke Sympathien zu erwerben. Seine Popularität im ganzen Mittelalter macht es wahrscheinlich, daß alle diese Funktionen im Moment der Konfrontation mit dem Almosenbrett aktiviert werden konnten und zur Motivation von Spenden beizutragen vermochten, zumal alle Aspekte in der Gestalt des Heiligen aufs engste miteinander verwoben waren. Diese implizite Argumentationsstruktur, die auf bekanntes Wissen über die Autorität und Macht der Heiligen zurückgreifen konnte, läßt sich fast ausnahmslos für den überlieferten Gesamtbestand mittelalterlicher Almosenbretter generalisieren. In beachtlicher Anzahl haben sich, vermutlich von Norwegen ausgehend, in Schonen und auf Gotland34, an der Ostseeküste zwischen Westpreußen und Schleswig-Holstein35 sowie vereinzelt in Friesland, im Lippischen und in der Mark Brandenburg36 solche Sammelgeräte erhalten oder können zumindest ihrer Ikonographie nach erschlossen werden. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich im Kern vom 13. bis ins 17. Jahrhundert, also über die Reformation hinaus, bisweilen sogar in abgewandelter Form bis ins 19. Jahrhundert.37 Obwohl eine internationale Bestandsaufnahme bislang fehlt, darf die Referenzfunktion von Apostel‑ und Heiligendarstellungen auf vorreformatorischen Almosenbrettern geradezu als Regel gelten. Besonders verbreitet war die Muttergottes, die als Fürsprecherin im Jenseits den ersten Rang hatte.38 Ferner nahmen, ihrer 34 Vgl. Johnny Roosval: Medeltida Konst i Gotlands Fornsal. Stockholm 21928 (Gotlands Fornsals Handkataloger 1); hier Nr. 69 f., 139 f., 177–180 a, 223–226, 284–289, 312–315 sowie Tf. 7 f. – Für einzelne Kirchen der Insel vgl. zusätzlich ders.: Kyrkor i Lummelunda Ting, in: SK.Gotl 1 (1931); hier S. 219 f., 244, 264 u. 425. G. S. Hedlund: Fleringe kyrka, in: SK.Gotl 2 (1935), S. 51–60; hier S. 59. Ester Wretman-Hult: Hejnums kyrka, ebd. S. 162–177; hier 176. Alfred Edle: Väte kyrka, in: SK.Gotl 3 (1942), S. 272–314; hier S. 311. Johnny Roosval u. Erland Lagerlöf: Ala kyrka, in: SK.Gotl 4,2 (1959–1964), S. 592–643; hier S. 640. 35 Für die Verbreitung in Norddeutschland und im Ostseeraum vgl. nochmals Wentzel 1948 und Sievers 1991; S. 98. Speziell für Schleswig-Holstein Haupt 1899 und Wentzel 1936 a. Für Mecklenburg vgl. den Bestandskatalog von Kristina Hegner: Mittelalterliche Kunst II. Kleinkunst, Kunsthandwerk. Schwerin 1983; S. 29, Nr. 196–200. 36 Vgl. H[ans] Wentzel: Almosengeräte aus der Provinz Brandenburg, in: Brandenburger Land. Monatshefte für Volkstum und Heimat 3 (1936), S. 7–9. 37 Zur neuzeitlichen Fortsetzung der ikonographischen Almosenmotivation im Rahmen der Jenseitsvorsorge vgl. [Reiner] S[ö]r[ries]: Almosen und Jenseitsvorsorge, in: Wenn das Geld 2005, S. 26–30. 38 Vgl. [Alexander] Schnütgen: Romanisches Opferbrett im Nationalmuseum zu Stockholm, in: Zeitschrift für Christliche Kunst 11 (1898), Sp. 143–146. – F[riedrich] Crull: Der Bëlt der Kirche zu Bützow, in: Zeitschrift für Christliche Kunst 2 (1889), Sp. 393–396. – K[ristina] H[egner]: Silberne Bildwerke schmückten im Spätmittelalter zahlreiche große Kirchen
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Position in der Hierarchie der Heiligen gemäß, auch auf den Almosenbrettern die Apostel einen prominenten Rang ein, dann die übrigen Heiligen, die durch ein besonders leidvolles Martyrium, durch die Konnotation von ,Barmherzigkeit‘ oder als prominente Kirchen‑ und Landespatrone in hohem Maße für eine Kompensation der Spende aus dem jenseitigen Heilsschatz bürgen konnten. Zu den großen Ausnahmen gehört die plastische Darstellung einer von Engeln emporgehaltenen Monstranz39, was dem Geldopfer in Analogie zum Opfer Christi einen geradezu eucharistischen Zug verlieh, indem vielleicht auf die Gleichförmigkeit von Münzen und Hostien angespielt wurde. Die mittelalterliche Almosenmotivation beruhte mithin auf einem Korrelationsverhältnis, von dem sich auch der Spender einen Gewinn versprach, eine Verrechnung im Jenseits.40 Das zeigt sich auch, wenn der Blick von den Almosenbrettern im engeren Sinne auf weitere Sammelinstrumente des Mittelalters erweitert wird: So wurde nicht allein vor Kruzifixen und Heiligendarstellungen41 – oft auch solchen, die Reliquien enthielten – in Opferstöcke gespendet42, vielmehr gab es auch Christusfiguren, in deren Wunden Geld gelegt werden konnte43, Triumphkreuze, in deren Schäfte Opferstöcke integriert waren44 sowie kombinierte Opferstockplastiken, bei denen ein Heiliger selbst eine Spende in den aufgestellten Behälter entrichtete oder darüber wachte45. Angesichts der großen Bandbreite von Möglichkeiten, durch Bilder zur Spende zu motivieren und im Gegenzug an die Fürsprache der Heiligen zu erinnern, fällt nun aber merkwürdig auf, daß eine einzige biblische Referenzfigur, die sich als eindrückliche Warnung vor Mißachtung der Armen besonders gut geeignet hätte, in der spätmittelalterlichen Almosenmotivation keine Verwendung gefunden hat: Auf keinem Almosenbrett und keinem Opferstock, so zahlreich auch sonst die Variationen von Ermahnung und Zusage waren, findet sich der Arme Lazarus. im Lande. Sie wurden im Zuge der Reformation fast alle eingeschmolzen. Marienfigur (Bekrönung eines Bettelbrettes), in: 1000 Jahre Mecklenburg. Geschichte und Kunst einer europäischen Region. Landesausstellung Mecklenburg-Vorpommern 1995. Katalog zur Landesausstellung Schloß Güstrow, 23. Juni – 15. Oktober 1995 (hg. v. Johannes Erichsen). Rostock 1995, S. 255 f., Nr. 4.10. 39 Das Almosenbrett aus Röbel in Mecklenburg (um 1500) befindet sich im Staatlichen Museum Schwerin auf Schloß Güstrow. Vgl. Hegner 1983; S. 29, Nr. 197 mit Abb. 42. 40 So auch auch Glüber 2000; S. 167 f. anhand einschlägiger Bilddarstellungen. 41 Zum Opfern vor Bildern und Reliquien vgl. die Zusammenstellung bei Kroos 1985; S. 505–510. 42 Ein bekanntes Beispiel für ein Kruzifix, das Reliquien enthielt und vor dem ein Opferstock aufgestellt war, ist das sogenannte Imervardkreuz in der Stiftskirche zu Braunschweig; vgl. W[illibald] S[auerländer]: Kruzifix (Imervardkreuz), in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977. Bd. 1: Katalog (hg. v. Reiner Haussherr). Stuttgart 41977, S. 343 f., Nr. 462. 43 Vgl. Kroos 1985; S. 503 f. 44 Vgl. ebd.; S. 504 f. und Tf. XLII , Abb. 86. 45 Vgl. ebd.; S. 506 f. und Tf. XLII , Abb. 87.
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Das nur im Lukasevangelium (Lk 16,19–31) überlieferte Gleichnis Jesu berichtet in seinem ersten Teil von den Folgen der Hilfsverweigerung eines gottlosen Prassers am Armen Lazarus, der vor dessen Haus auf Almosen wartet und sich von Hunden die Geschwüre lecken lassen muß: Der Reiche gelangt nach seinem Tod in die Hölle, der Arme in Abrahams Schoß. Der zweite Teil, über den noch weiter zu sprechen sein wird, ist bestimmt von später Reue des Reichen, seinen erfolglosen Versuchen, Milderung von seinen Qualen zu bekommen und von den mißlungenen Appellen an Abraham, durch eine Botschaft aus dem Jenseits wenigstens seine hinterbliebenen Brüder eines Besseren zu belehren. Daß derjenige, der sich der Armut auf der Straße gegenüber hartherzig zeigt, seinerseits nicht mit Barmherzigkeit rechnen kann und vom Höllenfeuer bedroht ist, wäre eine Mahnung, die sich in der vorreformatorischen Almosenmotivation hervorragend angeboten hätte. Zwar gibt es zahlreiche Darstellungen der Parabel in der mittelalterlichen Buchmalerei und vor allem in der Bauplastik46, doch im Zusammenhang mit konkreter Almosenmotivation, etwa im Kontext von Geldsammlungen, ist mir kein mittelalterliches Beispiel bekannt. Das änderte sich erst mit der Reformation. Wo immer in Norddeutschland und im Ostseeraum der Arme Lazarus auf Almosenbrettern und Opferstöcken gezeigt wird, stammen diese mit Sicherheit aus der nachreformatorischen Zeit. So gab dieselbe Kirchengemeinde zu Oldesloe in Stormarn, die bereits 1489 zwei Almosenbretter mit der Muttergottes und den Schutzpatronen Petrus und Paulus besaß, bald nach der Reformation einen neuen Opferstock (Abb. 4) in Auftrag, der jetzt einem ganz anderen Bildprogramm verpflichtet war47: Der gut einen Meter hohe, aus einem Stamm gefertigte Behälter wird nahezu ausgefüllt von der farbig gefaßten Figur eines knienden Mannes. Nur mit einem Lendentuch bekleidet, gilt er als nackt; seine magere Erscheinung kennzeichnet ihn als hungrig; der Hut weist auf Wanderschaft hin; mit der Linken hält er eine leere Bettelschale, die seine Armut signalisiert; mit der Rechten weist er auf eine klaffende Wunde am Bein, womit er als Kranker gekennzeichnet ist. Damit vereint er ein ganzes Bündel von Bedürftigkeitsmerkmalen auf sich, die die christliche Barmherzigkeit seiner Mitmenschen fordern: „Denn ich bin hungrig gewesen“, sagt Christus in der Weltgerichtsrede (Mt 25, 35 f.), „und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. 46 Vgl. J[oachim] M. Plotzek: Lazarus, Armer, in: LCI 3 (1971), Sp. 31–33. – Kai D. Sievers: Die Parabel vom reichen Mann und armen Lazarus im Spiegel bildlicher Überlieferung. Kiel 2005. 47 Vgl. Hartwig Beseler: Kunst-Topographie Schleswig-Holstein. Bearbeitet im Landesamt für Denkmalpflege Schleswig-Holstein und im Amt für Denkmalpflege der Hansestadt Lübeck. Neumünster 1967; Ndr. 1989; S. 843, Abb. 2281. – Sievers 1991; S. 91, Abb. 148. – Für das liebenswürdige Entgegenkommen bei der Autopsie des Stücks danke ich Herrn Reinhard Struck und Pastor Dr. Rolf Dabelstein (Bad Oldesloe).
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Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.“ Auch schon im Mittelalter galten nach dieser Stelle die Versorgung Hungernder und Dürstender, die Beherbergung Fremder, das Bekleiden von Nackten, der Besuch bei Kranken und Gefangenen, ergänzt durch die Bestattung der Toten (Tob 1,20), als Werke der Barmherzigkeit. Der Opferstock von Oldesloe spielt durch die geschickte Zusammenstellung von Leidenszeichen deutlich auf das Christuswort an, das bekanntlich mit einer eindringlichen Mahnung die eschatologische Alternative von Lohn und Strafe benennt: „Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben“ (Mt 25, 45 f.). Zugleich aber – und dies war bislang sogar die einzige Deutung – kann der Opferstock mit guten Gründen48 als Darstellung des Armen Lazarus betrachtet werden. Daß Barmherzigkeit am Ende aller Tage belohnt, Hartherzigkeit jedoch endgültig bestraft wird, ist hier durch Kombination beider Bibelstellen als eindringliche Warnung ins Bild gesetzt worden. Diese Konnotation kann für etliche nachreformatorische Almosenbretter und Opferstöcke nachgewiesen werden.49 Wie in Oldesloe, so war auch in der Kirchengemeinde zu Väte auf Gotland vor der Reformation ein Almosenbrett mit Aposteldarstellung, vom 18. Jahrhundert an hingegen ein Opferstock mit gemaltem Lazarusbild in Gebrauch.50 Im holsteinischen Landkreis Pinneberg haben sich allein drei barocke Lazarus-Opferstöcke erhalten.51 Zwei davon, in Seester (Abb. 5) und Uetersen, zeigen den Armen Lazarus vollplastisch als kauernden Träger des eigentlichen Opferkastens, beide aus der Zeit um 1650. Hier sind die Hunde, die dem Mann seine verwundeten Beine lecken, verdeutlichend als Attribut hinzugekommen. Ebenfalls in der Mitte des 17. Jahrhunderts sind die Almosenbretter aus der Kapelle zu Salem im Herzogtum Lauenburg52 und aus der Kirche zu Ülsby in Angeln53 entstanden, die beide den Armen Lazarus zeigen. Beide Stücke dokumentieren, daß nicht nur die frühere Form des Einsammelns milder Gaben beibehalten wurde, sondern sogar immer noch neue Almosenbretter hergestellt wurden, nun aber auch mit neuer Ikonographie. In Lübeck, Schonen, Mecklenburg und Pommern wurden Lazarus-Bilder mit fest installierten Opferstöcken kombiniert.54 Für Schleswig-Holstein kann ferner auf reformatorische Altarvorsatztafeln in Mölln und Lügum55, auf evan48
Dafür spricht allein die ikonographische Tradition. Vgl. Plotzek 1971. Sievers 2005. Vgl. Sievers 2005; S. 39–53, 145 f., 158. 50 Vgl. Edle 1942; S. 311. 51 In den Kirchen zu Elmshorn (vgl. Sievers 1991; S. 93, Abb. 151), Seester (vgl. ebd., S. 92, Abb. 149; Beseler 1967 (1989); S. 556, Abb. 1502) und Uetersen (vgl. ebd.; S. 558 f., Abb. 1511). 52 Vgl. ebd.; S. 387. Sievers 1991; S. 101, Abb. 174. 53 Vgl. Sievers 1991; S. 101, Abb. 173. 54 Vgl. Sievers 2005; S. 39, 43–47. 55 Vgl. Angelika Dörfler-Dierken: Die Möllner Kommunikantentafeln. Lutherische Abendmahlspraxis im Wandel der Zeit. Neumünster 2003 (SVSHKG [II,] 51), S. 78. 49
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gelische Schuldramen und sogar Puppenspiele zum Lazarus-Stoff hingewiesen werden, die im 16. Jahrhundert zur Aufführung kamen.56 Auf den ersten Blick scheint das ausschließliche Vorkommen des LazarusMotivs in der nachreformatorischen Almosenmotivation nicht im Zusammenhang mit dezidiert evangelischer Theologie zu stehen, zumal auch nach der Reformation, bis hinein in die Barockzeit, noch immer Heiligenfiguren, bevorzugt die Kirchenpatrone, auf Almosenbrettern, Klingelbeuteln und Opferstöcken zu finden sind. Daß beim Einsammeln der Spenden auch weiterhin an die eschatologische Alternative zwischen der Bestrafung des Hartherzigen und der Belohnung des Barmherzigen erinnert wurde, die der Spender bei seiner Entscheidung zu bedenken hatte, scheint eher für eine Kontinuität in der Almosenmotivation zu sprechen. Und doch dokumentiert die Einführung des Lazarus-Motivs in der Reformation eine entscheidende Wende, die nur aus evangelischer Perspektive sinnvoll ist. Nicht nur, daß Lazarus kein Heiliger ist, unterscheidet ihn von den mittelalterlichen Referenzfiguren. Maßgeblich ist vielmehr, daß er keine Fürsprache einlegen kann. Der zweite Teil der Parabel (Lk 16, 23–31) berichtet von den vergeblichen Versuchen des Reichen Mannes, im Höllenfeuer Linderung durch die Hilfe des Lazarus zu erlangen, zumindest aber durch ihn die hinterbliebenen Brüder warnen zu lassen, „damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual“. Ausdrücklich ist von der „großen Kluft“ die Rede, „daß niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.“ Auch eine Warnung der Lebenden durch Botschaften aus dem Jenseits wird in der Parabel ausdrücklich abgelehnt. Luther kommentierte dies in seiner Bibelausgabe letzter Hand (1545) durch die Randglosse: „Hie ist verboten den Poltergeistern vnd erscheinenden Todten zu gleuben.“57 Die polemische Warnung vor Wiedergängern hatte einen ganz konkreten Sitz im Leben: „Polter geyste […] hebben vns vele selenmissen gemaket“, erklärte Bugenhagen in Braunschweig.58 So verstanden, konne also die Lazarusgeschichte als biblische Absage an jede Form korrelativer und kompensatorischer Heilssicherung ins Feld geführt werden. Mit der Ablehnung des Fegfeuers als eines übergangsweisen Ortes qualvoller Läuterung hatte die Reformation eine der Grundlagen spätmittelalterlicher Religiosität angegriffen. Jede Möglichkeit, durch Interaktion zwischen Diesseits und Jenseits zur Verkürzung der eigenen Leidenszeit im Fegfeuer beizutragen oder den Armen Seelen bereits Verstorbener Linderung zu verschaffen, war damit 56
Vgl. Sievers 2005; S. 23 f. Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht. D. Mart. Luth. Begnadet mit Kurfürstlicher zu Sachsen Freiheit. Gedruckt zu Wittemberg / Durch Hans Lufft. M. D.XLV. Ndr. u. d. T.: Biblia Germanica (m. Beitr. v. Wilhelm Hoffmann). Stuttgart 21983; hier Bl. CCXC r°. 58 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 81912); S. 113. – Übertragung: ,Poltergeister […] haben uns viele Seelmessen gemacht.‘ 57
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hinfällig geworden. Deswegen muß die Darstellung des Armen Lazarus auf nachreformatorischen Almosenbrettern und Opferstöcken geradezu als Chiffre für evangelische Almosenmotivation gewertet werden, insofern die Guten Werke fortan nicht mehr durch Fürsprache aus dem Jenseits kompensiert werden konnten. In den evangelischen Kirchenordnungen wurden die Prediger mit entsprechendem Nachdruck angewiesen, zur Hilfe am Armen Lazarus aufzufordern.59 Im Lüneburger Artikelbuch von 1527, das noch unabhängig von Bugenhagen durch Herzog Ernst den Bekenner († 1546) in Druck gegeben wurde, ist sogar derselbe Zusammenhang zwischen der Mißachtung des Armen Lazarus und der Mißachtung des hungrigen, kranken und nackten Christus hergestellt, der ikonologisch am Oldesloer Opferstock bereits zu sehen war: „Christus wert ock am jüngesten dage nen dink harder anthen alse den plichtigen denst an den armen. […] he sy hungerich, naket, elende gewesen, unde wy hebben ene nicht gespyset, gekledet, etc. Hyrher hört ock de historie des ryken mannes unde des armen Lazari [Luk 16, 19–31]. Den ryken hebben syne rykedöme nicht vordömet, sunder dat he den armen Lazaro darmede nicht tho hülpe quam. Darümme is not, de rechten armen ane jenich süment tho bedenken […]“60. Daß zu langes Zögern dem Reichen einmal ewiges Unheil eintragen wird, ist eine Einsicht aus der Lazarusgeschichte, vor deren Hintergrund der bemerkenswerte Nachdruck verständlich wird, den viele evangelische Kirchenordnungen auf die Armenfürsorge legten. Über die reformatorische Almosenmotivation wird im einzelnen noch zu sprechen sein.61 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, daß der entscheidende Wandel von der spätmittelalterlichen zur evangelischen Fürsorgetheorie nach dieser ersten Wahrnehmung primär auf dem Ende der Jenseitsvorsorge beruhte, keineswegs aber auf einem Generalangriff gegen die Guten Werke. Daran, daß entsprechende Versäumnisse einmal bestraft würden, hielten auch die Reformatoren fest.
59 Vgl. etwa Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 144. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 11–13 u. 156. – Ders: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 115. – Ferner auch ders.: Von mancherley Christlichen sachen 1531; fol. E3 r°. 60 Artikel, darinne etlike mysbruke by den parren des förstendoms Lüneborg entdecket unde darjegen gude ordenynge angegeven werden mit bewysynge und vorklarynge der schrift. 1527, in: EKO 6,1,1 (1955), S. 492–521; hier 513. Ergänzung der Bibelstelle dort. – Übertragung: ,Christus wird auch am jüngsten Tag nichts strenger beurteilen als den Dienst an den Armen, zu dem wir verpflichtet sind. […] Er sei hungrig, nackt, heimatlos gewesen, und wir haben ihn nicht gespeist, gekleidet, etc. Hierher gehört auch die Geschichte vom Reichen Mann und Armen Lazarus. Den Reichen haben nicht seine Reichtümer ins Verderben gebracht, sondern daß er dem Armen Lazarus damit nicht zur Hilfe kam. Darum ist es notwendig, die rechten Armen unverzüglich zu bedenken.‘ 61 Vgl. unten; S. 114 ff.
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2. Verdienst und Genugtuung in der spätmittelalterlichen Almosentheorie Nachdem die ikonologische Analyse mittelalterlicher und nachreformatorischer Sammelgeräte zu dem Eindruck geführt hat, daß die Heiligen im Mittelalter aufgrund ihrer besonderen Fürsprache‑ und Erlösungskompetenz einen beträchtlichen Ansporn zum individuellen Almosen gegeben haben, muß der Befund zweifellos im Kontext spätmittelalterlicher Theologie und Religiosität überprüft werden. Ob der Anschein, den die ikonologische Betrachtung weniger Objekte aus Norddeutschland und Skandinavien ergeben hat, generalisiert werden darf, muß sich erst erweisen. Dabei kann es freilich nicht darum gehen, die ganze mittelalterliche Almosentheorie62 zu entfalten; vielmehr soll mit besonderem Blick auf die Jenseitsvorsorge nach typischen und verbreiteten Konzepten gefragt werden, innerhalb derer sich im Spämittelalter das Verhältnis zwischen Spendern, Armen und Toten als ein Verhältnis des Gebens und Nehmens realisieren konnte. Freigebigkeit ist nicht nur eine Tugend63, die geübt oder unterlassen werden kann. Sie wird zur Verpflichtung, wo die Not des Anderen es fordert. Daß praktizierte Nächstenliebe zum verbindlichen Grundbestand des Christseins gehört, war seit den Anfängen der Kirche selbstverständlich. Demgemäß zitiert Thomas von Aquin64 († 1274) in seiner Summa Theologiae das energische Wort Basilius’ von Cäsarea: „Est panis famelici quem tu tenes, nudi tunica quam in conclavi conservas, discalceati calceus qui penes te marcescit, indigentis argentum quod possides inhumatum. Quocirca tot injuriaris quot dare valeres.“65 So sehr Thomas das Privateigentum verteidigt, es sogar als Verpflichtung betrachtet66, so sehr mahnt er auch zu einem verantwortungsvollen Umgang damit. Weil die Hartherzigkeit des Reichen gegenüber dem Armen Lazarus zur ewigen Strafe geführt habe, ist für Thomas evident, daß das Almosen unter das Gebot zu zählen sei,
62 Vgl. generell Joh[ann] N. Foerstl: Das Almosen. Eine Untersuchung über die Grundsätze der Armenfürsorge in Mittelalter und Gegenwart. Paderborn 1909; hier 5–73. – Ernst Schubert: Gestalt und Gestaltwandel des Almosens im Mittelalter, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 52 (1992), S. 241–262. – J[ohannes] Gründel: Almosen, in: LMA 1 (1980), Sp. 450 f. 63 Vgl. Thomas von Aquin: ST h II –II , q. 117, a. 1. 64 Zum Almosen bei Thomas von Aquin vgl. ausführlicher Léon Bouvier: Le précepte de l’aumône chez Saint Thomas d’Aquin. Montréal 1935 (SCMIC 1). 65 Thomas von Aquin: ST h II –II , q. 32, a. 5, ad 2. – Zitierte Ausgabe: Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica (hg. v. d. Albertus-Magnus-Akademie). Bd. 17 a, Heidelberg u. a. 1959; hier S. 273. – Dortige Übersetzung: ,Dem Hungrigen gehört das Brot, das du zurückhältst; dem Nackten das Kleid, das du im Schranke verwahrst; dem Barfüßigen der Schuh, der bei dir verfault; dem Bedürftigen das Silber, das du vergraben hast. Du tust also ebenso vielen Unrecht, als du hättest geben können.‘ 66 Vgl. ebd., q. 66, a. 2.
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nicht bloß unter die Ratschläge67, weil doch „nullus punitur poena aeterna pro omissione alicujus quod non cadit sub praecepto.“68 In diesem Sinne gehört das Almosen unter das Gebot der Nächstenliebe.69 Allerdings müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein: Der Geber muß das Almosen aus einem Überfluß geben können, und der Empfänger muß in äußerster Not sein. In allen übrigen Fällen ist die Aufforderung zum Almosen als Rat zu verstehen.70 Damit ist dieser Aufgabenbereich allerdings nicht exklusiv den christlichen Orden vorbehalten, aus deren Sicht die Erfüllung der ,evangelischen Räte‘ in besonderer, die Möglichkeiten des Alltags übersteigender Weise zur Vollkommenheit vor Gott führen könne. Vielmehr kann Thomas zufolge die christliche Vervollkommnung allein durch tadellose Gottes‑ und Nächstenliebe erreicht werden, wozu sich die ,evangelischen Räte‘ als Mittel und Wege empfehlen.71 Daher steht das Almosen in der Summa Theologiae in einem größeren Abschnitt, den die Gottesliebe einleitet.72 Die selbstlose caritas zu Gott hin ist eine Tugend, die dem Menschen aus Gnade eingegossen wird und dem Glaubensakt seine Form verleiht.73 Daß unter den genannten Bedingungen das Almosengeben unter das Gebot fällt und seine Verweigerung unter das Gericht, war auch den Reichen nur allzu deutlich. Am Ende des 13. Jahrhunderts, fast noch zeitgleich mit der Summa Theologiae, ließ ein Beichtspiegel den Büßer sagen: „Ich gib mich sculdik, daz ich gesundiget hon an den sehs werken der parmherzikhait, daz ich mich dor an nicht geubet hon, az ich zereht solt, daz ich mich nie erbarmet hon uber arme leut. Ich gib mich schuldik, daz ich di durstigen und di hungerigen nie getrenket und geest hon, az ich zereht solt. Ich gib mich schuldik, daz ich di nakkeden nie geclaidet hon, az ich zereht solt. Ich gib mich schuldik, daz ich die ellenden nie beherwergt hon, az ich zereht solt. Ich gib mich sculdik, daz ich di toten niht begraben hon, az ich zereht solt. Ich gib mich schuldik, daz ich di siechen und di armen und di betrubeten nie getrost hon mit worten und mit werken und mit 67 Zur mittelalterlichen Annahme sogenannter evangelischer Räte, die über das im Gesetz Gebotene hinaus zu christlicher Perfektion führen könnten, vgl. L[udwig] Hödl: Evangelische Räte, in: LMA 4 (1999), Sp. 131–134. 68 Thomas von Aquin: ST h II –II , q. 32, a. 5, sed contra. – Übersetzung: ,Keiner wird mit der ewigen Strafe bestraft für die Unterlassung einer Handlung, die nicht unter das Gebot fällt.‘ 69 Vgl. ebd., q. 32, a. 5, c. a. 70 Vgl. ebd. – Daß der Überfluß des Gebers nicht einfach alles umfaßt, was zum Überleben nicht unmittelbar notwendig ist, wird eigens ausgeführt: Notwendig sei auch die ausreichende Versorgung der eigenen Familie, notwendig sei in einem weiteren Sinne auch alles, was zur standesgemäßen Erfüllung der gesellschaftlichen Rolle gebraucht wird. Da der Stand von Gott bestimmt ist, darf er – außer z. B. beim Ordenseintritt – nicht verlassen werden. Vgl. ebd., q. 32, a. 6. 71 Vgl. ebd., q. 184, a. 2–3. 72 Vgl. ebd., q. 23 ff. 73 Vgl. jetzt Miriam Rose: Fides caritate formata. Das Verhältnis von Glaube und Liebe in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Göttingen 2007 (FSÖTh 112); bes. S. 232 u. 273–275.
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ainem guten willen, und ir leiden und ir ungemach nie ze herzen ist gegangen, az ich zereht solt haben geton.“74 Hier ist ein ausgesprochen weiter Fürsorgebegriff gebraucht, der auf Mitleid beruht, ganz wie auch Thomas das Almosen nicht auf Geldgeben einschränkt. Almosen ist vielmehr jeder Akt der Nächstenliebe, der aus Barmherzigkeit (misericordia) entsteht75 und als körperliche oder auch geistliche Hilfe realisiert wird: Analog zu den bereits angesprochenen Sieben Werken der Barmherzigkeit, nämlich der Versorgung Hungernder und Dürstender, der Beherbergung Fremder, dem Bekleiden von Nackten, dem Besuch bei Kranken und Gefangenen (soweit nach Mt 25, 31–46) und der Totenbestattung (nach Tob 1,20), hatte sich auch eine Lehre von sieben geistlichen Almosen ausgebildet, „scilicet docere ignorantem, consulere dubitanti, consolari tristem, corrigere peccantem, remittere offendenti, portare onerosos et graves, et pro omnibus orare“76, wie es in der Summa heißt. Bereits Albertus Magnus († 1280) hatte die sieben leiblichen und sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit in zwei Merkverse gefaßt: „Visito, poto, cibo, redimo, tego, colligo, condo“, und „Instrue, [consule,] castiga, solare, remitte, fer, ora.“77 In zweimal siebenfacher Weise kann demnach äußerste Not beim Nächsten und wahrer Überfluß beim Geber selbst bestehen, und ebenso vielfältig sind die Möglichkeiten, durch verweigertes Almosen schuldig zu werden.78 Doch nicht nur das drohende Gericht ist zur Almosenmotivation geeignet, denn die Härte des Vergehens hängt davon ab, ob gegen ein Gebot oder gegen einen Rat verstoßen wurde, und dies wiederum davon, wie groß der Überfluß auf Seiten des potentiellen Gebers und wie groß der Mangel auf Seiten des möglichen Empfängers gewesen wäre. Dieser Spielraum zwischen Verpflichtung und Freiwilligkeit macht es notwendig, das Almosen durch weitere Motivationsmomente zu stützen. Da das Gericht nicht nur demjengen droht, der ein mögliches Almosen verweigert, sondern jedem Menschen, kann die positive Wirkung tatsächlich geleisteten Almosens als Werk der Genugtuung kaum genug hervor74 Beichtspiegel, in: Schauspiele des Mittelalters. Aus Handschriften herausgegeben und erklärt v. Franz J. Mone. Bd. 2, Karlsruhe 1846, S. 107–114; hier 112. Dieses und andere Beispiele auch in der Zusammenstellung von Schubert 1992; S. 245. 75 Vgl. Thomas von Aquin: ST h II –II , q. 32, a. 1, c. a. 76 Ebd., q. 32, a. 2, 1. – Übersetzung: … ,nämlich: den Unwissenden belehren, dem Zweifelnden raten, den Trauernden trösten, den Fehlenden zurechtweisen, dem Beleidiger verzeihen, die Lästigen und Schwierigen ertragen und für alle beten‘. 77 Albertus Magnus: Commentarii in quartum librum sententiarum, in: B. Alberti Magni Ratisbonensis episcopi, ordinis Praedicatorum, opera omnia […] (hg. v. Stephannus Borgnet). Bd. 29, Paris 1894; hier S. 505 (= In sent., dist. 15, a. 23). – Übersetzung: ,Ich besuche, tränke, speise, löse, kleide, beherberg, begrabe‘, und ,Lehre, [berate,] tadle, tröste, vergib, ertrage, bete.‘ Das „consule“ muß zur Siebenzahl ergänzt werden; vgl. den ähnlichen Spruch bei Bonaventura: Commentaria in quatuor libros sententiarum magistri Petri Lombardi, in: Doctoris Seraphici Bonaventurae s. v. e. episcopi cardinalis opera omnia; hier Bd. 4, Quaracchi 1889, S. 376 f. (= In sent., lib. 4, dist. 15, p. 2, dub. 2). 78 Vgl. Thomas von Aquin: ST h II –II , q. 32, a. 2, c. a.
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gehoben werden: „Eleemosyna computatur inter opera satisfactionis; secundum illud Dan. 4: ,Peccata tua eleemosynis redime.‘“79 Der Umstand, daß Thomas diese Aussage als Axiom eines dialektischen Argumentums einsetzt, um zunächst scheinbar zu bestreiten, daß Almosen ein Akt der Gottesliebe sei (denn Genugtuung gehöre nicht zur Gottesliebe, sondern zur Gerechtigkeit), zeigt deutlich, daß sie auch für ihn keines eigenen Beweises bedarf. Stets galten die freiwillig übernomenen Bußwerke, vornehmlich Gebet, Fasten und Almosen, als die geeignetsten Mittel, Genugtuung für begangene Sünden zu erwirken.80 Thomas führt an späterer Stelle81 alle übrigen aus freiem Antrieb erbrachten Bußwerke auf diese drei zurück, weil sie jede Art der Sühne in sich einschlössen. Als Werk der Genugtuung ist die Barmherzigkeit nicht nur auf den Nächsten, sondern zugleich auf die Kompensation eigener Schuld gerichtet. „Secundum autem quod ordinatur ad placandum Deum, habet rationem sacrificii; et sic imperatur a latria.“82 So wird das Almosen ein Medium der Gottesliebe: Durch das Verlangen der Liebe (per caritatis affectum) angespornt, strebt der Spender nach dem Verdienst einer geistigen Frucht.83 Damit steht er sowohl zum Empfänger des Almosens als auch zu Gott in einem unmittelbaren Korrelationsverhältnis. Dementsprechend kann das leibliche Almosen auch in zweierlei Hinsicht geistlich belohnt werden84: Erstens „ex radice caritatis. Et secundum hoc eleemosyna est meritoria prout in ea servatur ordo caritatis“85. Weil der Spender tut, was der Ordnung der Liebe dient, folgt er deren Befehl und verdient entsprechenden Lohn. Zweitens „ex merito ejus cui donatur, qui orat pro eo qui eleemosynam dedit.“86 Dieser Aspekt hat für das spätmittelalterliche Almosenwesen tragende Kraft bekommen. Die Fürbitte der Armen war eine ausgesprochen wertvolle und wertgeschätzte Belohnung für erwiese Wohltaten. Unzählige Testamente, in denen Stiftungen und Donationen nicht allein zugunsten der Armen und Kranken, sondern auch der Ausstattung von Kirchen und Klöstern, des Unterhalts von Altären und regelmäßigen Seelmessen festgeschrieben waren, zeugen davon, 79 Ebd., q. 32, a. 1, 2. – Übersetzung: ,Almosengeben wird unter die Werke der Genugtuung gerechnet; nach Dan. 4,24: ,Löse dich durch Almosen von deinen Sünden.‘‘ – Ähnlich, ebenfalls als Axiom, in q. 32, a. 9, 2. 80 Später kodifiziert durch das Tridentinum. Vgl. DH 37 (1991); Nr. 1713 in Verbindung mit Nr. 1690–1693. 81 Vgl. Thomas von Aquin: ST h III suppl., q. 15, a. 3. 82 Ebd., II –II , q. 32, a. 1, ad 2. – Übersetzung: „Sofern es aber ausgerichtet ist auf Gottes Wohlgefallen, hat es die Bewandtnis des Opfers; und so wird es bestimmt von der Gottesverehrung.“ 83 Vgl. ebd., q. 32, a. 4, ad 2. – Wer gibt, darf sein Verdienst sogar beabsichtigen. Vgl. Rose 2007; S. 256. 84 Vgl. Thomas von Aquin: ST h II –II , q. 32, a. 4, c. a. 85 Ebd. q. 32, a. 9, ad 2. – Übersetzung: … ,aus der Wurzel der Liebe. Und in diesem Sinne ist das Almosen verdienstlich, sofern in ihm der Ordnung der Liebe gedient (oder: der Anordnung der Liebe gehorcht) wird‘. 86 Ebd. – Übersetzung: … ,aus dem Verdienst desjenigen, dem es gegeben wird, der für den betet, der das Almosen gespendet hat.‘ – Ähnlich bereits in q. 32, a. 4, c. a.
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wie hoch der Wert der Fürbitte veranschlagt wurde, den sich die Spender hiervon versprachen. Solche Guten Werke, ob sie nun aus Mitleid hervorgegangen waren oder nicht, vermochten dem Wohltäter also in mehrfacher Hinsicht geistigen Lohn einzubringen: durch Gott, der das freiwillige Werk als Genugtuung für frühere Sünden anrechnen konnte, und durch die Fürbitte des dankbaren Empfängers. Überdies setzte sich in der Volksreligiosität eine dritte Möglichkeit durch: der Dank der Toten. Einmal im Himmel angelangt, konnten sie nach der gängigen Vorstellung einerseits ihnen zu Lebzeiten erwiesene Wohltaten, anderseits aber auch erfolgreiche Fürbitten durch neue und diesmal ewige Fürsprache vergelten.87 Luthers und Bugenhagens oben zitierte Polemik gegen die Wiedergänger88 gehört in diesen Zusammenhang, da der aufrechnende Tauschhandel mit dem Jenseits keinesfalls mit dessen Rechtfertigungstheologie vereinbar war. Als Dominikaner hatte Thomas von Aquin großes Interesse daran, den Wirkungszusammenhang von Almosen und Fürbitte besonders stark zu vertreten.89 Seit ihrer Entstehung im 13. Jahrhundert war es den Bettelorden gelungen, im Rahmen einer neuen theologischen Konzeption des Mönchslebens und unter konsequenter Berufung auf die Forderungen des Evangeliums den Armutsbegriff entschieden aufzuwerten, und zwar in entschiedener Opposition zum rapiden Anwachsen der Geldwirtschaft in den Städten. Alle vier großen Mendikantenorden, die in jenem Jahrhundert entstanden waren – Franziskaner, Dominikaner, Augustiner-Eremiten und Karmeliter – siedelten sich daher bewußt in den Städten an, wo sie durch rege Missions-, Seelsorge‑ und Predigttätigkeit wie auch durch ein Leben in Armut, geprägt von Handarbeit und Bettel, deutliche Akzente in der Öffentlichkeit setzten. Das Almosen sollte dabei nie zur Bereicherung der Orden genutzt werden, persönliche Armut der Ordensmitglieder ohnedies vorausgesetzt. Ob indes auch die konsequente Armut des ganzen Kollektivs trotz aller Notwendigkeit fester Ordensbauten praktisch aufrechterhalten, ja ob sie überhaupt hinreichend aus der apostolischen Armut begründet werden könnte, war innerhalb des Franziskanerordens, aber auch zwischen Franziskanern und Dominikanern von Anfang an umstritten. Mit der rasanten Ausbreitung der franziskanischen Laiengemeinschaft waren bereits zu Lebzeiten ihres Gründers Tendenzen zur Ordensbildung und damit zur systematischen Finanzierung verbunden, die Franz von Assisi durch sein Testament von 1226 unter Berufung auf das christliche Armutsideal vergeblich aufzuhalten versuchte.90 Im Ergebnis des 87 Vgl. Mireille Othenin-Girard: ,Helfer‘ und ,Gespenster‘. Die Toten und der Tauschhandel mit den Lebenden, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600 (hg. v. Bernhard Jussen u. Craig Koslofsky). Göttingen 1999 (VMPIG 145), S. 159–191. 88 Vgl. oben; S. 76. 89 Vgl. Rose 2007; S. 256. 90 Vgl. [Franz von Assisi:] Testamentum, in: Analekten zur Geschichte des Franciscus von Assisi (hg. v. Heinrich Boehmer, dann Friedrich Wiegand). Tübingen 21930 (SQS NF 4), S. 24–27; hier § 5 u. 7, S. 25 f.
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sogenannten theoretischen Armutsstreits zwischen Papst Johannes XXII., der die dominikanische Seite stützte, und dem Generalkapitel des Franziskanerordens wurde die strenge franziskanische Lehrmeinung, auch Christus und die Apostel hätten sowohl individuell als auch kollektiv in vollkommener Armut gelebt, 1323 als häretisch verurteilt91 und die bislang nominell dem Papst gehörenden, den örtlichen Ordensgemeinschaften nur zur Verfügung gestellten Grundstücke und Bauwerke juristisch dem Eigentum des Ordens überschrieben. „So standen die Franziskaner nun“, wie Gudrun Gleba schreibt92, „vor der Schwierigkeit, im Gegensatz zu den eigenen Forderungen jetzt quasi über Nacht ein reicher, aber auch für seine materielle Existenz selbstverantwortlicher Orden geworden zu sein.“ Die Herauslösung einer streng auf die ursprüngliche Armutsregel ausgerichteten Observanz aus dem zum Besitz überwiegend großzügiger eingestellten Orden war die konsequente Folge.93 Trotz einer allgemeinen Tendenz zu freiwilligen oder erzwungenen Kompromissen in der Armutsfrage blieb der Anspruch aller Bettelorden, als Vervollkommnung christlicher Existenz in der Nachfolge Christi das Ideal apostolischer Armut zu verwirklichen, gleichwohl in der einen oder anderen Form bestehen. Zumindest nominell und aus Sicht der Laien galten sie als bedürftig. Zugleich entfalteten diese Gemeinschaften neben ihrer Predigttätigkeit und einer enormen Buchproduktion intensive Bemühungen um die städtische Armen‑ und Krankenpflege.94 So sollte trotz gewaltiger Expansionen bis zum Ausgang des Mittelalters die Präsenz der Bettelorden in den Städten als unübersehbares Signal für die theologische Hochschätzung der Armut und für die Hilfe am Armen gelten. Als Almosenempfänger, die zugleich geistlichen Standes waren, konnten sie den Spendern ihre dankbare Fürbitte in besonderer Wiese garantieren, nämlich durch institutionelle Professionalität, anders als die unfreiwillig Armen auf der Straße. Was sollte durch solche Fürsprache erreicht werden? Maßgeblich für die spätmittelalterliche Jenseitsvorsorge, in deren Kontext diese Zusammenhänge bedacht sein wollen, war die Vorstellung vom Fegfeuer, die sich vielleicht seit dem Ende des 12., sicher aber im Laufe des 13. Jahrhunderts auf breiter Basis durchgesetzt hatte.95 Da es nicht nur vollkommen Gute und vollkommen Böse gibt, lag es 91
Vgl. DH37 (1991); Nr. 930 f. Gudrun Gleba: Klosterleben im Mittelalter. Darmstadt 2004; S. 185. 93 Vgl. insgesamt Eliseo Onorati: Die franziskanische Bewegung in Italien (1200–1500), in: 800 Jahre Franz von Assisi. Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters. Niederösterreichische Landesausstellung, Krems-Stein 1982; Wien 1982 (Kataloge des Niederösterreichischen Landesmuseums NF 122), S. 232–269; bes. 248–256. 94 Zur umfassenden Fürsorgetätigkeit der Franziskaner vgl. Harry Kühnel: Die Minderbrüder und ihre Stellung zu Wirtschaft und Gesellschaft, ebd. S. 41–57. 95 Von einer „naissance du purgatoire“ kann keine Rede sein; schon die antike Kirche kannte ein Übergangsstadium nach dem Tode. Vgl. L[eo] Scheffczyk: Fegfeuer. (1) Biblisch-theologisch, in: LMA 4 (1989), Sp. 328–330. Dennoch spricht einiges dafür, daß der Erfolg der Fegfeuer-Idee seit etwa 1200 auch mit ihrer Attraktivität beim neuen Stadtbürgertum zu tut hat, das die Möglichkeit, Reichtum in Jenseitsvorsorge umzusetzen, gern aufnahm. Die gezielte 92
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nahe, zusätzlich zu Himmel und Hölle einen Ort der qualvollen, aber zeitlich begrenzten Läuterung anzunehmen, an dem die nicht völlig Guten (non valde boni) und die nicht völlig Schlechten (non valde mali) ihre noch verbleibenden Sündenstrafen abbüßen könnten, bis auch sie am Ende der Tage das Paradies schauen dürften.96 Da sich das Fegfeuer als zeitlich begrenzte Sühne mithin nur auf diejenigen Sünden bezog, die nicht bereits im Diesseits gesühnt worden waren (etwa durch freiwillige Werke der Genugtuung, Almosen zum Beispiel, oder durch auferlegte Strafen), bot sich zur Verkürzung dieser ungewissen Zeit nur an, einen vorsorglichen Schatz im Himmel anzulegen, aus dem die unbekannte Strafzeit verrechnet werden könnte. Dies konnte einerseits durch überschüssige Gute Werke geschehen, also solche, deren Genugtuungswert nicht bereits zur Sühne konkreter Vergehen aufgezehrt worden waren – oder durch das beständige Fürbittengebet Dritter, im besten Fall auch noch lange nach dem Tod des Betroffenen. Die Kombination beider Möglichkeiten zur Anlage eines solchen Seelgeräts, eines vorsorglichen Heilsschatzes, manifestiert sich in den umfangreichen Stiftungen und Donationen des Spätmittelalters. Besonders die erste Pestwelle nach 1347 war hierfür ausschlaggebend. Da die Seuche unabhängig von Ernährung und Lebenswandel um sich griff, waren in völlig neuer Weise alle gesellschaftlichen Stände von ihr betroffen. Auch Alter, Geschlecht und Frömmigkeitspraxis schienen keine zuverlässigen Indikatoren mehr für die Überlebensfähigkeit des Einzelnen zu sein. Die Heilshoffnungen richteten sich daher verstärkt auf das Jenseits, wo unabhängig von Krankheit und Tod die verläßlichen Zusagen Gottes weiterhin Bestand haben würden. Für die Hansestadt Lübeck, die im Sommer 1349 von der Pest erreicht wurde, sind individuelle Vorkehrungen zur Jenseitsvorsorge besonders zahlreich dokumentiert.97 Allein aus den 14 Jahren unmittelbar nach der ersten Pestwelle, zwischen 1349 und 1362, lassen sich in der Stadt rund 750 Testamente nachweisen, die entweder Arme und Kranke ausdrücklich begünstigten oder die Kirchen und Klöster mit Almosen versahen, von denen Erfindung eines solchen Modells im Interesse einer bestimmten Schicht hingegen ist sehr unwahrscheinlich. Vgl. Jacques Le Goff: La naissance du purgatoire. Paris 1981 (Bibliothèque des histoires). – Ferner Jezler 21994, S. 13–26. – Martina Wehrli-Johns: „Tuo daz guote und lâ daz übele“. Das Fegefeuer als Sozialidee, ebd., S. 47–58. 96 Vgl. die entsprechende Definition durch Benedikt XII . in der Konstitution Benedictus Deus vom 29. Januar 1336: DH37 (1991), Nr. 1000–1002. 97 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Regesten der Lübecker Bürgertestamente des Mittelalters (hg. v. A[hasver] von Brandt). Bd. 1 u. 2, Lübeck 1964 u. 1973 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck 18 u. 24); zu den Folgen der Pest Bd. 1, S. 5. – Hauschild 1981; S. 112–114. – Jürgen H. Ibs: Die Pest in Schleswig-Holstein von 1350 bis 1547/48. Eine sozialgeschichtliche Studie über eine wiederkehrende Katastrophe. Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Kieler Werkstücke A 12); bes. S. 86–89. – Carsten S. Jensen: Remembering the Dead and Caring for the Poor. Aspects of the religious life among the people of late medieval Lübeck, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 84 (2004), S. 35– 52. – Lorentzen 2004 a; S. 38–41.
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professionelle Fürbitte gewährleistet werden konnte. In der Hansestadt Hamburg sind diese Dokumente so zahlreich überliefert, „daß es beinahe zu den Ausnahmen gehört, wenn ein mittelalterliches Testament nicht irgendwie auf Kirchen und Klöster oder auf ,die liebe Armuth‘ Bedacht nimmt“98. Auch im Archiv der Hansestadt Stralsund in Pommern sind aus der Zeit zwischen 1300 und 1600 nahezu 2000 solcher Testamente bewahrt, „darunter kaum eines, das nicht Vermächtnisse für die Hausarmen, die Bettler, die Kranken, aber auch für Kirchen, Klöster und Hospitäler aussetzt“99. Die Zahl solcher Testamente, die speziell zur Armenfürsorge bestimmt waren, stieg hier nach der Pest signifikant an.100 Sicherer als einmalige Vermächtnisse waren Stiftungen, sogenannte Reiche Almosen, die sich aus verzinsbaren Kapitalanlagen speisten. In ihnen sind Jenseitsvorsorge, Armenfürsorge und kirchliche Kultur aufs engste miteinander verbunden. Um eine möglichst ununterbrochene und ewige Fürbitte zu gewährleisten, ließ der Erblasser aus den Zinsen seiner Seelgerätstiftung eine Altarpfründe einrichten, die mit dem Auftrag verbunden war, regelmäßige Seelmessen zu lesen. In der Regel stammte auch die Ausstattung des Altars aus dem Stiftungskapital. Parallel dazu konnte, wie in einem modernen Anlagefonds, durch breite Streuung von gezielten Investitionen eine qualitativ und quantitativ entsprechend vielfältige Fürbitte auf Dauer sichergestellt werden. Im 15. Jahrhundert wurden bei reichen Bürgern die Seelbäder beliebt. Diese Form der Stiftung sollte es Armen ermöglichen, regelmäßig kostenlos die Badehäuser zu nutzen, zur Erquickung der Stifterseele.101 Als Beispiel für die große Jenseitsangst, die zu entsprechenden Vorkehrungen führte, sei recht willkürlich das Testament des Henning Putbus102 herangezogen, 98 Karl Koppmann: Aus Hamburgischen Testamenten, in: Zeitschrift für Hamburgische Geschichte 7 (1883), S. 203–222; hier 209. 99 Hellmuth Heyden: Abgaben und „Opfer“ in der pommerschen Kirche, in: Baltische Studien NF 47 (1960), S. 71–90; hier 87. 100 Vgl. Johannes Schildhauer: Hansestädtischer Alltag. Untersuchungen auf der Grundlage der Stralsunder Bürgertestamente vom Anfang des 14. bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts. Weimar 1992 (Abhandlungen zur Handels‑ und Sozialgeschichte 28); hier S. 34. – Freilich will kritisch bedacht sein, ob hier wirklich ein rapider Frömmigkeitswandel geschah, oder ob sich nicht die Zahl der Stiftungstestamente schlicht an der Sterblichkeit orientierte. Vgl. Ibs 1994; S. 177. 101 Vgl. H[einrich] G. Gengler: Seelbäder, in: Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte NF 2 (1873), S. 571–582. – Für Hamburg, generell zu allen Formen milder Testamente wie speziell zu den Seelbädern, vgl. Koppmann 1883; S. 211–215. – Für Lübeck vgl. Hauschild 1981; S. 113. – Für Stralsund vgl. Schildhauer 1992; S. 35 f. – Für Hildesheim vgl. Jürgen Lindenberg: Stadt und Kirche im spätmittelalterlichen Hildesheim. Hildesheim 1963 (QDGNS 61); S. 120. – Für Kiel vgl. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt: Die Sozial‑ und Wirtschaftsstruktur schleswig-holsteinischer Landesstädte zwischen 1500 und 1550. Neumünster 1980 (QFGSH 76); S. 241 f. – Insgesamt zu den Formen des Stiftungswesens vgl. Schubert 1992 und Jezler 21994; passim. 102 Testament des Henning Putbus. 1436. October 9 (hg. v. [Carl] Wehrmann), in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte 12 (1882), S. 181–183.
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niedergeschrieben am 9. Oktober 1436. Der Erblasser, einflußreicher Bürger in Lübeck, plant darin (nach Rückzahlung einer stattlichen Schuldsumme an einen Gläubiger) insgesamt 90 Mark für sein Leichenbegängnis, einen Grabstein und ein Epitaph sowie ewiges Gedächtnis durch die Franziskaner in der als Begräbnisstätte überaus beliebten Lübecker Katharinenkirche ein, wobei der überschüssige Betrag den Armen zu geben sei. Ergänzend sollen die Dominikaner im Burgkloster zehn Mark bekommen, um eine Seelmesse und jährlich von der Kanzel Fürbitte zu halten. Der hohe Sachwert dieses Betrages läßt sich einschätzen, wenn Putbus an anderer Stelle Pferde im Wert von zehn und zwanzig Mark zu vererben hat. Ferner sollen die Nikolaikirche für Bausachen und die Franziskaner „to Anderhusen“ je drei Mark, das Heilig-Geist-Spital und die Armen, die auf dem Gertrudenkirchhof sitzen, je zwei Mark zum gleichmäßigen Verteilen erhalten, das St.-Jürgens-Spital und das Spital auf dem Burgfeld je eine Mark und jede einzelne Kirche der Stadt noch einmal zusätzlich drei Schillinge. Zudem soll in der Heilig-Kreuz-Wegekapelle vor dem Burgtor eine Kerze von zwei Pfund Wachs brennen, und für städtischen Straßenbau sind noch einmal sechs Schillinge eingeplant. Die nahestehenden Freunde und Knechte erhalten statt Geld kostbare Armbrusten und Pferde. Zur Ernährung seiner Familie wird Putbus kein dauerhaft verzinsbares Kapital übrig gehabt haben, denn ausdrücklich vermacht er seinen grauen Hengst dem König von Dänemark, „dat he vortan vorsta myn wyf vnde myne kindere“103. Hier wird daran gedacht sein, durch das Geschenk eine Art Witwenrente zu erwirken. Das mag verdeutlichen, welche Prioritäten Putbus setzte.104 Gleich nach den Kosten für die Dienstleistung ewigen Gedächtnisses folgte die ausdrückliche Fürsorge für Arme und Kranke, „den des best behof vnde noet zy, dat ze God vor myne zele bidden.“105 Zwischen den Almosen, die den Bettelorden, und solchen, die auf direktem oder institutionalisiertem Wege der Armen‑ und Krankenfürsorge zukamen, machte Putbus in seinen Zuwendungen keinen Unterschied, galten doch die monastischen Empfänger ebenso als Repräsentanten der Armut Christi wie die unfreiwillig in die Armut gezwungenen.106 Das entsprach der allgemeinen Einstellung zum Almosen: In der Wahrnehmung der Gläubigen machte es keinen Unterschied, ob es auf freiwillige oder unfreiwillige Armut gerichtet war – was übrigens keinesfalls bedeutet, daß es im Mittelalter 103 Ebd.; S. 181. – Übertragung: ‚… damit er fortan meiner Frau und meinen Kindern vorstehe‘. 104 Vgl. ein ähnliches Beispiel bei Jezler 21994; S. 22–25. 105 Putbus 1436 (1882); S. 181. – Übertragung: ‚… denn die beste Bestimmung und Notwendigkeit ist doch, daß sie Gott für meine Seele bitten‘. 106 Vgl. hierzu mit entsprechenden Beispielen Christopher Ocker: ,Rechte Arme‘ und ,Bettler Orden‘. Eine neue Sicht der Armut und die Delegitimierung der Bettelmönche, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600 (hg. v. Bernhard Jussen u. Craig Koslofsky). Göttingen 1999 (VMPIG 145), S. 129–157; hier 150 f.
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keine tätige Nächstenliebe aus Mitleid gegeben habe.107 Im Gegenteil, die Armut der Bettelorden war zunächst ganz selbstverständlich als echte Bedürftigkeit aufgefaßt worden, die auf das Erbarmen der Städter angewiesen war. Als Angehörige des geistlichen Standes waren die Bettelmönche jedoch in viel höherem Maße als die unfreiwillig Armen dazu in der Lage, eine Kompensation der Almosen durch ihre beständige Fürbitte zu gewährleisten.108 Daß ihre Ordenskirchen in den Städten zu überaus beliebten Begräbnisplätzen wurden, erklärt sich daraus. Wie attraktiv diese Professionalisierung der Fürbitte gewesen sein muß, zeigt das Beispiel der Hildesheimer Laiengemeinschaft der Willigen Armen, die erst nach ihrer Umwandlung in ein Augustinerkloster 1470 und der Gleichstellung mit anderen Orden durch den Hildesheimer Rat verstärkt mit Stiftungen und Spenden bedacht wurde.109 Demgegenüber sind entsprechende Leistungen an Hildesheimer Beginen, die keinen geistlichen Status hatten, eher spärlich belegt und hatten mehr die Gestalt von Vergünstigungen und Sachspenden.110 Henning Putbus machte mit seiner testamentarischen Bevorzugung der Bettelorden also keine Ausnahme. Wichtig war ihm einerseits eine breite Streuung, anderseits aber auch eine garantierte Professionalität der gewünschten Fürbitte nach seinem Tod. Neben den bisher angesprochenen Möglichkeiten, Almosen als Gutes Werk eo ipso, als Sühnewerk im Rahmen des Bußsakraments oder als Anlaß zur Fürbitte im Rahmen einer testamentarisch verfügten Vorsorgemaßnahme zu verstehen, muß noch ein vierter Weg genannt werden, durch Almosen zum eigenen oder fremden Seelenheil beizutragen: der Ablaß. Die Reduktion zeitlich begrenzter Sündenstrafe im Fegfeuer durch Fürbitte ist im Prinzip bereits im dankbaren Gebet des Almosenempfängers angelegt. In seiner hoch‑ und spätmittelalterlichen Form unterschied sich hiervon der Ablaß jedoch in einem wichtigen Punkt: Er wurde von der Kirche zugeteilt. Insofern verstand sich das Ablaßinstitut als Akt kirchenamtlicher Barmherzigkeit gegenüber dem Einzelnen, dessen Genugtuungswerke nicht zu einer vollständigen Tilgung der zeitlichen Sündenstrafe ausreichten. Unbeschadet der Möglichkeit, eine Reduktion der Fegfeuerstrafe auch weiterhin durch Fürbitten (per modum suffragii) erreichen zu können, bildete die Kirche vom 13. Jahrhundert an auch die Lehre aus, die Strafen des Einzelnen stellvertretend aus einem unermeßlichen Heilsschatz begleichen zu können, den Christus und die Heiligen angesammelt hätten, ohne ihn selbst zu benötigen, und 107 Ein Historiker kann den Menschen nicht ins Herz sehen. Aus der gelehrten Almosentheorie des Hoch‑ und Spätmittelalters darf daher nicht generalisierend gefolgert werden, daß damals Eigennutz vor Nächstenliebe gegangen sei. So etwa Marion Martin: Kleine Geschichte des Almosen-Sammelns, in: Wenn das Geld 2005, S. 11–22; hier 12. Ähnlich Hatje 2002 a; S. 188. 108 Anders Jensen 2004; S. 45 f. 109 Vgl. Brigitte Hotz: Beginen und willige Arme im spätmittelalterlichen Hildesheim. Hildesheim 1988 (Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hildesheim 17); S. 146–156. 110 Vgl. ebd.; S. 89–92.
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„de cuius consumptione seu minutione non est aliquatenus formidandum“, wie es 1343 in der klassischen Definition durch Papst Clemens VI. hieß.111 Nach Thomas von Aquin konnten Ablässe sogar für Verstorbene erworben werden, womit nicht allein die Fürbitte der Kirche, sondern auch die Jurisdiktionsgewalt des Papstes bis in das Fegfeuer hineinreichte.112 Damit hatten sich vielversprechende Erlösungsmöglichkeiten aufgetan, die zunehmend inflationär gebraucht und vom Kirchenvolk eifrig genutzt wurden. Kirchenrechtlich institutionalisiert, breitete sich der Ablaß von zunächst einzelnen Zentren, die zu seiner Erlangung besucht werden mußten, im Rahmen großangelegter Kampagnen überallhin aus.113 Von der organisatorische Seite der Ablässe ist an dieser Stelle nicht zu sprechen. Ihre erfolgreiche Kommerzialisierung im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert zeigt jedoch deutlich, daß die Jenseitsangst des spätmittelalterlichen Menschen ins Unerträgliche gestiegen und sein Heilshunger kaum noch zu stillen war. Ablaß erhielt zunächst, wer im Rahmen seiner Buße an bestimmten Wallfahrten teilnahm; die Kreuzzüge gelten als Initialzündung des Ablaßversprechens. Im Spätmittelalter wurde das Ablaßinstitut jedoch durch zunehmende Erleichterungen der Bußwerke und finanzielle Aufrechnung solcher Leistungen zu einem festen Finanzfaktor der Kirche. Für die unterschiedlichsten Verwendungszwecke konnte im Spätmittelalter zu Geldspenden aufgerufen und im Gegenzug ein passender Ablaß versprochen werden. In diesem Zusammenhang erscheint es bemerkenswert, so Ernst Schubert114, „daß der Ablaß, der so vielseitig institutionalisiert werden konnte, der für den Bau von Deichen ebenso wie für den von Brücken eingesetzt wurde, doch nie direkt zur Alimentierung armer Leute, zur Unterstützung eines Almosenprogramms benutzt wurde.“ Schubert übersieht freilich, daß das Almosen als freiwilliges Werk der Genugtuung und als Anlaß zu dankbarer Fürbitte bereits zur Reduktion zeitlicher Sündenstrafe beitragen konnte, ohne der institutionellen Vermittlung zu bedürfen. Der Ablaß hingegen diente ja gerade der Reduktion solcher zeitlicher Strafen, die anderweitig nicht kompensiert werden konnten. So wurde ein sogenannter Almosenablaß auch nie als Lohn für direkte Armenfürsorge verstanden, sondern für die Unterstützung 111 Aus der Jubiläumsbulle Unigenitus Dei Filius, die zur Ankündigung eines Jubiläumsablasses für 1350 am 27. Januar 1343 durch Clemens VI. erlassen wurde: DH37 (1991); Nr. 1026 f. – Übersetzung: … ,um dessen Aufbrauchen bzw. Verminderung nicht im geringsten zu fürchten ist‘. 112 Vgl. generell Nikolaus Paulus: Geschichte des Ablasses im Mittelalter. Vom Ursprunge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (m. Beitr. v. Thomas Lentes). 3 Bde., Darmstadt 22000. Speziell zu Thomas vgl. dort Bd. 1, S. 205–217. 113 Vgl. allgemein Bernd Moeller: Die letzten Ablaßkampagnen. Luthers Widerspruch gegen den Ablaß in seinem geschichtlichen Zusammenhang [zuerst 1989], in: ders.: Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze (hg. v. Johannes Schilling). Göttingen 1991, S. 53–72 u. 295–307. – Jannasch 1958; S. 83–87. Thomas Vogtherr: Kardinal Raimund Peraudi als Ablaßprediger in Braunschweig (1488 und 1503), in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 77 (1996), S. 151–180. 114 Schubert 1992; S. 247; ebenso bereits 242 f.
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von Kirchenbauten oder anderen gemeinnützigen Zwecken.115 Wenn Wilhelm von Auvergne († 1249) nach der Darstellung von Nikolaus Paulus116 einmal äußerte, daß die Armen „nicht ganz von der Wohltat der Almosenablässe ausgeschlossen seien“, so lag das argumentative Gewicht nicht auf dem Almosen als Armenfürsorge, sondern auf der Wohltat von Ablässen zeitlicher Sündenstrafe, die für Arme unerschwinglich waren. „Zwar würde ihnen der Ablaß nicht zuteil werden kraft der Schlüsselgewalt; doch sei zu glauben, daß der allbarmherzige Gott im Hinblick auf ihren guten Willen ihnen von der Sündenstrafe etwas nachlassen werde.“ Dennoch gab es regelmäßig Ablässe, die mit Geldspenden zugunsten Armer und Kranker verbunden waren, nämlich dort, wo die Fürsorge institutionelle Gestalt hatte. Besonders die Spitäler und Siechenhäuser profitierten von unzähligen Ablässen, die ihren Wohltätern zugebilligt wurden: „Ces bulles se comptent par milliers“117. Daher nur wenige Beispiele aus unserem Interessenbereich: Bereits 1245 versprach Bischof Meinhard von Halberstadt einen Ablaß für die Förderer des St.-Marien-Spitals zu Braunschweig. In der Urkunde heißt es mit Bezug auf die Weltgerichtsrede Christi (Mt 25), mit entsprechenden Gaben werde Christus selbst bekleidet, beherbergt, gespeist und getränkt.118 In Straßburg wurde 1400 eine neue Bruderschaft bestätigt, die sich der Unterstützung des sogenannten Mehreren Hospitals verschrieben hatte. Ihr gewährte Bischof Wilhelm in diesem Zusammenhang Ablässe von einem Jahr und vierzig Tagen.119 Spender, die sich um die Gründung des St.-Jürgens-Spitals zu Neustadt in Holstein verdient gemacht hatten, erhielten 1418 durch Bischof Johannes von Lübeck einen vierzigtägigen Ablaß.120 Auch Wohltäter des Hamburger Heilig-Geist-Spitals und der dortigen Elendenbruderschaft wurden in einem Ablaßbrief von 1434 durch die Erzbischöfe von Lund und Drontheim sowie 13 norddeutsche und skandinavische Bischöfe mit Worten der Weltgerichtsrede Christi und einem Ablaß von 40 Tagen motiviert; einen zweiten Ablaß stellte hier 1458 der Bremer Erzbischof in Aussicht.121 Für Pommern schließlich kann beispielshalber auf einen 1421 gewährten Ablaß für das St.-Gertruden-Spital zu Stettin verwiesen werden.122 115 Vgl. Adolf Gottlob: Kreuzablaß und Almosenablaß. Eine Studie über die Frühzeit des Ablaßwesens. Stuttgart 1906 (KRA 30 f.); Ndr. Amsterdam 1965; hier S. 205. 116 Paulus 22000; Bd. 1, S. 167. 117 Léon Lallemand: Histoire de la Charité. Bd. 3, Paris 1906; S. 99. – Übersetzung: ,Diese Bullen werden nach Tausenden gezählt‘. – Vgl. insbesondere die Zusammenstellungen dort und bei Paulus 22000; Bd. 2, S. 185–189 und Bd. 3; 368 f. 118 Vgl. Urkundenbuch der Stadt Braunschweig (hg. v. Ludwig Haenselmann). Bd. 2, Abt. 1, Braunschweig 1900; S. 44 f. 119 Vgl. Winckelmann 1922; Teil 2, S. 3 f., Nr. 1. 120 Vgl. Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel. Teil 1, Kat. München 1982–1983; Ingolstadt 1986 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums 4); S. 29, Nr. 2.5. 121 Vgl. Hatje 2002 a; S. 158–160. 122 Vgl. Heyden 1963, S. 34.
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So bot sich am Ende des Mittelalters eine breite Palette von Möglichkeiten, Wohltätigkeit für Bedürftige als Korrelationsverhältnis aufzufassen, als Geben und Nehmen. Dabei erhielt die Jenseitsangst der Spender immer größeres Gewicht. Die Ikonographie der mittelalterlichen Almosenbretter fügt sich nahtlos in diesen Befund ein. In ihr sind die Fürbitte der Empfänger, die erhoffte Fürsprache der Heiligen und die eigentlich in der Ablaßtheorie beheimatete Kompensation zeitlicher Sündenstrafe aus dem Schatz der Heiligen aufs engste miteinander verschmolzen. Die Volksreligiosität wird zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, durch Werke der Barmherzigkeit Jenseitsvorsorge zu treffen, kaum unterschieden haben. Armut und Armenfürsorge waren zu einem unverzichtbaren gesellschaftlichen Faktor geworden.
3. Freiwillige und unfreiwillige Arbeitslosigkeit um 1500 Paradoxerweise wurde gerade am Ausgang des Mittelalters, als das soziale Engagement des Stadtbürgertums im Rahmen der persönlichen Jenseitsvorsorge am größten war, zugleich harsche Kritik am Bettel laut. Im berühmten Narrenschiff des Sebastian Brant, 1494 in Basel gedruckt, konnte man einen heftigen Angriff Von bettleren lesen, der ganz der Stimmung der Zeit entsprach: „Btler beschyssen alle landt“, heißt es dort, und weiter: „Der gat vff krucken so mans sicht Wann er alleyn ist / darff ers nicht Diser kan fallen vor den lüten Das yederman tg vff jn düten Der lehnet andern jr kynder ab Das er eyn grossen huffen hab Mit krb eyn esel důt bewaren Als wolt er zů sant Jacob faren / Der gat hyncken / der gat bucken Der byndet eyn beyn vff eyn krucken Oder ein gerner beyn jn die schlucken Wann man jm recht lůgt zů der wundē So sh man / wie er wer gebunden“123. 123 Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben (hg. v. Manfred Lemmer). Tübingen 42004; [Kap. 63,] S. 155, Z. 62 u. 65–77. – Übertragung: ,Der geht an Krücken, solange man’s sieht; wenn er allein ist, muß er das nicht. Dieser kann vor den Leuten fallen [sich also als Epileptiker stellen], so daß jeder auf ihn zeigt. Der borgt sich von anderen die Kinder aus, damit er eine große Gruppe zusammenhat, und belädt damit einen Eselskorb, als wollte er nach Santiago pilgern. Der hinkt. Der geht gebückt. Der schnallt ein Bein auf eine Krücke oder den Knochen eines Toten unters Wams. Wenn man seine Wunden recht betrachtete, so sähe man, wie er bandagiert ist [um eine Verkrüppelung vorzutäuschen]‘. Vgl. im einzelnen Lemmers Kommentar S. 349.
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Selbst die eigenen Kinder würden unter Gewaltandrohung systematisch zum Bettel erzogen, klagt Brant, von denen viele, statt ins Waisenhaus gebracht zu werden, im Straßburger Dummenloch säßen, einem berüchtigten Gassenlabyrinth, das damals von Kuppelei und Syphiliskranken geprägt war.124 Brant schildert das Bettlerwesen als kollektive Betrügerei arbeitsscheuer Simulanten, die sich auf Kosten anderer ein luxuriöses Leben mit Weißbrot und besten Weinen leisten könnten: „Zům bttel loß ich mir der wile Dann es sint leyder bttler vile Vnd werden stts ye me vnd me Dann bttlen das důt nyeman we On dem / der es zů nott můß triben Sunst ist gar gůt eyn bttler bliben Dann bttlen des verdürbt man nit Vil bgont sich wol zů wißbrott mitt Die dryncken nit den schlhten wyn Es můſz Reynfal / Elsasser syn Mancher verloßt vff bttlen sich Der spielt / bůbt / halt sich üppeklich Dann so er schon verschlembt syn hab Schleht man jm bttlen doch nit ab Im ist erloubt der bttelstab, Vil neren vß dem bttel sich Die me geltts hant / dann du vnd ich“125.
Der Kontrast dieser schwerwiegenden Vorwürfe zum florierenden Almosen‑ und Stiftungswesen derselben Zeit, das im Kontext der Jenseitsvorsorge auf die Existenz der Armut geradezu angewiesen war, könnte größer kaum sein. Was war geschehen? Offensichtlich hatte sich im Laufe des 15. Jahrhunderts die Wahrnehmung von Armut und Bettel erheblich differenziert. Ob jedoch allein die stetig anwachsende Kritik jener Zeit am betrügerischen und fahrenden Bettel bereits den kausalen Rückschluß auf eine sich plötzlich ausbreitende Massenverelendung erlaubt, die wirklich die beklagte Migrations‑ und Kriminalitätsbereitschaft nach sich gezo-
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Vgl. ebd.; S. 154, Z. 33–35 und S. 402. Ebd.; S. 155 f., Z. 78–94. – Übertragung: ,Zum Bettel laß ich mir noch Zeit [d. h. ich muß noch einiges sagen], denn es gibt leider viele Bettler, und es werden immer mehr, denn Betteln tut niemandem weh, es sei denn, er muß es aus Not tun. Sonst aber ist gut Bettler bleiben, denn vom Betteln reibt man sich nicht auf. Vielen ergeht es wohl mit Weißbrot, und sie trinken nicht den schlechtesten Wein – es muß schon Rheinfall, Elsässer sein. Mancher verläßt sich auf Bettel, der spielt, bubt, hält sich üppig, denn wenn er schon seinen Besitz verschlemmt hat, so schlägt man ihm das Betteln doch nicht aus. Ihm ist der Bettelstab erlaubt [d. h., er besitzt eine Genehmigung]. Viele ernähren sich vom Bettel, die mehr Geld haben als du und ich‘. 125
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gen hätte, muß bezweifelt werden.126 Peter Schuster konnte vor einigen Jahren demonstrieren, daß die seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Ökonomen wie Wilhelm Abel127 vertretene und seitdem immer wieder ungeprüft kolportierte Annahme eines Lohnverfalls bei gleichzeitigem Preisanstieg im 14. und 15. Jahrhundert als maßgeblichen Faktors einer allgemeinen „Krise des Spätmittelalters“ kaum haltbar ist.128 Schon in methodologischer Hinsicht will bedacht sein, „daß diese Epoche die erste ist, die uns für eine quantifizierende Geschichtsschreibung hinreichendes Quellenmaterial liefert.“129 Insofern ist bei der Generalisierung statistischer Werte auf ,das Spätmittelalter‘ ohnehin Vorsicht geboten. Verläßliche Anzeichen für massenhafte Landflucht verarmter Bauern, die sich nach ihrer ökonomischen Entwurzelung in den Städten durchzuschlagen versucht hätten, sind offenbar nicht zu finden.130 Allein konjunkturelle Begründungen für das wachsende Mißtrauen gegenüber fahrenden und betrügerischen Bettlern schlagen nicht an. Dennoch lassen sich längerfristige sozioökonomische Entwicklungen seit der ersten großen Pestwelle in der Mitte des 14. Jahrhunderts als Gründe für die zunehmende Ausdifferenzierung der Fürsorgetheorie durchaus erkennen. Die intermittierenden Pestschübe führten in Europa bis kurz vor 1500 zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang. Neuere Zahlen131 geben relative Verluste von 30 % der Gesamtbevölkerung an, bei einer regional unterschiedlichen Streuung zwischen 10 % und 60 %. Zur Kompensation der städtischen Bevölkerungsverluste und zur Stabilisierung des Marktes wurden Maßnahmen ergriffen, die darauf abzielten, jede Arbeitskraft zur Verfügung zu halten.132 So wurde einerseits der Zuzug von Neubürgern durch Steuerprivilegien beworben, anderseits aus Furcht vor neuen Abwanderungen die Mobilität von Handwerkern gesetzlich eingeschränkt. In diesen Kontext gehören auch Anordnungen zur allgemeinen Arbeitspflicht, die Müßiggang unter Strafe stellten. Bereits im Sommer 1349 wurde in einem Gesetz König Eduards III. von England († 1377) eine solche 126 Vgl. Peter Schuster: Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial‑ und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), S. 19–55; hier 45. 127 Vgl. Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land‑ und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter. Hamburg u. Berlin 31978. 128 Vgl. Schuster 1999; bes. S. 27–36. 129 Ebd.; S. 40; vgl. dort auch Anm. 66. 130 Vgl. ebd.; S. 46 mit Anm. 86. – Ähnlich bereits ansatzweise Ingomar Bog: Über Arme und Armenfürsorge in Oberdeutschland und in der Eidgenossenschaft im 15. und 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35 (1975), S. 983–1001; bes. 992. 131 Vgl. hierzu und zum folgenden G[undolf] Keil: Pest. A. Westen, in: LMA 6 (1993), Sp. 1915–1920; hier 1915. – Ibs 1994; S. 133–148. 132 Vgl. hierzu und zum folgenden Otto G. Oexle: Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter, in: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik (hg. v. Christoph Sachße u. Florian Tennstedt). Frankfurt a. M. 1986, S. 73–100; hier 88–91.
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Arbeitsverpflichtung für die gesamte Bevölkerung mit schweren Gefängnisstrafen für diejenigen verbunden, die sich der Arbeit entzögen, um sich ein leichteres Leben zu machen: „Et quia multi validi mendicantes, quamdiu possent ex mendicatis elemosinis vivere, laborare renuunt, vacando ociis et peccatis et quandoque latrociniis et aliis flagiciis, nullus sub pena imprisonamenti perdita, talibus qui commode laborare potuerunt, sub colore pietatis vel elimosine quicquam dare seu eos in sua desidia confovere persumat, ut sic compellantur pro vite necessariis laborare.“133 Damit war der Bettel wohl erstmals nicht als Tätigkeit, sondern als Untätigkeit definiert, während ,Arbeit‘ als gesellschaftliche Kategorie deutlich aufgewertet wurde: Wer nicht arbeitete, hatte dazu entweder gesundheitliche Gründe und gehörte deshalb auch weiterhin zu den unterstützungswürdigen Armen am Rande der christlichen Gesellschaft – oder er hatte keine solchen Gründe, wenn er selbstgewählte Untätigkeit einem offenen Arbeitsplatz in der englischen Gesellschaft vorzog, und durfte dann auch nicht unterstützt werden. Selbstgewählte und unfreiwillige Arbeitslosigkeit wurden so zum Unterscheidungskriterium für das Almosengeben. Diese Klassifikation ermöglichte den Städten in einem nächsten Schritt, sich bei der Stabilisierung des Arbeitsmarktes in entsprechenden Verordnungen primär auf das Problem der arbeitsfähigen Bettler zu konzentrieren. So erließ die Reichsstadt Nürnberg 1387 eine Verordnung, die die Unterscheidung von freiwilliger und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit in ein genau geregeltes Genehmigungsverfahren integrierte.134 Nur wer vom neuen städtischen Bettelvogt im Auftrag des Rates eine Erkennungsmarke135 erhalten hatte, durfte fortan betteln. Dieser Vogt hatte eindeutige Kriterien zur Hand, wem eine solche Genehmigungsmarke zu erteilen war. Wer betteln wollte, hatte glaubwürdige Bürgen beizubringen, die 133 Eduard III . [von England]: The Statutes of Labourers, in: The Statutes of the Realm. Printed by command of His Majesty King George the Third. In pursuance of an adress of the House of Commons of Great Britain. Bd. 1, London 1810, S. 307 f.; hier 308. Abbreviaturen wurden in diesem Fall aufgelöst. – Übersetzung: „Da viele gesunde Bettler es ablehnen zu arbeiten, solange sie von erbettelten Almosen leben können, und sich so dem Nichtstun, der Sünde, zuweilen gar der Räuberei und anderen Verbrechen hingeben, darf niemand (unter Androhung der oben genannten Gefängnisstrafe) Leuten, die arbeitsfähig sind, unter dem Schein der Religiosität oder des Almosens etwas geben oder ihr Herumlungern fördern, damit man sie auf diese Weise zwingt, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu erwerben.“ Oexle 1986; S. 89. 134 Vgl. Almosenordnung von ca. 1370 [sic], in: Willi Rüger: Mittelalterliches Almosenwesen. Die Almosenordnungen der Reichsstadt Nürnberg. Nürnberg 1932 (Nürnberger Beiträge zu den Wirtschafts‑ und Sozialwissenschaften 31), S. 68 f. – Sachsse / Tennstedt 1980; S. 30. – F[ranz] Irsigler: Bettlerwesen. I. West-, Mittel‑ und Nordeuropa. (2) Das Bettlerwesen in der spätmittelalterlichen Stadt, in: LMA 2 (1983), Sp. 2 f. 135 Solche Marken haben sich erhalten und dokumentieren die Umsetzung dieser Ordnung vor allem in Süddeutschenland auf sinnfällige Weise. Nach der Reformation blieb die Kennzeichnung durch Almosenzeichen bestehen, um den städtischen Beauftragten die Arbeit zu erleichtern. Nun erhielt folgerichtig auch der Klingelbeutel eine Bettelmarke. Vgl. insgesamt Hermann Maué: Bettlerzeichen und Almosenzeichen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1999, S. 125–140.
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seine Bedürftigkeit beeiden mußten. Das setzte voraus, daß er in der Stadt wohnte und Kontakte hatte. Doch auch der Vogt selbst konnte die Antragsteller auf echte Bedürftigkeit hin mustern; falls er sie als arbeitsfähig einschätzte, waren die Leute zurückzuweisen. Die doppelte Überprüfung nach Bürgen und eigener Einschätzung sollte zweimal jährlich wiederholt werden, wonach die Bettelmarke wieder neu vergeben oder auch entzogen werden konnte. Für stadtfremde Bettler galt eine Aufenthaltstoleranz von drei Tagen; wer länger blieb, konnte für ein Jahr der Stadt verwiesen werden. Diese älteste Nürnberger Bettelordnung enthielt eine Schlußklausel für den Fall, „daz den armen lewten mit der obgeschriben gesezzen und ordenunge irer narunge abgieng“. Dann sollte der Rat veranlaßt werden, die Ordnung zu revidieren, damit „ez den armen lewten nicht ze swer sy.“136 Man hatte also Interesse an einer ausgewogenen Lösung, mit der einerseits der Bettel zum Unterhalt freiwilliger Arbeitslosiskeit zurückgedrängt, anderseits aber auch die herkömmliche Rolle der bürgerlichen Armenversorgung nicht leichtfertig aufgegeben werden sollte. In den Städten konnte also in bester Absicht der unnötige Bettel verboten und gleichzeitig das Almosen‑ und Stiftungswesen im Rahmen spätmittelalterlicher Jenseitsfürsorge zu größter Blüte gebracht werden. Kaum ein Zeitgenosse hätte hierin einen Widerspruch gesehen. Daher ist die generalisierende Deutung der frühen städtischen Armenordnungen als Akte gezielter obrigkeitlicher „Sozialdisziplinierung“137 nur mit größter Vorsicht anzuwenden. Eine erheblich erweiterte Bettelordnung für Nürnberg wurde 1478 beschlossen. In der Zwischenzeit hatten auch andere Städte solche Verordnungen erlassen138, darunter Colmar (1363), Esslingen und Erfurt (1389), Köln (1403 und öfter), Braunschweig (1408), Frankfurt am Main (1437), Wien (1442), Augsburg (1459) und Straßburg (1464). In Straßburg galten bereits seit 1411 Maßnahmen gegen arbeitsfähige Müßiggänger: „,Wer in dirre stat oder vorstetten müssig got, 136
Soweit die Almosenordnung bei Rüger 1932; S. 69. Vgl. etwa Werner Buchholz: Anfänge der Sozialdisziplinierung im Mittelalter. Die Reichsstadt Nürnberg als Beispiel, in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), S. 129– 147. 138 Vgl. Irsigler 1983; Sp. 2. – Ernst Schubert: „Hausarme Leute“, „starke Bettler“: Einschränkungen und Umformungen des Almosengedankens um 1400 und um 1500, in: Armut im Mittelalter (hg. v. Otto G. Oexle). Stuttgart 2005 (VKAMAG 58), S. 283–347; hier 302 f. – Für Braunschweig vgl. Annette Boldt-Stülzebach: Institutionalisierte und private Formen der Wohlfahrtspflege im spätmittelalterlichen Braunschweig, in: Braunschweigisches Jahrbuch 70 (1989), S. 39–60; hier 42 f. – Für Augsburg vgl. Rolf Kiessling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt. Augsburg 1971 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19); S. 217. Claus-Peter Clasen: Armenfürsorge in Augsburg vor dem Dreißigjährigen Kriege, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 78 (1984), S. 65–125; hier 67. Text der frühen Augsburger Bettelordnungen bei Max Bisle: Die öffentliche Armenpflege der Reichsstadt Augsburg mit Berücksichtigung der einschlägigen Verhältnisse in anderen Reichsstädten Süddeutschlands. Ein Beitrag zur christlichen Kulturgeschichte. Paderborn 1904; S. 162–166. – Zu Straßburg noch unübertroffen Winckelmann 1922. 137
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es sein frowen oder man, der weder eigen noch erbe hat, domitte er sich erneren mag, und nit umbe lone arbeiten wil zu den ziten, so man arbeiten sol, und lieber gilwerk, spilwerk, zipfelwerk und luderige nochgat, denne das er sich mit eren und mit sime antwerk oder sinre arbeit begange, und erbern lüten nit umbe ir gelt dienen oder arbeiten will‘, der soll, wenn man ihn in Wirtshäusern oder sonstwie beim Müßiggang ertappt, derart am Leibe gestraft werden, daß er bedauert, den Tag nicht lieber umsonst gearbeitet zu haben.“139 Auch hier sind Bettel und Müßiggang mit Arbeitsverweigerung identifiziert, was den hohen Bedarf an Arbeitskräften, der zu diesen Zeiten geherrscht haben muß, angesichts der drastischen Strafandrohung deutlich erkennen läßt. Die wohl 1464 erlassene Bettelordnung wandte dann dieselben Differenzierungsprinzipien bei Erweiterung des Sanktionsapparats weiter an: Straßburger Bürgerinnen und Bürgern gestatte man das Betteln nur „verlicher armut und schwacheit oder krankheit halb irs libes“140, und wo die Stadtknechte feststellten, daß einzelne Bettler oder Bettlerinnen sich nur vor Arbeit drückten, so sollte dies dem Obervogt gemeldet werden. Dann war ein Hausbesuch fällig, bei dem die Arbeitsunfähigkeit und damit die Bedürftigkeit nachgeprüft werden sollte, und wenn sich dort bereits Geld angesammelt hatte, war der Schwindel zu bestrafen. Dasselbe galt, wenn arbeitsfähige Jugendliche nach Almosen bettelten, und wenn sich Bettler fremde Kinder liehen, um Mitleid zu heischen.141 Besondere Aufmerksamkeit kam solchen Leuten zu, die vom Schultheißen ihr Kleinbürgerrecht erworben haben, um fortan als Ansässige legal betteln zu können. Künftig sei von solchen Antragstellern eine eidesstattliche Erklärung einzufordern, daß sie nicht um des Bettelns willen Bürger von Straßburg werden wollten; andernfalls solle der Antrag abgelehnt werden.142 Für alle Bettler galten strenge Aufenthaltsfristen und bei Übertritt Verbannungsmöglichkeiten. Im übrigen waren in der Bettelordnung vor allem Geldstrafen ausgesetzt, die zum Teil in die Armenbüchse gezahlt wurden, teils den Knechten, die die Kontrollen durchführten. Eine Beschlußvorlage des Rates von 1473 verrät, daß auch der fest angestellte Bettelvogt gänzlich aus den Strafgebühren bezahlt wurde. Der Überschuß kam der Münsterbauhütte zugute, bei geringeren Einnahmen mußte sich der Vogt jedoch hiermit begnügen.143 Diese Form der Eigenfinanzierung bot ihm und seinen Knechten gewiß Ansporn zu erhöhter Aufmerksamkeit und Sorgfalt, doch ebenso auch zum Übereifer. Nicht nur konnten auf diese Weise die sozialen Nöte der armen Leute kaum behoben werden; auch waren der Vogt und seine Mitarbeiter existentiell auf Ordnungswidrigkeiten angewiesen und konnten daher kein ernsthaftes Interesse daran haben, daß die Verhältnisse sich im Sinne der Stadtobrigkeit nachhaltig besserten. 139
Winckelmann 1922; Teil 1, S. 67. Ebd.; Teil 2, S. 84. 141 Vgl. ebd.; Teil 2, S. 84 f., 86. 142 Ebd.; Teil 2, S. 85. 143 Vgl. das Gutachten ebd.; Teil 2, S. 87 f. 140
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So wird erklärlich, warum Sebastian Brant 1494 noch dieselben Probleme mit Straßburg verband, die bereits dreißig Jahre zuvor in der Bettelordnung angesprochen waren: Das Ausleihen fremder Kinder mochte noch immer für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen, und generell hatte sich an der Situation bettelnder Kinder in einem von Prostitution und Geschlechtskrankheiten geprägten Milieu im Laufe dieser Zeit offenbar wenig geändert. Die von Brant karikierte Betrügerei notorischer Faulenzer, die sich systematisch der moralischen Arbeitspflicht entzögen, ist tendenziell in allen früheren Bettelordnungen angesprochen und weist auf eine im Gefolge der Pest zunehmend selbstverständliche Hochschätzung der Arbeit. Otto G. Oexle, der diese Differenzierungstendenzen zuerst im Zusammenhang mit der städtischen Arbeitsmarktpolitik plausibilisieret hat, interpretiert die Entwicklung so, daß fortan „,Armut‘ und ,Arbeit‘ als polare Gegensätze empfunden“144 worden seien. Doch um „Armut“ geht es bei der angesprochenen Begriffsdifferenzierung nur sekundär. In erster Linie wurde zunehmend zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit unterschieden. Wer arbeitete, kam seiner Verantwortung in der mittelalterlichen Stadtgesellschaft nach; wer nicht arbeitete, war weiter zu klassifizieren: Arbeitsunfähige und unverschuldet in Not geratene Arme waren zu unterstützen, ganz dem christlichen Gebot und der mittelalterlichen Almosentheorie entsprechend. Hieran hatte sich nichts geändert; die Konjunktur des Stiftungswesens zum Ausgang des Spätmittelalters hin zeigt sogar, daß dieser Aspekt für die persönliche Jenseitsvorsorge immer höher veranschlagt wurde. Wer indes nicht arbeitete, obwohl er dazu fähig gewesen wäre, war dagegen zunehmend ordnungspolizeilichen und gesellschaftlichen Sanktionen unterworfen. Das galt für betrügerische Bettler, für bettelnde Jugendliche, für Vagabunden, aber auch für eine bislang nicht angesprochene Gruppe in immer schärferer Weise, nämlich ausgerechnet für die Bettelmönche und religiösen Almosensammler. Die wachsende Kritik an der selbstgewählten Arbeitslosigkeit dieser Gruppen zeigt deutlich, daß Armut als Deklassifikationskriterium eine vergleichsweise geringe Rolle spielte. Vielmehr war es in der Wahrnehmung der Kritiker ihr ohne Arbeit erworbener Reichtum, der sie diskreditierte, während sie ihre Armut nur vortäuschten: „Pfaffen / mynchs rden sind vast rich Vnd klagent sich / als werent sie arm Hü bttel / das es gott erbarm Du bist zů notturfft vff erdocht Vnd hast groß huffen zamen brocht Noch schrygt der prior trag her plus Dem sack dem ist der boden vß“145,
144
Oexle 1986; S. 91. Brant 1494 (42004); S. 61 f. – Übertragung: ,Pfaffen, Mönchsorden sind sehr reich und beklagen sich, sie seien arm. Hü Bettel, daß es Gott erbarme! Du bist auf Bedürftigkeit hin an145
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so karikierte Brant die Habsucht der Bettelorden. Zugleich wandte er sich gegen die Heiltumführer, die mit erfundenen Reliquien und Ablaßversprechen Geld erschwindelten. Solche Mißbräuche müssen im Spätmittelalter überaus verbreitet gewesen sein.146 Vor dem Hintergrund des eben Gesagten ist es nicht verwunderlich, daß Brant solche Betrüger, gegen die auch von der päpstlichen Kirche eingeschritten wurde, in einer Reihe mit Bettelmönchen, bettelnden Vagabunden und Simulanten attackieren konnte. Gemeinsamer Nenner war die selbstgewählte Arbeitslosigkeit zum eigenen Vorteil und zum Schaden der Allgemeinheit. Noch hatte sich die Kritik an den Bettelorden jedoch nicht weit verbreitet. Erst im 16. Jahrhundert gewann der Konflikt zunehmend an Schärfe, zunächst von humanistischer Seite, dann im Zuge der Reformation.147 Noch im Lübecker Testament des Henning Putbus (1436) war zu sehen, daß für den Erblasser im Rahmen seiner Jenseitsvorsorge die Bettelorden genauso als Almosenempfänger infrage kamen wie die unorganisierten Armen auf dem Kirchhof und die institutionalisierte Fürsorge in Spitälern und Leprosenhäusern. Mehr noch, die in den Bettelorden organisierten Armen Christi wurden sogar deutlich favorisiert, weil sie langfristig eine professionelle Fürbitte garantieren konnten. Das ist bereits angeklungen.148 Dennoch waren Theorie und Praxis der Ordensarmut nicht unumstritten: Sowohl innerhalb des Franziskanerordens als auch aus päpstlicher Richtung und sogar von heterodoxen Armutsbewegungen her war es früh zu Auseinandersetzungen darüber gekommen, ob Ordensbrüdern der Bettel überhaupt gestattet sei. Die noch auf Franz von Assisi zurückgehende Regula non bullata (1221) hatte dem Bettel im Kontext einer Laienbewegung nur subsidiäre Funktion zugestanden, sofern die Handarbeit zum Lebensunterhalt nicht ausreichen sollte.149 Die für die Geschichte des Mönchtums paradigmatischen Differenzen innerhalb des Ordens, die sich von Anfang an gerade an der Armutsfrage entzündet hatten, wurden bereits angesprochen.150 Papst Johannes XXII. verurteilte 1323 die franziskanische Lehre einer völligen Besitzlosigkeit Jesu Christi und der Apostel als häretisch und bewirkte damit die Spaltung in gelegt und hast einen großen Haufen zusammengebracht. Der Prior schreit immer noch: ,Bring mehr!‘ Das ist ein Faß ohne Boden.‘ 146 Vgl. Paulus 22000; Bd. 3; S. 413–416. 147 Vgl. Ocker 1999. Auf diese erhellende Studie sei für den ganzen Zusammenhang nachdrücklich verwiesen. 148 Vgl. oben; S. 87. 149 „Et, cum necesse fuerit, vadant pro elemosina sicut alii pauperes.“ Regula non bullata quae dicitur prima, in: Analekten 21930, S. 1–18; hier § 7, S. 5. Daß das entscheidende „cum“ in einer Handschrift fehlt, kann nicht ausschlaggebend sein, denn später (§ 9, S. 7) heißt es noch einmal, „cum necesse fuerit, vadant pro elemosinis.“ Insgesamt sind die §§ 7–9 der ersten Regel höchst aufschlußreich für die frühe Arbeitsethik der Gemeinschaft. Die endgültige Regel kannte zwar weiterhin die verdienstvolle Arbeit, konditionierte den Bettel gleichwohl nicht mehr mit „cum“. Vgl. Regula a. 1223. Nov. 29. confirmata, ebd. S. 20–24; hier § 5 f., S. 25 f. – Vgl. auch im Testamentum die §§ 5 u. 7, ebd. S. 25 f. 150 Vgl. oben; S. 82 f.
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einen streng observanten und einen konventualen Flügel, der die ursprünglichen Armutsbestimmungen großzügiger auslegte. Aber auch aus einer geradezu entgegengesetzten Richtung, nämlich von der weitaus radikaleren Armutsbewegung, vor deren Kulisse sich die Bettelorden im 13. Jahrhundert erst hatten etablieren können, kam harsche Kritik. So wurde John Wyclif († 1384) auf dem Konzil zu Konstanz 1415 postum als Ketzer verurteilt, weil er nicht nur die konsequente Armut der Kirche gefordert151, sondern in diesem Zusammenhang auch ausgerechnet die Bettelorden scharf attackiert hatte: Wyclif hatte es gewagt, sie als Häretiker zu bezeichnen; jeder, der ihnen Almosen spende, gehöre exkommuniziert.152 Auch die besonderen Fürbitten, die den Spendern versprochen würden, seien Simonie und hätten keine Wirkung.153 Abgesehen von einer grundsätzlichen Ablehnung aller Orden154 ist jedoch einer der verurteilten Sätze von besonderem Interesse, der die ursprüngliche Konzeption Franz’ von Assisi einfordert: „Fratres tenentur per laborem manuum victum acquirere, et non per mendicitatem.“155 Mit diesem Satz, der auf zwei Abschnitten aus Wyclifs 1382 fertiggestelltem Trialogus beruht156, ist meines Wissens zum ersten Mal in Opposition zu den Mendikantenorden die Alternative von Arbeit und Bettel ausgedrückt, die für die spätmittelalterliche Bettelkritik so zentrale Bedeutung erlangen sollte. Die bewährte Identifikation von Arbeitslosigkeit, Armut und Bettel begann sich aufzulösen. Parallel zu diesem Differenzierungsprozeß wuchsen die Vorbehalte gegen sämtliche Methoden der mühelosen Geldvermehrung. Hierher gehört die wachsende Kritik an der Pfründenhäufung, sofern die mit den Benefizien verbundenen Pfarraufgaben oft nicht persönlich wahrgenommen wurden: „Merck wer vil pfrůnden haben well Der letsten wart er jnn der hell Do wurt er fynden eyn presentz Die me důt dann hie sechs absentz“157,
so stellt Brant in seinem Kapitel Von vile der pfrunden demjenigen in Aussicht, der aus der Häufung von Abwesenheit Gewinn schlägt. Bereits in den immer wieder
151
Vgl. DH37 (1991); Nr. 1160, 1168, 1182 f., 1186, 1189 und 1194. Vgl. ebd.; Nr. 1170; 1184. 153 Vgl. ebd.; Nr. 1169, 1175. 154 Vgl. ebd.; Nr. 1171–1173, 1181, 1185 und 1194 f. 155 Ebd.; Nr. 1174. – Übersetzung: ,Die Brüder sind gehalten, durch Arbeit ihrer Hände ihren Unterhalt zu verdienen und nicht durch den Bettel.‘ 156 Vgl. Joannis Wiclif Trialogus cum supplemento Trialogi (hg. v. Gotthardus Lechler). Oxford 1869; S. 341–349 (= Trial. IV, 28 f.). 157 Brant 1494 (42004); S. 32. – Übertragung: ,Merk: Wer viele Pfründen haben will, der versehe die letzte in der Hölle, wo er eine Präsenz vorfinden wird, die ihm mehr einbringt als hier sechs Abwesenheiten‘. 152
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vorgebrachten Gravamina nationis Germaniae158 war das Problem der Pfründenhäufung angesprochen, das noch über die Reformation hinaus ein zentrales Thema der Romkritik blieb.159 Auch die Kritik am Wucher gehört in diesen Zusammenhang. Er galt auch theologisch als besonders sündhaft, insofern Geldgewinn (nach 2 Thess 3,10) nur durch Arbeit zu rechtfertigen sei. Diese auch in früheren Epochen der Kirchengeschichte vorgebrachte Kritik160 bekam im Spätmittelalter161 und in der Reformationszeit162 im Rahmen der wachsenden Skepsis gegen mühelose Geldvermehrung ebenfalls neuen Auftrieb. Während der Gelderwerb in selbstgewählter Arbeitslosigkeit zunehmend auf Ablehnung stieß, gewannen die Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben sowie die Beginen und Begarden an Ansehen, da sie sich als gelübdefreie Lebensgemeinschaften frommer Laien demonstrativ von Handarbeit ernährten.163 In den Häusern der Devotio moderna war etwa die massenhafte Buchproduktion ein Mittel zur wiederholten kontemplativen Versenkung in die heiligen Texte, zugleich diente der Verkauf aber auch dem Unterhalt der Gemeinschaften.164 Die Buchherstellung für andere unterschied diese Religiosen von den früheren Mönchsorden, deren Skriptorien eher selbstreferentiell arbeiteten, und trug vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Arbeitslosenkritik zu ihrem Erfolg bei, während die Bettelorden immer mehr in Mißkredit gerieten. Von einer unterschiedslosen Bettlerkritik im Spätmittelalter kann jedoch vor diesem Hintergrund keine Rede sein, eher von einer humanistisch geprägten Luxuskritik, in die das Problem der selbstgewählten lukrativen Arbeitslosigkeit aus den genannten Gründen freilich hineingehört: 158 Vgl. exemplarisch die Intelligentia principum super gravaminibus nationis Germaniae [1456], in: Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (hg. v. Paul Joachimsen). Neudruck. Fünfter Bd., Leipzig 1933, S. 19–24; hier 19. – Entwurf der Beschwerden der deutschen Nation [1521], in: DRTA.JR 2 (1896), S. 670–704; hier § 45, S. 685 f. et passim. 159 Vgl. etwa Luther: An den Adel 1520 (1982); hier 116–120. 160 Vgl. Matthias Th. Kloft: Das christliche Zinsverbot in der Entwicklung von der Alten Kirche zum Barock. Eine Skizze, in: Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition (hg. v. Johannes Heil und Bernd Wacker). München 1997, S. 21–34. 161 Vgl. Brant 1494 (42004); S. 245 f. 162 Vgl. Martin Luther: (Kleiner) Sermon von dem Wucher. 1519, in: WA 6 (1888), S. (1) 3–8. – Ders.: (Großer) Sermon von dem Wucher. 1520, ebd. S. (33) 36–60. – Ders.: Von Kaufshandlung und Wucher. 1524, in: WA 15 (1899), S. (279) 293–322. 163 Inzwischen erschien die faszinierende Dissertation von Martina B. Klug: Armut und Arbeit in der Devotio moderna. Studien zum Leben der Schwestern in niederrheinischen Gemeinschaften. Münster u. a. 2005 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 15). Darin wird der hohe Stellenwert greifbar, den die Verbindung aus Arbeit und Armut in den Devotenhäusern hatte. Selbstversorgung und Kontemplation durch Arbeit sollten demzufolge noch durch ein drittes Element ergänzt werden, indem erwirtschaftete Überschüsse den Bedürftigen außerhalb der Häuser zukommen sollten. 164 Vgl. Thomas Kock: Die Buchkultur der Devotio moderna. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung und Bibliotheksaufbau im Zeitalter des Medienwechsels. Frankfurt a. M. 1999 (Tradition – Reform – Innovation 2).
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„Wer gůt hat/ vnd ergetzt sich mit Vnd nit dem armen do von gytt Dem wurt verseit / so er ouch bitt“165,
schärft Sebastian Brant den Reichen ein, mit deutlichem Bezug auf die Strafe am reichen Prasser (Lk 16,19–31). Dieses Motto zum Kapitel Von vnnutzem richtum wird von einem Holzschnitt (Abb. 6) flankiert, der durch eine durchbrochene Fassadenarchitektur in Vorder‑ und Hintergrund geteilt ist: Im reich ausgestatteten Haus wühlt ein durch Narrenkappe gekennzeichneter Mann in einer geöffneten Geldtruhe, während sich draußen im Vordergrund ein zweiter Mann auf dem Boden niedergelassen hat. Durch eine Muschel am Hut und seinen Gehstock ist dieser als Jakobspilger gekennzeichnet. Er ist extrem mager und hält eine Bettelschale auf dem Knie – ein bedürftiger Bettler. Zwei Hunde lecken ihm die Beine. Damit ist das Motiv des Armen Lazarus (Lk 16,20 f.) visualisiert, das im Motto bereits warnend angedeutet wurde. Zugleich vereint der Mann auf sich eine Reihe von Bedürftigkeitskriterien, auf die die Werke der Barmherzigkeit (nach Mt 25) gerichtet werden sollen: Armut, Nacktheit, Fremdheit und Krankheit sind gleichermaßen visualisiert – ähnlich wie beim Oldesloer Opferstock von 1590.166 Im Text selbst geht Brant auf das Gegensatzpaar ,Reichtum‘ versus ,Weisheit‘ hinaus: Eine der größten Narrheiten sei es, einen reichen Narren der Weisheit vorzuziehen; selbst wenn Salomo noch lebte, würde man ihm heute den Zutritt zum Rat verwehren, wenn er sich als armer Mann zeigte. Dagegen lade man die Reichen gern ein „Vnd bringt jnn wiltpret / vogel / visch, Vnd důt on end mit jnn hofiern Die wile der arm stat vor der tren“167.
Auch Brants Kapitel von verachtung armut, eins der längsten im Narrenschiff, steht im Zeichen der Luxuskritik. Der Reichtum sei inzwischen dermaßen en vogue, daß niemand sich mehr an die Armut erinnere. In einer Art historischem Florilegium werden die Vorzüge der Armut entfaltet; geradezu panegyrisch fährt Brant fort: „Armůt hett geben fundament Vnd anfang allem regyment Armůt hat gbuwen alle stett All kunst Armůt erfunden hett Alls übels Armůt ist wol on All ere vß Armůt mag erston
165 Brant 1494 (42004); S. 45. – Übertragung: ,Wer Gut hat und sich daran ergötzt und den Armen nichts davon gibt, dem wird [der Zutritt] versagt, so sehr er auch bitte.‘ 166 Vgl. oben; S. 74 f. 167 Brant 1494 (42004); S. 46. – Übertragung: ‚… und bringt ihnen Wildbret, Geflügel, Fisch und hofiert sie ohne Ende, während der Arme vor der Tür steht.‘
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By allen vlckern vff der erd Ist armůt / langzyt gwesen werdt“168.
So sehr den Reichen auch ins Gewissen geredet wird, so wenig ist doch von konkreter Armenfürsorge die Rede. Den Armen wird ihr Stand sogar schmackhaft gemacht. Vielleicht schien es Brant im Kontext der ausgreifenden Arbeitslosenkritik ratsamer, seine Argumentation von der luxuriösen Trägheit der Reichen her zu entwickeln, statt das belastete Stichwort ,Almosen‘ mit seinen negativen Konnotationen erneut in die Debatte zu bringen. Das von Brant und etlichen Stadtobrigkeiten nach der Pest geforderte kritische Bewußtsein in der Almosenpraxis war noch immer ein unabgeschlossenes Politikum. Auf dem Reichstag zu Worms wurde 1495, im Jahr nach dem Narrenschiff, beschlossen, für das folgende Jahr Erkundigungen und Vorschläge für eine reichsweite Bettelordnung durch die Stände zusammentragen zu lassen.169 Doch der Lindauer Reichstag 1497 erklärte wiederum „ein yede oberkait“ selbst für zuständig.170 Schließlich wurde 1498 zu Freiburg reichsweit festgesetzt, die einzelnen Obrigkeiten sollten jedem das Betteln verbieten, der es nicht wirklich nötig habe; Kindern der Bettler sei außerdem Arbeit zu verschaffen.171 Die Frage der Zuständigkeit für das verbreitete Problem war also in diesen Jahren von einiger Brisanz.
4. Luxuskritik und Fürsorgemotivation bei Johannes Geiler von Kaysersberg Das Narrenschiff hatte jedenfalls reichsweite Bedeutung. Dazu trugen gleich nach seinem Erscheinen etliche Nachdrucke bei. So kam noch 1494, im Jahr der Basler Originalausgabe, in Straßburg eine nicht autorisierte Fassung heraus, die von einem unbekannten Interpolator mit zahlreichen Erweiterungen und Umstellungen versehen worden war, das nüw Schiff von Narragonia.172 In Lübeck stellte die Mohnkopf-Druckerei 1497 eine niederdeutsche Version her173; im selben Jahr er168 Ebd.; S. 217. – Übertragung: ,Armut hat aller Regierung Fundament und Gründung gegeben. Armut hat alle Städte gebaut. Alle Kunst hat Armut erfunden. Allen Übels ist Armut ganz frei. Alle Ehre kann aus Armut erstehen. Bei allen Völkern der Erde war Armut lange Zeit viel wert.‘ 169 Vgl. DRTA .MR 5.I,2 (1981); S. 1143. 170 Vgl. DRTA .MR 6 (1979); S. 344. 171 Vgl. ebd.; S. 737. 172 Vgl. Sebastian Brant: Das neue Narrenschiff (hg. v. Loek Geeraedts). Dortmund 1981 (Deutsche Wiegendrucke). – Jan-Dirk Müller: Das nüv Schiff von Narragonia. Die interpolierte Fassung von 1494/95, in: Sébastien Brant, son époque et „la Nef des fols“. Sébastian Brant, seine Zeit und das „Narrenschiff “. Actes du Colloque international Strasbourg 10–11 Mars 1994 (hg. v. Gonthier-Louis Fink). Straßburg 1995 (Collection Recherches Germaniques 5), S. 73–91. 173 Vgl. Dat narren schyp. Lübeck 1497. Fotomechanischer Nachdruck der mittelniederdeutschen Bearbeitung von Sebastian Brants Narrenschiff (hg. v. Timothy Sodmann). Bremen 1980.
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schien in Basel Jacob Lochers lateinische Bearbeitung174. In Straßburg hat jedoch zur enormen Popularität des Narrenthemas vor allem der mit Brant befreundete Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg († 1510)175 beigetragen, der 1498 und 1499 einen umfangreichen Predigtzyklus über die einzelnen von Brant karikierten Narrenscharen hielt, und zwar auf Grundlage jener interpolierten Fassung von 1494. Er ist es auch gewesen, der durch diese und andere Predigten sowie durch energische Eingaben an die Verantwortlichen der Stadt Straßburg das dortige Armutsproblem immer wieder angesprochen hat und wegen seines Engagements176 von Jakob Wimpheling als „praesidium et pater pauperum“177 gewürdigt wurde. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß Geilers Name soviel wie ,Bettler‘ bedeutete; er selbst ließ sich vermutlich aus diesem Grunde lieber bei seinem Herkunftsnamen nennen.178 Über den von Brant vorgestellten Narrenreigen predigte Geiler im Straßburger Münster auf deutsch vom ersten Fastensonntag179 am 25. Februar 1498 mit Unterbrechungen bis zum Sonntag Jubilate, dem 21. April 1499. Im Druck erschien der Zyklus freilich erst in seinem Todesjahr 1510 in lateinischer, 1520 in deutscher Sprache.180 Die 110 Narrenscharen, die im Laufe der Predigtreihe auf174 Vgl. Nina Hartl: Die ,Stultifera Navis‘. Jakob Lochers Übertragung von Sebastian Brants ,Narrenschiff ‘. 2 Bde., New York, München und Berlin 2001 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 1; Internationale Hochschulschriften 353). 175 Vgl. Uwe Israel: Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510). Der Straßburger Münsterprediger als Rechtsreformer. Berlin 1997 (Berliner historische Studien 27). Der Wert dieser Darstellung kann kaum genug hervorgehoben werden. 176 Vgl. jetzt den ausgesprochen ertragreichen Beitrag von Rita Voltmer: Zwischen polittheologischen Konzepten, obrigkeitlichen Normsetzungen und städtischem Alltag: Die Vorschläge des Straßburger Münsterpredigers Johannes Geiler von Kaysersberg zur Reform des städtischen Armenwesens, in: Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 2006 (VSWG.B 189), S. 91–135. – Bereits früher Francis Rapp: L’église et les pauvres à la fin du moyen-âge. L’exemple de Geiler de Kaisersberg, in: Revue d’histoire de l’église de France 52 (1966), S. 39–46. – Israel 1997; S. 222–236. 177 Jakob Wimpfeling u. Beatus Rhenanus: Das Leben des Johannes Geiler von Kaysersberg (hg. v. Otto Herding). München 1970 (Jacobi Wimpfelingi Opera selecta II,1), S. 57. 178 Vgl. Israel 1997; S. 38 f. 179 Zentrales Anliegen des Narrenthemas bei Brant und Geiler ist die Aufforderung zu Umkehr und Buße. Den liturgischen Zusammenhang mit den Fastenzeiten haben Klaus Manger und Dietz-Rüdiger Moser deutlich herausgestellt. Bereits Brants Narrenschiff ist daher nicht als säkularliterarisches Werk zu lesen, sondern als religiöse Weisheitsliteratur, Geilers Predigten erst recht. – Vgl. Klaus Manger: Literarisches Leben in Straßburg während der Prädikatur Johann Geilers von Kaysersberg (1478–1510). Heidelberg 1983 (Heidelberger Forschungen 24). – Dietz-Rüdiger Moser: Geiler von Kaysersberg und die Narrenliteratur am Oberrhein, in: Das Elsaß und Tirol an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Sieben Vorträge (hg. v. Eugen Thurnher). Innsbruck 1994 (Schlern-Schriften 295), S. 75–87. 180 Eine moderne Edition fehlt bislang. Ich zitiere parallel aus den genannten Ausgaben von 1510 und 1520: Lateinische Fassung: *Nauicula siue speculum fatuorum praestantissimi sacrarum literarum doctoris Joannis Geyler Keysersbergii Concionatoris Argentinensis, a Jacobo Othero collecta. Straßburg: Schürer 1510. – Deutsche Fassung: *Des hochwirdigen doctor Keiserspergs narenschiff so er gepredigt hat zů straßburg in der hohen stifft daselbst Predictant der zeit. 1498 dis geprediget und vß latin in tütsch bracht / darin vil weißheit ist zů lernen / und leert auch
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treten (wobei nicht immer genau eine Predigt einer Narrenschar entspricht), sind ihrerseits durch ein für Geilers Mnemotechnik typisches Verfahren untergliedert, indem er jeder Schar mehrere „nolae“, also „Schellen“ anhängt, die nacheinander erläutert werden. So werden die Facetten eines Themas aus der Vorlage zu einzelnen Aspekten der Narrheit ausgearbeitet: „[D]Ecimaseptima turba stultorum est. Contemptores pauperum. Gelt narren. Sunt qui pauperes propter paupertatem contemnunt: diuites autem magnificant. dinoscuntur autem hij per septem nolas“181. Dann folgt die erste Schelle: „Prima nola est: pauperes non honorare sed diuites. Nullum honorem pauperibus sed diuitibus propter diuitias precise / exhibent. Stulti vtique / nescientes debitam honoris causam / que virtus est secundum Aristotelem / non diuitie o virtus inquam propria vel aliena“182. Brants Klagen werden also vor allem durch Zitate angereichert, die sich dem hierfür empfänglichen Stadtpublikum als Autoritäten anbieten.183 Auf eine besonders eindrückliche Stelle sei in diesem Zusammenhang näher eingegangen: Daß Reiche bevorzugt, Arme hingegen diskriminiert würden, habe auch schon der Kirchenvater Hieronymus getadelt: „relucet enim in paupere imago Jesu christi: in diuite autem mundi.“184 Daß im Armen Christi Ebenbild aufleuchte, erhellt die narrenschel hinweck werffen. ist nütz und gůt alen menschen. Straßburg: Grüninger, 23. August 1520. Zur überaus schwierigen Textgeschichte der Narrenschiffpredigten und zu ihrer Verfahrensweise verweise ich vorläufig auf Gerhard Bauer: Johannes Geiler von Kaysersberg: Ein Problemfall für Drucker, Herausgeber, Verleger, Wissenschaft und Wissenschaftsförderung, in: Daphnis 23 (1994), S. 559–585. – Ders.: Wandel und Bestand um 1500: Die Predigten des Johannes Geiler von Kaysersberg über Sebastian Brants „Narrenschiff “, in: Wandel und Bestand. Denkanstöße zum 21. Jahrhundert. Festschrift für Bernd Jaspert zum 50. Geburtstag (hg. v. Helmut Gehrke, Makarios Hebler und Hans-Walter Stork). Paderborn und Frankfurt a. M. 1995, S. 61–85. – Ralf-Henning Steinmetz: Über Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ,Narrenschiff ‘-Predigten Geilers von Kaysersberg. Am Beispiel und mit dem lateinischen und dem deutschen Text der Predigt über die Bůlnarren, in: Predigt im Kontext. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin (hg. v. Volker Mertens, HansJochen Schiewer u. Wolfram Schneider-Lastin). Tübingen 2008 [im Druck]. 181 Geiler von Kaysersberg (1510); fol. H1 v°. – Frühneuhochdeutsch: „Die xvii. narren schar ist( contemptores pauperum gelt narren. Es seint etlich die die narren verachten vmb der armůt willen aber die reichen die machen sie groß / disse narren erkent man in . vii. schellen.“ Ders. (1520); fol. 51 r°. – Diese Predigt ist in moderner Übertragung abgedruckt u. d. T.: Armut und Reichtum (m. Beitr. v. Gerhard Bauer), in: Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert (hg. v. Gerhard K. Schäfer). Heidelberg 1991 (VDWI 4), S. 146–155. 182 Geiler von Kaysersberg (1510); fol. H1 v°. – Frühneuhochdeutsch: „Die erst schel ist etlich thůnt den armen kein eer an aber den reichen vmb des gůts willen / dz seint narren wan sie nit vrsach wissen warumb man ein eeren sol / tugent sol man eren nit reichtumb sagt Aristoteles es sei sein eigen tugent oder frembde tugend.“ Ders. (1520); fol. LI r°. 183 Vgl. demnächst Ralf-Henning Steinmetz: Die Rezeption antiker und humanistischer Literatur in den Predigten Geilers von Kaysersberg, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003 (hg. v. Nicola McLelland, Hans-Jochen Schiewer u. Stefanie Schmitt). Tübingen 2008 [im Druck]. 184 Ders. (1510); fol. H1 v°. – Frühneuhochdeutsch: „wan in im [d. h. im Armen] erglestet [d. h. ,erglänzt‘] die bildung ihesu christi / in dem reichen aber die bildung der welt“. Ders.
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schon aus der bekannten Aussage im Matthäusevangelium: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Die Alternative, daß der Reiche dagegen ein Abbild der Welt sei, entspricht in dieser Konstellation ganz der augustinischen Dialektik von Gotteszugehörigkeit und Weltzugehörigkeit. Drittens ist jedoch mit der volkssprachlichen Übersetzung dieser Stelle der meines Wissens früheste Beleg für das deutsche Wort „Bildung“ als Bezeichnung der frühchristlichen Imago-Dei-Lehre gefunden.185 Die Geschichte der Menschenwürde beruht im christlichen Europa zu einem guten Teil auf der Vorstellung, im Nächsten Gottes Ebenbild und im Armen das Bild Christi zu sehen.186 Der mit Hieronymus vorgebrachten Mahnung entspricht dann eins von Geilers typischen Beispielen aus der Tierwelt: Nach dem Tod „fiet enim sicut de gallina et falcone quorum vnus alteri in vita preponitur: post mortem econtrario.“ In der deutschen Version war dies kulinarisch ausgeführt.187 Daß die Seele im Paradies wie eine wohlbereitete Speise auf die königliche Tafel Gottes käme, war ein besonders extravagantes Bild, dessen sich Geiler auch an anderer Stelle bediente, um es bis ins einzelne geistlich auszudeuten.188 Die weiteren Narrenschellen folgen im wesentlichen der Luxuskritik, die bereits bei Brant prägend war. Mit der zweiten wird kritisiert, daß man den Reichen Glauben schenke, den Armen aber nicht; mit der dritten, daß man den Rat der Armen nicht höre (hier wird ausdrücklich auf Brant verwiesen); mit der vierten, daß stets Reiche eingeladen würden, niemals Arme; mit der fünften, daß man die Freundschaft der Armen meide. Dann folgen zwei Schellen, die zu einer Korrektur der durchweg negativen Vorstellung von Armut auffordern sollen. Damit ist der Arme selbst angesprochen, sich besser dankbar in sein Schicksal zu fügen als mit Gott zu hadern.189 Der Arme hat Gott auf seiner Seite, ist im übrigen aller säkularen Sorgen ledig und kann viel sicherer das Paradies erwarten als der Reiche. Von Interaktion zwischen beiden Gruppen ist hier keine Rede; aus dem Weheruf gegen die Reichen scheinen sich keine sozialen Konsequenzen zu ergeben. Dasselbe gilt für die zweite Geldnarrenpredigt, die sich auf Brants Kapitel (1520); fol. LI r°. – Zum Armen als Bild Christi in Geilers Predigten vgl. auch Rapp 1966; S. 40. 185 Vgl. Reinhart Staats: Klopstock und der Ursprung des deutschen Wortes „Bildung“, in: ders.: Protestanten in der deutschen Geschichte. Geschichtstheologische Rücksichten. Leipzig 2004, S. 193–212. 186 Vgl. Paul Kirchhof: Auf christlichem Nährboden, in: Rheinischer Merkur vom 7. April 2000, S. 8. 187 Geiler von Kaysersberg (1510); fol. H2 r°. – Frühneuhochdeutsch: Dann werde „sich dz blat wenden. Es würt gon wie es einem falcken vnd einem hůn gieng / dieweil der falck lebt so eret man in / man tregt in vff der hand / das hůn laufft vff dem mist zůbicken wan der falck gestirbt so würfft man yn auff den mist / aber das hůn tregt man vff den tisch mit eren.“ Ders. (1520); fol. LI v°. 188 Vgl. Paul Ramatschi: Geilers von Kaysersberg „Der Has im Pfeffer“. Ein Beispiel emblematischer Predigtweise, in: Theologie und Glaube 26 (1934), S. 176–191. 189 Vgl. Geiler von Kaysersberg (1510); fol. H2 v°. Ders. (1520); fol. LII v°.
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von verachtung armut bezieht, gehalten in der Fastenzeit 1499, am Sonntag nach Invokavit (24. Februar)190. Hier wird der Kontrast von Armut und Reichtum überdeutlich, schon in der Verteilung auf genau zwei Narrenschellen: „Prima nola est: Magnificare diuites et diuitias“191. „Secunda nola est. Paruifacere paupertatem et pauperes.“192 Die Vorzüge der Armut werden dabei ex negativo definiert, als Abwesenheit aller Versuchungen, die der Reichtum mit sich bringt. Wir glichen, so schließt Geiler (in deutlicher Anspielung auf Mt 19,24), einem Kamel: „in initio parui sumus quia pauperes: similiter in exitu / in fine secundum exiles: quia etiam pauperes eximus: in medio autem per totam vitam quam viuimus / facimus nobis gyppum vt camelus habet / per diuitias.“193 Auch an anderer Stelle, in seinem Seelenparadies, führt er die Vorzüge der Armut als Kardinaltugend auf und erinnert damit an die besondere christliche Qualität der Besitzlosigkeit.194 Die konkreten Probleme der Armut in Straßburg – und damit auch die Unterscheidung von würdigen und unrechtmäßigen Bettlern – werden dagegen in der 69. Predigt angesprochen, der Brants Kapitel von betleren zugrundeliegt, gehalten am 21. Juli 1499: „[S]exagesimasecunda turba stultorum est: Mendicantium: Jpsi sunt mendicantes iniuste / quod dico notanter non enim omnes mendici sunt fatui.“195 Anders als Brant legt Geiler somit ausdrücklich Wert auf die Feststellung, daß er nur über einen suspekten Teil der Bettlerschaft sprechen werde, ohne das Urteil generalisieren zu wollen. Diese Verwahrung wird jedoch gleich in der ersten von sieben Schellen wieder durchbrochen, wo Geiler vom ungeduldigen Bettel spricht. Die armen Menschen bettelten nicht freiwillig, wie er vorweg erklärt, sondern aus Not, und doch würden sie durch ihr ungeduldiges Murren und Fluchen zu Narren. Für sie habe die Seligpreisung „beati pauperes spiritu“ (Mt 5,3) keine Gültigkeit. Erst mit der zweiten Schelle kommen diejenigen Bettler zur Sprache, die nicht wirklich auf Almosen angewiesen wären. Welches Maß an Not den Bettel denn eindeutig rechtfertige, sucht Geiler durch eine dreifache Klassifikation zu erläutern, die er den Disputationes quotlibeticae des Pariser Theologen Heinrich von 190
Ders. (1510); fol. Gg5 v°. Ders. (1520); fol. „CLXVIII“ [eigentlich 159] r°. Ders. (1510); fol. Gg5 v°. – Frühneuhochdeutsch: „Die erst schel ist großmachen reichtumb vnd die reichen leut.“ Ders. (1520); fol. „CLXVIII“ [eigentl. 159] v°. 192 Ders. (1510); fol. Gg6 v°. Frühneuhochdeutsch: „Die ander schel ist verachten die armen / vnd die armůt“. Ders. (1520); fol. CLXX r°. 193 Ders. (1510); fol. Gg7 r°. – Frühneuhochdeutsch: Wir sind „ein kemmelthier das wir ym anfang clein seient / vnd ym end auch arm vnd ellend. Aber in vnserem leben machen wir vnnß ein hoffer [d. h. ,Höcker‘, spielt aber auch auf ,Hoffart‘ an!] vnd ein hohen rücken / als ein kemmelthier durch reichthumb.“ Ders. (1520); fol. CLXX v°. 194 Vgl. ders.: ‹Seelenparadies›. 1510, in: ders.: Sämtliche Werke (hg. v. Gerhard Bauer). Teil 1, Abt. 1, Bd. 3, Berlin u. New York 1995 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts); hier S. 123–150. 195 Ders. (1510); fol. Y5 r°. – Frühneuhochdeutsch: „Die lxviii. predig sagt von betleren die vnrechtlich betlen. Das thůn ich merckgleich darzů wan nit alle die da betlen seint narren“. Ders. (1520); fol. „CXXIX“ [eigentl. 121] r°. 191
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Gent († 1293)196 entnommen hat: Die dringlichste Stufe sei die „necessitas extrema“197, der jeder abzuhelfen verpflichtet sei. Das entspricht der durch Thomas von Aquin198 vertretenen Ansicht, daß äußerste Not das Almosen zur Verpflichtung mache. Die zweite Stufe sei nach Heinrich die „necessitas oportuna“199, ohne die das menschliche Leben nicht gut zu bewerkstelligen sei; hier würde man aus Güte zur Hilfe kommen und müßte wohl die Lebens‑ und Zeitumstände mitberücksichtigen. Als dritte Stufe der Bedürftigkeit sei schließlich die „necessitas proficua“200 zu betrachten, ohne die das menschliche Leben keine Freude mache. Ihr beizuhelfen sei eine Sache der Liebe und des gemeinen Nutzens, und unter entsprechenden Umständen dürfe sogar Hilfe erheischt werden. Wenn jemand etwa zur Predigt tauge, so solle man ihm nicht verwehren, um Almosen für den Besuch einer höheren Schule oder für den Kauf von Büchern zu betteln, solange sich sein Bedarf in vernünftigen Maßen halte. Auch für Thomas gehörte ja nicht nur das Überlebensnotwendige zum Bedarf.201 Mit der dritten Schelle werden Bettler kritisiert, die nicht zur Wiedervergeltung bereit seien, wie die sogenannten starken Bettler, deren Antwort nur der Müßiggang bleibe; ein armes Leben in der Nachfolge Christi hingegen sei nicht zu tadeln, sondern zu loben.202 In einer späteren Predigt von den Ruhmnarren kritisiert Geiler auch umgekehrt das Almosengeben aus Ehrsucht, macht bei Geistlichen jedoch ebenfalls eine Ausnahme, ihrer Vorbildfunktion wegen.203 Die vierte Schelle der Bettelnarrenpredigt betrifft das Betteln aus Habsucht; sie wird angereichert durch ein Predigtmärlein, in dem ein sterbender Bettler sich anschickt, seine gesammelten Pfennige als Müsli zu verspeisen, um sie nicht zu verlieren.204 Die von Brant so harsch kritisierten falschen Quästionierer werden unter der sechsten Schelle karikiert. Hiermit löst sich Geiler von seiner Ankündigung und kommt unter den folgenden zwei Schellen auf Probleme zu sprechen, die gerade nicht bei den betrügereischen Bettlern ihre Ursache haben: „Sexta nola est: Mendicare non ordinans. Magna nimis et multa mendicitas est: et huius causa est defectus eorum / qui mendicationem deberent ordinare / sed rectores reip[ublicae] non curant.“205 196
Vgl. R[aymond] Macken: H[einrich] v[on] Gent, in: LMA 4 (1989), Sp. 2091 f. Geiler von Kaysersberg (1510); fol. Y5 r°. – Frühneuhochdeutsch: „letst not“. Ders. (1520); fol. „CXXX“ [eig. 122] r°. 198 Vgl. Thomas von Aquin: ST h II –II , q. 32, a. 5, c. a. 199 Vgl. Geiler von Kaysersberg (1510); fol. Y5 v°. – Ohne frühneuhochdeutsches Äquivalent; vgl ders. (1520); fol. „CXXX“ [eig. 122] r°. 200 Frühneuhochdeutsch: „nützliche notturfft“. Ebd. 201 Vgl. Thomas von Aquin: ST h II –II , q. 32, a. 6. 202 Vgl. Geiler von Kaysersberg (1510); fol. Y5 v°. – Ders. (1520); fol. „CXXX “ [eig. 122]. 203 Vgl. ders. (1510); fol. Ee1 r°. Ders. (1520); fol. „CVI “ [eigentl. 148] v°. 204 Vgl. ders. (1510); fol. Y5 v°. Ders. (1520); fol. „CXXX “ [eig. 122] v°. 205 Ders. (1510); fol. Y6 r°. – Frühneuhochdeutsch: „Die vi. schel / ist betlen nicht ordnen Es ist ein grosse betlerei / vnd vil betler hie das ist der gebrest [d. h. das Versagen] der herren 197
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Die eigentlich Schuldigen seien also im Rat zu suchen, dessen Versäumnisse erst zu der chaotischen Situation geführt hätten. Als Lösungsweg schlägt Geiler vor, die Zuständigkeit für soziale Fragen auf mehrere Männer zu verteilen. Es gebe genug Almosen in der Stadt, nur müsse für die gerechte Verteilung gesorgt werden, „quia unus accepit quod decem sufficeret.“206 So sehr man sich also bereits um eine ordnungspolizeiliche Lösung des Problems bemüht hatte, so wenig Erfolg sieht Geiler in den bisherigen Versuchen, weil sie primär auf eine Schikanierung aller Bettler abzielten, statt auf eine gleichmäßige Almosenverteilung zu setzen. Das wird unter der siebten und letzten Schelle besonders deutlich. Auch Geiler trennt zwar ausdrücklich die wirklich bedürftigen von den betrügerischen Bettlern, zugleich aber scheint ihm närrisch, die Armen jedesmal erst mißtrauisch zu examinieren, bevor man ihnen ihr Recht auf Bettelei zugesteht. Mit der kollektiven Vorverurteilung aller Bettler erweise sich der Spender als „vngleicher richter“207, womit gerade keine soziale Gerechtigkeit erreicht sei: „Uenit fistulator auicularius mimus / et nihil contaris / praestas ei quod petit. Uenit pauper et sibi improperas ocium / tu autem ociaris nec tamen […]. Criminosus es / adulter / mendax / periurus etc. et audes illi improperare ocium improperas ei mendacium“208. Das sind harte Worte für die Zuhörer, die sich auf der sicheren Seite wähnten. Geilers anfängliche Zurückhaltung in der Bettlerfrage wird nun erklärlich. Hatte er zunächst mit der populistischen Ankündigung, über die betrügerischen Bettler sprechen zu wollen, für Aufmerksamkeit sorgen können, so wendet er erst im Lauf der Predigt seine ganze Kritik gegen die eigentlich Verantwortlichen der Misere, bei denen die Gewöhnung mit der Zeit zu Resignation im Rat und zu grundsätzlichem Mißtrauen in der Bevölkerung geführt hat. Im Verbund mit der in seinen übrigen Predigten vorgebrachten Luxuskritik ist nun deutlich erkennbar, daß Geiler ein ganz anderes soziales Programm vorschwebte als es die Straßburger Realität bieten konnte. Die geistlichen Aspekte dieses Programms hatten ihren angemessenen Ort in der Predigt; auch abseits der Kanzel engagierte sich Geiler in Bittschriften, mit Spendenaufrufen und Besuchen für die Armen und Kranken der Stadt. Um jedoch seine sozialpolitischen Verbesserungsvorschläge zu konkretisieren und sich mit ihnen in gebündelter Form an die Verantwortlichen zu richten, bedurfte es erst eines Anstoßes. Nach einer Predigt im November 1500, in der Geiler den ym rat das sy es nit ordnen / vnn schicken sie achten sein nit“. Ders. (1520); fol. „CXXX“ [eigentl. 122] v°. 206 Ders. (1510); fol. Y6 r°. – Frühneuhochdeutsch: „Es nimpt einer souil almůsen / das .x. gnůg daran hetten.“ Ders. (1520); fol. „CXXX“ [eigentl. 122] v°. 207 Ebd. 208 Ebd. – Frühneuhochdeutsch: „kumpt ein pfiffer / ein sprecher / ein gauckler / ein fogler du fragest yn nüt / du gibt im das er begeret / kumpt aber ein armer dem verwissestu sein müssig gon vnd du gast auch müssig / […] Du bist voller sünd / wann du bist ein eebrecher / ein lügner / ein meineid schwerer du verweissest ym semliche ding / vnd steckst mitten yn der tincten.“ Ebd. – Ähnliches bei Glüber 2000; S. 47.
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Rat als gottlos und teuflisch beschimpft hatte, wurde er von zwei Abgeordneten aufgefordert, sich zu erklären. Zwei Monate später, am 27. Januar 1501, erläuterte Geiler in einem zweistündigen deutschen Vortrag seine Beschwerden anhand einer sorgfältig ausgearbeiteten Aufstellung von 21 Artikeln. Unter diesem Titel sind seine Reformvorschläge in die Literatur eingegangen. Nach eigenem Bekunden zielten sie darauf ab, daß im Rat überprüft werde, ob die bestehenden Gesetze und Gewohnheiten nicht vielleicht Gottes Gebot widersprächen, wodurch Gnade und Heil der Obrigkeit auf dem Spiel stünden.209 Mit dem Vortrag verband Geiler mithin ein seelsorgerliches Anliegen, insofern er davon überzeugt war, daß der Rat der Hilfe von Rechtsgelehrten und Theologen bedürfe, um sich nicht weiter zu versündigen. In den Artikeln behandelte er sowohl Fragen ordnungs‑ und zivilrechtlicher Art, Aspekte der Kirchen‑ und Stadtverfassung, als auch Mißstände im öffentlichen Brauchtum und in der Sonntagsheiligung. Im Zusammenhang mit der von Geiler beklagten Unordnung des Fürsorgewesens sind vor allem der zwölfte und dreizehnte Artikel von Interesse. „Der XII. artickel vom Spitall“ legt besonders energisch die auch für einen Zeitgenossen inakzeptablen Zustände offen, die zu dieser Zeit im Spital und in der Fremdenherberge Straßburgs geherrscht haben müssen. Veranlaßt durch den für ihn unerklärlichen Ausschluß von Syphiliskranken aus diesen Häusern, unterzieht Geiler vor allem das Spital einer grundsätzlichen Kritik. Bereits mehrfach hatte er seit 1496 versucht, die Situation der Infizierten zu bessern, hatte zu Spenden aufgerufen, um Ärzte bezahlen zu können, und hatte sich durch eigene Besuche ein genaues Bild von der neuen Krankheit gemacht.210 Als Geiler 1504 und 1505 die Syphilis gar als Bildspenderin für zwei Predigtzyklen211 heranzog, in denen die verschiedenartigen „Blattern am Mund“ für unterschiedliche mit dem Mund begangene Sünden212, im Jahr darauf die „Blattern am heimlichen Ort“ für diverse Sexualdelikte standen, hatte er die Krankheit also bereits durch 209 Zum Hergang vgl. die Selbstauskunft bei Johannes Geiler von Kaysersberg: ‹21 Artikel›. 1501, in: ders.: Sämtliche Werke (hg. v. Gerhard Bauer). Teil 1, Abt. 1, Bd. 1, Berlin u. New York 1989 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 153–200; hier 155 f. Hierzu, zur Textgeschichte und zum Inhalt der 21 Artikel vgl. ferner Israel 1997; S. 178–267. 210 Zu Geilers Engagement für die Syphiliskranken vgl. Winckelmann 1922; Teil 1, S. 49– 56. – Luzian Pfleger: Das Auftreten der Syphilis in Straßburg, Geiler von Kaisersberg und der Kult des hl. Fiakrius, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 72 (1918), 153–173. – Rita Voltmer: Praesidium et pater pauperum, pustulatorum praecipua salus. Johann Geiler von Kaysersberg und die Syphilis in Straßburg (1496–1509), in: Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit. Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte und zur geschichtlichen Landeskunde (hg. v. Friedhelm Burghard Christoph Cluse u. Alfred Haverkamp). Trier 1996 (Trierer historische Forschungen 28), S. 413–444. – Israel 1997; S. 223. 211 Vgl. Voltmer 1996; S. 442 f. 212 Vgl. Erwin Koller: Mundsünden. Ein Fastenpredigtzyklus Geilers von Kaisersberg. Mit einem Teilabdruck, in: Sprache und Dichtung in Vorderösterreich. Elsass, Schweiz, Schwaben, Vorarlberg, Tirol. Ein Symposion für Achim Masser zum 65. Geburtstag am 12. Mai 1998 (hg. v. Guntram A. Plangg und Eugen Thurnher). Innsbruck 2000, S. 135–172.
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eigenen Dienst an den Infizierten kennengelernt und ihre Symptome genau studiert. Je elender die Armen und Siechen seien, so führte er vor dem Rat aus, desto mehr sei man ihnen gegenüber zu tätiger Liebe verpflichtet, doch Syphiliskranke müßten auf den Gassen bleiben, wo sie nachts zu erfrieren drohten. Den Bürgern sei die Aufnahme der Kranken erst recht nicht zuzumuten, die Verweigerung der beiden Häuser daher eine besonders harte Verantwortungslosigkeit gegenüber Gott und Welt. Ihm sei auch zu Ohren gekommen, daß bei der Aufnahme von Kranken primär auf Ansehen und Geldbörse des antragstellenden Vormundes geachtet werde: „Schickt aber ein gemeyner oder armer burger sin kranck gesind dar in / so schickt man es im wider heim uff eynem karren / und müß dar zu den furlon geben / Das bringt keynen gutten willen im gemeynen man“213. Auch Fälle der Unterschlagung seien ihm bekannt geworden. Während einer Teuerung, als das Spital günstig Getreide kaufen konnte, sei der Vorteil nicht an die Armen weitergegeben worden. Statt jedoch auf Vorrat zu wirtschaften und totes Kapital anzulegen, solle man besser mit Gottvertrauen „frischlich on sparen armen luten und siechen mit teilen So lot got ouch dester me zu risen und wurt man dester geneigter zu geben“214. Für das Spital sei es nur von Vorteil, wenn die Spender sehen könnten, was mit ihrem Geld geschieht. „So man aber karglich uß gibt / so gibt man karglich hin in“215. Geiler illustriert das anhand eigener Erfahrung und anhand eines Märleins aus dem Speculum exemplorum, das er in den Artikeln und Predigten öfter heranzieht: Ein Kloster habe stets überschüssiges Kapital übrigbehalten, während man doch zugleich den Armen frei ausgeteilt habe; „und darnach do sie an sich hielten / wurden sie arm / seit ursach ein wiser vatter / es sindt zwen bruder vertriben / heisset der ein Date . und der ander Dabitur vobis [aus Lk 6,38]. Alle will die nit wieder kummen stot es nummer me wol“216. Geiler selbst hatte Skrupel, ob eine Spende von 20 Gulden im Spital am richtigen Ort sein werde, denn er habe gehört, daß das Haus die Hinterlassenschaften der Bewohner als Erbe übernehme. Daraufhin habe er sich vor Ort erkundigt – „ich wart noch eyner antwurt“217. Nach päpstlichem Recht218 müssen solche Leute als Vorstände gewählt werden, die ihre Sache verstehen und beherrschen. Bei der bisherigen auf dubiosen Gewinn angelegten Spitalwirtschaft und angesichts der katastrophalen Zustände im Haus sei es nicht verwunderlich, daß die Türen verschlossen blieben; „sie haben nit gern / das man inen ins karten spijll sehe / wie 213
Geiler von Kaysersberg 1501 (1989); S. 183. Ebd.; S. 184. 215 Ebd.; S. 185. 216 Ebd. 217 Ebd.; S. 187. 218 „Sed eorum gubernatio viris providis, idoneis et boni testimonii committantur, qui sciant, velint et valeant loca ipsa, bona eorum ac iura utiliter regere, et eorum proventus et reditus in personarum usum miserabilium fideliter dispensare […]“. Clementis Papae V. Consuetudines, in: CIC(L) 2 (1879, Ndr. 1959) Sp. 1125–1199; hier 1170 (=Clem. lib. 3, tit. 11, cap. 2, § 1). 214
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also unbarmhertziglich mit den siechen werd umbgangen“219. Nicht einmal Beginen und andere Religiose von außen dürften das Spital betreten, obwohl sie die Pflege weitaus besser und freundlicher bewerkstelligen könnten als das Personal, das durch den täglichen Umgang mit den Kranken bereits abgestumpft sei; „gond mit den armen luten umb als mit einem vihe / und sind vol wins / schrihent und prassent Man hat mir geseit / sie brocken den siechen in ein siech becken brot das man in morgens geben sol / Spilen der blind muß durch einander“220. Durch schwerverdauliche Speisen mache man sich mitschuldig am Tod der Kranken. Auch die Situation der Sterbenden im Spital schildert Geiler, teils aus eigener Anschauung. Oft stürben die Armen ohne geistlichen Beistand; daher schlägt er vor, wenigstens eine Tafel mit dem Glaubensbekenntnis und einer kurzen Ars moriendi anzubringen.221 Daß die chaotischen Verhältnisse in der Straßburger Armen‑ und Krankenfürsorge also keinesfalls nur auf die Betrügereien freiwilliger Arbeitsloser und Almosenempfänger zurückgingen, konnte Geiler auch im 13. Artikel „von den Betlernn“ nachweisen. Wie in der zitierten Narrenschiffpredigt, so betonte er auch vor dem Rat, daß in der Stadt genug Almosen in Umlauf sei, aber in ungerechter Verteilung. Dem kaiserlichen Corpus Iuris zufolge beruhe unsere Menschlichkeit darauf, die Bedürftigen zu versorgen und darauf zu achten, daß es ihnen an Nahrung nicht mangele.222 Daher sei es Sache des Kaisers und der Reichsstände, hierauf zu achten, doch verschiedene Anläufe seien bisher vergeblich gewesen. Geiler kannte also die oben bereits geschilderte Abfolge der Reichstage, die trotz mehrerer Verhandlungen keinen reichsweiten Beschluß zu einer Bettelordnung hatten zustandebringen können. Dem Freiburger Reichsabschied von 1498 gemäß, wurde es nun höchste Zeit, daß die Reichsstadt Straßburg eine entsprechende Ordnung erstellte. So mahnte Geiler: „Wer not das dar zu etliche und wenig erwelt wurden die uber die sach sessen / und ein ordnung begriffen / also das die starcken betler oder kinde / die ir brod verdienen möchten ‹/› zu der arbeit gerichtet wurden / und allein die armen / und zu der arbeit umgeschickt ‹/› zu dem almusen […..] gelossen.“223 Das entsprach allerdings ganz der allgemeinen Tendenz und unterschied sich keineswegs von der gültigen Bettelordnung. Geiler hatte jedoch überdies eine Intensivierung der Armenbetreuung im Auge, damit eine gerechte Almosenverteilung gewährleistet werden könnte. Er forderte hierzu eine Erweiterung des zuständigen Personals, das fortan in verschiedenen Stadtbezirken operieren sollte, denn „es ist eynem zu vijll“224. Das entspricht genau seiner Andeutung unter der sechsten Schelle der Bettelnarrenpredigt. Geiler be219
Geiler von Kaysersberg 1501 (1989); S. 186. Ebd. 221 Vgl. ebd.; S. 185. 222 Vgl. ebd.; S. 187. 223 Ebd.; S. 187. Alle Ergänzungen dort. 224 Ebd. 220
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fürchtete wohl auch, ein einzelner Bettelvogt könnte aus seiner Monopolstellung eigene Vorteile ziehen. Diese Gefahr war in der bisherigen Ordnung ja zweifellos angelegt, und Geilers offene Abscheu gegen die korrupten Zustände im Spital legt nahe, daß er auch hier für größere Transparenz plädierte. Obwohl die 21 Artikel nicht Geilers erste Intervention waren, dauerte es noch Jahre, bis die Situation der Armen und Kranken sich nachhaltig änderte. Ein Jahr nach seinem Vortrag mußte er den damaligen Ammeister Jacob Wissebach noch einmal brieflich an die „vertribnen ellenden mönschen“ erinnern, „so nun zemol uff der brucken lygen“225. Darunter sind die Syphiliskranken zu verstehen, die von den eigenen Familien, aber auch von den Spitälern und sogar von den Leprosen ängstlich gemieden wurden, weil die Symptome besonders abstoßend und die Ansteckungsart noch unbekannt war.226 So lagerten viele als Obdachlose auf den Gedeckten Brücken227, andere waren von dort zwar bereits ins Spital gekommen, doch müssen es so viele gewesen sein, viele Fremde vor allem, daß Geiler vorschlug, alle zusammen in ein wohl eigens angemietetes Haus228 zu legen, so daß das Spital für Einheimische freigehalten werden konnte. Als Vorstand des künftigen Blatterhauses solle der Rat einen Pfleger einsetzen. Mit ihm zusammen wolle Geiler dann selbst zur Finanzierung beitragen, um die Kranken „ein monat oder noch lenger, zu erneren, wenn die zyt verschynt so wurt es hoff ich besser.“ Wenn die Belastung zu groß würde, könne der Rat diese Einrichtung auch im Frühjahr wieder aufgeben, jedenfalls bei höherem Ansehen vor der Welt und geringerem Zorn von Gott, als „ietz in dyser herben zyt vsschlahen, vnd zu tod erfrieren lassen“. In seinem Beichtspiegel von 1497 hatte Geiler die Sünden gegen die christliche Barmherzigkeit, ganz der mittelalterlichen Lehre gemäß, in Verse gebracht: Schwer versündigt hat sich, „Der herberg . spys und tranck verseit Nackend nit kleit . kein krancken trst Nit grebt das tod / kein gefangen erlst“229.
Erst 1504 wurde ein ständiges Blatterhaus gegründet, das eng mit dem Spital kooperierte, und zu dessen Betreuung der Rat einen Mann bestellte, der sich bereits zuvor freiwillig für die Kranken engagiert hatte.230 Von einer geringen Beteiligung des Rates abgesehen, wurde alles aus Spenden finanziert, an deren 225 Johannes Geiler von Kaysersberg: An Herrn Jacob Wissebach Ammeister, in: Die æltesten Schriften Geilers von Kaysersberg. XXI Artikel [–] Briefe – Todtenbüchlein – Beichtspiegel [–] Seelenheil – Sendtbrieff – Bilger (hg. v. L[éon] Dacheux). Freiburg im Breisgau 1882, Nachdruck Amsterdam 1965; S. 109 f. – Zur Datierung vgl. Israel 1997; S. 225, Anm. 34. 226 Vgl. Voltmer 1996; S. 433 f. 227 Vgl. Israel 1997; S. 225, Anm. 36. 228 Vgl. Winckelmann 1922; Teil 2, Nr. 26, S. 63. 229 Johannes Geiler von Kaysersberg: ‹Beichtgedicht›. 1497, in: ders.: Sämtliche Werke 1,1,1 (1989), S. 111–140; hier 119. 230 Vgl. Winckelmann 1922; Teil 1, S. 54.
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
Bewerbung Johannes Geiler keinen unerheblichen Anteil hatte.231 Etliche Stiftungen im Rahmen persönlicher Jenseitsvorsorge gingen fortan zugunsten des Hauses.232 Als immer mehr Fremde auf die Einrichtung aufmerksam wurden und immer mehr Infizierte nach Straßburg kamen, wurde den Wächtern eingeschärft, keine potentiellen Bettler und Kranken mehr in die Stadt zu lassen233, die restriktive Zuwanderungspolitik der Reichsstadt mithin verstärkt und die Fürsorge weitgehend auf die eigenen Bürger beschränkt. Die Selektionstendenzen des 15. Jahrhunderts setzten sich damit fort. Insgesamt fällt auf, daß sowohl Sebastian Brant als auch Johannes Geiler, der grundsätzlich geistlichen Intention beider Autoren zum Trotz, das Almosen nicht mehr im Rahmen der persönlichen Jenseitsvorsorge thematisierten. Als Reaktion auf die zunehmende Kritik an freiwilliger Arbeitslosigkeit polemisierte Brant heftig gegen die betrügerischen Bettler, ohne jedoch die Masse der unfreiwillig in Not geratenen Zeitgenossen konstruktiv mitzubedenken. Die dilemmatische und gefährliche Situation scheint erst der Münsterprediger begriffen zu haben: Dieser, so meinte schon Francis Rapp, „fut sans aucun doute sensible à cette atmosphère.“234 Erst Geiler führte die bereits bei Brant maßgebliche Luxuskritik auf die eschatologische Diskrepanz von Reichtum und Armut hinaus und versuchte angesichts der sich beständig verschlechternden Situation Armer und Kranker, die tätige Hilfe an den Randgruppen der Stadtgesellschaft neu zu motivieren. Dabei verzichtete er jedoch weitgehend auf Begründungsmomente, die früher im Rahmen der persönlichen Jenseitsvorsorge gang und gäbe gewesen waren. Nur eine einzige Stelle vermag zu illustrieren, daß er diesen Aspekt der traditionellen Almosentheorie keinesfalls aufgegeben hatte, aber aus den genannten Gründen nicht mehr zur konkreten Almosenmotivation funktionalisierte: In einer Predigt des Jahres 1500, für das ein päpstlicher Jubiläumsablass ausgerufen worden war, stellte Geiler Überlegungen an, wie ein Christ, der aus guten Gründen keine Romfahrt unternehmen könne, dennoch den begehrten Ablaß gewinnen möge. Im Rahmen einer „geistlich romfart“235 in der eigenen Stadt seien als Ersatz die nötigen Wegstrecken abzulaufen, die entsprechenden Stundengebete einzuhalten und statt der sieben Kirchen Roms die korrespondierenden Altäre der eigenen Stadt aufzusuchen. Ist die betreffende Person „rych / unnd hat genůg / So mag sie alle tag allmüsen armen ntdurfftigen menschen geben / an stat der zerung des selben tags so er doch unterwegen verzeren můste wen er gen Rom ging . Bystu aber den arm So gib ym das almůsen dynes hertzen ‹/› erbarm dich uber yn . 231
Vgl. Israel 1997; S. 226, Anm. 39. Vgl. Winckelmann 1922; Teil 1, S. 54. 233 Vgl. Voltmer 1996; S. 438 f. 234 Rapp 1966; S. 45. – Übersetzung: ,Geiler hatte ohne jeden Zweifel ein Gespür für diese Atmosphäre.‘ 235 Johannes Geiler von Kaysersberg: ‹Romfahrt›. 1500, in: ders.: Sämtliche Werke 1,1,1 (1989), S. 141–152; hier 143 et passim. 232
II. Blüte der Jenseitsvorsorge und Krise der Armenfürsorge
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Hab ein mitleyden mit im / oder fürder yn myt worten gegen dem rychen .“236 Die Entstehung des kommerziellen Ablasses aus Ersatzzahlungen für nicht geleistete Bußwallfahrten war Geiler vielleicht bekannt. Für ihn war offenbar fraglos, daß das gesparte Geld den Bedürftigen gehörte. Am Schluß derselben Predigt äußerte Geiler seine Hoffnung, die Ersatzhandlungen würden einem Christen, der die geistliche Romfahrt mit allen Erfordernissen hinter sich bringe, auch einen großen Ablaß seiner Sünden verschaffen. Sein sonst genereller Verzicht auf Almosenmotivation aus Kategorien der Jenseitsvorsorge heraus wird mit der chaotischen Situation der Armen‑ und Krankenfürsorge in Straßburg zusammenhängen, die er selbst beklagte: Geiler hatte kein Interesse daran, das seiner Ansicht nach planlose und ungerechte Almosengeben weiter zu fördern, verzichtete daher auch weitgehend auf solche Begründungsmuster für bürgerliches Engagement, die wie bisher an einer geistlichen Kompensation der geleisteten Hilfe orientiert waren.237 Seine und Brants Texte zeigen deutlich, daß das überkommene Heilssystem im Spätmittelalter bei florierendem Almosen‑ und Stiftungswesen zugleich von den neuen medizinischen, sozialen und politischen Herausforderungen der Zeit überfordert war.
236 237
Ebd.; S. 150. Von einem „Zwiespalt der Theologen“ spricht diesbezüglich auch Glüber 2000; S. 48.
III. Theologische Probleme der Fürsorgemotivation in der Reformationszeit 1. Motivation der Guten Werke in Bugenhagens früher Theologie bis 1521 Am Vorabend der Reformation waren die Werke der Barmherzigkeit in ein Dilemma geraten: Der verstärkte Heilshunger hatte einerseits im Rahmen der persönlichen Jenseitsvorsorge zu einem florierenden Almosen‑ und Stiftungswesen geführt, anderseits jedoch wurde zunehmend Kritik an der chaotischen Situation der konkreten Fürsorge laut, die von Mißtrauen gegen betrügerische Inanspruchnahme der bereitstehenden Mittel, aber auch von Beanstandungen gegenüber den Fürsorgeinstitutionen selbst bestimmt war. Die mancherorts schon mehrfach erneuerten Armen‑ und Bettelordnungen verzichteten im allgemeinen auf religiöse Kategorien, ging es ihnen doch in erster Linie darum, den Zustrom auswärtiger Bettler und den örtlichen Arbeitsmarkt in geordnete Bahnen zu lenken, also die Folgen des frommen Almosens zu bremsen oder zu kanalisieren, ohne seine Grundlagen beschädigen zu wollen. Auch dort, wo als Antwort auf die Repressionspolitik zu verantwortlicher Hilfe an den Bedürftigen aufgerufen wurde, argumentierte man aus ähnlichen Gründen mit der herkömmlichen Almosentheorie nur noch äußerst zurückhaltend. Erst die Reformation konnte wieder dezidiert religiöse Begründungen für die öffentliche Fürsorge bereitstellen, die jene dilemmatische Situation in der Almosentheorie aufzulösen vermochten. Wie das reformatorische Kernthema, die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gottes Gnade, zugleich eine Neubestimmung der Guten Werke ermöglichte, ja erzwang, läßt sich an der theologischen Entwicklung Johannes Bugenhagens besonders gut ablesen. Einem solchen Vorhaben kommt sehr zugute, daß in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht mehr nur Luthers Kirchenorganisator, sondern vor allem der profilierte Theologe und speziell der Exeget Johannes Bugenhagen ins Interesse der Reformationsforschung gerückt ist. So kann nach einer ansehnlichen Reihe von Einzeluntersuchungen heute Bugenhagens frühe Entwicklung als eigenständige Arbeit am Wort Gottes verstanden werden, die ihn von seinen bibelhumanistisch geprägten Anfängen als Schulleiter zu Treptow und als Lektor am Belbucker Prämonstratenserkloster bis zu seinen ersten Vorlesungen an der Wittenberger Universität kontinuierlich zu
III. Theologische Probleme der Fürsorgemotivation in der Reformationszeit
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einer Theologie eigener Prägung geführt hat.1 Dabei ist bezeichnend, daß er die Guten Werke von Anfang an in Zusammenhang mit der Schriftlektüre sah. Bereits in seiner 1517–1518 für Herzog Bogislaw X. verfaßten Pomerania, einer Landeskunde in vier Teilen, brachte er als Beleg für die Frömmigkeit der Landesfürsten einen Abschnitt über die pommerschen Klöster als Stätten des Gebets und der Heiligkeit, der Lehre und Wissenschaft, ja er verteidigte die reichen 1
Der Entwicklung von Bugenhagens früher Theologie entspricht eine phasenweise Erschließung dieses Kontinuums durch die Forschung: Die erste Phase (1974–1986) wurde bestimmt durch vier Veröffentlichungen von Hans H. Holfelder: Tentatio et consolatio. Studien zu Bugenhagens „Interpretatio in libro psalmorum“. Berlin u. New York 1974 (AKG 45). – Ders.: Solus Christus. Die Ausbildung von Bugenhagens Rechtfertigungslehre in der Paulusauslegung (1524/25) und ihre Bedeutung für die theologische Argumentation im Sendbrief „Von dem christlichen Glauben“ (1526). Eine Untersuchung zur Genese von Bugenhagens Theologie. Tübingen 1981 (BHTh 63). – Ders.: Evangelica veritas und iudicium dei. Zu Johannes Bugenhagens Epistola de peccato in spiritum sanctum (1521), in: Johannes Bugenhagen 1984, S. 87–99. – Ders.: Bugenhagens Theologie – Anfänge, Entwicklungen und Ausbildungen bis zum Römerbriefkolleg 1525, in: Luther 57 (1986), S. 65–80. – Holfelder gelangte aufgrund seiner Beobachtungen zu dem Eindruck, Bugenhagens Entwicklung sei diskontinuierlich verlaufen, indem eine anfängliche Übereinstimmung mit Luthers Theologie im Laufe der Psalmenkommentierung auf eigenen Wegen modifiziert, später aber wiederhergestellt worden sei. – Eine Zusammenfassung des bis 1986 Erreichten wurde schließlich kritisch referiert und von der früheren Einschätzung Bugenhagens als Organisator an Luthers Seite abgegrenzt durch Gerhard Müller: Johannes Bugenhagen: Sein Ansatz – seine Wirkungsgeschichte – Lehren für die Zukunft, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 103 (1986), S. 277–303: „Nur wer den Exegeten Bugenhagen beachtet, kann ihn auch als Theologen würdigen. Und nur wer den Theologen beachtet, kann auch die Kirchenordnungen Bugenhagens recht verstehen. Schriftauslegung und Kirchenordnung sind zwei Seiten des einen Werkes von Johannes Bugenhagen.“ Ebd.; S. 283. In einer zweiten Phase (1988–1993) wurden Quellen aus Bugenhagens Treptower Frühzeit ausgewertet, die im Zuge der Vorbereitungen zur Neuedition seiner Werke aufgetaucht oder zum ersten Mal in ihrem theologiegeschichtlichen Wert erkannt worden waren. Vgl. Wolf-Dieter Hauschild: Johannes Bugenhagens Auseinandersetzung mit dem Katholizismus 1515–1521, in: Ostdeutsche Geschichts‑ und Kulturlandschaften (hg. v. Hans Rothe). Bd. 3, Köln u. Wien 1988, S. 85–110. – Ders.: Johannes Bugenhagens Entwicklung zum Reformator und der Einfluß Luthers, in: Luthers Wirkung. Festschrift für Martin Brecht (hg. v. Wolf-Dieter Hauschild u. a.). Stuttgart 1992, S. 63–82. – Anneliese Bieber: Von Erasmus zu Luther: Bugenhagens frühe Theologie im Matthäus-Kommentar und in der Passions‑ und Auferstehungsharmonie, in: De Kennung 16/1 (1993 [b]), S. 49–65. – Dies.: Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation. Die Entwicklung seiner frühen Theologie anhand des Matthäuskommentars und der Passions‑ und Auferstehungsharmonie. Göttingen 1993 [b] (Forschungen zur Theologie‑ u. Dogmengeschichte 51). Die dritte Phase (nach 1994) schließlich brachte mit der nochmaligen Überprüfung vorhandenen Materials eine deutliche Korrektur und Glättung von Holfelders Diskontinuitätsthese durch Ralf Kötter: Zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre Johannes Bugenhagens 1521–1525, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 105 (1994 [a]), S. 18–34. – Ders.: Johannes Bugenhagens Rechtfertigungslehre und der römische Katholizismus. Studien zum Sendbrief an die Hamburger (1525). Göttingen 1994 [b] (FKDG 59). – Auch die Jesajavorlesung von 1522 konnte in die theologische Genese eingepaßt werden. Vgl. Volker Gummelt: Lex et Evangelium. Untersuchungen zur Jesajavorlesung von Johannes Bugenhagen. Berlin u. New York 1994 (AKG 62).
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
Stiftungen sogar vehement gegen ihre Kritiker2. Die Verschwendung durch die Vorfahren sei töricht gewesen, heißt es von dort. Doch weil Torheit (nach 1 Kor 1,27, einer für die humanistische Narrenmetaphorik zentralen Stelle) vor Gott die eigentliche Weisheit sei, müßten die Griechen und Römer gerade töricht gewesen sein, weil sie von allem nur „modicum“ (,maßvoll‘) anderen gaben, diese aber „omnia pro Christo dederunt pauperibus“ (,alles für Christus den Armen gaben‘). Hier zeigt sich, daß Bugenhagen die mittelalterliche Hochschätzung der Ordensarmut selbstverständlich voraussetzen kann, wenn er mit humanistischer Rhetorik den Wert des mittelalterlichen Stiftungswesens belegen will. Wenn allerdings von Zeitgenossen gesagt werde, so fährt Bugenhagen nun fort, diese frommen Stiftungen seien bei solchen, wo es weder Heiligkeit des Lebens noch Lehre des Heils gebe, ganz am falschen Ort, dann treffe das für viele Klöster tatsächlich zu; der Grund liege allein in der Unkenntnis, „non ex qualibet ignorantia, sed sacrarum literarum et Christi doctrinę.“3 Das sei kein Widerspruch zum vorherigen Lob, versichert Bugenhagen – er beklage sich nur über den verbreiteten Mangel an Bildung unter den Mönchen, die vom Sakrament, der Heiligen Schrift und der Seelsorge keinen Deut verstünden, wodurch der ursprüngliche Zweck dieser Gemeinschaften und ihrer reichen Ausstattung nicht mehr erfüllt werden könne. Das Mönchsein im Sinne eines gottgefälligen Lebens reiche für sich genommen nur für Eremiten aus. Doch schon durch die Einbindung in die Ordensgemeinschaft mit ihren vielfältigen Aufgaben und ihrer sozialen Verantwortung sei ein Mindestmaß an literarischer Kultur unverzichtbar.4 Hier hat sich deutlich der Einfluß des Erasmus von Rotterdam niedergeschlagen, auf den Bugenhagen 1512 durch einen Hinweis des Münsteraner Humanisten Johannes Murmellius († 1517) aufmerksam geworden war.5 Daß die ganze Pomerania in Stil und Pose die Einwirkung intensiver Erasmuslektüre zeigt, gilt seit dem 19. Jahrhundert als unbestritten.6 Gerade der angesprochene Abschnitt (III,1) mit seinem Lobpreis des christlichen Fürsten, mit seiner Rückführung aller geistlichen Würde auf die Kenntnis der Heiligen Schrift als Zentrum, mit der daraus resultierenden Institutionenkritik und mit seiner dialektisch und polemisch durchwirkten Rhetorik, verrät besonders deutlich, daß der Treptower Rektor sich selbst einer humanistischen Reformbewegung zurechnete7, die das intensive philologische Studium der Bibel und der Kirchenväter als Schlüssel zu den großen Fragen ihrer Zeit betrachtete. Als Autodidakt praktizierte er dieses 2
Bugenhagen: Pomerania (1900, 1986); S. 95. Ebd.; S. 96. – Übersetzung: ,… nicht in irgendeiner Unkenntnis, sondern in der Unkenntnis der Heiligen Schrift und Christi Lehre.‘ 4 Vgl. ebd.; S. 97. 5 Bugenhagen: Briefwechsel (1966), Nr. 2; hier S. 6. 6 Vgl. Vogt 1867; S. 11 f. – Leder 1994 (2002); bes. 137–144. 7 Daß er sich als selbstbewußtes Mitglied einer reformhumanistischen Gemeinschaft verhielt, zeigt allein der ganz à la mode durch ihn selbst veröffentlichte Briefwechsel mit Murmellius im September 1515. Vgl. ebd.; S. 119. 3
III. Theologische Probleme der Fürsorgemotivation in der Reformationszeit
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„humanistische Schriftprinzip“8 in der Treptower Lateinschule und im Lektorium des Prämonstratenserklosters zu Belbuck mit größtem Erfolg. Daher nahm er seine eigene Wirkungsstätte ausdrücklich von seiner Kritik aus, lobte vielmehr die Progressivität des erst 1517 zur Priesterausbildung eingerichteten Lektoriums zu Belbuck und brachte sogar die Möglichkeit zur Sprache, auch die Schulen an den Kathedralen zu Kammin und Kolberg, an der Marien‑ und Ottenkirche zu Stettin und an der Nikolaikirche zu Greifswald im Sinne der Reform zu modernisieren.9 Welche Praxisrelevanz Bugenhagen aus einer ernsthaften Bibel‑ und Kirchenväterlektüre ableitete, erläuterte er in einer programmatischen Predigt, die er am Peter-und-Pauls-Tag (29. Juni) eines Jahres zwischen 1518 und 1520 im Kloster Belbuck hielt.10 Statt jedoch, der Erwartung des Auditoriums und der Ordnung des Breviers entsprechend11, den Festtag der Klosterpatrone feierlich mit einem Lobpreis der Heiligen zu würdigen, beschränkt sich Bugenhagen auf einen Aspekt der Heiligenverehrung, den er von Jesus Sirach herleitet: „Hi sunt viri misericordiae, quorum justitiae oblivionem non acceperunt, cum semine eorum permanent bona, haereditas sancta nepotes eorum“ (Sir 44,10 f.). Bugenhagen distanziert sich ausdrücklich von einer Predigtweise, die von einem Thema her ein Bibelwort heranzieht und es auf den Zweck der Predigt hin ausdeutet; sein entgegengesetztes Verfahren, die umfassende Exegese einer Bibelstelle als Ausgangspunkt, wird bei dieser Gelegenheit eingehend erläutert. Indem die Apostel als Männer der Barmherzigkeit begriffen werden, mit deren Nachkommen auch ihre Güter erhalten bleiben, ist die Veranwortung der Zeitgenossen, speziell der versammelten Priester angesprochen, es den Heiligen gleichzutun. Eine solche Nachfolge könne aber nicht auf die Imitation ihrer Heiligkeit abzielen, die schlechthin unerreichbar sei: „Audio Petrum principem apostolorum, non possum Petrum imitari, non ergo id multum mea refert. Audio Petrum ter Christum negasse, attamen resipiscentem meruisse veniam. Hoc mihi negatori amplexandum; hoc mordicus tenendum. […] Ergo ita auditemur historias sanctorum, vt quod ad nos quam maxime pertinet, in
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Hauschild 1988 a; S. 89. Vgl. Bugenhagen: Pomerania (1900, 1986); S. 97 f. und Hauschild 1988 a; S. 89. 10 Bugenhagen: Predigt (1835). – Übersetzung und Kommentar bei Vogt 1867; S. 17–27. – Holfelder 1974; S. 119–127. – Hauschild 1988 a; S. 90–95. – Zur Datierung wird stets geltend gemacht, daß Bugenhagen die Ratio seu compendium verae theologiae des Erasmus von Rotterdam erwähnt; sie erschien 1518 als Separatdruck, kann aber auch schon im Vorredenapparat seines Novum Instrumentum von 1516 rezipiert worden sein. So bleibt nur das Gründungsjahr des Lektoriums als terminus a quo bestehen. Gleich im Sommer 1517 wird Bugenhagen die Predigt freilich kaum gehalten haben, denn er spricht hier bereits als allen bekannter Ausbilder und kennt die Situation innerhalb der Gemeinschaft schon recht genau. Die folgenden beiden Peter-undPauls-Tage kommen für die Predigt mithin ebenso in Frage wie der vom Jahr 1520, also noch vor Bugenhagens erster Lutherrezeption. 11 Vgl. Hauschild 1988 a; S. 91. 9
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primis amplectamur.“12 Angesichts der Unvollkommenheit des Einzelnen werde Christus jedoch schon das Streben nach Heiligkeit anrechnen, wozu zweifellos auch echte Bußfertigkeit in der Beichte gehöre. Sich lossprechen zu lassen, ohne sein Fehlverhalten wirklich ändern zu wollen, sei Lüge und mache die Absolution ungültig. Obwohl Bugenhagens Forderung nach eifrigem Bemühen, das durch Christus gebührend angerechnet werde, eine bemerkenswerte Relativierung der tatsächlich im Leben vollbrachten Taten bedeuten kann, ist damit im Ganzen jedoch die Heilsbedeutung Guter Werke keineswegs aufgegeben13: „At dicis, quam sanctitatem? aut in quo est illa sanctitas eorum? Audisti iam nihil sanctitatis nisi hoc, Hi sunt viri misericordiae“14 (Sir 44,10). Damit sind die Werke der Barmherzigkeit in den Blick gekommen. Bereits an einer früheren Stelle hatte Bugenhagen mit Erasmus die misericordia als „beneficium in alios collatum“15 erklärt. Exemplarisch nennt er aus dem traditionellen Kanon leiblicher und geistlicher Almosen die Unterstützung Bedürftiger, den Trost an Traurigen, die Belehrung Unwissender und die Strafe an Sündern. Im Nächsten werde auf diese Weise Christus gedient, der dies am Jüngsten Tag bedenken werde, gemäß dem bekannten Wort aus dem Matthäusevangelium (Mt 25), das in der mittelalterlichen Almosenmotivation stets die eschatologischen Folgen geleisteter und verweigerter Barmherzigkeit in Erinnerung rufen konnte. In diesem Zusammenhang spricht Bugenhagen den anwesenden Priestern gegenüber eine bedeutsame Warnung aus, die von ihm auch mit entsprechendem Nachdruck angekündigt wird: „Rogo vos Christi sacerdotes, dum vera dico, dum periculum ostende, audite me patienter, si non potestis audire libenter.“16 Sie alle 12 Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 235. – Übersetzung: „Ich höre, daß Petrus der Fürst der Apostel sei, ich kann Petrus nicht nachahmen, dies geht mich also nicht viel an; ich höre, daß Petrus dreimal Christum verleugnet und doch reuig Vergebung erworben. Das soll ich Verleugner ergreifen, daran mich festhalten […]. So lasset uns also die Geschichten der Heiligen betrachten, daß wir vor allem aufnehmen, was uns am meisten angeht.“ Vogt 1867; S. 20. 13 Hans H. Holfelder spricht in diesem Zusammenhang zwar geradezu von einer „Heiligkeits-Theologie, deren Zentrum die Lehre von der Anrechnung des guten Willens und der Bußgedanke bildet“ (Holfelder 1986; S. 69; Kursivdruck dort); doch sollte der Aspekt der Anrechnung doch nicht zu hoch veranschlagt werden, da er gerade keine zentrale Position im Kontext der Predigt einnimmt. Die zentrale Heilsbedeutung Guter Werke bleibt für Bugenhagen fraglos; insofern ist in der Predigt eine Heiligkeitstheologie auf ethischer Basis angesprochen, die als unbestritten präreformatorische, von Erasmus beeinflußte Neuerung, den guten Willen coram Deo miteinbezieht. Vgl. auch Hauschild 1988 a; S. 92 u. 94. 14 Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 243. Kursivdruck dort. – Übersetzung: „Die Frage ist nun, worin besteht die Heiligkeit, durch welche wir uns als Samen und Nachkommen der Apostel beweisen sollen? In nichts anderem als in dem: Dies sind ,Männer der Barmherzigkeit‘ [Sir 44,10].“ Vogt 1867; S. 24. 15 Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 236. – Übersetzung: „Wohlthat, die man andern erweist“. Vogt 1867; S. 21. 16 Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 243. – Übersetzung: „Ich bitte euch Christi Priester, indem ich wahres sage, indem ich eine Gefahr zeige, hört mich geduldig, wenn ihr mich nicht gern hören könnt.“ Vogt 1867; S. 24.
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hätten als Priester evangeliumsgemäß den Auftrag, die Gottes‑ und Nächstenliebe zu predigen, und zur Barmherzigkeit um Gottes Willen aufzufordern. „Haec saepe praedicamus populo. At est aliquis e plebe, qui siue sanus siue infirmus cupit de abudantia sua opus exercere pietatis, vult pro Christo de facultatibus suis dare. Mox nos pii scilicet sacerdotes obliti, quod praedicauimus, non suademus illi homini, da pauperibus, da debilibus, caecis et paralyticis, da orphanis, da vicino aut ciui tuo, qui erubescit mendicare et alieno premitur aere; da illis egenis virginibus, ne ob inopiam prostitutae cogantur infamen ducere vitam. Sed quid dicimus? Hoc nempe. O bone vir, O bona mulier, bene facis, quia tua vis pro Christo dare. vis ergo bene consultum tuae saluti, da ad vnam perpetuam memoriam, da ad perpetuam missam, ad illam stationem.“17. Damit sei die Barmherzigkeit vergessen, der Eigennutz des Klerus aber in den Vordergrund gerückt. Stiftungen und Wallfahrten im Rahmen persönlicher Jenseitsvorsorge, die den Geistlichen begehrte Einnahmen und den Gläubigen das Versprechen regelmäßiger Fürbitte einbrachten, will Bugenhagen jetzt strikt von der Barmherzigkeit gegenüber wirklich Notleidenden getrennt wissen. Hatte er noch wenige Jahre zuvor in seiner Pomerania mit der Selbstverständlichkeit eines mittelalterlichen Klerikers die Freigebigkeit der Fürsten, welche alles um Christi Willen den Armen gegeben hätten, und damit die reichen Stiftungen zugunsten der pommerschen Klöster als Akte christlicher nobilitas gerühmt, so ist die selbstverständliche Identifikation der Ordensarmut mit der Armut Christi nun aufgegeben, und die Kirche kommt als Almosenempfängerin nicht mehr infrage. Auch die Heiligen – darunter Laurentius, Nikolaus und Martin – hätten ihren Einsatz den Armen zugewandt, statt ewige Messen und Gedächtnisse zu stiften.18 Doch nicht nur in der Gegenüberstellung mit den wirklich Bedürftigen sind Bugenhagens Sympathien für das Stiftungswesen gering: „Ego ne obolum quidem ad tuam perpetuam missam aut ad tuam memoriam darem. Sacerdos es, sacrifica deo sacrificium laudis, sacrificium Christi, quod si sacrificare non vis nisi pecunia redemptus, pecunia tua tecum erit in perditionem.“19 Seine Skrupel sind also 17 Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 243 f. – Übersetzung: „Das predigen wir dem Volke oft. Aber ist jemand, der gesund oder schwach von seinem Überfluß ein gutes Werk zu thun beabsichtigt, für Christus von seinem Vermögen etwas geben will, so vergessen wir frommen Prediger bald, was wir gepredigt haben, und reden einem solchen Menschen nicht zu: gieb dem Armen, gieb dem Schwachen, Blinden, Gichtbrüchigen, gieb deinem Nachbar oder Mitbürger, der sich schämt zu betteln und von Schulden bedrückt ist, gieb jenen armen Jungfrauen, damit sie nicht aus Noth getrieben werden, sich preiszugeben und ein schandbares Leben zu führen; sondern was sagen wir? O guter Mann, gute Frau, du thust wohl, weil du willst das Deinige für Christum geben, willst du wohl für dein Heil sorgen, so gieb zu einem immerwährenden Gedächtniß, gieb zu einer immerwährenden Messe, zu jener Station.“ Vogt 1867; S. 24. 18 Vgl. Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 245. – Vogt 1867; S. 25. 19 Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 244. – Übersetzung: „Ich würde zu deiner immerwährenden Messe und deinem Gedächtniß nicht einen Heller geben. Du bist ein Priester, opfere Gott das Opfer des Lobes, das Opfer Christi; wenn du nicht opfern willst,
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genereller Natur und richten sich grundsätzlich gegen den Betrieb der institutionalisierten Fürbitte, der zu einer lukrativen Einnahmequelle geworden ist. Das wird aus der Schriftexegese hergeleitet: Paulus zufolge halte man die Ältesten der Gemeinde „zwiefacher Ehre wert, besonders, die sich mühen im Wort und in der Lehre“ (1 Tim 5,17). Von Messen sei dabei keine Rede, die besonders dann keiner Ehre wert seien, wenn Faulheit dahinterstehe. Jeder rechtschaffene Priester könne täglich beliebig oft die Messe lesen, doch nur so, wie sich auch Christus selbst am Kreuz geopfert habe. „Aliter autem viuens aut abstineat a vitiis aut longe faciat se ab altari, ne Judicium sibi manducet et bibat“20. In einer Art Exkurs hatte Bugenhagen zuvor das sündige Leben vieler Kollegen beklagt, freilich nicht ohne den deutlichen Hinweis, daß er nicht Alle meine und daß auch er ein Priester und fehlbar sei. Auch am Jüngsten Tag werde Christus nicht nach den Messen fragen, sondern danach, ob ihm in Gestalt der Notleidenden geholfen worden sei (Mt 25). Sein Wort „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“ (Mt 9,13) wird in diesem Zusammenhang entfaltet. Diese Barmherzigkeit werde aus Gottes Gedächtnis nicht verlöschen (Sir 44,10), so daß ewige Memorienstiftungen überflüssig seien. Der Gottseligkeit seien nach Paulus (1 Tim 4,7 f.) alle anderen Werke nachzuordnen, die sich erst aus ihr ergeben würden. Auch hiermit ist jedoch keine Abkehr von der Heilsbedeutung Guter Werke ausgesprochen, da Bugenhagen die Barmherzigkeit mit ihren Werken ja gerade als konstitutiv betrachtet für die Heiligung: Für die Apostel und ihre Nachfolger, geheiligt und unvergessen als Männer der Barmherzigkeit, folgen alle weiteren Qualitäten erst aus dieser eifrig erstrebten Heiligung.21 Bugenhagens Belbucker Predigt kann in ihrem Aussagewert für die vorreformatorische Homiletik kaum überschätzt werden. In ihr sind alle charakteristischen Elemente des vorreformatorischen Bibelhumanismus22 zusammengebracht: Zwar verwendet Bugenhagen noch die für das Mittelalter maßgebliche Vulgata, doch der intensive Rückgriff auf den Bibeltext mit der Orientierung von der Perikope aus zur Entfaltung des Themas, nicht umgekehrt, wie er selbst erläutert, ist deutlich von der humanistischen Hochschätzung eingehenden Quellenstudiums geprägt. Hierher gehört auch Bugenhagens Zurückhaltung gegenüber weiteren, späteren Autoritäten. Lediglich Chrysostomus, Augustinus, Leo der Große und Hieronymus werden als Kirchenväter herangezogen, doch eher beiläufig; von den Heiligen nur die frühen Laurentius, Nikolaus und Martin, die als Vorbilder außer wenn du mit Geld dazu erkauft wirst, so wirst du mit deinem Gelde verdammt werden.“ Vogt 1867; S. 24. 20 Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 245. – Übersetzung: „Wer aber anders lebt, der enthalte sich der Laster, oder mache sich weit weg vom Altar, damit er sich nicht das Gericht esse und trinke“ [1 Kor 11,29]. Vogt 1867; S. 25. 21 Vgl. soweit Bugenhagen: Predigt im Kloster Belbuck (1835); S. 246. – Vogt 1867; S. 26 f. 22 Vgl. Cornelis Augustijn: Humanismus, in: KIG , Bd. 2, Lf. H2 (2003); hier S. H101– H108.
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der tätigen Barmherzigkeit gegen das Stiftungswesen ausgespielt werden. Von mittelalterlichen Autoritäten fehlt aber jede Spur, erst recht von scholastischen Denkformen, die Bugenhagen im Greifswalder Studium wohl auch kaum kennengelernt hat.23 Schließlich wird Erasmus erwähnt, „dessen Gedächtnis bei der Nachwelt bleiben wird“ – eine deutliche Anspielung auf den zugrundegelegten Bibeltext, wonach Erasmus zugleich ein vorzügliches Beispiel für die geheiligte Nachkommenschaft der Apostel wäre. Doch keine dieser Stellen verbindet mit den genannten Personen weitergehende Erörterungen; diese kommen nur dem Bibeltext zu. Aus der Versenkung in ihn folgen für Bugenhagen dieselben Konsequenzen wie allgemein für die Bibelhumanisten dieser Zeit: erstens eine Konzentration auf Christus als Mitte der Schrift und des Glaubens; zweitens eine Fortsetzung der Quellenkritik als Kirchenkritik24, insofern die aus dem Bibelstudium gewonnenen Einsichten nicht mit der Realität kongruieren. So erläutert Bugenhagen in pädagogischer Absicht seine Predigtweise, spricht über gegenseitige Verhaltensregeln bei der Beichte und greift das sündhafte Leben seiner Kollegen auf das schärfste an. Am deutlichsten wird seine kritischer gewordene Haltung jedoch an der unmißverständlichen Ablehnung des Stiftungs‑ und Wallfahrtswesens, die er sowohl ethisch mit Blick auf die wirklich Notleidenden, als auch systematisch-theologisch im Hinblick auf den eschatologischen Heilsnutzen einer vernichtenden Kritik unterzieht. Die Heilsbedeutung der Guten Werke ist damit freilich umso stärker betont, denn die Heiligung beruht beim frühen Bugenhagen ja gerade auf dem Nacheifern der apostolischen Barmherzigkeit. Obwohl bereits der gute Wille durch Christus zum Heil angerechnet werden kann, ist Bugenhagen von der Konsequenz, das eigene Tun und Streben überhaupt nur noch als Folge des Erlöstseins zu betrachten, nicht mehr als seine Voraussetzung, noch entfernt. Dieser Schritt wurde erst unter dem Lektüreeindruck von Luthers Schrift De captivitate Babylonica Ecclesiae praeludium (1520) vollzogen. Eine solche ,reformatorische Wende‘ wird sich kaum als plötzliches Bekehrungserlebnis vollzogen haben.25 23
Vgl. Leder 1984 (2002) b; S. 47. Vgl. Augustijn 2003; S. H104. 25 Einer späteren Erzählung zufolge soll Bugenhagen anläßlich einer Mahlzeit im Haus des Treptower Kirchherrn Otto Slutow Ende 1520 Luthers gerade erschienene Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520) in die Hände bekommen haben und noch bei Tisch, nach flüchtiger Durchsicht, den Verfasser als den schändlichsten Ketzter beschimpft haben, der je aufgetreten sei. Nach gründlicherer Lektüre habe Bugenhagen einige Tage später eingestanden: „Was soll ich euch viel sagen? Die gantze Welt ist verblendet / vnd in die eusserste Finsternüß verstrikket. Dieser einige Mann sihet allein die rechte Warheit“. Hans-Günter Leder hat in einer akribischen Detektivarbeit nachweisen können, daß sich die erste literarische Überlieferung dieser Geschichte 1589 beim Chronisten Daniel Chytraeus einer kurz zuvor durch den Treptower Ratsherrn Joachim Nyssen gelieferten Nachricht zu verdanken habe. Angesichts der umständlichen Herleitung ist das eine recht dürftige Ausbeute. In keiner Weise kann damit die Echtheit der Geschichte belegt werden. Das ist auch nicht notwendig. Es handelt sich um ein besonders schönes Beispiel reformatorischer Bekehrungshistoriographie, die aus heilsapologe24
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Bugenhagen ging den „Weg von Erasmus zu Luther“ vielmehr im Laufe seiner Arbeit an einem Matthäuskommentar, der noch in Treptow-Belbuck konzipiert und in der Zeit zwischen 1519 und dem Winter 1520/1521 als Druckmanuskript niedergeschrieben wurde. Anneliese Bieber hat diesen Wandel aus dem Manuskript eindruckvoll rekonstruieren können.26 Hiernach ist noch zu Beginn des Kommentars der Anschluß an die von Erasmus entwickelte Philosophia Christi ausdrücklich hergestellt, indem auf mehreren Seiten durch Zitate deren Konzept vorgestellt wird: Christus als Lehrer der Kirche, in dessen Nachfolge die Menschen durch tugendhaftes Leben selig werden können – die kirchliche Realität hingegen von menschlichen Ordnungen, Machtgier und Korruption bestimmt. Bugenhagen folgt der normativen Grundorientierung der Philosophia Christi, indem er das Matthäusevangelium philologisch und patristisch erschließt, ändert jedoch vom 26. Kapitel an sein Auslegungsverfahren, indem er seinen Basistext, den Passionsbericht, von nun an aus den vier Evangelien zu harmonisieren versucht – ein Verfahren, das kein Vorbild bei Erasmus hat. Als früheste Version seiner späteren niederdeutschen Passionsharmonie ist dieser zweite Teil von großer literarischer Bedeutung. Doch auch inhaltlich macht sich im Laufe der Arbeit am Kommentar ein deutlicher Wandel bemerkbar. Das läßt sich prägnant am Gewicht von Gnade und Werken für das individuelle Heil demonstrieren. Noch im Kommentar zum fünften Kapitel spricht Bugenhagen die Belbucker Priester direkt und unmißverständlich an: „Tu sacerdos desere missam tuam […], ut subvenias pauperi, moesto, ignoranti, peccanti, dum utrumque simul non potes.“27 Beides, Meßdienst und Werke der Barmherzigkeit, sollten im Idealfall vereinbar sein; wenn nicht, hat die Nächstenliebe jedenfalls Vorrang. Das entspricht genau der Kritik am Stiftungswesen, die in der Peter-Pauls-Predigt bereits vorgebracht worden war, und gehört ganz in den Rahmen der bibelhumanistischen Kritik am Vorrang des Kultus vor der gelebten Lehre Christi. Die Gebote der Bergpredigt sind an diesem Punkt des Kommentars noch grundsätzlich erfüllbar; das eifrige Streben nach dieser Erfüllung ist der richtige Weg zum Heil. Patristische Lektüre hat Bugenhagen dann bereits im siebten Kapitel dazu angeregt, die Gnade Gottes stärker zu akzentuieren, das Streben nach Erfüllung des Gesetzes als Weg zum Heil hingegen immer weiter in den Hintergrund zu rücken. Im 20. Kapitel benutzt er in diesem Zusammenhang zum ersten Mal die Wendung „sola gratia“28. Das ist tischen Gründen darauf angewiesen war, den Unterschied von Alt und Neu, von Irrtum und Erleuchtung, aufs deutlichste herauszustellen. Insofern, und nur insofern, ist sie eine historische Quelle, nämlich zur konfessionellen Autohistoriographie des späten 16. Jahrhunderts. Vgl. Leder 1984 (2002) c. 26 Vgl. insgesamt Bieber 1993 a. Zitat dort S. 23, zur Datierung vgl. S. 22. 27 Bieber 1993 a; S. 167 f. – Übersetzung: ,Du Priester, verlaß deine Messe […], um dem Armen beizustehen, dem Betrübten, dem Unwissenden, dem Sünder, sofern du beides auf einmal nicht kannst.‘ 28 Ebd.; S. 210.
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im Rahmen der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie nicht erstaunlich. Berndt Hamm hat einen ganzen Katalog solcher sola-Formeln benannt, die in vorreformatorischen Schriften gang und gäbe waren.29 Hier hat Bugenhagen also bislang nur die durch Erasmus vorgegebene Zentrierung auf Christus konsequent zu einer exklusiven Gnadenzuwendung durch Gott aufgrund von Christi Passion, Tod und Auferstehung fortgeführt und ist tendenziell zu einer Umkehrung der Bewegungsrichtung bereit: Der Gnadenakt Gottes gewinnt nun erheblich an Bedeutung. Mit der Passion Christi vom 26. Kapitel an ist der Wechsel vollzogen: Das tugendhafte Leben des Einzelnen, mit dem die Gebote Christi erfüllt werden, kann überhaupt nicht zur Erlösung führen, sondern allein Christus selbst. Der Glaube an ihn rettet. Unglaube hingegen macht den Kommunikanten zum Empfang des Abendmahls unwürdig: „Soli ii digne communicant qui tristes, afflictas, perturbatas, confusas et erroneas habent conscientias.“30 Dieser Satz (mit dem sich Bugenhagen von seiner früheren Forderung nach Reinheit in der Messe deutlich distanziert) wird im Zusammenhang mit der Abendmahlstheologie zitiert, um seinem ungenannten Urheber zu bescheinigen, daß er überaus Wahres geschrieben habe. Das noch längere Zitat stammt aus Luthers Schrift De captivitate.31 In ihm wird ferner die Vergeblichkeit der Werke verdeutlicht, die zur Kompensation fehlenden Glaubens schlechthin nichts bewirken können. Dementsprechend fordert Bugenhagen, den Worten Christi vollkommen zu vertrauen und auf andere Versuche, die Sündenstrafe zu rezuzieren, besser gleich zu verzichten: „Plenas dedit mihi Christus indulgentias, et ego sinam pro hominum commenta mihi eas auferri?“32 Das ist der endgültige Bruch mit der mittelalterlichen Jenseitsvorsorge, in deren Rahmen die Guten Werke einen zentralen Platz eingenommen hatten. Gerade hier liegt aber auch die Schwierigkeit der lutherischen Rechtfertigungslehre. Wenn die Werke zum Heil nichts beitragen können, muß die Notwendigkeit tätiger Nächstenliebe aus anderer Richtung begründet werden. Eine Ethik der Werke fehlt aber noch im Matthäuskommentar. Wie sollte man fortan leben? Wahrscheinlich hat Bugenhagen sich mit dieser schwierigen Frage direkt an Luther gewandt. Dieser antwortete, indem er ihm ein Exemplar seiner Schrift De libertate christiana (1520) übersandte. Das Begleitschreiben ist nicht erhalten, doch hat Bugenhagen auf das Titelblatt folgende Notiz eingetragen, die ver29 Vgl. Berndt Hamm: Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993), S. 7–82; hier 37–41. 30 Bieber 1993 a ; S. 282. – Übersetzung: ,Nur die sind würdig zur Kommunion, die traurige, bekümmerte, betrübte, verworrene und irrende Gewissen haben.‘ 31 Martin Luther: De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium, in: ders.: StA 2 (1982), S. (168–) 172–259; hier 208. 32 Bieber 1993 a ; S. 277. – Übersetzung: ,Vollen Ablaß gab mir Christus – und ich sollte zulassen, daß mir dieser Ablaß genommen und nur das gegeben würde, was Menschen ausgedacht haben?‘
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mutlich die Kernsätze aus Luthers Brief wiedergeben: „Scripsisti, ut modum vivendi tibi scriberem. Vere Christianus non indiget praeceptis morum. Fidei enim spiritus ducit eum ad omnia quae deus vult et fraterna exigit caritas. Haec itaque lege. Non omnes credunt evangelio. Fides sentitur in corde.“33 In diesen Worten ist die Lösung des Problems bereits in nuce angelegt: Die Werke, die Gott und dem Nächsten wohlgefallen, folgen aus dem Glauben eines Christenmenschen, daher bedarf er keines Gesetzes. Für Bugenhagens Kirchenordnungen ist diese evangelische Kernaussage von größter Wichtigkeit geworden, weil und insofern in ihnen gerade nicht der Gesetzescharakter, sondern die Liebe entscheidend sein soll. Sie sind auch dem Textduktus nach eher der Predigt verwandt als dem Gesetzbuch. In der Freiheitsschrift selbst ist der Zusammenhang weiter ausgeführt und hat seine klassische Form in der Metapher vom Baum und seinen Früchten gefunden (nach Mt 7,16–20 par u. 12,33 par sowie Kol 1,10): „Claru(m) aut(em) est, q(uod) fructus non ferunt arborem, nec arbor crescit in fructibus, Sed ediuerso arbores ferunt fructus, (et) fructus crescunt in arboribus. Vt ergo necesse est, arbores esse priores fructibus suis, (et) fructus non faciunt arbores, neq(ue) bonas, neq(ue) malas, sed econtra arbores tales, faciu(n)t tales fructus. Ita necesse est, primu(m) persona(m) ipsam ho(min)is, esse bonam vel mala(m), anteq(uam) faciat bonu(m) vel malu(m) op(us), (et) opera sua non faciunt eu(m) malu(m) aut bonu(m), sed ipse facit opera sua aut mala aut bona“34 Welche Werke im Kontext christlicher Existenz den Vorrang haben, kann mithilfe eines einfachen Kriteriums ermessen werden: „Nam quodcunq(ue) opus non huc solum dirigitur, vt fiat vel ad castigandum corpus, vel ad obsequiu(m) proximi ‹modo contra deum nihil postulet› non est bonu(m) nec Christianu(m). Et hinc ego vehementer metuo, pauca vel nulla collegia, monasteria, altaria, officia Ecclesiastica, esse Christiana hodie, nec no(n) (et) ieiunia (et) pr(a)ecul(a)e peculiares, de certis sanctis. Metuo inq(uam), in his omnibus qu(a)eri, non nisi ea, qu(a)e nostra sunt, dum arbitramur, per haec
33 Bugenhagens Briefwechsel (1966); S. 8, Nr. 3. – Abbildung in: Leder/Buske 1985; Abb. 10. – Übersetzung: ,Du hast mir geschrieben, ich solle Dir einen Modus schreiben, nach dem zu leben ist. Der Christ braucht wirklich keine Moralgebote! Der Geist des Glaubens führt ihn nämlich zu allem, was Gott will und brüderliche Liebe fordert. Lies also dies! Nicht alle glauben dem Evangelium. Der Glaube wird im Herzen begriffen.‘ 34 Martin Luther: De libertate christiana / Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: ders.: StA 2 (1982), S. (260–)263–309; hier 288–290. – Frühneuhochdeutsch: „Nu ists offenbar / das die frucht tragen nit den bawm / ßo wachßen auch die bawm nit auff den fruchten / sondern widerumb / die bawm tragen die frucht / vnd die frucht wachßen auff den bawmen. Wie nu die bawm mussen ehe seyn / den die frucht / vn(d) die frucht machen nit die bawm wid(er) gutte noch bo(e)se / sondern die bawm machen die fru(e)chte. Alßo muß der mensch ynn der person zuuor frum oder bo(e)ße seyn / ehe er gutte oder bo(e)ße werck thut / Vnd seyne werck machen yhn nit gutt odder bo(e)ße / sondern er macht gutt odder bo(e)ße werck.“ Ebd.; S. 289–291.
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purgari peccata nostra, (et) salute(m) inueniri“35. Der Primat der Nächstenliebe vor der Erfüllung kultischer Traditionen ist also auch hier angesprochen und konnte bei Bugenhagen, der bereits zuvor durch bibelhumanistische Kirchenkritik geprägt worden war, auf gedeihlichen Boden kommen. Dieser hat die Metapher von Baum und Frucht ab 1523 in seinen Wittenberger Vorlesungen überaus reich rezipiert.36 Der Umzug nach Wittenberg37 im März 1521 geschah in der Absicht, die selbständig erarbeiteten Ansätze durch ein Theologiestudium „aus erster Hand“38 zu intensivieren und auf diese Weise die Lücken im eigenen Konzept auszufüllen. Am 29. April immatrikulierte sich der Fünfunddreißigjährige an der theologischen Fakultät. Luther hingegen war bereits Anfang des Monats zum Reichstag nach Worms abgereist. Vor dem Hintergrund des laufenden Prozesses richtete Bugenhagen wohl bald nach der Ankunft ein Sendschreiben39 an seine Schüler zu Treptow, um anläßlich einer dortigen Diskussion über Luther sein Fortbleiben zu erklären, seine mittlerweile gefestigte Position zu verteidigen und den Schülern die Grundzüge reformatorischer Lehre zu entfalten. Erhalten blieb aus der frühen Theologie das Schriftprinzip, insofern auf die Werke nur der vertrauen könne, der die Bibel ignoriere.40 Verstärkt wurde die Christozentrik, kenntlich durch das neue Schlagwort ,Christus verax et salvator‘ – Christus als derjenige, der die Wahrheit bekannt und gültig macht und ihr gemäß zugleich errettet.41 Radikalisiert wurde Bugenhagens Position zur Rechtfertigung aus Gnade, ohne jedes Zutun der Werke. Christus spreche im Evangelium (Mt 18,19) nicht „de omni re, pro qua ieiunaverint, Romam cucurrerint, centum Miserere dixerint, cucullum portaverint, ab ovis et carne abstinuerint, altaria et sacella dedicaverint, et similia opera, in quibus fidunt homines, fecerint, sed de omni re, sed omni re, quamcunque pertierint. Tene hanc fidem.“42 35 Ebd.; S. 302. – Frühneuhochdeutsch: „Den(n) wilchs werck nit dahynauß gericht ist / dem andern(n) zu dienen / oder seynen willen zu leydenn / ßo fern er nit zwing / wider gott zu thun / ßo ists nit ein gut Christlich werck. Daher kumpts / das ich sorg / wenig stifft kirchen / klo(e)ster / altar / meß / testame(n)t / Christlich seinn / Datzu auch / die fasten vnd gepett etlichen heyligen / sonderlich gethan. Denn ich furcht / das ynn den allen sampt ein yglicher nur das seyne sucht / vormeynend damit sein sund zu bu(e)ssen vnd seligk werden.“ Ebd.; S. 303. 36 Vgl. unten; S. 134. 37 Vgl. insgesamt Leder 1984 (2002) a; S. 19–21. 38 Ebd.; S. 19. 39 Bugenhagen: Sendbrief 1521 (1837). – Auszüge mit Übersetzung u. d. T.: Abschiedsbrief Bugenhagens an seine Schüler in Treptow an der Rega, 1520/21, in: Bugenhagen (1962), S. 15–47. – Vgl. ferner die ausführliche Interpretation des Schreibens bei Hauschild 1992. 40 Vgl. Holfelder 1986; S. 72. Hauschild 1988 a; S. 102. 41 Vgl. Hauschild 1992; S. 69. 42 Bugenhagen: Sendbrief 1521 (1837); S. 142. Kursivdruck dort. – Übersetzung: … ,von jeglicher Sache, für die sie gefastet haben, nach Rom gelaufen sind, hundert Miserere [Ps. 51] gesprochen haben, die Kutte getragen haben, auf Eier und Fleisch verzichtet haben, Altäre und kleinere Heiligtümer gestiftet haben, und ähnliche Werke getan haben, an die Menschen
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Daher fügt Bugenhagen wenig später als deutliche Spitze gegen Erasmus hinzu, „neque in tuo bono proposito neque recta intentione fidendum. Non enim est in homine via ipsius, neque est currentis aut volentis, sed miserentis Dei“ (nach Röm 9,16)43. Ohne jetzt noch einen Unterschied zu machen zwischen kultischen Werken, tätiger Nächstenliebe und dem eifrigen inneren Streben nach Erfüllung des Gesetzes, wird jeder aktive Beitrag des Einzelnen zu seinem Seelenheil radikal verworfen, die Erlösung durch Christus mithin als wirklich einziger Heilsweg herausgestellt. Auch der erlöste Mensch bleibt ein Sünder, wiewohl er nun aus der Erfahrung des Erlöstseins beginnen wird, den alten Adam abzutöten durch Werke, die ihn nicht rechtfertigen, ihn aber befähigen können, als bereits fromm gemachter Mensch nun auch praktisch zu leben.44 Bugenhagen denkt hier primär an Fasten, Gebet und Almosen, führt jedoch nur zum Fasten Näheres aus und läßt die Gelegenheit ungenutzt, die Werke der Barmherzigkeit nunmehr auch positiv zu motivieren. Noch in seiner Belbucker Peter-Pauls-Predigt war ihm die Barmherzigkeit im Gegensatz zum Kultus ein großes Anliegen. Hier ist dieser Gegensatz nun aufgehoben, die Werke unterschiedslos als Folge, nicht Bedingung des Heils angesprochen, aber noch keine konstruktiv neue Ethik bereitgestellt. Bugenhagens Schweigen in dieser Hinsicht darf als eindrücklicher Beleg für die großen Schwierigkeiten gewertet werden, die sich durch die Rechtfertigungslehre in der praktischen Ethik aufgetan hatten. Sein von Anfang an großes Interesse an einem christlichen Modus videndi, das er im Briefverkehr mit Murmellius und Luther bezeugt hatte, war durch den Anschluß an die Wittenberger Reformation jedoch nicht erloschen. Im Gegenteil, auf diesem Gebiet kam es zu einer eigenen Version reformatorischer Werktheologie, die im Laufe der Jahre feste Gestalt gewann. In diesem Zusammenhang konnte Bugenhagen dann auch die praktischen Anforderungen an die christliche Existenz systematisieren. Das wird sich im folgenden zeigen. Doch will ich zuvor einige Reaktionen auf die lutherische Rechtfertigungslehre beleuchten, soweit sie Bugenhagen gegenüber die Werke der Nächstenliebe problematisierten.
geglaubt haben; sondern er redet von jeder Sache, die sie erbeten haben. Halt diesen Glauben fest.‘ 43 Ebd.; S. 146. Kursivdruck dort. – Übersetzung: ,Weder auf deinen guten Vorsatz noch auf dein aufrichtiges Streben ist zu vertrauen. Nicht im Menschen selbst liegt nämlich sein Weg, wie er ,läuft‘ und ,will‘, sondern in ,Gott, der sich erbarmt‘ (Röm 9,16)‘. 44 Vgl. ebd.; S. 151 f.
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2. Rezeption von Bugenhagens Theologie Guter Werke bei Johannes Cochlaeus und Thomas Morus Im Sommer 1525 verfaßte Bugenhagen eine recht erfolgreiche Flugschrift45, die aber mit ihrer Wirkungsgeschichte in der Forschung46 bisher nur wenig Beachtung fand: die Epistola ad Anglos, gehalten im Stil paulinischer Sendschreiben. Den Hintergrund hierzu gaben wohl Gerüchte ab, denen zufolge König Heinrich VIII. selbst, aber auch viele Christen in England, sich nach anfänglichen Widerständen doch dem Evangelium zu öffnen begonnen hätten, so daß jetzt Aussicht bestehen konnte, hier mit einem Lehrschreiben auf positives Interesse zu stoßen. Während sich Luther der unter Heinrichs Namen ausgegangenen Angriffe zu erwehren suchte47, nahm Bugenhagen die Attitüde des apostolischen Lehrers ein, der den Brüdern („fratres“48) in aller Kürze die Wittenberger Lehre erklärt, und zwar aus dem Generalthema „Christus est iustitia nostra“49 (nach 1 Kor 1,30) heraus entfaltet. Wollten wir aus unseren Werken selbst gerechtfertigt werden, führte er darin (bei deutlicher Abwandlung von Gal 2,21) aus, so wäre Christus vergeblich gestorben.50 Wer jedoch an die Erlösung durch Christus glaube, bringe (nach Mt 7,16–20 par u. 12,33 par sowie Kol 1,10) wie ein guter Baum auch notwendig gute Früchte hervor, „seruiet proximo doctrina, consilio, oratione, rebus, etiam cum dispendio uite, nec solum amico, sed etiam inimico.“51 Daß die geistlichen und leiblichen Werke der Barmherzigkeit als zwingende Folge des Erlöstseins auch weiterhin ihren festen Stellenwert in der reformatorischen Theologie behaupten sollten, scheint freilich nicht bei allen Lesern angekommen zu sein. Durch die kaum vier Blatt umfassende Flugschrift, die sich zu rund einer Hälfte aus biblischen, vor allem paulinischen Bezügen speiste52, fühlten sich prompt zwei altgläubige Autoren zu besonders eloquenten Gegenschriften herausgefordert, vermutlich auch deswegen, weil Bugenhagens Titel in jenem Jahr 45 Vgl. Epistola Ioannis Bvgenhagij Pomerani ad Anglos. M . D . XXV ., in: Flugschriften auf Microfiche, Serie 1 (1978), Nr. 97. – Frühneuhochdeutsche Fassung: Ein Sendbrieff an die Christen ynn Engeland / warynnen ein Christlich leben stehet. Johan Bugenhagen Pomer. Wittemberg. 1525., ebd., Serie 5 (1982), Nr. 2077. – Kommentierte Ausgabe in: The Complete Works of St. Thomas More. Bd. 7 (hg. v. Frank Manley u. a.), New Haven u. London 1990, S. 395–405. 46 Vgl. Frank Manley: Letter to Bugenhagen, ebd. S. xvii–lxiv; der Text von Morus dort auf S. 1–105. – Ralph Keen: Introduction, in: Johannes Cochlaeus: Responsio ad Johannem Bugenhagium Pomeranum (hg. v. Ralph Keen). Nieuwkoop 1988 (BHRef 44), S. 11–43. 47 Vgl. Luther an König Heinrich VIII . von England. Wittenberg, 1. September 1525, in: WA .Br 3 (1933); Nr. 914. 48 Bugenhagen: Epistola 1525 (1978); fol. A3 v°. 49 Ebd.; fol. A 2 v°. 50 Vgl. ebd. 51 Ebd.; fol. A3 r°–v°. – Frühneuhochdeutsche Fassung: „Er wird dem nechsten dienen / mit lere / gebet / rad vnd tadt / auch mit schaden seines lebens / nicht alleine seinem frunde / sondern auch seinem feynde.“ Ders.: Sendbrieff (1982); fol. a3 v°–A4 r°. 52 Vgl. Keen 1988; S. 17 f.
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schon mit sechs Auflagen in zwei Sprachen53 recht erfolgreich und anscheinend gefährlich geworden war. In Deutschland war es Johannes Cochlaeus († 1552), in England Thomas Morus († 1535). Beide gehörten zu den intelligentesten und rhetorisch brilliantesten Gegnern der Reformation. Während aber Cochlaeus mit wortgewaltigem Zorn auf Bugenhagens apostolischen Gestus reagierte, war Morus’ Reaktion von geistreichem Spott in geradezu britischer Eleganz geprägt. Nur die Kölner Responsio ad Johannem Bugenhagium Pomeranum wurde gleich 1526 gedruckt. Morus jedoch gab sein elaboriertes Manuskript nicht zum Druck. Seine Doctissima epistola, in qua non minus facete quam pie, respondet Literis Ioannis Pomerani erschien postum erst 1568 in Löwen.54 Das literarische Verfahren war beiden Schriften gemeinsam: Coch laeus wie Morus reproduzierten Bugenhagens Text und ließen den einzelnen Abschnitten umfangreiche Entgegnungen folgen. Frieder von Ammon hat kürzlich einen solchen Umgang mit gegnerischen Texten, die unverändert abgedruckt, aber mit eigenen Stellungnahmen des Kritikers gleichsam umgeben werden, sehr passend als „Paratextualisierung“55 bezeichnet und als Beispiel Ulrich von Huttens satirisch kommentierte Ausgabe der päpstlichen Bannandrohungsbulle gegen Luther herangezogen: „Der Text ohne Paratexte wird in diesem Fall zu einem Signum der Autorität, der paratextualisierte Text dagegen zu einem Signum der Pluralisierung“56. Die vorliegenden Antworten auf Bugenhagens Epistola gingen nun den entgegengesetzten Weg, indem sie gerade die angemaßte Autorität ihres Gegners zu entlarven und so die religiöse Pluralisierung abzuwehren trachteten: Beide Autoren lehnten die Arroganz eines selbsternannten Bischofs und Apostels ab57, der den Engländern erst erklären zu müssen glaube, daß Christus für ihre Sünden gestorben sei. Das Evangelium sei der Welt schon seit anderthalb Jahrtausenden bekannt, versicherte Morus, und den Engländern seit tausend Jahren ohne Unterbrechung.58 Besonders der Anspruch, allein den Satz „Christus est iustitia nostra“ als Gegenstand der evangelischen Lehre postulieren zu können, aus dem alles weitere deduziert werden könne, reizte die Kritiker zu heftigem Widerspruch: Aus dem Satz könne nicht allein die widersprüchliche, absurde und blasphemische Lehre Luthers unmöglich abgeleitet werden, er selbst sei auch nie von einem Katholiken bestritten worden, sein Gebrauch als Axiom eines evangelischen Lehrschreibens daher besonders anmaßend.59 Im Zuge der inhaltlichen 53
Vgl. Geisenhof 1908; Nr. 181–183 (lateinisch) und 185–187 (hochdeutsch). Zur Ausgabe vgl. Anm. 45. 55 Frieder von Ammon: „Bevor wir Dich hören, Heiligster.“ Die Paratextualisierung der päpstlichen Autorität in Ulrich von Huttens Edition der Bulle Exsurge Domine, in: Sonderforschungsbereich 573. Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit 15.–17. Jahrhundert. Mitteilungen 1/2006, S. 31–38. 56 Ebd.; S. 37. 57 Vgl. Cochlaeus 1526 (1988); S. 50–53. – Morus 1568 (1990); S. 26 f. 58 Vgl. Morus 1568 (1990); S. 14 f. – Ähnlich Cochlaeus 1526 (1988); S. 102 f. 59 Vgl. Cochlaeus 1526 (1988); S. 76–79. – Morus 1568 (1990); S. 44 f. 54
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Auseinandersetzung mit Bugenhagens Sendbrief verschafften dann die beiden Autoren vor allem zwei aktuellen theologischen Problemen breiten Raum, nämlich dem Freien Willen und den Guten Werken, auf denen in der Vorlage nicht das Schwergewicht gelegen hatte. Vor dem Hintergrund von Bugenhagens theologischer Entwicklung will ich an dieser Stelle nur einige Passagen skizzieren, die einen akuten Klärungsbedarf hinsichtlich der Guten Werke dokumentieren, ohne daß ich die Untersuchung der genannten Schriften auch nur ansatzweise vertiefen könnte. Dies muß späteren Studien vorbehalten bleiben. Da Bugenhagen die Guten Werke ablehne, so meinte Cochlaeus, habe er gleichsam auf Sand gebaut, weil er zwar die Worte Christi höre, nicht aber danach zu handeln bereit sei (Mt 7,26).60 Im Gegenteil, Christus fordere ja geradezu die Werke und sehe sie im Weltgericht (Mt 25) als Unterscheidungskriterium an.61 Bugenhagen hatte zwar die bekannte Metapher vom guten Baum, der gute Früchte hervorbringe, auch in der Epistola ad Anglos im Sinne einer evangelischen Theologie der Guten Werke starkzumachen versucht, doch erwies sie sich vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse im Reich als hochproblematisch: Beide Gegner, Cochlaeus wie Morus, nahmen den blutigen Bauernkrieg als Gegenbeweis. Auf die Baum-Frucht-Metapher reagierte besonders Cochlaeus mit heftiger Erregung. Ohne zunächst auf die Stelle selbst einzugehen, warf er Luther und seinen Anhängern vor, mit solchen Worten die armen Bauern der oberdeutschen Provinzen zu vielerlei bösen Taten verführt zu haben. Die Engländer seien freilich viel sicherer im Wort Gottes als Deutsche und Böhmen, die den bösen Ketzern geglaubt hätten. Darum hätten jene bereits John Wyclifs Gebeine ins Meer geworfen. Wenn sie schon ihren toten Landsmann so bestraft hätten, um wieviel mehr würden sie sich der lebenden Fremden erwehren, die ihre gefährliche Lehre jetzt dort auszubreiten versuchten!62 Prinzipiell stimmte Cochlaeus zwar mit der Baum-Frucht-Metapher überein, nutzte sie aber geradewegs zu einem Angriff auf die reformatorische Theologie. Denn warum, so fragte er, müßten die Früchte des Guten Baums notwendig sündhaft sein, ohne Verdienst? Bugenhagen zufolge wären solche Früchte nichts als Heuchelwerke, die gezielt in der Erwartung hervorgebracht würden, durch sie Gottes Gunst zu erlangen. Die Werke sollten also nicht mit „hypocrisis“ getan werden, sondern „sponte“. Mußte dies aber nicht heißen, daß alle Anweisungen der Kirche (deren äußere Gestalt ja wohl mit „hypocrisis“ gemeint sei) ignoriert werden sollten, und der Mensch ganz und gar spontan und regelfrei zu leben hätte? Das führe doch stracks zu Aufruhr gegen die Obrigkeit, die Paulus ja gerade zu respektieren gefordert habe (Röm 13). In der Epistola hatte Bugenhagen demjenigen, der allein aus Glauben zu Guten Werken gekommen sei, bescheinigt: 60
Vgl. Cochlaeus 1526 (1988); S. 86 f. Vgl. ebd.; S. 94–99. 62 Vgl. ebd.; S. 102 f. 61
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„Sobrie itaque pie et iuste uiuet“63. Aber die lutherischen Bauern, so Cochlaeus, seien doch alles andere als züchtig, fromm und gerecht – bei Gültigkeit der BaumFrucht-Metapher ein offener Beweis ihres falschen Glaubens.64 Auch Thomas Morus nahm den Bauernkrieg als eindeutigen Hinweis auf die bösen Folgen der lutherischen Lehre: Es versetze ihn immer wieder in Erstaunen, „qua fronte possis scribere mendacia confingi de vobis, & eam esse omnem gloriam vestram. Adeo tibi fugit pudor omnis, vt sustineas dicere, ea falso factionis vestrae sicarijs impingi, quae nec ipse nescis, nimium vere passim magno cum Germaniae tumultu, & tot millium internecione patrari?“65 Unter dem Deckmantel evangelischer Freiheit sei es zu so ungezügelter Willkür gekommen, daß es in Deutschland wohl keine Stadt und nicht Haus noch Hof gebe, die nicht von den Lutheranern verwüstet worden seien. Beide, Cochlaeus wie Morus, interpretierten die Ereignisse nicht als unglückliche Folgeerscheinungen der Reformation, sondern identifizierten die Gewalttäter als direkte Angehörige der neuen Häresie, die unmittelbar den theologischen Verirrungen Luthers gefolgt seien. Weitaus stärker als Cochlaeus akzentuierte Morus jedoch das theologisch brennendste Thema des Jahres: Über den Freien Willen äußere sich Bugenhagen kaum, meinte er, ohne ihn aber wäre das Handeln des Menschen allein dem Schicksal unterworfen, und zu christlichem Leben gäbe es keinen Antrieb66, denn „electione sublata homo nihil distet ab arbore“67. Die Baum-Frucht-Metapher sei ohne die Annahme Freien Willens also wertlos. Wenn aus freier Entscheidung hervorgebrachte Werke vor Gott keinen Wert hätten, so fragte Morus weiter, warum stelle der Weinbergbesitzer im Gleichnis Jesu (Mt 20) dann Arbeiter ein, die allesamt ihren Denar gewönnen? Wenn menschliche Werke nicht von Sünde und Gericht befreien könnten, warum fordere Johannes der Täufer dann „rechtschaffene Früchte der Buße“ (Lk 3,8)? Warum gebe dann Jesus Sirach (Sir 3,33) zu verstehen, daß Sünde durch Almosen ebenso gelöscht werde wie Feuer durch Wasser? Und vor allem, warum wolle dann Christus im Weltgericht (Mt 25) diejenigen annehmen, die ihm Gute Werke erwiesen hätten, diejenigen aber nicht, die solche verweigerten? Wenn Bugenhagen solche Taten als Heuchelwerke bezeichne, so könne er schon von der Wahrheit des Evangeliums als Lügner ent63 Bugenhagen: Epistola 1525 (1978); fol. A3 r°. – Frühneuhochdeutsch: „Drumb so wird der selbige wol zuchtig / gotselig vnn gerecht leben“. Ders.: Sendbrieff 1525 (1982); fol. A3 v°. 64 Vgl. soweit Cochlaeus 1526 (1988); S. 104–109. 65 Morus 1568 (1990); S. 22 f. – Übersetzung: ,… wie du geradeheraus schreiben kannst, man würde über euch Lügen erfinden, und daß dies all euer Ruhm sei! Schämst du dich gar nicht zu behaupten, diese Mörder in eurer Bande würden fälschlich angegriffen, obwohl du selbst genau weißt, in wie außerordentlichem Maße sie Aufruhr über ganz Deutschland bringen und so viele Tausend niedermetzeln?‘ 66 Vgl. ebd.; S. 48 f. 67 Ebd.; S. 50 f. – Übersetzung: ,… wenn die Erwählung beibehalten wird, unterscheidet sich der Mensch nicht von einem Baum.‘
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larvt werden. Heuchelei sei freilich, sich auf sie zu verlassen, wie es der Pharisäer getan habe (Lk 18,9–14).68 Morus differenzierte also durchaus zwischen Guten Werken, die einzig auf die Erlangung von Gottes Gunst abzielten, und solchen, die – wie Bugenhagen in den späteren Kirchenordnungen schreiben würde – allein ,aus christlicher Liebe‘ oder ,um Gottes Willen‘ getan würden. Daß aber im Zuge der reformatorischen Bewegung das Kreuz allenthalben entfernt worden sei, um das Gold an die Armen zu geben, sei doch eine direkte Umkehrung der Worte Christi: „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Mt 26,11), wogegen die Reformatoren, aller Christozentrik zum Trotz, offenbar Judas’ Worten stets größere Beachtung schenkten: „Wozu diese Vergeudung? Es hätte teuer verkauft und das Geld den Armen gegeben werden können“ (Mt 26,8 f.).69 Sehr willkommen scheint beiden Gegnern, Morus wie Cochlaeus, jedoch gewesen zu sein, daß Bugenhagen eine seiner Belegstellen (Gal 2,21) etwas variiert hatte: „Si ex operibus et nostro arbitrio iustificamur“, so lautete seine Version, „ergo gratis Christus mortuus est.“70 Doch von unseren Werken und unserem Freien Willen ist im Originaltext keine Rede, sondern vom n·mo", was in der Vulgata wiedergegeben wird mit „si enim per legem iustitia ergo Christus gratis mortuus est.“ Den Freien Willen habe Bugenhagen wohl durch seinen eigenen Freien Willen hinzugesetzt, spöttelte Morus.71 „Haec, inquis, iustitia Dei tua est, dum per fidem suscipis Christum. Verum quidem istud est, neque mali haberet quicquam, nisi quod quam solicite commendas fidem, tam solicite repulisses opera.“72 Morus zeigte sich überzeugt, daß Bugenhagens argumentativer Aufwand letzlich auf eine Beseitigung der Guten Werke hinauslaufen würde. „Fidem docere, vt opera bona dedoceas“, nannte er dieses Verfahren an späterer Stelle.73 Wollte uns Bugenhagen nicht einfach weismachen, fragte Morus weiter, daß Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt habe, nur um zu verkünden, daß wir jetzt frei von allen Werken und aller Sorge und Mühe um unsere Tugenden ledig wären?74 Doch im Gegenteil, wir könnten hoffnungsvoll auf unsere Taten sehen, ohne die der Glaube doch tot sei (Jak 2,17).75 Glaube und Werke müßten sich notwendig ergänzen.76 68
Vgl. soweit ebd.; S. 54 f. Vgl. ebd.; S. 58 f. 70 Bugenhagen: Epistola 1525 (1978); fol. A2 v°. – Frühneuhochdeutsch: „So wir auss den wercken vnd auss vnserm freyen willen gerechtfertiget werden / so ist Christus vergeblich gestorben.“ 71 Vgl. Morus 1568 (1990); S. 62 f. – Ferner Cochlaeus 1526 (1988); S. 86 f. 72 Morus 1568 (1990); S. 68 f. – Übersetzung: ,Diese Gerechtigkeit Gottes, sagst du, ist dein, wenn du Christus im Glauben annimmst. Das ist ja wahr, und nichts Schlechtes wäre dabei, würdest du die Werke nicht ebenso eifrig zurückweisen wie du den Glauben empfiehlst.‘ 73 Ebd.; S. 66 f. – Übersetzung: ,den Glauben predigen, um den Guten Werken entgegenzupredigen‘ 74 Vgl. ebd.; S. 68 f. 75 Vgl. ebd.; S. 74 f. 76 Vgl. ebd.; S. 60 f. 69
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Morus’ Gesamturteil fiel vor diesem Hintergrund vergleichsweise moderat aus: Bugenhagen greife die Angelegenheit vorsichtiger an als Luther, meinte er.77 Da er selbst bestrebt sei, fremde Schriften immer so sachgemäß wie möglich zu beurteilen, ging Morus sogar zum Schein auf Bugenhagens Argumentation ein, um sie vielleicht doch noch retten zu können, ließ jedoch die mühsam gebahnten Auswege ins Leere laufen.78 Möglicherweise, so konzedierte er schließlich in aller Vorsicht, habe Bugenhagen seine Leser einfach davor warnen wollen, ihre Werke als Heilsgarantie zu werten. Niemand dürfe stolz auf seine Werke sein, denn Gutes werde nicht aus sich selbst heraus belohnt, sondern aufgrund des Wertes, den Gott ihm beimesse. Niemand könne ja Gutes tun ohne die besondere Gnadengabe Gottes. Soweit war Morus also bereit, sich dem Gegner anzunähern.79 Doch anderseits müsse dieser auch eingestehen, daß Sünde gewiß bestraft würde. Dann sei es wiederum absurd anzunehmen, daß Gott zwar Sünde strafen, für Gutes aber keinen Lohn anbieten wolle. Schließlich gewann die humanistische Polemik wieder Oberhand über die argumentativen Zugeständnisse: Bugenhagen sei ein kleiner Heiliger, spottete Morus, so hochgeboren, daß er lieber außerhalb von Gottes Weinberg zugrundegehen würde als darin für einen Denar zu arbeiten (nach Mt 20).80 Zufall oder nicht: Ein Jahr nach der späten Publikation von Morus’ Epistola in Löwen stellte Lucas Cranach d. J. 1569 in der Wittenberger Stadtkirche sein Epitaph für Bugenhagens Nachfolger als Pfarrer und Superintendent Paul Eber († 1569) fertig, das Bugenhagen im Kreise der übrigen Wittenberger Reformatoren bei der Arbeit im Weinberg des Herrn zeigte (Abb. 7). Das Bildmotiv bewertete den Anteil der Protestanten in genau entgegengesetzter Weise: Während der altgläubige Klerus seine Hälfte des Anbaus durch absurde und chaotische Tätigkeiten unbrauchbar machte, ließ Cranach die reformatorische Hälfte des Weinbergs durch den geordneten und differenzierten Einsatz des Wittenberger Personals, darunter neben Luther, Melanchthon und Bugenhagen auch Eber selbst, sichtlich gedeihen. Trotz der naheliegenden Namensetymologie kehrt das Motiv, wie ich meine, nicht vorrangig das bekannte Bild vom wilden Eber um, der den Weinberg des Herrn durchwühlt (Ps 80,14), so wie es in der Bannandrohungsbulle gegen Luther gebraucht war81, sondern dürfte auf der inzwischen fortentwickelten Theologie der Guten Werke beruhen, indem der Vorwurf, die Rechtfertigungslehre habe zu Passivität in den Werken geführt, ikonographisch umgekehrt und mit der Autorität Christi versehen gegen
77
Vgl. ebd.; S. 58 f. Vgl. ebd.; S. 70 f. 79 Vgl. ebd.; S. 72 f. 80 Vgl. ebd.; S. 76 f. 81 Vgl. Leo X.: Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“ (15. Juni 1520), in: Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521) (hg. v. Peter Fabisch u. Erwin Iserloh). Teil 2, Münster in Westfalen 1991 (CCath 42), S. (317–)364–411; hier 365. 78
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die Ankläger gewandt wurde. Hierfür bot sich das Gleichnis vom Weinbergbesitzer (Mt 20) trefflich an.82 Die heftigen Reaktionen auf Bugenhagens kleine Flugschrift von 1525 dokumentieren akute Schwierigkeiten mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre und besonders im Blick auf die Guten Werke. Wenngleich Bugenhagen die Entgegnung Thomas Morus’ nicht zu Gesicht bekam, zeigen doch beide Schriften zunächst, daß die Notwendigkeit Guter Werke als Folge des Erlöstseins, wie sie von Luther ins Bild vom Baum und seinen Früchten gefaßt worden war, auf der altgläubigen Seite nicht angekommen war. Sie lassen auch erkennen, auf welche Schwachpunkte man in der Auseinandersetzung zielte – Themen, die der Verfasser schon dem Umfang nach bei weitem nicht so stark akzentuiert hatte wie dann die Kritiker. Bugenhagen hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch keine eigene Ethik der konkreten Nächstendienste entworfen. Diese Lücke schloß er vom Herbst 1525 an, als er an seinem Sendbrief an die Hamburger Christen arbeitete. Vielleicht hat ihn die Lektüre von Cochlaeus’ Flugschrift noch zu Nachbesserungen angeregt. „Diese Schrift durfte Bugenhagen durch Schweigen richten“83, behauptete zwar etwas hilflos sein Biograph Karl Vogt. Aber das dürfte zu hoch gegriffen sein. Ich meine, Bugenhagen war schlicht überfordert. Der hochelaborierten Polemik eines Kontroverstheologen von solchem Format war er kaum gewachsen. Es fällt jedoch auf, daß die Theologie der Guten Werke von 1526 an stärker denn je zuvor sein ständiges, konzentriertes Interesse fand und nun auch mit konkreten Vorschlägen zur Umgestaltung der sichtbaren Kirche verknüpft wurde. Die von den Gegnern ermittelten Schwachstellen seiner Theologie wurden jetzt also schrittweise verstärkt. Hierfür steht jenes Sendschreiben, das Bugenhagen 1526 nach Hamburg richtete.
3. Motivation der Guten Werke in Bugenhagens Sendbrief an die Hamburger (1526) Aus seiner frühen Theologie sind nach dem bisher Gesagten vier Themen festzuhalten, die ihre Wurzeln bereits in Bugenhagens bibelhumanistisch geprägten Anfängen hatten und nach 1520 in reformatorischer Wendung weiterentwickelt wurden: Erstens konnte für ihn die humanistisch vorgeprägte Bibelorientierung unter Luthers Einfluß zum alleinigen Kriterium für die Wahrheit Gottes werden – sola scriptura. Sehr eng hängt damit zweitens die normative Zentrierung auf Christus zusammen, die zunächst von Erasmus übernommen war und unter dem Eindruck von Luthers Schriften erheblich korrigiert wurde, indem die huma82 Vgl. Oskar Thulin: Die Reformatoren im Weinberg des Herrn. Ein Gemälde Lucas Cranachs d. J., in: Lutherjahrbuch 25 (1958), S. 141–145. 83 Vogt 1867; S. 96.
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nistische Interpretation Christi als Lehrer und Vorbild nun durch den für das Heil allein aktiven „verax et salvator“ abgelöst wurde – solus Christus. Daß zur Heiligung auch schon das eifrige Bemühen um Erfüllung der Gebote Christi angerechnet werden könne, war drittens ein Zug der erasmischen Theologie, der die Heilsbedeutung konkret geleisteter Werke erheblich relativieren konnte, für Bugenhagen aber vom Matthäuskommentar an zu einer Umkehrung der Verhältnisse führte, wonach das Streben des Einzelnen jetzt überhaupt nichts mehr, die Gnade Gottes jedoch alles bewirken könne – sola gratia und sola fide. Und viertens war die Praxis christlichen Lebens von Anfang an ein Hauptthema Bugenhagens gewesen, wie seine Nachfragen an Murmellius und Luther, seine Mahnungen an die Zuhörer und Leser in Treptow und Belbuck und vor allem seine späteren kirchenorganisatorischen Schriften zeigen. Seit etwa 1523 folgte Bugenhagen nun auch auf diesem Gebiet den Vorgaben Luthers, doch ebenfalls mit eigenen Akzenten, wie zu zeigen sein wird. Am Schluß der Freiheitsschrift hatte Luther die Existenz des Christenmenschen zusammenfassend als doppelte Beziehung zu Gott und zum Nächsten charakterisiert: „per fidem sursum rapitur supra se in deu(m), rursum per charitate(m) labit(ur) infra se in p(ro)ximu(m)“84. Die unumkehrbare Abfolge von Glaube, Rechtfertigung und Liebe85 konnte Bugenhagen während der ersten Hälfte der zwanziger Jahre vollständig adaptieren. Insbesondere nahm er das Bild vom Baum und seinen Früchten (nach Mt 7,16–20 par u. 12,33 par sowie Kol 1,10) auf, das sich überaus häufig in seiner Psalmenvorlesung86 von 1523 findet (erschienen 1524), dann in den 1524 gelesenen Annotationes in epistolas Pauli 87 (1525) , in der Epistola ad Anglos88 (1525), in der im Sommer 1525 gehaltenen Römerbriefvorlesung (1527)89 und schließlich auch im Sendbrief Vom Christenglauben an die Hamburger, der im Herbst 1525 geschrieben und im folgenden Frühjahr gedruckt wurde.90 Diese letztgenannte Schrift war insofern eine Neuerung, als Bugenhagen in ihr nicht nur die Wittenberger Lehre auf Grundlage der Bibel entfaltete und daraus eine Ethik der Werke gewann, sondern diese im selben Zug auch auf ein Ordnungsprogramm hinausführte, das er der Gemeinde zur konkreten Umsetzung evangelischen Lebens in der Hansestadt anempfahl. Bis dahin hatte Bugenhagen im Amt des Wittenberger Stadtpfarrers, das er seit 1523 wahrnahm91, sein altes 84 Luther: De libertate 1520 (1982), S. 304. – Frühneuhochdeutsch: „durch den glauben feret er vber sich yn gott / auß gott feret er widder vnter sich durch die liebe“. Ebd.; S. 305. 85 Vgl. Holfelder 1981; S. 44–46. 86 Vgl. Kötter 1994 b; S. 62, mit 17 Stellennachweisen. 87 Vgl. Holfelder 1981; S. 49. 88 Vgl. Bugenhagen: Epistola 1525 (1978); fol. A3 r°. – Ders.: Sendbrieff (1982); fol. a3 v°. 89 Vgl. Holfelder 1981; S. 52. 90 Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen loven 1526 (1982); hier fol. J1 r°. – Übertragung bei Vogt 1856; S. 152. 91 Vgl. Leder 1989 (2002).
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Interesse für einen christlichen modus vivendi zwar auch im Bereich der Gottesdienstordnung und des Schulwesens erfolgreich in die Praxis umsetzen92 und sich hierbei ebenfalls auf Vorarbeiten Luthers93 stützen können. Außerdem war er bereits um theologische Gutachten in politischen Fragen gebeten94 und – allerdings vergeblich – von Reformatoren in Erfurt (1522), Hamburg (1524) und Danzig (1525) für dortige Tätigkeiten eingeladen worden.95 Doch bereits der Titel des Sendbriefes an die Hamburger verrät, daß es hier nicht mehr allein um konsequente Umsetzung von theologischer Schriftexegese in ein ethisches Programm ging, sondern daß nun die Einheit beider Seiten, Theorie und Praxis, Glaube und Werke, mit dem hieraus gewonnenen Ordnungsprogramm auch in ein und derselben Schrift zur Darstellung kommen würden: Van dem Christen louen vnde rechten guten wercken / wedder den falschen louen vnde erdichtede gute wercke. Dar tho / wo me schal anrichten myt guden prdickeren / dat slck loue vnd wercke gepredicket werden.96 Es geht also um dreierlei: erstens um die Scheidung von christlichem und falschem Glauben; zweitens um die Konsequenzen, die daraus für die Guten Werke zu ziehen sind, je nachdem sie als rechtschaffen oder erdichtet beurteilt werden müssen; drittens um die Anstalten, die mit guten Predigern zur Verbreitung dieser Einsichten und zu ihrer praktischen Umsetzung zu treffen sind. Dementsprechend gliedert sich der eigentliche Hauptteil der Schrift in drei Aspekte97: In einem ersten Abschnitt98 wird aus der Bibelexegese die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben, allein durch Christus, ohne Zutun der Werke hergeleitet; der zweite99 spricht die nur scheinbar Guten Werke an, die nicht nur unbedeutend für das Heil, sondern auch gefährlich seien, weil sie in der Annahme getan würden, daß durch sie Rechtfertigung zu erlangen sei; im dritten Teil100 sind dann gegen den Vorwurf, die Wittenberger würden die Werke völlig verbieten, die rechten Guten Werke als mögliche Glaubensfrüchte angeführt, und zwar zum einen solche, die den Körper unterwerfen (Fasten, Wachen, Arbeit und Gebet)101 und anderseits solche der Nächstenliebe102. Die dreigliedrige Konzeption entspricht, wie Ralf Kötter vorgeführt hat, genau dem Auf 92
Vgl. Vogt 1867; S. 66–70. Vgl. oben; S. 21 f. 94 Vgl. Vogt 1867; S. 82–84. 95 Vgl. Kötter 1994 b; S. 91. 96 Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); Titel. – Übersetzung: „Von dem christlichen Glauben und rechten guten Werken wider den falschen Glauben und erdichtete gute Werke, dazu, wie man’s soll anrichten mit guten Predigern, daß solch Glaube und Werke gepredigt werden.“ Ders.: dass. (1867); S. 101. 97 Vgl. Kötter 1994 b; S. 106–109. 98 Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. A4 r° bis D4 v°. – Ders.: dass. (1867); S. 104–125. 99 Vgl. ebd.; fol. D4 v° bis H3 v° bzw. S. 125–150. 100 Vgl. ebd.; fol. H3 v° bis M2 v° bzw. S. 150–175. 101 Vgl. ebd.; fol. J1 v° bis L1 v° bzw. S. 153–166. 102 Vgl. ebd.; fol. L1 v° bis M2 v° bzw. S. 166–175. 93
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bau von Luthers Freiheitsschrift, und auch theologisch konnten kaum signifikante Abweichungen festgestellt werden.103 Der so charakterisierte Hauptteil ist dann jedoch, typisch für Bugenhagens Schriftorientierung, von drei predigtartigen Zusammenfassungen begleitet, die auf Bibelexegese beruhen und so das Hauptthema variantenreich wiederholen.104 So kommt für den ganzen eigentlichen Sendbrief eine vierteilige Gliederung aus dem dreigliedrigen Hauptteil und drei anschließenden exegetischen Zusammenfassungen zustande. Zwei Vorreden und zwei Anhänge legen sich schalenartig um diesen vielgestaltigen Kern: Die prae fatio ante rem105 erläutert die historische Situation der Abfassung; ihr entspricht eine im Anhang gedruckte Antwort an den Hamburger Dominikaner Augustin van Getelen († nach 1557)106, der die Reformation in seinen Predigten heftig angegriffen hatte und mit „Poggenhagen“ noch in den folgenden Jahren eine temperamentvolle Flugschriftenkontroverse ausfocht. Die praefatio in re hingegen stellt den „Skopus“107 der Schrift vor, die alleinige Mittlerschaft Christi. Ihr wird spiegelbildlich entsprochen durch den ersten der beiden Anhänge108, in dem Vorschläge zur praktischen Umsetzung des Gemeindelebens gemacht werden. Dem Thema der Rechtfertigung allein aus Gnade, durch den Mittler Christus, ohne Zutun der Werke korrespondiert mithin die Praxis der christlichen Existenz in Werken, die allein aus der Rechtfertigung und allein in Liebe Sinn machen. Die von Luther benannte Gegenläufigkeit von Glaube und Liebe hat somit auch im Aufbau des Sendbriefes ihren formalen Ausdruck gefunden. Im folgenden will ich die im Sendbrief entfaltete Theorie der Guten Werke mit besonderem Blick auf die Fürsorgemotivation nachzeichnen. Die notwendige Ausgangsfrage ist dabei: Warum sind die Werke der Barmherzigkeit weiterhin geboten, wenn sie auch zum Seelenheil nichts beitragen und ihm sogar gefährlich werden können? Luther und Bugenhagen verwehren sich in ihren Schriften einhellig gegen das Mißverständnis, sie würden durch eine Beseitigung der Guten Werke zum Niedergang der tätigen Nächstenliebe beitragen, und betonen stattdessen die dahinterstehenden Motive als Unterscheidungskriterium heuchlerischer und rechter Werke: „Si e(ni)m opera co(m)pare(n)tur ad iustitia(m), (et) peruerso leuiathan eaq(ue) falsa persuatio(n)e fiant, vt p(er) 103
Vgl. Kötter 1994 b; S. 264–299. Zur ersten Zusammenfassung vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. M2 v° bis O4 v°. Ders.: dass. (1867); S. 175–189. – Zur zweiten Zusammenfassung vgl. ebd.; fol. O4 v° bis Y3 r° bzw. S. 190–237. – Zur dritten Zusammenfassung vgl. ebd.; fol. Y3 r° bis Y4 v° bzw. S. 237–240. – Insgesamt vgl. Kötter 1994 b; S.137–167. 105 Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. A1 v° bis A2 v°. Ders.: dass. (1867); S. 101–103. 106 Vgl. ebd.; fol. c1 v° bis c4 r° bzw. 262–267. – Über ihn vgl. Kötter 1994 b; S. 301–341; das Zitat 323. 107 Kötter 1994 b; S. 173 et passim. – Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. A2 v° bis A4 r°. Ders.: dass. (1867); S. 103–105. 108 Vgl. ebd.; fol. Z1 r° bis c1 v° bzw. S. 240–262. 104
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ip(s)a iustificari p(rae)sumas, ia(m) necessitate(m) i(m)ponunt (et) libertate(m) cu(m) fide extinguu(n)t, (et) hoc ip(s)o additame(n)to bona ia(m) no(n) sunt vereq(ue) da(m)nabilia […]. Non ergo opera bona reijcimus, i(m)mo maxime amplectimur (et) docemus, no(n) e(ni)m p(ro)pter ipsa, sed p(ro)pter impiu(m) hoc additamentu(m), (et) p(er)uersam opinione(m) qu(a)ere(n)d(a)e iustiti(a)e, ea damnamus, q(ua) fit, vt solu(m) in specie apparea(n)t bona, cu(m) reuera bona no(n) sint“109, heißt es in Luthers Freiheitsschrift. Bugenhagen formuliert die Verwahrung so: „Hyr wyl yck dat eyn yslyck flytlich mercke / dat wy nycht vorwerpen guede wercke / de vth fryem herten scheen / nach Gades woerde vmme Gades willen / vnsem negesten tho deenste / súnder wy vorwerpen alle wercke / wo guet dat se ock mgen genmet werden / de nycht myt fryem herten scheen (wo gesecht) súnder an welken dat herte so henget vnde gebunden ys / dat ydt menet dar mde vorguynge der snden vnde den hemmel tho vordnende.“110 Beide, Luther wie Bugenhagen, sagen damit allerdings bis zu diesem Punkt nur, daß die Werke nicht generell verdammt würden. Wie läßt sich aber deren Notwendigkeit dem Nächsten gegenüber verdeutlichen? Hier drängt Bugenhagens Ethik weitaus stärker und deutlicher auf die Konsequenz tätiger Nächstenliebe aus dem Gerechtfertigtsein und entfaltet die damit verbundenen Verpflichtungen wesentlich breiter.111 Für Luther sind die Werke vor allem deshalb weiterhin geboten, weil der erlöste Christenmensch noch nicht ganz geistig geworden und in seinem leiblichen Leben noch auf soziale Interaktion angewiesen sei.112 Zwar spricht Luther dann auch von der Dankbarkeit des Erlösten, die ihn dazu führt, die Wohltaten Gottes in Wohltaten am Nächsten umzusetzen und ihm umsonst zu dienen, so wie Gott dem Sünder durch Christus umsonst geholfen habe.113 Aber insgesamt bleibt Luther den äußeren Werken gegenüber doch eher indifferent, insofern sie der Seele nicht schaden noch nützen: „Ego ieiunabo, orabo, hoc (et) hoc faciam, quod per homines mandatu(m) est, non quod mihi illo sit opus ad iustitia(m) aut salute(m), sed q(uod) in hoc morem gera(m), Papae, Episcopo, co(m)munitati illi (et) illi 109 Luther: De libertate 1520 (1982); S. 292. – Frühneuhochdeutsch: „dann wo der falsch anhang / vn(d) die vorkerte meynu(n)g dryn ist / das durch die werck wir frum vnd selig werden wollen / seyn sie schon nit gutt vnd gantz vordamlich […]. Drumb vorwerffen wir die gutte werck / nit vmb yhren willen / ßondernn / vmb des selben boßen zusatzs vnd falscher vorkerter meynung willen. Wilche macht / das sie nur gutt scheynen / vnd seyn doch nit gutt“. Ebd.; S. 293. 110 Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. B4 r°. – Übersetzung: „Hier will ich, daß ein Jeglicher fleißig merke, daß wir nicht verwerfen gute Werke, die aus freiem Herzen geschehen, nach Gottes Wort, um Gottes willen, unserm Nächsten zu Dienste, sondern wir verwerfen alle Werke, wie gut sie auch mögen genannt werden, die nicht mit freiem Herzen geschehen (wie gesagt) sondern an welchen das Herz also hänget und gebunden ist, daß es meinet, damit Vergebung der Sünden und den Himmel zu verdienen.“ Ders.: dass. (1867); S. 111. 111 Vgl. hierzu und zum folgenden Kötter 1994 b, S. 294–299. 112 Vgl. Luther: De libertate 1520 (1982); S. 284–287. 113 Vgl. ebd.; S. 298 f.
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magistratui, aut p(ro)ximo meo ad exemplu(m), faciam (et) patiar omnia, Sicut Christus mihi multo plura fecit (et) passus est, quor(um) ipse nullo prors(us) egebat, factus propter me sub lege, cum non esset sub lege. Et q(uam)uis tyranni vim aut iniuruam faciant, hoc exigentes, non tamen nocebit, donec contra deu(m) non fuerit.“114 Bei Bugenhagen dagegen ist von der Vorläufigkeit des menschlichen Lebens keine Rede. Er spricht sogar von einer Belohnung im Diesseits wie im Jenseits; doch nicht um des Werkes willen würde der Einzelne belohnt, sondern weil Gott es zugesagt habe: „Darmme hlt he ydt ock / vnn gyfft vns / nicht wat wy vordenet hebben súnder wat he vns gelauet vnn thogesecht hefft / ja meer alse he thogesecht heft“115. Der Gedanke, daß der Preis für die geleisteten Werke dennoch kein Verdienst sei, weil Gott ihn seit jeher schon zugesagt habe, war von Bugenhagen bereits ein Jahr zuvor in einer Wittenberger Predigt erklärt worden, indem er zum Wort „Gebt, und es wird euch gegeben“ (Lk 6,38) das Versprechen des Vaters mit einem Exempel aus dem Familienleben illustrierte: „Sicut si dixero filio: offer mihi cantharum cerevisae, et dabo tibi tunicam: quomodo pot est emereri tunicam per hoc? Christianus ergo facit opera, quia placet deo, non quod meritum magnum vult acquirere vel praemium ut pharisei et hypocritae nostri monachi.“116 Später in derselben Predigt führte Bugenhagen das Gleichnis weiter aus, indem „filius, cum adultus sit, facit opera non ob alia causam, quam dem vater zu willen, interdum aberrat, pater corrigit, tamen manet heres. Non laborat ideo, ut acquirat bona: prius sunt sua, sed vult patris voluntatem facere.“117 114 Ebd.; S. 302. – Frühneuhochdeutsch: „Ich will fasten / betten / ditz vnd das thun / was gepotten ist / nit d(aß) ichs bedarff od(er) da durch wolt frum oder selig werden / sondern ich wils dem Babst / Bischoff / der gemeyn / od(er) meynem mit bruder / herrn zu willen / exempel vnd dienst thun vn(d) leyden(n) / gleych wie mir Christus viel gro(e)sser ding zu willen tha(n) vnd geliden hatt / des yhm vill weniger nott ware. Vnd ob schon die tyranne(n) vnrecht thun solchs zu foddern / ßo schadets mir doch nit / die weyl es nit widder gott ist.“ Ebd.; S. 303. 115 Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. H4 r°. – Übertragung: „Darum hält er’s auch, und giebt uns, nicht, das wir verdienet haben, sondern was er uns versprochen und zugesagt hat“. Ders.: dass. (1867); S. 150. 116 Johann[es] Bugenhagen: Dominica post Johannis baptistae Luk. 6 ,Estote misericordes‘ etc. 26. Juni 1524, in: ders.: Ungedruckte Predigten (1910), S. 17–21; hier 17. – Übersetzung: „Wenn ich meinem Sohn sage: Bring mir eine Kanne Bier und ich gebe dir einen Mantel – wie kann er sich einen Mantel dadurch verdienen? Ein Christ tut also seine Werke, weil es Gott gefällt, nicht weil er ein großes Verdienst erwerben will oder einen Preis wie die Pharisäer und Heuchler, unsere Mönche.“ Ders.: Lukas 6,36–42 (m. Beitr. v. Wolfgang Wischmeyer), in: Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert (hg. v. Gerhard K. Schäfer). Heidelberg 1991 (VDWI 4), S. 156–163; hier 158. 117 Bugenhagen: Predigt vom 26. Juni 1524 (1910); S. 18. – Übersetzung: „wenn der Sohn erwachsen ist, so tut er seine Werke aus keinem anderen Grund als dem Vater zu Willen, wenn er bisweilen abirrt, so verbessert ihn der Vater; er bleibt aber der Erbe. Er arbeitet also nicht, um die Güter zu erlangen, sie sind schon zuvor seine, sondern will den Willen des Vaters tun.“ Ders.: dass. (1991); S. 159.
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Auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20) zieht Bugenhagen im Sendbrief an die Hamburger heran, um die leistungsunabhängige Belohnung durch Gott zu begründen.118 Die differenzierte Interpretation, daß in der Schrift zwar ein Preis, aber kein Verdienst versprochen sei119, ermöglicht es Bugenhagen, die Attraktivität praktischer Nächstenliebe stärker als Luther zu exponieren, ohne zugleich Gottes Belohnung vom geleisteten Werk als solchem abhängig zu machen. Zugleich ist das Verhältnis von Vater und Kind von so großem Vertrauen bestimmt, daß das Kind Gottes gar nicht anders kann, als zur Freude des Vaters die geforderten Werke zu erfüllen. Rechten Glauben versteht Bugenhagen als reine Zuversicht und volles Vertrauen allein auf Gott.120 So würde sich der Christenmensch ganz von allein dem Nächsten gegenüber so verhalten, wie sich Gott ihm gegenüber gezeigt habe – ein Gedanke, der sich auch bei Luther findet.121 Der rechte Glaube zu Gott würde daher zweifellos auch ungetrübte Liebe zum Nächsten hervorbringen, die sich nicht nur im Gebet, sondern auch in Taten äußere. Jedes rechte Gute Werk komme nach Paulus aus dem Glauben (mit Hinweis auf Röm 14); das sei ein gottgefälliges Werk, an den zu glauben, der von Gott gesandt sei (Joh. 6,29). Äußerlich kaum von den Heuchelwerken derer zu unterscheiden, die immerzu „Herr, Herr“ (Mt 7,21) riefen, seien die rechten Guten Werke nur durch die innere Motivation coram Deo als solche charakterisiert.122 Im übrigen sei ein Christenmensch in diesem leiblichen Leben jedoch frei und solle tun und lassen, was er wolle und was dem Körper nötig sei, ohne ihn an Gelübde zu binden, die möglicherweise nur vorgeschoben seien, um doch leibliche Interessen zu kaschieren.123 Aufgrund solcher Überlegungen unterscheidet Bugenhagen die gottgefälligen, aus dem Glauben gekommenen Werke, die sich auf den Gläubigen selbst beziehen, von solchen, die auf seinen Nächsten gerichtet sind. In der ersten Gruppe sind wiederum vier Werke unterschieden, die nun im einzelnen systematisiert werden können: Fasten, Wachen, Arbeit und Gebet.124 Da sich in den Abschnitten über das Fasten und über die Arbeit zahlreiche Hinweise zu Bugenhagens Fürsorgemotivation finden, seien diese etwas näher beleuchtet, bevor ich auf die eigentlichen Werke der Barmherzigkeit zu sprechen komme. 118 Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. H4 r°. Ders.: dass. (1867); S. 150. 119 Vgl. ders.: Predigt vom 26. Juni 1524 (1910); S. 17. Ders.: dass. (1991); S. 157. 120 Vgl. ders.: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. H4 v°. Ders.: dass. (1867); S. 151. 121 Vgl. ebd.; fol. H4 v°. – Ders.: dass. (1867); S. 151 f. – Luther: De libertate 1520 (1982); S. 198 f. 122 Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. H4 r°. Ders.: dass. (1867); S. 151. 123 Vgl. ebd.; fol. J1 v° bis J2 r° bzw. S. 152 f. Zu einer seitenlangen Aufzählung von Werken, die (von Fasten, Beten und Almosen über Heiligenverehrung und Stiftungswesen bis hin zum Mönch‑ und Nonnentum) typischerweise auf die Erlangung eigenen Heils abzielen, vgl. besonders dass. (1982); fol. A4 bzw. ders.: dass. (1867) S. 105 f. 124 Vgl. ebd.; fol. J2 r° bis L1 v° bzw. S. 153–166.
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
Das Fasten kann nach dem Glauben christlich oder unchristlich sein, nach dem leiblichen Leben freiwillig oder unfreiwillig. Demnach diskutiert Bugenhagen drei unterschiedliche Varianten: Erstens das freiwillige, aber unchristliche, weil heuchlerische Fasten der Geistlichen; zweitens das unfreiwillige Fasten, das entweder in Armut oder in einer seelischen Eßblockade begründet sein und je nach Glauben als christlich oder unchristlich weiterklassifiziert werden kann; drittens das freiwillige und gottgefällige Fasten aus dem Glauben. Insofern das Fasten ein Verzicht auf Nahrung ist, spielt das Problem der Armut hier unmittelbar hinein, sogar mit entscheidendem Gewicht für die Argumentation: Im Blick auf die erste Variante, das an bestimmte Zeiten und Speisen gebundene Fasten der mittelalterlichen Kirche, hebt Bugenhagen die Herkunft aller Speisen aus Gottes Güte hervor, für die jeder dankbar sein könne. Deshalb kämen die festgeschriebenen Fastenzeiten der Heuchler einer undankbaren Zurückweisung von Gottes Gaben gleich. So beklage man sich, wenn Freitags kein Fisch zu bekommen sei, statt dankbar das ausreichend vorhandene Fleisch zu essen.125 Angesichts der verbreiteten Armut sei das üppige Speiseverhalten der Geistlichen besonders schlimm und rechtfertige keineswegs, von strengen Fastengeboten zu sprechen: „Leven Papen vnde Mnneke“, spricht Bugenhagen diese Gruppe direkt an, „wenn gy des frydages tho dem alder ringesten dre edder veer richte vor yuw hebben / ane yuwen arbeyt vnde srge / so gt ock vp eynen Sndach ynn eynes hueßarmen hueß edder bode / dar werde gy beuinden / dat de huesarme des sndages vnde alle dage vle strenger vastet alse gy des frydages / vnde hyndert em gantz nicht tho syner strengen vastene / dat he suntwylen eyne krappen yn dem kole hefft / Och here Godt wenn he men des genoech hede“126. Die strengen Fastengebote werden hier zum Anlaß genommen, zugleich das üppige Leben der Mönche zu karikieren, die sich auf Kosten anderer in den Klöstern versorgen ließen, und den klerikalen Luxus mit der Situation der Armen zu kontrastieren. Außerdem nimmt Bugenhagen die Gelegenheit auf, das unfreiwillige Fasten der armen Leute zu diskutieren, denn die Frage, ob es sich dabei um ein christliches Werk handelt, steht noch im Raum. Mit dem Wunsch, jedenfalls der bescheidene Lebensstandard möge dem Armen erhalten bleiben, ist jedoch schon die entscheidende Alternative angedeutet: Der Arme kann dankbar seinen Stand 125 Vgl. ebd.; fol. J2 r° bzw. S. 153 f.. Die Betrachtungen, die Bugenhagen in diesem Zusammenhang über die Verdauungstätigkeit der Ordensangehörigen anstellt, sind übrigens lesenswert. 126 Ebd.; fol. K1 v°. – Übertragung: ,Liebe Mönche und Pfaffen, wenn ihr am Freitag zu dem allergeringsten drei oder vier Gerichte vor euch habt, ohne eure Arbeit und Sorge, so geht auch an einem Sonntag in eines Hausarmen Haus oder Bude, da werdet ihr befinden, daß der Hausarme alle Tage, ja auch am Sonntag viel strenger fastet als ihr am Freitag, und es tut seinem strengen Fasten keinen Abbruch, daß er bisweilen eine Krabbe im Kohl hat. Ach Herr Gott – wenn er davon doch genug hätte!‘ – Die ,Krabbe‘ ist natürlich pure Polemik. Dahinter steht der Vorwurf, daß schon die kleinste Abweichung von den strengen Fastengeboten als Sünde gewertet werde. Vgl. die merkwürdige Übertragung von Vogt 1867; S. 160.
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annehmen und ihn nach Gottes Willen ausführen – oder er kann gegen Gott murren und sich damit dem habgierigen Reichen gemein machen.127 Zwar widerstrebt das unfreiwillige Fasten der Natur, kann jedoch als Kreuz angenommen und getragen werden, wenn man merkt, daß Gott es so haben will. Zu viel und zu wenig zur Verfügung haben – beides ist durch Christus möglich, wie Bugenhagen aus dem Philipperbrief herleitet: „Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie’s mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluß haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“ (Phil 4,11–13). Daher sei es falsch, um des Bauches willen zu verzweifeln und mit eigenen Werken anderer Art nachzuhelfen, erst kleinen Betrügereien, dann Diebstahl, manipuliertem Handel mit falscher Ware oder Wucher, Tausch und Verleih. Hierin bringe es mancher bald zur Meisterschaft. Bugenhagen erweist sich auch hier als Seelsorger. Die wahren Ursachen von Kleinkriminalität sind ihm nicht verborgen. Daher warnt er davor, indem er gerade nicht ordnungspolizeilich argumentiert, sondern soteriologisch: Nur der Glaube kann zum Heil verhelfen, das allen versprochen ist.128 Die Verantwortung der Wohlhabenden ist angesprochen, wo es um die Arbeit als christliches Werk geht. Bugenhagen nutzt den Abschnitt zu einer ausführlichen Ethik der Arbeit.129 Diese ist von Gott geboten (Gen 3,19), nicht nur zur eigenen Ernährung, sondern auch zum Teilen (Eph 4,28 b).130 Die Verpflichtung zur Arbeit ist 1525 so selbstverständlich geworden, daß Müßiggang nur noch im Blick auf eine soziale Gruppe gerügt wird, die Geistlichen. Doch gesamtgesellschaftlich dient die Begründung der Arbeit als von Gott gebotenes Werk hier eher dem Nachweis, daß damit auch die Solidarität zu Erwerbslosen gefordert ist. Bugenhagen beeilt sich zwar zu versichern, daß auch weltliche und geistliche Obrigkeiten Arbeit genug hätten, wenn beide Gottes Auftrag standesgemäß erfüllten; doch soll hiermit nur seine anfängliche Definition der Arbeit, „dat eyn yewelick wat ymme handt hebbe dat recht ys vor Gade“131, vor dem Mißverständnis geschützt werden, als wäre bloß Handwerk gemeint. Gott habe einen Orden gegründet, in dem jeder sich selbst und die Seinen ernähren solle, statt anderen zur Last zu fallen.132 Diesen Orden hätten jedoch diejenigen verlassen, die nicht arbeiten, „snder loeß vne leddich wyllen gn / besndergen 127
Ähnlich Geiler von Kaysersberg. Vgl. oben; S. 104. Vgl. soweit Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. K1 r°. Ders.: dass. (1867); S. 159. 129 Bugenhagens Arbeitsethik kann hier unmöglich in aller Breite ausgewertet werden. Vielmehr werden an dieser Stelle nur solche Aspekte genannt, die Neues zur Arbeitslosenkritik um 1500 und zu Bugenhagens Fürsorgemotivation beitragen. 130 Vgl. ebd.; fol. K4 r° bzw. S. 163 f. 131 Ebd.; fol. K4 r° bzw. S. 164. – Übertragung: ‚… daß jeder was in der Hand habe, das vor Gott recht ist‘. 132 Vgl. hierzu und zum folgenden ebd.; fol. L1 r° bzw. S. 165. 128
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de dar vor syck nmen etlike dynck de en nycht gebaden syn / vnde wyllen de anderen auerrden / dat me en plge ys nrynge to guende vor slcke vnntte dynck vnde vorfrische dinck“133. Damit sind die Orden angegriffen, die ihre nutzlosen geistlichen Dienstleistungen gegen eine Versorgung auf Kosten anderer eintauschen würden. Bugenhagen empfiehlt, sie (nach 2 Thess 3) zu ermahnen und ansonsten zu meiden. Die Empfehlung, dies im zweiten Thessalonicherbrief nachzulesen, „Van welcken wrden yck hebbe vle geschruen yn eynem anderen boke“134, weist den Leser auf Bugenhagens Annotationes in epistolas Pauli hin, die im selben Jahr erschienen waren. In der hochdeutschen Fassung hatte er die Warnung vor ,unordentlichem‘ Leben in der Gemeinde dahin aktualisiert, daß „wyr zu vnsern zeytten itzt / wie wol mit eym falschen namen / die heyligen orden vnd ordens leutte nennen / wilche doch S. Paul vnrdig heyssen darff. […] Solche leutte haben vns gewalltiglich bestettiget / diesen abfall vom glawben dauon droben gesagt / mit yhren leren / schrifften . satzungen / vnd mit yhrem heuchlischem gleyssenden wandel / den sie vnter vns gefůrt haben“135 Demgegenüber gehöre zum Orden Christi – nicht in den Franziskaner‑ oder Dominikanerorden –, wer sich in die Werke der Nächstenliebe schicke.136 Diese kämen geradezu zwangsläufig aus dem Glauben und unterschieden sich von den vorher genannten rechten Werken dadurch, daß sie nicht auf den Gläubigen selbst, sondern auf seinen Nächsten gerichtet seien.137 Deutlich nimmt Bugenhagen die mittelalterlichen Werke der Barmherzigkeit mit ihrem weitgefaßten Almosenbegriff auf, der systematisiert bereits bei Thomas von Aquin begegnet war: Christen üben solchen Nächstendienst „myt troeste / myt lere / myt straffe / myt dem dat se vor em bidden / myt hlpe yn armoet / yn dem hungere / yn dem froste / mit ehre vnn frntschop / etc.“138 Der Kanon leiblicher und geistlicher Barmherzigkeit ist hier in Auswahl wiedergegeben, aber auch erweitert 133 Ebd. – Übertragung: ‚… sondern los und ledig gehen wollen, besonders, die sich etliche Dinge vornehmen, die ihnen nicht geboten sind, und die Andere überreden wollen, daß man sich ihrer annehme, also Nahrung zu geben für solche unnützen und verführerischen Dinge‘. 134 Ebd.; fol. L1 v° bzw. S. 166. – Übertragung: ‚… Worte, von denen ich in einem anderen Buch viel geschrieben habe‘. 135 *Johannes Bugenhagen: Auslegung der kurtzen Episteln S. Pauls durch Johann Bugenhagen / den Pomern / zu nutz gemeyner Christenheyt vordeutzschet. Wittenberg: Klug 1524; fol. i1 v°–i2 r°. 136 Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. L2 r°. Ders.: dass. (1867); S. 167. – In der Adelsschrift hatte Luther gegen die alten Bruderschaften die Zugehörigkeit zu einer universellen Bruderschaft Christi gestellt. Ihnen gegenüber seien die anderen so wenig wert wie Rechenpfennige im Vergleich zu Gulden; vgl. Luther: An den Adel 1520 (1982); S. 149. – Michael Klein: Der Beitrag der protestantischen Theologie zur Wohlfahrtstätigkeit im 16. Jahrhundert, in: Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas (hg. v. dems. u. Theodor Strohm). Bd. 1, Heidelberg 2004 (VDWI 22), S. 146–179; hier 159. 137 Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. L1 v°. Ders.: dass. (1867); S. 166. 138 Ebd.; fol. L2 r° bzw. 167. – Übertragung: ,… mit Trost, mit Lehre, mit Strafe, indem sie für ihn bitten, mit Hilfe in Armut, in Hunger, in Kälte, mit Ehre und Freundschaft etc.‘
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durch Ehrerbietung und Freundschaft dem Nächsten gegenüber. Insofern die Passage sich nicht ausdrücklich auf die materiell Armen beschränkt, deutet sie bereits Bugenhagens umfassendes Verständnis der Nächstenliebe an; doch gerade die Forderung nach Freundschaft und Ehre könnte auch auf die Klage Sebastian Brants139 bezogen sein, daß die Reichen die Nähe und Freundschaft der Armen meiden würden. Über die Lübecker Ausgabe des Narrenschiffs könnte Bugenhagen hierauf gestoßen sein, falls die Kritik nicht inzwischen Allgemeingut geworden war. Unter dem weiten Begriff christlicher Werke faßt er jedoch auch alle Ämter in öffentlicher und privater Hinsicht, so daß Prediger, Richter, weltliches Regiment, Haus und Gesinde immer dann christliche Nächstenliebe üben, wenn sie ihrem von Gott gegebenen Amt aus dem Glauben heraus nachkommen140: „Darmme wen eyne frouwe edder maget dat kyndt weeget edder wysschet / deyt bèter werck vnde Gade annmer / so se den louen hefft vth dem woerde Gades / wen alle Nunnen / Mnke vnd Papen mit alle ren ordens edder regel wercken de Got nycht gebaden hefft.“141 Entscheidend für Bugenhagens Interpretation der Nächstenliebe als gottgefälliges Werk ist aber seine Beobachtung, daß echte Christen von ihren eigenen Werken oft nicht viel halten; sie wüßten gut, was ihnen Christus gesagt habe: „Wenn ihr alles getan habt, was euch anbefohlen ist, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren“ (Lk 17,10).142 Dementsprechend würden Christen auch an Guten Werken zweifeln und wüßten nicht, ob sie Gott gefielen.143 Christus werde seiner Zusage entsprechend am Jüngsten Tage die Guten Werke am Nächsten preisen (Mt 25), doch diejenigen, die sie getan hätten, wüßten davon gar nichts, weil sie sie für gering und verächtlich gehalten und sie längst vergessen hätten.144 Deutlicher läßt sich kaum erklären, daß selbst die Guten Werke sich der gezielten Verdienstlichkeit entziehen, wenngleich sie im Jenseits reich vergolten werden. Immer wieder kommt Bugenhagen in seiner Argumentation auf diesen Zusammenhang zurück. So sehr die christlichen Werke der Nächstenliebe auch angepriesen werden, so sehr legt er auch immer wieder Wert darauf, daß sich der versprochene Preis nicht aus dem Werk selbst ergibt, sondern allein aus der Gnade Gottes. Der praktische Anhang zum Sendbrief Vom Christenglauben steuert zur Fürsorgemotivation weitere Argumente bei. Über die Prediger und ihre Aufgaben, die Neuordnung des Schulwesens, den Umgang mit dem altgläubigen Klosterper139
Vgl. oben S. 100. Vgl. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. L3. Ders.: dass. (1867); S. 169. 141 Ebd.; fol. L3 v° bzw. S. 169. – Übertragung: ,Darum tut eine Dame oder Magd, wenn sie das Kind wiegt oder wäscht, ein besseres und gottgefälligeres Werk als alle Nonnen, Mönche und Pfaffen mit allen ihren Ordens‑ oder Regelwerken, die Gott nicht geboten hat.‘ 142 Vgl. ebd.; fol. L2 v° bzw. S. 168. 143 Vgl. ebd.; fol. L3 r° bzw. S. 168 f. 144 Vgl. ebd.; fol. L4 v° bis M1 r° bzw. S. 171 f. 140
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sonal und die Einrichtung eines Gemeinen Kastens bringt Bugenhagen auf diesen Seiten konkrete Vorschläge, doch liegt schon aus dem bisher Gesagten nahe, daß die Praxis nicht aus sich selbst heraus motiviert sein kann. Im Gegenteil, dieser vergleichsweise kompakte Anhang zum Sendbrief präsentiert nichts anderes als das Ergebnis der breiten theologischen Vorüberlegungen. Dies wird deutlich, wenn etwa den Pastoren eingeschärft wird, bei der Verteidigung des Glaubens gegenüber den altgläubigen Priestern und Mönchen keinesfalls die Liebe zu vergessen und ihnen persönlich nicht Schimpf noch Schande zuzufügen, sondern ihnen in jedem Fall Gnade zu erweisen: „bekeren se sick / so do wy dat vnsen brderen / bekeren se sick nycht / wat lycht vns dar anne? so do wy sulck vnsen vyenden / ydt ga sůs edder so / myt der leue do wy recht vnde Christelyck.“145 So konnte Bugenhagen hier und späterhin plausibilisieren, weshalb ihm an der gewaltsamen Aufhebung von Klöstern wenig gelegen war. Wer trotz Zuredens in den Klöstern bleiben wolle, solle sich dort auch weiterhin bis zu seinem Tod ernähren können, denn das Evangelium fordere, Freund und Feind zu geben, aber niemandem zu nehmen. Der ausdrücklich empfohlene Primat der Liebe sollte in Bugenhagens Kirchenordnungen noch größeres Gewicht bekommen. Auch die Empfehlung, künftig einen Gemeinen Kasten zur Witwen-, Armen‑ und Krankenfürsorge einzurichten146, in den neben freiwilligen Gaben und Testamenten auch diejenigen Donationen einfließen sollen, die nach Erledigung der ewigen Seelmessen freigeworden sind, wird noch mit neuen Argumenten bekräftigt: Einmal mit der Warnung, sich aus diesen Kirchengütern selbst zu bereichern. Das Kapital sei einmal um Gottes Willen gegeben worden, und dieser Bestimmung müsse es nun auch zugeführt werden, denn nach dem vielzitierten Wort Christi sei ihm selbst getan worden, „was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern“ (Mt 25,40). Damit ist aber nur vordergründig ein längst bekannter Grundsatz der Almosenmotivation wiederholt, der auch im Mittelalter gang und gäbe war. In Wirklichkeit ist das Argument komplexer und in seiner Bedeutung für die Kapitalsicherung der gemeinen Kästen kaum zu überschätzen. Implizit greift Bugenhagen nämlich dem möglichen Einwand vor, mit der Erledigung des ursprünglichen Stiftungszwecks (der ewigen Fürbitte für die Seelen Verstorbener) stünden die Kapitalanlagen wieder frei zur Disposition. Tatsächlich meldeten etliche Familien nach der Reformation Ansprüche auf die teilweise hohen Stiftungswerte an, weil sie den Fortfall der Seelmessen als Auflösung der Verträge interpretierten. Über solche Probleme wird noch ausführlicher zu sprechen sein.147 Das Argument, das Bugenhagen der Vorrede zur Leisniger Ka145 Ebd.; fol. b4 v° bzw. S. 260. – Übertragung: ,Bekehren sie sich, so tun wir’s unsern Brüdern. Bekehren sie sich nicht, was liegt uns dran? so tun wir solches unsern Feinden. Ob es so geht oder so, mit der Liebe tun wir recht und christlich.‘ 146 Vgl. ebd.; fol. c1 r° bzw. S. 261. 147 Vgl. unten; S. 162 ff.
III. Theologische Probleme der Fürsorgemotivation in der Reformationszeit
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stenordnung entlehnte148, soll verdeutlichen, daß der ursprüngliche Stiftungszweck dann gewahrt bleibe, wenn die Anlagen künftig zur Witwen-, Armen‑ und Krankenversorgung in den Gemeinen Kasten einflössen. Was den Bedürftigen gegeben werde, komme Christus selbst zu. Bugenhagen zitiert zwar nicht den Kontext des Bibelwortes, doch darf vorausgesetzt werden, daß der eschatologische Rahmen – als Teil der Rede vom Weltgericht – allen bekannt war. Die Relevanz der angelegten Stiftungswerte für das eigene Heil war damit ungebrochen – mehr noch: Eine Veruntreuung, vor der Bugenhagen so eindringlich warnte, hätte Folgen am Ende aller Tage. Doch schon für das Diesseits warnte Bugenhagen davor, daß Unterschlagungen sich rächen: „Ick hebbe wol exempele dar van nu geseen / dat se arm werden de slck tho sick thoen / dat ock eyne gantze stadt moth schaden nmen wen de uericheyt slck vor sick angrypt / vnde wendet nycht hen vmme Gades wyllen“149. Auch müsse sich die Verwaltung des Gemeinen Kastens auf Ärger gefaßt machen, denn der Teufel sehe derlei Kapital nun einmal nicht gern; „he weet wol dat de rechten Christene sick nergende mde beter bewysen knen / snder wen se deme notrfftygem myt hlpe denen / Darmme late me sick deme duele nicht afschrecken wen me Gades werck doen kan“150. Eine Durchsicht des Hamburger Sendbriefs mit konzentriertem Blick auf die Motivation Guter Werke vermag also die argumentativen Fortschritte zu offenbaren, die Bugenhagen in dieser Hinsicht gemacht hatte – seinen zurückliegenden Schriften gegenüber, aber auch im Vergleich zu Luthers Theologie. Erstens muß festgehalten werden, daß das Verhältnis von Glaube und Werken zwar weiterhin eng an Luthers Freiheitsschrift orientiert war, daß Bugenhagen sich jetzt aber in charakteristischer Weise wieder stärker den konkret zu leistenden Taten des Einzelnen und der Obrigkeit zuwandte. Optimistischer als Luther, drängte er ostentativ auf die unbestreitbare Notwendigkeit Guter Werke. Versäumnisse in dieser Hinsicht hätten dagegen schwere Folgen im Diesseits wie im Jenseits. Damit hängt zweitens der besonders hohe Stellenwert christlicher Liebe als Maßstab des Handelns im Gemeinwesen unmittelbar zusammen. Am Beispiel der empfohlenen Duldsamkeit gegenüber altgläubigen Mitbürgern war zu sehen, wie weitherzig dem rechten Glauben nach Bugenhagens Auffassung auch rechte Gute Werke zu folgen hätten. In den Kirchenordnungen der folgenden Jahre sollte der Primat christlicher Liebe gegenüber dem starren Buchstaben eines Ordnungstextes immer wieder betont werden und im Zweifelsfall dessen Auslegung zugunsten des Nächsten ermöglichen. Und drittens war mit den or148
Vgl. Luther: Leisniger Kastenordnung 1523 (1934); S. 406. Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. c1 r°. Ders.: dass. (1867); S. 261. – Übertragung: ,Ich habe dazu gerade Beispiele gesehen, daß diejenigen arm werden, die solches an sich nehmen, daß auch eine ganze Stadt Schaden nehmen muß, wenn die Obrigkeit solches für sich vereinnahmt, statt es um Gottes Willen zu verwenden.‘ 150 Ebd. – Übertragung: ,Er weiß gut, daß die rechten Christen sich mit nichts besser beweisen können, als wenn sie dem Bedürftigen mit Hilfe dienen. Darum lasse man sich vom Teufel nicht abschrecken, wenn man Gottes Werk tun kann.‘ 149
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ganisatorischen Vorschlägen im Anhang des Sendschreibens der Schritt von der gereiften Theorie der Guten Werke zu ihrer praktischen Durchführung getan. Daß konkrete strukturelle Veränderungen im christlichen Gemeinwesen wie die hierin vorgeschlagenen nicht bloß kosmetischer, sondern wirklich existentieller Art151 wären, war in den Sendbriefen nach Treptow und England noch nicht zu erkennen. Anneliese Sprengler-Ruppenthal hat auf den gleichartigen Aufbau in Dienstordnung, Schulordnung und Kastenordnung aufmerksam gemacht, der 1525 auch der Stralsunder Kirchenordnung von Johannes Aepinus zugrundelag.152 Diese Ordnung gilt als erste umfassende evangelische Kirchenordnung. Ob sich Bugenhagen diese zum Vorbild genommen hat oder ob er seinerseits Aepinus beeinflußte, der in Treptow-Belbuck sein Schüler gewesen war, ist ganz unsicher – beide werden sich darüber verständigt haben. Charakteristisch ist aber, daß die organisatorischen Vorschläge für Hamburg hier konsequent aus Bugenhagens theologischen Überlegungen erwuchsen, die ihrerseits vom Evangelium her bestimmt waren, während Aepinus auf eine solche Herleitung verzichtet hatte. Das spricht doch bei aller gebotenen Vorsicht für einen Vorrang Bugenhagens bei diesem Modell. Kirchenordnung, so lehrt das Studium dieses Sendbriefs, darf nicht getrennt von Gottes Wort, sondern stets als dessen Frucht verstanden werden.
4. Fürsorgemotivation in Bugenhagens Kirchenordnungen a. Glaube und Werke in der Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung Der Sendbrief nach Hamburg gilt als Urzelle von Bugenhagens Kirchenordnungen.153 Seine umfassende theologische Herleitung der organisatorischen Vorschläge ist in den späteren Ordnungen in der Regel stark reduziert worden, wogegen die praktischen Bestimmungen deutlich in den Vordergrund traten, präzisiert und an die lokalen oder territorialen Gegebenheiten angepaßt wurden. Erst der letzten seiner Kirchenordnungen, die Bugenhagen 1543 zusammen mit Antonius Corvinus und Martin Görlitz für das Fürstentum BraunschweigWolfenbüttel konzipierte154, ist wieder ein ausführlicher, teils scharf polemischer Tractat von rechten guden Werken der Kinder Gades vorgeschaltet.155 Beinahe zwei Jahrzehnte nach dem Beginn von Bugenhagens Kirchenordnungstätigkeit ist das Thema hier also zum Schluß noch einmal aufgenommen, doch ganz anders ak151
Vgl. Hauschild 1988 a. Vgl. Sprengler-Ruppenthal 1971 (2004); S. 126, Anm. 17. – Hauschild 1985; S. 53 f. – Vgl. im übrigen oben; S. 27. 153 Vgl. stichprobenartig Jensen 1958; S. 64. – Wolf 1963; S. 282. – Sprengler-Ruppenthal 1971 (2002); S. 202. – Leder 1984 (2002) a; S. 30. 154 Vgl. oben S. 41–44. 155 Vgl. Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 24–36. 152
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zentuiert worden. Wie hat sich die theologische Konzeption der Guten Werke in dieser Zeitspanne entwickelt? Die Vorrede zur Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung unterscheidet zwischen göttlicher und christlicher Ordnung, ähnlich wie bereits der Königsbrief Christians III.156 als Eingang zu den skandivavischen Kirchenordnungen der Jahre 1537 und 1542. Beide Ordnungen sind von Gott, die erste157 jedoch unmittelbar, die zweite158 vermittelt durch menschliche Autorität, aber stets im Dienst der göttlichen Ordnung. Die beiden Aspekte werden nacheinander entfaltet. Der Tractat von rechten guden Werken der Kinder Gades bildet das Kernstück des ersten Teils von göttlicher Ordnung und schließt direkt an die Darlegung des rechten, auf dem wahren Evangelium beruhenden Gottesdienstes an. Das entspricht der systematischen Reihenfolge: „Wen wy dem evangelio gelöven tho vorgevinge der sunden und synd kindere Gades geworden, […] so werd uns ock darna geleret van guden werken und einem christliken levende uth dem gesette Gades, dat is uth den tein gebaden Gades.“159 Allein dies seien nämlich Gute Werke, sowohl innerlich gut vor Gott als auch äußerlich vor den Menschen, die in den zehn Geboten gegeben seien; „dar hebben wy mehr tho dönde gegen Gade und gegen den lüden, den wy uthrichten können.“160 Dieser Auftakt ist bemerkenswert, wegen der systematischen Priorität des Evangeliums und wegen der zugleich starken Betonung des Gesetzes als ethischer Richtschnur. Zunächst ist festzuhalten, daß sich die systematische Reihenfolge von Evangelium und Gesetz seit dem Sendbrief von 1526 geradewegs umgekehrt zu haben scheint. Dort begann die letzte von drei Zusammenfassungen, eine für die Hamburger Prediger gedachte Summa wat me lerenn vnde wten schal, noch mit den Worten: „Tho dem ersten schal me leren vnde wten dat gesette / dat ys de teyen gebade Gades“, um später fortzufahren: „Tho dem anderen / schal me leren vnn wten dat hylge Euangelion / dat ys / troest vnn gnade de vns wert vorkndiget dorch Jhesum Christum ane vnse vordeenst / ya wedder vnse vordeenst“161. Die Reihenfolge ist nicht beliebig. Die Unfähigkeit des Sünders, Gottes Gebote zu halten, weist ihn erst unerbittlich auf seine Erlösungsbedürftigkeit hin und läßt ihm nur eine Hoffnung: den Glauben an das Evangelium von der gnädigen Er156
Vgl. oben S. 41. Vgl. Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 22. 158 Vgl. ebd.; S. 36. 159 Ebd.; S. 24. – Übertragung: ‚Wenn wir dem Evangelium glauben zur Vergebung der Sünden und Kinder Gottes geworden sind, so wird uns danach auch gelehrt von Guten Werken und einem christlichen Leben aus dem Gesetz Gottes, das ist aus den zehn Geboten Gottes.‘ 160 Ebd. – Übertragung: ,damit haben wir Gott und den Menschen gegenüber mehr zu tun als wir schaffen können.‘ 161 Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. Y3 v°. Ders.: dass. (1867); S. 237 f. – Übertragung: ,Erstens soll man das Gesetz lernen und wissen, d. h. die zehn Gebote Gottes‘; ,Zweitens soll man das Evangelium lernen und wissen, nämlich Trost und Gnade, die uns verkündigt werden durch Jesus Christus ohne unser Verdienst, ja gegen unser Verdienst‘. 157
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lösung durch Christus. Diese Hinweisfunktion des Gesetzes war im Sendbrief stark betont, indem „dat Gesette nicht anders ys wen erkentnisse der snden / dat wy nycht gedn hebben / vnde noch nicht doen / ock nicht doen knen wat uns Got gebaden hefft“162. Damit hatte sich Bugenhagen eng an Luthers Konzept eines usus theologicus legis angeschlossen, das ansatzweise bereits in dessen Römerbriefvorlesung163 (1515–1516), dann in der Freiheitsschrift (1520) zum Ausdruck gekommen164 und in ausgereifter Form ab 1522165 immer wieder aufgenommen worden war: Das Gesetz stellt Forderungen, die vor der Welt (coram mundo) zur Wahrung diesseitigen Friedens unablässig sind (usus primus vel usus civilis legis), aber es verhilft dem Sünder nicht zum Heil, sondern verschlimmert seinen Zustand noch. Die Erkenntnis seines Scheiterns vor Gott (coram Deo) ist jedoch erst Voraussetzung zur Umkehr und zur gläubigen Annahme des Evangeliums (usus secundus vel usus theologicus legis).166 Im Sendbrief an die Hamburger hat Bugenhagen diese Abfolge von Gesetz und Evangelium getreu wiedergegeben. Die Notwendigkeit Guter Werke als Folge des Erlöstseins war darin freilich schon besonders stark betont. Im Braunschweig-Wolfenbütteler Tractat führt jedoch das Evangelium die gläubigen Kinder Gottes zu den im Gebot geforderten rechten Werken vor Gott und vor den Menschen. Mit dieser direkt entgegengesetzten Anordnung von Evangelium und Gesetz ist, abweichend von Luthers Konzeption, ein weiterer Gebrauch des Gesetzes167 ausgesprochen (usus tertius vel usus legis in renatis), den bekanntlich Philipp Melanchthon favorisierte: „Das Evangelium hat die Aufgabe, den durch das Gesetz zerbrochenen Menschen wieder aufzurichten, ihn der Gnade Gottes zu versichern und ihn wieder zur Erfüllung des Gesetzes zurückzuführen.“168 Das Gesetz kann danach in einer dritten Weise angewandt werden, nämlich durch den bekehrten und erlösten Sünder als Richtschnur seines christlichen Handelns vor Gott und vor den Menschen. Mit der Akzentverschiebung in Melanchthons Richtung hängt ein weiterer Zug unmittelbar zusammen, der den Anfang zum Tractat von 1543 auffällig charakterisiert: Merkwürdig ist doch, welches Gewicht dem Gesetz überhaupt bei162 Ebd. – Übertragung: ,das Gesetz nichts anderes ist als Erkenntnis der Sünde, daß wir nicht getan haben und immer noch nicht tun, auch nicht tun können, was Gott uns geboten hat‘. 163 Vgl. Die Nachschriften zur Vorlesung über den Römerbrief (hg. v. J[ohannes] Ficker), in: WA 57 (1939), S. (I–)1–232; hier 158. Die Stelle verwendet Augustins Wort aus De spiritu et littera (19,34), wonach „Lex ergo data est, ut gracia quereretur, gracia data est, ut lex impleretur.“ 164 Vgl. ders.: De libertate 1520 (1982); S. 270–273. 165 Vgl. ders.: [Kirchenpostille], in: WA 10, Abt. 1,1 (1910); S. 454. – In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius ex praelectione D. Martini Lutheri collectus, in: WA 40, Abt. 1 (1911); S. 478–483. 166 Vgl. auch Max J. Suda: Die Ethik Martin Luthers. Göttingen 2006; S. 72–78. 167 Vgl. Gerhard Ebeling: Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, in: Theologische Literaturzeitung 75 (1950), Sp. 235–246. 168 Peter Meinhold: Philipp Melanchthon. Der Lehrer der Kirche. Berlin 1960; S. 84.
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gemessen wird. Zwar wird auch hier eingestanden, daß die zehn Gebote dem Gläubigen mehr zu tun geben als er erfüllen kann, aber insgesamt überwiegt eine ausgesprochen optimistische Einschätzung der Gebote als Richtlinie christlicher Lebenspraxis. Prinzipiell sind in ihnen die wahrhaft Guten Werke angeordnet. Auch in der Hildesheimer Kirchenordnung, die im Jahr zuvor entworfen, doch erst 1544 gedruckt wurde, ist dieser Optimismus offenkundig: Die Prediger sollen lehren, „dat de kinder Goddes ock gude werke don […]. Gude werke överst synt allene, de Godt yn den tein geboden van uns förderen, de heten: Godt leven unde unsen negesten leven. Dar wörde wy alto vele to donde krigen, alse dat wy ock noch möten ane underlat beden: Vorgiff uns unse schuld, alse wy vorgeven unsen schüldigern.“169 Trotz der Einschränkung, daß auch das Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37–40) von uns nicht erfüllt werden kann, unterscheidet sich der Tonfall dieser beiden Passagen doch erheblich von der früheren Konzeption. Welch ein Unterschied zur beinahe exklusiven Hinweisfunktion für den scheiternden Sünder, die das Gesetz im Sendbrief von 1526 erfüllte – damals war zwar von den Guten Werken als Folge des Erlöstseins die Rede, aber doch nicht von der Anwendung der Gebote Gottes als ethische Richtlinie. Noch deutlicher wird der Eindruck bei einem vergleichenden Blick auf die klassische Stelle in Luthers Schmalkaldischen Artikeln, die 1536 verfaßt und 1538 gedruckt wurden. Dort heißt es, ganz dem duplex usus legis gemäß, das Gesetz sei von Gott gegeben, „Erstlich der Su(e)nden zu steuren / mit drewen vnd schrecken der straffe / vnd mit verheissen vnd anbieten der gnaden vnd wolthat. Aber solches alles ist der bosheit halben / so die sunde im Menschen gewircket / vbel geraten“: Die Bösen seien dem Gesetz feind und handelten ihm zuwider, die Heuchler wiederum maßten sich an, es aus eigenen Kräften befolgen zu können. Eine dritte Gruppe gibt es nicht. „Aber das fu(e)rnemste ampt oder krafft des Gesetzes ist / das es die Erbsunde mit fru(e)chten vnd allem offenbare / vnd dem Menschen zeige / wie gar tieff seine natur gefallen / vnd gru(e)ndlos verderbet ist […]. Damit wird er erschreckt / gedemutigt / verzagt / verzweiuelt wolte gern das yhm geholffen wuerde […]. Die sunde wird grosser durchs gesetze“170. Luther beurteilte also beide usus legis ausgesprochen pessimistisch. Der Unterschied zur Interpretation des Gesetzes in den späten Kirchenordnungen könnte kaum größer sein. Bugenhagen hatte sich in dieser Hinsicht deutlich von Luther entfernt. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Die Debatte um die Funktion des Gesetzes spitzte sich Ende der dreißiger Jahre zu, als der Wittenberger Prediger Johannes Agricola (um 1499–1566), ein ursprünglich treuer Schüler Luthers, in einer Verengung der evangelischen Rechtfertigungslehre die Bedeutung des Gesetzes für die Sündenerkenntnis ganz 169
Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 835. Martin Luther: Die Schmalkaldischen Artikel, in: ders.: StA 5 (1992), S. (326–)344–447; hier 394–397. 170
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zurückstellte. Diese behielt er zwar als notwendige Voraussetzung für die Erlösungsbedürftigkeit und Bußfertigkeit des Sünders wie auch für die anschließende Zuwendung Christi bei, hielt das Gesetz als solches aber durch Christus endgültig überholt und erkannte ihm daher nicht mehr die Aufgabe zu, den Menschen seiner Sünden zu überführen. Stattdessen favorisierte er die Predigt vom Tod Christi als Gericht über die Gewissen und die der Auferstehung als Erlösung.171 Agricolas Ablehnung jeder Gesetzespredigt diskreditierte ihn bald bei den anderen Wittenberger Reformatoren: Als Bugenhagen 1537 nach Kopenhagen abreiste, verbat er sich ausdrücklich, von ihm auf der Kanzel der Stadtkirche vertreten zu werden. In mehreren Disputationen und Flugschriften bekämpfte Luther scharf die antinomistische Gefahr eines Erlösungsglaubens, der ohne Erkenntnis der Sünde vor Gottes Gesetz und daher auch ohne Erkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit ad absurdum geführt würde. In der zunehmend aggressiven und von persönlichen Kränkungen geprägten Debatte zwischen Luther und seinem Schüler, die von Phasen der Versöhnung, aber auch neuem Aufbrechen der Gegensätze bestimmt war, versuchte vor allem Philipp Melanchthon, einen dauerhaften Frieden zu vermitteln, indem er Agricola immer neu zum Widerruf und Luther immer neu zur Annahme der Entschuldigung überreden mußte. Im August 1539 reichte Agricola jedoch beim Universitätsrektor und bei Johannes Bugenhagen als Stadtpfarrer eine förmliche Anklage gegen Luther ein, die sich weniger auf die theologischen als auf die persönlichen Differenzen bezog, und die er im März noch einmal beim Kurfürsten bekräftigte.172 Ein recht wohlwollendes Gutachten, an dem neben Jonas, Cruciger und Melanchthon auch Bugenhagen selbst beteiligt war, erklärte die Klage gleichwohl für gegenstandslos.173 Ein Gegenverfahren wurde eingeleitet, dem sich Agricola im August 1540 entzog, indem er die Hofpredigerstelle beim brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. in Berlin annahm. In dieser Phase übernahm Bugenhagen die Aufgabe des Unterhändlers, da Melanchthon am Wormser Religionsgespräch beteiligt war.174 Ein eigener Vermittlungsversuch Bugenhagens im Jahr zuvor war ins Leere gegangen.175 Wie sich aus dessen Briefwechsel mit Joachim ergibt, konnte auf Grundlage von Melanchthons diplomatischen Vorbereitungen im November 1540 eine Widerrufs‑ und Unterwerfungserklärung Agricolas erreicht werden, die von Luther offiziell akzeptiert wurde.176 Dieser hat den Streit aber nie verwinden können. Fortan mied er Agricola, bis zu seinem Tod.
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Vgl. insgesamt Brecht 1994; Bd. 3, S. 158–173; hier 160. Vgl. ebd.; Bd. 3, S. 169. 173 Vgl. Justus Jonas u. a. an K[ur]f[ürst] Johann Friedrich von Sachsen (in Torgau?). D[eu]t[sch], in: MBW 3 (1979); Nr. 2446. 174 Vgl. Brecht 1994; Bd. 3, S. 171. 175 Vgl. ebd.; S. 169. 176 Vgl. Bugenhagen: Briefwechsel (1966); Nr. 87, 88, 90 und 92. 172
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Vor diesem Hintergrund wird die beschriebene Schwerpunktverlagerung im Verhältnis von Gesetz und Evangelium verständlich, die in Bugenhagens späten Kirchenordnungen zum Ausdruck kommt. Aus seiner Vermittlungtätigkeit im sogenannten ersten Antinomistischen Streit 1537–1540 hatte Bugenhagen offensichtlich zwei Konsequenzen gezogen: Einerseits setzte er in den nun folgenden Kirchenordnungen für Hildesheim (1542/1544) und Braunschweig-Wolfenbüttel (1543) deutliche Signale gegen Agricola und eine mögliche antinomistische Interpretation der Rechtfertigungslehre, indem er die Funktion des Gesetzes besonders stark betonte. Anderseits emanzipierte er sich jedoch auch von Luthers Konzeption eines duplex usus legis, indem er wie Melanchthon einen dritten, praktisch-theologischen Gebrauch des Gesetzes durch die bekehrten und erlösten Kinder Gottes akzeptierte. Er bildete also eine eigene Position zwischen den zerstrittenen Parteien aus, indem er unmißverständlich an den Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre festhielt, zugleich aber eine praktisch-theologische Perspektive eröffnete. Bugenhagen hatte von Anfang an ein optimistisches Interesse an den konkreten Taten des Christenmenschen gegenüber Gott und dem Nächsten. Dies war bereits im Blick auf seine frühe theologische Entwicklung zu sehen. Die nach dem Antinomistischen Streit von 1537–1540 gefundene Mittelposition stabilisierte dieses Interesse aus systematisch-theologischer Richtung. Der Braunschweig-Wolfenbütteler Tractat von rechten guden Werken der Kinder Gades dokumentiert eine weiter gereifte Theologie, in der die diesseitigen Werke der Gottes‑ und Nächstenliebe einen festen Platz haben. Durch sie diene ein jeder nach seinem Stand und Vermögen „anderen lüden und is des gewisse, wat he also andern deit, dat he dat Christo sülvest gedan hefft, Matth. 25[,40]. Wolde Godt, dat wy sölcke gude früchte als gude böme edder de leven kinder Gades könden bequemelick tho syner tydt hervorbringen, Gade tho eheren, de solcks van uns mit synen tein gebaden fordert und unsem negsten tho denste, de solcks wol bedarf.“177 Wie im Sendbrief an die Hamburger wird ein Lohn, aber kein Verdienst in Aussicht gestellt: Gott habe fest zugesagt, solche köstlichen Werke einmal zu belohnen – „Nicht dat unse werke solcker belöninge werd sind und wy solckes vordenet hebben, sunder umme syner thosage willen, an welcker Gade mehr gelegen is, den an hemmel und erde.“178 Aber unsere Werke seien doch immer unvollkommen, und auch das größte bleibe weit hinter den Ansprüchen zurück. Mit Hinweis auf Augustinus wird hier noch einmal die Unmöglichkeit beteu177 Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 25. – Übertragung: Er diene ,anderen Leuten und ist gewiß, daß er das, was er so den anderen tut, Christus selbst getan hat (Mt 25,40). Wollte Gott, daß wir solche guten Früchte als gute Bäume [nach Mt 7,17 f.] oder als die lieben Kinder Gottes, wenn es an der Zeit ist, hervorbringen könnten, Gott zu Ehren, der solches von uns mit seinen zehn Geboten fordert, und unserem Nächsten zu Diensten, der solches sehr benötigt.‘ 178 Ebd. – Übertragung: ,Nicht, daß solche Werke solcher Belohnung würdig wären, sondern um seiner Zusage willen, an welcher Gott mehr gelegen ist als an Himmel und Erde.‘
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ert, das Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37–40 parr) wirklich zu erfüllen, denn unsere Unlust zu Gott und dem Nächsten rege sich immer wieder. Und: „Wen wy wat gudes dohn, so kömpt unse ydel ehre, unse vordeil und nütticheit unde ander düvelsdreck unser bösen lüste dartho, dat wy unser guden werke uns nicht römen können, efft wy wol vele gude werke dohn.“179 Der Selbstzweifel könne davor bewahren, wie der Pharisäer zu sagen: „Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher“ (Lk 18,11). In der anschließenden Auslegung des Gleichnisses wird betont, daß Lukas vor allem die trügerische Sicherheit der vollbrachten Werke kritisiere. Nicht der Selbstvergewisserung können die Werke dienen, sondern durch ihre Unvollkommenheit nur der Selbsterkenntnis, ein Sünder zu sein: „Gott sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,13). Hier ist wieder die Hinweisfunktion des Gesetzes angesprochen, doch gleich darauf folgt erneut der praktische Aspekt: „Darumme leret Christus ock de Christen gude werke, Luc. 6 (27 ff.), dat se wat gudes schölen dohn, alse de leven kindere Gades, dat se gude früchte bringen, alse de nu uth Gades gnaden in Christo gude böme sind geworden. Wente de ungelövigen können nene gude werke dohn, wenn se ock so hillich weren“180. Damit sind die konkreten Werke der Barmherzigkeit in den Blick gekommen, wie sie hier zunächst nach der Feldpredigt Jesu aus dem Lukasevangelium (Lk 6) entfaltet werden: „Richtet andere lüde nicht, vordömet nicht, gevet, vorgevet. Dat sind de rechten guden werke, de Christo so wol gevallen, dat he uth gnaden syne thosage daran henget unde secht, dat he solcke werke wil belonen also. So werde gy ock nicht gerichtet. So werde gy ock nicht vordömet. So werd ju wedder gegeven. So werd ju wedder vorgeven.“181 Die eschatologische Tragweite Guter Werke, so konnte bereits an Bugenhagens Sendbrief an die Hamburger gezeigt werden, war in der Reformation nicht aufgegeben worden, im Gegenteil: Daß Christus am Ende aller Tage die Werke ansieht, wurde gerade zur Motivation tätiger Nächstenliebe vor und nach der Reformation stark betont. In solchen Werken sollte aber gerade nicht die Gerechtigkeit vor Gott gesucht werden, wie auch an dieser Stelle des Tractats noch einmal eindringlich betont wird. Dies geschehe vielmehr in den falschen Gottesdiensten und Bräuchen der Heuchler. Sie seien die bösen Bäume, die keine guten Früchte hervorbringen könnten (nach 179 Ebd. – ,Wenn wir was Gutes tun, kommt unsere eitle Ehre, unser Vorteil und Nutzen und anderer Teufelsdreck unserer bösen Lüste dazu, so daß wir uns unserer Guten Werke nicht rühmen können, auch wenn wir noch so viele Gute Werke tun.‘ 180 Ebd.; S. 26. – Übertragung: ,Darum lehrt Christus die Christen auch Gute Werke (Lk 6,27 ff.), daß sie was Gutes tun sollen, wie die lieben Kinder Gottes, daß sie gute Früchte bringen, nun da sie aus Gnade in Christo gute Bäume geworden sind [nach Mt 7,17 f.]. Denn die Ungläubigen können keine Guten Werke tun, und wären sie noch so heilig.‘ 181 Ebd. – Übertragung: ,Urteilt nicht über andere Leute, verdammt nicht, gebt, vergebt. Das sind die rechten Guten Werke, die Christus so gut gefallen, daß er aus Gnade seine Zusage dranhängt und sagt, daß er solche Werke so belohnen will: So werdet ihr auch nicht gerichtet. So werdet ihr auch nicht verdammt. So wird euch auch gegeben. So wird euch auch vergeben.‘
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Mt 7,17–19 par). Die guten Christen als gute Bäume, die gute Früchte hervorbrächten, könnten sich auf die Qualität ihrer Werke keineswegs verlassen und davon keinerlei Vergebung erhoffen, „welck doch nicht vorgevinge kan heten, wenn ick se vordenen schal“182. Sie handeln auch weiterhin als Sünder. Der eschatologischen Dimension tätiger Nächstenliebe entsprechend, kann auch im Braunschweig-Wolfenbütteler Tractat die vielzitierte Weltgerichtsrede Christi (Mt 25) nicht fehlen, denn gerade sie verdeutlicht, daß die Werke der Barmherzigkeit auf Christus selbst gerichtet sind, der sie am Ende aller Tage zum Maßstab seines Urteils machen wird. Fünf Aspekte dieses Textes werden in einer ausführlichen Exegese noch einmal hervorgehoben. Erstens würden die Kinder Gottes, die sich barmherzig gezeigt hätten, von Christus gerecht genannt (Mt 25,37). Gerechtfertigt seien sie aber nur aus Gnade und könnten sich als Sünder ihrer Gerechtigkeit nicht rühmen. Zweitens gelte dasselbe von den Worten „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters“ (Mt 25,34). Dieser Segen sei gerade nicht Ergebnis der Werke, sondern der Gnade Gottes. Drittens werde den Kindern Gottes nicht das Reich gegeben, das sie mit ihren Werken erwirkt hätten, sondern das ihnen „bereitet ist vom Anbeginn der Welt“ (Mt 25,34) und damit unabhängig von ihren Werken, aus Gnade. Aus den Worten Christi, daß die Werke der Barmherzigkeit ihm selbst getan worden seien (Mt 25,40), gehe viertens hervor, daß solche Werke im Glauben an Christus geschehen, nicht um der Selbstrechtfertigung willen. Fünftens schließlich hätten die Gerechten ihre Werke längst wieder vergessen („Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen?“ Mt 25,37) und können sie sich daher kaum selbst zugutehalten; „dat is jo ein klar teken, dat se dörch de werke nicht ere gerechticheit und salicheit hebben gesocht.“183 Aus der Exegese werden anschließend Folgerungen für konkrete Werke abgeleitet. Unter ihnen ist besonders ein leidenschaftlicher Aufruf zur Unterstützung der Prediger und Schullehrer bemerkenswert: Wenn Christus schon die Werke für die geringsten Brüder hochachte, um wieviel mehr müßten dann die Lehrer und Prediger des Evangeliums, die gewiß nicht zu den geringsten gehörten, der Ehre wert sein und auch angemessen unterstützt werden. Es sei eine große Sünde, daß zur Zeit an etlichen Orten die Prediger so große Not leiden müßten, daß sie das Amt nicht mehr versehen könnten. Bisher sei in falschen Gottesdienst soviel Geld investiert worden; jetzt aber gebe niemand etwas für den rechten Gottesdienst, geschweige denn für die ganz Armen. Angesichts der existentiellen Bedeutung, die das wiederentdeckte Evangelium für den Einzelnen hätte, sei es geradezu undankbar, die Diener am Wort nicht angemessen zu versorgen. Das gelte generell 182 Ebd.; S. 28. – Übertragung: ,… die doch nicht Vergebung heißen kann, wenn ich sie verdienen muß‘. 183 Ebd.; S. 31. – Übertragung: ‚… das ist ja ein klares Zeichen, daß sie durch ihre Werke nicht ihre Gerechtigkeit und Seligkeit gesucht haben.‘
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für die Opfergaben, die einst so verschwenderisch geflossen seien, heute aber zurückgehalten würden.184 Aufs Ganze gesehen, müssen abschließend drei Charakterzüge des Tractats von rechten guden Werken der Kinder Gades in besonderer Weise hervorgehoben werden, die eindrücklich die theologische Entwicklung seit dem Sendbrief an die Hamburger dokumentieren: Auffällig ist zunächst das besondere Gewicht der Gotteskindschaft, das bereits im Titel zum Ausdruck kommt. Wenn der vom Gesetz erschreckte und auf seine Erlösungsbedürftigkeit hingewiesene Sünder dem Evangelium glaubt, Sündenvergebung erlangt und ein Kind Gottes geworden ist, ist er auch in den Stand gesetzt, seinem Beruf und seinen Fähigkeiten entsprechend, wahrhaft Gute Werke tun zu können, gut vor Gott und den Menschen. Dieser Gedankengang wird im Tractat auf beinahe stereotype Weise wiederholt.185 Unmittelbar hängt damit zweitens die ausgesprochen optimistische Interpretation des Gesetzes zusammen, das den Kindern Gottes eine Richtlinie ihrer Guten Werke sein kann. Vermutlich als Folge von Bugenhagens Vermittlungstätigkeit im ,ersten‘ Antinomistischen Streit 1537–1540 ist hier eine theologische Mittelposition repräsentiert, die sich einerseits von Luthers Konzept eines duplex usus legis emanzipiert und einen dritten, praktisch-theologischen Gebrauch akzeptiert, anderseits aber auch gegen eine antinomistische Marginalisierung des Gesetzes deutliche Signale setzt. Das kommt Bugenhagens Interesse an der konkreten Nächstenhilfe und einer nachdrücklichen Motivation zu solchen Werken sehr zugute. Drittens fällt auf, wie energisch dem Leser des Tractats die theologischen Grundkoordinaten christlicher Kirchenordnung eingeschärft werden. Zum Mittel der beständigen Wiederholung von Lehrsätzen kommt ein auffällig polemischer Ton gegen die falschen und erdichteten Gottesdienste der altgläubigen Gegner hinzu. Bekanntlich war die Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung nach der militärischen Einnahme des katholischen Fürstentums durch den Schmalkaldischen Bund erlassen worden und bedurfte als Zwangsmaßnahme deshalb einer besonders stabilen Absicherung gegen ihre Gegner. Polemik und theologische Gründlichkeit entsprechen dabei den zwei typischen Faktoren bei der Herausbildung konfessioneller Gruppenidentität, nämlich der Abgrenzung nach außen und der Konsolidierung nach innen.186 b. Zum systematischen Ort der Fürsorgebestimmungen in den Kirchenordnungen Zu Bugenhagens Fürsorgemotivation gehört von vornherein, daß die Hochschätzung der praktischen Nächstenhilfe sich bereits durch einen prominenten Stellenwert der Fürsorgebestimmungen in seinen Kirchenordnungen manifestiert. Im 184
Vgl. ebd.; S. 33. Vgl. ebd.; S. 24, 26, 28, 32, 35, 36 et passim. 186 Vgl. z. B. Reinhard 1983; S. 262 et passim. 185
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Laufe der Zeit intensivierten sich seine Bemühungen, diese Position der Fürsorge innerhalb der Neuordnung eines Gemeinwesens theologisch unanfechtbar zu machen. Seine älteren Ordnungswerke aus der Phase der Stadtreformationen beginnen in der Regel noch mit einer Aufzählung ihrer organisatorischen Aufgaben. „VOr alle sint dre dinck alse ndich angesehen“, so hebt die Braunschweiger Ordnung an: „Dat erste / gude scholen vp torichten vor de kindere. Dat andere / predikere de Gades wort reyn dem volke vordragen / antonemen ock latinische lectien vnde vthleginge der hilgen scrifft / vor de gelrden to vorschaffen. Dat drudde / gemeyne Casten antorichten mit kerken guderen vnde anderen gauen / dar vth sulke vnde andere kerken dnste erholden / vnde der armen notrofft werde geholpen.“187 Erst danach werden in einem neuen Absatz die Zeremonien angesprochen. Bereits die Vorrede zur Braunschweiger Ordnung hatte dem Leser gleich im ersten Satz die Dringlichkeit dieser drei Aufgaben und ihre logische Verknüpfung vor Augen geführt: „IN disser ordeninge synt vpgerichtet gude Scholen / de leyder allerwegen voruallen edder nicht i rechte gebruke sint / de me doch mt hebben vor de iget / Ock bestellet in allen kerken gude predigere des Euangelii / de me mt hebben / wo kne wy anders Christen syn? Is id uers ntlik sulke dnste in den Scholen vnde kerken to hebben / so is id ock ntlick reddelik vnde Gotlik / alse Christus secht / dat eyn arbeydes man synes lohnes werdich sy / Daru vnde ock vor de armen vnde notrofftigen synt vpgerichtet de gemeynen Casten. Wente den arbeyderen nicht geu ren lohn / were vnchristlik / vnde is io ein ringe / dat wy den tidlike nringe vorsorgen / de vns dat geistlike seyen. Vnde wat wy den ringesten Christi ankeren / des wert Christus to iungesten dage gedenken / alse em suluest angekeret.“188 Die drei Hauptziele der Kirchenordnung, nämlich das Schulwesen wieder aufzurichten, die Anstellung guter Prediger zu regeln und eine Gemeindekasse zur Versorgung der Mitarbeiter und der Bedürftigen zu installieren, werden ohne Umschweife als christliche Kernaufgaben vorgestellt. Dabei wird die dritte Anforderung, die Be187 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 6. – Übertragung: ,Vor allem werden drei Dinge als notwendig angesehen: Erstens, gute Schulen für die Kinder einzurichten. Zweitens, Prediger anzunehmen, die Gottes Wort rein dem Volk vortragen, und auch lateinische Vorlesungen und Schriftexegese für die Gelehrten zu beschaffen. Drittens, Gemeine Kästen anzulegen mit Kirchengütern und weiteren Spenden, aus denen solche und andere Dienste der Kirche erhalten und der Bedürftigkeit der Armen abgeholfen werden können.‘ 188 Ebd.; S. 3. – Übertragung: ,In dieser Ordnung sind gute Schulen eingerichtet, die leider überall verfallen oder nicht im rechten Gebrauch stehen, die man aber für die Jugend haben muß. Auch sind darin gute Prediger in allen Kirchen angestellt, die wir haben müssen – wie könnten wir sonst Christen sein? Ist es aber nötig, solche Dienste in den Schulen und Kirchen zu haben, so ist es auch nötig, redlich und göttlich, wie Christus sagt, daß ein Arbeiter seines Lohnes wert sei. Darum und auch für die Armen und Bedürftigen sind die gemeinen Kästen eingerichtet. Denn den Arbeitern nicht ihren Lohn zu geben, wäre unchristlich, und es ist ein geringes, daß wir denen zeitliche Verpflegung zukommen lassen, die uns die geistliche säen. Und was wir den geringsten (Brüdern) Christi zuwenden, dessen wird Christus am Jüngsten Tag gedenken als etwas, das ihm selbst zugewandt wurde.‘
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soldung der Prediger und Lehrer, aus der Notwendigkeit der ersten beiden abgeleitet und zusätzlich mit einem Jesuswort (Lk 10,7) untermauert, das bereits von Paulus für eine erste Gemeindeordnung adaptiert worden war (1 Tim 5,18). Daß auch gleich zu Beginn der Ordnung die Zusage Christi nicht fehlt, am Ende der Tage werde er die Werke an den Schwächsten als Dienst an ihm selbst anerkennen (Mt 25,40), braucht kaum betont zu werden. So hat Bugenhagen in einer doppelten Reihung gleich am Eingang seiner ersten Kirchenordnung unmißverständlich diejenigen Posten benannt, auf die im Zuge einer kirchlichen Neuorganisation keinesfalls verzichtet werden kann. Der Umstand, daß hierzu die Armenfürsorge gehört und selbstverständlich zusammen mit der Besoldung der Mitarbeiter durch die Neuorganisation einer Gemeindekasse erfüllt werden soll, verdient besondere Beachtung. Ferner sei bereits an dieser Stelle auf Bugenhagens universelles Diakonieverständnis hingewiesen: In der Einleitung zum Braunschweiger Abschnitt Van den gemeynen Casten der armen heißt es: „Aller notrofft liues vnde der selen vnser brder se syn ryck edder arm / schole wy / so vele an vns is / en to troste gerne annmen. Ouers hyr segge wy nu alleyne von notrofft der armen lde de neyn gelt hebben“189. Da sich der Abschnitt ausschließlich mit der finanziellen Seite der Armenfürsorge befaßt, und auch die Reduktion auf die armen Leute erklärungsbedürftig ist, scheint die prägnante Formel hier notwendig zu sein, um dem Leser eine Ahnung von der Vielfalt der möglichen Hilfestellungen eines Christen an seinem Nächsten zu geben und ihn zu ermahnen, die übrigen Aufgaben selbst nicht zu vergessen. Die Formel ist bereits an der entsprechenden Stelle der Hamburger Ordnung wieder fortgefallen190, doch in der Pommerschen Kirchenordnung gehört zu den Dienstaufgaben der Pfarrer und ihrer Prediger neben den Gottesdiensten mit Wort und Sakrament auch, daß sie „dat volck recht vnterwisen / mit leren / straffen / trsten vnde stercken / die krancken vlitich besken / mit dem worde Gades starcken / vnde sonderlick darup seen / dat arme nottrofftige lde vorsorget werdenn.“191 Damit klingt die Vielfalt leiblicher und geistlicher Barmherzigkeit, wie sie durch Thomas von Aquin systematisiert worden war, sicher nicht zufällig wieder an.192 Alle diese Aufgaben sind in Bugenhagens Kirchenordnungen berücksichtigt. Der Eingang der Hamburger Ordnung weicht in der Anlage von der ersten ab, nicht aber in der Haltung: Hier sind die Zeremonien an erste Stelle gerückt, mit denen insbesondere das einfache Volk und die Kinder unterwiesen werden kön189 Ebd.; S. 136. – Übertragung: ,Aller Not an Leib und Seele unserer Brüder, ob sie reich oder arm sind, sollen wir uns, soviel an uns ist, gerne annehmen. Doch hier ist jetzt nur die Rede non der Not der armen Leute, die kein Geld haben.‘ 190 Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 210–211 mit Anm. 282. 191 Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 83. – Übertragung: ‚… das Volk recht unterweisen mit Lehren, Strafen, Trösten und Stärken, die Kranken fleißig besuchen, mit dem Wort Gottes stärken und besonders darauf sehen, daß arme, bedürftige Leute versorgt werden.‘ 192 Vgl. oben S. 79 f. und Thomas von Aquin: ST h II –II ; q. 32, a. 2, 1.
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nen. Daran schließt sich der generelle Wunsch an, „dat me vor de jöget wolde sorgen mith guden Scholen / vnde vor de armen lüde / besonderegen vor de huß armen vnde vorlathenen wedewen vnd weisen / mit aller notrofft.“193 Die Lübecker Ordnung leitet die wichtigsten Aufgaben der kirchlichen Neuorganisation erst her und resümiert dann knapp das Ergebnis: „Summa. Scholen / predikere vnd de armen mten yn desser gůden Stadt versorget syn.“194 Die Armenfürsorge wird bereits an dieser Stelle als wahrer Gottesdienst charakterisiert, den Christus am Jüngsten Tag wertschätzen wolle (Mt 25,40). Zusätzlich wird gerade von diesem Teilbereich der Kirchenordnung eigens gesagt, daß er nicht zur Disposition stehe: „dat kan neyn Christene minsche straffen He wolde den aller redelicheyt vergeten hebben / vnn neyn pawest edder Concilium mach dath anders maken.“195 Der Pommerschen Kirchenordnung fehlt eine entsprechende Vorrede, die den Aufbau und die anstehenden Aufgaben erläutern könnte. Sie unterscheidet aber ebenfalls drei Teilaufgaben: Predigtamt (mit Schulwesen), Gemeinen Kasten und Zeremonien. Damit gehörte auch in Pommern die Armenversorgung durch einen Gemeinen Kasten zur obersten Ordnungsebene. Mit der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz und der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung kommt für unser Interesse ein neuer Aspekt hinzu: Beiden Büchern ist der von Bugenhagen verfaßte Königsbrief Christians III. vorgeschaltet, der zweierlei Ordnungen unterscheidet, eine göttliche und eine menschliche.196 Eine ähnliche Aufteilung kannte auch die Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung, nämlich einen unmittelbar göttlichen und einen mittelbar christlichen Aspekt.197 In allen Fällen dient die zweite Ordnung der ersten, ist aber nach Lage der Dinge veränderlich, während sich Gottes Ordnung jedem Zugriff entzieht: „Concilia aut humanae ordinationes hic nihil possunt contra ordinationem diuinam“198, lautet die Verwahrung in der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz. Die Stelle erinnert an das zitierte Verdikt der Lübecker Ordnung. Von größter Bedeutung ist nun, daß die Armenfürsorge hier stets der göttlichen Ordnung zugerechnet wird, nicht den veränderlichen Menschensatzungen: So gibt Christian bekannt, „volumus verbum Dei / id est / Legem et Euangelium syncere predicari / Sacramenta recte tradi / pueres doceri vt maneant in Christo qui in Christum 193 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 6. – Übertragung: ‚… daß man für die Jugend sorgen wolle mit guten Schulen – und für die armen Leute, besonders für die Hausarmen und verlassenen Witwen und Waisen, mit allem Notwendigen.‘ 194 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 15. – Übertragung: ,Summa: Schulen, Prediger und die Armen müssen in dieser Stadt gut versorgt sein.‘ 195 Ebd. – Übertragung: ,Das kann kein Christenmensch tadeln, er wollte denn alle Redlichkeit vergessen, und kein Papst oder Konzil kann kann ändern.‘ 196 Vgl. oben S. 41. 197 Vgl. Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 22. – Skarsaune 1991; S. 50 u. 66 f. 198 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 6. – Übersetzung: ,Konzilien oder Menschensatzungen vermögen nichts gegen die göttliche Ordnung‘. – Vgl. zum Konzilsgedanken in Bugenhagens Kirchenordnungen überdies Skarsaune 1991; S. 72–74.
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sunt Baptizati / curari pro victu ministrorum Ecclesiae et Scholarum et pro pauperibus / Non est nostra ordinatio / sed per hoc obsequimur ordinationi Christi domini nostri“199. Neben dem christlichen Gottesdienst, der hier übrigens mit deutlichem Bezug auf die Confessio Augustana200 von 1530 charakterisiert wird, neben Schulen und der Versorgung der Mitarbeiter gehört die Armenfürsorge unverrückbar in den Bereich der göttlichen Ordnung. Diese steht, so möchte man für die heutige Kirche hinzusetzen, nicht zur Disposition und gehört nicht unter die Rotstifte der Synoden. Der Königsbrief Christians III. spricht übrigens auch die Rolle der Guten Werke an. In dieser Passage ist die starke Betonung der Gotteskindschaft und der zehn Gebote als ethische Richtlinie für die christliche Lebenspraxis bereits vorgeprägt, die wenig später im Braunschweig-Wolfenbütteler Tractat von rechten guden Werken der Kinder Gades zum Ausdruck kommen sollte, doch hier noch längst nicht mit solcher Intensität. Bereits hier ist die Rede von der Versöhnung mit Gott durch das Evangelium, die uns zu Kindern Gottes mache. Als solche vollbrächten wir den wahren, in den ersten drei Geboten angeordneten Gottesdienst in Bekenntnis und Gebet, in Lehre und Gehorsam gegen Gott. Daneben „wert vns ock gelert van guden wercken / vnde einem Christliken luende / van der gedult / van dem Crtze / van dem gehorsam der Avericheit / vnde dat de Christen allene ein gesette hebben. Alse de Leue / dardorch ein yeder na syner esschinge denet andern lden / vnde ys gewisse / wat he also andern deit / dat he dat Christo suluest gedan hefft. Wolde Godt dat wy solcke frchte bequemlick vnde tho syner tidt herur bringen knden.“201 Vorbereitet ist hier bereits die Gotteskindschaft, vorbereitet die handlungsleitende Funktion der Gebote für die Kinder Gottes, vorbereitet auch der Wunsch, „dat wy sölcke gude früchte als gude böme edder de leven kinder Gades könden bequemelick tho syner tydt hervorbringen, Gade 199 Ebd. – Übersetzung: ,Wir wollen, daß das Wort Gottes, nämlich Gesetz und Evangelium, lauter gepredigt werde, die Sakramente recht verwaltet werden, die Kinder gelehrt werden, damit bei Christus bleiben, die auf Christus getauft sind, für die Verpflegung der Kirchendiener und Schullehrer und der Armen gesorgt werde. Das ist nicht unsere Ordnung, sondern damit befolgen wir die Anordnung Christi, unseres Herrn.‘ – Vgl. Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 12. – Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: BraunschweigWolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 23. 200 „Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.“ BSELK (51960); S. 61. – Übersetzung: ,Die Kirche ist die Versammlung der Heiligen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die Sacramente recht verwaltet werden.‘ 201 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 21. – Übertragung: ‚… wird uns auch gelehrt von Guten Werken und einem christlichen Leben, von der Geduld, vom Kreuz, vom Gehorsam zur Obrigkeit, und daß Christen nur ein Gesetz haben, nämlich die Liebe, durch die jeder nach seinem Stand und Vermögen anderen Leuten dient und gewiß ist, daß er das, was er so den anderen tut, Christus selbst getan hat [Mt 25,40]. Wollte Gott, daß wir solche Früchte, wenn es an der Zeit ist, hervorbringen können [nach Mt 7,17 f.].‘ – Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 8.
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tho eheren, de solcks van uns mit synen tein gebaden fordert und unsem negsten tho denste, de solcks wol bedarf “202. Diese Beobachtung und der Blick auf die systematische Lokalisierung der Fürsorgebestimmungen in den einzelnen Kirchenordnungen zeigen deutlich, daß Bugenhagen seine Konzepte beständig weiterentwickelt und ausgebaut hat. Von Anfang an rechnete er die Armenfürsorge zum unverzichtbaren Grundbestand der kirchlichen Organisation. Die selbstverständliche Aufzählung der anstehenden Aufgaben zu Beginn der Braunschweiger Ordnung reicherte er jedoch von Mal zu Mal mit umfangreicheren Herleitungen an. Ab 1537 konnte er durch das Konzept einer „duplex ordinatio“203 die Armenfürsorge als Teil der Anordnung Gottes lokalisieren und den damit verbundenen Bestimmungen auf diese Weise zu einer theologisch stabilisierten Unverletzlichkeit verhelfen, mit der der rasche und teilweise hohe Finanzierungsbedarf gerade dieser Aufgaben leichter verteidigt werden konnte.204 Dies konnte sich als wichtig erweisen, wenn etwa die Rechtsinhaber oder Verwalter liegenden Stiftungskapitals davon überzeugt werden mußten, nach der Erledigung der ursprünglichen Stiftungszwecke die Gelder nicht einzustreichen, sondern wieder in die Fürsorge zu investieren, die nun als wahrer Gottesdienst gelten konnte. Hierzu paßt die Entwicklung von Bugenhagens Theologie der Guten Werke. Sie strebte vom Ende der dreißiger Jahre verstärkt auf eine praktisch-theologische Anwendung der Gebote zu, die die Kinder Gottes als wahren Gottesdienst begreifen könnten. Das im Königsbrief von 1537 und 1542 noch eher beiläufig angedeutete Modell hat Bugenhagen dann für die Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung von 1543 zu einem umfangreichen Traktat ausgebaut. c. Biblische Argumentation Bugenhagen hat also die ungebrochene Relevanz der Guten Werke verteidigt und in diesem Rahmen der Fürsorge einen prominenten Platz verschafft. Welcher biblischer Aussagen bediente er sich? Hierfür bietet sich eine Orientierung an der Braunschweiger Ordnung an, auf deren theologische Ausführungen in späteren Kirchenordnungen bisweilen ausdrücklich zurückverwiesen wurde.205 Die dort gemachten Aussagen hatten für Bugenhagen also prototypische Geltung und brauchten deshalb nicht jedesmal wiederholt zu werden. Zwar wurde in der Ham202 Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 25. 203 Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 6. 204 Nur am Rande sei in diesem Zusammenhang Ernst Wolfs scharfsinniger Hinweis auf Bugenhagens Hang zum Imperativ aufgegriffen, zu apodiktischen Forderungen: „man braucht, es ist nötig, dann kann man …“. Vgl. die Zusammenstellung solcher Beispiele bei Wolf 1935 (21962); S. 272 f. 205 Vgl. etwa Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 214. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 142 und 163.
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burger Ordnung auch naturrechtlich argumentiert, insofern Hilfe an Bedürftigen auch bei den Heiden selbstverständlich sei und umso mehr den Christen durch ausdrücklichen Befehl des göttlichen Rechts aufgetragen sei206; aber der Schwerpunkt lag doch in allen Kirchenordnungen auf der biblischen Argumentation. In der Braunschweiger Ordnung knüpft der Abschnitt Van den gemeynen Casten der armen ohne Umschweife an die Theologie der Guten Werke an: „Wille wy Christene syn / so mte wy io dat in der frucht bewisen“207. Die aus dem Matthäusevangelium (Mt 7,16–20 par und Mt 12,33 par) entlehnte Baum-FruchtMetapher, die nach der Lektüre von Luthers Freiheitsschrift in Bugenhagens früher Theologie stark rezipiert worden war208, findet sich in den Kirchenordnungen nur noch relativ selten und dann eher, wie auch im Kolosserbrief (Kol 1,10), auf das Gute Werk als Frucht des Glaubens beschränkt.209 Gott werde diejenigen nicht verachten, so fährt der Abschnitt fort, die den falschen Gottesdienst verließen, um sich dem wahren zu widmen, der von Christus befohlen sei: „Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,35)210. Aller Nöte unserer Brüder sollten wir uns also gern annehmen, doch sei jetzt nur von Armenfürsorge die Rede. Verpflichtet seien hierzu besonders die Reichen (nach 1 Tim 6,17–19)211 und diejenigen Handwerker, denen Gott Erfolg gegönnt habe, damit sie den Bedürftigen davon abgeben könnten (nach Eph 4,28). Daß Arbeit nicht nur zur eigenen Ernährung von Gott geboten sei, sondern auch zum Teilen mit den Bedürftigen, war schon im Sendbrief an die Hamburger aus dem Epheserbrief abgeleitet worden.212 Eine deutliche Mahnung an die Reichen hingegen, wie sie im ersten Timotheusbrief und im Matthäusevangelium (Mt 6,24 par) ausgesprochen ist, findet sich auch in der Lübecker Ordnung („dat se ehre gelt edder Mammon nycht laten syn ehren God“213) und positiv als Aufforderung, in Werken mildtätig und reich zu sein, statt den Sammelbeutel mit nur einem Pfennig oder Scherflein weitergehen zu lassen, in der Pommerschen Kirchenordnung.214 Dies sind also die zuerst
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Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 210. Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 135. – Übersetzung: ,Wollen wir Christen sein, müssen wir das auch in der Frucht beweisen‘. – Ähnlich ebd.; S. 138. 208 Vgl. oben S. 134. 209 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 8. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 21. – Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: BraunschweigWolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 25. 210 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 135. – So auch ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 212. 211 Vgl. ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 136. 212 Vgl. ders.: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. K4 r°. Ders.: dass. (1867); S. 163 f. 213 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 10. – Übertragung: ,daß sie ihr Geld oder Mammon nicht zu ihrem Gott werden lassen‘. – Vgl. auch ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 138. 214 Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 114. 207
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Angesprochenen. Wie auch im Sendbrief von 1526, so werden diese Gruppen mit Nachdruck davor gewarnt, durch Ignoranz dem Teufel Ruhm zu geben.215 Wie wird das Engagement der Besitzenden nun positiv motiviert? Wohltätigkeit zahlt sich einmal aus: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7), so wird aus der Bergpredigt zitiert.216 Ferner: „Geuet so wert iw wedder gegeuen ouerulodich [Lk 6,38] / dat gy ock gench hebben nach de liue mit guder vnde froliker conscientien / welk ock Salomon also secht. Wer sick erbermet des armen de wokert mit de HEREN [Spr 19,17] / Dat is eyn hillich woker vnde grt vordel / wen wy id lueden / Ouers nmand hefft dar lust to.“217 Zwei kurze Bemerkungen zu dieser Stelle. Bugenhagen hat die Wiedervergeltung durch Gott aus den Sprüchen Salomos als „woker“, als Wucher mit Gott übersetzt. Das war für die Zeitgenossen ein Reizwort. Luther hatte seit 1519 in mehreren Schriften218 gegen die Praxis des Zinsnehmens protestiert, und zwar gerade aus Gründen der Nächstenliebe im christlichen Gemeinwesen, denn Christus verlange, daß dem Nächsten umsonst geholfen werde (etwa Lk 6,30–35). Zwar verbot das kanonische Recht den Wucher generell, doch hatten sich die Interpretationsspielräume im wirtschaftlich florierenden Spätmittelalter stark ausgeweitet, so daß das Thema auf allen Seiten lebhaft diskutiert wurde.219 Bugenhagen nahm mit dieser Übersetzung also ein negativ konnotiertes Stichwort auf und eröffnete dem Leser seine evangelische Alternative: eine Investition in die Nächstenfürsorge als Wucher mit Gott. Das sündhafte Zinsgeschäft wird durch ,heiligen Wucher‘ ersetzt. Die rhetorische Strategie entspricht der Alternative von erdichtetem und wahrem Gottesdienst, die Bugenhagen zur Motivation der Guten Werke häufiger anführte.220 Zweitens ist darauf zu achten, daß die Gaben in den zitierten Stellen nicht vordergründig materiell vergolten werden. Bugenhagens Zusatz zu der Stelle aus dem Lukasevangelium eröffnet vielmehr die Aussicht, als Geber immer noch genug, aber mit freiem und fröhlichem Gewissen, besitzen zu dürfen. In der Lübecker Ordnung wird einmal gefordert, „dat wy ock vorsorgen de rechten armen / alse wy gerne wolden dat me vns yn vnsen nde scholde tho hlpe kamen“.221 Diese Variante der Goldenen Regel (Mt 7,12) braucht sich ebenfalls nicht nur auf 215 Vgl. ders.: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. c1 r°. Ders.: dass. (1867); S. 261 f. – Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 138. 216 Vgl. ebd.; S. 138. 217 Ebd. – Übertragung: ,Gebt, so wird euch wieder überfließend gegeben (Lk 6,38), daß ihr auch leiblich genug habt mit gutem und fröhlichem Gewissen. Das sagt auch Salomon: Wer sich des Armen erbarmt, der wuchert mit dem Herrn (Spr 19,17). Das ist ein heiliger Wucher und großer Vorteil, wenn wir es glauben. Aber keiner hat dazu Lust.‘ 218 Vgl. oben; S. 99. 219 Vgl. Kloft 1997 sowie H[ans]-J[örg] Gilomen: Wucher, in: LMA 9 (1999 [b]); Sp. 341– 345. 220 Vgl. hierzu den folgenden Abschnitt. 221 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 12.
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die diesseitige Umkehrung der Verhältnisse zu beziehen. Maßgeblich war für Bugenhagen die Wertschätzung der Guten Werke vor dem Jüngsten Gericht. Dort würde es darauf ankommen, „was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt“ (Mt 25,40). Solcher Werke werde Christus am letzten aller Tage gedenken, keiner Heuchelwerke.222 Die Stelle wird in Bugenhagens Kirchenordnungen so oft zitiert223, daß sie nicht nur als locus classicus der Fürsorgemotivation gelten darf, sondern auch höhere Priorität beansprucht. Von der Weltgerichtsrede Christi her sind die übrigen Aussagen über die künftige Vergeltung Guter Werke zu interpretieren. Noch einmal zeigt sich, daß die eschatologische Bedeutung solcher Werke von den Reformatoren keineswegs aufgegeben wurde. Abgelehnt wurde indes eine gezielte Verdienstlichkeit, die Sicherheit versprach. Finanzstarke Bevölkerungskreise, die an solcher Heilssicherung am stärksten partizipiert hatten, waren hier also vorrangig angesprochen. Sie zu überzeugen, daß die bisherigen Maßnahmen nicht mehr notwendig zum Heil, ja daß ihr zielgerichteter Einsatz im Rahmen persönlicher Jenseitsvorsorge sogar schädlich wäre, war eine Aufgabe; ihnen jedoch zu plausibilisieren, daß auch weiterhin die Guten Werke am notleidenden Nächsten von Christus gefordert seien, und daß er sie gar am Ende der Tage zum Maßstab seines Urteils machen würde, eine andere. d. Vom Stiftungswesen zum Gemeinen Kasten Aus dem bisher Gesagten ergibt sich folgerichtig eins der schwerstwiegenden Probleme reformatorischer Fürsorgemotivation: Wie konnte gerade das Potential der Wohlhabenden künftig weiter für die Armen‑ und Krankenfürsorge genutzt werden, ohne daraus wieder ein heilsnotwendiges Werk zu machen? Dabei ging es beileibe nicht nur um die vordergründige Anwerbung von Kapital, sondern um eine seelsorgerliche Frage. Denn gerade den Reichen und Erfolgreichen gegenüber mußte plausibilisiert werden, daß sie auch ohne, ja gerade ohne die bisherigen Investitionen im Rahmen gezielter Jenseitsvorsorge doch ihre Erlösung erwarten könnten, daß gleichwohl ihr finanzielles Engagement auch weiterhin erforderlich wäre, wollten sie am Ende der Tage nicht doch zurückgewiesen werden. Zur tätigen Nächstenliebe um Gottes Willen waren zunächst einmal alle Christen nachdrücklich aufgefordert. Diese generelle Verpflichtung begegnete bereits in der Braunschweiger Ordnung: „Wille wy Christene syn / so mte wy dat in 222
Vgl. ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 67. Vgl. ebd; S. 3, 67, 136, 137, 138. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 108, 164. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 10, 12, 13, 138, 140. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 115. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 33, 46. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 122, 176. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542/1544 (1980); S. 878. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 29–31, 33, 76. 223
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der frucht bewisen / ga wy nicht v mit monnike tande vnde ertichte Gades dnste / dar vns Got nichts van beualen hefft / daru wert vns Gott nicht vorachten / so mte wy io v gn mit de rechten Gades dnste / dat is / mit rechten guden werken des louens / vns mit ernste van Christo beualen / nmelick dat wy vns annmen der notrofft vnser ngesten / alse he secht / Dar by scholen alle lde erkennen dat gy myne iungere synt / so gy iw manck eynander luen“ (Joh 13,55).224 Zuerst seien (nach 1 Tim 5,8.16) immer diejenigen zu versorgen, die uns in der Familie und unserer nächsten Umgebung von Gott anbefohlen seien. Die Lübecker Ordnung ergänzte, daß diese Versorgung der eigenen Leute eigentlich nicht in eine gedruckte Ordnung gehöre, sondern in die Predigt.225 Manche frommen Leute seien aber, so fuhr die Braunschweiger Ordnung226 fort, bereits mit der Not in der engsten Umgebung überfordert, während andere, die helfen könnten, nichts davon wissen wollten. Dem solle ein gemeiner Schatz abhelfen, wie in der Apostelzeit. Ein solches Verfahren, das auf Spenden beruhe, sei ausgezeichnet beschrieben im zweiten Korintherbrief (2 Kor 8–9).227 Gemeint ist die Kollekte für die Urgemeinde in Jerusalem, für die sich Paulus engagierte. Bugenhagen weist allerdings auch darauf hin, daß diese Aktion keinen rein karitativen Charakter hatte228: So solle heute gerade „nicht vor vns“ gesammelt werden „alse de ersten Christen to Hierusalem, de nichts gens wolden beholden“229. Besitzlosigkeit sei schließlich nicht geboten; das würden zwar die Mönche vorgeben, trügen aber gerade nicht das Ihre zusammen, sondern lebten stattdessen von fremdem Besitz. Vielmehr sei ein solcher Schatz für die Bedürftigen nötig, in den kleine und große Gaben hineinkämen, ohne daß es unserem eigenen Lebensunterhalt schaden müßte – im Gegenteil, mit einem Vorteil fürs Gewissen, denn „einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ (2 Kor 9,7).230 Von der organisatorischen Seite dieser Einrichtung soll weiter unten gesprochen werden.231 An dieser Stelle will ich in erster Linie zeigen, wie die Ablösung 224 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 135. – Übertragung: ,Wollen wir Christen sein, so müssen wir das in der Frucht beweisen. Gehen wir nicht mit Mönchstand und erdichtetem Gottesdienst um, wovon uns Gott nchts befohlen hat, wird er uns darum nicht verachten; dann müssen wir aber mit rechtem Gottesdienst umgehn, also mit rechten Guten Werken des Glaubens, die uns ernsthaft von Christus befohlen sind, nämlich, daß wir uns der Not unseres Nächsten annehmen, wie er sagt: Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt‘ (Joh 13,55). 225 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 10. 226 Vgl. ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912).; S. 138 f. 227 Vgl. ebd.; S. 138. 228 Das entspricht auch dem heutigen Forschungsstand. Vgl. Ulrich Luz: Biblische Grundlagen der Diakonie (hg. v. Günter Ruddat u. Gerhard K. Schäfer), in: Diakonisches Kompendium. Göttingen 2005, S. 17–35; hier 30. 229 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 139. – Übertragung: ,nicht für uns wie die ersten Christen in Jerusalem, die selbst nichts besitzen wollten‘. 230 Vgl. ebd. – Ähnlich ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 210–213. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 9–10. 231 Vgl. unten; S. 210 ff.
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der alten Jenseitsvorsorge durch einen Gemeinen Kasten theologisch plausibilisiert wurde. Das Grundproblem skizzierte Bugenhagen so: „Etlike varen hehr. Ick hebbe myn gelt gegeuen to der misse / to de Salue. etc. schal id nicht dar by bliuen so wil ick myn gelt wedder nmen.“232 Solche Leute müsse man sorgfältig aufklären, denn „velichte synt se nicht so bse alse se beren“233. Wer dann stur bleibe, den lasse man ziehen, Gott werde dazu keinen Segen geben. So könne mit seinem Teufelsdienst vielleicht sein ganzer Reichtum draufgehen; dann müßten er und seine Kinder selbst Not leiden. Gottes Segen aber mache reich, wie Salomon sagt (Spr 10,22). Es sei doch kein Wunder, wenn Gottlose nicht nur ihre Hilfe versagen, sondern dem rechten Gottesdienst sogar entgegenarbeiten würden. Befreit von der Schinderei durch Mönche und Pfaffen nicht einmal das Allergeringste Gott zu schenken, sei besonders undankbar – ganz zu schweigen von der übergroßen Gnade der Erlösung, für die wir eigentlich unser ganzes Gut hergeben müßten. Etliche klagten aber bereits, wenn sie die Vierzeitenpfennige zur Unterstützung ihrer Prediger geben sollten. Sie wären nicht wert, das Evangelium zu hören, sondern Lügen und Schinderpredigten wie zuvor. Sie wären auch nicht wert, daß ihnen in Nöten geholfen würde.234 Angesichts des finanziellen Erfolgs der teuren Heilsversicherungen und der Ordensarmut hatte Bugenhagen für die Weigerung kein Verständnis: Früher habe man den Mönchen so viel Getreide, Bier und andere Geschenke „to den vigilien slmissen vnde anderen missen vnde blerren / ane maten gegeuen / to allen hochtiden / doden / kynderdopen / apostel festen / Marien dagen vnde ander geoffert / gegeuen to bilden / tafelen / klocken / orgelen / so velen was lichten in der kerken vnde hsen. etc. Wy swigen der ewigen beneficien vnde memorien / broderschoppen / aflates breuen / hilgen reysen etc. To sulken dingen hedden de riken vele geldes / vnde ock eynne arme frawe / de sick der spille nrede gaff gerne dar to / wy swigen denne der andern. Nu ouers geleret wert vth Gades wrde / dat wy mit vnse glde neynen ander Gades dnst konen vth richten / wen dat wy dar mede den notrofftigen to hulpe kamen / besweret sick eyn yederman.“235 232 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 137. – Übertragung: ,Manche kommen so an: Ich habe mein Geld gegeben für diese Messe, für jenes Salve usw. Wenn es dabei nicht bleibt, will ich mein Geld zurück.‘ 233 Ebd. – Übertragung: ,vielleicht sind sie nicht so böse wie sie tun‘. 234 Vgl. ebd.; S. 137 f. 235 Ebd.; S. 137. – Übertragung: ,… zu den Vigilien, Seelmessen und anderen Messen und Plärren maßlos gegeben; zu allen Hochzeiten, Toten, Kindertaufen, Apostelfesten, Marientagen und anderem geopfert; gegeben für Stand‑ und Tafelbilder, Glocken, Orgel, so viele Wachskerzen in Kirchen und Häusern usw. Ganz zu schweigen von ewigen Benefizien und Memorien, Bruderschaften, Ablaßbriefen, heiligen Reisen usw. Für solche Dinge hatten die Reichen viel Geld, und selbst eine arme Frau, die sich von der Spindel ernährte, gab gern dazu, die anderen erst recht. Nun aber, da aus Gottes Wort gelehrt wird, daß wir mit unserem Geld keinen anderen Gottesdienst ausrichten können als damit den Bedürftigen zu Hilfe zu kommen, beklagen sich alle.‘ – Kürzer ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 115.
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Entscheidend war also die Alternative von falschem und evangeliumsgemäßem Gottesdienst: einst ein unnützer Gottesdienst, der nicht geboten war, von dem aber die vorgeblich armen Mönche und der prunkvolle Klerus am meisten profitiert hätten – jetzt ein wahrer Gottesdienst, der durch Christus angeordnet war und den einzelnen Bedürftigen ebenso nützlich sein würde wie dem ganzen Gemeinwesen, dabei aber weniger kostete. In der Pommerschen Kirchenordnung wurde vorgerechnet, der falsche Gottesdienst und die Bettelmönche hätten bislang so große Summen verzehrt, „alse vle dat / wenn wy nu aller meynst vnde vpt aller vlitigeste den armen geuen / vnde woldet mit dem vrigen rkenen / so ysset kum eyn vrken / yegen eynen guelden.“236 Der jetzige Bedarf an Einzelspenden sei also winzig im Vergleich zum Umsatz der vorreformatorischen Kirche. Dennoch wolle für den wahren Gottesdienst niemand geben, klagte Bugenhagen.237 Daß sich an den nutzlosen Heilsversicherungen trotz der vielen Ausgaben, die dabei zustandegekommen seien, jedermann beteiligt hätte, sogar die Minderbemittelten, wogegen nach Erledigung des alten Heilssystems selbst die Reichsten nicht einen Pfennig für den wahren Gottesdienst mehr geben wollten, war ein gewiß überzogenes, aber rhetorisch wirkungsvolles Paradoxon, dessen Bugenhagen sich häufiger bediente. Immer wieder griff er Seelmessen und Bettelmönchtum als zwei der finanzstärksten Einrichtungen des mittelalterlichen Heilssystems an. Poltergeister vom Teufel, also Wiedergänger aus dem Jenseits, hätten offensichtlich die Seelmessen erfunden, die von Gottes Wort nicht geboten, ihm vielmehr zuwider seien. „De doden ten vnde drinken dit sacramente nicht“238. Gott habe klar verboten, die Toten zu befragen und mit ihnen Kontakt aufzunehmen (Dtn 18,11; Jes 8,19). Was so offensichtlich dem Wort Gottes widerspreche, solle von Christen nicht gehalten werden, wenn auch alle Heiligen davon geschrieben hätten. Der Brauch wäre längst untergegangen, wenn er nicht „so grote pracht de prelaten / vnde vele geldes allen papen gebracht / vnde so vele vuler Monneke genret hedde“239 Auch die Einzelmessen, bei denen der Priester allein am Altar kommunizierte, habe vor allem die Altarpfründner reich gemacht, ohne weiteren Nutzen zu bringen: „Alle winkel missen vnde piler missen werden io geholden / dat de pape schal alleyne dar ten vnde drinken vnde driuen by sick suluest vele vnnuttes wunders / de ander scholen alleyne to sehn / vnde scholen id dar vohr holden dat id en to hulpe kumpt / ia ock den de dar nicht by synt / besundergen wen
236 Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 115. – Übertragung: ‚… so viel, daß, wenn wir jetzt ganz viel und ganz fleißig den Armen gäben, und man wollte es mit dem vorigen verrechnen, kaum ein Vierling gegen einen Gulden herauskäme.‘ 237 Vgl. ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 137. 238 Ebd.; S. 113. – Übertragung: ,Die Toten essen und trinken dieses Sakrament nicht.‘ 239 Ebd. – Übertragung: ‚… den Prälaten so große Pracht und den Pfaffen viel Geld gebracht und so viele faule Mönche genährt hätte.‘
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se gelt dar to gegeuen hebben“240 So hätten die Geistlichen bislang nur an ihren Bauch gedacht und durch die lukrative Heilsverkündigung in die eigene Tasche gewirtschaftet. Doch „Buckpredikent wylle wy nycht mheer hebbenn / Dathme auersth prediket den Armen tho gude / ys eynn deensth vnnßes herenn Jhesu christj alße thouorne gheßecht ys.“241 Was einmal im festen Glauben daran, damit für das eigene Seelenheil vorzusorgen oder den Armen Seelen im Fegfeuer Linderung zu verschaffen, als Stiftung oder in Einzelbeträgen für die Jenseitsvorsorge ausgegeben worden war und damit die Versorgung von Altarpriestern oder Bettelmönchen sichergestellt hatte, sollte also künftig besser in den wahren Gottesdienst, in die Hilfe an Notleidenden investiert werden. In der Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung242 beeilte sich Bugenhagen übrigens, die Vorfahren in Schutz zu nehmen: „se hebbent jo gut gemeint“! Das konnte den Ärger über deren Fehlinvestitionen bei evangelisch gewordenen Einwohnern vielleicht dämpfen. Doch der Hinweis war existenzieller Art: Hatten die Voreltern einst falsche Wege eingeschlagen und sich in vergeblicher Heilserwartung ihre Erlösung verscherzt, so stand ein Wiedersehen im Jenseits außer Reichweite, und die verwandtschaftlichen Beziehungen wären geradehin gekappt. Bugenhagen dagegen fand eine Möglichkeit, schon die gute Absicht der alten Stifter zu würdigen, ohne sich auf eine theologisch differenzierte Auskunft über deren Anerkenntnis am Ende aller Tage festzulegen. Vielleicht wirkte hier noch seine Treptower Theologie nach, wo es ihm ja mehr auf den guten Willen des Einzelnen ankam als auf die tatsächlich geleisteten Werke.243 Auch in der Hamburger Ordnung empfahl er nun mit vorsichtiger Relativierung, „Dath also de güdere / de vth guder andacht / wo wol ynn vnwetenheit / to Gades denste gegeuen sint / vnde andere almissen vnde framer lüde milde gauen / nhu mochten thom rechten Gades denste […] gewendet werden“244. So sei es bei den frühen Christen Brauch gewesen, als es noch rechte Bischöfe und Diakone gab, bevor „de Misse papen grote vnde kleine / sick vnder dem namen der Prestere jndrengeden / vnde stelen vnde roueden / mit gruweliken lögen / allent wat se van Försten / herenn / börgeren / buren / wedewen / ock van den de yd mit der 240 Ebd.; S. 114. – Übertragung: ,Alle Winkelmessen und Pfeilermessen werden ja so gehalten, daß der Pfaffe da allein essen und trinken soll und dabei viel unnützes Wunderzeug treibt. Die anderen sollen bloß zusehen und glauben, daß es ihnen zugute kommt – ja auch diejenigen, die nicht dabei sind, besonders, wenn sie dafür Geld bezahlt haben.‘ 241 Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 214. – Übertragung: ,Bauchpredigten wollen wir nicht mehr haben. Daß man aber den Armen zugute predigt, ist ein Dienst an unserem Herrn Jesu Christi, wie oben gesagt wurde.‘ 242 Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 77. – Übertragung: ,Sie haben es ja gut gemeint‘. – So auch Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542/1544 (1980); S. 878. 243 Vgl. oben; S. 117–121. 244 Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 6. – Übertragung: ,Daß also die Güter, die in guter Absicht, aber aus Unwissenheit, zum Gottesdienst gegeben wurden, und andere Almosen und frommer Leute milde Gaben nun zum rechten Gottesdienst gewendet werden.‘
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spille vordeneden / auerkamen konden. Dat closter volck hefft ydt ock seer wol geleret / doch dat me jd nicht mercken scholde / so laueden se armot“245. Auch hier verbindet sich die Kritik an der selbstgewählten Arbeitslosigkeit der Bettelmönche und der durch Altarpfründen versorgten Meßpriester mit der Empfehlung, den geheuchelten Gottesdienst künftig mit demselben Engagement in wahren Gottesdienst am Nächsten umzuwandeln. Der Unterschied zu Bugenhagens früher Apologie des frommen Stiftungswesens in seiner Pomerania von 1518 könnte übrigens kaum größer sein. Dort hatte er diese reichen Investitionen für die pommerschen Klöster noch gegen ihre Kritiker verteidigt mit der Wendung, daß die fürstlichen Vorfahren „omnia pro Christo dederunt pauperibus“246, sie hätten alles um Christi Willen den Armen gegeben! Mit der größten Selbstverständlichkeit konnte er damals voraussetzen, daß die pommerschen Mönche und Nonnen als ,pauperes Christi‘ der Unterstützung durch Almosen und langfristige Stiftungen bedürften, ohne daß ein Unterschied zwischen Ordensarmut und unfreiwilliger Not überhaupt infrage kam. In den Kirchenordnungen distanzierte er sich zwar scharf von der vorreformatorischen Religiosität; wenn er aber an manchen Stellen freundlich ergänzte, der falsche Gottesdienst sei aus Unwissenheit, aber in guter Absicht geschehen, so machte er selbst dabei keine Ausnahme. Wohl aus diesem Grund sprach er, wie auch andere Reformatoren, bei der Charakterisierung der alten Frömmigkeit stets in der ersten Person.247 So distanzierte er sich auch in der Lübecker Ordnung von überholter Schaufrömmigkeit und Heilsversicherung: „Wy sindt bet tho desser tyd / doch yn vnwetenheyt / gewanet geweset / de ogen wyt vp to sperrende na schnen bylden / holtenen / ßlueren / gůldenen stenenen / na gldenen stůcken / kelken / altartafelen / monstrantien / vnn de oren wyde vpthodhnde wen me vns vhor loch / van aflate / van nyen missen / van ßůndergen wanderfarten / van brůderschoppen / vnn wo wy dehlaftich scholden werden aller guden werken de dach vnd nacht schehn yn den ordenen vnd Clsteren. Ick swige dat sick eyn yewelick wat ßůnderges vhornam / tho hůlpe siner salicheyt nycht alleyne ane Gades wort / ßnder leyder ock wedder Gades wort / alse nu Gade gedancket
245 Ebd. – Übertragung: ,… die Meßpfaffen, große und kleine, sich unter dem Namen der Priester hineindrängelten, stahlen und raubten mit gräulichen Lügen alles, was sie von Fürsten, Herren, Bürgern, Bauern, Witwen, auch von denen, die es mit der Spindel verdient hatten, erbeuten konnten. Das Klostervolk hat das auch sehr gut gelernt, doch damit man es nicht merkte, gelobten sie Armut‘. 246 Ders.: Pomerania (1900, 1986); S. 95. Vgl. oben S. 116. 247 Auch Anneliese Sprengler-Ruppenthal ist die häufige Verwendung der ersten Person Plural aufgefallen. Sie interpretiert diesen Zug „als hörende und glaubende Stadtgemeinde, die sich aus dem Hören des Wortes Gottes und Glauben daran ihr kirchliches Recht setzt“. Anneliese Sprengler-Ruppenthal: Zu den theologischen Grundlagen reformatorischen Kirchenrechts. Studie an einigen Beispielen, in: dies.: Aufsätze 2004; S. 278–297; hier 282. – Dies.: Zur reformatorischen Kirchenrechtsbildung, ebd. S. 153–176; hier 153–156.
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an den dach kumpt.“248 Zu befürchten sei aber, daß diejenigen, die für derlei Verführungen reichlich Geld ausgaben, noch nie den armen Lazarus angeschaut hätten, oder besser Christus im Lazarus. Der böte nichts für die Schaulust, „wath nycht glentzet dat gelt nycht“, dafür habe auch niemand Ohren. Daß an dieser Stelle das Gleichnis vom reichen Prasser und vom Armen Lazarus (Lk 16,19–31) anklingt, ist ein deutlicher Beleg dafür, daß Bugenhagen hier in erster Linie die Wohlhabenden im Blick hat. Implizit wird daran erinnert, daß denjenigen, der die Not des anderen leichtfertig ignoriert, eine hohe Strafe erwartet – ein weiterer Hinweis auf die eschatologische Dimension der Nächstenliebe. Aber zugleich kann mit der bloßen Erwähnung der Stelle an die Vergeblichkeit gemahnt werden, eine solche Strafe durch kompensatorische Werke mildern oder gar aufheben zu wollen, denn bekanntlich versucht der Reiche erfolglos, post mortem eine Linderung seiner Höllenqualen zu erbitten oder wenigstens seine Brüder warnen zu lassen. Aus dem Jenseits kann es keine Fürsprache geben, wie auch umgekehrt – diese Konsequenz konnte stets auch mit dem Namen des Armen Lazarus konnotiert werden. In einer Predigt des Jahres 1521 hatte Luther die erfolglosen Versuche des Reichen als Beleg für die Nutzlosigkeit der Seelmessen gewertet.249 Dementsprechend hat seine letzte Bibelausgabe (1545) zu dieser Stelle die Randbemerkung: „Hie ist verboten den Poltergeistern vnd erscheinenden Todten zu gleuben.“250 Dazu paßt Bugenhagens zitierte Kritik, die Seelmessen seien von Poltergeistern erfunden worden. Weiter vorn in dieser Studie habe ich demonstriert, daß gerade aus diesem Grund die nachreformatorischen Sammelgeräte für Armenspenden erstmals das Bild des Armen Lazarus zeigten, während die Darstellung von Heiligen, die etwa Fürsprache für die Armen Seelen im Fegfeuer hätten einlegen können, stark zurückging.251 So konnte mit der Erwähnung des Armen Lazarus gerade in einer Stadt, in der die kommerzielle Jenseitsvorsorge in höchstem Maße florierte, gleichzeitig die alte Heilsfrömmigkeit biblisch kritisiert und eine neue Aufmerksamkeit für die Bedürftigen motiviert werden. Die Gerichtsdrohung war zu keiner Zeit obsolet geworden. Seine Besorgnis, daß trotzdem viele Wohlhabende den Armen Lazarus ignorieren würden, leitete Bugenhagen aus der Prognose Christi ab: Am Jüngsten 248 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 11–13. – Übertragung: ,Wir waren bis zu dieser Zeit doch aus Unwissenheit gewohnt gewesen, die Augen weit aufzusperren nach schönen Bildern, hölzernen, silbernen, goldenen, steinernen, nach goldenen Dingen, Kelchen, Altartafeln, Monstranzen, und die Ohren weit aufzumachen, wenn man uns vorlog von Ablaß, von neuen Messen, von besonderen Wallfahrten, von Bruderschaften, und wie wir aller Guten Werke, die Tag und Nacht in den Orden und Klöstern geschehen, teilhaftig werden könnten. Ich schweige davon, daß sich jeder noch was besonderes vornahm, um seiner Seligkeit zu helfen, nicht nur ohne Gottes Wort, sondern leider auch gegen Gottes Wort, wie es nun – Gott sei Dank! – an den Tag kommt.‘ 249 Vgl. Martin Luther: Sermon von dem reichen Mann und dem armen Lazarus, in: WA 10, Abt. 3 (1905), S. 176–200; hier 194. 250 Biblia Germanica (21983); fol. CCXC r°. 251 Vgl. oben S. 65 ff.
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Tag würde doch mancher ein guter Christ sein wollen und fragen: „Herr, wann haben wir dich hungrig […] gesehen und haben dir nicht gedient?“ (Mt 25,44). Andere würden dann nur ihre unnützen Werke vorweisen können und sagen: „Here / wy alse dyne knechte hebben dy wol myt andern wercken gedenet / uerst ßlcker wercke dar du van sechst hebbe wy vns nicht angenamen / wy hebben ßlks ock nicht ndich geacht wente wy hebben nycht gesehn / dat du gehungert hast etc. to sulcken wercken hebben wy noch ogene / noch oren gehat / dat wy de rechten bilde Gades / dat ys / de armen lde mchten hebben bekledet / vnde versorget.“252 Daß der Arme das Bild Gottes widerspiegelt, hatte schon Johannes Geiler von Kaysersberg253 gegen dessen Diskriminierung ins Feld geführt. Hier, in Bugenhagens Lübecker Ordnung, war nun die Imago-Dei-Lehre in besonders schlüssiger Weise, ja geradezu als Schlußstein der Argumentation, wiederaufgenommen. Eine ähnliche Stelle findet sich bereits in der Braunschweiger Ordnung: „Ouers to disse rechten Gades dnste / den Christus to iungesten dage wert bekennen sick suluest gedn / dar mede bekledet vnde geehret werden de rechten bilden Gades / dat synt de armen dar van gesecht is / dar wil nemand an / nmand wil dar to geuen.“254 Gegen die ausgeprägte Schaufrömmigkeit der spätmittelalterlichen Gottesdienste wandte sich also eine Bildtheologie, die den Nächsten als Abbild Gottes (nach Gen 1,26 f.) und den Notleidenden als Abbild Christi (nach Mt 25,40) ernstzunehmen trachtete: Nicht die falschen Bilder im falschen Gottesdienst sollen bei falscher Erlösungsgewißheit bekleidet und verehrt werden, sondern die wahren Abbilder Christi. Dieser wird bekleidet, indem der nackte Nächste bekleidet wird. Solche Werke, keine Heuchelwerke, werde er am Jüngsten Tag anerkennen.255 Diese Alternative war schon vereinzelt in der spätmittelalterlichen Theologie vorgeprägt, maßgeblich wieder bei John Wyclif.256 Einige Reformatoren griffen das Motiv leidenschaftlich auf, besonders Huldrych Zwingli und Andreas Bodenstein von Karlstadt, der in seiner Schrift „Von abtuhung der Bylder“ (1522) zugleich forderte, „das keyn Betdler vnther
252 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 13 f. – Übertragung: ,Herr, wir als deine Knechte haben dir wohl mit anderen Werken gedient, aber solcher Werke, von denen du sprichst, haben wir uns nicht angenommen. Wir haben das auch nicht für nötig befunden, denn wir haben nicht gesehen, daß du gehungert hast usw. Zu solchen Werken hatten wir weder Augen noch Ohren, daß wir die rechten Bilder Gottes, das heißt, die armen Leute hätten bekleiden und versorgen mögen.‘ 253 Vgl. oben S. 103 f. 254 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 137. – Übertragung: ,Aber zu diesem rechten Gottesdienst, den Christus am Jüngsten Tag als ihm selbst getan bekennen wird, mit dem die rechten Bilder Gottes bekleidet und geehrt werden, da will niemand dran, niemand will dafür geben.‘ 255 Vgl. ebd.; S. 67. 256 Vgl. Jean Wirth: Die Bestreitung des Bildes vom Jahr 1000 bis zum Vorabend der Reformation, in: Handbuch der Bildtheologie (hg. v. Reinhard Hoeps). Bd. 1, Paderborn u. a. 2007, S. 191–212; hier 203.
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den Christen seyn sollen“257. Im Norden wurde der Gottesdienst an den wahren Bildern Christi jetzt an prominenter Stelle von Johannes Bugenhagen verlangt, in Oberdeutschland dagegen von Martin Bucer. Dessen motivatorische Rolle für die öffentliche Fürsorge wird in einem eigenen Abschnitt zu untersuchen sein.
5. Fürsorgemotivation in den oberdeutschen Reichsstädten Blicken wir also noch einmal vergleichend nach Oberdeutschland, in jene Reichsstädte, die im Laufe der dreißiger Jahre unter dem maßgeblichen Einfluß Martin Bucers nach einem eigenen, zwischen Luther und Zwingli vermittelnden Modell reformiert wurden.258 Für die Reichsstädte Ulm (1531), Straßburg (1534) und Augsburg (1537) hat Bucer Kirchenordnungen verfaßt, die ich mit besonderer Aufmerksamkeit für die theologische Motivation öffentlicher Fürsorge mitberücksichtigen will. In allen drei Städten gab es bereits seit dem 15. Jahrhundert polizeiliche Bettel‑ und Almosenordnungen, mit denen das städtische Wohlfahrtswesen vor Mißbrauch geschützt, die sozialen Unterschichten domestiziert und die Fahrenden und notorisch Untätigen aus der Stadt gehalten oder bestraft werden sollten.259 Allerdings haben die energischen Predigten und Eingaben des Straßburger Münsterpredigers Johannes Geiler von Kaysersberg260 bereits gezeigt, daß solche Maßnahmen noch um 1500 offenbar als unzureichend, teils auch als schädlich wahrgenommen wurden. Unter anderem hatte Geiler den katastrophalen Zustand der Krankenfürsorge beklagt und einen personellen Ausbau der Almosenämter gefordert. Was war nun seither geschehen? In allen drei Städten war es tatsächlich im frühen 16. Jahrhundert zu einer Revision der bisherigen Armenpolitik gekommen. Nachdem Ulm bereits 1513 durch Ratsbeschluß ein ,goldenes Almosen‘ erhalten hatte261, folgten Augsburg 1522 und Straßburg 1523 mit neuen Almosenordnungen. Auch diese Voraussetzungen sind nicht erst durch Bucers Reformation geschaffen worden. Sie sind deshalb zuerst zu betrachten, bevor dessen Kirchenordnungen für diese Städte herangezogen werden können. In einem dritten Schritt sollen dann weitere Schriften Bucers danach befragt werden, wie er die tätige Nächstenhilfe theologisch zu motivieren suchte. Am Schluß des Kapitels werden das kommunalpolitische Engagement des Almosenschaffners Lucas Hackfurt († 1554) und die Übersetzungstätigkeit Caspar Hedios († 1552), 257 Vgl. Andreas [Bodenstein von] Karlstadt: Von abtuhung der Bilder und das keyn Bedtler vnther den Christen seyn sollen 1522 und die Wittenberger Beutelordnung (hg. v. Hans Lietzmann). Bonn 1911 (KlT 74). – Thomas Lentes: Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation, in: Handbuch der Bildtheologie 1 (2007), S. 213–240; hier 223 f. 258 Vgl. einführend zu Bucer und seinen oberdeutschen Kirchenordnungen oben S. 44 ff. 259 Zu den Bettelordnungen des 15. Jahrhunderts vgl. oben S. 93. 260 Über Sebastian Brant und Johannes Geiler in Straßburg vgl. oben S. 90 ff. 261 Vgl. Naujoks 1953; S. 92.
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eines von Geilers Nachfolgern im Amt des Straßburger Münsterpredigers, als eigenständige Akte reformatorischer Fürsorgemotivation beleuchtet. a. Oberdeutsche Armenordnungen zwischen Mittelalter und Reformation Die ordnungspolizeiliche Armenpolitik des 15. Jahrhunderts hatte, wie am Beispiel Straßburgs und seines Münsterpredigers zu sehen war, zu einer verfahrenen Situation geführt: Einerseits war in den Armen‑ und Bettelordnungen der süddeutschen Städte versucht worden, durch Unterscheidung rechtmäßiger von betrügerischen Almosenempfängern und durch konsequente Abschottungsmaßnahmen gegen Fremde eine Konzentration auf die Bedürftigen der eigenen Stadt zu erreichen; anderseits aber förderte die ungebrochene, ja noch immer steigende Jenseitsfrömmigkeit der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft weiterhin das individuelle Almosen und die testamentarische Einrichtung wohltätiger Stiftungen, die sich immer mehr auf die Bettelorden konzentrierten. Je stärker mithin die städtischen Obrigkeiten bemüht waren, durch rigorose ordnungspolizeiliche Maßnahmen den Bettel zu regulieren oder gar völlig zu verbieten, umso mehr konnte man sie für das Anwachsen der individuellen Not verantwortlich machen.262 Das hatte gesellschaftspolitische Tragweite. „Der behördliche Kampf gegen das Mitleid der Bürgerschaft“, so hat es Eberhard Naujoks mit Blick auf Ulm formuliert, „vertiefte naturgemäß die Kluft der vermögenden, im Rat vertretenen Oberschicht und der Masse der Zünfte, die ihrerseits gegen die steigende Macht der Obrigkeit immer mißtrauischer geworden war.“263 Ähnlich wie Johannes Geiler in Straßburg264 warnte in Ulm der Münsterprediger Ulrich Kraft († 1516) vor eigennützigem Profitdenken und großstädtischem Luxus. Es gelang ihm, beim Rat eine Verurteilung aller Wuchergewinne durchzusetzen. Noch 1513 kam es zur Vertreibung dreier Amtsleute, die sich gerüchteweise an kriminellen Bankgeschäften beteiligt hatten.265 Der Frust über so mühelos gewonnenen Reichtum war angesichts der erfolglosen Versuche, die Städte vom Elend der Armen zu befreien, erheblich gewachsen. Für Ulrich von Hutten († 1523) etwa geriet der Name des Finanzmonopolisten Fugger zu einem Synonym all dessen, was aus seiner Sicht die Kaufleute 262
Vgl. ebd.; S. 90. Ebd.; S. 91. 264 Vgl. Rita Voltmer: Krämer, Kaufleute, Kartelle. Standeskritischer Diskurs, mittelalterliche Handelspraxis und Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510), in: Landesgeschichte als multidisziplinäre Wissenschaft. Festgabe für Franz Irsigler zum 60. Geburtstag (hg. v. Dietrich Ebeling u. a.). Trier 2001, S. 401–445. 265 Vgl. Naujoks 1953; S. 92. – Hermann Tüchle: Ulrich Krafft, in: Kirchen und Klöster in Ulm. Ein Beitrag zum katholischen Leben in Ulm und Neu-Ulm von den Anfängen bis zur Gegenwart (hg. v. dems. u. Hans E. Specker). Ulm 1979, S. 226–229. – Bernhard Appenzeller: Die Münsterprediger bis zum Übergang Ulms an Württemberg 1810. Kurzbiographien und vollständiges Verzeichnis ihrer Schriften. Weißenhorn 1990; Nr. 7. 263
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schlimmer als Raubritter erscheinen ließ – Luxus und Verweichlichung durch exotische Waren, unlautere Besitzvermehrung durch lukrative Kapitalgeschäfte, Häufung von Besitz und Privilegien in einer Hand, Geldhandel mit Geistlichen. Wie die römische Kurie denn so dumm sein könne zu glauben, „daß wir zu überreden seien, wenn man Geld umb etwas gebe, daß solichs nit gekauft heiße“, fragte Hutten 1520 im Dialogbuch Vadiscus. „Wiewohl sie das doch so offentlich tun‹d›, daß sie auch die Fugger lassen mit den geistlichen Lehen wie mit anderer Kaufmannschatz handelen und Fürkauf haben.“266 Die enorme Signalwirkung aber, die der reichste und berühmteste Bankier seiner Zeit im Jahr darauf durch die Gründung der Fuggerei erzielte, kann vor diesem Hintergrund kaum hoch genug eingeschätzt werden: Am 23. August 1521 und damit drei Monate nach Luthers Verurteilung zu Worms stiftete Jakob Fugger der Reiche († 1525) in Augsburg diese beispiellose Wohnsiedlung für arme Leute, die bei einer symbolischen Jahresmiete von einem Gulden auf tägliche Fürbitte für die Seelen aller Fugger verpflichtet wurden.267 Geradezu auf dem Höhepunkt der frühen Reformationsgeschichte konnte dieser sorgsam inszenierte Akt spätmittelalterlicher Jenseitsvorsorge unmißverständlich demonstrieren, daß Armenfürsorge wirksamen Ausmaßes nur von den Reichen zu erwarten sei, die sich die Aussicht, einmal vor Gottes Richterstuhl bestehen zu können, gern etwas kosten ließen. Noch bevor es in Ulm 1513 zum Eklat gekommen war, hatte der Rat zur Entschärfung der Lage feierlich ein ,goldenes Almosen‘ verkündet, um die restriktive Armenpolitik des 15. Jahrhunderts in einem entscheidenden Punkt zu verbessern: Die in wöchentlichen Sammlungen zusammengebrachten Spenden der Stadtbevölkerung sollten künftig unter städtischer Kontrolle verteilt werden. Zur Motivation solcher regelmäßiger Beiträge wurde wieder an das Jüngste Gericht gemahnt.268 Ein ähnliches Prinzip wandte die Augsburger Almosenherrenordnung vom 27. März 1522 an269, indem für die Zukunft vier bis sechs Almosenherren mit ihren Knechten angewiesen wurden, an den Sonn‑ und Feiertagen „in allen 266 Gesprächbüchlin Herr Ulrichs von Hutten, gekröneten Poeten und Orator, von dem vorkehrten Stand der Stadt Rom, das er nennet Vadiscum oder die Römische Dreifaltigkeit, in: ders.: Deutsche Schriften (hg. v. Peter Ukena, m. Beitr. v. Dietrich Kurze). München 1970, S. 60–135; hier 86. – Zum häufigen Gebrauch des Namens Fugger bei Hutten mit der skizzierten Stoßrichtung vgl. dort ferner S. 29, 31, 33, 64, 152, 221. – Zu Huttens Anschauungen außerdem Heinrich Wiskemann: Darstellung der in Deutschland zur Zeit der Reformation herrschenden nationalökonomischen Ansichten. Leipzig 1861 (Preisschriften gekrönt und herausgegeben von der Fürstlich Jablonowski’schen Gesellschaft zu Leipzig 10); hier 12–24, bes. 20 f. 267 Vgl. Stiftungsbrief Jakob Fuggers 1521 und Armenordnung der Stadt Augsburg (m. Einl. v. Theodor Strohm), in: Entstehung einer Ordnung 2004, Bd. 2, S. 42–56. – Für den ganzen Zusammenhang vgl. jetzt auch den informativen Beitrag von Benjamin Scheller: Stiftungen im Umbruch der Erinnerungskultur, oder: Jakob Fugger und das Stiftungsparadox, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 99 (2006), S. 31–51. 268 Vgl. Naujoks 1953; S. 92. 269 Abgedruckt bei Max Bisle: Die öffentliche Armenpflege der Reichsstadt Augsburg mit Berücksichtigung der einschlägigen Verhältnisse in anderen Reichsstädten Süddeutschlands. Ein Beitrag zur christlichen Kulturgeschichte. Paderborn 1904, S. 168–173; hier 169. – Übertragung
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pfarren vnd clöstern, auch von hauß zu hauß, wie sy gut ansehen, vnd die notturfft erhaischen wirdet, das hailig allmusen“ einzusammeln, um es erst anschließend an die Armen der Stadt zu verteilen. Damit das gerecht vonstatten gehe, sollten „diesselben verordneten sampt jren zugeben knechten, der armen leüt heüser in der wuchen ain mal visitieren v haimsuchen, auch derselben mängel, gebrechen vnd gelegenheit, aigentlich erfaren, ermessen, vnd nach demselb, wie sy am nutzlichsten sein bedunckt, das hailig allmusen den armen mittailen in all weg.“270 Das Almosen scheint demnach unmittelbar wieder ausgegeben worden zu sein; von einer längerfristigen Verwahrung im Sinne einer stabilen Almosenkasse, geschweige denn eines Gemeinen Beutels oder Kastens wie seit 1520 zu Wittenberg271, ist hier noch keine Rede. Dies war, wie sich zeigen wird, eine typisch evangelische Einrichtung, die nicht einfach als übergangslose Fortentwicklung vorreformatorischer Almosenordnungen mit zwischengeschalteter Kontrollinstanz interpretiert werden darf. In Augsburg blieben die Bestimmungen im Rahmen der spätmittelalterlichen Almosenfrömmigkeit: Stellvertretend für die Armen sollten fortan die Almosenherren die Gaben in Empfang nehmen, durften hierfür sogar offensiv von Tür zu Tür gehen, ganz wie es zuvor die Bettler getan hatten – und stellvertretend für die Stadtbevölkerung sollten sie den Armen nach eigenem Ermessen und deren Bedürftigkeit dasselbe Almosen weiterreichen. Die Neuerung ergab sich aus der paradoxen Situation der städtischen Wohlfahrtspflege, wie sie oben geschildert wurde. Davon spricht ausdrücklich die Augsburger Almosenherrenordnung, wenn eingangs das Vorgehen des Rates begründet wird: Dieser habe trotz manch guter Ordnungen und Satzungen erfahren müssen, daß das reich gespendete Almosen schon etliche Male „vnnützlich vnd vnnotdurfftigklich verzert vnd verschwendt werde, das dann den anndern personen, die des allmusens nottdürftig seind, damit jr leibs narung entzogen vnd an solchem allmusen verhindert werden.“272 Auf der andern Seite war dem Rat auch glaubhaft berichtet worden, „das das allmusen (wo man aderst weßte, wo das wol angelegt, vnd in außspendung des selben gut ordnung fürgenomen vnd gehalten) noch vil mer größer vnd reyhlicher, täglich gegeben würde.“273 Um den guten in: Stiftungsbrief und Armenordnung (2004); S. 52. – Vgl. zur Augsburger Ordnung ferner Winckelmann 1914; S. 211 f. – C. Clasen 1984; S. 68 f. 270 Ebd. – Übertragung: ‚… diese Beauftragten samt ihren beigegebenen Knechten die Häuser der armen Leute ein Mal wöchentlich visitieren und besuchen, auch deren Bedürfnisse, Gebrechen und [übrige] Zustände genau in Erfahrung bringen, bedenken und den Armen hiernach, wie es ihnen am nützlichsten scheint, das heilige Almosen in jeder Weise ausgeben.‘ 271 Vgl. oben; S. 19 f. 272 Augsburger Almosenherrenordnung 1522 (1904); S. 68. Vgl. Stiftungsbrief und Armenordnung (2004); S. 52. – Übertragung: ‚… unnütz und unnötigerweise verbraucht und verschwendet werde, so daß anderen Personen, die des Almosens bedürftig sind, hierdurch ihr Lebensunterhalt entzogen und von solchem Almosen abgehalten wurden.‘ 273 Ebd. – Übertragung: ‚… daß das Almosen (wenn man wüßte, daß es gut angelegt, und daß bei seiner Austeilung gute Ordnung vorgenommen und eingehalten wäre), jeden Tag weitaus größer und reichlicher gegeben würde.‘
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Willen der milden Spender durch die Mißbräuche jetzt nicht versiegen zu lassen, sei daher diese Ordnung beschlossen worden. Der Befund, den ich zunächst für das Straßburger Fürsorgewesen um 1500 getroffen hatte, findet sich also bestätigt: Die wachsende Kritik am betrügerischen Bettel und das gleichzeitig florierende Almosen‑ und Stiftungswesen im Rahmen der persönlichen Jenseitsvorsorge behinderten sich gegenseitig. Dieses Problem schien vordergründig durch personelle Erweiterung und organisatorische Umgestaltung der städtischen Armenpolitik entschärft werden zu können. Das hatte bereits Geiler von Kaysersberg gefordert. In der Augsburger Almosenherrenordnung wurde zusätzlich geraten, die Inhaber und Verwalter von längerfristigen Vermächtnissen freundlich zu überreden, ihre Stiftungszwecke im Sinne der neuen Ordnung zu überprüfen. Auch auf diese Weise sollte die Mißbrauchsgefahr eingeschränkt werden, die mit der planlosen Verteilung milder Gaben verbunden war. Beiden Stadträten scheint es darauf angekommen zu sein, das individuelle Almosen mit seiner sündentilgenden Funktion grundsätzlich beizubehalten, ja erst recht zu bestätigen, weil nur eine öffentlich nachvollziehbare, gerechte Verteilung der Spenden garantieren konnte, daß die steigende Großzügigkeit der Stadtbevölkerung nicht enttäuscht wurde und versiegte. Daher wurde in beiden Fällen der individuelle Bettel weiterhin geduldet. Auch künftig konnten Bettelmarken beantragt werden, die es gestatteten, vor den Kirchen um Almosen zu heischen. Sogar für Fremde galten großzügige Regelungen.274 Mit der Augsburger Almosenherrenordnung wurde darüberhinaus ein Unterstützungsverfahren für Schüler eingerichtet. Um deren lästigen Gesang zu unterbinden, wurden die Häuser wohltätiger Spender besonders gekennzeichnet; wer dennoch auf die hergebrachte Weise singende Schüler an der eigenen Tür unterstützen wolle, könne das auch künftig nach Gewohnheit tun.275 So trug man der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, die auf individuelles Almosengeben geradezu angewiesen war, auch weiterhin Rechnung. Auch vor diesem Hintergrund sollte die Monopolisierung der Fürsorge durch örtliches Personal, das aus Gerechtigkeits‑ und Effizienzgründen sowohl das Einsammeln der üblichen Gaben als auch ihre Ausspendung übernehmen sollte, nicht in unmittelbarer Vorläuferschaft des reformatorischen Gemeinen Kastens gesehen werden. Es ist bezeichnend, daß ähnliche Modelle, die auf langfristige Anlagen noch verzichteten und eingesammeltes Almosen über eine solche Schaltstelle an die Bettler weiterleiteten, in katholischen Gebieten auch noch lange nach der Reformation neu eingeführt und dort geradezu als Modernisierungsleistung bewertet wurden, so etwa 1599 im Herzogtum Bayern.276 274
Vgl. Naujoks 1953; S. 92. – Augsburger Almosenherrenordnung 1522 (1904); S. 170 f. Vgl. ebd.; S. 172. 276 Vgl. Elisabeth Schepers: Als der Bettel in Bayern abgeschafft werden sollte. Staatliche Armenfürsorge in Bayern im 16. und 17. Jahrhundert. Regensburg 2000; S. 241 f., dazu 85–87, wo die Bettelordnung von 1599 als „neuartiges Bettelrecht“ bezeichnet wird. – Auch die wohl durch Ignatius von Loyola für die spanische Stadt Azpeitia angeregte Bettelordnung perpetuierte doch 275
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Eine wirklich reformatorisch geprägte Ordnung der Fürsorge galt in Südwestdeutschland hingegen erst vom 29. September 1523 an für Straßburg. Einem Entwurf des Ratsherrn Mathis Pfarrer277 zufolge orientierte man sich dabei ausdrücklich an der innovativen Nürnberger Almosenordnung vom 23. Juli 1522, die wiederum deutlich von Wittenberg beeinflußt war. Vier ganz neue Elemene unterschieden solche dezidiert reformatorischen Ordnungen von den bisher gekannten: Erstens ein biblisch-theologisches Fundament mit wieder gewachsenem argumentativen Stellenwert der christlichen Liebe; zweitens die Einrichtung eines Gemeinen Kastens für die mittel‑ und langfristige Verwahrung von Spendengeldern und liegendem Kapital; drittens die Inanspruchnahme von erledigten Stiftungen und freigewordenen Kirchengütern, die diesem Kapital zugute kommen sollten; viertens eine Tendenz zur völligen Beseitigung des Bettels, die nun erstmals durch die flächendeckende Erfassung und zentrale Versorgung der wirklich Bedürftigen ermöglicht werden sollte; dabei wurden jetzt Bettelmönche und Pilger konsequent aus der Gruppe unterstützungswürdiger Armer ausgeschlossen. Diese vier Elemente waren auf der Grundlage von Luthers theologischen Vorüberlegungen zu wirtschaftlichen und sozialen Reformen bereits umrißhaft in der Wittenberger Beutelordnung von 1520 und ein Jahr später in der durch Andreas Bodenstein von Karlstadt mitgestalteten Wittenberger Stadtordnung vom 24. Januar 1522 verwirklicht.278 Die Nürnberger Almosenordnung279, die seit dem 20. Mai 1522 durch zwei Sachverständige erarbeitet und am 1. September inkraftgesetzt worden war280, realisierte das Programm erstmals in großem Stil. Eine theologische Einleitung des lutherischen Ratsschreibers Lazarus Spengler schärfte die unverzichtbare Position aktiver Nächstenhilfe im christlichen Gemeinwesen nachdrücklich ein. Bereits hier war die eschatologische Bedeutung solcher Werke (nach Mt 25) deutlich hervorgehoben, insofern jeder Christ einmal Rechenschaft ablegen müsse, ob er um Christi Willen seine Nächsten geliebt, sie gespeist, getränkt, bekleidet und besucht habe – oder ob er nur Messen gestiftet, Kirchen gebaut, Wallfahrten unternommen oder andere unnütze Werke getan habe. Schon die betont biblische Ausrichtung und der hieraus gewonnene Stellenwert der Barmherzigkeit verbieten es, die Nürnberger Almosenordnung und ihre Nachfolgerinnen in grob vereinfachender Weise als Ausdruck obrigkeitlicher Sozialdisziplinierung bloß das bekannte Modell, demzufolge das Almosen exklusiv durch kommunale Armenvögte gesammelt und wieder ausgeteilt werden sollte, doch nahm die Kasse bald auch eine fromme Stiftung auf, so daß hier ansatzweise auch längerfristig Kapital an Einem Ort aufbewahrt wurde. Vgl. Armenordnung für die Stadt Azpeitia 1535 – veranlasst durch Ignatius von Loyola, in: Entstehung einer Ordnung 2 (2004), S. 197–206, bes. 202. 277 Vgl. Winckelmann 1922; Teil 1, S. 79; Teil 2, S. 88–93; bes. 90. 278 Vgl. oben; S. 19 f. 279 Abdruck: Eins Rats der Stat / Nürmberg ordnung des grossen / allmusens Haußarmer leut, in: EKO 11 (1961), S. 23–32. – Übertragung jetzt zugänglich in: Entstehung einer Ordnung 2004, Bd. 2, S. (57–)62–74. – Vgl. ferner Winckelmann 1914; S. 212–222. 280 Vgl. zum Verlauf ebd.; S. 214 f.
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zu deuten. Darauf hat besonders pointiert Hermann Maué hingewiesen: „Es ist zwar richtig, wie Christoph Sachße und Florian Tennstedt betonen, daß ,das Betteln – jahrhundertelang gesellschaftlich geduldet – nun als unerträglicher Mißstand empfunden und kritisiert‘ wurde, aber zumindest zunächst nicht, weil man sich ,von den städtischen Unterschichten bedroht‘, sondern weil man sich ihnen verbunden fühlte.“281 Um den Bettel zu verbieten, mußte er zunächst überflüssig werden. Daß in diesem Sinne jetzt „zum erstenmal, dem Beispiel Wittenbergs folgend, eine große deutsche Reichsstadt die Verpflichtung auf sich nimmt, durch eine zentralisierte umfassende Fürsorge alle Armen in ihrem Gebiet ausreichend zu unterstützen und so das Betteln ganz überflüssig zu machen“, hat Otto Winckelmann282 als die eigentliche, außerordentliche Leistung der Nürnberger Almosenordnung gewürdigt. Auch der Rat der Reichsstadt Straßburg verpflichtete sich „in betrachtung brüderlicher lieb, die got zum höchsten gebotten, und dem menschen zu erlangung götlicher genaden und seligkeit das best und erschießlichst gut werk ist“, zu seiner neuen Almosenordnung283. Sie ist gekennzeichnet von einer besonders drastischen personellen und organisatorischen Vergrößerung. Die Stadt wurde jetzt in vier Bezirke unterteilt, in denen vier nach einem genau geregelten Rotationsprinzip zu Oberpflegern bestimmte Ratsherren zusammen mit ehrbaren Freiwilligen aus den neun Pfarreien und vier Knechten die Durchsetzung der Ordnung, also vor allem das Einsammeln von Spenden, die aufmerksame Visitation der Bedürftigen und die gerechte Verteilung der Gaben, überwachen sollten.284 Der größte strukturelle Unterschied zur Nürnberger Almosenordnung vom Vorjahr bestand in der zusätzlichen Bestellung eines festbesoldeten Almosenschaffners, der in einem ständigen Büro die eingenommenen Geld‑ und Naturalspenden und das liegende Kapital verwalten, Ein‑ und Ausgänge gewissenhaft aufzeichnen und die Register der Armen und gesondert geführten Fremden und Aussätzigen regelmäßig fortführen sollte.285 Für dieses Amt wurde noch vor Inkrafttreten der gelehrte Priester Lucas Hackfurt vorgeschlagen und auf die neue Ordnung vereidigt.286 Dessen besonderes Engagement hatte zur Folge, daß dieses zunächst den Oberpflegern dienstbare Amt allmählich zur eigentlichen Schaltstelle des 281 Maué 1999; S. 128. Das Zitat bei Christoph Sachsse u. Florian Tennstedt: Vom Almosen zur frühmodernen Sozialpolitik: Armut und Armenfürsorge im Spätmittelalter, in: Bettler, Gauner und Proleten. Armut und Armenfürsorge in der deutschen Geschichte. Ein Bild-Lesebuch (hg. v. dens.). Frankfurt a. M. 1998, S. 34–48; S. 47. 282 Winckelmann 1914; S. 215. 283 Text bei Winckelmann 1922, Teil 2, S. 97–104; hier 98 (§ 1). – Übertragung jetzt in: Entstehung einer Ordnung 2004, Bd 2, S. (75–)80–88. 284 Vgl. ebd.; S. 98 f. (§§ 2–12). 285 Vgl. ebd.; S. 104 (§§ 38–42) 286 Vgl. ebd.; S. 104 f. Zur Person vgl. ebd.; Teil I, S. 86. – Das Amt des Almosenschaffners ist nicht mit dem des Diakons zu verwechseln; so bei Hammann 2003; S. 249. Hackfurt paßt also keineswegs in das ebd. für Bucer postulierte Konzept eines ekklesialen Diakonats der Armenfürsorge. Hammanns Enttäuschung (ebd.; S. 259 f.) beruht auf falschen Annahmen.
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Straßburger Fürsorgewesens wurde, während die auf diesem Gebiet wenig kompetenten und häufig wechselnden Ratsherren an Bedeutung verloren.287 Die Zusammensetzung des Großen Almosens war in der neuen Ordnung genau beschrieben288 und erheblich erweitert: So waren nicht allein Spenden zu berücksichtigen, die in den Kirchen in neu aufzustellende und deutlich zu beschriftende Opferstöcke gesteckt oder während der Gottesdienste in „säcklin an stäblin“289 hineingeworfen werden konnten (wozu die Prediger oft ermahnen sollten), sondern es war sogar bei den Klöstern und Stiften erreicht worden, „den obbestimpten nün pflegern ire gestiffte almusen und spenden järlichs zu uberlüffern und zu handeln zu stellen“290. Tatsächlich überließen die meisten Einrichtungen sofort die bislang aus verzinstem Stiftungskapital gezahlten Almosengelder und die regelmäßig an Arme ausgeteilten Lebensmittelspenden ganz oder zum Teil dem städtischen Almosenamt.291 Davon waren Meßstiftungen freilich noch unberührt. Für die Ausspendung der Gaben bei den Rundgängen der Pfleger durch ihre Viertel mit regelmäßigen Armenvisitationen sah ein eigener Abschnitt der Ordnung genaue Kriterien vor, nach denen über Erhöhung, Senkung oder Einstellung der Unterstützungsbeträge entschieden werden sollte.292 Die Stabilität des Großen Almosens, die im Gegensatz zu früheren Lösungen durch die Verwahrung aller Güter an einem festen Ort und durch die Garantiezusagen der Klöster und Stifte einigermaßen gesichert war, plausibilisierte nun auch, daß im Gegenzug auf eine Duldung des offenen Straßenbettels verzichtet werden mußte. Sie hätte zu einer Doppelbelastung und zum Zusammenbruch des neuen Systems geführt. So sah die Straßburger Almosenordnung in einem besonders umfangreichen Abschnitt293 strenge Maßnahmen zur Unterbindung des individuellen Bettels, zur Abweisung fremder Bettler und zum Verbot von Müßiggang vor. Dies war also die Lage der Dinge, bevor Martin Bucer in den drei Reichsstädten sein Reformationswerk begann. Von den vorgestellten Fürsorgekonzepten war erst die Straßburger Almosenordnung von reformatorischen Vorgängermodellen abhängig, während die Ordnungen für Ulm und Augsburg noch der spätmittelalterlichen Jenseitsfrömmigkeit verpflichtet waren und durch die Einschaltung einer Zwischeninstanz lediglich für eine gerechtere Verteilung des Almosens sorgen sollten, ohne bereits die längerfristige Verwahrung gemeinnützigen Kapitals in Betracht zu ziehen, das das System stabilisiert und ein vollständiges Bettelverbot plausibilisiert hätte. Doch der Eindruck bleibt zwiespältig: Beispielgebend für die Straßburger Almosenordnung waren anscheinend primär die organisatorischen Be287
Vgl. Winkelmann 1922; S. 86 und 89 f. Vgl. ebd.; Teil II, S. 103 f. (§§ 34–37). 289 Ebd.; S. 104 (§ 37). 290 Ebd.; S. 103 (§ 34). – Übertragung: ,… den oben bestimmten neun Pflegern ihre gestifteten Almosen und Spenden jährlich auszuliefern und zur Verfügung zu stellen‘. 291 Vgl. die detaillierte Aufstellung ebd.; S. 93–96. 292 Vgl. ebd.; S. 99–101 (§§ 13–20). 293 Vgl. ebd.; S. 101–103 (§§ 21–33). 288
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stimmungen des evangelischen Vorbilds aus Nürnberg, während andere, dezidiert reformatorische Elemente gerade nicht übernommen wurden. Besonders auffällig ist doch, daß der repressive Duktus der älteren ordnungspolizeilichen Texte zulasten einer biblisch-theologischen Fürsorgemotivation beibehalten oder gar noch gesteigert wurde. Die Verpflichtung, im christlichen Gemeinwesen dem Nächsten um Christi Willen beizustehen, war marginalisiert; ganz zu schweigen von einem Vorrang christlicher Liebe vor dem Buchstaben des Gesetzes. In Straßburg war, anders als in Nürnberg, die öffentliche Fürsorge noch nicht wieder neu mit biblischer Argumentation motiviert. Man könnte hier von reformatorischer Praxis ohne evangelische Grundlage sprechen. Das paßt allerdings gut in die Straßburger Ratspolitik jener Zeit, die in ausgesprochener Neutralität auf die Wahrung innerstädtischen Friedens bedacht war und sich daher eindeutiger religiöser Stellungnahmen enthielt. So wurden die Prediger der Stadt in einem Religionsmandat vom 1. Dezember 1523 aufgefordert, von allen Kanzeln das heilige Evangelium und die Lehre Gottes frei und öffentlich zu predigen. Diese Kompromißformel eröffnete evangelischen wie altgläubigen Predigern genügend Interpretationsspielraum, „ein labiles Gleichgewicht“, wie Andreas Gäumann294 den Vorgang treffend bezeichnet hat: „In den folgenden Jahren ging es nun darum, das Evangelium inhaltlich zu präzisieren und in der Praxis zu konkretisieren.“ Es wird sich zeigen, ob Martin Bucer das bestehende Fürsorgesystem der Stadt wenigstens im Nachhinein theologisch zu motivieren vermochte. b. Bucers Kirchenordnungen für Ulm, Straßburg und Augsburg Bereits im Titel der Ulmer Ordnung vom 6. August 1531 war ausgesprochen, daß sie nicht allein „Gott dem allmechtigen zů lob“, sondern auch „zů Braiterung der liebe des nechsten“295 auf die Beseitigung von Mißbräuchen und Irrlehren bedacht war. Und zum Eingang der Straßburger Kirchenordnung von 1534 wurde beklagt, in der Stadt habe der Umstand, daß „allerley secten, rottungen und sonderungen eingerissen, zů zerrittung gemeyner kirchen, außlschung brüderlicher liebe und endlicher zerstrung burgerlicher policy und friden“296 geführt. Nur die konfessionelle Einheit der Kirche Christi konnte mithin die öffentliche Ordnung garantieren, weil nur in ihr ein brüderlicher Geist wirksam wäre. Da der Straßburger Rat jedoch bis zur Synode von 1533 in Religionsfragen ausgesprochen zurückhaltend vorgegangen war, war die Stadt allmählich zu einem Anziehungspunkt für Spiritualisten, Täufer und andere Dissidenten geworden, 294
Vgl. Gäumann 2001; S. 43–60; das Zitat S. 57. Bucer u. a.: Ulmer Ordnung 1531 (1975); S. 212. 296 Ders.: Straßburger Kirchenordnung 1534 (1978); S. 24. – Übertragung: … daß ,allerlei Sekten, Rotten und Abspaltungen eingerissen sind, zur Zerrüttung der allgemeinen Kirche, Erlöschen der brüderlichen Liebe und schließlich Zerstörung des bürgerlichen Friedens und der öffentlichen Ordnung‘ geführt. 295
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von denen der Apokalyptiker Melchior Hoffmann und der Spiritualist Caspar Schwenckfeld nur die bekanntesten waren. Der ab 1526 merklich steigende Konkurrenzdruck „hinterfragte Bucers Verständnis der Stadt als eines unteilbaren, christlichen Gemeinwesens“297 und provozierte seine Gegenwehr. Er warf diesen Gruppen nicht allein die Abspaltung von der einen sichtbaren Kirche Christi vor, sondern auch, daß ihre Sonderlehren in erster Linie auf sich selbst, keinesfalls aber auf das Wohl des Nächsten gerichtet seien.298 Brüderliche Liebe dagegen war seiner Vorstellung zufolge nur in einer ungeteilten Kirche rechtgläubiger Christen möglich. In der Augsburger Kirchenordnung wurde den Predigern deswegen eingeschärft, sie sollten „zu solicher warer gemainschaft Christi, gehorsame des hailigen evangelii und ubung der waren, christenlichen liebe gar vertreulich vermanen und immer darauf dringen, wie dan das der articul unsers glaubens: Ich glaub ain christenliche kirchen und die apostolischen schriften vermögen“299. Auch hier hatte Bucer Veranlassung, auf die Einheit der Kirche zu drängen, denn 1533 war Schwenckfeld nach Augsburg gekommen.300 Wie sich die aktive Nächstenliebe im christlichen Gemeinwesen entfalten könnte, nämlich allein als Gnadengeschenk Gottes, wurde in der ausführlichen theologischen Einleitung zur Ulmer Ordnung dargelegt: „Alle menschen sind von natur kinder des zorns“, heißt es darin, und sie „mgen auch nichts gttlichs verston, noch weniger wllen, i. Cor. ii. [14]. Darumb ain yrrthum, fürgeben, das der mensch auß im selbs und seinem freyen willen etwas gůter bewgnus oder strebens nach dem gůten haben oder angebotne gnad annemen mg. Wlches sich aber Gott erbarmen will […], den macht er ain newen menschen, schickt im sein wort zů durch die er sendet“301. Gutes zu tun, liegt demnach nicht in der Natur des Menschen, sondern erwächst allein aus der Gnade Gottes, indem der Mensch das Evangelium hört und, durch Gott erst dazu imstande, sich zum wahren Glauben an Christus bekehrt. „Alle aber, die an Christum, unsern Herrn, warlich glauben, werden durch seinen gayst wie glyder ains leibs“302, nämlich der 297
Gäumann 2001; S. 336. Vgl. insgesamt ebd.; S. 326–345. Vgl. ebd.; S. 329. 299 Bucer: Augsburger Kirchenordnung 1537 (1963); S. 61. – Übertragung: ‚… zu solcher wahrer Gemeinschaft Christi, Gehorsam zum Evangelium und Ausübung der wahren, christlichen Liebe gar treulich vermahnen und immer darauf dringen, wie es ja der Glaubensartikel Ich glaube an eine christliche Kirche und die apostolischen Schriften ermöglichen.‘ 300 Vgl. Horst Weigelt: Die Beziehungen Schwenckfelds zu Augsburg im Umfeld der Kirchenordnung von 1537, in: Augsburger Kirchenordnung 1988; S. 111–122; bes. 112. 301 Bucer: Ulmer Ordnung 1531 (1975); S. 220. – Übertragung: ,Alle Menschen sind von Natur aus Kinder des Zorns‘ (Eph 2,3). Sie ,können – geschweige denn wollen – auch nichts Göttliches verstehen (1 Kor 2,14). Darum ist es ein Irrtum vorzugeben, der Mensch vermöge aus sich selbst und seinem freien Willen heraus etwas guten Antrieb oder Streben nach dem Guten zu haben oder angebotene Gnade anzunehmen. Wessen sich aber Gott erbarmen will, den macht er zu einem neuen Menschen, schickt ihm sein Wort zu durch die, die er sendet.‘ (Röm 10,17). Vgl. auch ders.: Das ym selbs 1523 (1960); S. 63. 302 Ders.: Ulmer Ordnung 1531 (1975); S. 221. – Übertragung: ,Alle aber, die an Christus unsern Herrn wirklich glauben, werden durch seinen Geist den Gliedern eines Leibes gleich.‘ 298
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einen Kirche. Für ein brüderliches Zusammenleben in dieser Gemeinschaft repräsentiert bereits die Goldene Regel die Forderungen des Gesetzes und der Propheten: „Der Herr sagt, den leütten thůn, was wir wllen, das uns gscheh, sey das gsatz und propheten, Mat. vii. [12]. Darumb kain gůte oder gotgfellige werck sein knden, die nit dem nechsten zů frommen entlich raychen, werden auch vor Got nymmermer gůte werck gezlt, die man, Got selb etwas zů thůn und nit zů besserung des nchsten, ordnet und dann an holtz und stayn wendet“303. Statt Gott also in den Bildern zu verehren, kann wahrer Gottesdienst nur im Dienst am Nächsten bestehen – eine Alternative, die auch bei Bugenhagen zu finden war. Diese wenigen Sätze aus dem Eingang der Ulmer Ordnung geben in knapper Form Bucers Theologie der Nächstenliebe wieder, die er ausführlicher bereits in seiner Straßburger Erstlingsschrift Das ym selbs niemant, sonder anderen leben soll (1523) entfaltet hatte. Über sie wird noch zu sprechen sein. In Bucers oberdeutschen Kirchenordnungen hingegen ist damit zur Motivation tätiger Nächstenliebe alles gesagt. Kaum ein Wort ist zur theologischen Begründung der Armen‑ und Krankenfürsorge zu finden, wie auch eigene organisatorische Abschnitte zu diesen Bereichen ganz fehlen. Insbesondere fällt auf, daß die gängigen Schriftzitate für eine christliche Verpflichtung zur Nächstenhilfe, die etwa bei Bugenhagen so oft wiederkehrten, nirgends verarbeitet wurden. Bucers Schweigen auf diesem Gebiet hat zwei Gründe. Erstens konnte in allen drei Reichsstädten auf funktionierende Fürsorgesysteme zurückgegriffen werden. Wenn in den Kirchenordnungen manchmal nebenbei die Almosenherren und die Unterstützung der Armen erwähnt wurden304, so zeigt gerade diese Beiläufigkeit, daß der Fortbestand der existierenden Einrichtungen selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Wie oben zu sehen war, hatten diese älteren Ordnungen jedoch ebenfalls auf theologische Überzeugungskraft verzichtet. Warum aber hat Bucer nicht die Gelegenheit genutzt, die bestehenden Einrichtungen der jetzt evangelisch gewordenen Städte nachträglich aus reformatorischer Sicht zu plausibilisieren und auf diese Weise für eine dauerhafte Motivation zur Unterstützung der Armen zu sorgen? Das hängt zweitens mit Bucers Ekklesiologie zusammen. Bereits die Eingänge zur Ulmer und zur Straßburger Kirchenordnung haben gezeigt, wie sehr ihm an der 303 Ebd.; S. 224. – Übertragung: ,Der Herr sagt, den Leuten das zu tun, von dem wir wollten, daß es uns auch geschehe, das sei das Gesetz und die Propheten (Mt 7,12). Darum kann es keine guten oder gottgefälligen Werke geben, die nicht letztlich auf das Wohl des Nächten abzielen, und es werden vor Gott auch niemals Werke angerechnet, die man vorkehrt, um Gott selbst etwas zu tun und nicht zur Unterstützung des Nächsten, und die man dann auf Holz und Stein richtet.‘ – Bereits im Gemain außschreiben der Stadt Ulm vom 31. Juli 1531, das die Inkraftsetzung der Kirchenordnung vorbereitete, ist dieser Artikel in einer von Bucer verfaßten Thesenreihe zu finden und wird in der Kirchenordnung auch als Teil dieser 18 Artikel zitiert. Vgl. ebd.; S. 196 und 303. 304 Vgl. ders.: Straßburger Kirchenordnung 1534 (1978); S. 40. – Ders.: Augsburger Kirchenordnung 1537 (1963); S. 55 und 61.
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Exklusivität der einen, wahren Kirche gelegen war. Nicht erst in seinem Cambridger Alterswerk De regno Christi (1550), sondern vom Beginn seiner reformatorischen Tätigkeit an vertrat Bucer den Glauben an das geistliche Reich Christi, das als Gemeinschaft der Auserwählten die wahre Kirche im Unterschied zur sichtbaren Kirche aller Getauften repräsentiere. Allerdings strebe dieses geistliche Reich nach Vervollkommnung in der sichtbaren Kirche, in der es durch Verkündigung des Evangeliums, rechte Verwaltung der Sakramente und kirchliche Disziplin wiederhergestellt werden könne.305 Dementsprechend sann Bucer auf solche reformatorischen Maßnahmen, die diese drei Bedingungen erfüllen und so zu einer wachsenden Ähnlichkeit des christlichen Gemeinwesens mit dem Reich Christi führen könnten. Predigt und Katechese, die Abendmahlslehre und die Durchsetzung strenger Sittenzucht tragen daher das thematische Schwergewicht seiner Werke – und damit auch seiner Kirchenordnungen. War ein christliches Gemeinwesen solchermaßen bestellt, brauchte die konkrete Nächstenhilfe als notwendige Folgeerscheinung dieser Grundvoraussetzungen nicht mehr eigens motiviert zu werden – jedenfalls nicht in den Kirchenordnungen. Wir wollen also weitere Schriften hinzuziehen, die vielleicht doch eine Rekonstruktion von Bucers Fürsorgemotivation ermöglichen. c. Fürsorgemotivation in weiteren Schriften Bucers Daß der Glaube auch Gute Werke hervorbringen muß, war Bucer selbstverständlich, „und vermag kein gůter baum on frucht und gůte frucht sein“306. So heißt es in der Straßburger Erstlingsschrift von 1523. Auch in einem Gutachten desselben Jahres zur Verteidigung der Wittenberger Lehre zog Bucer die BaumFrucht-Metapher aus Luthers Freiheitsschrift (nach Mt 7,16–20 par u. 12,33 par sowie Kol 1,10) heran: „Dan der do glaubt an Christum mit ernst vnd worheyt, das er durch in an got ein gnedigen vater habe, der ist vss got geporen vnd thůt alweg gůts, wie ein gůter baum dan nit mag böse frucht bringen“307. Aus Luthers Assertio308 von 1520 wird referiert, daß der Mensch auch zu Guten Werken nicht aus eigener Kraft imstande und hier allein auf Gottes Gnade angewiesen sei. Solche Guten Werke „sind aber die werck pruderlicher lieb, die wir nit got, 305
Vgl. Gäumann 2001; S. 159–161 et passim. Martin Bucer: Das ym selbs niemant, sonder anderen leben soll, und wie der mensch dahin kummen mg, in: ders.: Opera I,1 (1960), S. (29–)44–67; hier 62. 307 Ders.: Dass D. Luthers und seiner nachfolger leer … christlich und gerecht ist … (manu propria Buceri), in: ders.: Opera I,1 (1960), S. 304–344; hier 317. – Übertragung: ,Denn wer an Christus glaubt mit Ernst und Wahrheit, so daß er durch ihn an Gott einen gnädigen Vater habe, der ist aus Gott geboren und tut allewege Gutes, wie ein guter Baum keine bösen Früchte bringen kann [nach Mt 7,17–19].‘ – Ähnlich ders. u. Wolfgang Capito an den Rat der Stadt Straßburg, in: ders.: Opera III,2 (1989); S. 236 f. 308 Vgl. Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum. 1520, in: WA 7 (1897), S. (91–)94–151; hier 142. 306
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noch den heiligen oder den todten, sonder die wir den leuten thůn sollen.“ Nun gebe es aber keine besseren Werke als solche, die im Gesetz und in den Propheten gelehrt würden, und die in der Goldenen Regel (Mt 7,12) und im Gebot der Nächstenliebe (Gal 5,14) zusammengebracht seien.309 Die Werke machen aber nicht selig, sondern sind Zeugnisse des Glaubens. Eine Unterscheidung zwischen Lohn und Verdienst trifft hier auch Bucer: Ein Gläubiger, der Kind Gottes geworden sei, könne nunmehr unmöglich keine Guten Werke tun. Nach ihnen werde er anerkannt als Kind Gottes und erhalte sein Erbe, „welchs aller gůten werck lon geheissen würdt. Doch frylich nit verdient durch vnsere werck, die wir doch noch nie haben thůn kunden, des wir on das schuldig sein, und ob wir es schon thon hetten, so weren wir noch vnutz knecht [Lk 17,10]. Ein vater verheisst auch eim kind ein lon, so es recht thůt, vnd ists doch das kind on das schuldig, und so im der vater den lon gibt, gibt er im in nit, das des kinds thůn solchem lon gemess sy, sonder mer vss seiner gůten willen.“310 Bugenhagen hat hierfür einige Jahre später ein ähnliches, aber etwas plastischeres Bild gebraucht (,Hol mir mal ein Bier, und ich schenke dir einen Mantel‘311). Aus Luthers Rechtfertigungslehre folge gerade nicht, so faßt Bucer den Artikel zusammen, daß wir keine Guten Werke tun sollten, sondern im Gegenteil, „das wir, durch disen glauben gerecht vnd gůt gemacht, fil gůter werck thůn, doch di got gepoten hat, die dem nechsten zu frummen reichen, welche dan selb die liebe bringt vnd [nit] die die menschen erdocht haben.“312 Eine eigenständige Leistung ist die Theologie der Guten Werke, die Bucer in seiner Straßburger Erstlingsschrift von 1523 entfaltet hat. Bereits der Titel verdeutlicht die entscheidende Alternative von Eigennutz und Nächstenliebe und ihre Relevanz für die christliche Praxis: Das ym selbs niemant, sonder anderen
309 Vgl. Bucer: Dass Luthers leer 1523 (1960); S. 318. – Ähnlich ders.: Das ym selbs 1523 (1960); S. 51. – Martin Butzers an ein christlichen Rath und Gemeyn der statt Weissenburg Summary seiner Predig daselbst gethon, in: ders.: Opera I,1 (1960), S. (69–)79–147; S. 93. – Ders. u. Capito in Opera III, 2 (1989), S. 237. 310 Bucer: Dass Luthers leer 1523 (1960); S. 319–320. – Übertragung: ,… das aller Guten Werke Lohn genannt wird – doch freilich nicht verdient durch unsere Werke, die wir doch nie vollbringen konnten, wessen wir aber ohnehin schuldig wären, und wenn wir sie doch getan hätten, so wären wir immer noch unnütze Knechte (Lk 17,10). Ein Vater verspricht auch einem Kind einen Lohn, wenn es gehorcht, und dazu ist das Kind doch ohnehin verpflichtet, und wenn ihm der Vater den Lohn gibt, gibt er ihn ihm nicht, weil so ein Lohn dem Tun des Kindes angemessen wäre, sondern mehr aus seinem guten Willen.‘ – Zur Verdienstlichkeit Guter Werke vgl. auch den Abschnitt bei dems. u. Johannes Gropper: Das ,Wormser Buch‘, latein und deutsch (1540/1541), in: ders.: Opera I,9,1 (1995), S. (323–)338–438; hier 390–393. 311 Vgl. Bugenhagen: Predigt vom 26. Juni 1524 (1910); S. 17. Dazu oben S. 138. 312 Bucer: Dass Luthers leer 1523 (1960); S. 320. – Übertragung: ,… daß wir, durch diesen Glauben gerecht und gut gemacht, viele Gute Werke tun, aber [solche], die Gott geboten hat, die dem Nächsten zugute kommen, welche dann von selbst die Liebe bringt, und nicht die, die Menschen erdacht haben.‘
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leben soll, und wie der mensch dahin kummen mg.313 Originell ist besonders die Herleitung eines Lebens für andere aus der Schöpfungsordnung: Gott hat alles um seiner selbst willen geschaffen (Spr 16,4). Freilich benötigt er es nicht, doch kann es ihm dienen, indem es einander nützlich ist, um Gottes Ehre bekannt zu machen.314 Nach dem Fall ist der Mensch aber eigennützig geworden. Mit der Gotteserkenntnis ist auch sein Wissen um die Kreaturen eingegangen. Daher gebraucht er alle Dinge nurmehr in eitler Weise. Alles ist aber eigentlich geschaffen, um einander zu dienen, nicht sich selbst. So war es bei der Schöpfung, und so wird es am Ende auch wieder sein.315 Da der Mensch als einziges Geschöpf nach Gottes Bild geschaffen und mit Verstand begabt ist, „gebürt sichs ye, das der mensch vor allen andern creaturen sein wesen dohyn richte, das er in allen seinem thůn nichts eygens, aber allein die wolfart seiner nechsten menschen und brder sůche zů der eer gottes. dadurch er dann auch aller andern creaturen sich wol und recht gebrauchen würt und seligklich über sye herrschen, welchs dann ir wolfart und ordenlich eer ist.“316 Die Haltung, in der das geschehen kann, ist durch die Goldene Regel bezeichnet (Mt 7,12; Gal 5,14). „Uß disem volget nun, das der best und volkummest standt uff erden und seligest ist, in dem einer seinem nechsten zům nutzlichisten und fürderlichsten dyenen mag.“317 Um diese selige Verfassung zu erreichen, sind drei Stände angeordnet. Weil der geistliche über dem leiblichen Nächstendienst steht und ihn erst bedingt, ist das Apostelamt das höchste von allen. Ein wahrer Apostel gibt alles für das geistliche Wohl der anderen.318 Doch gerade aus diesem Grund sieht Bucer derzeit keinen verdorbeneren Stand „dann der genanten geistlichen Bpst Bischff, Pfaffen und München, seitenmal sye irem nammen und angenommenen standt noch nichts dann gemeynen und geistlichen nutz menigklich zůzůfgen sich fleissen sollten, daran setzen gůt, leib, eer und seligkeit und das ir in keinem ding nyemermer sůchen. und doch sye nit allein solchs alles underlassen, sonder auch dagegen mit allen irem thůn und lassen, worten und wercken dem gemeynen nutz hinderlich 313 Übertragung: ,Daß niemand sich selbst, sondern anderen leben soll – und wie der Mensch dahin kommen könnte.‘ – Vgl. zu dieser Schrift besonders Matthieu Arnold: „Dass niemand ihm selbst, sondern anderen leben soll“. Das theologische Programm Martin Bucers von 1523 im Vergleich mit Luther, in: Theologische Beiträge 32 (2001), S. 237–248. 314 Vgl. Bucer: Das ym selbs 1523 (1960); S. 45 f. – Ähnlich ders. u. Capito in Opera III ,2 (1989), S. 237. 315 Vgl. ebd.; S. 49 f. 316 Ebd.; S. 51. – Übertragung: ‚… gebührt sich jedenfalls, daß der Mensch vor allen anderen Geschöpfen sein Wesen dahin ausrichte, daß er in allem seinem Tun nichts Eigenes, sondern allein das Wohl seiner nächsten Menschen und Brüder suche zur Ehre Gottes, wodurch er sich dann auch aller anderen Kreaturen wohl und recht bedienen wird und seliglich über sie herrschen wird, ihnen zum Wohl und zu angemessener Ehre.‘ 317 Ebd. – Übertragung: ,Hieraus folgt nun, daß der beste, volkommenste und seligste Zustand auf Erden ist, wenn einer seinem Nächsten zum Nützlichsten und Förderlichsten dienen mag.‘ 318 Vgl. ebd.; S. 52.
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seind.“319 Der zweite Stand ist die weltliche Obrigkeit, die für die Wohlfahrt aller sorgen soll, indem sie äußerlichen Frieden erhält. Auch er erfordert Leute, die sich selbst verleugnen und nicht das Ihre suchen. Obwohl er nicht Gottes Wort predigt, hat er sich doch danach zu richten und ihm Geltung zu verschaffen.320 Doch auch hier diagnostiziert Bucer geradezu das Gegenteil: „Wie aber unser sünden schuld ist, das wir an statt der Aposteln falsch aposteln, für leerer verfrer haben, also ist es auch unsers gottlosen wesen schuld, das wir für frumm gttlich Fürsten und weltlich bren tyrannen, wlff, bren, lewen, kinder und maulaffen haben.“321 Danach folgen alle christlichen Stände und Tätigkeiten, die dem Nächsten am meisten Nutz und am wenigsten Beschwernis bringen. Das ist auch Sache der Erziehung. „Nun will ein yeder uß sein kinden Münch und Pfaffen machen. das ist, alls die sach leyder yetz gestalt ist, in den aller gefrlichsten und gottlosesten standt hyngeben. oder aber kauffleüt druß machen. alls der meynung, das sye on ir arbeit wider das gebott gottes Gen. iii [19] reich werden. das ist, das sye wider die gttlich ordnung und gantz christlich wesen das ir sůchen mit ander leüt beschwrd und verderben.“322 Daß solche Leute nur eigenen Nutzen suchen, ist die größte Plage, die Gott schicken kann. In dieser letzten Zeit hat der Eigennutz überhand genommen, und jeder trachtet nur danach, in Müßiggang von fremder Arbeit zu leben, statt seiner Verpflichtung nach dem Andern durch seine Arbeit zu helfen.323 Das ym selbs niemant, sonder anderen leben soll – das wäre also Bucer zufolge die gottgegebene Verfassung des Menschen, die nach dem Sündenfall und besonders in der Reichsstadt seiner Tage auf das gröbste ver319 Ebd.; S. 54. – Übertragung: ‚… als derjenige der erwähnten Geistlichen, Päpste, Bischöfe, Pfaffen und Mönche, zumal sie ihrem Namen und angenommenen Stand nach sich [zwar] befleißigen sollten, jedem nichts als allgemeinen und geistlichen Nutzen zu bringen, Gut, Leib, Ehre und Seligkeit zu riskieren und niemals, in keiner Sache das Ihre zu suchen, solches alles aber nicht bloß unterlassen, sondern im Gegenteil mit all ihrem Tun und Lassen, mit Worten und Werken dem gemeinen Nutzen hinderlich sind.‘ – Weitere Stellen: Ders.: Summary 1523 (1960); S. 103. – Ders.: Gesprechbiechlin neüw Karsthans, in: ders.: Opera I,1 (1960), S. 406– 444; hier 409 f. – Verantwortung M. Butzers, ebd. S. (149–)156–184; hier 165 f. – Martin Bucer: Grund und ursach aus gotlicher schrifft der neüwerungen an dem nachtmal des herren, so man die Mess nennet, Tauff, Feyrtagen, bildern und gesang in der gemein Christi, wann die zůsamenkompt, durch und auff das wort gottes zů Straßburg fürgenommen (1524), ebd. S. (185–)194–278; hier 197 f. 320 Vgl. Bucer: Das ym selbs 1523 (1960); S. 55 f. 321 Vgl. ebd.; S. 58. – Übertragung: ,Gleichwie aber unsere Sünden dafür verantwortlich sind, daß wir anstelle von Aposteln falsche Apostel, anstelle von Lehrern Verführer haben, so ist unser gottloses Wesen auch dafür verantwortlich, daß wir statt frommer göttlicher Fürsten und weltlicher Obrigkeit Tyrannen, Wölfe, Bären, Löwen, Kinder und Maulaffen haben.‘ 322 Bucer: Das ym selbs 1523 (1960); S. 59. – Übertragung: ,Nun will jeder aus seinen Kindern Mönche und Pfaffen machen – das heißt, wie sich die Sache jetzt leider darstellt, sie in den allergefährlichsten und gottlosesten Stand hingeben –, oder Kaufleute aus ihnen machen, alles in der Meinung, daß sie ohne ihre Arbeit gegen das Gebot Gottes (Gen 3,19) reich werden. Das heißt, daß sie gegen die göttliche Ordnung und gar christliches Wesen das Ihre suchen durch Beschwernis und Verderben für andere Leute.‘ 323 Vgl. ebd.
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letzt worden ist. Zwei Gruppen hat Bucer dabei besonders im Auge, nämlich Bettelmönchtum und Meßklerus zum einen, die zwar Armut vorgeben, aber auf Kosten anderer nach Bereicherung trachten, und zweitens die Kaufleute324, die durch lukrative Bankgeschäfte mühelos Gewinn machen. Diese egoistische Verrohung des Menschen, die der ursprünglichen Verfassung zuwiderläuft, macht ihn zu gutem Handeln aus eigener Kraft unfähig.325 Daher setzt erst an dieser Stelle Bucers Rechtfertigungslehre an. Sie wird am Schluß der Schrift einprägsam komprimiert, indem „allein das gttlich wort uns gesundt und selig machet, bringt den glauben, der glaub die lieb, die lieb die frucht der gůten werck, den folget das ewig erb und gantz gttlich und selig leben“326. Daß Christus einmal solche Guten Werke, die dem Nächsten getan wurden, so anerkennen werde, als hätten sie ihm selbst gegolten (mit Mt 25), ist auch für Bucer selbstverständlich. Barmherzigkeit vor Gericht wird demjenigen in Aussicht gestellt, der sich als Folge der erwiesenen Gnade Gottes nun auch seinem Nächsten gegenüber barmherzig gezeigt hat.327 So heißt es auch in einem Gutachten zur Messe von 1526, daß „wir gott nichts geben noch thůn mgenn; allein waß wir dem nechsten thuen, wyl er vffnemenn als ym geschehen [Mt 25,40], darumb vnser gantz leben dem nechsten můß zue dienst vnd nutz angericht sin, wie gestalt ist gewesen gegen vnß allen das leben Christi.“328 In einem umfangreichen Konzept, das Bucer und Capito 1524 an den Straßburger Rat richteten, war die Unmöglichkeit, Gott in Werken anders zu dienen als durch Nächstenliebe, besonders drastisch veranschaulicht, insofern die Leute „ire werck an Got wellen legen, alß so eins fursten hundtsbub sein hundaß nit wolte den hunden des fursten, sonder im selb, dem fursten geben zu essen, oder der stallbůb den pferden das strew nit machen, sonder in, dem fursten selb, darin zu ligen.“329 Daß Werke, die nicht dem Nächsten dienen, keineswegs gut sein können, selbst dann nicht, wenn sie vermeintlich direkt auf Gott gerichtet sind, kommt in der Alternative von Bilder‑ und Totenverehrung einerseits und Nächstenfür324
Vgl. auch ders.: Summary 1523 (1960); S. 144. Vgl. auch nochmals die oben zitierte Stelle aus Bucers Ulmer Ordnung 1531 (1975); S. 220. 326 Bucer: Das ym selbs 1523 (1960); S. 67. – Übertragung: ‚… allein das göttliche Wort uns gesund und selig macht, [was] den Glauben bringt, der Glaube die Liebe, die Liebe die Frucht der Guten Werke, denen folgt das ewige Erbe und vollkommen göttliches und seliges Leben.‘ – Vgl. im übrigen Gäumann 2001; S. 174–188. 327 Vgl. Bucer: Das ym selbs 1523 (1960); S. 63. 328 Ders.: Predicanten Bericht der messen halb (1526), in: ders.: Opera I,2 (1962), S. 483– 496; hier 484. – Übertragung: ‚… wir Gott nichts geben noch tun können; allein, was wir dem Nächsten tun, will er als ihm selbst getan annehmen, weshalb unser ganzes Leben dem Nächsten zu Dienst und Nutzen bereitet sein muß, so wie uns allen gegenüber das Leben Christi gewesen ist.‘ 329 Ders. u. Capito in Opera III ,2 (1982); S. 237. – Übertragung: ,… ihre Werke an Gott richten wollen, als wollte der Hundediener so eines Fürsten sein Hundefutter (nämlich Aas) nicht den Hunden des Fürsten, sondern ihm, dem Fürsten selbst, zu essen geben, oder der Stallbube nicht den Pferden das Streu bereiten, sondern ihm, dem Fürsten selbst, um darin zu liegen.‘ 325
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sorge anderseits zum Ausdruck, die Bucer ebenso scharf kontrastiert wie Bugenhagen. Dies geht aus weiteren Schriften hervor, etwa aus seiner Summary, einer retrospektiven Zusammenschau seiner reformatorischen Predigten, die er noch in Weißenburg gehalten hatte und in Straßburg in der zweiten Jahreshälfte 1523 drucken ließ.330 Über die Guten Werke heißt es darin, sie „seind nit kirchen, altar, mesß stiften oder dergleichen, sonder die zů gůt und nutz dem nechsten geschehen“331, und zwar im einzelnen die bekannten Werke der Barmherzigkeit, die in der Weltgerichtsrede (Mt 25) gefordert sind. Sie „mssen auß brderlicher liebe den nechsten bewisen werden und zů gůt den leüten, nit gott, den abgestorbnen heiligen, den todten, stein und holtz beschehen.“332 In ähnlicher Weise erwidert Bucer in einem Meßgutachten von 1525 auf den Vorwurf, die Reformatoren hätten die Bilder entfernt und zerstört: Diese seien nicht nur gegen Gottes Gebot verehrt worden; „dartzu hat man gemeint, es sig ein grosser gotsdienst, solich bilder vnd getzen mutzen vnd zieren. Daneben hat man hilffloß gelossen die lebendigen Bilder gottes, vnser nechsten, denen wir allein gůts thun soltten. Vnd was wir jne thundt oder nit thůnt, ist Christo selbs gethon oder nit gethon“333 (Mt 25,40). Wie erst einige Jahre später bei Johannes Bugenhagen334, so ist auch hier bereits die Imago-Dei-Lehre auf die Fürsorge am Armen und Kranken als Bild Christi angewandt, wogegen jede andere, nicht gebotene Form vermeintlich direkter Gottesverehrung abgelehnt wird. Bucers doppelte Argumentation gegen den Bilderkult ist eingegangen in die Confessio Tetrapolitana von 1530: „An den Billdern haben vnnsere prediger aus göttlicher schrifft Erstlich gestraffet, das man sye wider das haillig gepott gottes so offenlich last von dem ainfelltigen vollck vereret vnnd angepettet werden. Zum anndern, das man an sye vnnd ire zierd so mercklichen Costen legen lasset, Damit dem hungerigen, 330 Zum verbreiteten Typus und zum Verfahren solcher retrospektiven Flugschriften von Predigern, die ihre Kanzel verlassen mußten und nachträglich eine Summe ihrer Verkündigung herausbrachten, vgl. den Band von Bernd Moeller u. Karl Stackmann: Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529. Göttingen 1996 (AAWG.PH 220); zur Summary dort S. 36–50 et passim. 331 Bucer: Summary 1523 (1960); S. 92. – Übertragung: ,… sind nicht Kirche, Altar, Meßstiftungen oder dergleichen, sondern die, die dem Nächsten zugutekommen und nützlich werden.‘ 332 Ebd.; S. 93. – Übertragung: ,… müssen aus brüderlicher Liebe den Nächsten bewiesen werden und den Leuten zugute, nicht Gott gegenüber geschehen, den verstorbenen Heiligen, den Toten, Stein und Holz.‘ – Ausführlicher ebd.; S. 88. – Ähnlich auch ders.: Epistola apologetica [1530] (hg. v. Cornelis Augustijn), in: ders.: Opera II,1 (1982), S. (59–)75–225; hier 109 f. 333 Ders.: Der predicanten verantwortten (1525), in: ders.: Opera I,2 (1962), S. (432–)434– 460. – Übertragung: ,… zudem hat man geglaubt, es sei ein großer Gottesdienst, solche Bilder und Götzen aufzuputzen. Währenddessen hat man die lebenden Bilder Gottes ohne Hilfe gelassen, unsere Nächsten, denen wir allein gutes tun sollten. Und was wir für sie tun oder nicht tun, ist für Christus getan oder nicht getan.‘ 334 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 137. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 13 f. – Vgl. oben S. 169 f.
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durstigen, Nackennden, weyslosen, kranncken vnnd gefanngnen Cristo sollte hanndtraichung beschechen“335. Dieser Kritik an kostspieligen Bilderkulten entspricht strukturell die Ablehnung der Totendienste zugunsten des wahren Gottesdienstes am Nächsten. Dementsprechend nimmt Bucers Beanstandung der Seelmessen und generell des Stiftungswesens eigenen Raum ein. Durch falsche Wunderzeichen seien die Leute verführt worden, ihr Gut auf Kosten der eigentlichen Armenfürsorge an Stifte und Klöster zu geben.336 Diese Spender hätten am Ende aller Tage nichts vorzuweisen: Wenn sie beim Jüngsten Gericht „ir kirchen, clster, mesßen, singen, klingen und orgel, brůderschafften, bilder und gemld und was des dings mer ist herfürzyehen werden, würt ynen der herr zů antwurt geben wie denen, die sich berůmen werden, sye haben in seinem nammen geweissagt, teüffel ußtriben, vil thaten gethon, sprechend: Ich hab eüch noch nye erkant, weichent alle von mir ir übelt hter“337 (Mt 7,22 f.). Ein großer Betrug sei es daher, die Hilfsbereitschaft des Volkes von den Lebenden abzuziehen und auf die Toten im Fegfeuer zu richten. Daß die apokryphe Perikope vom eingesammelten Geldopfer zur Sühne der Gefallenen, mit dem Judas Makkabaeus seinen Auferstehungsglauben demonstrierte (2 Makk 12,43–56), bei den Totenämtern verlesen werde, sei gerade kein Beweis dafür, daß kostspielige Totenmessen in der Bibel gefordert würden. Doch mittlerweile wende man sogar für jeden Gulden, der den Lebenden gespendet werde, zwanzig den Toten zu. Das liege nur an der verbreiteten Ignoranz gegenüber den Forderungen der Schrift, etwa des Wortes Jesu an den reichen Jüngling: „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen“ (Mt 19,21). Wenn so eindeutig gefordert sei, den Armen alles zu geben, „was bleibt uns dann über todtengespreng, Münch‑ und pfaffenzech zůzůrichten, freßvolck zů msten?“338 Wie Luther und Bugenhagen, so warnt auch Bucer vor Poltergeistern, vor dubioser Kontaktaufnahme mit dem Jenseits (nach den Verboten in Dtn 18,11 und Jes 8,19) und vor den hiermit verbundenen profitablen 335 Confessio Tetrapolitana 1530 (1969); S. 151 (= § XXII ). – Übertragung: ,An den Bildern haben unsere Prediger aus Gottes Schrift erstens kritisiert, daß man sie gegen das heilige Gebot Gottes so offenbar vom einfältigen Volk anbeten und verehren ließ. Zweitens, daß man für sie und ihren Schmuck so spürbare Kosten aufwendet, mit denen dem hungrigen, durstigen, nackten, fremden, kranken und gefangenen Christus geholfen werden sollte.‘ 336 Vgl. ders.: Summary 1523 (1960); S. 108. 337 Ebd.; S. 109. – Übertragung: ,… ihre Kirchen, Klöster, Messen, Singen, Klingen und Orgel, Bruderschaften, [plastische] Bildwerke und Gemälde und solcher Dinge mehr hervorziehen werden, wird ihnen der Herr antworten wie denen, die sich dessen rühmen werden, sie hätten in seinem Namen geweissagt, Teufel ausgetrieben, viele Taten vollbracht, indem er sprechen wird: Ich habe euch noch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter! (Mt 7,22 f.)‘ – Ähnlich ders.: Grund und ursach 1524 (1960); S. 233 f. – Ders.: Der predicanten verantwortten (1525), in: ders.: Opera I,2 (1962), S. (432–)434–460; hier 447. 338 Ders.: Summary 1523 (1960); S. 115. – Übertragung: ‚… was bleibt uns dann noch übrig, um Totenprunk, Mönchs‑ und Pfaffenzeche auszurichten, Freßvolk zu mästen?‘ – Vgl. auch ders.: Dass Luthers leer 1523 (1960); S. 339.
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Forderungen der Mönche und Pfaffen, namentlich vor den Wallfahrten, dem Kauf prunkvoller Totenmessen und dem Ablaßhandel, die letztlich alle auf den verbotenen Totenkult zurückzuführen seien.339 Zusammenfassend heißt es an späterer Stelle der Summary, daß auf die „abgestorbnen […] kein kosten, sonder uff die lebendigen zů wenden sey und sye dem almechtigen mit gleübigem gebett […] sollen befolhen werden, seittenmal uns kein schrifft einiche hilff, yn nach zů thůn, lernet.“340 Bucers Konzept von einer durch Belehrung und Zucht geordneten Kirche entsprechend, nehmen seine Katechismen eine Schlüsselfunktion für die Realisierung des Reiches Christi ein. In der kurzen schriftlichen Erklärung, die 1534 die Straßburger Kirchenordnung pädagogisch flankierte, und in den beiden kürzeren Katechismen von 1537 und 1543 ist das Almosengeben als Ausdruck christlicher Nächstenliebe berücksichtigt. Die Relevanz solcher Taten vor dem Jüngsten Gericht (nach Mt 25) ist auch in diesen Texten selbstverständlich angesprochen.341 Der kürzere Katechismus von 1543 hat sogar einen eigenen Abschnitt „vom gemeinen Almůsen“342. Unter den biblischen Lernsprüchen für die Katechese ist der aus Exodus 23,17 und Deuteronomium 16,16 zusammengestellte Befehl besonders exponiert: „Dreimal des jars solle alles, was menlich ist under dir, vor dem HErREN , deinem Gott erscheinen etc. Und soll aber niemand leer vor dem HERREN erscheinen, ein iglicher nach der gabe seiner hand, nach dem segen, den dir der HERRE, dein Gott, gegeben hat.“343 Ausführlicher ist das regelmäßige Almosengeben als allgemeine Kirchenübung dann im Dialogteil behandelt: Aus der alttestamentlichen Anweisung sei erstens zu lernen, daß „jederman, arm und reich, jung und alt, in der gemein Gottes dem Herrn sein opffer und gaben bringen solle“344, als Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus „in den seinen“345, also in Gestalt seiner Geringsten (Mt 25,40). Zweitens, daß dieses Opfer seinen Ort in der Versammlung der Gemeinde habe, wie es auch seit der Alten Kirche sinnvollerweise mit der Eucharistiefeier verbunden gewesen sei, als notwendige Antwort 339
Vgl. ders.: Summary 1523 (1960); S. 115 f., ferner 101 f. Ebd.; S. 143. – Übertragung: ‚… auf die Verstorbenen kein Geld zu wenden sei, vielmehr auf die Lebenden, und sie [die Toten] dem Allmächtigen mit gläubigem Gebet anbefohlen werden sollen, zumal uns keine Schrift irgendeinen Anhalt darüber lehrt, ihnen etwas nachzusenden.‘ 341 Vgl. ders.: Kurtze schrifftliche erklrung fr die kinder und angohnden … Durch die Prediger und diener der gemein zu Straßburg (1534), in: ders.: Opera I,6,3 (1987), S. 51–173; hier 94. – Ders.: Der kürtzer Catechismus und erklrung der XII stücken Christlichs glaubens. Des Vatter unsers und Der Zehen gepotten. Für die Schůler und andere kinder zů Strasburg. Durch die Prediger daselbst gestellet. M. D. XXXVII, ebd. S. 175–223; hier 187. – Ders.: Der Kürtzer Catechismus. Das ist Christliche underweisung … Für die Schůler und andere kinder zů Strasburg. M. D. xliii, ebd. S. 225–265; hier 235. 342 Ebd.; S. 231. 343 Ebd. 344 Ebd.; S. 261. 345 Ebd.; S. 262. 340
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auf das Opfer Christi. Drittens, daß die Sammlung für den Bedarf an Personal, Kirchenbau und für ähnliche Aufgaben, aber auch zur Versorgung Bedürftiger zu verwenden sei. Mit Mt 25,41 wird nochmals eingeschärft, daß die Verweigerung des Almosens eine schwere Sünde bedeute, und daß die allgemeine Spende in den Opferstock der Kirche nicht durch individuelles Almosengeben ersetzt werden könne.346 Sollte das Opfer nicht bestimmungsgemäß verwendet oder gar verhindert werden, müsse jeder Christ darauf aufmerksam machen und es bessern helfen, wie überhaupt alles daran gelegen sei, das Almosen ordnungsgemäß zu erhalten. Wer sich seinen Gaben entsprechend am gemeinsamen Opfer beteilige, dürfe auch wiederum mit Gottes zeitlichem und ewigem Segen rechnen.347 Die exemplarische Durchsicht von Bucers Schriften aus der Straßburger Zeit hat zweierlei gezeigt: Erstens dokumentiert bereits die Auswahl, daß ein wirklich christliches Leben ohne aktive Nächstenliebe für ihn undenkbar war. Neben weiteren Faktoren spielte hierfür einerseits die Einbettung der Ethik in die Vorstellung vom Reich Christi, das näherungsweise bereits im sichtbaren christlichen Gemeinwesen Gestalt gewinnen könne, eine zentrale Rolle, anderseits die von Bucer immer wieder herangezogene Zusage Christi, er werde am Jüngsten Tage die Dienste an seinen Geringsten als Dienste an ihm selbst anerkennen (Mt 25,40). Aus dem ersten Grundsatz ergibt sich, daß Verkündigung, Sakrament und Zucht in der christlichen Gemeinde besonders exponiert werden müssen, um die geistliche und leibliche Barmherzigkeit unter Brüdern notwendig folgen zu lassen; aus dem zweiten, daß solche Gottesdienste, die nicht die Bedürftigen und damit die wahren Bilder Christi im Blick haben, und die nicht auf die Lebendigen, sondern auf die Toten gerichtet sind, nicht Gott dienen, sondern von ihm sogar verworfen werden. Im Rahmen dieser doppelten theologischen Bedingung sind alle verstreuten Aussagen Bucers zur Fürsorgemotivation zu lokalisieren. Vor diesem Hintergrund ist auch als zweite, nur scheinbar paradoxe Beobachtung festzuhalten, daß die Motivation aktiver Nächstenliebe auch nach der Einführung neuer Fürsorgesysteme in Ulm, Straßburg und Augsburg in Bucers Schriften keinen prominenten Posten besetzt. Im Gegenteil: Verglichen mit dessen gründlicher und beharrlicher Arbeit an Katechetik, Abendmahlstheologie und Kirchenzucht, nimmt die Theorie der öffentlichen Fürsorge, soweit sie aus seinen Kirchenordnungen und weiteren Schriften rekonstruiert werden konnte, nur schmalen Raum ein. Keine Einzelschrift ist dem Thema gewidmet, sieht man von der Erstlingsschrift über die Nächstenliebe (1523) einmal ab. Die private Hilfe zwischen Brüdern und Schwestern des christlichen Gemeinwesens war für Bucer geradezu eine notwendige Folge der geistlichen Konstitution im Reich Christi: „Am ampt und dienst der seelsorg“, heißt es dementsprechend in seiner Schrift Von der waren Seelsorge (1538), „ist weiter gelegen; Dann wo das ampt der 346 347
Vgl. soweit ebd. Vgl. soweit ebd.; S. 263.
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seelsorg recht bestellet und seine ubung wol hat, mag kein besonder mangel an disem anderen dienst der leibssorge bescheinen.“348 Im Blick auf die öffentliche Fürsorge hingegen begnügte er sich ausdrücklich damit, im selben Zusammenhang nur knapp auf das städtische Fürsorgewesen hinzuweisen, zur Bekämpfung von Besitzansprüchen der römischen Kirche und zur Wiederherstellung frühchristlicher Zustände aufzurufen. Das neue Straßburger Fürsorgesystem sah er in diesem Sinne als bescheidenen Anfang.349 Seine Vorstellungen von einem kirchlich erneuerten Diakonat, die in dieser Schrift erstmals entfaltet wurden, zielten dementsprechend in erster Linie auf Seelsorge (und das heißt auch, auf Belehrung, Zucht und Strafe) und nur sekundär auf eine leibliche Versorgung der Gläubigen350, erst recht nicht auf eine kirchlich neugestaltete Armendiakonie ab.351 Strukturelle Veränderungen, die die Nöte der Unterschichten in der Großstadt langfristig hätten beseitigen oder lindern können, interessierten Bucer jedoch kaum.352 Daß die soziale Ungleichheit gottgewollt sei, stand auch für ihn außer Frage.353 Von einer prominenten Vorreiterrolle354 Bucers auf diesem Gebiet kann keine Rede sein. d. Engagierte Fürsorgemotivation durch Lucas Hackfurt und Caspar Hedio Daß Martin Bucer sich trotz der theologischen Verfechtung brüderlicher Nächstenliebe für die Popularisierung des Großen Almosens in Straßburg so wenig eingesetzt und dem städtischen Fürsorgewesen seinen Lauf gelassen hatte, rächte sich in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Zwar konnte sich das Almoseninstitut in den Jahren nach 1523 zunächst einigermaßen bewähren, erwirtschaftete sogar Über-
348 Ders.: Von der waren Seelsorge und dem rechten Hirtendienst, wie derselbige in der Kirchen Christi bestellet und verrichtet werden solle, durch Martin Bucer, in: ders.: Opera I,7 (1964), S. (67–)90–245; hier 116. 349 Vgl. ebd. 350 Vgl. ebd.; S. 114. 351 Zu einer dezidiert anderen Einschätzung gelangt hier Hammann 2003; S. 248–261. Doch die vergleichsweise wenigen und überdies verstreuten Passagen aus Bucers oberdeutschen Schriften, an denen er dem Diakonat im Sinne konkreter Armenfürsorge verstärkte Aufmerksamkeit widmet, lassen es kaum zu, von einem ausgearbeiteten Konzept ekklesialer Armendiakonie zu sprechen; in erster Linie ist der Diakonat in Bucers Straßburger Zeit ein Amt der Seelsorge, der Belehrung und Kirchenzucht. Erst in seinem Cambridger Alterswerk interessierten Bucer verstärkt auch Armen‑ und Krankenfürsorge als Aufgaben des Diakons. Daß er in Straßburg „weder die Zeit noch die Kraft“ hatte, das von Hammann postulierte Konzept umzusetzen (ebd.; S. 260), ist doch eine etwas dürftige Erklärung. Näher liegt, daß Bucer von vornherein ein anderes Modell im Blick hatte als er. 352 So auch Gäumann 2001; S. 304. 353 Vgl. Martin Bucer: Enarratio in evangelion Iohannis (1528, 1530, 1536), in: ders.: Opera II,2 (1988); hier S. 376, Abs. 3. 354 So etwa Robert Stupperich: Martin Butzers Anteil an den sozialen Aufgaben seiner Zeit, in: Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung 5 (1954), S. 153–141.
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schüsse355, geriet dann aber unter heftigen Beschuß, als die Reichsstadt in den Sog der akuten Teuerungswelle von 1529–1534 geriet. Allerdings hatte der Rat Getreidevorräte angelegt, die zunächst noch unter Marktpreis an die Bevölkerung abgegeben werden konnten.356 Zudem war es dem Almosenschaffner Lucas Hackfurt in den zurückliegenden Jahren durch eine beharrliche Eingabepolitik gelungen, ihn zur Überweisung einzelner freigewordener Kirchengüter und Klöster an das Vermögen des Großen Almosens zu bewegen, doch reichten solche Mittel in der Krise keineswegs aus.357 Mit dem Wohlstand sank zugleich die Spendenbereitschaft, teils weil der Eigenbedarf dringender wurde, teils weil man den Erfolg des Fürsorgesystems in der angespannten Lage kaum wahrnahm. Dementsprechend sah sich das Almoseninstitut zunehmend schärferer Kritik und Verleumdung aus der Stadtbevölkerung ausgesetzt.358 Aus diesen Jahren sind mehrere Denkschriften Hackfurts an den Straßburger Rat überliefert.359 Gleich zu Beginn einer Eingabe vom Mai 1530 veranschlagte er zur Aufrechterhaltung der Armenpflege einen jährlichen Bedarf von 6000 fl. Geld und 3000 Viertel Getreide360, wogegen noch im Verlauf des Jahres nach Einrichtung des Großen Almosens nur 1107 fl. Geld und 311 Viertel Getreide ausgegeben worden waren361. Der bedrohlichen Kostenentwicklung versuchte Hackfurt nicht allein durch organisatorische Vorschläge zu begegnen, sondern auch – was zur Fürsorgemotivation in der Reichsstadt von größerem Interesse ist – durch eine eindringliche, dezidiert evangelische Mahnung, die er als Gegenbedenken einem Ratspapier vom Juli 1531 anfügte. „[W]as tribt die armen lüt“, so fragte er, „us allen landen hiehär? antwurt: die groß not und thürung. wohär kompt die thürung? von gott. warumb hat er sie uns zugeschickt? umb unsers unglaubens und sünden willen, nemlich der grossen undanckbarkeit und eigennützigkeit halb, dohär dann ein grosse unbarmherzigkeit und unbrüderliche beschwerde unsers nechsten erwechset. macht, das jeder sich will mit müssiggon oder unbillichen gewerben und handtierungen erneren.“362 Das war ganz im Sinne Bucers gesprochen, der den grassierenden Egoismus ja bereits in den frühen Schriften als größte Plage und als Ursache vieler weiterer Übel beklagt hatte.363 Daß Gott die Sünde solchen Unglaubens durch gemeine Landplagen strafe, erinnert der Tendenz nach an Luther, der etwa die Angriffe der Türken bereits seit 1517 als Bestrafung des verbreiteten
355
Vgl. die Zahlen bei Winckelmann 1922; Teil 2, S. 234–236. Vgl. Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis. Hamburg u. Berlin 1974; S. 49 f. 357 Vgl. Winckelmann 1922; Teil 1, S. 110–115. 358 Vgl. ebd.; Teil 2, S. 153 f; dazu Teil 1, S. 115. 359 Vgl. ebd.; Teil 2, S. 132–134, 138–140, 147 f. und 149–165. 360 Vgl. ebd.; S. 132. 361 Vgl. ebd.; S. 236. 362 Ebd.; S. 147. 363 Vgl. Bucer: Das ym selbs 1523 (1960); S. 59. Dazu oben S. 185 ff. 356
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Unglaubens bezeichnet hatte.364 Hackfurt wollte aber nicht zur duldsamen Hinnahme der Bestrafung, sondern zur Umkehr und damit zur allgemeinen und individuellen Verstärkung des Engagements auffordern, zumal Gott den Städtern mehr Reichtum geschenkt habe als der Landbevölkerung.365 Jetzt sei es Zeit, die Klostergüter den Armen zukommen zu lassen, denen sie eigentlich gehörten. Daher solle man Gott bitten, „das er uns rechte getruwe hushalter siner goben und güter, vorab der kirchengüter, machen wolte, das man sich nit vergriffe“. Gerade die finanzielle Notlage sei keine gute Ausrede, denn sie werde sich noch verschlimmern, wenn man weiter an Gottes Gnade verzage. Keine Frage auch, daß jeder Einzelne die Fremden mitversorgen müsse; „der sie zu dir schickt, der würt dich wol beraten und dir ein schutz dorin geben. loß du in sorgen, richt du nur an.“ Diese Gäste sollten nicht fortgeschickt werden, wie man überhaupt vor Gott keine Angst haben müsse, wenn man zu viel oder „unnützen lüten“ gebe – aber doch, wenn man die Hilfe verweigere.366 Auch in seinem langen Memorandum vom Januar 1532 analysierte Hackfurt nicht nur die Gründe für das wachsende Massenelend und unterbreitete eine Reihe organisatorischer Vorschläge, sondern mahnte auch eindringlich zu einem generellen Umdenken: Wenn zu dieser schweren Zeit am Almosen gespart würde, so frage sich doch, wann sonst man den Armen denn helfen wolle. In der anschließenden Ermahnung, „erbarme dich etwas mehr über den armen, wiltu, das sich gott ouch din erbarme“, klingt erneut die Rechenschaft vor Gottes Gericht an.367 Sonst gebe es nur zynische Alternativen: „Eintweders man jage sie alle wider hinweg oder man verbrenne sie in eim alten hus alle jor einmol oder zwei […], oder man laß sie wider fri umbloufen und betteln […]. oder man erhalte sie noch zimlicher notdurft, uf das sie nit jämerlich hungers sterben. nit heischen dörfen und inen ouch nüt geben oder joch minder inen geben, dann mancher sinem jaghund gibt, würt nit die armen dürftigen erhalten heißen.“368 Mit anderen Worten: Hat man sich einmal für die Abschaffung des Bettels entschieden, müssen die Armen auch anständig versorgt werden. Viele seien aber wohl der Meinung, wenn man den Armen so wenig wie möglich geben solle, sei das die 364 Vgl. etwa Jörg Haustein: Der Einspruch Luthers gegen Heiligen Krieg und Wallfahrt. Aktuelle Erinnerungen an einen vergessenen Zusammenhang, in: Reformation und Katholizismus. Beiträge zu Geschichte, Leben und Verhältnis der Konfessionen. Festschrift für Gottfried Maron zum 75. Geburtstag (hg. v. dems. u. Harry Oelke). Hannover 2003 (Reformation und Neuzeit 2), S. 258–275; hier 261 f. 365 Vgl. Winckelmann 1922; Teil 2, S. 147. 366 Vgl. soweit ebd.; S. 148. 367 Vgl. ebd.; S. 149–165; hier 151. 368 Ebd.; S. 151 f. – Übertragung: ,Entweder jage man sie alle wieder fort, oder man verbrenne sie ein-zweimal jährlich in einem alten Haus […], oder man lasse sie wieder frei herumlaufen und betteln […], oder man erhalte sie gerade notdürftig, damit sie nicht jämmerlich verhungern. Wenn sie nicht betteln dürfen, man ihnen anderseits aber nichts gibt (oder ihnen jedenfalls weniger gibt als mancher seinem Jagdhund), kann das nicht Erhaltung der armen Bedürftigen genannt werden.‘
III. Theologische Probleme der Fürsorgemotivation in der Reformationszeit
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klügste Ordnung; am besten noch, sie würden direkt aus der Gosse essen. Dabei verwahrt sich Hackfurt dagegen, den betrügerischen Bettlern und Müßiggängern Zugeständnisse zu machen; auch will er nicht dazu ermuntert haben, Einzelnen an ihren Besitz zu gehen, um ihn den Armen zu geben. Das gelte auch für die Kirchengüter, obwohl es angemessen wäre, nach dem Vorbild des Heiligen Ambrosius und weiterer „bischöffe in der ersten kirchen (dern disse glich sehen solt, wann es nit besser sin möchte)“369 die überflüssigen Kleinodien und Altargeräte zu versetzen, um damit den Armen zu helfen. Aber noch seien die Kirchengüter so ungerecht verteilt, daß die Armen an Hunger, die Bewohner zweier Straßburger Klöster jedoch eher an Völlerei sterben würden. Implizit hoffte Hackfurt auf städtische Hilfe bei der Umverteilung von Kirchengut zugunsten des Großen Almosens. Hauptanliegen seiner Denkschrift von 1532 war es, die zahlreichen Vorwürfe zu entkräften, die in der Stadt kursierten. Als Urheber der Gerüchte vermutete er Altgläubige, die die neue Ordnung grundsätzlich ablehnten und sein Institut fundamental beschädigen wollten.370 Doch er bat auch die Befürworter der Einrichtung, die gleichwohl einzelne Beanstandungen geäußert hatten, um Diskretion, um nicht durch öffentliche Kritik dem ganzen Unternehmen zu schaden.371 Besonders schwer wog der Eindruck, das Almosen sei bodenlos, „man fresse pfründen, kirchen, klöster, isen, glocken etc. müßt man dann alle ding in die betler stossen?“372 Freilich könne man diesem Sack einen guten Boden machen, „wenn uns an dem sack also vil gelegen were als an unsern wängsten und säcken, so wir dennocht mit mutwill und uberfluß füllen. wie kompt es“, fragte Hackfurt weiter, „das uns diser armensack so vil leids thut und doch der pfaffen und münch sack ouch noch uf disen tag bi uns in solchen eeren ist, das in niemans in diser grossen not zu underhaltung der armen anrüren und doch nur ein wenig schütteln darf, den sie mit liegen und betriegen zu eim grossen nochteil der armen und irem tüfelischen giz, mutwillen und uberfluß uberkommen und noch uf dissen tag behalten?“373 Was man den Armen aus solchen Gütern beisteuern wolle, bleibe hingegen auch künftig in der Stadt im Umlauf, denn gewiß würde keiner von ihnen das Geld in Venedig oder Frankfurt zur Bank bringen. Der zusätzliche Geldumlauf würde auch der Stadt nützen, „wiewol des geschreis so vil ist, ob man müß alle ding in die bettler stossen. nein, man muß nit alle ding in die bettler stossen, sonder nur den armen dürftigen die notdurft geben. Christus begert nit den hungerigen zu füllen oder uberschütten sonder noch notdurft zu spisen, nach notdurft zu trenken, noch notdurft inen andere narung und handreichung zu thun. das begere ich auch.“374 Diesem Wunsch 369
Ebd.; S. 152. Vgl. ebd.; S. 153. 371 Vgl. ebd.; S. 155. 372 Ebd.; S. 160. 373 Ebd. 374 Ebd.; S. 161. 370
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verlieh Hackfurt am Ende der Denkschrift besonderen Nachdruck: Für den Fall, daß zur Armenfürsorge nicht genug Mittel bewilligt würden, kündigte er seinen Rücktritt an. Unter den gegebenen Umständen weiterzuarbeiten, könne er vor Gott nicht verantworten.375 Gleich im nächsten Jahr erhielt Hackfurt publizistischen Beistand durch den Münsterprediger Caspar Hedio († 1552). Dieser veröffentlichte 1533 als Flugschrift seine deutsche Übersetzung des Traktats De Subventione Pauperum, den der spanische Humanist Juan Luis Vives († 1540) als fundamentale Theorie der Armenfürsorge verfaßt und 1526 dem Rat der Stadt Brügge zugeeignet hatte. Hedio wandte sich mit seiner Vorrede seinerseits an den Straßburger Rat, den er gleich zu Beginn an Hackfurts Denkschriften und an die Bemühungen der Prediger erinnerte.376 Vor den Menschen und vor Gott, so fuhr er fort, bleibe unvergessen, was die Angesprochenen „in liebthatten gegen den eüwern vnnd außlndigen Teütschen vnnd Welschen armen gethon. Als in der nechst vergangnen dry irigen theürung / da yhr von des gemeinen nutzes kasten über die zweintzig tausend viertel frücht eüwern Burgern […] außgetheilt vnnd das Burger meel geben haben. Vnd den außlndigen / über die hundert tausent viertel frücht (will wenig nennen) hinauß volgen lassen vnd zůkauffen geben.“377 Indem Hedio hier und auf den folgenden Seiten die Erfolge des Großen Almosens während der Teuerungszeit minutiös dokumentierte und sie als erinnernswerte Leistungen der Stadtobrigkeit rühmte, mahnte er diese zugleich, die Armenfürsorge als ihre eigene Angelegenheit zu betrachten – was sie nominell auch war. Allen Beteiligten dürfte aber auch klar gewesen sein, daß die städtische Obrigkeit sich bislang nur zögerlich engagiert hatte, daß die vom Rat entsandten Armenvisitatoren so wenig Einsatz wie Kompetenz gezeigt hatten, und daß die Hauptlast des Unternehmens mithin bei ihrem tüchtigen Beamten Hackfurt lag. Wollten sich die Angesprochenen also Hedios anerkennende Aufzählung der Wohltaten zu eigen machen, die in den letzten Jahren auf ihr Konto gegangen seien, so müßten sie zweifellos ihre eigenen Leistungen verstärken: Panegyrik als Paränese. Auch auf Außenwirkung war Hedio bedacht: Nicht nur, um den eigenen Bürgern, ihren Kindern und Kindeskindern gute Beispiele der christlichen Nächstenliebe zu geben, nicht nur, um eine Handhabe gegen Verdächtigungen und Verleumdungen zu gewinnen, sondern auch als Vorbild für fremde Städte sollte bekannt werden, was bisher geleistet worden war, damit „jr glaub auch durch die liebe jr wirckung haben mchte. Hierumb Gnedigen herrn vnnd lieben frummen burger laßt vns nit auff hren / die hungerigen zů speysen / die durstigen 375
Vgl. ebd.; S. 165. Vgl. *Juan Luis Vives: Von Almůsen geben Zwey bchlin Ludouici Viuis. Auff diß new xxxiij. Jar durch D. Casparn Hedion verteütscht vnd eim Ersamen Radt vnnd frummer burgerschafft zů Straßburg zůgeschriben. Allen Policeyen nutzlich zů lesen. [Ohne Ort, Drucker und Jahr [1533]]; fol.[ ] 2 r°. 377 Ebd.; fol. [ ]2 v°. 376
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zů trencken / die frembden vnnd bilger beherbergen / die nackenden kleiden . etc. [Mt 25] sonder laßt vns eingedenck sein des spruchs Christi. Dem vil gegeben ist / von dem würt auch vil erfordert [Lk 12,48]. Jtem der krglich set / wird auch krglich rndten / vnnd wer da set in benedeyungen / der würt auch rndten in benedeyungen [2 Kor 9,6]. Laßt vns inn erzeygung Christlicher treüw gegen menigklich fürtfaren / vnnd in gůtten wercken eyferig seyn / darmit wir die leer gottes vnsers heylands inn allen dingen zieren“378. Die reformatorische Auffassung, daß die Guten Werke eine notwendige Folge von Gottes Wort sein müßten, ist hier und andernorts deutlich ausgeführt. Obwohl Hedio eine „Summary diser zwey buecher“379 ankündigte, setzte er doch eigene Schwerpunkte. Den Adressaten seiner Übersetzung legte er besonders die öffentliche Fürsorge ans Herz. Das erste Buch der Subventio pauperum bietet demgegenüber eine Theorie der privaten, das zweite dann der politischen Aufgaben zur Verbesserung der Fürsorge. Hedio schloß beides in den Gedanken ein, „das die menschen vil mit rwigern gwissen vnd Conscientzen / der zůkunfft Christi des richters vnnd der offenbarung der kinder gottes erwarten / so sye von jr hab / in das gemein Almůsen geben / vnnd lassen erbar redlich frumm leüt so von einer Oberkeit darzů verordnet / die auch ein yedes leben vnnd herkummen baß dann sondere personen wissen oder erforschen mgen / solchs eingeschossen außspenden. Vexiert vnnd bekümmert sye dester weniger der spruch von alten Basilio Augustino vnnd anderrn gesetzt. Hastu nit gespeyset / so hastu tdtet.“380 Private und organisatorische Aspekte der Fürsorge werden auch an anderer Stelle aufeinander bezogen: „Diße zwey ding von ntten seind vnnd gefallen bede Gott trefflich wol. Erstlich das wir vns anderer menschen not annemen / vnd so wir haben die narung diser welt vnd sehen dz vnser brůder mangel hat / an essen / trincken / kleidung / decke / behausung / das wir vnser hertz nitt zůschliessen / nit allein mit worten vnd der zungen / sonder mit dem werck vnnd warheit jhm helffen.“381 Solche Werke der geistlichen und leiblichen Barmherzigkeit wolle Christus am Jüngsten Tag anerkennen (nach Mt 25). Zweitens sei aber ebenso nötig, daß „mann das übel tapffer straffe vnd ernstlich einsehens habe / denen dingen dadurchs almůsen beschwert würt / bey rechter zeit zů begegnen. Da hat die Oberkeit jr Constitucion / vnnd tregt das schwert nit vergebens“382. Besonders die öffentliche Erziehung solle darauf hinwirken, daß im Zusammenleben in einer christlichen Stadt jeder dem andern helfen möge, wie das Gebot Gottes und der gemeine Nutz es forderten. So werde schließlich jeder „all sein vermgen / vnnd reichthumb sorg vnd fleiß dahin richten / das er vilen / in Christo nutzet / auff das wie er nit yhm selbs geporen / noch gelept / noch gestorben / sunder 378
Ebd.; fol. [ ]3 v°. Ebd.; in margine. 380 Ebd.; fol. [ ]3 v°–[ ]4 r°. Zum Basilius-Zitat vgl. sinngemäß oben S. 78. 381 Ebd.; fol. [ ]4 r°-v°. 382 Ebd.; fol. [ ]4 v°. 379
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sich gantz vnnd gar vns zů nutzen begeben hatt / das wir auch also nit vns sunder andern lebten.“383 Mit diesen Worten knüpfte Hedio nahtlos an Bucers Schrift Das ym selbs niemant, sonder anderen leben soll an: Die Hingabe Christi für die Menschheit erfordere auch, für andere zu leben und ihnen nützlich zu sein. Hedio konnte hier zugleich einen Zug aus Vives’ Schrift aufnehmen, der ihn an Bucers schöpfungstheologische Begründung der Nächstenliebe erinnert haben mochte: „Nun ist aber keiner seines leibs so vermüglich / oder so eins klůgen verstands“, heißt es in der übersetzten Subventio pauperum, „welcher so er als ein mensch leben will / das er jm selbs allein gnůgsam sein mge. […] also glünset die liebe / vnnd die gesellschafft all gmlich vnd laßt sich auch von aussen sehen.“384 Daß Menschen stets aufeinander angewiesen sind, bildete für Vives die Grundlage des christlichen Gemeinwesens, insbesondere der Stadt. Er argumentierte freilich nicht allein naturrechtlich und auf der Basis antiker Philosophie, sondern zog in hohem Maße biblische Argumentation heran385 – ein weiterer Umstand, der diese Schrift für die reformatorische Fürsorgemotivation attraktiv machte. So erklärte er die Hilfsbedürftigkeit, ja Verletzlichkeit des Einzelnen als gerechte Strafe für dessen Überheblichkeit und leitete so die notwendige Hilfsgemeinschaft im gesellschaftlichen Organismus aus dem Bruch des Menschen mit der Schöpfungsordnung ab, ganz ähnlich, wie es Bucer getan hatte. Generell dürfte die extensive Auswertung der bekannten Bibelstellen zur Motivation des Almosens und seiner öffentlichen Organisation den reformatorisch gesinnten Lesern des Traktats gut zupaß gekommen sein, hatte doch eine so geschlossene, auf politische Wirkung abzielende Behandlung des Themas in Straßburg bislang gefehlt. Daß Hedio mithin die Abhandlung eines altgläubigen Autors nach Straßburg importieren konnte, um aus evangelischer Sicht das Fürsorgewesen der Stadt vor weiteren Angriffen zu schützen und zugleich neu zu motivieren, wurde nicht nur durch den an Erasmus geschulten Bibelhumanismus erleichtert. Ein ganzes Bündel weiterer Faktoren kam hinzu: Zunächst fällt bei Vives der hohe Stellenwert der Arbeitsethik auf. Das Almosen solle also künftig nur subsidiär eingesetzt werden, dann aber auch so, daß diejenigen Bürger, die unverschuldet in Not geraten und nach ärztlichem Urteil arbeitsunfähig seien, wirklich stabil versorgt werden könnten. Das entsprach der zunehmenden Differenzierung der Fürsorge in anderen europäischen Städten, war bei Vives aber breiter entfaltet. Für die Kontrolle der Armen und die Verteilung des Almosens dachte auch er an ein 383
Ebd.; fol. A1 r°. Ebd.; fol. B2 v°. – Übertragung: „Niemand ist körperlich so stark oder geistig so schlau, dass er, wenn er menschlich leben will, sich allein genügt. […] So greift Liebe und Gemeinschaftsgefühl allmählich um sich und dringt nach draußen.“ Ders.: Über die Unterstützung der Armen – De subventione pauperum (1526) für die Stadt Brügge, in: Entstehung einer Ordnung 2004, Bd. 1, S. (277–)282–339; hier S. 284. 385 Großen Nachdruck legt auf diesen Umstand Alberto Bondolfi: Die Debatte um die Reform der Armenpflege im Europa des 16. Jahrhunderts, ebd. S. 105–145; bes. 132 u. 138. 384
III. Theologische Probleme der Fürsorgemotivation in der Reformationszeit
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spezialisiertes Personal, das er aus dem altkirchlichen Diakonat ableitete.386 Die Armenpfleger sollten vom Rat bestellt werden, der somit die Oberaufsicht über das Armenwesen der Stadt hätte. Zwar sprach Vives nicht von einem Gemeinen Kasten, dachte aber an eine Zentralisierung der einschlägigen Vermögen in den Spitälern, die somit gleichzeitig die Funktion allgemeiner Fürsorgekassen übernommen hätten.387 Neben den Vermögen der Spitäler, zwischen denen er einen Finanzausgleich vorschlug, dachte er zur Konsolidierung an Einnahmen zu besonderen Gelegenheiten, etwa Totenfeiern.388 Auffällig ist in diesem Zusammenhang der ausgesprochen niedrige Stellenwert der Memorialstiftungen und Seelmessen, der den reformatorischen Lesern sicher sympathisch war: Insbesondere sei darauf zu achten, „das nit die priester etwann im schein der gottseligkeit vnn der Messen / das gelt auff yren nutz verwenden / dann sy genůgsam versehen seind / vnd drffen nichts weitter.“389 Auch war für Vives der Wortlaut der Stiftungsurkunden von Spitälern weniger ausschlaggebend als „die billikeit“ und „der wil […] / als in den testamenten / von denn kein zweifel nit ist dz er also gwesen sey dz es in den aller besten brauch solt verwendet werden / vnn die verlaßnen hab vnn gter also auß gespendet vnn am aller fglichsten ort zůfolendung bracht“390. Nur in Ausnahmefällen, falls die üblichen Bestände nicht ausreichen würden, sollten in den Kirchen Opferstöcke aufgestellt und Haussammlungen durchgeführt werden, ohne jedoch mehr als nötig einzutreiben.391 Die zahlreichen Parallelen zu reformatorischen Konzepten der öffentlichen Fürsorge ließen nicht nur für Hedio eine Publikation der Subventio pauperum in evangelischem Kontext günstig erscheinen, sie beförderten im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch kontroverse Debatten um die kausale Priorität dieser Schrift.392 So sahen katholische Historiker in der Subventio pauperum die geniale und idealtypische Zusammenfassung vorreformatorischer Neugestaltungsbemühungen und mithin die wichtigste Impulsgeberin für die weitere Entwicklung der öffentlichen Fürsorge.393 Im Rahmen dieser Interpretation erschienen die Konzepte der Reformatoren schlicht als Übernahme reformkatholisch-humanistischer 386
Vgl. Vives: Subventio 1526 (1533); fol. L4. – Ders.: dass. (2004); S. 326 f. Vgl. ebd.; fol. M1 bzw. S. 327. 388 Vgl. ebd.; fol. M2 r° bzw. S. 328. 389 Ebd.; fol. M2 v°. – Übersetzung: „[…] dass Priester nicht unter dem Vorwand von Andachten und Messen das Geld für sich selbst verwenden, vor allem diejenigen, die genug zum Leben haben und nicht mehr brauchen.“ Ders.: dass. (2004); S. 329. 390 Ebd.; fol. K2 r°. – Übersetzung: „[…] die Billigkeit, wie in ehrlichen Verträgen, und der Wille, wie bei Testamenten. Er lautet so, darüber besteht kein Zweifel, dass die Hinterlassenschaft zu möglichst gutem Gebrauch veteilt und da aufgewandt wird, wo es am sinnvollsten ist.“ Ders.: dass. (2004); S. 320. 391 Vgl. ebd.; fol. M2 r° bzw. S. 328 f. 392 Vgl. die Debatte bei Feuchtwanger 1909; S. 220–225 und Winckelmann 1914; S. 379–396. 393 Vgl. Franz Ehrle: Beiträge zur Geschichte und Reform der Armenpflege. Freiburg im Breisgau 1881 (StML.E 17); S. 51. – Feuchtwanger 1909; S. 199. 387
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Ideen auf eigenes Gebiet.394 Doch die skizzierten Ähnlichkeiten mit evangelischen Modellen lassen es kaum zu, Vives’ Gutachten als entschieden katholische Reformschrift einzuordnen und legen vielmehr eine Beeinflussung durch die früheren Ordnungen von Wittenberg (1521), Nürnberg (1522) und Straßburg (1523) nahe. Der ausgeprägt pragmatisch argumentierende Vives scheint hier seinerseits keine konfessionellen Bedenken gehabt zu haben.395 Sogar altgläubigen Zeitgenossen erschien die Subventio pauperum als lutherische Häresie.396 Der nur scheinbar paradoxe Umstand, daß der evangelische Münsterprediger Hedio zur nachdrücklichen Fürsorgemotivation seinen Ratsherrn dieses Gutachten eines altgläubigen Humanisten empfehlen konnte, mag darum geradezu konsequent erscheinen – waren dessen Vorschläge doch, wie es Otto Winckelmann ausdrückte, „in allem Wesentlichen lutherischen Ursprungs und mit denen in Straßburg seit Jahren verwirklichten übereinstimmend!“397 Die Konfession des Autors wurde in der Übersetzung folglich nicht einmal erwähnt. Ab 1534 verstummte die Kritik am Großen Almosen allmählich.
394
Vgl. etwa Sachsse / Tennstedt 1980; S. 37 u. 40. Vgl. Bondolfi 2004; 137. 396 Vgl. Grell 1997; S. 46 f. – Derselbe Vorwurf galt übrigens auch der katholischen Armenordnung von Ypern. Vgl. Ehrle 1881; S. 35. 397 Winckelmann 1914; S. 387. 395
IV. Zwischenbilanz und Ausblick 1. Policey und soziale Gerechtigkeit in Utopia und Wolfaria „Kain bttler sol in vnserem land sein, aber für arme leüt soll all fyrtag in gemeiner kirchen geben werden was got jetlichs vermanet, das vberig soll von gemeinem seckel der stat ersetzt werden. […] Allen armen, die das almůsen niessen, sllen merckliche zaichen tragen.“1 So sah es kein fürstliches oder reichsstädtisches Mandat vor, sondern jenes utopische Programm, das 1521 der Ulmer Flugschriftenautor Johann Eberlin von Günzburg († 1533) in der publizistischen Rolle seines 11. Bundesgenossen verkünden ließ. Für das geistliche und weltliche Recht seines reformatorischen Zukunftsmodells, eines Landes mit dem sprechenden Namen ,Wolfaria‘, lehnte sich Eberlin sprachlich und konzeptionell stark an zeitgenössische Landes‑ und Stadtverordnungen an, doch ebenso an die Gravamina der deutschen Stände, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts immer wieder vorgebracht worden waren. Sein unverkennbares literarisches Vorbild jedoch war die 1516 erstmals erschienene Utopia des Thomas Morus.2 Es fällt auf, daß in den literarischen Utopien dieser Zeit sozialpolitische Vorstellungen artikuliert wurden, die tendenziell schon seit längerem zum Normenkanon der Städte und Territorien gehörten. Trotz naheliegender Parallelen hat es erst kürzlich Bettina Dietz zum ersten Mal unternommen, „utopische Ordnungsentwürfe und policeyliche Ordnungskonzeptionen in einer Matrix intensiven Ordnungsstrebens und ‑denkens zu verankern“3. Die Gemeinsamkeiten mit der vor‑ und nachreformatorischen Policeygesetzgebung, teils aber auch mit den späteren Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, sind besonders dort greifbar, wo es um die allgemeine Verpflichtung zur Arbeit und ein absolutes Bettelverbot geht: „By grosser straff soll niemand gar oder vyl 1 Johann Eberlin von Günzburg: Ein newe ordng weltlichs stdts das Psitacus anzeigt hat in Wolfaria beschriben. Der XI. bdtgnoß, in: ders.: Ausgewählte Schriften (hg. v. Ludwig Enders). Bd. 1, Halle an der Saale 1896 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke 139–141, Flugschriften aus der Reformationszeit 11), S. 121–131; hier 125. 2 Vgl. die (ideologisch freilich überholte) Studie von Günter Vogler: Reformprogramm oder utopischer Entwurf? Gedanken zu Eberlin von Günzburgs „Wolfaria“, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 3 (1979), S. 219–232. 3 Bettina Dietz: Utopie und Policey. Frühneuzeitliche Konzeptionen eines idealen Ordnungsstaates, in: Zeitschrift für historische Forschung 30 (2003), S. 591–617; hier 592.
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mssig gon, jederman soll zů bequemlicher arbeit gehalten werden“4, so war in Wolfaria angeordnet. In dieser Hinsicht waren trotz der rund anderthalb Jahrhunderte andauernden Bemühungen, den Müßiggang arbeitsfähiger und gesunder Leute durch Verbote und Strafen ganz abzustellen, offensichtlich noch so große Wünsche geblieben, daß von ihrer Erfüllung geradezu das Wohl und Wehe des utopischen Gemeinwesens abhängen mochte. Genau dies konnte, wie Achim Landwehr jüngst auf sehr pointierte Weise hervorgehoben hat, auch für sämtliche Themen weltlicher Policey gelten: „Es ging nicht einfach nur um die Zerstörung von Wespennestern, die jährliche Musterung von Hunden, die versehentliche Bestattung von Scheintoten oder verdorbenen Streichkäse. Vielmehr wurden diese Partikularien, die in den Policeyordnungen einer Regelung unterworfen wurden, als Ansatzpunkte gesehen, um eine Verbesserung gesamtgesellschaftlicher Zustände in Angriff zu nehmen.“ Stets war in der einen oder anderen Weise die Ordnung des Ganzen, der ordo schlechthin, betroffen.5 Wenn bereits gültige Gesetzestexte und literarisch artikulierte Ordnungswünsche mit Blick auf Arbeit und Müßiggang einander so sehr ähnelten, dann braucht dies nicht zwingend für die Erfolglosigkeit der Policeymaßnahmen, der Armenordnungen und Bettelverbote zu sprechen, sondern vermag auch die gewissermaßen tragende Funktion dieser Themen für den Gesamtbau der Welt zu verdeutlichen: „Stete Diskursivierung von Normabweichungen“, so könnte dann mit Martin Dinges gesagt werden, „war insofern die eigentliche Bearbeitung des Problems, nicht die tatsächliche Beendigung der Abweichungen.“6 Wenn etwa noch im 18. Jahrhundert immer wieder Maßnahmen gegen illegitime Bettler angekündigt wurden, die des Almosens unwürdig seien und ,den wahren Armen das Brot vor dem Maul abschnitten‘, so eine gängige Formulierung, dann ist das kein hinreichender Beleg dafür, daß die vorhergehenden Erlasse wirkungslos gewesen wären, aber doch ein starkes Signal dafür, daß ein Fürst oder Magistrat imstande war, beispielshalber seine Gerechtigkeitsliebe in einem performativen Akt wirksam zu publizieren und so das moralische Gesamtgefüge seines Gemeinwesens unter Kontrolle zu halten. Die utopische Literatur der Frühen Neuzeit bediente mithin auch Effizienz‑ und Gerechtigkeitsvorstellungen, die allgemein akzeptiert waren. Im zurückliegenden Teil der Studie wurde die zunehmende Differenzierung würdiger und unwürdiger Unterstützungsempfänger zunächst vor dem Hintergrund einer wachsenden Hochschätzung der Arbeit seit der ersten Pestwelle 4
Vgl. Eberlin von Günzburg 1521 (1896); S. 130. Achim Landwehr: Die Rhetorik der „guten Policey“, in: Zeitschrift für historische Forschung 30 (2003), S. 251–287; hier 251. 6 Martin Dinges: Normsetzung als Praxis? Oder: Warum werden die Normen zur Sachkultur und zum Verhalten so häufig wiederholt und was bedeutet dies für den Prozess der „Sozialdisziplinierung“? In: Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau 7. Oktober 1996 [hg. v. Gerhard Jaritz]. Wien 1997 (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 2), S. 39–53; hier 52. 5
IV. Zwischenbilanz und Ausblick
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zur Mitte des 14. Jahrhunderts beschrieben. Gleichzeitig löste die Pest aber auch verstärkte Bemühungen um persönliche Jenseitsvorsorge aus, wie die spätmittelalterlichen Testamente, insbesondere das Stiftungswesen, trefflich zeigen. Beide Tendenzen behinderten sich um 1500 immer stärker gegenseitig, so daß etwa spätmittelalterliche Armenordnungen meist überhaupt nicht mehr mit der religiösen Motivation des Almosens argumentierten, wenn es darum ging, den Bettel unter Kontrolle zu halten. Unabhängig davon, wie verbreitet eine überall beklagte Bettlerplage wohl tatsächlich gewesen sein mag – denn tragfähige Statistiken hierüber fehlen bekanntlich –, muß doch allein die ständige Wiederkehr von Exklusionskriterien gegen betrügerische und landfahrende Bettler zugleich als Ausdruck und Motor einer veränderten Wahrnehmung von Arbeit und Arbeitslosigkeit, von Armut und Bettel beurteilt werden. Wie zu sehen war, adaptierte Sebastian Brant 1494 das gesteigerte Mißtrauen gegen betrügerische Bettler in ausgesprochen polemischer Form, ohne sich in seinem Narrenschiff noch zu konkreter Fürsorgemotivation bereitfinden zu können. Nach ihm versuchte anderseits Johannes Geiler von Kaysersberg dieses Dilemma zu entschärfen, sowohl in seinen Predigten als auch in direkten Eingaben an den Straßburger Rat, dem er die Hauptschuld an der chaotischen Lage der armen Leute auf den Straßen und in den Spitälern gab, und dessen Verantwortung beim Jüngsten Gericht er argumentativ besonders herausstellte. Auch warnte Geiler vor allzu strengem Kontrolldenken. Diese Prozesse waren also schon geraume Zeit im Gange, als nun auch in Utopia und Wolfaria entsprechende Regeln auftauchten. Im Gegensatz zu Thomas Morus, der bis zu seiner Hinrichtung 1535 altgläubig blieb, hatte allerdings Johann Eberlin einen dezidiert reformatorischen Hintergrund. In der Reichsstadt Ulm binnen weniger Monate 1521 vom Franziskanermönch zu einem der eifrigsten Publizisten der evangelischen Bewegung gewandelt7, dürfte er – auch aus Freiburg, Tübingen und Basel – mit den sozialen Verhältnissen in einer oberdeutschen Großstadt gut vertraut gewesen sein. Es ist nun bemerkenswert, daß sein Wunsch nach allgemeinem Arbeitszwang, einem Verbot von Bettel und Müßiggang wie auch nach behördlicher Zentralisierung des Almosens gerade Teil einer entschieden reformatorischen Flugschriftenserie geworden ist. Eberlin steht in dieser Hinsicht beispielhaft dafür, daß die beschriebenen Differenzierungsprozesse durch die Reformation nicht gebremst, sondern zum Teil sogar noch akzeleriert wurden, weil auf die Heilsrelevanz des Almosens keine Rücksicht mehr genommen werden mußte, zum Beispiel bei Bettelverboten. Das könnte zunächst dafür sprechen, daß die Leistungen der Reformation auf dem Feld der Diakonie doch nur gering zu veranschlagen wären. „Denn einmal liegen die Anfänge der 7 Vgl. Gottfried Geiger: Die reformatorischen Initia Johann Eberlins von Günzburg nach seinen Flugschriften, in: Festgabe für Ernst Walter Zeeden zum 60. Geburtstag am 14. Mai 1976 (hg. v. Horst Rabe, Hansgeorg Molitor u. Hans-Christoph Rublack). Münster i. W. 1976, S. 178–201.
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
Fürsorgereform weit vor der Reformation“, wie Christoph Sachße und Florian Tennstedt eingewandt haben. „Zum anderen aber bestehen auch in nachreformatorischer Zeit in reformierten und katholischen Gebieten keine grundsätzlichen Unterschiede in der Ausgestaltung der Fürsorge.“8 Zu diesem Eindruck mag in der Tat kommen, wer die Reformation vorrangig als soziale Erscheinung betrachtet und ihren theologischen Charakter weitgehend ausblendet. Demgegenüber wurde in der vorliegenden Studie gerade mit der heiklen Frage nach der spezifisch evangelischen Fürsorgemotivation begonnen, nach der Bedeutung Guter Werke im Kontext der Rechtfertigungslehre und nach der möglichen Innovationsleistung solcher Aussagen. Die theologischen Dimensionen der bisherigen Untersuchung sollen im nächsten Abschnitt noch einmal zugespitzt werden. Für das hier nur knapp angesprochene Programm Johann Eberlins bleibt der etymologisch bedeutsame Hinweis, daß es nicht zufällig auf ,Wolfaria‘ gerichtet war, auf ein Land der ,wolvart‘, was in seiner frühneuhochdeutschen Bedeutung noch für ein gelingendes Leben, für gesellschaftliches Wohlergehen und eben auch für ,gemeinen Nutzen‘ stand – für eine Sozialordnung also, die in jener Zeit vom Begriff der ,guten Policey‘ abgedeckt werden konnte.
2. Säkularisierung der Nächstenliebe oder Sakralisierung öffentlicher Fürsorge Nur in einer institutionengeschichtlichen Verkürzung reformatorischer Pläne könnte von einer ,Säkularisierung‘ oder gar ,Säkularisation‘ der Armenfürsorge gesprochen werden, deren Einrichtungen unter städtischem oder landesherrlichem Kirchenregiment von der weltlichen Obrigkeit übernommen und womöglich zu sozialdisziplinatorischen Zwecken instrumentalisiert worden seien. Wenn man aber von der theologischen Seite her nach der besonderen Prägung reformatorischer Fürsorge fragt, so zeigt sich ein anderes Bild. Ausgehend von einem ikonologisch an vor‑ und nachreformatorischen Sammelgeräten gewonnenen Eindruck, konnte im zurückliegenden ersten Teil der Untersuchung ein tiefgreifender Wandel der Frömmigkeitsstrukturen für die spezifischen Ausprägungen spätmittelalterlicher und evangelischer Fürsorgemotivation verantwortlich gemacht werden. Als Interpretament konnte hier für den gesamten Zeitraum die Kategorie der ,Jenseitsvorsorge‘ dienen. Daß Christus am Ende aller Tage die Werke der Barmerzigkeit, die den ,Geringsten‘ getan wurden, als Unterscheidungskriterium im Jüngsten Gericht anerkennen werde, war auch den Reformatoren bekannt – die Drohung hingegen, daß der Reiche, der den Armen Lazarus ignoriert hat, mit dem Feuer bestraft würde, ebenfalls. Für Bugenhagen bedeutete die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben, ohne 8
Sachsse / Tennstedt 1980; S. 37.
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Zutun der Werke, gerade nicht, daß diese klassischen Bibelstellen zur Fürsorgemotivation aufgegeben werden müßten. Sie erhielten jedoch im Lichte seiner Theologie eine andere Färbung. Früh durch Erasmus von Rotterdam beeinflußt, hatte er die Heilsrelevanz Guter Werke zunächst stark relativiert, unter dem Lektüreeindruck von Luthers Hauptschriften des Jahres 1520 dann freilich ganz zurückgenommen – beides noch in Treptow-Belbuck. In deutlicher Anlehnung an Luthers Freiheitsschrift arbeitete er unterdessen die darin geprägte Baum-Frucht-Metapher (nach Mt 7,16–20 par u. 12,33 par sowie Kol 1,10) weiter aus, so daß die Werke der Nächstenliebe nun als Folge, nicht mehr als Bedingung der Rechtfertigung durch Christus motiviert waren. Hier stellte sich dann freilich im Nachhall des Bauernkriegs ein erheblicher Klärungsbedarf heraus, wie die Reaktionen von Johannes Cochlaeus und Thomas Morus auf Bugenhagens Epistola ad anglos deutlich gezeigt haben. Beide Kritiker griffen die Anregung auf und wandten sie ihrerseits gegen die evangelische Ethik, indem sie die blutigen Ereignisse als böse Früchte reformatorischen Glaubens deuteten. Die rasche Veröffentlichung von Cochlaeus’ Responsio könnte Bugenhagen zum Ausbau seiner Rechtfertigungslehre im Sendbrief an die Hamburger Gemeinde veranlaßt haben, der 1526 erschien. Schon dem Titel nach war die umfangreiche Schrift zur Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken angelegt – und hob zum Schluß auch auf die Praxis des Erarbeiteten in der christlichen Gemeinde ab: Van dem Christen louen vnde rechten guten wercken / wedder den falschen louen vnde erdichtede gute wercke. Dar tho / wo me schal anrichten myt guden prdickeren / dat slck loue vnd wercke gepredicket werden.9 Bugenhagens altes Interesse an den konkreten Werken der Nächstenliebe, das ihn schon in Treptow-Belbuck beschäftigt hatte, führte hier zu einer zwar an Luther orientierten, doch wesentlich optimistischer argumentierenden Theologie der Guten Werke. Dieses Zutrauen an die Liebesfähigkeit des Einzelnen, auch des Sünders, unterschied ihn immer stärker von Luther, wie ein Vergleich seiner Hamburger Theologie mit dem Tractat von rechten guden Werken der Kinder Gades10 zeigt, der 1543 der Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung vorgeschaltet war: Mittlerweile hatte sich Bugenhagen wohl unter dem Eindruck der Streitigkeiten um Johannes Agricola dem von Philipp Melanchthon favorisierten Modell eines triplex usus legis angeschlossen, so daß die am Gesetz gescheiterten, vom Evangelium aufgerichteten und durch Christus erlösten Kinder Gottes nun doch auch die geforderten Werke zu tun imstande seien – aus freien Stücken und ohne die Absicht, hierin Gutes zu tun. 9 Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); Titel. – Übersetzung: „Von dem christlichen Glauben und rechten guten Werken wider den falschen Glauben und erdichtete gute Werke, dazu, wie man’s soll anrichten mit guten Predigern, daß solch Glaube und Werke gepredigt werden.“ Ders.: dass. (1867); S. 101. 10 Vgl. ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 24–36.
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
Charakteristisch war ferner die erstmals 1537 im Königsbrief Christians III. ausgedrückte Unterscheidung von Gottes und des Königs Ordnung. Die öffentliche Fürsorge wies Bugenhagen als Verfasser dieser Vorrede klar dem göttlichen Bereich zu, der mithin als unverrückbare Ordnung dem spontanen Zugriff menschlicher Macht entzogen blieb. Der König als Emittend des Textes verzichtete somit auf seine Verfügungsgewalt über diesen Bereich. Wie sich später herausstellen wird, hat er sich in diesem Sinne auch tatsächlich als Anwalt eines funktionierenden Fürsorgewesens betätigt, wenn etwa Adelsfamilien auf Rückgabe vorreformatorischen Stiftungskapitals klagten.11 Insofern ist schon durch die theologische Lokalisierung der öffentlichen Fürsorge innerhalb des neuverfaßten Kirchenwesens deren gottesdienstliche Funktion verankert, mit der sich eine Säkularisierung nicht vertragen hätte. In den städtischen Ordnungen galten dem befürchteten Zugriff der Stifterfamilien auf das Kapital ihrer Vorfahren zunächst nicht juristische, sondern theologische Barrieren. So versuchte Bugenhagen zu plausibilisieren, daß die einst aus Unwissenheit gestifteten Kapitalsummen jetzt erst recht im evangelischen Sinne verwendet werden könnten und daher keineswegs zurückgenommen werden dürften. Argumentativ spielte hier die Imago-Dei-Lehre unter Beibehaltung eschatologischer Motive eine entscheidende Rolle: Wenn der falsche Gottesdienst in Form kostpieliger Bilder, Altäre, Vikarien, Messen und Gesänge zugunsten des wahren Gottesdienstes an den Bildern Christi, den Armen nämlich, umgewandelt werden sollte, so stand dahinter die Weltgerichtsrede Christi (Mt 25), wodurch die Identifikation der Bedürftigen mit Christus weiterhin ihre eschatologische Relevanz behielt. Auch die Verwendung des Lazarus-Motivs (Lk 16,19–31) belegt die ungebrochene Bedeutung der Nächstenliebe für das Heil. Um aber nicht doch wieder die Rechtfertigung durch solche Werke zu konditionieren, wurde immer wieder auf die Vergeblichkeit hingewiesen, Akte der Nächstenliebe gezielt kompensatorisch einsetzen zu wollen. Aus freien Stücken, nicht in Heuchelwerken, werde Christus bekleidet, gespeist, getränkt. In ganz ähnlicher Weise hatte Martin Bucer die Fürsorge an den Bedürftigen als Dienst an Christus motiviert, ja sogar als einzigen Gottesdienst, den dieser überhaupt als solchen anerkennen würde. Daher waren auch aus seiner Sicht die verschwenderischen Formen der Jenseitsfrömmigkeit nicht allein unnütz, sondern sogar verderblich. Ein wirklich christliches Leben ohne aktive Nächstenliebe war auch für ihn undenkbar. In den oberdeutschen Städten hatten freilich bereits die politischen Gemeinden entsprechende Vorkehrungen getroffen. Obwohl jedoch die Kommunalgemeinde, im Norden auch die Landesherrschaft, zur administrativen Trägerin der öffentlichen Fürsorge geworden war, kann vor dem Hintergrund des Gesagten nicht von ,Säkularisierung‘ der Nächstenliebe gesprochen werden, so als hätte die ,Kirche‘ mit der Reformation diese Aufgaben in die Hände des ,Staates‘ übergeben. Im Gegenteil, die ganze Ge11
Vgl. unten; S. 225 f.
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meinde – einschließlich ihrer politischen Elite – sollte gewissermaßen sakralisiert werden. Einzelne Gemeindeglieder sollten, wie sich noch ausführlich zeigen wird, geistliche Ämter übernehmen, deren Dienstbeschreibung entschieden vom Evangelium her begründet war. Dazu gehörten das Diakonenamt, der Beruf der Hebamme, die Dienste von Lehrerinnen und Lehrern und andere Gemeindeämter, in einem weiteren Sinne sogar das Amt des Notbischofs, das vom Landesherrn oder vom Magistrat einer Stadt idealerweise aus christlicher Liebe zur Gemeinde ausgeübt werden sollte. Dabei wurde die weltliche Obrigkeit ja durchaus als solche anerkannt, der Diakon gerade als Laie angenommen, ohne wiederum in ein exklusiv kirchliches Amt ordiniert werden zu müssen, und selbst die Altgläubigen wurden bei Bugenhagen als Bürgerinnen und Bürger des Gemeinwesens akzeptiert und, wo es nötig war, mitversorgt. Anders bei Bucer, der in den oberdeutschen Kirchenordnungen an eine konfessionelle Vereinheitlichung der Kommunalgemeinde als Christengemeinde dachte und in diesem Sinne die Sakralisierung des Gemeinwesens weiter und strenger trieb als Bugenhagen. Fern von dessen Pragmatismus, strebte Bucer eine größtmögliche Annäherung der sichtbaren Kirche an die unsichtbare Gemeinschaft mit Christus an, was in jedem Fall einen Ausschluß devianter Glaubensrichtungen wie auch eine strenge ekklesiale Kirchenzucht bei den eigenen Glaubensgenossen erforderlich machte. Den innerkirchlichen Zuchtordnungen wollte sich indes keine der politischen Stadtherrschaften in Bucers Einflußbereich unterwerfen, und Bucers Versuch, stattdessen ,Christliche Gemeinschaften‘ zu etablieren, die sich als konventikelartige Abbilder apostolischen Lebens verstanden und sich freiwillig einer internen Kirchenzucht unterwarfen, scheiterte 1547 am Verbot jeder neuen Zuchtmaßnahme durch den Straßburger Rat.12 Anderseits erkannte Bucer die bestehenden Fürsorgesysteme völlig an, die gerade von den Kommunalgemeinden eingerichtet worden waren, unternahm dann aber nur wenig, um sie nachhaltig in der Bevölkerung zu popularisieren. Wenn „das ampt der seelsorg“ gut bestellt sei, so meinte er, dann herrsche auch an der „leibssorge“ kein Mangel.13 In Straßburg vermochten erst die Denkschriften des städtischen Almosenschaffners und das vom Münsterprediger lancierte Gutachten eines altgläubigen Humanisten die organisatorische Seite des Fürsorgewesens mit seinen biblischen und theologischen Grundlagen zu verknüpfen.
3. Normative Zentrierung und weltliche Obrigkeit Daß es schon weit vor der Reformation deutliche Zentralisierungstendenzen in der öffentlichen Fürsorge gab, hat sich an der Geschichte der spätmittelalterlichen 12 13
Vgl. insbesondere Gäumann 2001; S. 396–406. Bucer: Wahre Seelsorge 1538 (1964); S. 116.
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
Armenordnungen gezeigt. Erinnert sei etwa an die Augsburger Almosenherrenordnung, die das Einsammeln der spontanen Almosen durch städtisches Personal vorsah, durch das die Gaben dann auch wieder im Namen der Allgemeinheit an registrierte Arme ausgeteilt werden sollten. Gleichwohl hatte eine solche Behörde noch nicht den Charakter einer reformatorischen Gemeindekasse mit langfristig verfügbaren Mitteln. Ihre Einschaltung zwischen Gebern und Empfängern sollte aber die Kontrolle über den unterstützungsberechtigten Kreis der städtischen Armen ermöglichen, der von Fremden, von Gesunden und auch von Betrügern unterschieden werden konnte. Hierzu waren effiziente und gerechte Überprüfungs‑ und Klassifikationsverfahren einzubürgern, und erforderlich wurde auch eine vorausplanende Datenerfassung in Listen und Registern. Mit der Ausdifferenzierung verschiedener Bettlertypen korrespondierte also gleichzeitig ein Prozeß normativer Zentrierung – ein typisches Phänomen des 15. und 16. Jahrhunderts, wie Berndt Hamm seit 1992 wiederholt erklärt hat.14 Darunter verortet er nicht allein religiositäts-, sondern auch gesellschaftsgeschichtliche Prozesse der Straffung, Vereinheitlichung, Fokalisierung „auf eine orientierende und maßgebende, regulierende und legitimierende Mitte hin“15, die allesamt als Reaktionen „auf irritierende Vorgänge der Differenzierung, Multiplizierung, Individualisierung und Verdiesseitigung“16 zu werten seien. In diesen Zusammenhang gehöre auch „die auffallende Häufung der obrigkeitlichen Ordnungen zur Friedenswahrung und Marktaufsicht, der Luxus‑ und Kleiderordnungen, Hochzeits‑ und Bestattungsordnungen, Armen-, Bettel‑ und Spitalordnungen usw.“17 Es ist nun bemerkenswert, daß dieses Ordnungsstreben parallel zur voranschreitenden Pluralisierung des Almosen‑ und Stiftungswesens im Rahmen der immer weiter ausdifferenzierten Möglichkeiten persönlicher Jenseitsvorsorge ablief. Wie zu sehen war, behinderten und bremsten sich beide Bewegungen gegenseitig. Solange die Regulierungspolitik der weltlichen Obrigkeit nicht auf den wachsenden Frömmigkeits‑ und Heilsdruck antwortete, sondern es im Gegenteil geradezu ängstlich vermied, das Almosen (oder auch seine Normierung) noch zusätzlich mit religiösen Kategorien zu motivieren, konnte die Blockade praktisch nicht beendet werden. Sobald jedoch die reformatorische Rechtfertigungslehre die vielfältigen Mittel der bisherigen Heilsfrömmigkeit nicht bloß modifizierte oder regulierte, sondern unmittelbar mit ihnen brach und sie theologisch durch 14 Vgl. Berndt Hamm: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 7 (1992), S. 241–279. – Ders. 1993. – Ders.: Einheit und Vielfalt der Reformation oder: Was die Reformation zur Reformation machte, in: ders., Bernd Moeller u. Dorothea Wendebourg: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation. Göttingen 1995, S. 57–127. – Ders.: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26 (1999), S. 165–202. 15 Ders. 1999, S. 164. 16 Ebd.; S. 165. 17 Ebd.; S. 176.
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normative Zentrierung allein auf die Schrift, allein auf den Glauben, allein auf Christus und allein auf die Gnade Gottes ersetzte18, konnte auch die öffentliche Fürsorge wieder zu einem religiösen Thema werden und zugleich unter Aufsicht der weltlichen Obrigkeit neu geordnet werden. Daß dies eben kein Säkularisierungs-, sondern geradezu ein Sakralisierungsprozeß war, habe ich im vorigen Abschnitt darzulegen versucht. Entscheidend für die Entwicklung der öffentlichen Fürsorge ist es gewesen, daß die Stadtherren oder auch der Landesherr sie nicht mehr als vereinzelte Aufgabe ihrer weltlichen Policey behandelten, sondern als Teilaufgabe innerhalb der Umgestaltung des Gemeinwesens auf Grundlage des Evangeliums. Besonders am Königsbrief Christians III. konnte gezeigt werden, daß die Fürsorge zweifellos als unverzichtbarer Teil dessen verstanden wurde, was in Gottes Auftrag dringend ausgeführt werden müsse – wogegen andere, menschliche Ordnungen zwar der göttlichen dienten, aber doch im Einzelnen verhandelbar wären. Wo die weltliche Obrigkeit nicht wie hier eine Selbstverpflichtung aussprach – durch Bugenhagens Feder, aber unterzeichnet vom König und Herzog selbst –, wurde sie in den Kirchenordnungen wie alle anderen Mitglieder des christlichen Gemeinwesens in die Pflicht genommen und an ihre Verantwortung vor der höchsten Obrigkeit selbst erinnert. Eine tragende Säule des neuen Fürsorgesystems unter dem Schutz der weltlichen Herrschaft war die treuhänderische Verwaltung von Kloster‑ und Hospitalgut, von laufenden Kapitalgeschäften und spontanen Gaben zur Verwendung in evangelischem Sinne. Dem entsprach die Idee des Gemeinen Kastens, der sich in der Zentralisierung von Almosen keineswegs erschöpfte. Von der organisatorischen Seite dieser Einrichtung und ihrer Verwaltung ist noch zu sprechen. In motivatorischer Hinsicht war jedoch schon zu sehen, daß viel darangesetzt wurde, wirklich eine Monopolstellung dieses Instituts zu erreichen, etwa indem Stifterfamilien nachdrücklich aufgefordert wurden, das Kapital, das ihre Vorfahren für Seelmessen angelegt hatten, jetzt nicht zurückzuziehen, sondern den Armen zur Verfügung zu halten. Sollte der Gemeine Kasten leistungsfähig sein und tatsächlich eine gerechte und effiziente Versorgung sowohl registrierter als auch fremder Bedürftiger sicherstellen, so mußte anderseits das individuelle Almosengeben eingestellt werden. Eine finanzielle Doppelbelastung der Bürger wäre kaum zu plausibilisieren gewesen und hätte auch auf lange Sicht die Akzeptanz des Gemeinen Kastens gefährdet. Effizienter und gerechter schien es also, die Monopolstellung der öffentlichen Fürsorge zu sichern. Auch dieser Zug ist kein Einzelphänomen, das nur die ,Verstaatlichung‘ der Diakonie beträfe, sondern läßt sich regelmäßig auch an anderen Aspekten gesellschaftlichen Lebens in der Frühen Neuzeit beobachten. Für ein Rechtsmonopol der Obrigkeit und gegen Privatjustiz sprach
18
Vgl. ders. 1995; hier S. 75.
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Erster Teil: Theologische Fürsorgemotivation vor und nach der Reformation
sich beispielsweise Luther aus: Daß niemand sein eigener Richter sein könne19, war schon vor dem Bauernkrieg seine Überzeugung und wurde dann zu einem wiederkehrenden Grundsatz seiner Obrigkeitsethik. Gott habe weltliche und geistliche Herrschaft eingesetzt, um Böse zu strafen und Unterdrückte zu retten, dagegen könne niemand für sich selbst Recht schaffen und Rache üben, heißt es 1524 in der Schrift Von Kaufshandlung und Wucher.20 Neben das Justiz‑ trat das Gewaltmonopol der weltlichen Obrigkeit, wogegen jedoch kein Christ das Schwert in eigenem Interesse führen dürfe: „Sondernn fur eynen andern mag vnd soll ers fren vnd anruffen“, erklärte Luther 1523.21 Wer in eigener Sache Aufruhr oder Krieg anfange, sei demnach grundsätzlich im Unrecht.22 Und schließlich kann im Blick auf die beschriebenen Zentralisierungstendenzen auch auf das reformatorische Schulmonopol hingewiesen werden. So bestimmte etwa die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung, daß die oft improvisierten „winckel Scholen“ geschlossen und durch eine gemeindliche Lateinschule in jeder Stadt und jedem Flecken ersetzt werden sollten.23 Die Monopolisierung der öffentlichen Fürsorge entsprach also grundsätzlichen Zentrierungstendenzen der lutherischen Reformation. Auch in diesem Fall können Martin Bucers Versuche zur Etablierung einer innerkirchlichen Zuchtordnung und später zur ersatzweisen Gründung ,Christlicher Gemeinschaften‘ unterhalb der stadtgemeindlichen Ebene idealtypisch dafür stehen, daß in Oberdeutschland ein anderer Weg eingeschlagen wurde. Dort war die Verankerung des Kirchenwesens in der politischen Verfassung bei weitem nicht so ausgeprägt wie im Norden. Bugenhagens Theologie hat dagegen zu Ordnungen geführt, die Teil des Alltags im christlichen Gemeinwesen wurden. Von seinen organisatorischen Plänen und ihrer Umsetzung wird nun im zweiten Teil die Rede sein.
19 Vgl. zum folgenden Gottfried Maron: „Niemand soll sein eigener Richter sein“. Eine Bemerkung zu Luthers Haltung im Bauernkrieg [zuerst 1975], in: ders.: Die ganze Christenheit auf Erden. Martin Luther und seine ökumenische Bedeutung. Zum 65. Geburtstag des Verfassers (hg. v. Gerhard Müller u. Gottfried Seebaß). Göttingen 1993, S. 66–80. 20 Vgl. Luther: Kaufshandlung 1524 (1899); S. 39. 21 Ders.: Oberkeit 1523 (1983); S. 375. 22 Ders.: Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526), in: WA 19 (1897), S. 623–662; hier 645. 23 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 142 f.
Zweiter Teil
Organisation und diakonische Leistungen von Bugenhagens Fürsorgemodell
V. Gemeine Kästen und Schatzkästen Trotz der früheren Zentralisierungstendenzen in der spätmittelalterlichen Armenfürsorge ist die Konzeption eines Gemeinen Kastens typisch evangelisch. Erst mit dem Ende der alten Religiosität konnte der entscheidende Schritt zur Zusammenlegung aller kirchlichen Finanzen in einer Kasse für das ganze Gemeinwesen getan werden, denn zuvor hatten sich der verstärkte Wunsch nach einer erträglichen Organisation des Bettler‑ und Almosenwesens einerseits und zum andern die gleichermaßen intensivierte Almosenfrömmigkeit im Rahmen persönlicher Jenseitsvorsorge gegenseitig behindert. Dies war im ersten Teil der Studie deutlich zu sehen. Überdies konnte der Plan, den Gemeinen Kästen auch ältere Stiftungstestamente beizufügen, die ursprünglich dem Zweck ewiger Fürbitte gewidmet waren, und ihnen darüberhinaus die erledigten Kirchen‑ und Klostergüter in diesem Sinne einzuverleiben, selbstredend auch erst nach der Reformation gefaßt werden. Ohne die Hinzunahme solcher Güter wäre die Idee des Gemeinen Kastens absurd gewesen; man hätte dann gut beim konventionellen Rechnungssystem bleiben können. So ist es nicht verwunderlich, daß nach der Wittenberger und der Leisniger Kastenordnung (1522/23) bald weitere Städte, in denen sich die evangelische Bewegung durchgesetzt hatte, die Gelegenheit nahmen, ihre kirchlichen Finanzen nach den reformatorischen Vorschlägen umzugestalten.1 Luthers Ordnung eines Gemeinen Kastens für die Stadt Leisnig sah vor, sämtliche Güter und Einkünfte der Kirchengemeinde in eine solche Kasse zu integrieren. Unter den Gütern war der bewegliche und unbewegliche Kirchenbesitz zu verstehen, der „durch die anfengliche stiffter vnd volgende mehrer“2 beigetragen worden war, und zwar sowohl Pfarr‑ wie auch Schul‑ und Küstergut, darüberhinaus die zum Unterhalt des Kirchenbaus und seiner Ausstattung bestimmten Mittel. Als Einkünfte plante Luther die vier bestehenden Altarlehen und dazugehörige Meßstiftungen ein, ferner jede Art von regelmäßigen und einmaligen Abgaben aus den Bruderschaften, Zünften und Bauernschaften. Und schließlich waren die verschiedenen Formen des Almosens zu berücksichtigen. In der Kirche eingesammelte Geld‑ und Lebensmittelspenden sollten offenbar nicht erst dem Vorrat des Gemeinen Kastens zugeschlagen, sondern früher oder später unmittelbar an die Armen ausgegeben werden; doch sollten weitere „gaben bey gesunden 1 2
Vgl. oben S. 175 f. Luther: Leisniger Kastenordnung 1523 (1934); S. 410.
V. Gemeine Kästen und Schatzkästen
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tagen vnd testament am todtbette“3, ob sie nun der Armenfürsorge oder anderen kirchlichen Zwecken galten, gleichermaßen in den Gemeinen Kasten eingerechnet werden. Dieser war mithin mehr als nur eine Aufbewahrungstruhe für die verfügbaren Finanzmittel der Gemeinde; vielmehr diente er als Archiv, das auch die regelmäßigen Rechenschaften sicher bewahren und über die aktuelle Kassenlage jederzeit Aufschluß geben konnte.4 Bugenhagen modifizierte das Vorbild in einem entscheidenden Punkt: Statt eines einzigen Kastens plante er zwei. Aus dem Gemeinen Kasten sollte fortan ausschließlich die öffentliche Fürsorge bezahlt werden, aus der zweiten Einrichtung hingegen, dem Schatzkasten, alle übrigen kirchlichen Ausgaben. Eine Vermischung der Haushaltsposten zugunsten einzelner Mitarbeiter konnte so verhindert, das Vertrauen der Gemeindeglieder ins Almoseninstitut demnach gestärkt werden. Ohne Verdacht zu erregen, konnten die Prediger nun eifrig zur Unterstützung des Gemeinen Kastens aufrufen, dessen Kontrolle nicht ihnen selbst, sondern öffentlich bestellten Diakonen obliegen sollte.5 Auch ließen sich ältere Stiftungen leichter in den Gemeinen Kasten integrieren, während es in anderen Städten und Territorien, wo die Fürsorge nur einen von vielen Haushaltsposten der allgemeinen Kirchenrechnung einnahm, schwergefallen sein dürfte, den Stifterfamilien gegenüber zu plausibilisieren, daß das Kapital nunmehr für den wahren Gottesdienst an den Armen Christi verwendet würde statt für nutzlose Seelmessen.6 Gleichwohl konnte auch der Schatzkasten Aufgaben sozialer Fürsorge erfüllen, wie sich unten (V.7) zeigen wird. Die Ordnung beider Kästen ist das prominente Kernstück von Bugenhagens praktischer Fürsorgekonzeption. Sie ist in diesem Kapitel in der Vielzahl ihrer Aspekte in den Blick zu nehmen, wobei auch stets auf die tatsächliche Durchführung geachtet werden soll. War einmal die Aufstellung und Anzahl solcher Einrichtungen in den Städten, Territorien und Reichen geklärt (V.1), mußten die verschiedenartigen Güter und Einkünfte definiert werden, die den Kästen zugeschlagen werden sollten. Besonderes argumentatives Gewicht kam dabei der Übernahme älterer Güter mit ursprünglich anderen Bestimmungen sowie der Sammlung spontaner Almosen in der Kirche zu (V.2). Dieser zweite Punkt verlangte den Predigern motivatorische Aufgaben ab, von denen das Wohl und Wehe dieser Einrichtungen abhängen konnte (V.3). Wie sich aber zeigen wird, hat die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade nicht automatisch zu leeren Kassen geführt. Als zuverlässige Indikatoren für den finanziellen Erfolg oder Miß3
Ebd.; S. 412. Vgl. ebd.; S. 414. 5 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Kirchenordnung 1528 (1912); S. 144. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 214;. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 10 u. 156. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 52. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 182. 6 Darauf weist zu Recht Kreiker 1997; S. 55 f. hin. 4
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Zweiter Teil: Organisation und diakonische Leistungen von Bugenhagens Fürsorgemodell
erfolg dieser Einrichtungen konnte besonders auf erhaltene Kastenrechnungen (V.6) zurückgegriffen werden. Bugenhagens Vorstellungen von einem erneuerten Diakonat sind besonders in den Blick zu nehmen (V.4), auch im Vergleich mit den Konzepten anderer Reformatoren. Über Verwahrung und Verwendung der Güter sollten die Diakone gewissenhaft Rechenschaft führen. Hier wird nicht nur zu beachten sein, wer unter welchen Umständen welche Zuwendungen erhalten sollte, sondern auch, ob diesen Vorgaben in der späteren Praxis entsprochen werden konnte (V.5–7).
1. Aufstellung der Gemeinen Kästen „In allen groten paren schal apenbar stn eynne gemeyne Caste vor de armen vnde hsarmen vnde andere notrofftige.“7 Ähnlich wie hier in der Braunschweiger Ordnung von 1528 bestimmte Bugenhagen auch in seinen übrigen drei städischen Kirchenordnungen8 die Aufstellung Gemeiner Kästen. Die Hildesheimer Kirchenordnung führte sogar die einzelnen Kirchen auf, was den Charakter einer Anweisung noch verstärkte.9 Daß an einen öffentlichen Standort gedacht war, sollte nicht allein den Einwurf privater Geldspenden erleichtern, denn dazu hätten auch Opferstöcke oder regelmäßig herumgetragene Klingelbeutel ihren Zweck erfüllt. Vielmehr entspricht dieser Plan der typisch ‚reformatorischen Öffentlichkeit‘, jener zeitgenössischen Tendenz also, evangelische Grundpositionen für jedermann einsichtig und nachvollziehbar kommunizieren zu wollen, wogegen die alte Kirche zunehmend unter den Verdacht klerikaler Exklusivität und Geheimniskrämerei geriet.10 Wenn eingesammeltes Geld ohne Verzug und unter den Augen der ganzen Gemeinde in den Kasten gelegt11, wenn sogar die Termine der jährlichen Rechenschaften von der Kanzel abgekündigt werden sollten, um bei den Sitzungen im Rathaus bürgerliche Mitsprache und Kon 7 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 143. – Übertragung: ,In allen großen Pfarreien soll öffentlich ein Gemeiner Kasten für die Armen und Hausarmen und andere Bedürftige stehen.‘ 8 Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 214 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 115. 9 Vgl. ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 877. 10 Vgl. Wohlfeil 1984. 11 Vgl. Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 114. – Ferner *Das Eyderstedtische Land-Recht, welches von dem Durchl. und Hochgebohrnen Frsten und Herrn Herrn Johann Adolph, Postulirten und erwhlten Erz‑ und Bischof der Stifte Bremen und Lbeck, Erben zu Norwegen, Herzog zu Schleswig, Holstein etc. etc. Anno 1591. gndigst gegeben und promulgiret worden ist, in: Corpvs Statvtorvm Slesvicensivm, oder: Sammlung der in dem Herzogthum Schleswig geltenden Land‑ und Stadt-Rechte, nebst den für diese Gegenden erlassenen neueren Verfgungen. Bd. 1, Schleswig: Serringhausen 1794, S. [vor 1]–211; hier S. 148, § 4: Das gesammelte Geld soll „in Gegenwart des andern Kirchgeschwornen“ in den Kasten geworfen werden.
V. Gemeine Kästen und Schatzkästen
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trolle zu fördern12, so stand die Absicht dahinter, jeden Unterschlagungsverdacht gleich auszuschließen und Spendern größtmögliche Transparenz zu vermitteln. Als Geiler von Kaysersberg sich 1501 über dubiose Machenschaften der Straßburger Spitalverwaltung beklagte, artikulierte er damit auch ein gesteigertes Bedürfnis nach administrativer und bürokratischer Transparenz, die seinerzeit offenbar noch fehlte.13 Der Gemeine Kasten sollte vorrangig eine städtische Einrichtung bleiben. Dies wird in den Kirchenordnungen deutlich, die für die schwerer überschaubaren Territorien und Reiche erlassen wurden: „Jnn yewelicker parkerke ynn den steden schal staen vp gelegenem rde eyne kaste vr de arme lde“14, heißt in der Pommerschen Kirchenordnung. In Skandinavien waren die Superintendenten oder Bischöfe in ihren Sprengeln aufgefordert, zusammen mit den Pröpsten, Predigern, Bürgermeistern und Räten in allen Städten Gemeine Kästen zu errichten.15 Doch zumindest teilweise war diese Einrichtung auch außerhalb von Städten vorgesehen. So bestimmte die Kirchenordnung für das Lübecker Landgebiet, die der hansestädtischen Ordnung 1531 als Anhang beigegeben wurde: „Casten na gelegenheit schlen yn allen rden, so vele mgelick, na vnsem Exempel, vor de rechten armen, geholden werden“16. Auch Travemünde, das kein Stadtrecht besaß, sondern als Lübecker Seehafen direkt dem Rat unterstellt war, sollte eine Armenkasse erhalten.17 Im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel schließlich war die Einrichtung einfach für jede Kirche vorgesehen.18 Tatsächlich ist das Modell für Braunschweig, Hamburg, Lübeck und Hildesheim auch gleich konsequenter umgesetzt worden als in den Territorien und Reichen. In Braunschweig war im März 1528 durch die Bewohner des Hagens zum ersten Mal die Errichtung eines Gemeinen Kastens gefordert worden19, also schon Monate vor Bugenhagens Eintreffen. Wahrscheinlich begann man hiermit schon in dieser ersten Phase, wie einzelne (allerdings unsichere) Datierungen in Der armen Leute Register vermuten lassen.20 Ganz gewiß aber noch im Jahr 1528, 12 Vgl. ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 880. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 78. 13 Vgl. oben; S. 109 f. 14 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 113. – Übertragung: ,In jeder Pfarrkirche in den Städten soll an geeignetem Ort eine Kasse für die armen Leute stehen‘. 15 Vgl. Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 180. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 52. 16 Ordnung der Lübecker außerhalb der Stadt in ihrem Gebiet 1531, in: Lübecker Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1531. Text mit Übersetzung, Erläuterungen und Einleitung (hg. v. Wolf-Dieter Hauschild). Lübeck 1981, S. 191–205; hier 195 f. – Dortige Übertragung: „Je nach Lage der Dinge sollen in allen Orten Kästen für die rechten Armen, so viele wie möglich, nach unserem Beispiel aufgestellt werden.“ 17 Vgl. ebd.; S. 204. 18 Vgl. Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 76. 19 Vgl. Jürgens 2003; S. 53. 20 Vgl. Braunschweig StA; Abt. B IV 11, Nr. 2, fol. 3 r°. – Zur Datierung unten; S. 302 f.
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Zweiter Teil: Organisation und diakonische Leistungen von Bugenhagens Fürsorgemodell
spätestens also mit Bugenhagens Ordnung, standen Gemeine Kästen in allen fünf Weichbilden der Stadt: für die Altstadt in der Martinikirche, für die Neustadt in der Andreaskirche, für den Hagen in der Katharinenkirche, für die Altewiek in der Magnikirche und für das Weichbild Sack, das selbst keine Hauptkirche hatte, in der Altstädter Ulricikirche, die somit das Almoseninstitut für diesen ärmsten Stadtteil übernehmen sollte. Nach Ausweis der reichlich erhaltenen Archivalien waren alle fünf Kästen funktionstüchtig. Die Rechnungs‑ und Rechenschaftsbücher haben sich zum Teil durchgehend seit 1528 bis ins 20. Jahrhundert hinein erhalten.21 Im Hamburger Nikolaikirchspiel war schon seit dem 16. August 1527 eine Gotteskastenordnung22 in Kraft, die am 18. Dezember durch Beschluß des Rates und evangelischer Einwohner auch auf die übrigen Kirchspiele ausgeweitet wurde23. Die Gotteskastenordnung sah diese Einrichtung ausdrücklich als Instrument der Armenfürsorge vor24; andere Haushaltsposten der Kirchengemeinden sollten davon also nicht berührt sein. Damit war das System des Gemeinen Kastens in diesem Fall sicher noch vor Bugenhagens Ordnung in der ganzen Stadt eingeführt worden, so wie er es im Sendbrief von 1526 vorgeschlagen hatte: „Wen me slck vthgerichtet hefft / alle gdere de mit der tyd loeß werden / vnd de me mach frylick / wen de wrheit gench an den dach gebracht ys / wandelen / schal me tho sammende sln myt alleme dat frame lde ock guen / vnde myt allen testamenten de dar tho werden geguen / vnde maken eyne gemene kaste“25. Bugenhagen erwartete also, daß sich die Verhältnisse zunächst konsolidieren müßten, bevor mit einer solchen Kasse ans Werk gegangen werden könnte. Demgegenüber wurde die Hamburger Gotteskastenordnung von Zeitgenossen und Forschern gleichermaßen als Initialmoment der Entscheidungsphase, als „Grundlage für das weitere Vorgehen der reformatorischen Bürger“ gesehen.26 Der soziale Aspekt stand im Vordergrund der Hamburger Gemeindereformation. Das wird besonders deutlich, wenn man eine Reihe finanzpolitischer Gravamina hinzuzieht, die die evangelische Bürgerschaft am 15. Januar 1526, also noch vor dem Bekanntwerden von Bugenhagens Sendbrief, dem Rat und der Geistlichkeit gegenüber vorgebracht hatte: Unter anderem wurde in der Sitzung gefordert, daß Stiftungstestamente, zu denen keine lebenden Erben erreichbar wären, entweder 21
Vgl. nochmals unten S. 302–307 sowie Lane 1983; S. 152. Vgl. Postel 1986; S. 276–288. 23 Vgl. ebd.; S. 288. 24 Vgl. ebd.; S. 278. 25 Bugenhagen: Van dem Christen louen 1526 (1982); fol. b4 v°–c1 r°. – Übertragung: ,Wenn man solches ausgerichtet hat, soll man alle Güter, die mit der Zeit ledig werden, und die man, wenn die Wahrheit genug an den Tag gebracht ist, frei umwandeln kann, zusammentun mit allem, was fromme Leute auch geben und mit allen Testamenten, die dazu gegeben werden, und eine gemeine Kasse machen.‘ – Vgl. die abweichende Übertragung in ders.: dass. (1867); S. 261. 26 Postel 1986; S. 277. 22
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an den Rat oder in einen Gemeinen Kasten zugunsten der Armen fallen sollten.27 Der Impuls hierzu wird also unabhängig von Bugenhagens Vorschlägen direkt aus Luthers weitverbreiteter Ordnung eines Gemeinen Kastens – oder durch die Rezeption der Magdeburger Armenordnung von 1524 gekommen sein, die Luthers Anregungen gleich aufgenommen hatte. Bei der Konzeption der Gotteskastenordnung im Nikolaikirchspiel 1527 orientierte man sich dann jedenfalls deutlich am Magdeburger Vorbild.28 Bugenhagen konnte das bis dahin Erreichte bündeln, theologisch sichern und als Kirchenordnung in eine verbindliche Form bringen. Glücklicherweise ist uns aus Hamburg die Darstellung einer zeitgenössischen Armenkiste überliefert (Abb. 8). Sie ist der Gotteskastenordnung in ihrer ältesten Handschrift als kolorierte Federzeichnung vorangestellt und zeigt eine stattliche Truhe mit halbtonnenförmigem Deckel, starken Kreuzbandbeschlägen und zwei Vorhängeschlössern. Auffällig ist, daß die Truhe von einer überaus reichen Idealarchitektur umgeben ist, in deren Tympanon ein antikisierender Krieger ruht. Die Präsentation der Truhe in einer so prächtigen Renaissance-Nische macht den hohen Stellenwert sinnfällig, der künftig einer solchen Einrichtung im evangelischen Gemeinwesen gebühren sollte. Vielleicht ist hier bereits die Vorstellung wirksam, der bisherige Dienst an den verschwenderischen Heiligenbildern sei hinfort durch den Dienst an den Armen, an den wahren Bildern Christi, zu ersetzen, eine Vorstellung, die sich ja später bei Bucer und Bugenhagen als Alternative von falschem und wahrem Gottesdienst ausgearbeitet finden sollte. Der ruhende Krieger hingegen darf wohl als Mars angesehen werden. Friede herrscht, wo das Sozialwesen in Ordnung ist – so dürfte die Botschaft im Tympanon zu verstehen sein.29 Daß gerade die Hamburger Reformationsbewegung zu einem guten Teil vom Wunsch der Bürgerschaft getragen war, soziale Gerechtigkeit herzustellen, wozu bürgerliche Mitsprache ebenso gehörte wie die sehr frühe Errichtung eines Gemeinen Kastens, das hat Rainer Postel mehrfach zeigen können.30 Das Manuskript mit dem hier gezeigten Bild ist frühestens im Jahr nach der Abfassung des Textes entstanden, denn an einer Stelle ist vom Schreiber ein Verweis auf 27
Vgl. ebd.; S. 219 u. 221. Vgl. J[ohann] M. Lappenberg: Ueber die Entstehung der Bürgerschaftlichen Verfassung Hamburgs. Programm zur dritten Secularfeyer der bürgerschaftlichen Verfassung Hamburgs am 29 sten September 1828, in: Bibliothek der deutschen Literatur. Microfiche-Gesamtausgabe nach den Angaben des Taschengoedeke. München o. J., Fiche 10816; hier S. 30 u. 56, Anm. 52. – Hans G. Bergemann: Staat und Kirche in Hamburg während des 19. Jahrhunderts. Hamburg 1958 (AKGH 1); S. 23. 29 Ähnlich jetzt auch Hatje 2002 a; S. 191. 30 Vgl. beispielshalber den Sammelband von Rainer Postel: Beiträge zur hamburgischen Geschichte der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze zum 65. Geburtstag (hg. v. Lars Jockheck). Münster in Westfalen 2006 (Geschichte: Forschung und Wissenschaft), passim. – Frank Hatje: „Dieser Stadt beste Maur vndt wälle“ – Frühneuzeitliche Armenfürsorge und Sozialbeziehungen in der Stadtrepublik am Beispiel Hamburgs, in: Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit (hg. v. Sebastian Schmidt u. Jens Aspelmeier). Stuttgart 2006 (VSWG.B 189), S. 203–217. 28
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den kursächsischen Unterricht der Visitatoren (1528) interpoliert.31 Es handelt sich also nicht um die Urschrift der Gotteskastenordnung. Daher kann das Bild durchaus die tatsächlich vorhandene Armenkiste zeigen, die 1527 in der Nikolaikirche installiert wurde. Auch in Lübeck forderte einem Zeitgenossen zufolge noch vor Bugenhagens Eintreffen zuerst ein Bürgerausschuß, „ene Gadeskisten in den kerken vor de armot und den kerkendeners upthorichten und desulvigen tho versorgen.“32 Am 12. und 13. Oktober 1530 hörte der Rat 26 Artikel der versammelten Bürgergemeinde an, mit denen auch auf die Einbestellung kompetenter Vorsteher für Kirchen, Klöster, Bruderschaften und Kalande gedrungen wurde, die zur Verwaltung und Verantwortung der kirchlichen Finanzen fähig wären. Die Einkünfte sollten zusammen mit weiteren Abgaben und Benefizien in die „gadeskysten“ jeder Kirche fließen, aus der dann das Personal zu besolden und die Armen jedes einzelnen Kirchspiels zu versorgen waren.33 Auch hier brauchte Bugenhagen die Bürgerschaft nicht erst vom neuen Modell zu überzeugen, nahm aber die Trennung von Gemeinem und Schatzkasten vor. Ob in Lübeck jedoch die Kästen ähnlich prompt wie in Hamburg aufgestellt wurden, läßt sich aus den Quellen nicht erkennen. Auch für Hildesheim fehlen genaue Angaben zur Aufstellung der Kästen, wenngleich wir aus einigen Quellen jedenfalls schließen können, daß die Einrichtung der Kästen in den einzelnen Kirchspielen und ihre Verwaltung durch verordnete Kastenherren bald nach der Kirchenordnung und dann während der zweiten Jahrhunderthälfte im wesentlichen funktioniert hat.34 Ungünstiger stellt sich die Quellenlage in den Territorien und Reichen dar. Die Umsetzung der naturgemäß unpräzisen Anweisungen wird hier auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen sein. Besonders im Fürstentum BraunschweigWolfenbüttel führte die energische Durchsetzung der Reformation unter der Regierung des Schmalkaldischen Bundes zwar schon vor der Kirchenordnung zur Installation solcher Kästen, die aber in der Eile kaum tragfähig ausgestattet waren, so daß schon allein die Pfarrgehälter nur durch mühsam beschaffte Zuschüsse gewährleistet werden konnten.35 Ansonsten mag es wie in SchleswigHolstein, das hier exemplarisch stehen kann, auch in anderen Gebieten gewesen sein: Zwar läßt sich für einzelne Orte die Einrichtung einer Armenkasse noch im 16. Jahrhundert nachweisen, doch insgesamt scheint man einen pragmatischeren Weg gegangen zu sein, indem vielerorts die vorhandenen Hospitäler, Armen‑ und Siechenhäuser die Funktion zentraler Armenkassen übernahmen, ohne daß 31
Vgl. Postel 1986; S. 277. [Reimar Kock:] Ausführliche Geschichte der Lübeckischen Kirchen-Reformation in den Jahren 1529 bis 1531, aus dem Tagebuche eines Augenzeugen und Beförderers der Reformation (hg. v. Friedrich Petersen). Lübeck 1830; S. 84. 33 Vgl. Jannasch 1958; S. 338 f. – Hauschild 1981; S. 185 f. 34 Vgl. etwa Hildesheim StA; Bestand 8, Nr. 17 (für 1545); Best. 5, Nr. 129 (für 1571) u. Nr. 139 (für 1573). – Sprengler-Ruppenthal 1980; S. 823 (für 1583). 35 Vgl. Koldewey 1868; S. 270 f. u. 307. 32
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die Kirchengemeinde die Gelder in einem Gemeinen Kasten zusammenzog. Daneben blieben die Vorstände anderer Armenstiftungen unabhängig bestehen, die manchmal in Personalunion von den Ortspastoren mitverwaltet wurden. So haben sich im dithmarsischen Markt Lunden, der von 1529 bis 1559 kurzfristig Stadtrechte besaß36, mehrere Armenstiftungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert kontinuierlich erhalten, die teilweise bis heute von eigenen Stiftungsvorständen verwaltet werden, ohne daß die Finanzen sich mit dem Haushalt der Kirchengemeinde berühren.37 Daneben bestanden die wohltätige St.-Pantaleons-Gilde von 1508 und das neue Siechenhaus von 1648 bis ins vorige Jahrhundert weiter, während zusätzlich eine Armenordnung von 1643 (erneuert 1649) darauf schließen läßt, „daß es neben der Fürsorge an den Bewohnern des Siechenhauses und den durch das Armen-Register erfaßten Personen auch noch ein allgemeines Armenwesen gab“38, das von der Kirchspielsgemeinde betreut wurde. Diese wird jedoch keine eigene Kasse zur längerfristigen Verwahrung von Unterstützungskapital gehabt haben, denn die Ordnung sah für registrierte Hausarme das Einsammeln von Almosen unter Aufsicht zweier Armenvorsteher und die anschließende Austeilung vor – ein Verfahren, das schon vor der Reformation in Augsburg und anderswo angewandt worden war. Ein ähnliches Bild zeigt Rendsburg: Auch dort bestanden nach der Reformation die wohltätigen Stiftungen an der Marienkirche weiter und wurden teils durch Armenvorsteher, teils nach alter Gewohnheit durch andere Personen verwaltet. Verschiedene Formen und Zuschnitte von Unterstützungsleistungen wurden folglich nach unterschiedlichen Kriterien „durcheinander ausgetheilet“, wie sich 1571 der schleswig-holsteinische Herzog Johann beschwerte.39 Damit sei den Armen wenig geholfen. Der Landesherr war 1567 auf schwere Mißstände in den Rendsburger Kirchenfinanzen aufmerksam geworden und hatte die Kirchgeschworenen und Armenvorsteher zunächst zu gewissenhafter Rechenschaft ermahnt. Vom folgenden Jahr an wurden die Rechnungen mit peinlicher Sorgfalt geführt.40 In einer ausführlichen Verordnung empfahl Johann 1571 die Zentralisierung des Rendsburger Armenwesens und seiner Finanzen an einem einzigen Ort, am besten einem Neubau des Heilig-Geist-Spitals, wogegen die alten Gebäude einschließlich der verstreut eingerichteten Armenwohnungen aufzugeben und zu Geld zu machen wären. Im Spital sollten auch sämtliche Almosen, die 36 Vgl. [Alfred] Ka[mphausen]: Lunden, in: Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands. Bd. 1 (hg. v. Olaf Klose), Stuttgart 1958, S. 135. 37 Vgl. Johann-Albrecht Janzen: Armenwesen im Kirchspiel Lunden vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Dithmarschen 1982, Heft 1, S. 9–22; hier 10 f. 38 Ebd.; S. 13. 39 Vgl. insgesamt W[ilhelm] Jensen: Eine noch unveröffentlichte Verordnung Herzog Johanns des Älteren von 1571. (Betreffend das Kirchen-, Armen‑ und Schulwesen in Rendsburg.), in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte II, 5 (1910–1913), Heft 3 (1912), S. 298–313; hier 312. 40 Vgl. ebd.; S. 299, Anm. 2.
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sonst weitläufig verteilt würden – also vor allem die Erträge der milden Stiftungen – zusammengezogen werden. Jedenfalls die vier alten Almosenstiftungen der Marienkirche sind wirklich spätestens 1579 vereinigt worden, während die Zentralisierung der öffentlichen Fürsorge in einem neuen Hospital erst 1798 ins Werk gesetzt wurde.41 Bezeichnend ist, daß kaum 30 Jahre nach der SchleswigHolsteinischen Kirchenordnung die Möglichkeit eines Gemeinen Kastens gar nicht erst in Betracht gezogen, dagegen als Zentrale der organisierten Wohltätigkeit selbstverständlich eine Einrichtung der geschlossenen Armenpflege assoziiert wurde – das Hospital. In beinahe jeder größeren Stadt in Schleswig-Holstein gab es ein oder mehrere Hospitäler, Elendenherbergen, Armen‑ oder Siechenhäuser, in denen die örtliche Armenfürsorge fortan mehr und mehr zusammengezogen wurde. Daher kam es nur unregelmäßig zur zusätzlichen Einrichtung Gemeiner Kästen auf Kirchspielsebene. Aus Pommern wissen wir übrigens, daß es den Stettiner Diakonen sogar ausdrücklich freigestellt war, die einzelnen Armeneinrichtungen zu einem gemeinsamen Institut zu vereinigen und zentral zu bewirtschaften, wie es im holsteinischen Rendsburg dann auch später durchgeführt wurde.42 Die Aufgaben der offenen Armenfürsorge – also vor allem die Unterstützung Hausarmer und die Regulierung des Bettlerproblems – nach und nach durch die bewährten Institutionen mitzuversehen, wird zweifellos pragmatischer erschienen sein als der umgekehrte Weg, der die Unterordnung der alten Einrichtungen unter das System einer erst neu zu installierenden Armenkasse bedeutet hätte. Wo immer daher in den Archiven von der ,Armenrechnung‘ oder dem ,Armenbuch‘ eines Ortes die Rede ist, muß darauf geachtet werden, auf welcher institutionellen Ebene sich solche Haushalte befanden. In der Mehrzahl werden dies die örtlichen Armen‑ oder Siechenhäuser, Elendenherbergen oder Hospitäler gewesen sein.43 41 Vgl. F[erdinand] Höft: Versuch einer Chronik der St. Marienkirche zu Rendsburg. Rendsburg 1887; S. 248. 42 Vgl. Ferdinand Bahlow: Reformationsgeschichte der Stadt Stettin. Stettin 1920; S. 123. 43 Auf die Angabe der Archivalien, die die ,Armenrechnungen‘ eines Ortes unter Verantwortung von Spitälern oder anderen Einrichtungen der geschlossenen Armenpflege repräsentieren, verzichte ich an dieser Stelle. Aus der Vielzahl von Stichproben gedruckten Materials vgl. aber exemplarisch Thomas Riis: Poor relief and health care provision in sixteenth century Denmark, in: Health Care and Poor Relief in Protestant Europe 1500–1700 (hg. v. Ole P. Grell u. Andrew Cunningham). London u. New York 1997, S. 129–146; hier 137 f. – Wilhelm Sell: Wohin mit den Menschen? Armenfürsorge in Angeln vor Bismarcks Sozialgesetzen, in: Jahrbuch des Heimatvereins der Landschaft Angeln 54 (1990), S. 146–174; hier 146. – Rolfs 1903; S. 478. – Lorenzen-Schmidt 1989. – Neumann 1965; S. 107. – Martin Clasen: Vom 600 jährigen „Hospital zum Heil. Geist“ vor Neustadt. II. Teil, in: Jahrbuch für den Kreis Oldenburg 7 (1963), S. 20–33; hier 22. – Für Pommern vgl. etwa die Kirchenmatrikel von Greifenberg (1540), wo der „armen kasten“ identisch ist ist dem Heilig-Geist-Spital: Protokolle der pommerschen Kirchenvisitationen 1540–1555 (hg. v. Hellmuth Heyden). Köln u. Graz 1963 (VHKP IV, 2); Nr. 62 a, S. 47. – Unter dem Titel „Armenkaste“ in der Kirchenmatrikel zu Gartz an der Oder (1540) wurden alle Spitäler getrennt aufgeführt, waren also nicht zentralisiert. Vgl. ebd.; Nr. 61 a, S. 16 f.
V. Gemeine Kästen und Schatzkästen
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In solchen Fällen konnte es sich, wie seit 1604 in Neustadt, um eine Hospitalslade handeln, in der Bargeld und Urkunden zusammenlagen, und die auch als Archiv diente – ähnlich wie es die Kirchenordnung für die Gemeinen Kästen vorgesehen hatte.44 Bisweilen erscheinen die Ausgaben für Bedürftige einfach unter der generellen Kirchenrechnung einer Gemeinde.45 Anderseits hat es sogar auf dem Lande – über die Kirchenordnung hinaus, die die Einrichtung Gemeiner Kästen ausdrücklich für die Städte vorsah – vereinzelt separate Armenkassen gegeben. So wird in den Kirchenrechnungen von Brokdorf in den Elbmarschen 1581 eine Armenkiste erwähnt, die sich aus Kapitalgeschäften finanzierte.46 Verpflichtend wurde die Einrichtung solcher Kassen in den Landgemeinden allerdings erst durch herzogliche Verfügung von 1646. Doch man wird dem Wunsch nur zögerlich nachgekommen sein.47 In einer besonders ausführlichen und energischen Verordnung wider das herumschweifende Herren-lose Gesindel vom 7. September 1736 drang König Christian VI. zur endgültigen Abschaffung des Bettels nochmals auf die Einrichtung geeigneter Institutionen in Stadt und Land: „Um […] an dem erforderlichen Armen-Gelde keinen Mangel zu haben, so soll eine jede Stadt, Commune und Kirchspiel fortan eine eigene Armen-Casse errichten“, in die endlich auch alle älteren Stiftungstestamente einzuverleiben seien – außer wenn sie „auf gewisse Personen und zu gewissen Gebrauch gerichtet“, also streng zweckgebunden wären.48 Jetzt genügte es nicht mehr, im Ort eine Spitalkasse zu haben. Dies illustriert der spektakuläre Fall des früheren Leutnants Heinrich Matthias Friedrich von Rönnebeck, der sich zu Lunden niedergelassen hatte und 1771 vor dem Konsistorium von Norderdithmarschen einen Eheprozeß gegen seine blinde Frau verlor. Schlagartig ruiniert, konnte er zwar erwirken, daß das Lundener Kirchenkollegium angewiesen wurde, ihn aus der örtlichen Armenkasse zu unterstützen. „Da es nun aber diese Armenkasse nicht gab, mußte der Leutnant wohl oder übel aus der Kasse des Siechenhauses unterhalten werden, was für diese eine schwere Belastung darstellte.“ Erst von 1774 an machte man 44
Vgl. M. Clasen 1963; S. 25. Vgl. etwa K[laus]-J[oachim] Lorenzen-Schmidt: Das Buch der Neuenkirchener St. Nicolai-Kirchgeschworenen von 1535, in: Archiv für Agrargeschichte der holsteinischen Elbmarschen 9 (1987), Heft 1, S. 1–21. 46 Vgl. Kiel NEKA , Bestand 18.14.00, Nr. 1025; hier fol.[22]r°. 47 Vgl. J[ens] Raben: Klingpung og Fattigblok, in: Sønderjydsk Maanadsskrift 22 (1946), S. 96–99. 48 Vgl. *Christian VI . [von Dänemark]: Verordnung wider das herumschweifende Herren lose Gesindel, wie auch wegen gnzlicher Einstellung des Bettelns und damit verknpfter Versorgung wahrer Almosenswrdiger Armen, vom 7 Sept. 1736, in: Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum, oder Allerhöchst-autorisirte Sammlung der in dem Hertzogthum Holstein, Königl. Antheils, samt incorporirten Landen, wie auch der Herrschafft Pinneberg, Stadt Altona, und Graffschafft Rantzau in Kraft eines beständigen Gesetzes ergangenen Constitutionen, Edicten, Mandaten, Decreten, Resolutionen, Privilegien, Concessionen und anderen Verfügungen. Bd. 1, Altona: Burmester 1749, S. 533–553; hier 543. 45
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dort Anstalten zur Gründung einer ortseigenen Armenkasse, weil auf der Straße ausgesetzte Säuglinge gefunden worden waren.49 Auf einen besonderen Zug von Bugenhagens Modell sei noch hingewesen: Da in armen Kirchspielen mit geringerem Spendenaufkommen tendentiell mehr Bedürftige zu versorgen wären, schlug er für die Städte stets einen zentralen Hauptkasten vor, in den regelmäßig die Überschüsse der einzelnen Armenkästen einzuzahlen wären, um als Finanzausgleich und für Notfälle eine Rücklage zur Verfügung zu haben.50 So sollte in Pommern neben dem Armenkasten in jeder Stadtkirche überall ein verborgener Vorratskasten vorhanden sein, von dem auch Auszahlungen vorgenommen würden.51 Armen‑ und Schatzkasten sollten notfalls auch einander aushelfen.52 Die Lübecker Ordnung sah einen übergemeindlichen Armenhauptkasten in der Marienkirche vor, der aus zwei Abteilungen bestehen sollte: Eine konnte die langfristig wirksamen Testamente und andere Urkunden, die zweite alle regelmäßigen Einkünfte, also Renten oder spontane Gaben, aufnehmen. Insbesondere waren an dieser Stelle die Finanzen der Hospitäler, Bruderschaften, Kalande und anderer Einrichtungen zu hinterlegen, die also von übergemeindlicher Bedeutung waren.53 Während der Lübecker Hauptkasten nicht zur Ausführung kam54, wurde in Hamburg die Einrichtung des Hauptkastens sogar vertraglich besiegelt: De erste vordracht auer bestellinge der houetkisten, den die Kirchspielsherren am 29. September 1528 miteinander abschlossen, bestimmte neben den vier Armenkisten eine „voffte vnd principall kaste“55 zur Aufstellung in der Maria-Magdalenen-Kirche. Die Wahl dieses Ortes wird kein Zufall gewesen sein: Im alten Franziskanerkloster konnte auf diese Weise der Wandel vom spätmittelalterlichen zum reformatorischen Almosenideal für jedermann sinnfällig werden. Auch die Hauptkiste sollte, wie bereits die Armenkiste der Nikolaikirche, ausdrücklich „vorogen“56 stehen, also öffentlich zu sehen sein. Die Einrichtung war ab 1529 funktionstüchtig, doch ging man bald wieder zur Dezentralisation der Armengüter über: So wurden 1532 aus dem Hauptkastengut vier Brauereien an die Armenkästen der Kirchspiele abgegeben, um sie finanziell stabilisieren zu können, und auch der geplante Finanzausgleich wurde rasch durch pragmatischere Transferzahlungen von einem auf den anderen Kasten bewerkstel49
Vgl. soweit Janzen 1982; S. 14. Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 145. 51 Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 117, 125. 52 Vgl. ebd.; S. 120. 53 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 159. 54 Vgl. [Martin S.] Funk: Das Armen-Diakonat an den Kirchen der Stadt Lübeck. 1531– 1861, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 2 (1867), S. 171–255; hier 174. 55 Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 68; hier Gotteskastenordnung, fol. 24 r°. – Vgl. Gotteskastenordnung St. Nikolai 1527 (1720); S. 122 f. 56 Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 68; hier Gotteskastenordnung, fol. 3 r° u. 24 v°. – Gotteskastenordnung St. Nikolai 1527 (1720); S. 112 u. 123. 50
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ligt, so daß die Hauptkiste hierzu verzichtbar wurde. Die dort bereits integrierten Güter wurden aber weiterhin von den hierfür bestellten Oberalten zugunsten der städtischen Spitäler verwaltet.57 Die Kirchenordnungen für Hildesheim und Braunschweig-Wolfenbüttel kannten wieder nur einen einzigen Kasten für alle kirchlichen Belange. Allerdings wurde gleich einem Mißverständnis vorgegriffen: „Wente gemeine kaste het nicht de kiste, de in der kercken apenbar steyht, dat men darin scholde bringen alle güder der kercken, wol wolde dat raden? Sonder gemeine kaste is geredet so vele, efft men wolde seggen: Gemeine schatt der kercken, darhen thosammende vorordenet is und werd ingebracht alle inkament der kercken und alle geistlike güdere (alse men se nömet) grot und klein dorch de kastendiaken. Dar mot men hebben kisten, slote, iseren, muren und vaste dören, dat solck schat wol verwaret sy. Dat het de gemeine kaste.“58 In diesem Sinne wurde wieder eine einzige Kasse für unterschiedliche Belange geplant, die dann freilich sorgsam auseinanderzuhalten wären. Der Gemeine Kasten war also nicht als Sammelbehältnis gedacht, jedenfalls nicht ausschließlich. Er ist nicht mit dem Opferstock zu verwechseln59, in dem man keine Wertpapiere und Rechenschaftsbücher hätte aufbewahren können. Dagegen wird sich das Institut des Gemeinen Kastens, so wie es von Bugenhagen beschrieben war, als gut gesicherte Archivtruhe konkretisiert haben, die dann vielleicht zusätzlich einen Einwurfschlitz erhielt, um auch spontane Gaben aufnehmen zu können. Wo immer sich alte Kirchentruhen mit Schlitzöffnung erhalten haben60, handelte es sich darum gewiß um Gemeine Kästen, die Raum genug für die Archivierung geldwerter Urkunden, für die Aufbewahrung von 57 Vgl. insgesamt K[arl] Koppmann: Aus der Reformationszeit, in: Mittheilungen des Vereins für Hamburgische Geschichte 5 (1882), S. 137–144. – Hans Wenn: Bugenhagens Hamburger Ordeninge. Beiträge zu ihrer Entstehung und Überlieferung, in: Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991), S. 265–313; hier 274. Wieder in: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen Teil 2. Hamburg 2003 (AKGH 22), S. 81–126; hier 92. – Hatje 2002 a; S. 208. 58 Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 76. – Vgl. Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 877. – Übertragung: ,Denn Gemeiner Kasten heißt nicht die Kiste, die öffentlich in der Kirche steht, in die man alle Güter der Kirche brächte, wer wollte das meinen? Sondern mit ,Gemeinem Kasten‘ ist so viel gesagt, als wollte man sagen ,Gemeiner Schatz der Kirche‘, in den zusammen alles Einkommen der Kirche und alle geistlichen Güter (wie man sie nennt), große und kleine, bestimmt sind durch die Kastendiakone. Dazu braucht man Kisten, Schlösser, Eisen, Mauern und feste Türen, um solchen Schatz wohl zu verwahren. Das heißt der Gemeine Kasten.‘ 59 So etwa Anne K. Brinker: Armenfürsorge als Sozialpolitik im frühmodernen dänischen Staat. Hamburg 1994 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 11); S. 47. 60 Einige Beispiele für Schleswig-Holstein: Beidenfleth (vgl. Beseler 1967 (1989); S. 772 f. sowie Sievers 1991; S. 95); Bordesholm (vgl. Beseler 1967 (1989); S. 619); Brunsbüttel (vgl. Sievers 1991; S. 95); Lübeck, Marienkirche (vgl. ebd.); Rendsburg, Marienkirche (vgl. Beseler 1967 (1989); S. 639) und Christkirche (neben einem Opferstock, vgl. ebd.; S. 642); Schleswig, Dom (vgl. ebd.; S. 700); Süderau (vgl. ebd.; S. 825).
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Bargeld aus verschiedenen Sammelquellen und obendrein für den direkten Einwurf einzelner Spendengelder boten.
2. Kapital und Einkünfte Damit ist bereits das breite Spektrum von Geldmitteln angedeutet, das Bugenhagen für den Gemeinen Kasten einplante. Ihrem wirtschaftlichen Charakter nach lassen sie sich trotz ihrer Verschiedenheit auf zwei Grundkomponenten reduzieren: liegendes Kapital, das langfristig regelmäßigen Gewinn abwerfen, und Einzelbeiträge, die beiläufig oder regelmäßig eingezahlt werden sollten. Zum Kapital konnte etwa die Grundmasse einer ehemaligen Seelgerätstiftung gehören, die in Bargeld oder als Grundbesitz dauerhaften Ertrag bringen mochte, aber auch unabhängig von solchen Stiftungen sollten dem Kapital des Armeninstituts möglichst viele Sachgüter, Liegenschaften und Geldwerte zugeschlagen werden, um die Kasse auf lange Sicht stabilisieren zu können. Als Einkünfte konnten dann die hieraus gewonnenen Zinserträge, Renten oder Pachtzahlungen verbucht werden, aber auch die Vielzahl spontaner Gaben, etwa die Kollektengelder, die unter der Predigt mit Klingelbeuteln gesammelt wurden, die Spenden, die bei Brautgängen oder Bestattungen hinzukommen konnten, Sammlungserträge zu besonderen Anlässen, Gewinn aus Nachlaßverkäufen oder später auch Strafgebühren. Solche Einkünfte konnten dann entweder direkt den Armen zugute kommen oder wiederum dem Grundkapital zugeschlagen werden. Durch die von Bugenhagen geplante Abtrennung des Schatzkastens waren alle Kirchengüter, die Bau und Ausstattung, Besoldung des Personals und weitere laufende Kosten sichern sollten, dort mit eigener Rechnung zu verwalten. Die Armenfürsorge dagegen sollte aus den aufgeführten Erträgen der Gemeinen Kästen finanziert werden. Die Braunschweiger Ordnung nannte hier zunächst nur Einnahmen spontaner Art, die in den Kirchen direkt in die Kästen eingeworfen werden sollten61; jedoch hat Bugenhagen implizit auch die Vereinnahmung und Verwaltung von liegendem Kapital in diesen Einrichtungen beabsichtigt, denn in der theologischen Einleitung zum Abschnitt vom Gemeinen Kasten wird etwa die mögliche Ablösung alter Stiftungen zugunsten der Armen ausführlich besprochen.62 Die Kirchenordnungen für Hamburg und Lübeck wiesen den Gemeinen Kästen der einzelnen Kirchspiele ebenfalls die Aufnahme spontaner Almosen, den gemeindeübergreifenden Hauptkästen hingegen die Verwaltung der vereinten Kapitalmasse zu, einschließlich der umfangreichen Hospital‑ und Klostergüter.63 In den späteren Kirchenordnungen waren die Bestimmungen 61
Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 143 f. Vgl. oben; S. 162 ff. 63 Vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 215–219. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 155 f. u. 158 f. 62
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weniger differenziert. So heißt es in der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung, daß in den Gemeinen Kasten „gesamlet werde / Godtfrchtiger lde Allmissen. Testamenta / vnde wat ss mer tho Gades Eere gegeuen ys / vnde wert. Ock Kalende / Brderschop / Gylde / Memorien / Consolatien / Statien / etc. Ock alle Vicarien der Kercken / wenner dat se leddich syn / edder werden mgen / van den de thor tidt daruan luen.“64 Den künftigen Einzelspenden und Testamenten sollten nun also auch ausdrücklich die bereits bestehenden Stiftungen und Bruderschaften hinzugerechnet werden. Zusätzlich sollten Vikarien, die nicht aus ihrer bestehenden Stiftung neu zu besetzen waren, mit dem Tod des Inhabers ledig werden und ihr Kapital an den Gemeinen Kasten fallen. So konnte das alte Pfründensystem nach und nach abgelöst werden, dessen Kapitalwerte aber im neuen Sinne weitergenutzt wurden. Dabei war, wie noch zu sehen sein wird, auch auf die Zustimmung der Patrone zu achten. Die Hildesheimer und die Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung kannten wieder nur einen einzigen Kasten für alle Zwecke. Die Tendenz war in Skandinavien schon vorbereitet. Während die Konzeption einer speziellen Armenkasse beibehalten wurde, waren die Pläne zur Pfarr‑ und Lehrerbesoldung nur noch ausgesprochen vage und wurden jedenfalls nicht wie früher in einem eigenen Abschnitt zum Schatzkasten systematisiert. Diese Asymmetrie entsprach freilich dem gesicherten Stellenwert der Armenfürsorge in der „duplex ordinatio“ des Königsbriefs. Noch 1736 wurde in der erwähnten Verordnung König Christians VI. von Dänemark mit größter Bestimmtheit aufgeführt, was den neu einzurichtenden Armenkassen in Stadt und Land künftig zufließen solle: Neben aktuellen Testamenten und Legaten, die stiftungsrechtlich nicht an die Familien zurückgegeben werden mußten, waren in hohem Maße spontane Spenden vorgesehen, vor allem aus Klingelbeutelsammlungen, aber auch aus Armenbüchsen, die in den Wirts‑ und Posthäusern und am Hafen aufgestellt werden sollten, sowie aus monatlichen Haussammlungen. Zwei Jahrhunderte nach den Kirchenordnungen für Dänemark-Norwegen und Schleswig-Holstein hatte sich der Charakter der Einnahmebeschaffung also noch einmal deutlich verändert: Für die flächendeckende Einrichtung neuer Kassen konnte jetzt nicht mehr, wie in der Reformationszeit, die Gunst der Stunde genutzt werden, um auf bereits bestehende Werte zurückgreifen zu können und sie notfalls umzuwidmen; vielmehr war man in höherem Maße auf die Ausdehnung der Spendermotivation angewiesen. Sollten sich die Leute den Aufrufen gegenüber als „kaltsinnig“ erweisen, müßten sie, wie es weiter heißt, zunächst ermahnt und später von Amts wegen unterschiedslos zur Kasse 64 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 180. – Übertragung: „… die Almosen frommer Leute einfließen, ferner Testamente und was sonst noch Gott zu Ehren gegeben worden ist oder gegeben wird. Auch Spenden von Kalanden, Brüderschaften, Gilden, Memorien, Consolatien, Statien usw., ferner alle Vikarien der Kirche, wenn sie ledig sind, oder von denen, die zur Zeit noch davon leben, ledig werden.“ Ebd.; S. 181.
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gefordert werden.65 Die religiösen Begründungskategorien waren polizeilichen und fiskalischen gewichen. Die Entwicklung wird uns noch an späterer Stelle beschäftigen.66 Hier genügt der Hinweis, daß die von den Reformatoren veranschlagten Geldquellen nach zweihundert Jahren weitgehend vergeben waren. Wie sich zeigen wird, waren sie nicht versiegt; nur konnten Kassen, die erst neu gegründet werden sollten, auf sie nicht zugreifen und mußten andere Brunnen auftun. Im folgenden seien vier charakteristische Einnahmequellen der reformatorischen Armenfürsorge näher beleuchtet: Als finanzielle Stabilisatoren auf lange Sicht stehen (a.) die Umwidmung bestehender Stiftungen und (b.) die Erträge aus älteren und neu hinzugekommenen Liegenschaften und Nutzungsrechten im Vordergrund. Auf der anderen Seite werden (c.) die unterschiedlichen Möglichkeiten spontaner Einkünfte zu untersuchen sein. Und schließlich soll ein Bereich angesprochen werden, dessen Rolle für die Finanzierung der Armenfürsorge bisher kaum berücksichtigt wurde, nämlich (d.) die Beteiligung der nachreformatorischen Armeninstitute am Rentenmarkt. a. Testamentarische Stiftungen Von den spätmittelalterlichen Stiftungen im Rahmen persönlicher Jenseitsvorsorge und ihrer theologischen Zurückweisung durch die Reformatoren war oben67 ausführlich die Rede. Erinnert sei aber im Blick auf die Seelgerätstiftungen an die Alternative von ,falschem‘ und ,wahrem‘ Gottesdienst, die sowohl in Bucers als auch in Bugenhagens Argumentation eine zentrale Rolle spielte: Was früher einmal in gutem Glauben zu nutzlosen Seelmessen gestiftet worden sei, solle jetzt auf den armen Nächsten gewendet werden. Damit sei der Stifterwille, der seinerzeit auf Jenseitsvorsorge zielte, sogar besser erfüllt, denn der Dienst an den Geringsten sei in Wahrheit auf Christus gerichtet und werde am letzten aller Tage von diesem auch so berücksichtigt (nach Mt 25). Realistischerweise rechnete Bugenhagen auf diesem Gebiet mit großen Schwierigkeiten nicht nur theologischer, sondern auch juristischer Art und wies die Hamburger Geistlichen und Ratsleute an, in jedem Fall zuerst das Gespräch zu suchen.68 Da solche Stiftungen in einem erheblichen Geld‑ oder Sachkapital bestanden, dessen Erträge ihre ewige Fortdauer garantieren sollten, konnte das Ende der alten Messen in der Praxis zu Rückgabeforderungen der Stifter oder ihrer Familien führen, die Bugenhagen in der Braunschweiger Ordnung so skizzierte: „Ick hebbe myn gelt gegeuen to der misse / to de Salue. etc. schal id nicht dar by bliuen so wil ick 65
Vgl. insgesamt Christian VI. von Dänemark 1736 (1749); Zitat auf S. 545. Vgl. unten S. 290 ff. et passim. 67 Vgl. oben S. 164 ff. u. 185 ff. 68 Vgl. ausführlich Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 220 f. 66
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myn gelt wedder nmen.“69 Dementsprechend warb er, wie zu sehen war, mit Nachdruck um die Zustimmung der Stifterfamilien, das Kapital fortan zugunsten der Armen zu verwenden. In der Praxis wurde eine zuverlässige Kriteriologie nötig, denn klagten Familien auf Rückgabe, reichte Bugenhagens Hinweis, daß der Stifterwille mit der Umwidmung doch erst recht erfüllt sei, in der Regel nicht mehr aus. Hier mußte der Wortlaut herangezogen werden. Einen solchen Verhandlungsfall aus dem Süden der Insel Seeland schildert Thomas Riis: Der Pastor der Peterskirche zu Næstved wurde 1547 vom Nachfahren eines Stifters verklagt, weil er nur noch evangelische Gottesdienste nach der Kirchenordinanz feierte. Der Onkel hatte jedoch ewige Messen zu seinem Gedächtnis verfügt und hierzu ein Anwesen gestiftet, dessen Erträge der Pastor auch jetzt behielt. Die evangelischen Gottesdienste, so argumentierte der Mann, böten der Seele seines Onkels jedoch keinen Schutz, wie es die Seelmessen gekonnt hätten. Also wurde die Urkunde herangezogen. Es fand sich, daß der Stifter verfügt hatte, die Kapitalerlöse anderen christlichen Zwecken zuzuwenden, falls die Messen eines Tages nicht mehr gefeiert werden sollten. So mußte der Kläger auf das Kapital verzichten, und man einigte sich darauf, den Ertrag fortan dem Heilig-Geist-Spital zukommen zu lassen.70 Damit orientierte man sich wohl an einem Grundsatzurteil, das zehn Jahre zuvor in einem umgekehrten Fall gesprochen worden war: Bei einem Aufenthalt Christians III. zu Ålborg hatte der Vorsteher des dortigen Heilig-GeistSpitals gegen einen Ritter geklagt, der „rent privat og på egen hånd har ,reformeret‘ noget af hans familie skænket gods under henvisning til, at messerne jo var nedlagt.“71 Christians Richterspruch wies die Selbstbedienungspraxis scharf zurück, weil der Ritter nicht beweisen konnte, daß die Stiftung ausschließlich der Messe zugedacht gewesen sei. Dieses Urteil erhielt Vorbildcharakter. Noch im selben Jahr 1537 präzisierte Christian einer Reihe adliger Antragsteller gegenüber, daß die Beweislast nunmehr umgekehrt sei: Nur solche Adelsfamilien, die einen Beweis beibringen könnten, daß die Stiftung seinerzeit ausschließlich für Messen gedacht gewesen sei, hätten überhaupt das Recht, auf Rückerstattung zu klagen. Anderen sollte dieser Zugang von vornherein versperrt bleiben. Troels Dahlerup hat diesen Rechtsgrundsatz als rigorose Beschränkung der adligen Zugriffsmöglichkeiten auf Kir69 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 137. – Übertragung: ,Ich habe mein Geld gegeben für diese Messe, für jenes Salve usw. Wenn es dabei nicht bleibt, will ich mein Geld zurück.‘ 70 Vgl. Danske Magazin, inbeholdende Bidrag til den Danske Histories og det Danske Sprogs Oplysning (hg. v. d. Kongelike Danske Selskab for Fædrelandets Historie og Sprog). Reihe 4, Bd. 1, Kopenhagen 1864; S. 327 (vom 28. September 1547). – Riis 1997; S. 135. 71 Troels Dahlerup: Den sociale Forsorg og reformationen i Danmark, in: Historie. Jyske Samlinger, Ny Række 13 (1979–1981), S. 194–207; S. 205. – Übersetzung: ,… rein privat und von eigener Hand etwas aus dem gestifteten Gut seiner Familie ,reformiert‘ hatte – unter Hinweis darauf, daß die Messe ja eingegangen sei.‘
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chengut interpretiert: Die Stiftungsbriefe seien wohl für die wenigsten Familien greifbar gewesen; auch habe die Standardform solcher Stiftungsurkunden im Rahmen topischer Wendungen stets einen eher unscharfen Verwendungszweck genannt, der in der Regel die ,armen Leute‘ einschloß – selbst dann, wenn es sich in praxi um reine Seelgerätstiftungen zum Zweck ewiger Messen gehandelt habe. In diesem Zusammenhang sei nochmals daran erinnert, daß solche Stiftungen generell als Almosen verstanden wurden, unabhängig davon, ob sie auf freiwillig oder unfreiwillig Arme gerichtet waren. Dies war etwa an Bugenhagens Pomerania deutlich zu sehen.72 Mit Dahlerup muß daher nachdrücklich unterstrichen werden, „i hvilken grad Christian III og hans råder bevidst favoriserede de milde stiftelser, lejlighedsvis ligefrem på adelens bekostning“73. Daß der staatliche Zugriff auf die Kirchengüter zu einen Niedergang des Fürsorgewesens geführt hätte, ist folglich zumindest unter Christians Herrschaft nicht zu sehen. Im Gegenteil, der König trat geradehin als Schutzherr des Kirchengutes auf. Offenbar hatte er sich die eindringliche Warnung zu Herzen genommen, die Luther und Bugenhagen ihm nach der Gefangensetzung der dänisch-norwegischen Bischöfe im August 1536 mitgeteilt hatten: „Ich danke dem himmelischen Vater“, lautete Bugenhagens damalige Antwort auf Christians Erfolgsnachricht, „das ich aus E. K. M. brief verstanden habe das gute ordnungen angehn im Königreich. Ich wil aber K. M. treulich gewarnt haben, das E. M. je behalte einen grossen Furrat von geistlichen gutern, für die Kirchen und Predigtstüle, für die Schulen und armen leute, für kranke und verlassene Kirchendiener und Schuldiener, für die jerliche Visitatien da viel zugehöret und ist von noten, für die Ehesachen zu bestellen da gros an gelegen, item für arme Studenten und was mehr müge fürfallen. E. M. sihet wol was ich meine.“74 Das ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Prompt verlieh Christian seiner Parteinahme für das evangelische Kirchenwesen juristischen Ausdruck, wie zu sehen war. Die Kehrseite der Medaille war eine Verrechtlichung des Problems, ohne daß Bugenhagens ausgefeilte theologische Argumentation künftig eine Rolle zu spielen brauchte. Aber es gab auch Fälle von Testamentsänderung zugunsten der Armen‑ und Krankenfürsorge, die von einem religiösen Bewußseinswandel zeugen. Davon wird noch zu sprechen sein.75 Unterdessen konnte freilich auch der geradewegs entgegengesetzte Fall eintreten, daß eine Stiftung, die die Armenfürsorge berücksichtigte, von Bugenhagen für andere Zwecke eingeplant wurde: In Lübeck gab es seit 1462 die Stiftung der Sängerkapelle, eine der reichsten und beliebtesten der Stadt. Von ihrem Kapital 72
Vgl. Bugenhagen: Pomerania (1900, 1986); S. 95. Vgl. oben S. 115 f. Dahlerup 1979–1981; S. 207. – Übersetzung: ,… in welchem Grad Christian III. und seine Räte bewußt die milden Stiftungen favorisierten, manchmal geradezu auf Kosten des Adels‘. 74 B[ugenhagen] an Christian III . Witt[enberg], 3. Decbr. 1536, in: ders.: Briefwechsel (1966), Nr. 60; hier S. 142 f. – Zum Zusammenhang vgl. Lorentzen 2004 b, S. 69. 75 Vgl. unten; S. 265 f. 73
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wurde eine eigene Singschule betrieben, deren Mitglieder – bezahlte Schüler, Kantoren und Vikare – täglich von morgens bis abends in der Marienkirche Messen und Horen zum Lob der Muttergottes sangen.76 Bugenhagen wollte nach dem Auslaufen dieser Dienste das immense Kapital für das neugegründete Katharineum einsetzen, die Lateinschule im ehemaligen Franziskanerkloster. Nur übergangsweise sollte der Fehlbetrag vom Schatzkasten ausgeglichen werden.77 Doch der Plan stieß auf den Protest etlicher Stifterfamilien: Für den Fall einer Auflösung der Sängerkapelle war nämlich verfügt worden, daß die Mittel den Armen gehören sollten! Damit war nicht allein Bugenhagens Finanzierungsplan an einem besonders sensiblen Punkt angreifbar geworden, der für ihn selbst so wichtigen Armenfürsorge, er konnte jetzt durch die altgläubigen Patrizier insgesamt konterkariert werden. Man behalf sich schließlich, indem Mittel aus dem Testament des Ratsherrn Hinrick Rapesulver von 1439 verwendet wurden. Dazu konnten nun auch teilweise Mittel der Sängerkapelle hinzugezogen werden, „averst idt kostede moye, eher idt so wit quam“, notierte ein Zeitgenosse.78 Der Fall deutet bereits den wichtigen Stellenwert der Mitsprache an. Wenn eine Stiftung nicht nur mit ewigen Seelmessen, sondern auch mit einem Altar und der dazugehörigen Vikarie verbunden war, mußte der zuständige Patron davon überzeugt werden, die Stelle verfallen zu lassen und das Kapital dem Gemeinen Kasten zuzuschlagen. Weil ihm die Stellenbesetzung einen beachtlichen Einfluß im Kirchspiel gesichert hatte, mußte ihm dann auf dem Kompromißwege besonders die Wahrung seines Mitspracherechts zugesichert werden. Auch bei anderen Erbstiftungen, deren Kapital und Auszahlung also noch für einige Generationen von der Familie kontrolliert werden konnten, sei zunächst das gütliche Gespräch zu suchen: „Wat me in der gůde van der Frnschop vnde de des toschaffende hebben / erlangen kan / dat ys gudt / ydt sy gantz edder de helffte / dat schal alle vallen tho der Casten der armen / den rechten armen togude.“79 Ferner müsse durch Ratspersonen und Diakone der Wortlaut der Stiftungsurkunde überprüft werden. Als weiterer Schritt sei ein Verzeichnis solcher Stiftungen anzulegen, die auf diesem Wege nicht für die Armenkasse gewonnen werden könnten, „dat se nycht vmmekamen / sunder de handthauere dar van knen / wen se dar tho gevordert werden / bescheit vnd antwerdt geuen / dem Erbarn Rade vnd andern den des thoschaffende gyfft edder tho schaffende wert geuende. Etlike frůntschop nympt dar van vnd tůth tho syck / vnd wyl dar na vorwenden / de noth hebbe 76 Vgl. C[arl] Wehrmann: Die ehemalige Sänger-Kapelle in der Marien-Kirche, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 1 (1855), S. 362–385; hier 382–385. Hiernach Hauschild 1981; S. 138. 77 Vgl. Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 34 f. 78 Kock (1830); S. 102. – Übertragung: ,aber es kostete Mühe, bis es soweit kam.‘ 79 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 185. – Übertragung: ,Was man gütlich von der Familie und denen, die darüber zu bestimmen haben, erlangen kann, das ist gut, es sei ganz oder zur Hälfte, das soll alles dem Kasten der Armen zufallen, den rechten Armen zugute.‘
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se dar tho gedrungen. Darumme schal drengende noth dorch den Erbarn Radt erkent werden vnde nycht vth egenem vohrnemende / dat nycht sulcke lehne vnde Testamente vmmekamen edder heimelick vortagen werden.“80 Stiftungsverzeichnisse dieser Art sind auch wirklich angelegt worden, mitunter anläßlich von Visitationen.81 In der Pommerschen Kirchenordnung waren sogar denjenigen Priestern, die von Erblehen lebten, ihre Einkünfte weiter zugesagt worden, sofern sie die Kirchenordnung respektieren wollten; erst nach ihrem Tod sollte der Fundus dem Gemeinen Kasten zufallen, statt daraus die Stelle neu zu besetzen.82 Für den Fall jedoch, daß hierfür Patrone zuständig seien, solle man freundlich mit ihnen verhandeln, damit sie freiwillig und gern das Kapital wenigstens teilweise zur Verfügung stellten. Auch hier sollte bei einem Scheitern der Verhandlungen der Fall jedenfalls für später in eine Liste aufgenommen werden.83 Aus gegebenem Anlaß erinnerte der Stettiner Superintendent Paul vom Rode († 1563) für den Umgang mit den Patronen einige Jahre später noch einmal an diese Stelle und mahnte, „das man freunthlich mit yrem willen geschee und sie alse mith patronen dennoch bleiben. Aber nicht das sie es yres gevallens widder die loblichen landßordnung gebrauchen sollen“84. Seinen konkreten Beschwerden zufolge hielten jetzt etliche Familien ihre Benefizien wie zum Teil auch das dazugehörige Altargerät für eigene Zwecke zurück. Demgegenüber betonte Rode ganz im Sinne der Kirchenordnung, daß die Stiftungen durch die Reformation nicht eigentlich erledigt, sondern verwandelt worden seien: „Denn wowol die ampte vorendert sinth, szo sint sie dennoch nicht hinwegk genomen, sundern in bessere und nuthere gewanth.“85 Als Abhilfe gegen die beklagte Zähigkeit besonders des Land80 Vgl. ebd.; S. 186. – Übertragung: ,… damit sie nicht verloren gehen, sondern die Inhaber, wenn sie dazu aufgefordert werden, dem ehrbaren Rat und anderen, die es angeht oder angehen wird, Frage und Antwort stehen. Oft nimmt die Familie davon und behält es und will später vorgeben, die Not habe sie dazu gedrängt. Darum soll dringende Not durch den ehrbaren Rat beurteilt werden und nicht eigenem Vernehmen nach, damit solche Testamente nicht verloren gehen oder heimlich entzogen werden.‘ 81 Vgl. etwa die Kirchenmatrikel von Greifenberg (1540), in: Pommersche Kirchenvisitationen 1540–1555, Nr. 62 a; S. 29–31. 82 Bei den Visitationen wurde dies unterschiedlich gehandhabt: Erst nach dreimaliger Verlängerung einer Vikarie sollte etwa der Rat zu Belgard das ius patronatus übernehmen und das Kapital dem Armenkasten einverleiben. Vgl. Pommersche Kirchenvisitationen 1540–1555, Nr. 63 c; S. 90. Anders in Verchen, wo das Geld ans Pfarramt gehen sollte, wenn der aktuelle Vikar starb. Vgl. ebd., Nr. 77, S. 114. In jedem Fall sollten die Inhaber ihre Pfründe noch behalten. 83 Vgl. Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 110 f; nochmals 126 f. – Insgesamt ähnlich auch ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 220–221. 84 [Paul vom] Rode: Etliche artickele den gemeinen kasten belangende, in: Bahlow 1920, Nr. 23; hier; hier S. 313. – Übertragung: ‚… daß man freundlich mit ihren Wünschen umgehe und sie also dennoch Mitpatrone bleiben – aber nicht, daß sie es [das Stiftungsgut] nach ihrem Gefallen gegen die löbliche Landesordnung gebrauchen sollen‘. 85 Ebd. – Übertragung: ,Denn obwohl die Ämter verändert sind, so sind sie doch nicht hinweggenommen, sondern zu besseren und nützlicheren gewendet.‘ – In einem konkreten Fall stand eine Gerichtsverhandlung an, in der eine Witwe als Erbin von Silber aus Patronatsgut
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adels forderte Rode vom pommerschen Herzog, die Diakone durch kompetente Prokuratoren und Kommissare zu unterstützen.86 Das gütliche Gespräch blieb freilich am wichtigsten. Für die Zukunft sah die Pommersche Kirchenordnung vor, die Leute weiterhin zu Testamenten zu ermuntern, in denen die kirchlichen Aufgaben berücksichtigt würden, gleichgültig, ob sie dem Armenkasten Kapital überlassen oder Renten für die Armen bestimmen oder andere Aufgaben der Kirche unterstützen wollten, etwa den Schatzkasten.87 Um solche Legate zu fördern, wurde mancherorts freies Begräbnis und freies Geläut zugesagt, aber Testamente zugunsten der Armen wurden doch „nur selden“ gemacht. Wer die Armen nicht bedachte, dem wurde 1557 zu Babbin gedroht: „Deme schal men ok nicht ofliken luden“. Das scheint aber wenig geholfen zu haben.88 Anderseits ergab eine Durchsicht Stralsunder Testamente von 1526 bis 1599, daß bei „200 vorliegenden Testamenten […] in 92 % von ihnen der Hilfsbedürftigen gedacht“ wurde, wobei die geschlossene Armenpflege „in klostern, in capellen edder anderen gasthusen“ vorrangig bedacht war.89 Weil in der Hansestadt bereits 1525 ein Gemeiner Kasten eingerichtet worden war, finden sich Vermächtnisse, die „den Armen in die Kiste“ gelegt werden sollten, hier schon verstärkt im Zeitraum zwischen 1527 und 1531.90 In den Kirchenordnungen für Hildesheim und Braunschweig-Wolfenbüttel wurde den Patronen zusätzlich in Aussicht gestellt, schon nach wenigen Jahren einen reichen Kasten sehen zu können: „Und mach ein van dem geslechte, de lehnhere is, des jares, wenn de kaste rekenschop deyt van dem lehne, uppet rathus komen und sehen und hören sülvest, dat mit dem lehne recht und christlick gehandelt werd.“91 Sogar eigene Wünsche des Patrons könnten gewiß berücksichtigt werden, ein Stipendium für einen Studenten vielleicht oder die Unterstützung einer guten Dienstmagd. Aus Hildesheim sind solche Verfahren tatsächlich dokumentiert: So schloß 1560 die Familie Brandis mit dem Rat einen Vergleich, wonach zwei frühere Altarstiftungen ihrer Eltern nun auch künftig bei der Andreaskirche verbleiben dürften, „zu behuef der predicanten in derselben kirchen underhaltung“. Vertragspartner sollten stets der jeweils älteste Kastenherr und der eingesetzt werden sollte. Rode drang darauf, den Schatz durch gütliche Einigung in den Kasten zu bringen und die Frau dann hieraus zu versorgen, um keinen Präzedenzfall zu schaffen. Vgl. ebd.; S. 314. – Ähnliche Klagen auch ders.: Bericht und Vorschläge zur Kirchenvisitation 1539, ebd. Nr. 24; hier S. 317 f. 86 Vgl. ebd.; S. 314. 87 Vgl. Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 115 f. 88 Heyden 1965; S. 87. – Übertragung: ,… für den soll man auch nicht öffentlich läuten‘. 89 Schildhauer 1992; S. 40. 90 Vgl. ebd.; S. 41 u. 114. 91 Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 79. – Ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 881. – Übertragung: ,Und es mag einer aus dem Geschlecht, der Patron ist, zu der Jahreszeit, wenn der Kasten Rechenschaft ablegt über das Lehen, aufs Rathaus kommen und selbst sehen und hören, daß mit dem Lehen recht und christlich gehandelt werde.‘
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jeweils älteste Brandis sein, dem ausdrücklich das Recht verbrieft wurde, „jerlichs bey der castenheren rechnunge zu sein und zusehen, das die zinse zu der prediger underhaltung angewendt worden sein.“ Falls der Kasten eines Tages jedoch zu gutem Vorrat gelangt sei, so sollten ein oder beide Lehen stattdessen als Stipendium für ein, zwei arme Hildesheimer Bürgersöhne verwendet werden, „davon in einer universiteten zu studieren und sich daselbst zum kirchendienste zu bereiten“92. Die hier beurkundete Verabredung folgte also exakt den Möglichkeiten, die knapp zwanzig Jahre zuvor in der Kirchenordnung angedeutet waren. Und das war kein Einzelfall.93 Vielmehr darf an topische Wendungen gedacht werden, die sich in der Hildesheimer Diplomatik wohl nach Bugenhagens Vorschlag bewährt und eingebürgert hatten. Das nachdrückliche Werben der Reformatoren um die Gunst der Patrone dokumentiert, wie groß der Bedarf der Armeninstitute nach langfristig verfügbaren Kapitalgütern war. Allein auf milde Spenden wollte und konnte sich der Gemeine Kasten nicht stützen. b. Liegenschaften und Gerechtsame Das Kapital einer Stiftung mochte in einer Geldsumme bestehen, aber auch in Sach‑ und Grundbesitz und hiermit verbundenen Nutzungsrechten, mit deren Erträgen der Stiftungszweck finanziert werden konnte. Doch auch unabhängig von individuellen Stiftungen besaßen Einrichtungen der Armenfürsorge, insbesondere Hospitäler, von Anfang an Liegenschaften, Sachgüter und Gerechtsame, die nach der Reformation durch Kloster‑ und Kirchengut erheblich erweitert werden konnten. Meist wurden solche Güter unmittelbar vermietet oder verpachtet. So erwirtschaftete der Gemeine Kasten der Stadt Stolp in Hinterpommern, dem die Spitäler mit ihrem Grundbesitz integriert waren, im Rechnungsjahr 1548 mehr als 60 % seiner Einkünfte aus Pachteinnahmen (Abb. 9). Jeder Pächter im Kirchdorf Stickershagen zahlte dorthin jährlich fast ausnahmslos 8 mk 2 ß, in Ratsdamnitz zwischen 5 und 11 mk, in Klein Strellin zwischen 5 und 7 mk, in Lüllemin zwischen 3 und 9 mk, in Krussen zwischen 2 und 5 mk, und weitere Beträge kamen aus Nippnow und Schmaatz zusammen.94 Auch die Einkünfte des Kieler Heilig-Geist-Spitals bestanden noch 1645 zu mehr als 230 mk, das waren rund 60 % des Jahreshaushalts, aus der Grundheuer, die aus neun Stadtdörfern in die Kasse floß.95 Aber auch andere Möglichkeiten der Umsetzung von Hospitalgut in regelmäßige Einnahmen waren denkbar: So verkauften Rat und Bürgermeister der holsteinischen Stadt Itzehoe 1580 mit herzoglichem Einver92 Urkundenbuch der Stadt Hildesheim (hg. v. Richard Doebner). Bd. 8, Hildesheim 1901, Nr. 913; hier S. 758. 93 Ein weiteres, sehr ähnliches Beispiel: Ebd.; Nr. 912 u. 914. 94 Vgl. Greifswald PLA , Rep. 38 b Stolp, Nr. 842. – Zum umfänglichen Land‑ und Viehbesitz des Heilig-Geist-Spitals zu Stettin vgl. ferner Heyden 1963; S. 36. 95 Vgl. Kiel StA, Nr. 9802.
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ständnis sämtliche Güter des St.-Jürgens-Spitals auf Rentenbasis. Für den Verkaufswert von 15.100 mk zahlte der Käufer, Heinrich Rantzau auf Breitenburg, nun jährlich 900 mk Renten in die Stadtkasse, die jedoch vertraglich streng an kirchliche Zwecke gebunden blieben: Das Hospital erhielt jährlich 600 mk, die angesichts weiterer Einkünfte von 240 mk eine gute Versorgung ermöglichen konnten. Von den übrigen Renten wurden die Kapläne, die Kirchenfabrik und das Schulwesen mitfinanziert. Großer Wert wurde im Vertrag darauf gelegt, daß weder die Vermögensmasse noch die Renten anderen Zwecken zugeführt, geschweige denn veräußert werden durften.96 Daß die Kirchengüter nach der Reformation weiterhin ungeschmälert christlichen Verwendungszwecken vorbehalten sein sollten, und zwar verteilt auf Gemeinen Kasten und Schatzkasten, war für Johannes Bugenhagen so selbstverständlich, daß er sich in den Kirchenordnungen mit keinem Wort zu den politischen wie rechtlichen Schwierigkeiten äußerte, die damit verbunden waren. Die heftigen Kontroversen der Reformationszeit um die landesherrliche Umwidmung von Kirchengut haben ihn kaum beschäftigt. Diese Kontroversen resultierten zu einem guten Teil aus dem Vorwurf, die evangelischen Stände betrieben die Reformation vor allem deswegen so eifrig, weil sie es auf schnelle Bereicherung am Kirchengut abgesehen hätten. Wenn sie daher zuweilen als „Kirchenräuber“ apostrophiert wurden, stand dahinter die Rechtsfigur des Landfriedensbruchs, eine schwere Anklage also, gegen die man sich mehr auf juristischer als auf theologischer Ebene zu wehren hatte.97 Das Reichskammergericht verstand die Kirchengüterfrage jedenfalls nicht als Glaubenssache, was dort seit dem Nürnberger Anstand von 1532 nicht mehr verhandelt werden sollte, sondern als „pure prophana“98. Vor allem Martin Bucer in Straßburg nahm sich der Frage in mehreren Gutachten und Streitschriften an, die auf kritischer Durchsicht des kanonischen Rechts beruhten. Zur Abwehr der Vorwürfe von außen war vor allem nötig, die Eigentumsverhältnisse zu klären und nachzuweisen, daß auch die evangelischen Inhaber, ja gerade erst sie, solches Gut nur zu christlichen Zwecken verwende-
96 Vgl. *Friedrich [II . von Dänemark-Norwegen]: Verordnung, wie es mit den Einknften und Rente der St. Georgens-Gter zu Itzehoe hinfrder soll gehalten werden, vom 9. Juni 1580, in: Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum 3 (1753), S. 598–600. 97 Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Kirchenvermögen und soziale Fürsorge. Die konfessionelle Prägung staatlicher Fürsorgepolitik, in: Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Begleitband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg (hg. v. Carl A. Hoffmann u. a.). Regensburg 2005, S. 146–151; hier 147. – Ausführlicher M. Stupperich 1989; S. 652–666. 98 Vgl. Gottfried Seebass: Martin Bucers Beitrag zu den Diskussionen über die Verwendung der Kirchengüter, in: Martin Bucer und das Recht. Beiträge zum internationalen Symposium vom 1. bis 3. März 2001 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden (hg. v. Christoph Strohm). Genf 2002, S. 167–183; hier 178–179 (Zitat 179).
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ten.99 Hier führten die Bestimmungen des Passauer Fürstenvertrags100 1552 und des Augsburger Religionsfriedens 1555 zur Festlegung eines status quo, die weitere Rückgabeklagen verhindern sollte: Da viele Kirchengüter bereits „eingezogen“ und für „Kirchen, Schulen, milten und andern Sachen“ verwendet worden seien, so bestimmte der Augsburger Friede, daß solche eingezogenen Güter, die zum Normaltermin des Passauer Vertrags 1552 nicht zum Besitzstand der altgläubigen Stände (sofern nicht reichsunmittelbar) gehört hatten, auch künftig bei ihrer aktuellen Verwendung belassen werden sollten. Jeder Rechtsweg sollte diesbezüglich ausgeschlossen sein.101 In den Territorien war damit zwar der Besitz der geistlichen Güter festgehalten, für den korrekten Umgang der Landesherrschaften mit dem eingezogenen Kirchengut jedoch gab es keine juristischen Regelungen. Bereits auf dem Schmalkaldischen Bundestag 1537 war in einer energischen Denkschrift evangelischer Theologen den Bundesfürsten nahegelegt worden, „daß man diese Güter zunächst zum Unterhalt der Prediger, für Schulen und Fürsorge einsetzen müsse“102. Doch in der Praxis blieb das Kirchen‑ und Armenwesen der evangelischen Territorien oft auf Treu und Glauben der Persönlichkeit des Herrschers ausgeliefert. Dies mag beispielhaft am Kieler Armengüterstreit ab 1571 gezeigt werden.103 Nach der Landesteilung von 1544 regierten in Schleswig-Holstein neben Christian III. als Herrscher des königlichen Anteils nun auch seine Brüder Johann d. Ä. († 1580) und Adolf († 1586) als Herzöge des Haderslebener bzw. Sonderburger Anteils. Die Einheit des Landes sollte aber durch eine Feinaufteilung der drei Einzelterritorien erhalten bleiben, die fiskalisch gleichwertig, aber schon durch die Aufsplitterung nicht als souveräne Staaten geeignet sein sollten.104 Anders als die Regierung seines Bruders Johann, war Herzog Adolfs Herrschaft dementsprechend von einem dauerhaften Streben nach Macht‑ und Güterzuwachs geprägt. Als einflußreicher Oberst des Niedersächsischen Reichskreises (ab 1557), als Feldherr (Eroberung Dithmarschens 1559) und Erbauer zahlreicher Schlösser 99 Vgl. den Fragekatalog bei Robert Stupperich: Bucer und die Kirchengüter, in: Martin Bucer and sixteenth century Europe. Actes du colloque de Strasbourg (28–31 août 1991) (hg. v. Christian Krieger u. Marc Lienhard). Bd. 1, Leiden, New York u. Köln 1993 (SMRT 52), S. 161–172; hier 166. 100 Vgl. Anton Schindling: Der Passauer Vertrag und die Kirchengüter, in: Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung (hg. v. Winfried Becker). Neustadt a. d. Aisch 2003 (EKGB 80), S. 105–123. 101 Der Augsburger Religionsfriede vom 25. September 1555. Kritische Ausgabe des Textes mit den Entwürfen und der königlichen Deklaration (hg. v. Karl Brandi). Göttingen 21927; S. 42 f. 102 Seebass 2002; S. 172. 103 Eine journalistische Skizze der im Folgenden rekonstruierten Ereignisse habe ich zuerst in einer Straßenzeitschrift vorgestellt; vgl. Tim Lorentzen: 17 Dörfer für die Armen, in: HEMPELs. Das Straßenmagazin für Schleswig-Holstein 140 (Dezember 2007), S. 20 f. 104 Vgl. Gottfried E. Hoffmann u. Klauspeter Reumann: Die Herzogtümer von der Landesteilung von 1544 bis zum Kopenhagener Frieden von 1660, in: Geschichte Schleswig-Holsteins (hg. v. Olaf Klose). Bd. 5, Neumünster 1986, S. 1–200; hier 6 u. 8.
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hatte er enormen Finanzierungsbedarf.105 1556 ließ er sich in einem erpresserischen Akt zum Schleswiger Bischof wählen, delegierte die geistlichen Aufgaben an Hoftheologen, später an seinen Superintendenten Paul von Eitzen († 1598), behielt aber das umfangreiche Stiftsgut sowie das bischöfliche Amt Schwabstedt als willkommene Abrundung seines Teilterritoriums für sich ein. Vor diesem Hintergrund wird erklärlich, warum Adolf bald die Güterverwaltung der Kieler Armeninstitute für sich zu beanspruchen suchte. Das Heilig-Geist-Spital, das nach der Reformation ins ehemalige Franziskanerkloster gezogen war, wie auch das St.-Jürgens-Spital vor den Toren der Stadt106 besaßen im Umland reiche Liegenschaften und Gerechtsame, die vom Rat verwaltet wurden. Vor allem sollten die Gewinne aus den 17 Stadtdörfern, die der Stadt vom 13. Jahrhundert an zum Unterhalt ihrer Spitäler ganz oder partiell verkauft, meist jedoch im Rahmen persönlicher Jenseitsvorsorge testamentarisch vermacht worden waren107, auch künftig der Armenfürsorge zufließen. Im Jahre 1553 reagierte der Herzog auf die Weigerung der Stadt Kiel, ihm ihre Rechnungen über die sachgemäße Verwendung dieser Ländereien offenzulegen, mit heftiger Empörung: Er habe den Eindruck, daß damit „zur ungebür umgegangen wirdet, uber das, das die holtzungen zum grunde verwustet, die Kirchen, Schulen, Stadtmauern und vesten vorfallen und vorderben, und also keine gute ordnunge oder policey gehalten wirdet“108. Das waren schwere Vorwürfe, die den Rat indes keineswegs zu beunruhigen schienen, denn dieser beharrte auf der selbstverantwortlichen Administration der Armengüter und verschleppte den Schriftwechsel über Jahre hin. Noch 1570 hatte Herzog Adolf keine Einsicht in die Rechnungen bekommen. Er wandte sich an Kaiser Maximilian II. († 1576), der den Kielern aus Speyer den Befehl erteilte, die Kirchen‑ und Armengüter zu nichts anderem „dann ainig zu der Kirchen und der Armen leut underhaltung und Nutz“ zu gebrauchen. Insbesondere sei ihm nämlich zu Ohren gekommen, daß der Rat „die bessten Nutzparkeiten solch Stiftungen […] dem Spital und Pfarrkirchen entzogen, und Eurem privat Nutz und gebrauch zugeaignet“109 habe, worüber sich etliche Arme beim Herzog beschwert hätten. Von solchen Zeugen war bislang keine Rede gewesen, geschweige denn von Unterschlagung zulasten der Armen. Dieser neue Vorwurf wurde von den Kielern dann auch vehement bestritten. 105
Vgl. ebd.; S. 11–16. Vgl. Krüger / Künne 1991; S. 111. 107 Es handelte sich (ganz oder partiell) um Kopperpahl (seit 1297), Wellingdorf (1315), Kronshagen (1315 und 1334), Wik (1317), Moorsee (1338), Hassee (spätestens 1348), Schwartenbek (1352 und 1358), Schönkirchen (1356), Gremersdorf (in Wagrien, 1377), Dietrichsdorf und Mönkeberg (1420–1465), Boksee und Klein Barkau (1447), Ottendorf, Russee und Demühlen (1452) sowie Gaarden (1462).Vgl. Friedrich Volbehr: Zur Geschichte der ehemaligen kieler Stadtdörfer, in: Mitteilungen der Gesellschaft für kieler Stadtgeschichte 2 (1879), S. 3–30; hier 3 f. 108 Ebd.; S. 5. 109 Ebd.; S. 7. 106
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Friedrich Volbehr, der die Vorgänge 1879 veröffentlichte, meinte aus den Protesten ableiten zu können, „daß die Beschuldigungen […] vielfach begründet gewesen sind“. Dafür gibt es aber keine Quellen. Angesichts der nun folgenden Versuche Herzog Adolfs, sich die attraktiven Administrationsrechte der Kieler Armengüter kurzerhand selbst anzueignen, liegt vielmehr der Verdacht nahe, daß er es von Anfang an auf sie abgesehen hatte.110 Es kam zu Verhandlungen, die sich bis zum Frühjahr 1572 hinzogen und in eine dem Herzog ausgesprochen günstigen Vereinbarung mündeten. Danach habe „unser gnädiger Fürst und Herr für sich, und für S[einer] F[ürstlichen] G[naden] Erben und nachkommen, in gnaden schwinden und fallen laßen alle und jede zusprüche, Action und fürderung, die von wegen der verwaltunge beeder Armen-Häuser zum Heil: Geiste und St. Jürgen belegener Güther S. F. G. derselben Erben und nachkommen gebühren mügen“111 – womit der herzogliche Anspruch trotz des Verzichts zunächst einmal ausdrücklich bekräftigt wäre. Und obwohl „derenthalben ein zeitlang hero etliche wechselschrifften zwischen S. F. G. und dem Rathe ergangen; So soll doch solches alles, so woll den verstorbenen Rahts-Persohnen und ihren Erben, als den itztlebenden, so an der rewgierung sitzen, und ihren nachkommen, nun und zu keinen zeitten verweißlichen noch schädlichen seÿn.“112 Vielmehr erteilte der Herzog mit dem Schriftstück den Kielern großzügig ihre Administrationsrechte – ganz wie „bisanhero gebräuchlig gewesen“113. Auch sollten Erbpächter unverändert auf ihren Anteilen bleiben und pünktlich ihre Grundheuer, „wie hinbevohr gebräuchlich gewesen“114 an die Vorsteher zahlen, die weiterhin jährlich zu Lichtmeß gewissenhafte Rechenschaft abzulegen hatten. Die Hospitäler konnten somit auf die üblichen Einnahmen aus den betroffenen Gütern hoffen. Im übrigen, und dies war neu, beanspruchte der Herzog aber gegen eine jährliche Heuer von 800 Mark lübisch auf zwanzig Jahre „alle hocheit, Gerichte, Dienst, und sonst alle und jede nützungen obberührter Güther“115. In diesem Rahmen werde er selbstverständlich die Dörfer, Wälder Wiesen, Weiden, Äcker, Seen und Teiche unterhalten und „die Leüthe und Güther nicht verderben, verendern, noch verringern: Sondern vielmehr daran sein, das solche Güther verbessert, und deren nützunge den Armen zu guthe verhöget werden“116. Die beiden Einrichtungen würden durch die Regelung nichts 110 Damit gelange ich zu einer gänzlich anderen Einschätzung als Volbehr 1879 und (ihm folgend) neuerdings Christa Geckeler: 750 Jahre Kieler Stadtkloster. Von der Gründung bis zum neuen Stammhaus, in: dies., Jutta Kürz u. Eva Wulfheide: 750 Jahre Kieler Stadtkloster. Kiel 2007, S. 78–87; hier 81 f. 111 Abschrift in Schleswig SHLA , Abteilung 7, Nr. 5770; hier fasc. 5, S. [1]. – Vgl. auch Teilabdruck und Darstellung bei Volbehr 1879; S. 11–13. 112 Schleswig SHLA , Abteilung 7, Nr. 5770; fasc. 5, S. [2]. 113 Ebd. 114 Ebd.; S. [3]. 115 Ebd. 116 Ebd.; S. [4].
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von ihren Gütern und Ansprüchen verlieren, „Sondern wann die Zwantzig Jahr vorbeÿ, vnd vor derenselben außgang kein ander handel getroffen würde, Sol der Eigenthumb aller obberürten Güther mit allen und jeden nützungen beÿ den Armen bleiben, auch die Stadt zum Kiell vermügen der Alten Siegel und Brieffe die Administration und getreüwe handt daranne behalten“117. Darüberhinaus kündigte Adolf die Instandhaltung der Hospitalbauten auf eigene Kosten, jährliche Holz‑ und Kohlezustellungen und ein Sammelrecht für Fall‑ und Lagerholz im Wald von Boksee an. Über seine jährliche Mietzahlung von 800 Mark hinaus versprach er den Vorstehern 400 Mark als „ihrer mühe und arbeit ergetzligkeit vnd gebürliche belohnunge“118, und den Bürgermeistern und Ratsleuten üppige Schweinemast. Damit waren den Administratoren überaus schmeichelhafte Belohnungen für das Entgegenkommen in Aussicht gestellt, auf zwanzig Jahre nur auf die Gerechtsame der weitläufigen Ländereien verzichten zu müssen. Angesichts des herzoglichen Finanzbedarfs jedoch stellte sich allzubald heraus, daß die Stadt einen Kuhhandel eingegangen war. Immer wieder kam es zu Klagen über die rücksichtslose Ausbeutung der Güter. In einer umfassenden Gegenüberstellung mit den Vertragsbestimmungen erinnerten Bürgermeister und Rat am 29. Januar 1592 daran, daß die Erbpächter zwar energisch zur Zahlung ihrer Grundheuer angewiesen werden sollten – doch dies war durch den wirtschaftlichen Niedergang der Gebiete erschwert: „Etzliche der Leute können / großer vnvermügenheit halben / Ihre Heüer nicht außbringen: Etzliche bleiben sonsten darmit sitzen.“119 Trotz großer Bemühungen hat man es nie „dohin bringen mügen, das die Register dissalb volkömblich haben Clarificiert werden können; welches dan, wie vornunfftiglig zuerachten, den Armen nicht wenig schetlich.“ Aus Boksee seien etliche tausend Fuder Holz abtransportiert worden, daß es „erbarmlich anzusehen“ sei. Die Dorfbevölkerung werde zu Frondiensten herangezogen und sei durch die Beschwernisse „also abgemattet, das Jhrer viele nunmehr sich des Hungerns nicht wol verwehren können, da sie darkegen vorhin selbst zimblichen vorrath gehabt.“ Ihre Hausstände seien „gantz wüste“. Ob dies der fürstlichen Beamten in der Stadt „oder sonsten Jemands“ Schuld sei, bleibt in der Klageschrift bewußt unbeantwortet. Auch sei trotz mehrfacher Bitte an den Hospitalbauten nichts unternommen worden. Auf Unkosten des Herzogs, wie abgemacht, sei nichts geschehen. Hinsichtlich des Brennmaterials „beklagen sich die Armen sehr“: So sei ihnen das Holz, das sie sonst im Sommer bekommen hätten, im Winter und ganz naß gebracht worden, zudem stets weitaus weniger als versprochen. Der Herzog ließ darauf mitteilen, man habe befohlen, daß „ohne alle fernere Difficulteten dem Vertrage nachgelebet werden solle“.
117
Ebd.; S. [3–4]. Ebd.; S. [5]. 119 Ebd.; Vorgang vom 29. Januar 1592. 118
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Doch immer wieder wechselten Gravamina der Stadt Kiel und Zusagen des Herzogs einander ab. Zwar gab es Zahlungen von seiner Seite, aber die jährlich zum Kieler Umschlag, dem regionalen Handels‑ und Zahlungstermin in der Dreikönigswoche, angekündigte Miete von 800 Mark120 traf allmählich „theils gar nicht, theils nicht völlig“ ein.121 Das bestätigt sich in der Rechnung des St.Jürgens-Spitals von 1649, in der bereits ein Fehlbetrag von 906 mk 4 ß vermerkt wird.122 Nachdem die Laufzeit des Vertrags mehrfach verlängert und die vereinbarte Heuer wenigstens auf dem Papier erhöht worden war, agierten die Landesherren im 17. Jahrhundert bereits de facto wie Besitzer der fraglichen Ländereien, bevor die Stadt sie im Jahre 1667 auch de iure an Herzog Christian Albrecht überschrieb, der für alle Zukunft eine jährliche Zahlung von 2500 Mark in Aussicht stellte.123 Doch die Unregelmäßigkeiten waren damit nicht vom Tisch: Dem letzten Brief des Vorgangs124 zufolge belief sich der Zahlungsrückstand des Herzogs im Februar 1680 bereits auf stattliche 2760 Mark, und noch im 18. und 19. Jahrhundert wiederholten sich Beschwerden über die landesherrliche Zahlungsmoral125, weshalb am Ausgang des 19. Jahrhunderts über eine einmalige Ablösung nachdedacht wurde.126 Sie kam aber nicht zustande. So zahlt das Land Schleswig-Holstein weiterhin gut 1000 € jährlich an die Stiftung Kieler Stadtkloster, die Rechtsnachfolgerin der alten Spitäler.127 Der Kieler Armengüterstreit blieb kein Einzelfall. Allein Herzog Adolf hat noch häufiger versucht, auf Kirchengüter zuzugreifen. So entzog er 1571 dem Pastor zu Rendsburg in Herzog Johanns Gebiet die Pfarrländereien im Dorfe Kropp, das seinerseits zu Adolfs eigenem Teilgebiet gehörte.128 Auch hatten die Rendsburger Armenvorsteher immer wieder mit ihm über die sechs Schweine zu verhandeln, die seit 1496 stets aus Duvenstedt an das dortige Heilig-Geist-Spital zu liefern waren.129 Ein weiterer Fall von der Halbinsel Eiderstedt illustriert, daß die christlichen Verwendungszwecke solchen Kirchenguts auch einander konterkarieren mochten: 1597 kündigte Herzog Johann Adolf von Holstein-Gottorf an, das Land, das sein Vater der öffentlichen Fürsorge und damit „ad pias causas 120 Die Zahlungen von 800 Mark erscheinen jedenfalls zum Kieler Umschlag 1572, 1585 und 1586 in den Spitalrechnungen. Vgl. Kiel StA, Nr. 48304; fol. 88 r° u. 95 r° (für 1572); ferner Nummer 19219 (für 1585 u. 1586). – Zum Zahlungstermin vgl. Jürgen Jensen: Der Kieler Umschlag, in: Geschichte der Stadt Kiel (hg. v. dems. u. Peter Wulf). Neumünster 1991, S. 59–64. 121 Schleswig SHLA , Abteilung 7, Nr. 5770. 122 Vgl. Kiel StA, Nr. 11180. 123 Vgl. Volbehr 1879; S. 14–24. 124 Vgl. Schleswig SHLA , Abteilung 7, Nr. 5770; Vorgang vom 17. Februar 1680. 125 Vgl. Volbehr 1879; S. 25. 126 Vgl. ebd.; S. 26. 127 Vgl. [Jutta Kürtz:] „1000 Taler auf ewige Jahre“. Permutationsvertrag von 1667 gilt immer noch, in: dies., Christa Geckeler u. Eva Wulfheide: 750 Jahre Kieler Stadtkloster. Kiel 2007, S. 104 f. 128 Vgl. Jensen 1912; S. 299. 129 Vgl. ebd.; S. 309. Höft 1887; S. 240.
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destiniret“ hatte, nunmehr „zu einem anderen, gleichmeßigem Christlichem gebrauche nützlich anzuwenden“, nämlich zum Unterhalt der umstrittenen Schleswiger Lateinschule.130 Diese war zwar bereits von Bugenhagen geplant, doch 1565 erst nach Gefangensetzung des Domkapitels, das sich dem Projekt zunächst verweigert hatte, auf Drängen Paul von Eitzens und auf Druck Herzog Adolfs gegründet worden. Schon 1586 mußte der Unterricht aber wegen Geldmangels und fortwährender Krisen wieder eingestellt werden.131 Nun sollte ein neuer Versuch gemacht werden. Auf heftigen Protest der Eiderstedter Pastoren und Fürsprache Gottorfer Beamter mußte der Herzog 1603 schließlich erklären, „daß all solche gelder mit allen bißdaher gewunnenen Zinsen nun hinfüro zu ewigen Zeiten in gerhurten Vnsern Eiderstetschen Landen Vnuerruckt pleiben, vnd Von den Zinsen die Armen Vnterhalten […] werden sollen“. Obendrein habe er dem Armenhaus zu Tönning 3000 Mark geschenkt, so daß diese Einrichtung abgefunden sei und die übrigen Kirchspiele umso mehr auf das Land zugreifen konnten.132 Es ging freilich auch anders: Dem Rendsburger Pastor Franz von der Lohe erteilte Herzog Johann 1571 eine Reihe von Anweisungen zur Gewinnmaximierung zugunsten des Kirchen‑ und Armenwesens, nachdem er auf die maroden Finanzen der Marienkirche aufmerksam geworden war. So war der Roggenzehnt, der von den Kirchen‑ und Armenlansten entrichtet und nun weiterverkauft worden war, seinem Eindruck nach so billig wieder abgegeben worden, daß „die Kirche / auch die armen in dem verkürzet werden“. Ebenso sei Kirchenland unter Wert verkauft worden, und obwohl der Herzog die Schuldigen gebührend belangen könnte, gebe es doch keine Möglichkeit, das Gut zurückzubekommen.133 Die Pacht sei ebenfalls anzuheben zur Unterhaltung der Kirche und ihrer Diener.134 Weil Johann auch erfahren hatte, daß ein Müller von jeder Hufe Land, das er bewirtschaftete, stets ein Viertel für sich selbst behielt, mahnte er, „dasz den armen in deme zu kurtze geschieht / und dasz solche Vierdte matte zu notthurft der armen zu nehmen.“135 Auch die Kontrolle über die kirchlichen Gerechtsame war zu verbessern: Der Fockbeker See gehörte seit der Stiftung Manu Posevelts 1375 dem Heilig-Geist-Spital, doch durften die Einwohner des Dorfes Fockbeck unter bestimmten Auflagen vom Ufer aus darin angeln. Wenn sich jedoch, wie schon manches Mal, herausstellen sollte, daß auf dem See wieder illegal gefischt wurde, sollten nach Anweisung des Herzogs künftig die Seegerechtsame ganz zugunsten der Armen ausgetan werden. Bislang war es Brauch gewesen, die Fische 130
Schleswig SHLA, Abteilung 7, Nr. 3947. Vgl. Hoffmann / Reumann 1986; S. 110 f. 132 Vgl. Schleswig SHLA , Abteilung 7, Nr. 3947. 133 Vgl. Jensen 1912; S. 302 f. – Zum Roggenzehnt vgl. auch Riis 1997; S. 134 f., der darauf hinweist, daß etliche Hospitäler auch nach der Reformation weiterhin Zehnten bezogen. 134 Vgl. ebd.; S. 306. 135 Künftig behielt der Müller nur ein Sechstel des Ertrags, entschädigte sich aber, indem er weniger Grundheuer ablieferte. Vgl. ebd. S. 308 und Höft 1887; S. 225. 131
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an Heilig-Geist-Spital, Gasthaus und Siechenhaus zu verteilen.136 Auch später blieben Streitigkeiten wegen der Rechte auf dem See.137 Am Umgang mit den Gütern und Nutzungsrechten schleswig-holsteinischer Armeninstitute erweist sich der große Handlungsspielraum der Landesherren. Das könnte für eine pessimistische Beurteilung der nachreformatorischen Armenfürsorge sprechen. Es scheint jedenfalls nicht gerade ein Zeichen für nachhaltige Resonanz der Kirchenordnung zu sein, wenn es in so hohem Maße von der Persönlichkeit des Herrschers abhing, ob das Kirchen‑ und Armenwesen Gewinne oder Einbußen zu verbuchen hatte. Doch zugleich ermöglichen die Quellen eine alternative Betrachtungsweise. Die geschilderten Vorgänge in Kiel zeigen nämlich auch, daß die reformatorischen Fürsorgepläne umfassend und prompt ins Werk gesetzt wurden. Der Rat der Stadt Kiel hat zwar keinen Gemeinen Kasten eingerichtet138, aber die Armen‑ und Krankenfürsorge auf vier Spitäler konzentriert, diesen Einrichtungen nach der Reformation weiter ihre Rechte an den Stadtdörfern gelassen und seinem Fürsorgewesen damit auch künftig eine ausgesprochen starke ökonomische Basis gegeben – attraktiv genug für den enormen Finanzbedarf Herzog Adolfs. Dennoch hat der Kieler Rat um den Erhalt der Kirchengüter für die Armen engagiert gekämpft – auch auf die Gefahr hin, sich beim Herzog in Mißkredit zu bringen. Daß ihm nicht einfach am Erhalt städtischer Rechte und Einkünfte, sondern in hohem Maße an Wohl und Würde der armen Leute gelegen war, zeigen seine Protestbriefe deutlich. Im Laufe der Zeit konnten die Einkünfte der Kieler Armeninstitute sogar noch erheblich gesteigert werden: Für den Zeitraum von 1563 bis 1572 konnte für das Heilig-Geist-Spital ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 240 Reichstalern errechnet werden – in der Spanne von 1685 bis 1704 hatte sich die Einnahme bereits auf das Fünffache erhöht, auf 1208 Reichstaler. Auch das St.-Jürgens-Spital konnte seine Einkünfte von jährlich 214 Reichstalern in der ersten auf 654 Reichstaler in der zweiten Periode ausbauen. Dabei schlossen die Haushalte stets im Plus.139 Was mag die Kieler Stadtverwaltung dazu bewogen haben, sich für den ökonomischen Fortbestand ihrer Fürsorgeeinrichtungen so nachdrücklich einzusetzen? Abgesehen vom allgemeinen Armutsproblem in den Städten und den Vorgaben der herzoglichen Kirchenordnung hat sich hier vielleicht auch die Autorität Martin Luthers ausgewirkt: Der Rat hatte sich 1544 brieflich an ihn gewandt, 136 Vgl. Ein Einnahmeregister der Rendsburger Kirche von 1543 (hg. v. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt), in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, [Reihe II,] Bd. 52 (2006), S. 19–46; hier 45. – Höft 1887; S. 235. 137 Vgl. ebd.; S. 229 f. 138 Anders Walther 1991; S. 58. 139 Vgl. Krüger / Künne 1991; S. 120, v. a. Tabelle 8. – Zum Vergleich: 1576 betrugen die Einnahmen im Kernhaushalt der Stadt 288 Reichstaler, 1685 bereits 3882, 1710 dann 6297 Reichstaler. Die Einkünfte der Hospitäler konnten also mit dem säkularen Stadthaushalt durchaus mithalten. Die kirchlichen Gesamteinnahmen in Kiel überstiegen in den genannten Zeiträumen stets den städtischen Kernhaushalt; vgl. ebd.
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um eine klare Ansage zur Verwendung der Kirchengüter zu bekommen. Luther antwortete, „daß wir Theologen bisher gelert und noch leren, daß solche verledigte Kloster Güter sollen zum Brauch der Kirchen und armen Leuten angelegt werden fürnemlich und für allen Dingen.“ Das entsprach ganz der gemeinsamen Linie, die auch die übrigen Theologen des Schmalkadischen Bundes den Fürsten und Städten gegenüber vertraten. So konnte Luther dem Rat bestätigen, diese Zwecke seien „billig und göttlich, wie Jhr selbst auch bekennet in Eurem Casu. Aber welchen Personen solches zustehe oder gebüren wolle, da haben wir Theologen nichts mit zu thun, weil es unß nicht befohlen“140. Dadurch ermuntert, scheint der Rat die Sache nun selbst in die Hand genommen zu haben, bevor sich andere Interessenten der Güter bemächtigen würden. Daß im 16. Jahrhundert der obrigkeitliche Zugriff zu einer ,Säkularisierung‘ von Kirchengut geführt habe, darf also keinesfalls generalisiert werden. Nicht nur folgten städtische Obrigkeiten grundsätzlich anderen Interessen als landesherrliche, wie das Kieler Beispiel gezeigt hat, sondern auch auf derselben administrativen Ebene bedarf das Urteil von Fall zu Fall der Differenzierung, was am Verhalten der Brüder Johann und Adolf deutlich zu sehen war. c. Spontane Einnahmen Neben dem langfristig verfügbaren Kapital in Geld-, Sach‑ und Grundbesitz sollten dem Gemeinen Kasten spontane Gaben zufließen. Was darunter zu verstehen war, hat Bugenhagen in einer dem Inhalt, aber auch der Wirkung nach erstrangigen Ideensammlung in der Braunschweiger Ordnung mitgeteilt: In den Kasten „scholen kamen alle willige offere de me stedes des gantzen iares wil dar in geuen / wen eyn iewelick wil / Jtem alle Testamente vnde willige milde gauen. Jtem dat offer dat vp sunte Autors dach plach to vallen / dat schal ock vp einnen sundach na sunte Autors dage in eynnem bekene van dem volke / welk offert / gesammelt werden / vnde kamen in der armen Caste / dar to schal ock kamen dat gelt dat eyn Erbar Rdt togesecht hefft den armen / vor de vnkost de plach to schehn va Rade in sunte Autors dage. Jtem to vorne hefft me vnnutte den doden na geoffert / vnde de leuendigen armen vorsmet / were id nw gut / dat me vnnutte wanheit wendede in nutte wanheit / dat de fruntschop des doden mit den ander va graue ginge dorch de kerke / vnde offerde Christo / dat is / synen notrofftigen in de Caste der armen / de wile sulk neyn byloue is sonder me wet wol wor id tho kumpt. Jtem touorne hefft me ock geoffert wen de brut in de kerke ginck / were id nicht Christlick dat me denne den armen in de Caste offerde? […] Jtem so etlike wen eyn dode is / wolden lden laten / dat schal en gegunt werden to ermaninge den leuendigen / dat se ock denken dat se sterfflick 140 Luther an den Rat zu Kiel. [Wittenberg,] 7. Juli 1544, in: WA .Br 10 (1947), Nr. 4008; S. 603 f.
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synt / nicht tohulpe den doden / Ouers dat gelt vor dat ltent / ane wat den pulsanten hret / schal me steken in der armen Casten / de schatkasten heren ouers / de wile se vorstender synt tor kerken / schal me v dat ldent anreden. Jtem wat frame lde Christlick konen bedenken to hulpe disser Casten / schal ock dar to hren.“141 Nach Ort und Art der Einnahme können die Vorschläge als Sammlung, Einzelspende, Vermächtnis und Gebühr gefächert werden. Diese Bandbreite spontaner Einnahmequellen hat sich in den Territorien und Städten durchgesetzt. Beinahe ein Jahrhundert nach der zitierten Passage wird in einem Brief des Rats zu Schleswig 1624 rückblickend aufgeführt, daß „gudtherzige Burgere vor vielen Jahren, so wol Beÿ ihren gesunden tagen, alß auch in ihren letzten willen, den hauß-Armen […] vnd zu deren alß wohlverdhieneten vndterhalt vnterschiedliche Legata geordnet vnd verschaffet, Von welchen vnd was an feÿrtagen mit dem Beutel gesamblet, Auch was Beÿ vornehmen Leichbestetigungen verehret“142, eine namhafte Zahl Hausarmer versorgt worden sei. Später heißt es im selben Dokument, an die Armen verteile man wöchentlich „vndterandern das, was mit dem Beutel Sontäglich gesamblet, vnd Beÿ den Leichbegengknußen ins Becken, Auch in die ArmenKiste vnd in den Pfahl gegeben wirdt“143. Sowohl die Sammlung individueller Spenden in die Klingelbeutel, Becken und Opferstöcke als auch solche Abgaben, die durch Hochzeiten und Leichenbegängnisse veranlaßt wurden, wie ebenso Testamente und außerordentliche Geschenke gehörten demzufolge auch im 17. Jahrhundert zum Einnahmepotential einer leistungsfähigen Armenkasse. 141 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 143 f. – Übertragung: ,… sollen alle freiwilligen Opfer kommen, die man stets das ganze Jahr über hineingeben will, wann jeder will. Item alle Testamente und freiwillige milde Gaben. Item soll das Opfer, das immer auf den St.-Autors-Tag fiel, auch [künftig] an einem Sonntag nach St.-Autors-Tag [20. August] in einem Becken vom opfernden Volk gesammelt werden und in den Armenkasten kommen; dazu soll auch das Geld kommen, das ein ehrbarer Rat den Armen zugesagt hat, statt der Unkosten, die vom Rat zu geschehen pflegten am St.-Autors-Tag. Item: Früher hat man nutzlos den Toten nachgeopfert und die lebendigen Armen versäumt – da wäre es jetzt gut, daß man nutzlose Gewohnheit wendete zu nützlicher Gewohnheit, indem die Angehörigen des Toten mit den anderen vom Grabe gingen durch die Kirche und Christo opferten, das heißt, seinen Bedürftigen [Mt 25,40], in den Armenkasten, dieweil solches kein Aberglaube ist, denn man weiß wohl, wem es zukommt. Item: Früher hat man auch geopfert, wenn die Braut in die Kirche ging – wäre es nicht christlich, da den Armen in den Kasten zu opfern? […] Item: Da etliche, wenn einer tot ist, läuten lassen wollen, soll ihnen das gegönnt werden (um die Lebenden zu ermahnen, damit sie auch bedenken, daß sie sterblich sind, nicht den Toten zur Hilfe), aber das Geld für das Läuten, ungeachtet dessen, was den Pulsanten zukommt, soll man in den Armenkasten stecken. Die Schatzkastenherren aber, sofern sie Kirchenvorsteher sind, soll man wegen des Läutens anreden. Item, was fromme Leute christlich bedenken können zur Unterstützung dieses Kastens, soll auch dazu gehören.‘ – Vgl. den ähnlichen Abschnitt in der Hamburger Kirchenordnung 1529 (21991); S. 218 f. 142 Schleswig SHLA , Abteilung 7, Nr. 5910; S. [2]. 143 Ebd.; S. [4–5].
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„Idt were fynn“, wiederholte demgemäß die Hamburger Ordnung, „dathme in dusße Caste offere wenn me de dodenn nauolghet hefft. Item wen me de brudth in de karckenn voreth alße in der Brunswyckesschenn Ordeninghe steydt.“144 Was das sogenannte Brautgeld betraf, so hatte Bugenhagen in der Braunschweiger Ordnung eine theologische Begründung parat: „wy willen denne tor hochtidt wol ten vnde drinken vnde wol leuen / welk Got wol liden kan wen dar sus nichts geschut wat vorbaden is / wente Christus is suluest frolick geweset tor hochtidt vnde hefft den buren guden wyn dar to geschencket / were id denne ock nicht gut dat me de hungeregen vnde dorstenden mit eyne helre edder penninge bedachte / dat wy nicht vor Gade wurden vorklaget alse de rike slmer / de den armen Lazarum vor der dre nicht wolde ansehn.“145 Damit waren die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11) und noch einmal die Geschichte vom Reichen Mann und Armen Lazarus (Lk 16,19–31) zu einer eschatologischen Warnung verflochten: Wer an der üppigen Tafel den Armen vor der eigenen Tür ignoriert, kann am Jüngsten Tag von Gott verworfen werden. Zusätzlich gestaltete Bugenhagen das Motiv in der Lübecker Ordnung allegorisch aus: Christus könne bei der Hochzeit Wasser zu Wein verwandeln, „dat is gelcke geuen wedder vngelcke“, wenn er nur eingeladen werde. Und die anderen, „de in der brutlacht willen ethen vnn drinken vnn frlick sin / mchten yo wol tho vorne mit sulker wise den armen lazarum bedenken etc“146. Der aber wolle nicht prassen, sondern lasse sich genügen an dem, was vom Tisch fällt, ergänzte die Pommersche Kirchenordnung.147 In pommerschen Kirchenmatrikeln, hier 1547 in Treptow an der Rega, wurde dazu aufgefordert, das Fest zum Anlaß einer milden Gabe zu machen: Der Bräutigam „schal so wol in de kerke gan alse de brut, mit sinen frunden und mit in dat becken geven eres gefallens, doch ungedrungen dat offer ift gelt.“148 Eine Brautordnung enthielt dann genauere Bestimmungen.149 Auch in Kiel wurde 1567 eine 144 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 216. – Übertragung: „Es wäre schön, wenn man in diesen Kasten opferte, wenn man von einem Trauergefolge kommt, ebenso, wenn man die Braut zur Kirche führt, so wie es in der Braunschweiger Ordeninge steht.“ Ebd.; S. 217. – Tatsächlich wurden in Hamburg solche Kollekten jahrhundertelang „nicht an die jeweilige Kirchenkasse, sondern an den Gotteskasten“ gezahlt. Hatje 2006; S. 210. 145 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 144. – Übertragung: ,Wir wollen ja zur Hochzeit gut essen und trinken und gut leben, was Gott gut leiden kann, wenn da sonst nichts Verbotenes geschieht, denn Christus ist selbst fröhlich gewesen zur Hochzeit und hat den Leuten guten Wein dazu geschenkt. Wäre es dann nicht auch gut, daß man die Hungrigen und Durstigen mit einem Heller oder Pfennig bedächte, damit wir nicht vor Gott verklagt würden wie der reiche Prasser, der den armen Lazarus vor der Tür nicht ansehen wollte?‘ 146 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 156. – Übertragungen: ,… das heißt, Glück tauschen gegen Unglück‘; ,… die beim Brautgelage essen und trinken und fröhlich sein wollen, sollen ja bloß zuerst auf solche Weise den armen Lazarus bedenken usw.‘ 147 Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 115. 148 Heyden 1960; S. 86. – Übertragung: Der Bräutigam ,soll mit seinem Anhang genauso in die Kirche gehen wie die Braut und in das Becken geben nach ihrem Gefallen, aber ungezwungen, das Opfer oder Geld.‘ 149 Vgl. Pommersche Kirchenvisitationen 1540–1555, Nr. 117 b; S. 192.
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solche Ordnung erlassen. Doch sie bestimmte, daß während des Mahls von jeder Speise eine Portion für die Armen in Schüsseln zu legen sei, die bei den Vermählten standen. Dieses Menü sollte „nebst dem, was Braut und Bräutigam noch hinzu thun wollen, denen rechten nohtürfftigen Armen“ ausgespendet werden.150 Die Beibehaltung von Naturalspenden paßt zum Fehlen eines Gemeinen Kastens, in den Geldsammlungen hätten integriert werden können. In den Kirchenordnungen für Hildesheim und Braunschweig-Wolfenbüttel wiederum war das Geld, das bei Hochzeiten traditionell beim Te Deum auf den Altar geopfert werden sollte, dazu bestimmt, die Pfarrbesoldung aufzubessern.151 Doch bei Begräbnissen im Fürstentum sollten, falls arme Leute sich den Gesang der Schüler nicht leisten könnten, doch die Angehörigen den Toten ehrlich bestatten, selbst am Grabe singen und dann ein wenig in der Kirche spenden, „armen lüden tho gude.“152 Auch in Hildesheim sollte bei den Begräbnissen auf arme Familien Rücksicht genommen werden, indem solche, die sich Gesang wünschten, auch welchen bekommen sollten, aus christlicher Liebe153. Für das Totengeläut waren in den Kirchenordnungen eigene Gelder vorgesehen: Zwar sah die Braunschweiger Ordnung noch vor, das Läutegeld in den Gemeinen Kasten zu stecken, nur abzüglich dessen, was den Glöcknern gebühre; aber in Lübeck war das Geld bereits für den Schatzkasten bestimmt, weil der Vorgang folgerichtig das Personal betraf.154 Für Pommern fehlt eine solche Abgabe ganz155, und in allen späteren Ordnungen war sie schließlich für den Kirchenbau vorgesehen.156 Doch scheint es wenigstens in Schleswig-Holstein noch lange Zeit unüblich gewesen zu sein, bei Leichenbegängnissen für das Läuten überhaupt Geld anzunehmen, denn erst ab 1629 wurde das Verfahren zur Aufbesserung des kirchlichen Haushalts in Krempe eingeführt: Man wollte, „weil die Kirche alhie in ziemliche Schulden gerathen“, für das Glockenläuten künftig Gebühren nehmen. Der Umstand, daß König Christian IV. dazu eigens eine Konzession erteilte, läßt auf einen sehr seltenen Brauch schließen.157 Wie wurden die freien Spenden in den Kirchen eingesammelt? In Hamburg sollte in den Gemeinen Kasten gelangen, „wathmenn myth der bede ßammelth 150
Bremer (1916); S. 508, Nr. 294. Vgl. Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 863 f. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 66. 152 Ebd.; S. 68, ähnlich 77. – Vgl. auch ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 878. 153 Vgl. ebd.; S. 866. 154 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 166. 155 Vgl. aber die Greifenberger Kirchenmatrikel (1540), in: Pommersche Kirchenvisitationen 1540–1555, Nr. 62 a; S. 55. 156 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 33. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 124–127. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 878. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 77. 157 Vgl. Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum 3 (1753); S. 311 f. 151
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etc.“ Die ,Bede‘ kann in den norddeutschen Kirchen jede Art von Sammelinstrument gewesen sein, mit dem während eines Umgangs in den Gottesdiensten, zumeist unter der Predigt, um Gaben gebeten wurde. Oft heißen die Almosenbretter, von denen im ersten Teil dieser Studie ausführlich die Rede war, entweder ,Bede‘, ,Bedel‘, ,Bedelt‘, ,Belt‘ oder aber ,Brede‘, ,Brett‘, auch ,Tafel‘ und ,tabula‘158. Hier im Hamburger Raum wird man aber, wie generell in den Herzogtümern, überwiegend mit dem Klingelbeutel gesammelt haben, während im Norden der jütischen Halbinsel, überhaupt in Skandinavien und in Pommern das Almosenbrett stärker verbreitet war.159 Dementsprechend war in der Mitte, auf der Halbinsel Eiderstedt, 1591 gefordert, daß „in allen Carspel-Kirchen die Kirchgeschworne, wchentlich einer um den andern, mit dem Scklein oder der Beedetafel in der Kirchen, nach geendigter Predigt herum gehen, und die Almosen sammlen sollen.“160 Auch in Lübeck wurde nach der Kirchenordnung mit dem Beutel gesammelt.161 Wenn die Geräte verschlissen waren, ließen die dortigen Diakone auf eigene Kosten neue anfertigen. Zwei Beutel von Samt, die 1572 für die Jakobikirche gekauft worden waren, kosteten jeweils 15 Mark; sie mußten bereits 1585 wieder durch neue ersetzt werden.162 Das darf als deutliches Zeichen reger Benutzung gewertet werden. Es wundert daher nicht, daß aus dem 16. Jahrhundert kein Exemplar mehr erhalten ist.163 In Pommern sollten sich die Diakone einigen, ob sie Sonntags umschichtig oder alle zusammen „mit dem bdell“ in der Kirche umgehen. Wenn bei Hochzeiten oder Begräbnissen gesammelt wurde, war ein besonderes Becken aufzustellen. Nach dem Einsammeln sollte das Geld durch die Diakone in den Kasten gesteckt werden, „de wyle dat volck noch vorhanden ys vngetelet.“164 In der Braunschweiger Ordnung wird der Umgang mit dem Klingelbeutel anschaulich beschrieben: „Jtem de Diakene der armen scholen sick res Christliken vnde gotliken amptes nicht schemen / des se ehre hebben vor Gade vnde allen Christenen sonder gn des hilgen dages vohr vnde na der predige vmme in der kerken / mit bdelen dar anne eyn haueschelleken sy / dat se nicht daruen reden / dat de lde hren dat se dar synt / we nicht gerne gifft den scholen se nicht vele ndigen de wile Paulus secht / dat Got lff hefft eynnen frliken geuer [2 Kor 9,7]. Twe scholen der vgengere syn / de eynne schal gaen in der eyn158 Vgl. oben S. 65 ff. – Hans Wenn hält das Wort für einen „Schreibfehler“ und ergänzt es in seiner Ausgabe der Hamburger Kirchenordnung (21991; S. 216, Anm. 292) zu ,brede‘. 159 Vgl. Raben 1946; S. 96. – Urban Schrøder: Om klingpungen og dens brug i sønderjydske kirker, in: Sønderjysk Månedsskrift 41 (1965), S. 280–284; S. 281. 160 Johann Adolph: Eyderstedtisches Land-Recht 1591 (1794); S. 148. 161 Vgl. Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 179. 162 Vgl. Funk 1867; S. 202 f. 163 Vgl. ebd.; S. 203 f. – Bei den Beuteln, die aus dem 17. und späteren Jahrhunderten erhalten sind, handelt es sich in der Regel um Prachtexemplare, die seltener benutzt wurden. 164 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 114. – Übertragung: ,solange das Volk noch nicht auseinandergegangen ist‘.
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nen / de andere in der ander siden der kerken / alles to gude de Casten der armen.“165 Die Klingel diente also der Diskretion, weil die Gemeindeglieder auf diese Weise nicht einzeln angesprochen werden mußten. Das sollte den Charakter der Freiwilligkeit aus christlicher Liebe verstärken, zumal ausdrücklich davon abgeraten wurde, der Spende durch Zureden nachzuhelfen. Diese auch theologisch motivierte Funktion der Klingel dürfte später in Vergessenheit geraten sein. In Lübeck wurden 1845 die Glöckchen festgelötet und die Klöppel entfernt, „so daß das störende Klingeln seitdem aufhörte.“166 In Braunschweig-Wolfenbüttel wurde durch staatliche Verordnung das Umtragen der Beutel vom selben Jahr an ganz eingestellt und durch die Sammlung in Becken ersetzt, nachdem es immer wieder Klagen gegeben hatte, wie lästig der Brauch für den Gottesdienst sei.167 In den Schleswig-Holsteinischen Dörfern scheint noch ein Jahrhundert lang nur vereinzelt mit dem Bedel oder Beutel gesammelt worden zu sein, denn erst 1646 erging durch König Christian IV. eine entsprechende Verordnung: „Weill auch in den Kirchen auf den Drffern behero mit dem Klingbeutell nicht umbgangen, solches aber annoch einen geringen Vorrath oder Aerarium geben knnte, woraus den Armen zue Zeiten beyzuespringen und zue succurriren, so soll nichts weniger auch solches nunmehro verordnet und in Gangk gebracht werden.“168 Schon 1583 hatte ein Propst auf der Insel Lolland über die Nachlässigkeit der Pastoren in dieser Hinsicht geklagt. Die Tafel werde dort nur an den drei großen Feiertagen herumgetragen.169 Auch in Pommern kamen die Pastoren der Aufforderung, mit dem Klingelbeutel wöchentlich in den Kirchen umzugehen170, oft nicht nach. So beschränkte man sich in der Stadt Grimmen auf alle Vierteljahr, in anderen Städten auf die hohen Feste. In der Kirche zu Voigdehagen wurde 1583 immerhin an 18 Festtagen des Kirchenjahres gesammelt: am ersten Adventssonntag, an zwei Weihnachtstagen, Neujahr, Lichtmeß (2. Februar), Estomihi, Mariae Verkündigung (25. März), an zwei Ostertagen, Himmelfahrt, 165 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 144. – Übertragung: ,Item: Die Diakone sollen sich ihres christlichen und göttlichen Amtes nicht schämen, von dem sie Ehre haben vor Gott und allen Christen, sondern am heiligen Tag vor und nach der Predigt in der Kirche umgehen mit Beuteln, an denen eine Kugelschelle [eig.: eine topfförmige] sein soll, damit sie nicht zu sprechen brauchen, denn so hören die Leute, wenn sie kommen. Wer nicht gern gibt, den sollen sie nicht nötigen, weil Paulus sagt, daß Gott einen fröhlichen Geber lieb hat. (2 Kor 9,7) Es soll zwei Umgänger geben; einer soll auf der einen, einer auf der anderen Seite der Kirche gehen. Alles dem Kasten der Armen zugute.‘ 166 Funk 1867; S. 203. 167 Vgl. Wilhelm Rauls: Die Fürsorge für die Armen in der Geschichte der Braunschweigischen Landeskirche, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 66 (1968), S. 178–209; hier 202 f. 168 *[Christian IV. von Dänemark:] Extract Kniglicher Verordnung d. d. Rendsburg den 19 Octobr. 1646, daß auch in den Dorf-Kirchen der Klingbeutel umzutragen, in: Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum 1 (1749), S. 531. 169 Vgl. Birgit Andersen: Løsgængere og ørkesløse folk. Værdigt og uværdigt trængende omkring år 1600, in: Fortid og Nutid 32 (1985), S. 245–261; hier 258. 170 Vgl. Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 114.
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zwei Pfingsttagen, Trinitatis, Johannis, Mariae Heimsuchung (2. Juli), Sonntag vor Michaelis, Michaelis (29. September) und Kirchmeß.171 Die Einnahmen solcher Sammlungen kennen wir in nur wenigen Fällen. Meist wird das eingesammelte Geld unmittelbar nach dem Gottesdienst an die Armen weitergegeben worden sein, ohne erst die Rechnung zu durchlaufen. Doch bisweilen wurde über die spontanen Gaben auch sehr genau Buch geführt. Die Armenrechnungen der Braunschweiger Neustadt etwa geben exakten Aufschluß über die Verteilung der Spendenbereitschaft im Jahresverlauf: Danach wurden an den Sonntagen des Kirchenjahres 1592 in der Andreaskirche regelmäßig über 20 ß mit dem Beutel eingesammelt, Donnerstags mit etwa 5–6 ß erheblich weniger. Dagegen waren die Gottesdienste an den Hochfesten offenbar besonders stark besucht und förderten wohl auch die Spendenbereitschaft in nicht unerheblichem Maße. Am ersten Weihnachtstag 1591 kamen auf diese Weise 1 mk 14 ß, am zweiten 1 mk 10 ß 4 d zusammen; am Neujahrstag 1 mk 4 ß, am Ostersonntag 1 mk 12 ß, am Ostermontag 1 mk 7 ß, am Pfingstsonntag 1 mk 9 ß 3 d, am Pfingstmontag 1 mk 3 ß und zu Michaelis 1 mk 1 ß. Die Gesamteinnahme mit dem Beutel betrug in jenem Jahr 67 mk 1 ß 11 d.172 Davon waren solche Gaben unterschieden, die in den ,Brautkasten‘ geworfen worden waren, nämlich 4 mk 15 ß, und in den ,Totenkasten‘, nämlich 8 mk 10 ß.173 Diese Einkünfte variierten über die Jahre stärker. Ab Pfingsten 1595 schüttete man nach einem Ratsbeschluß das Beutelgeld stets in den ,Brautkasten‘ und rechnete die spontanen Einnahmen einfach zusammen.174 Eine weitere Gruppe bildeten Spenden, die an vier festgelegten Dankopfertagen des Jahres in eigens aufgestellte Becken geworfen wurden. Sie sind nicht mit dem Vierzeitenopfer zu verwechseln. Über diese Termine wird noch zu sprechen sein.175 Auffällig ist, daß die Spendenfreudigkeit der Bevölkerung bei diesen Danksagungen besonders groß war: Am meisten wurde am jährlichen Gedenktag für die Kirchenordnung gespendet, am Sonntag nach Aegidii (3. September) 1592 waren es stattliche 4 mk 12 ß. Ähnlich hoch waren die Einnahmen am Sonntag nach dem Fest des Stadtpatrons Autor (20. August) und zum Gedenken an die siegreichen Schlachten von Bleckenstedt (Reminiscere) und Drakenburg (Exaudi).176 Das charakteristische Einnahmeprofil im Jahresverlauf blieb auch in den folgenden Jahren so oder ähnlich bestehen177, so daß von starker Bindung der Spendenbereitschaft an Festfrömmigkeit, Liturgie und Predigt auszugehen ist. Besonders die motivatorische Rolle der Prediger wird noch weiterer Überlegungen bedürfen.178 171
Vgl. soweit Heyden 1960; S. 86. Vgl. soweit Braunschweig StA; Abt. F I 5, Nr. 623, fol. [3]v°–[5]r°. 173 Vgl. ebd.; fol. [3]r°. 174 Vgl. ebd.; Nr. 625, fol. [6]. 175 Vgl. unten; S. 262 f. 176 Vgl. Braunschweig StA; Abt. F I 5, Nr. 623, fol. [2]v°. 177 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 624 (für 1594), 625 (für 1595) und 626 (für 1596). 178 Vgl. unten; S. 255 ff. 172
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Mancherorts sind größere Spenden bekannt, die unmittelbar in den Armenkasten gezahlt und als besondere Gabe auch besonders aufgezeichnet wurden. So heißt es bereits in der Hamburger Ordnung: „Tho gudem anfanghe vnnd christlykem Exempelle / dath andere hernn vnnd frame lude moghenn nauolgenn / hefft eynn Er:Radth ßo ghudt alße dußent marck dusßer kastenn der armenn geschencket vnnd aueranthwordeth.“179 An früherer Stelle der Ordnung war der Gemeine Kasten wegen seiner Flexibilität zur Aufnahme kleiner und großer Spenden gewürdigt worden: Handwerker etwa könnten Pfennige oder Schillinge beitragen, ohne daß es ihrem Lebensunterhalt schade, aber der Kasten eigne sich auch für Leute, die heimlich größere Beträge spenden wollten, gemäß dem Wort: „Wenn du aber Almosen gibst, so laß die linke Hand nicht wissen, was die rechte tut“ (Mt 6,3). Denn stets hafte doch unseren sichtbaren Werken „vnnße mynschlyke dreck / dath ys de ydelle ehre / vnnd vorroem“ mit an, „alße de dreck am Rade“180. Allerdings verbiete Christus nicht, das Werk sehen zu lassen. Eine weitere Einnahmeform war in Skandinavien das Almosensammeln für ein Hospital in dessen Umland, ein Vorgang, der von der Obrigkeit lizensiert wurde. Mit einem solchen „Collecte Brieff “ gestattete bereits 1543 König Christian III. den Vorstehern des Schleswiger Spitals, „dat se eynen wagen uthschicken und in unsen Riken und fürstendomen Almußen to Underholding und födinge der Armen bedden und fördern mögen.“181 Seine „leven getruwen Reden, AmtLüde, Borgermeister, Rathmannen; Stadtvögede, Borgere und andere gemeine Undersaten“ bat er mit dem Schreiben, sie mögen „der vorgemelten Armen öhre Sendebaden juwe Almussen Handreken, unde mede deylen, unde se juw gütlichen befalen syn laten.“182 Den Umritt im Herrschaftsbereich eines Hospitals in dieser Weise zu lizensieren, war allerdings schon ein älterer Brauch, der in den Kirchenordnungen jetzt neu kodifiziert war.183 Bisweilen wurde, wie 1532 dem lutherischen Pastor zu Trelleborg, ebenfalls die landesweite Sammlung in allen Gerichtsbezirken gestattet. Im selben Jahr wurde dem Hospital zu Køge eine 179 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 222. – Übertragung: „Zu einem guten Anfang und als christliches Beispiel, damit andere Herren und fromme Leute dem nacheifern können, hat ein Ehrb. Rat diesem Armenkasten die Summe von tausend Mark gespendet und übergeben.“ Ebd.; S. 223. 180 Ebd.; S. 216, – Übertragung: „unser menschlicher Dreck, d. h. die eitle Ehr‑ und Ruhmsucht“, „wie der Dreck am Wagenrad“. Ebd.; S. 217. 181 Schleswig SHLA , Abteilung 400.5, Nr. 632; hier S. 64. – Übertragung: ,daß sie einen Wagen ausschicken und in unseren Reichen und Fürstentümern Almosen zum Unterhalt der Armen erbitten und fordern mögen.‘ – Vgl. zum Vorgang auch Jörg Rathjen mit Hans W. Schwarz: Schleswig im Spätmittelalter 1250–1544. Husum 2005; S. 165. 182 Schleswig SHLA , Abteilung 400.5, Nr. 632; hier S. 64 f. – Übertragung: ,… lieben, getreuen Räte, Amtsleute, Bürgermeister, Ratsleute, Stadtvögte, Bürger und andere gemeine Untertanen‘, ,… den Sendboten der ebengenannten Armen eure Almosen aushändigen und mitteilen, und sie euch gütlich befohlen sein lassen.‘ 183 Der Ökonom jedes Spitals sollte einen Wagen haben, um damit „pro more“ die Almosen im Umland einzufahren. Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 47. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 178 („na older gewanheit“).
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Konzession zum Almosensammeln erteilt, die nur auf das nähere Umland beschränkt blieb. Ähnliche Lizenzen können für Kopenhagen (1536 für ganz Seeland), Århus (1552) und Næstved (1557) nachgewiesen werden.184 Im übrigen konnten Spitäler auch kleinere Gewinne machen, wenn die Hinterlassenschaften verstorbener Bewohnerinnen und Bewohner verkauft wurden. Deren Gut war in der Regel mit dem Einzug ins Hospital in den Besitz des Instituts übergegangen.185 Bisweilen wurden Betten, Kleider und Schuhe der Verstorbenen durch Verwandte ausgelöst oder an weitere Interessenten verkauft186, vereinzelt fand man nach ihrem Tod auch Geld, das sie heimlich gehortet hatten187. In Stolp wurden gelegentlich Holz, Nutztiere oder Lebensmittel zugunsten des Gemeinen Kastens veräußert.188 Die dortigen Fürsorgeinstitute betrieben zudem eine Ziegelei189 und eine Imkerei190 und vermieteten eine Bleiche191 und eine Salzpfanne192 zur Benutzung. Mit diesen unternehmerischen Zügen der Hospitalwirtschaft, die hier bloß am Rande erwähnt werden sollen, ist freilich das Gebiet spontaner Einkünfte bereits verlassen. Der Vielfalt von Vorschlägen, die Bugenhagen in den Kirchenordnungen für die Einnahmen des Gemeinen Kastens gemacht hatte, entsprach also tatsächlich eine mannigfaltige Einnahmepolitik der verschiedenen Armeninstitutionen, die auf die Geldbeutel unterschiedlicher Schichten ebenso eingestellt war wie auf das Spektrum geeigneter Anlässe, bei denen die Spendenbereitschaft der Gläubigen aktiviert werden konnte. Was in die Opferstöcke und Becken, in die Klingelbeutel und Almosenbretter gelegt wurde, machte nur einen Teil der Gesamteinnahmen aus. Daß über diese Gelder nur selten aussagekräftige Zahlenreihen überliefert sind, deutet darauf hin, daß sie in den meisten Fällen gar nicht erst die Rechnungen durchliefen, sondern unmittelbar an die Armen ausgeteilt wurden. Ausdrücklich ist im erwähnten Brief des Schleswiger Rates die Rede davon, daß 184
Vgl. insgesamt Riis 1997; S. 136. Vgl. z. B. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 226 f. – Auch die Rendsburger Steinkellerstiftung übernahm häufig den Nachlaß. Vgl. Höft 1887; S. 247. 186 Vgl. z. B. Greifswald PLA ; Rep. 38 b Stolp, Nr. 842, fol. [7]. – Ebd.; Nr. 843; fol. [6] v°–[7]r°. – Ebd.; Nr. 841; fasc. [1], fol. [25]. – Ebd.; Nr. 846, fasc. [1], fol. [15]r°. – Aus Braunschweiger Akten ist ersichtlich, „daß Betten beim Verkauf die höchsten Preise erzielten.“ Boldt-Stülzebach 1989; hier 51. 187 Vgl. z. B. Greifswald PLA ; Rep. 38 b Stolp, Nr. 845, fasc. [1], fol. [15]v°. 188 Vgl. ebd.; Nr. 841; fol. [23]. 189 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 842, fol. [29]r°. – Ebd.; Nr. 462, fol. [4]r°. – Ebd.; Nr. 841, fasc. [1], fol. [29]v°–[30]r° und [21]r°–[24]r° (Kosten für den Betrieb der Ziegelei). – Ebd.; Nr. 836, fasc. [2], fol. [14]. – Ebd.; Nr. 846, fol. [20]. – Ebd.; Nr. 839, fol. [20]. 190 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 842, fol. [28]v°. – Ebd.; Nr. 462, fol. [3]v°. – Ebd.; Nr. 843, fol. [33]r°. 191 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 842, fol. [30]r°. – Ebd.; Nr. 841, fol. [29]r°. 192 Vgl. ebd.; Nr. 842, fol. [30]r°. – Ebd.; Nr. 462, fol. [3]v°. – Ebd.; Nr. 843, fol. [33]r°. – Ebd.; Nr. 845, fasc. [1], fol. [19]r°. – Ebd.; Nr. 862, fasc. [1], fol. [20]. – Ebd.; Nr. 864, fol. [20]. – Ebd.; Nr. 865, fol. [20]. – Ebd.; Nr. 848, fol. [21]. – Im Jahr 1590 mußte die schadhafte Pfanne aufgegeben werden. Vgl. ebd.; Nr. 829, fol. [27]. 185
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den Armen wöchentlich im Dom „vndterandern das“ ausgeteilt werde, „was mit dem Beutel Sontäglich gesamblet, vnd Beÿ den Leichbegengknußen ins Becken, Auch in die ArmenKiste vnd in den Pfahl gegeben wirdt“193. Für das Herzogtum Schleswig meinte Jens Raben 1946: „Bidragene til Fattigkassen kom frem paa forskellig Maade, men den største Rolle spillede de Penge, der blev indsamlet til de fattige ved Gudstjenesterne.“194 Aber damit ist meines Erachtens die Rolle der spontanen Spendensammlung doch weit überschätzt. Soweit ich sehen kann, spielten Erträge aus Grundbesitz und aus der Beteiligung am Rentenmarkt die größte Rolle und vermochten die Kasse überhaupt erst zu stabilisieren.195 Über diesen letzten Punkt, dessen Funktion für die Armenfürsorge bislang viel zu wenig beachtet wurde196, wird jetzt zu sprechen sein. d. Renten Eine der auffälligsten Formen kirchlicher Finanzwirtschaft in unserem Bereich war der Rentenhandel, der sich seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts von Frankreich her verbreitet hatte. Die Kirche oder jeder andere Besitzer, der an einer dauerhaften Einkunft interessiert war, zahlte dabei einem einzelnen Handelspartner einen festen Geldbetrag (niederdeutsch ,hovetstol‘) aus und erhielt als Gegenleistung eine jährliche Rente, und zwar auf dessen Lebenszeit (Leibrente) oder ewig (Ewigrente). Als Sicherheit brachte der Schuldner Haus und Hof ein oder benannte Bürgen. War er mit der Zahlung seiner Rente säumig, konnte die Gesamtsumme wieder eingezogen werden. Im Unterschied zum Geldverleih auf Zins handelte es sich beim Rentengeschäft um einen echten Kaufvertrag: Die Kirche erwarb für den Kaufpreis das Recht auf regelmäßige und einklagbare Natural‑ oder Geldzahlungen. Daher ist kontrovers diskutiert worden, ob diese Form der Geldwirtschaft „als Umgehung des Wucherverbotes entstanden“ sei. Tatsächlich gab es hierzu im Spätmittelalter auch ablehnende Stellungnahmen.197 Auch für Luther war selbstverständlich, daß es sich beim ,Zinskauf ‘, wenngleich 193
Schleswig SHLA, Abteilung 7, Nr. 5910; S. [4–5]. Raben 1946; S. 96. Übersetzung: ,Beiträge zur Armenkasse kamen auf verschiedene Weise herein, doch die größte Rolle spielte das Geld, das für die Armen im Gottesdienst eingesammelt wurde.‘ – Ähnlich Brinker 1994; S. 46. 195 So kürzlich auch Oehmig 2007; S. 113. 196 Zu den Ausnahmen gehören Jens Aspelmeier: „Das beim Haus Nutz und kein Unnutz geschehe“ – Norm und Praxis der Wirtschaftsführung in kleinstädtischen Spitälern am Beispiel von Siegen und Meersburg, in: Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit (hg. v. dems. u. Sebastian Schmidt). Stuttgart 2006 (VSWG.B 189), S. 169–190; hier S. 181–185 und die dort angeführte Literatur. 197 Vgl. soweit H[ans]-J[örg] Gilomen: Rente, ‑nkauf, ‑nmarkt, in: LMA 7 (1999 [a]), Sp. 735–738; Zitat auf S. 736. – Lorenzen-Schmidt 1987; S. 1–3. – Besonders instruktiv jetzt noch einmal ders.: Kredite für Bauern der holsteinischen Elbmarschen (1350–1540), in: Geld und Kredit in der Geschichte Norddeutschlands (hg. v. dems.). Neumünster 2006 (Studien zur Wirtschafts‑ und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 43), S. 143–157. 194
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erlaubt, um „eyn newes behendes erfunden ding“ handelte, dessen verheerende Wirkungen denen des gewöhnlichen Wuchers in nichts nachstünden.198 Zwar sei er durch das kanonische Recht legalisiert und vorerst vom Wucherverdacht befreit, aber darum nicht auch von Geiz und Eigennutz.199 Noch als Matthias Flacius 1563 beim Regensburger Rat für 2100 Taler eine jährliche Rente von 105 Talern erwarb, fand er sich heftiger Angriffe seiner Gönner ausgesetzt und klagte, „daß nicht nur in dieser Stadt, sondern auch durch ganz Deutschland die Lüge von meinem Wucher ausgestreut ist.“200 Es mag vor dem Hintergrund solcher Kritik an diesem Finanzierungsweg zunächst überraschen, daß die Reformation in dieser Hinsicht keinen Bruch verursachte. Im Gegenteil, die Bindung langfristiger Einkünfte lag gerade im Interesse der entstehenden evangelischen Kirchentümer, die aus theologischen Gründen an besonders einträglichen mittelalterlichen Finanzierungsformen (Ablaßhandel, Seelmessen, Pfründenwesen) nicht mehr partizipierte und daher auf eine Beteiligung am Rentenmarkt schwerlich verzichten konnte. Wie ein Rentenhandel mit der Armenkasse eines evangelischen Kirchspiels aussehen konnte, zeigt beispielhaft eine Stelle im Rentenverzeichnis von Brokdorf in den holsteinischen Elbmarschen: „Johann Francke ist schuldig xx mk. den Armen, de x mk. gaff Hÿnrich Nagell hinrickes soen, Anno 1562. De andere x. mk. gaff Carstÿneke Clawes Schomakers Tochter. Anno 1566. Hyrupp Renthe vpp Michaëelis tho den armen wande xx. ß. Da Börgenn Thomas Jlbern, vnd Jlbern Breide mit sat-deren Hand. Noch Johan Francke xx. mk. den armen de x. mk. gaff, Peter Schomaker de ander x. mk. sin von den armen geldes genahmen, Vp diße xL. mk. ist ein besiegelde brieff vpp de dach vpp Michaels.“201 Johann Francke erhielt also zweimal zwanzig Mark aus der Armenkasse seines Kirchspiels, von denen dreißig Mark der Kirche zuvor durch Heinrich Nagel, Christinchen Schuhmacher und Peter Schuhmacher geschenkt und wohl gleich zur Wiederanlage auf die hohe Kante gelegt, zehn Mark dagegen aus dem liegenden Armenkapital genommen worden waren. Als Gegenleistung für diese Kaufsumme verpflichtete sich Francke zu zweimal zwanzig Schilling Rentenzahlung, die jährlich zur Erntezeit (Michaelis, 29. September) und damit zu einem be198
Luther: Kaufshandlung 1524 (1899); S. 51. Vgl. ebd.; S. 52. 200 Vgl. Wilhelm Preger: Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit. Bd. 2, Erlangen 1861, Ndr. Hildesheim u. Niewkoop 1964; S. 231. Den freundlichen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen Dr. Andreas Waschbüsch (München). 201 Kiel NEKA , Bestand 18.14.00, Nr. 1025; fol. 11 v°. – Übertragung: ,Johann Francke schuldet den Armen 20 Mark. Die [ersten] zehn Mark gab Heinrich Nagel, Heinrichs Sohn, Anno 1562. Die anderen 10 Mark gab Christinchen, Klaus Schuhmachers Tochter, Anno 1566. Das macht als Rente auf Michaelis an die Armen[kasse] 20 Schilling. Dafür bürgen Thomas Ilbern und Ilbern Breide mit eigener Unterschrift. Weiterhin Johann Francke 20 Mark den Armen. Die [ersten] zehn Mark gab Peter Schuhmacher, die anderen zehn Mark sind vom Armengeld entnommen. Über diese 40 Mark lautet ein versiegelter Brief auf den Michaelistag.‘ 199
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sonders günstigen Termin fällig sein sollten. In Brokdorf gab es regelmäßig etwa ein halbes Dutzend Schuldner, von denen entsprechende Zahlungen verbucht werden konnten. Da hier ausdrücklich von Rentengeschäften aus dem Kapital des Armenkastens – also nicht der allgemeinen Kirchenrechnung – die Rede ist, können wir auch auf eine getrennte Kassenführung schließen. Die ausdrückliche Erwähnung einer separaten Armenkiste auf dem Lande ist eine Seltenheit. Wurde der Armenkasse eines Kirchspiels also eine größere Geldspende gemacht, ist der Betrag in den seltensten Fällen unmittelbar an die Armen ausgegeben worden; vielmehr wird man bemüht gewesen sein, ihn zur langfristigen Stabilisierung des Instituts möglichst bald in solche Rentengeschäfte umzusetzen. Der Geldbetrag mußte dabei nicht einmal die Armenrechnung durchlaufen: Ein solches Beispiel findet sich im besonders umfangreichen Rentebuch der nahegelegenen Gemeinde Neuenkirchen. „Im yare dusent soshundert druttein heft selige grete Karsten, Marcus Karstens husfruwe in erer Kranckheit den armen des Carspels Nienkercken gelavet tein mk lub, worvan yarlikes tein ß scholen erlegt und den armen uthgedelet werden. Den hoveststol schal Marcus Karstens macht hebben by sick tho beholden edder enen anderen tho donde sines gefallens allene dar de yarlike rente uthkame.“202 Der Witwer, der den Passus als Kirchgeschworener selbst unterschrieben hat, wurde also unmittelbar zum Schuldner dieser zehn Mark, ohne daß der Hauptbetrag einmal in die Armenkasse gekommen war. Das Rentenverfahren dürfte typisch sein für reiche Landstriche wie die holsteinischen Elbmarschen. Hier war nämlich die von Hans-Jörg Gilomen schlüssig formulierte Voraussetzung gegeben, daß „die Bodenerträge über die Bewirtschaftungs‑ und Subsistenzkosten hinaus anstiegen und ein Mehrwert erwirtschaftet werden konnte, der nicht über die verschiedenen Abgaben appropriiert wurde. Dieses Mehrprodukt konnten die Bauern durch R[ente]nverkäufe kapitalisieren. Bei günstigen Leihebedingungen mit fixierten, infolge der Inflation sogar sinkenden Abgaben konnten die Bauern so von den Produktivitätsfortschritten profitieren.“203 Ich ergänze, daß sie durch solche Geschäfte auch zur Stabilisierung ihrer eigenen sozialen Sicherung beitrugen: Wer doch einmal durch einen Unglücksfall zahlungsunfähig wurde, konnte mit gutem Recht auf eine Unterstützung durch die kirchlichen Armeninstitutionen hoffen. In dem Maße, in dem die Bauern von solchen Verkäufen profitieren konnten, haben sich die Ausgaben auch für die kirchlichen Kassen – rentiert. Auf sehr lange Sicht konnten sie mit sicheren und gleichmäßigen Einnahmen rechnen, die wiederum der Kapitalmasse zugeschlagen und hieraus in guten Zeiten erneut 202 Lorenzen-Schmidt 1987; S. 18, pag. 64. – Übertragung: ,Im Jahr 1613 hat die selige Grete Karsten, Markus Karstens Hausfrau, in ihrer Krankheit den Armen des Kirchspiels Neuenkirchen zehn Mark lübisch versprochen, für die jährlich zehn Schilling erlegt und den Armen ausgeteilt werden. Die Kaufsumme (das Hauptgut) kann Markus Karsten bei sich behalten oder einem anderen seiner Wahl überlassen, wenn nur dabei die jährliche Rente herauskommt.‘ 203 Gilomen 1999 a; Sp. 737.
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zum Rentenkauf ausgegeben werden mochten. Der oben erwähnte Verkauf der St.-Jürgens-Güter zu Itzehoe an Heinrich Rantzau 1580 darf daher nicht als obrigkeitlicher Zugriff auf das Kirchengut mißverstanden werden, denn eine Verrentung des Kaufwertes von 15100 Mark in Jahresbeträge von 900 Mark, wovon das Spital 600 Mark zur Verfügung haben sollte, war durch König Friedrich II. angeordnet und eröffnete den Spitalvorstehern die Aussicht auf regelmäßige Einkünfte, die jetzt unabhängig von agrarwirtschaftlichen Risiken auf sehr lange Sicht eingeplant werden konnten: Abgesehen von der Frage, wie hoch die Erträge vielleicht gewesen sein möchten, wenn die Liegenschaften vom Spital selbst bewirtschaftet worden wären204, ist festzuhalten, daß die Ewigrente auch dann noch weitergezahlt werden mußte, wenn der Kaufpreis nach knapp 17 Jahren, einer relativ kurzen Zeit also, erreicht war. Einer editorischen Notiz im Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum ist zu entnehmen, daß der Vertrag zur Mitte des 18. Jahrhunderts als „gültig“ betrachtet wurde und seit 1580 „die Einkünfte des Hospitals sich vermehret haben“. Das Projekt hat also funktioniert.205 Wie sich solche Rentenkäufe auf die Bilanzen auswirken konnten, zeigt das Beispiel des Gast‑ und Elendenhauses zu Heide in Dithmarschen. Die Renten wurden dort nach einem einfachen Schlüssel errechnet, der zunächst dem Armenbok thor Heide zu entnehmen ist: „Vormiddelst dissem Boke schall einem Ideren, so Houettstoel by sick hefft, vperlegt sin, de Renthe vonn Ider xv Mk. 1 Mk. jarlich tho rechter bestemmeder tidt denn verordneten Vorstenderen mit barem Gelde tho bethalende.“206 Für jeweils 15 Mark des ausgezahlten Hauptgeldes war also jährlich eine Mark zu entrichten, was einem Zinsfuß von 6,6 % entspricht. Im 1552 begonnenen Armenkapitalienverzeichnis des Heider Elendenhauses wird diese Regel dann vorausgesetzt, indem bei jedem Eintrag nur noch die Hauptsumme genannt ist: „Jtem Jürgen moller x mrk“207. Zu Beginn der Eintragungen verfügte das Haus über ein Kapital von „gut 480 Mk.“208 Das ließ eine jährliche Rente von 32 Mark erwarten, vorausgesetzt, daß das gesamte Kapital in Rentengeschäfte umgesetzt werden konnte. Bei einem Kassensturz stellte man 1622 fest, „dat vp die sulue tidt Capitall, watt an Houettgeldt vthsteit vnd dar Hurgeldt van kamen kan, in allen gewesen Twedusent drehundertt vnd veertigh mark lubsch, 204 In Stettin war den Diakonen ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet worden, nach der Integration der Hospitäler und ihrer Güter ins Fürsorgesystem auf die bisherige Bewirtschaftung der Ländereien zu verzichten, sofern dies zum Wohl des Armenkastens geschähe. Damit kann nur die Verpachtung der Liegenschaften gegen Zins oder ihr Verkauf gegen Rentenzahlungen gemeint sein. Vgl. Bahlow 1920; S. 123. 205 Vgl. insgesamt Friedrich II . von Schleswig-Holstein 1580 (1753). – Allerdings wird ebd. angemerkt, die Zahl der Armen sei ebenfalls gestiegen, was auf Unregelmäßigkeiten bei der Verteilung der Gelder zurückgeführt wird. 206 Rolfs 1903; S. 481. – Übertragung: ,Durch dieses Buch soll jedem, der Hauptgeld besitzt, auferlegt sein, eine Mark Rente von jeweils 15 Mark jährlich zu genau bestimmter Zeit den verordneten Vorstehern in bar zu bezahlen.‘ 207 Ebd.; S. 482. 208 Ebd.; S. 479.
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bringett jarlich die Rente vn Hure vngefehr 146 Mk.“209 Eigentlich wären bei einem Kapital von 2340 Mark Renteneinkünfte von 156 Mark zu erwarten, doch vermutlich rechnete man mit einem Grundstock von etwa 150 Mark, der nicht verrentet werden, sondern in der Kasse bleiben sollte. Daß das Kapital jedoch innerhalb von 70 Jahren auf mehr als das 4½fache angewachsen war, zeigt deutlich die Leistungsfähigkeit dieser Finanzierungsform, die umgekehrt auch für die potentiellen Schuldner attraktiv gewesen sein muß – sonst hätten die Vorsteher sicher nicht so selbstverständlich mit einer vollen Auslastung gerechnet. Der Gewinn, den die Heider Elendenherberge machte, fällt aber geradezu bescheiden aus im Vergleich zur enormen Kapitalsteigerung, die die Geschworene Bruderschaft der Hausarmen zu Kiel verbuchen konnte. In der Gründungsurkunde war ausdrücklich die Verrentung aller Gelder vorgesehen: „Daß gelt dieses Schatzes, soll bey glaubwürdige Leute auff Rente geleget werden, mit Siegel vnd Briefen, vnd da es noth, Bürgen, auffß Beste verwahret, welche Siegel vnd Briefe in der Laden hiezu verordnet (. welche bey einem von den Vorstehern, vnd der Slüßel bey dem andern soll behalten sein .) sollen verschloßen vnd trulich verwahret werden.“210 Der Erfolg dieser Anlagepolitik ist bestens dokumentiert211: Durch Zustiftungen und Wiederanlage von Rentenerträgen stieg das Stiftungskapital von anfänglich 319 Mark im Gründungsjahr 1580 auf 7609 Mark im Jahr 1637 – also fast auf das 24 fache. Gewiß, in Kiel flossen bereits ganz andere Spendenbeträge in die Kasse. Doch auch hier ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage zu bedenken: Um das erklärte Ziel zu erfüllen, das gesamte Stiftungskapital in Renten umzusetzen, muß es ohne Zweifel auch genug „glaubwürdige Leute“ gegeben haben, für die das Geschäft attraktiv war, und die die Aussicht hatten, mit dem ausgezahlten Geld trotz der langfristigen Rentenzahlungen einen Profit zu erwirtschaften, der diese Zahlungen wieder relativieren konnte. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen erhaltenen Armenrechnungen führt das Kieler Matrikelbuch in erster Linie die Spender und ihre Beiträge auf, nicht aber die Schuldner mit den empfangenen Beträgen und der Höhe ihrer Renten. Aus den Kieler Spitalrechnungen ist aber ersichtlich, daß es sich bei den Interessenten solcher Geschäfte teils um Bauern aus dem Umland gehandelt haben muß, teils auch um Kieler Handwerker, die jährlich Renten von wenigen Schillingen bis zu zehn Mark zahlten. Dabei ergaben 50 Mark ausgezahltes Hauptgeld in der Regel 3 Mark Rente, so daß der Fuß mit 6 % hier niedriger lag als in Heide.212 209 Ebd. – Übertragung: ,… daß zur selben Zeit das Kapital, was als Hauptgeld aussteht, und von dem Heuer hereinkommen kann, insgesamt 2340 Mark lübisch gewesen ist, das bringt jährlich an Rente und Heuer ungefährt 146 Mark.‘ 210 Schleswig SHLA , Abteilung 400.5, Nr. 408; hier S. [3]. 211 Ebd. S. [17 f.] ist aus älteren Rechnungen die Kapitalentwicklung kompiliert worden; vgl. unten S. 315. 212 Vgl. hier insgesamt Kiel StA, Nr. 18653 (Annenkloster 1563); Nr. 19219, Heft 1–2 (Jürgenskloster 1585–1587).
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Das entsprach der von Luther noch tolerierten Höchstgrenze, wenngleich er den ,Zinskauf ‘ lieber ganz abgetan hätte.213 Geschäfte mit solchen regelmäßigen Abgaben waren nur für diejenigen attraktiv, denen ein einmalig ausgezahltes Hauptgeld eine langfristige Perspektive auf weitaus höhere Gewinne eröffnen konnte, zum Beispiel durch den Bau einer Scheune, den Kauf von Vieh und Saatgut oder durch andere Investitionen in den eigenen Betrieb. Das paßt zur wirtschaftlichen Situation der Bauern, die vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis etwa 1625 durch eine Agrarkonjunktur bei stetiger Preiserhöhung gekennzeichnet war.214 Während also auf dem Lande die Wirtschaft florierte, konnte die Preis‑ und Lohnentwicklung in den Städten nicht mithalten, und die Kaufkraft sank. Eine zunehmende Verarmung in den Städten war die Folge, wobei allerdings in Kiel auch Adel und wohlhabendes Bürgertum gewichtige und konstante Faktoren blieben. Doch wird durch die Preisschere als Folge der Agrarkonjunktur erklärlich, warum einer steigenden Anzahl armer Leute in Kiel ein ähnlich wachsendes Potential an Rentenverkäufern vom Lande gegenüberstand. Zuweilen kam es sogar im wörtlichen Sinne zu einem Einszu-eins-Verhältnis, indem eine regelmäßige Rente, die sich aus einem neu ausgezahlten Hauptgeld ergeben hatte, gleich einer bedürftigen Person zugewiesen wurde, die nun davon ihren Unterhalt bestreiten konnte: „In Klauß Bockes huse L mk houetstoll Rente iij mk. Disse L mk hefft ein Radth vmme Gades vnd vmb framer Lüde vor bidde willenn Margarete Mesters gegeuenn“, heißt es 1562 in der Armenrechnung von St. Jürgen.215 Jener Klaus Bocke hatte also 50 Mark erhalten, zur Sicherheit sein Haus eingesetzt und sich verpflichtet, jährlich 3 Mark Rente zu zahlen. Auf Fürbitte frommer Bürger erhielt Margarete Mesters diese 50 Mark, und das bedeutet nach dem bisher Gesagten selbstverständlich: Sie war Nutznießerin der hieraus gewonnenen Rente von 3 Mark. Ökonomisch gesehen, unterschieden sich die Rentengeschäfte der Gemeinen Kästen in nichts vom vorreformatorischen Stiftungswesen. Sollte eine größere Geldsumme ewigen Ertrag bringen, der regelmäßig den Armen zugute kommen könnte, so war die gewinnbringende Beteiligung der Kästen am Kapitalmarkt unumgänglich. Zahlreiche nachreformatorische Testamente und Stiftungsurkunden sahen dieses Verfahren von vornherein vor, ja machten es ausdrücklich zur Bedingung. In Hildesheim etwa beurkundete der Rat 1574, daß die Witwe Margaretha Becker erschienen sei und den Älterleuten des Michaeliskastens 80 Gulden in bar ausgehändigt habe, die jene dann „ock alsouortt den armen luden thom besten vff Jarlige rentte an gewisse ortten beleggen“ wollten. Die Rente sollte gleichmäßig den Bewohnern des Kleinen Heilig-Geist-Spitals in der Kramerstraße ausgeteilt werden. Zwar konnte die Hauptsumme auch wieder ausgelöst, mußte in diesem 213
Vgl. Luther: Kaufshandlung 1524 (1899); S. 58. Vgl. Abel 31978; S. 127. 215 Dies und ähnliche Beispiele in Kiel StA, Nr. 19219; Heft 2. Für die Gemeinde Flintbek ferner Schleswig SHLA, Abteilung 19, Nummer 748. 214
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Fall aber wieder an anderem Orte angelegt werden, „Darmit duth milde werck vnuorhindertt ane affbroke der armen ewich geholdenn werden müge, Vnd hefft de gemeltte widtwe dußes alßo den mergedachten olderluden vnd ohren nachkomen zum hochsten befolen“216. Zuweilen konnten Rentengeschäfte auch zwischen den Armeninstituten und dem Rat oder der Münzstätte einer Stadt ausgehandelt werden. Solche Fälle sind in Braunschweig überliefert. Dort kauften 1586 die Nachlaßverwalter der Witwe Barbara Vechteldt zum Preis von 800 Gulden vom Rat eine jährlich zu Michaelis fällige Ewigrente von 32 Gulden, wovon stets Stoff gekauft werden sollte, um daraus Kleider für die Armen zu machen. Das entsprach ihrem testamentarischen Wunsch.217 Hier kam die Rente also unmittelbar der Fürsorge zugute, ohne daß der Kasten belastet werden mußte. Auch für die Ratskasse war das Geschäft attraktiv, denn der Zinsfuß war hier mit 4 % ausgesprochen niedrig. Manchmal wurden aber auch große Summen aus dem Gemeinen Kasten für langfristige Einkünfte investiert, wenn sich die Haushaltslage günstig zeigte. So gaben die Diakone des Hägener Katharinenkastens im Jahr 1556 ihren angesparten Vorrat nahezu vollständig für eine Ewigrente bei der Braunschweiger Ratsmünze aus. Das war riskant: Erst nach zehn Jahren hatte sich wieder eine Reserve gebildet, die auch unvorhergesehenen Entwicklungen hätte standhalten können.218 Trotz erheblicher moralischer Bedenken, die Luther gegen den ,Zinskauf ‘ einzuwenden hatte, bedeutete also die Reformation keine Bremse für diese Form des Geldhandels – ganz im Gegenteil: Weil andere Finanzierungswege jetzt aus theologischen Gründen gesperrt waren, gewann der kirchliche Rentenhandel überhaupt erst mit der Reformation an Schwung. Der Hamburger Rentenmarkt beispielsweise expandierte deutlich ab 1529, dem Jahr der Kirchenordnung.219 Ohne solche Geschäfte wären die kirchlichen Kassen nicht langfristig zu stabilisieren gewesen. Daher kann ihr Stellenwert speziell für die Armen‑ und Krankenfürsorge in den evangelischen Städten, Territorien und Reichen kaum hoch genug veranschlagt werden.
216 Hildesheim StA; Bestand 7, Nr. 162. – Übertragungen: ,… auch sofort zum Besten der armen Leute auf jährliche Rente an sicheren Orten anlegen …‘ – ,… damit dieses milde Werk ungehindert ewig erhalten werden möge, ohne daß den Armen Abbruch geschieht, und die genannte Witwe hat dies genauso den mehrfach erwähnten Älterleuten und ihren Nachkommen zum Höchsten anbefohlen‘. 217 Vgl. Braunschweig; StA Abt. A III 8, Nr. 5. – Ähnlich ebd., Nr. 1 (von 1530), Nr. 51 (von 1626) und Nr. 7 (von 1608), wo zusätzlich die Mitsprache der Erben bei der Verteilung festgelegt ist, und die übrigen Blätter derselben Abteilung, sofern die Armenkästen berücksichtigt sind, zudem Abt. B IV 11, Nr. 11 u. 46. 218 Vgl. ebd.; Abteilung F I 4, Nr. 469, fol. 107 r°; dazu unten, S. 305 f. 219 Vgl. Lorenzen-Schmidt 1979–1980; S. 99 u. 109 f.
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3. Verantwortung der Prediger für die Einzahlung Als 1521 im pommerschen Pyritz einmal die Opferbecken leer blieben, mußte der evangelische Prediger, der vormalige Franziskaner Johannes Knipstro († 1556) die Gemeinde erst über das Mißverständnis aufklären, die Freiheit eines Christenmenschen bedeute auch die Freiheit von allen Pflichten der Nächstenliebe.220 Noch über 30 Jahre später, als die Reformation in Pommern schon gefestigt war, führte ein Visitator den Rückgang von milden Testamenten auf das Versagen der Prediger zurück, „dan sie predigen, man sol keine gute werke tun“221. Zugleich zahlte man jedoch in Stolp dem dortigen Superintendenten Jacob Hogensee († 1573) eine beträchtliche Prämie aus dem Armenkasten, um seine engagierte Predigt während der Teuerungszeit zu würdigen.222 Die drei Fälle aus Pommern deuten an, wie maßgeblich die Rolle der Prediger für die Bilanzen der Armenkassen war. „Es wirtt fast alles liegen an dem prediger vnnd vorstehernn“, so hatte Luther bereits 1520 die Wittenberger Beutelordnung kommentiert.223 Gerade in der Anfangsphase der Reformation, als die Grundsätze evangelischer Schriftauslegung erst entwickelt, erlernt und popularisiert werden mußten, war das autoritäre Wort von der Kanzel das wichtigste Bildungsmittel für breite Bevölkerungskreise, insbesondere für die große Anzahl von Illiteraten.224 Johannes Bugenhagen legte deshalb in seinen Kirchenordnungen größten Wert darauf, die Prediger an ihre motivatorischen Aufgaben zu erinnern. Die Aufmerksamkeit für das Wohl der Armen und Kranken war für ihn selbstverständlich Teil ihrer Dienstbeschreibung. So schrieb er in der Pommerschen Kirchenordnung, jeder Pfarrer brauche einen oder mehrere Prediger zur Unterstützung, die ihm helfen, „dat worth Gades vlitich prediken / de Sakramente vorrheken / dat volck recht vnterwisen / mit leren / straffen / trsten vnde stercken / die krancken vlitich besken / mit dem worde Gades starcken / vnde sonderlick darup seen / dat arme 220
Heyden 1960; S. 73. Zum Vorgang von 1554 vgl. ebd. 222 Im Stolper Rechnungsbuch von 1556: „xviij mk / gegeuen Jacobo dem prediger / vp sin beclagent der düringe haluen / vnd sonst van wegen sines vlitigen predigens“. Greifswald PLA; Rep. 38 b Stolp, Nr. 846, fasc. [2], fol. [11]. – Übertragung: ,18 Mark Jacob dem Prediger gegeben aufgrund seiner Klage wegen der Teuerung und auch sonst wegen seines fleißigen Predigens.‘ Ich meine nicht, daß der Superintendent beim Armenkasten um ein Zubrot ersucht hat und daraufhin Almosen erhielt; vielmehr wird damit öffentliche Klage gegen die Teuerung gemeint sein. Dafür spricht, daß Hogensee noch öfter Geschenke erhielt, wenn man ihm für gute Predigt und Seelsorge danken wollte. Vgl. Walther Bartholdy: „O Stolpa, du bist ehrenreich …“. Kulturgeschichtliche Beiträge zur Kirchen‑ und Stadtgeschichte von Stolp. Zum 600 jährigen Jubelfeste der Stadt und der Marienkirche. Stolp 1910; S. 106 f. 223 Wittenberger Beutelordnung 1520 (1983); S. 65. 224 Vgl. Robert W. Scribner: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen? in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980 (hg. v. Hans-Joachim Köhler). Stuttgart 1981 (SMAFN 13), S. 65–76. – Bernd Moeller: Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt?, in: Archiv für Reformationsgeschichte 75 (1984), S. 176–193. 221
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nottrofftige lde vorsorget werdenn.“225 Das schloß neben eigenen Diensten die Motivation der Gemeinde ein. An späterer Stelle heißt es daher: „Vnde de Prediker schlen dat volck vrmanen / dat eyn yeder nha vrmge vnde guden wyllen vakene ynn de Kaste steke, de rechten armen tho erholden / als denne Christen de eere neringe hebben / vth Christliker lue schldich synt.“226 Mit Hinweis auf den Titusbrief ermunterte Bugenhagen die Prediger ausdrücklich, die Leute zu vermahnen und freundlich zu strafen, wie es Paulus getan habe.227 Hierbei mag an die Aufforderung gedacht sein, daß „alle, die zum Glauben an Gott gekommen sind, darauf bedacht sind, sich mit Guten Werken hervorzutun“ (Tit 3,8). In Skandinavien wurde im Namen des Königs und Herzogs, ebenfalls unter Bezug auf Paulus (Gal 2,10), sogar der Bischof in die Pflicht genommen: „Hyr beneuen wy ock vormanen / den Bisschop / dat he wille yngedenck syn / des / wat de Aposteln / Paulum vnde Barnabam / gebeden hebben / alse Paulus suluest sprickt / tho den Galatern ym andern Capitel / Allene hebben se van uns gefordert / dat wy der Armen mchten yngedenck syn / darynne ick ock vlitlich gewesen.“228 Auf das apostolische Vorbild dieser Bibelstelle hatte Bugenhagen bereits in der Braunschweiger Ordnung hingewiesen. Dort war betont, daß den Predigern dieser dringliche Gottesdienst in ihrer Verkündigung besonders anbefohlen sei, falls die Spendenbereitschaft einmal merklich sinken würde. Sie sollten die Leute sogar anspornen, nicht schlechter dazustehen als andere Gemeinden und in dieser Sache nicht am faulsten zu sein.229 Bugenhagens theologisches Programm zur Fürsorgemotivation ist im ersten Teil dieser Studie eingehend erörtert worden. Hierauf sollte in den Predigten auch zurückgegriffen werden.230 Für die kirchenorganisatorische Seite ist dagegen von besonderer Bedeutung, daß die Prediger selbst einen Teil des neuen Systems repräsentierten, über das sie sprechen sollten: Großes Gewicht kam nämlich dem Hinweis zu, daß sie künftig zu reichlichen Spenden aufrufen konnten, ohne sich dadurch in den Verdacht der Habgier zu bringen, „de wile se ren bestemmeden 225 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 83. – Übertragung: ,das Wort Gottes fleißig predigen, die Sakramente darreichen, das Volk recht unterweisen durch Lehren, Strafen, Trösten und Stärken, die Kranken fleißig besuchen, mit dem Wort Gottes stärken und besonders darauf achten, daß arme bedürftige Leute versorgt werden.‘ 226 Ebd.; S. 113. – Übertragung: ,Und die Prediger sollen das Volk ermahnen, daß jeder einzelne nach seinen Möglichkeiten und seinem guten Willen eifrig in den Kasten stecke, um die rechten Armen zu erhalten, wie nämlich Christen, die ihr Auskommen haben, aus christlicher Liebe schuldig sind.‘ 227 Vgl. ebd.; S. 138. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 156. 228 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 180. – Übertragung: ,Daneben vermahnen wir auch den Bischof, er wolle dessen eingedenk sein, worum die Apostel [den] Paulus und [den] Barnabas gebeten haben, wie Paulus selbst zu den Galatern spricht: ,Nur‘, haben sie von uns gefordert, ,daß wir an die Armen dächten, was ich mich auch eifrig bemüht habe zu tun‘ (Gal 2,10).‘ 229 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 144. 230 Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 114–116, wo den Predigern einzelne Programmpunkte zur Fürsorgemotivation eingeschärft werden.
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sold hebben / vnde krigen nichts vth der armen Casten / id were denne dat en Got sunderge nt to schickede / alse to vor van en gesecht is. So darff me nicht van vnsen prester seggen dat se predigen in ren bdel / alse sus lange hehr geschehn is.“231 Voraussetzung für glaubwürdige Spendenaufrufe war die Besoldung der Prediger aus einer unabhängigen Kasse. Mit der konzeptionellen Abtrennung des Schatzkastens hatte Bugenhagen diese Möglichkeit geschaffen. Dahinter steht auch der Vorwurf, in der bisherigen Kirche sei zu oft in finanziellem Eigeninteresse gepredigt worden – eine so schwerwiegende Befürchtung, daß ihre Zurückweisung in der Lübecker Ordnung sogar zum Maßstab erklärt wird: Man möchte bei der kirchlichen Neugestaltung alles so oder so machen, aber „nycht yn der papen budel na Judas arth“232. Dementsprechend heißt es an anderer Stelle: „Gelt prediker / de nycht dat Euangelium vnd heylsame lere prediken / snder slcke lere / de en tho drecht / de wille wy nycht mehr hebben / wente dath synt de gesellen de vns hebben de vegeures missen gemaket vnd aflat vorkofft etc.“233 Gegen ,Bauchpredigten‘234 und für die von Christus gebotene Predigt zugunsten der Armen – das war übereinstimmend mit der Lübecker auch die Stoßrichtung der Hamburger Ordnung. Die Ablehnung der alten Jenseitsfrömmigkeit bezog die reformatorischen Prediger also direkt in Bugenhagens Finanzierungsmodell mit ein, indem ihre finanzielle Unabhängigkeit der offenkundige Garant für die alleinige Verpflichtung am Evangelium sein sollte. Die für Bugenhagens Fürsorgemotivation so zentrale Alternative von falschem und wahrem Gottesdienst hatte mithin auch einen finanzpolitischen Aspekt. Dies wird noch einmal deutlich, wenn die Prediger und Diakone aufgefordert werden, vor allem bei denjenigen, die zuvor keine Kosten für Messen, Vigilien, Wachslichte und den Unterhalt der Mönche gescheut haben, jetzt auf Spenden zugunsten der Armen zu dringen.235 In den Hansestädten waren hiermit ja besonders die reichen Patrizier angesprochen, die mit ihren finanziellen Möglichkeiten bislang einen gewichtigen Faktor der spätmittelalterlichen Religiosität 231 Ders.: Braunschweiger Kirchenordnung 1528 (1912); S. 144. – Übertragung: ,… weil sie ihren festgelegten Sold haben und aus dem Armenkasten nichts kriegen, es sei denn, Gott schickte ihnen besondere Not, wie zuvor von ihnen gesagt ist. So braucht man nicht von unseren Predigern zu sagen, daß sie in die eigene Tasche predigen, wie sonst so lange geschehen war.‘ – Vgl. auch mit deutlicher Anspielung auf Lk 3,14 ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 214; und ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 10 u. 156. – Ferner DänischNorwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 52. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 182. 232 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 18. – Übertragung: ,… nicht in den Beutel der Pfaffen nach Judas’ Art‘. 233 Ebd.; S. 10. – Übertragung: ,Geldprediger, die nicht das Evangelium und heilsame Lehre predigen, sondern solche Lehre, die ihnen zuträglich ist, die wollen wir nicht mehr haben, denn das sind die Kollegen, die uns Fegfeuermessen gemacht haben und Ablaß verkauft usw.‘ 234 Vgl. ebd.; S. 156. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 214. 235 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 156. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 216–219. – Vgl. die ähnliche Argumentation von Martin Bucer an Capito (August 1524), in: ders.: Opera III,1 (1979); S. 267.
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dargestellt und damit auch die Finanz‑ und Personalpolitik der Kirche wesentlich beeinflußt hatten. Gerade ihnen sollte ins Gewissen geredet werden. Auch in der Pommerschen Kirchenordnung waren die Prediger angehalten, „dat men de ryeken vrmahne / dat se den bdell nicht van sick wysen mit eym scherue edder penninge / sunder dat se milde vnde ryck synn ynn guden wercken / wo Paulus schrifft“ (1 Tim 6,17 f.).236 Wie die pommerschen Prediger solche Anregungen möglicherweise verarbeitet haben, will ich an einer Quelle zeigen, die zwar viel später gedruckt wurde, aber meines Erachtens doch Rückschlüsse auf die Fürsorgemotivation im frühneuzeitlichen Pommern zuläßt. Der Text findet sich in Ulrich Jahns Volkssagen aus Pommern und Rügen237, die zuerst 1886 erschienen. Ich gebe ihn hier in ganzer Länge wieder: „Bei dem reichen Kaufmann Baumann war große Hochzeit. Unser Herr Christ sah das vom Himmel her und dachte bei sich: ,Du willst doch einmal sehen, wie diese reichen Leute dich, ihren Heiland und Erlöser, aufnehmen werden.‘ Er nahm deshalb die Gestalt eines armen Mannes an, stieg zur Erde herab und trat durch die Thüre in das Hochzeitshaus hinein. Da kam er aber schön an. Die Wirtsleute, die Gäste, das Gesinde, alles stürzte sich über ihn her und schalt ihn einen Tagedieb, schlug mit Knütteln auf ihn ein und warf ihn zum Hause hinaus. Auch die Hunde hetzte man auf ihn los; doch diese erkannten ihren Schöpfer selbst unter der armseligen Hülle und rührten ihn mit ihren Zähnen nicht an. Zornig wollte der Heiland schon das ganze Haus in Feuer aufgehen lassen, aber er besann sich und sagte: ,Laß sie nur so weiter leben, sie werden in der andern Welt ihrer Strafe nicht entgehen.‘ Sodann ging er zum Dorfe hinaus und kehrte in einer niedrigen Hütte ein, wo eine arme, alte Frau mit ihren Kindern lebte. Diese nahm den Herrn sofort freundlich auf, hieß ihn sich setzen, gab ihm das beste Teil von dem kärglichen Abendbrot und behielt ihn außerdem noch zu Nacht in ihrer Stube. Als der Herr Christ am andern Morgen von ihr Abschied nahm, gab er sich der gutherzigen Frau zu erkennen und sprach: ,Ein Geschenk will ich dir jetzt nicht geben. Es ist besser für dich, wenn du weiter so arm bleibst, wie bisher; der große Lohn wird dir dann nach dem Tode im ewigen Leben sicherlich nicht fehlen.‘ Und nachdem er das gesagt hatte, verschwand er.“
236 Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 114. – Übertragung: ,daß man die Reichen vermahne, daß sie den Beutel nicht von sich weisen mit einer Scherbe oder Pfennig, sondern daß sie mild und reich an Guten Werken seien, wie Paulus schreibt‘ (1 Tim 6,17). – Mit derselben Stelle aus dem ersten Timotheusbrief war übrigens 1531 in der Ulmer Ordnung vorgeschlagen worden, auf üppige Kleidung zu verzichten und den großen Überfluß den Gliedern Christi, den armen, bedürftigen Christen zukommen zu lassen. Vgl. Bucer u. a.: Ulmer Ordnung 1531 (1975); S. 270 f. 237 Ulrich Jahn: Volkssagen aus Pommern und Rügen [zuerst 1886]. Neu ediert und mit Erläuterungen versehen von Siegfried Neumann u. Karl-Ewald Tietz. Bremen u. Rostock 1999; S. 348.
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Diese Geschichte, die Jahn aus mündlicher Erzählung aufgenommen haben will, entstammt eindeutig einem gelehrten Kontext. In ihr werden Reiche, die Christus in Gestalt des Armen verwerfen, energisch gewarnt, die Armen dagegen getröstet, in ihrem Stand zu bleiben, und zugleich ermuntert, bei aller Armut nicht selbst die Nächstenliebe zu vergessen. Zu diesem Zweck sind verschiedene biblische Motive miteinander verschmolzen, die sonst überwiegend im reformatorischen Diskurs über Armut und Armenfürsorge eingesetzt wurden: Daß Christus als armer Mann erscheint, ist zunächst kein Verkleidungs‑ oder Verwandlungstrick wie in anderen Volkserzählungen, sondern beruht auf der Grundannahme, daß im armen Nächsten das wahre Bild Christi sichtbar sei, gemäß dem Wort: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Auf der altkirchlichen Imago-Dei-Lehre beruhte ja bei Bugenhagen wie auch bei Bucer die Alternative von falschem und wahrem Gottesdienst, indem anstelle der prunkvollen Altarbilder künftig die wahren Bilder Christi geehrt und unterhalten werden sollten.238 Zweitens erinnert die Hartherzigkeit der reichen Hochzeitsgesellschaft mit den angedrohten Folgen im Jenseits natürlich an die Bestrafung des Prassers (Lk 16,19–23), die im Evangelium zwar nicht mit der Ablehnung des Armen Lazarus verknüpft ist, aber von Bugenhagen immer wieder als Warnung davor eingesetzt wurde, den bedürftigen Nächsten vor der eigenen Tür zu ignorieren.239 Drittens war mit dem Zug, daß die Hunde den Verworfenen erkennen und ihm nichts tun, das Bild jenes Armen Lazarus konnotiert, das nach der Reformation zahlreiche Almosenbretter und Opferstöcke begleitete und ikonographisch fast immer durch die Hunde (Lk 16,21) identifiziert werden konnte.240 Spätestens 1570 hatten sich in Pommern Redewendungen wie etwa ,den Armen Lazarus bedenken‘ auch bei Laien fest eingebürgert, wenn Armenfürsorge gemeint war.241 Viertens findet die von Christus belobigte und belohnte Großzügigkeit der Frau sicher ihr biblisches Vorbild in der Perikope vom Scherflein der armen Witwe (Mk 12,43 f.) – die nach Luthers Übersetzung übrigens ausdrücklich am „Gotteskasten“ (für gazofulakeõon) stattfindet –, und vielleicht auch in der Bewirtung des Elia durch die arme Witwe
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Vgl. oben; S. 187 f. Vgl. oben; S. 77 u. 168. 240 Vgl. oben; S. 65 ff. 241 Das zeigt etwa ein Protest der Greifswalder Stadtobrigkeit gegen den Entzug des Opferpfennigs bei Brautgängen und Leichenbegängnissen von der Armenfürsorge zugunsten der Prediger, wie es durch die pommersche Agende 1569 vorgesehen war: Dies sei eine Anmaßung „Zue Beraubunge Des Armen Lazarj“, schrieben Bürgermeister und Rat am 19. Januar 1570 an den Superintendenten Jacob Runge, ohne ausführen zu müssen, was damit gemeint sei. Vgl. Greifswald PLA; Rep. 38 b Anklam, Nr. 4269, fol. 3 v°. – Vgl. auch Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 156. – Wenn Kai D. Sievers 2005; S. 10 „Zeugnisse für die Akzeptanz des Gleichnisses bei den Gläubigen“ vermißt, so kann mit der offenbar gebräuchlichen Redewendung wenigstens eine Richtung angedeutet werden. 239
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zu Zarpat (1 Kön 17,10–16), auf die die Reformatoren im Kontext der Fürsorgemotivation freilich nicht zurückgegriffen haben. Die biblischen Vorbilder sind gekonnt zu einer neuen Geschichte verwoben worden, die nun als weiteren Aspekt auch Elemente der frühneuzeitlichen Armutsdebatte widerspiegelt: So wird Christus als „Tagedieb“ beschimpft und verjagt, was gut auf die zunehmende Ablehnung arbeitsfähiger und fremder Bettler paßt. Mit der reformatorischen Theologie in den Kirchenordnungen ist daher auch vereinbar, daß die Frau im Leben zunächst weiter arm bleiben soll: Bereits im Hamburger Sendbrief hatte Bugenhagen die Alternative benannt, unfreiwilliges Fasten dankbar als den Willen Gottes zu akzeptieren – oder gegen ihn zu murren und sich so dem habgierigen Reichen gemein zu machen.242 Daher kann die alte Frau auch im Jenseits belohnt, die ignorante Hochzeitsgesellschaft dagegen bestraft werden. Gerade die Konjunktur der Lazarusgeschichte und der Weltgerichtsrede Christi in der reformatorischen Fürsorgemotivation hat ja gezeigt, daß die eschatologischen Folgen guter und böser Werke von den Reformatoren nicht ausgeblendet worden waren. Bugenhagen unterschied daher zwischen versprochenem Lohn und erworbenem Verdienst und warnte vor falschem Sicherheitsdenken. Die Belohnung der Frau geht in unserem Text ausdrücklich auf die Entscheidung Christi zurück, was den Aspekt der Gnade deutlich hervorhebt. Zuletzt sei die doppelte Stoßrichtung der Geschichte hervorgehoben: Sie ist geeignet, Reiche wie Arme gleichermaßen zur aktiven Nächstenliebe anzuregen, was der von Bugenhagen erklärten Vielseitigkeit des Gemeinen Kastens, die auch in den Predigten exponiert werden sollte, deutlich entspricht. Ich vermute daher, daß der Stoff dieser Geschichte ursprünglich ein Predigtmärlein gewesen ist, das im evangelischen Gottesdienst zur Fürsorgemotivation in einer aus Reichen und Armen bestehenden Gemeinde gedacht war. Vor dem Hintergrund des Gesagten ist immerhin bezeichnend, daß sich der Lazarus-Stoff generell nicht in katholischen Predigtmärlein nachweisen läßt.243 Der argumentativen Nähe zur Theologie der Kirchenordnungen dürfte auch eine chronologische entsprechen. Zwar gibt Ulrich Jahn eine mündliche Quelle an, doch selbst die Sagensammlung der Brüder Grimm beruhte nur zum geringsten Teil auf direkter mündlicher Überlieferung244; auch konnten solche Texte stets über lange Perioden zersprochen und verbreitet werden, so daß die mündliche Quelle nur die letzte Station darstellen mochte. Daß ein reformationszeitlicher Ursprung jedenfalls nicht unwahrscheinlich ist, kann am Fall der noch heute in manche Sammlungen aufgenommenen Sage vom Wettlauf um das Opfergeld belegt werden, in der sich ein Kastenvorsteher durch einen Trick die Kollekte der Greifswalder Gertrudenkapelle aneignet. Dieser Text kann bis zur Pommernchronik (1528– 242
Vgl. oben; S. 140 f. Vgl. Sievers 2005; S. 17. 244 Vgl. Hans-Jörg Uther: Die Deutschen Sagen der Brüder Grimm. Volksdichtung im 19. Jahrhundert, in: Märchenspiegel 7 (1996), Heft 2, S. 8–14; hier 9. 243
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1537) des Thomas Kantzow zurückverfolgt werden.245 Auch Motive des pommerschen Märchens vom Fischer und seiner Frau, in dem bekanntlich gleichfalls der Kontrast von Armut und Reichtum thematisiert wird, haben ihren Ursprung mit hoher Wahrscheinlichkeit in der konfessionellen Polemik des 16. Jahrhunderts.246 Es liegt nach dem Gesagten also nahe, daß die von Jahn kolportierte Geschichte als reformationszeitliches Predigtmärlein ihren ,Sitz im Leben‘ einer Gemeinde hatte und als solches den Erfolg von Bugenhagens homiletischen Anweisungen zur Fürsorgemotivation belegen kann. Mit diesen Anweisungen war nicht nur skizziert, was gepredigt werden sollte, sondern auch, wann. Bestimmte Anlässe hielt Bugenhagen nämlich für besonders geeignet, um die Spendenbereitschaft der Gemeinden zu aktivieren. Dazu gehörten neben den erwähnten lebensgeschichtlichen Zäsuren vor allem einige Heiligentage, die sich gut zu diesem Zweck instrumentalisieren ließen. So konnte der Laurentiustag zu „des hilgen kasten heren edder Diakens gedechtnissen“247 am Sonntag nach dem Fixdatum (10. August) zugunsten der Armenfürsorge begangen werden, wobei der Sonntagsgottesdienst jedoch keinesfalls zu verändern war. Nur nach der Predigt sollte auf den Heiligen aufmerksam gemacht und eine wahre Geschichte – nicht „lgen legenden“! – über ihn erzählt werden. Bezeichnend ist, daß Bugenhagen gleich eine Anregung gibt: „Van sunte Laurentio hefft Sanctus Ambrosius wat gescreuen in libris officiorum / vnde is eyn Diaconus edder Casten here geweset to Rome des hilgen Bissoppes Sixti /vnde v de trwheit synes amptes vnde der bekenntnisse Christi vp der roste gebraden / he drch neyne platte edder Diaken rock / sonder was eyn Diaken / alse gescreuen steyt Act. vi. unde i. Timo. iij.“248 Der Lektürehinweis ist bezeichnend, weil er sich gerade nicht auf die viel populärere, zur Heiligenverehrung maßgebliche Legenda Aurea des Jacobus von Voragine († 1298) bezieht, sondern auf die Officia ministrorum249 des alten Kirchenvaters Ambrosius von Mailand († 397). 245 Vgl. Thomas Kantzow: Chronik von Pommern in hochdeutscher Mundart. Erste Bearbeitung (hg. v. Georg Gabriel). Stettin 1898; hier S. 260 f. – Das große deutsche Sagenbuch (hg. v. Heinz Rölleke). Düsseldorf u. Zürich 1996; hier S. 180 f. – Auf die Textgeschichte wurde ich durch Prof. Dr. Karl-Ewald Tietz (Greifswald) aufmerksam gemacht, dem ich dafür an dieser Stelle sehr danke. 246 Vgl. Tim Lorentzen: Im stinkenden Elend. Zum Pießpott im Märchen vom Fischer und seiner Frau, in: Märchenspiegel 10 (1999), Heft 1, S. 12–14. 247 Ebd.; S. 70. – Übertragung: ,… des heiligen Kastenherren oder Diakons Gedächtnis‘. – Vgl. hierzu auch ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 128. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 147 f. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 64. 248 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 148. – Übertragung: ,Von St. Laurentius hat St. Ambrosius was geschrieben in den libris officiorum, und ist zu Rom ein Diakon oder Kastenherr des heiligen Bischofs Sixtus gewesen und wegen seiner Treue zum Amt und zum Bekenntnis Christi auf dem Rost gebraten. Er trug weder Tonsur noch Diakonenrock, sondern war ein Diakon, wie geschrieben steht Apg 6[,3] und 1 Tim 3[,8–13]‘. – Vgl. auch oben; S. 70 f. 249 Vgl. Sancti Ambrosii Mediolanensis episcopi de officiis ministrorum libri tres, in: MPL 16 (1880); 84 f. und 141 (= I,41 und II,28).
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Die Heiligen erhielten als Exempel für Gottes Gnade, als Vorbilder christlichen Lebenswandels250 und damit auch als Referenten für die aktuelle Umgestaltung des kirchlichen Lebens, nicht mehr jedoch als wundertätige Vermittler zwischen Gott und Mensch ihren Platz im reformatorischen Geschichtsbild. Der Vorrang galt daher den älteren Berichten, den Regeln humanistischer Philologie entsprechend. – Nach der Erzählung sollte der Prediger mit dem normalen Sonntagsgottesdienst fortfahren und ankündigen, wer eine Predigt über den Heiligen hören wolle, solle an einem der nächsten Tage zur Predigtzeit wiederkommen. Dann trete die Geschichte des Heiligen an die Stelle der Wochentagslesung. In einigen Kirchenordnungen war der Laurentiustag zwar beibehalten, die Predigt über Diakone und Kastenherren (zu der das Beispiel des Laurentius herangezogen werden konnte) jedoch ausdrücklich für den Stephanustag (26. Dezember) vorgesehen, „darmit den lden eine gewisse sorgfoldicheit / vor de Armen yngebldet werden.“251 In der Stadt Braunschweig bürgerten sich nach Bugenhagens Anstößen spätestens zum Ende des 16. Jahrhunderts vier Danksagungstermine im Jahreskalender ein252, zu denen solche Generalkollekten üblich wurden: Am Sonntag Reminiscere (nicht, wie vorgeschlagen, am Sonntag nach Valentin253) wurde stets der Schlacht bei Bleckenstedt gedacht, in der am 13. Februar 1493 die verbündeten Hildesheimer und Braunschweiger Truppen gegen das viel stärkere Heer Herzog Heinrichs d. Ä. einen entscheidenden Durchbruch erzielt und hierdurch einen umfangreichen Lebensmittel‑ und Waffentransport von Hildesheim ins belagerte Braunschweig ermöglicht hatten. Damit waren die Versuche des Herzogs gescheitert, die Braunschweiger Stadtfreiheit durch eine Belagerung zu brechen, und es kam zu Friedensverhandlungen, die am 4. Juni 1494 ihren Abschluß fanden.254 Die Danksagung am Sonntag Exaudi galt einem jüngeren Datum, der Schlacht bei Drakenburg an der Weser. Hier hatte am 23. Mai 1547, also einen Monat nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes bei Mühlberg, das Bündnis der evangelischen Städte Hamburg, Bremen, Magdeburg und Braunschweig einen Sieg über den kaiserlichen Befehlshaber Erich von Calenberg errungen, 250 Vgl. Johannes Moritzen: Die Heiligen in der nachreformatorischen Zeit. Flensburg 1971 (SVSHKG, Sonderheft 7); hier S. 16–30. 251 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 74. – Übertragung: ,… damit den Leuten eine gewisse Aufmerksamkeit für die Armen eingeprägt werde‘. – Vgl. zum Laurentiustag auch ebd.; S. 82. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 22. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 858. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 858. 252 Vgl. z. B. Braunschweig StA, Abt. F I 5, Nr. 623, fol. 2 v°; Nr. 624, fol. 3 r°; Nr. 625, fol. 4. 253 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 72. 254 Vgl. Werner Spiess: Geschichte der Stadt Braunschweig im Nachmittelalter vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende der Stadtfreiheit (1491–1671). Bd. 1, Braunschweig 1966; S. 19–25.
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den einzigen Triumph der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg.255 Zum dritten Dankopfer des Jahres wurde stets am Sonntag nach dem St.-Autors-Tag (20. August) gebeten. Schon seit 1200, als die Stadt in den Thronkämpfen zwischen Otto IV. und Philipp II. durch eine Erscheinung des heiligen Autor wundersam vor Philipps Zugriff bewahrt worden sein soll, hatte jedes der Braunschweiger Weichbilde an seinem Tag jährlich ein Wachslicht ins Ägidienkloster gebracht. Ab 1298 kam ein Hochamt, nach überstandener Pest 1350 eine Prozession zu Ehren des Stadtheiligen mit immer größerer Prachtentfaltung hinzu.256 Bugenhagen sah vor, das Dankopfer beizubehalten, das Gedenken nur stets auf den darauffolgenden Sonntag zu verlegen und im übrigen die Kosten, die der Rat bislang für den unchristlichen Prunk aufgewandt habe, der allgemeinen Kollekte der Stadtbevölkerung zuzuschlagen. Die Prediger sollten bei dieser Gelegenheit alle Hörer auffordern, Gott für die Errettung und Erhaltung der Stadt zu danken und ihn weiter um Schutz zu bitten.257 Der vierte Danksagungstermin galt schließlich der Kirchenordnung selbst. Sie war am 5. September 1528 angenommen worden; daher wurde im Druck der Sonntag nach Aegidii (1. September) als Gedenktag bestimmt.258 Bis zur Entstehung des überterritorial gefeierten Reformationstages am 31. Oktober als Folge der Jubiläumsfeiern von 1617 konnten solche Gedenktage für lange Zeit die reformatorische Selbstmemorialisierung stimulieren; insgesamt blieben sie im 16. Jahrhundert aber noch Ausnahmeerscheinungen.259 Nur einen der vier Braunschweiger Termine, den Sonntag nach Auctoris, hatte Bugenhagen ausdrücklich für eine Armenkollekte vorgesehen. Mit der viermal jährlich durchgeführten Sammlung ging man also weit über die Vorgaben hinaus. An diesen Tagen konnte der Andreaskasten dann auch wirklich die höchsten Einnahmen verbuchen (stets etwa 3–4 mk), in geringerem Maße an den Hochfesten (an beiden Weihnachtstagen, zu Neujahr, an beiden Oster‑ und beiden Pfingsttagen sowie zu Michaelis, manchmal auch Lätare jeweils etwa 1 mk), während sonst an den Sonntagen regelmäßig zwischen 20 ß und 1 mk, Donnerstags 5–7 ß eingesammelt wurden.260 Der Fall Braunschweig zeigt auch, wie impulsiv die Spendenbereitschaft einer Stadtbevölkerung zu‑ und abnehmen konnte. Aus den im dortigen Stadtarchiv erhaltenen Rechenschaftsberichten261 der Diakone für die fünf Braunschweiger 255
Vgl. ebd.; S. 85. Vgl. Herm[ann] Dürre: Geschichte der Stadt Braunschweig im Mittelalter. Braunschweig 1861; S. 83–85 u. 376–378. 257 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 71. 258 Vgl. ebd.; S. 72. 259 So jetzt Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen‑ und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007 (SuR. NR 37); S. 117. 260 Vgl. etwa die unter Anm. 172 u. 174 genannten Rechnungen des Andreaskastens für 1592–1596. 261 Vgl. dazu insgesamt unten S. 302 ff. 256
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Weichbilde Altstadt, Neustadt, Hagen, Altewiek und Sack habe ich die jährlichen Gesamteinnahmen für die Jahre 1528 bis 1568 errechnen können (Abb. 10). In keinem der fünf Weichbilde stiegen oder sanken die Einnahmen demnach kontinuierlich und blieben erst recht nicht auf konstantem Niveau. Gerade in der reichen Altstadt mochten die Einnahmen von einem Jahr auf das nächste um rund 150 Mark steigen, aber ebenso spontan auch wieder fallen. In den ärmeren Vierteln, wo die Diakone geringere Einkünfte verbuchten, war der Spielraum erheblich kleiner, so daß ausgerechnet die Gemeinen Kästen der Neustadt und der Altenwiek vergleichsweise langsamen und weniger impulsiven Trends folgten. Für die Wirkung stadtgeschichtlicher Ereignisse, die auch durch die Prediger aufgegriffen worden sein mochten, spricht aber eine andere Beobachtung in der Braunschweiger Einnahmestatistik: Auffällig sind gemeinsame Spitzen und Täler in allen fünf Kastenrechnungen. So fällt etwa ein kurzfristiger Impuls um das Jahr 1550 ins Auge, besonders aber der rapide Anstieg aller Einnahmen ab 1565. Auch das kontinuierliche und beinahe parallele Anwachsen der Armengelder in den schwächeren Weichbilden Neustadt, Altewiek und Sack seit Mitte der fünfziger Jahre legt die Vermutung nahe, daß das Spendenverhalten der Braunschweiger Bevölkerung an öffentlich vorherrschende Stimmungen geknüpft war, die die Geberfrömmigkeit in verschiedenen Stadtteilen zu parallelisieren vermochten. Denkbar ist etwa, daß auf besondere Unglücksfälle262 spontan reagiert wurde, wenn in der ganzen Stadt zu verstärkter Hilfe aufgerufen wurde. War die akute Hilfsbereitschaft verklungen, sanken die Einnahmen ebenso schnell wieder ab. So ist es heute, und viel anders wird es im 16. Jahrhundert nicht gewesen sein. Freilich gab es auch Phasen gegenläufiger Spendenentwicklung, etwa als 1539 die Einnahmen der Katharinenkirche ebenso kurzfristig anstiegen, wie sie in der Martinikirche sanken. Insgesamt läßt sich aus der Braunschweiger Einnahmestatistik ein langfristiger Aufwärtstrend ablesen. Addiert man die Daten der einzelnen Weichbilde (Abb. 11), so zeigt sich, daß bereits ab 1533 die Gesamteinnahmen der fünf Kästen auf etwa 400 Mark eingependelt waren und dann seit den fünfziger Jahren insgesamt fast kontinuierlich auf über 1000 Mark jährlich stiegen. Nicht nur Gaben, die im Gottesdienst eingesammelt wurden, auch Stiftungstestamente zugunsten der Armen mußten selbstverständlich beworben werden, damit die öffentliche Fürsorge künftig gewährleistet blieb. In der Pommerschen Kirchenordnung wurden die Prediger auch in dieser Hinsicht an ihre motivatorischen Ausgaben erinnert.263 Was die Wirkung ihrer Predigt betrifft, so sind die nachreformatorischen Testamente vor allem deswegen heranzuziehen, weil sie Aufschluß über reformatorische Lernprozesse im allgemeinen und speziell über die Rezeption der Rechtfertigungslehre erlauben. Ob die Fürsorgemotivation 262 Der Nachweis solcher Einzelereignisse muß Lokalhistorikern vorbehalten bleiben. An dieser Stelle sollen in erster Linie die Tendenzen einer Umsetzung von Bugenhagens Plänen zur Sprache kommen. 263 Vgl. Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 115 f.
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durch evangelische Verkündigung wirklich nachgelassen hat, läßt sich anhand dieser zumeist topisch geprägten Quellensorte zwar nicht statistisch erschließen, doch finden sich im Rahmen festgelegter Wendungen bisweilen doch Indikatoren für einen allmählichen Frömmigkeitswandel. Bekannt wurde der Fall der Hamburger Bürgermeisterwitwe Anna Büring, einer der reichsten Frauen der Stadt, die 1535 ihr über dreißig Jahre zurückliegendes Testament neu aufsetzen ließ. Sie sei nämlich inzwischen „dorch godtlich wort vnd sin heylsam Evangelium vele anders borichtet vnd beleret“ und habe für Seelmessen im Rahmen persönlicher Jenseitsvorsorge nichts mehr übrig.264 Stattdessen befahl sie ihre „armen ßele in de barmherticheit des almechtigen Gades, de my dorch sin bitter lydenth van dem ewigen dode hefft gnedichlich vorloset.“265 Neben Freunden und Verwandten bedachte sie jetzt in erster Linie die Armen‑ und Krankenfürsorge und setzte ein Stipendium aus. Ihr zweites Testament darf als Zeugnis eines tiefgreifenden Bewußtseinswandels gewertet werden. Daß anstelle gezielter Heilssicherung für die eigene Seele jetzt nur die Hoffnung auf Gottes Gnade blieb, ließ wenige Jahre später auch der Domvikar Hinrich Hiddestorp erkennen. Gott, so wünschte er, wolle nicht „gaen mith synem armen knechte in gerichte, men my wille erschienen lathen syne grundtlosze barmhertzigkeit, szo he gedaen hefft dem scheker“ (Lk 23,42 f.).266 Auch in Braunschweig-Wolfenbüttel führte der Sinneswandel zu Revisionen früherer Testamente. Ein Helmstedter Bürger verwandelte 1533 die Rente seiner Seelgerätstiftung zugunsten eines Predigers, damit dieser „der gemeyne dat Lutter Wordth Goddes one mynschlyke todoint vordrage“267. Und in der Reichsstadt Goslar widerrief ein Bürger sein früheres Testament, weil er inzwischen „dorch Godes wordt erkant“ habe, daß die dort angeordnete Seelgerätstiftung „unchristlick“ und „ohne grundt gotlykes wordes und bevehls“ gewesen sei. Stattdessen solle das Kapital dem Frankenberger Armenkasten zugutekommen.268 Doch auch unabhängig davon, daß Einzelne durch die evangelische Lehre veranlaßt wurden, ihre früheren Heilsversicherungen zu revidieren, läßt sich an Gebrauch und Gestalt von Stiftungstestamenten und Legaten der Religiositätswandel am besten ablesen. Für Hamburg läßt sich geradezu von einem nach264 Postel 1980 (2004); S. 165. – Übertragung: ,… durch Gottes Wort und sein heilsames Evangelium ganz anders unterrichtet und belehrt‘. 265 Ebd. – Übertragung: ,… arme Seele der Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes, der mich durch sein bitteres Leiden gnädiglich vom ewigen Tod erlöst hat.‘ 266 Koppmann 1883; S. 207. – Übertragung: ,… mit seinem armen Knecht ins Gericht gehen, sondern mir seine grundlose Barmherzigkeit zeigen, wie er es dem Schächer getan hat‘ (Lk 23,42 f.). 267 Klaus Jürgens: Phasen der Reformation in der Braunschweigischen Landeskirche, in: ders. u. Gerhard Müller: Das Reformationsjahr 1542 im Lande Braunschweig. Wolfenbüttel 1993 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig 2), S. 18–24; hier 21. – Übertragung: ,… damit er der Gemeinde das lautere Wort Gottes ohne menschliche Zutaten vortrage.‘ 268 Kreiker 1997; S. 55.
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reformatorischen „Stiftungsboom“ sprechen, wogegen „Neugründungen in den Jahrzehnten vor der Reformation gegen Null tendierten“269. In Kiel bemerkte der Bürgermeister Asmus Bremer († 1720) bei Archivstudien, daß Memorienstiftungen mit den „alten Formulen von Seelmeßen, Opfern, Mutter Maryen, himlischen Heer etc.“ ab 1528 schlagartig endeten.270 Stattdessen wurden jetzt andere Formeln zur Darlegung des Frömmigkeitshintergrundes üblich: So stiftete Anna Rantzau 1568–1569 zum ewigen Unterhalt zweier Wachslichter auf den Leuchtern, die sie in der Nikolaikirche hatte aufstellen lassen, 200 Mark „tho ehren Gottlichs namens vnd mehren förderung vnser kercken diensts, vth Christlikem Juer vnd Rechtem gehorsam gegen Gott.“271 Gleichwohl blieb der Memorialcharakter hier ansatzweise erhalten. Im Kirchspiel Brokdorf war 1574 eine regelmäßige Spende ausdrücklich „aus freiwillig mildigheit“ motiviert.272 Ähnlich in Neuenkirchen: „uth christliker leue mit friem ungenodigtem willen“273. In Flintbek wurde die Stiftung eines neuen Abendmahlsgeschirrs „auß Christlicher devotion“274 begründet; der Segeberger Rat gab „ume Gads willen“275 Almosen an Auswärtige. In Lunden war eine milde Stiftung mit dem Wunsch verknüpft, „dat ick ock jegen unsen Heren Gade ock nicht so gandtz undankbar moge gefunden werden“. Auch die Mahnung des Apostels Paulus, daß jeder zuerst die Seinen versorgen möge (1 Tim 5,8; Gal 6,10), war hier aufgenommen.276 Die Braunschweigerin Alheidt Hessen sprach in ihrem Testament 1540 ausdrücklich vom „vordenst Jhesu ch[ris]tj mynes Zaligmakers“, als sie ihr Hab und Gut dem Altstädter Kasten überantwortete.277 Alle diese Beispiele, die einigermaßen willkürlich zusammengetragen wurden, sind als Reflexe eines allmählichen Frömmigkeitswandels in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen zu werten. Daß die Guten Werke der Nächstenliebe zwar nicht als Heilsversicherung taugen, dem Erlöstsein jedoch aus Dankbarkeit und Gottesliebe folgen dürfen – dies ist offensichtlich gehört worden und trug nach Ausweis der Quellen maßgeblich zur Motivation der Spender bei. 269
Hatje 2006; S. 209. Chronicon Kiliense tragicum-curiosum 1432–1717. Die Chronik des Asmus Bremer Bürgermeister von Kiel (hg. v. Moritz Stern). Kiel 1916 (Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 18 f.); S. 485, Nr. 257. 271 Kiel StA; Nr. 230, fol. 20 r°. – Übertragung: ,zur Ehre von Gottes Namen und zur weiteren Förderung unseres Gottesdienstes, aus christlichem Eifer und rechtem Gehorsam gegen Gott.‘ 272 Kiel NEKA , Bestand 18.14.00, Nr. 1025; fol. [12]r°. 273 Lorenzen-Schmidt 1987; S. 18, pag. 54. – Übertragung: ,… aus christlicher Liebe mit freiem, ungezwungenem Willen.‘ 274 Schleswig SHLA , Abteilung 19, Nummer 748. 275 Horst Tschentscher: Milde Gaben des Segeberger Rates zwischen 1580 und 1598. Eine Skizze zum Bettler‑ und Vagabundentum, in: Nordelbingen 39 (1970), S. 143–150; hier 144. 276 Janzen 1982; S. 10. – Übertragung: ,… daß ich auch nicht so ganz undankbar gegen unsern Herrngott befunden werden möge.‘ 277 Braunschweig StA, Abt. B IV 11, Nr. 144, fasc. 9. – Übertragung: ,… Verdienst Jesu Christi, meines Seligmachers‘. 270
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4. Der Diakonat Es versteht sich geradezu von selbst, daß die Armeninstitutionen, wie sie Bugenhagen vorschwebten, angesichts ihres Monopolcharakters und ihrer multiplen Finanzierungswege einer besonders fleißigen Verwaltung bedurften, die imstande sein mußte, die hohen Erwartungen von Spendern und Bedürftigen gleichermaßen zu erfüllen, sich vor weltlicher wie geistlicher Obrigkeit kompetent zu verantworten und sich hierfür im Idealfall auf einen im Evangelium begründeten Entscheidungskodex zu stützen. Am Beispiel des Straßburger Almosenschaffners Lukas Hackfurt war ja bereits idealtypisch zu sehen, wie sehr in einem solchen Amt ökonomische, theologische und kommunalpolitische Kompetenzen zugleich gefragt sein konnten. Bugenhagen griff für dieses neuzuschaffende Amt auf das Modell des frühkirchlichen Diakonats zurück: „To sulke schatte edder vnse gemeynen gude / schal me erwelen Diakene dat synt dnere der armen“278, heißt es in der Braunschweiger Ordnung. Diese sollten ihre Geschäfte stellvertretend für die Gemeinde führen, aus deren Mitte sie ernannt waren. Die Anforderungen orientierten sich an neutestamentlichen Vorgaben (Apg 6,3 und 1 Tim 3,8–13): Es sollten Männer von gutem Ruf, voll Geist und Weisheit sein, die das Geheimnis des Glaubens mit reinem Gewissen bewahrten – jedenfalls, soweit es einer beurteilen könne: Jesus habe schließlich einem Judas die Kasse anvertraut. Niemand, wer auch immer es sei, könne das Geld der Gemeinde recht verwalten ohne Gottesfurcht und Liebe zum Evangelium.279 Wichtig war auch, „dat se nicht twetungich syn / wen wo kan me de [sic] sulk gelt vnde dnst der armen bevehlen de grne lgen vnde achterkosen / vor mynen ogenen wit seggen vnde anders wr swart“280? Wer zum Trinken oder zur Veruntreuung neigte, konnte ebenfalls nicht geeignet sein. In einem Stettiner Visitationsabschied war den Diakonen sogar ausdrücklich verboten, Geschenke anzunehmen.281 Doch auch ans Privatleben eines Diakons stellte Bugenhagen hohe Anforderungen, denn die Kontrolle über den eigenen Hausstand und die eigene Familie mochte ein Indikator für generelle Führungsstärke sein. Und selbst dann, wenn die genannten Kriterien alle zuträfen, sollte man doch grundsätzlich keine Männer zu Diakonen wählen, die „bse wiue hebben“282. Frauen, so argumentierte Bugenhagen, neigten ja zu Verleumdung und Geschwätz; daher sei das Amt des Diakons in großer Gefahr, wenn ein klatsch278 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 139. – Übertragung: ,Zu solchem Schatz oder unserem Gemeindegut soll man Diakone erwählen; das sind Diener der Armen‘. 279 Vgl. soweit ebd.; S. 139 f. 280 Ebd.; S. 141. – Übertragung: ,… daß sie nicht doppelzüngig sind; denn wie kann man denen solches Geld und den Dienst der Armen anbefehlen, die gern lügen und übel nachreden, mir ,weiß‘ ins Gesicht sagen und anderswo ,schwarz“? 281 Vgl. Bahlow 1920; S. 123. 282 Ebd.; S. 141. – Übertragung: ,… böse Frauen haben‘.
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süchtiges Weib ihren Mann aus Mißgunst davon abhielte, Leuten zur Hilfe zu kommen, die sie nicht leiden könne. Vielmehr waren Ehefrauen gefragt, die treu und redlich und dem Manne gehorsam wären, Kinder und Gesinde gut regieren könnten und eifrig Almosen geben würden. Allgemein sei darauf zu achten, daß die Frauen von den Armengeldern nichts in die Hände bekämen. Eine redliche Frau sei aller Ehren wert, die anderen glichen Bestien und Skorpionen.283 Ob solche scharfen Urteile jedoch als Ausdruck „einer privaten Misogynie“284 des Reformators zu werten seien, darf bezweifelt werden. Wie sich zeigen wird, hatte Bugenhagen zugleich einen ungewöhnlich guten Blick für die zeitspezifischen Probleme von Frauen und Mädchen, der in seinen Fürsorgebestimmungen deutlich zum Ausdruck kommt. Die Hamburger und die Lübecker Ordnung enthalten ausgesprochen präzise Diakonatsverfassungen. In Hamburg (Abb. 12) hatte man bereits 1527 mit der Gotteskastenordnung für St. Nikolai die Wahl von zwölf Bürgern „vthe dem gemenenn hupenn“285 bestätigt, die künftig für die Versorgung der Armen zuständig sein sollten. Nachdem sich durch den Hauptkistenvertrag vom 29. September 1528 die übrigen Kirchspiele diesem System angeschlossen hatten286, waren somit 48 Herren für die Hamburger Gemeinen Kästen zuständig. In seiner dortigen Kirchenordnung konnte Bugenhagen also darauf aufbauen, daß diese Einrichtung schon „thom dele / godt sy gelauet / mit beuele des E. R. im swange edder im wercke geit“287, und lehnte sich weitgehend an die Vorgaben des gültigen Hauptkistenvertrags an: In jedem der vier Kirchspiele gab es zwölf Kastenherren, davon je neun Jüngste Diakone, von denen je drei pro Monat im Rotationsprinzip für die praktische Armenfürsorge zuständig waren und so die drei Ältesten ihres Kirchspiels, die „Olderlude edder Oldesten“288 unterstützen sollten. Für die ganze Stadt kamen mithin viermal drei, also zwölf solcher Ältesten Diakone zusammen – die Oberalten, wie sie noch heute heißen. Sie stellten den Kontakt zum Rat her, indem sie aus seinen Reihen vier Vertrauensmänner erbitten sollten. Diese vier Ratspersonen, je zur Hälfte für die Gemeinen Kästen, zur Hälfte für den Schatzkasten zuständig, sollten einerseits Hilfe gewähren, wo es von Seiten der Stadtverwaltung nötig war, anderseits im Namen des Rates die Aufsicht über das gesamte Kastenwesen führen, insbesondere die Rechnungsführung begutachten. Ihnen gegenüber verpflichteten sich die Diakone zu gewissenhafter Amtsführung. 283
Vgl. soweit ebd.; S. 141 f. – Ergänzend ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 163. Kreiker 1997; S. 72. 285 Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 68; hier Gotteskastenordnung, fol. 3 r°. – Gotteskastenordnung St. Nikolai 1527 (1720); S. 112. – Übertragung: ,… aus der Allgemeinheit‘. 286 Vgl. Lappenberg 1828; S. 46–48. – Herwarth von Schade: „Zur Eintracht und Wohlfahrt dieser guten Stadt“. 375 Jahre Kollegium der Oberalten in Hamburg. Hamburg 2003; S. 35. 287 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 240. – Übertragung: ,… zum Teil, Gott sei gelobt, mit Befehl des Ehrbaren Rates schon im Schwange oder im Werke steht‘. 288 Ebd.; S. 236. 284
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Auch hatten die vier Ratsleute bei Wahlen zu den einschlägigen Diakonatsposten Stimmrechte wahrzunehmen. So wurde die vakante Stelle eines Oberalten stets aus den Reihen der Jüngsten Diakone des betreffenden Kirchspiels besetzt, mit Stimmen der vier Verbindungsleute und der Ältesten aller übrigen Kirchspiele. Starb dagegen einer der Verbindungsleute oder schied sonst aus, sollten die zwölf Oberalten zwei Nachfolgekandidaten vorschlagen, von denen der Rat seinen Favoriten neu entsenden sollte.289 Gemeindeübergreifend war vorgesehen, daß vier der zwölf Ältesten Diakone, je einer aus jedem Kirchspiel, die vier unterschiedlichen Schlüssel zum zentralen Armenhauptkasten innehaben sollten. Dessen Einnahmen, Kapitalien und Ausgaben waren genau zu verzeichnen, die Verteilung der Gelder an Spitäler und Arme von dort aus gewissenhaft vorzunehmen. In diesem Sinne traten sie dann auch urkundlich als Geschäftsführer des Hauptkastens auf, freilich nie ohne Mitwissen der Ratsleute und der übrigen Oberalten.290 Sollte einer dieser vier sterben oder sonst aus dem Amt scheiden, so war er aus den zwei übrigen Ältesten seines eigenen Kirchspiels zu ersetzen, und zwar durch Stimmen der vier Verbindungsmänner, der jüngsten Diakone aus seinem Heimatkirchspiel und der Ältesten der übrigen drei Kirchspiele.291 Ebenso präzis regelte die Hamburger Ordnung das Wahlverfahren der Schatzkastendiakone, die sich wiederum paritätisch aus den einzelnen Gemeinden zusammensetzen sollten: Hierzu nominierten diejenigen Oberalten jedes einzelnen Kirchspiels, die nicht schon für den Armenhauptkasten zuständig waren, jeweils vier der Jüngsten Diakone. Aus diesen 16 Kandidaten wählten alle Oberalten zusammen mit den vier Verbindungsmännern die Hälfte aus, jeweils zwei aus jedem Kirchspiel. Und diese acht Schatzkastendiakone beriefen jetzt ihrerseits vier Oberalte zu ihrer Unterstützung, jeweils einen aus jedem Kirchspiel. Wie auch der Armenhauptkasten, so sollte der Schatzkasten vier verschiedene Schlüssel haben, die von je einem der zuständigen Jüngsten Diakone zu verwalten waren. Nach einem Jahr schieden die Schlüsselträger aus dem Amt, übergaben die Schlüssel an die anderen vier, die aus den Jüngsten Diakonen wieder auf demselben Wege zu ergänzen waren. So war es wenigstens geplant.292 Die von Bugenhagen avisierten Wahlverfahren waren also ungleich komplizierter als noch in der Gotteskastenordnung von 1527. Dort war zum Beispiel den Vorstehern jedes Kirchspiels einfach zugestanden worden, nach Tod oder Ausscheiden eines Kollegen innerhalb von acht Tagen einen Nachfolger zu bestimmen.293 Bugenhagens Vorschlag, der auch nicht zur Ausführung kam294, 289
Vgl. soweit ebd.; S. 240 f. u. 244 f. Vgl. Hatje 2002 a; S. 206 f. 291 Vgl. soweit Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 242 f. 292 Vgl. ebd.; S. 246 f. 293 Vgl. Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 68; hier Gotteskastenordnung, fol. 20 r°–21 r°. – Gotteskastenordnung St. Nikolai 1527 (1720); S. 121. 294 Vgl. C[arl] Mönckeberg: Die St. Nikolai-Kirche in Hamburg. Ein geschichtliches Denkmal. Zum Besten der Kirche herausgegeben. Hamburg 1846; S. 68–70. 290
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zielte offenbar darauf ab, die Fürsorgeverfassung der vier Hamburger Kirchspiele fest im Rahmen der politischen Ordnung zu verankern und hierdurch das gesamte christliche Gemeinwesen sowohl in die Pflicht zu nehmen als auch zu Entscheidungen über die Verwendung der Geld‑ und Sachmittel und der personellen Zusammensetzung der Entscheidungsorgane selbst zu berechtigen. Das vorgeschlagene Modell beruhte also nur zum Teil auf hierarchischer, zu einem erstaunlich hohen Teil aber auch auf gegenseitiger Kontrolle und hob offenbar im Sinne ,reformatorischer Öffentlichkeit‘ auf größtmögliche Transparenz ab.295 Daß Laien hierbei einen so hohen Status bekamen – auch und gerade in der tatsächlich realisierten Form – darf als besonders auffälliges und innovatives Element dieser hanseatischen Variante von Bugenhagens Kirchenordnungen angesprochen werden: Pastoren kommen in den Fürsorgeverfassungen Hamburgs und Lübecks überhaupt nicht vor. Die soziale Verantwortung für Schwächere sollte wieder zur Aufgabe aller Christen der Hansestadt296 werden, nicht einfach ihrer geistlichen Elite. „Die Benennung dieser Armenpfleger als ,Diakone‘“, so hat es Herwarth von Schade gesehen, „ließ den neutestamentlichen Begriff für das Amt der Apostelhelfer, der zuvor jahrhundertelang eine Stufe der priesterlichen Hierarchie bezeichnet hatte, in die Laiengemeinde des reformatorischen Kirchentums zurückkehren.“297 Im historisch dann wirksam gewordenen Gremium der Oberalten zu Hamburg verbanden sich kirchengemeindliche mit politischen Aufgaben in einer kaum zu trennenden Doppelfunktion, wobei freilich beiden Anteilen im Lauf seines Bestehens immer wieder ganz unterschiedliche Gewichte zukamen. Im 16. Jahrhundert waren die Ältesten Diakone zunächst einmal dem Rat gegenübergestellt, um die erbgesessenen Bürger von den Kirchengemeinden aus zu vertreten. Schon mit dem Langen Rezeß vom 16. Februar 1529 war die Einrichtung dreier bürgerlicher Kollegien kodifiziert worden, denen im Gegenüber zum Rat unterschiedliches Gewicht zukam: In Erweiterung der zwölf Oberalten und der Achtundvierziger, also der Gesamtheit der Diakone aller vier Kirchspiele, sollte zusätzlich ein Kollegium der Hundertvierundvierziger aus den 48 Diakonen und je 24 Subdiakonen jedes Kirchspiels den größten Kreis bilden.298 Ein vergleichender Blick auf die Lübecker Pläne (Abb. 13) mag das Bild ergänzen. Eine bürgerschaftliche Interessenvertretung als Verhandlungspartnerin des Rates hatte sich dort im April 1530 neu konstituiert, mit je 32 Abgeordneten 295
Vgl. Hatje 2002 a; S. 206. Dies ist – cum grano salis – bis heute Grundprinzip der hanseatischen Bürgergesellschaft geblieben. „Wenn aber einige der Reichen das Prinzip nicht für sich gelten lassen wollen“, so war Helmut Schmidt zur Feier seines 85. Geburtstags am 19. Januar 2004 zu vernehmen, „dann sind sie genau deshalb keine echten Hamburger! Mich selbst hat das Prinzip der freiwilligen Gemeinnützigkeit entscheidend beeinflußt.“ 297 Von Schade 2003; S. 31 f. 298 Vgl. ebd.; S. 39 u. 33. – Mit der Gründung der Michaelisgemeinde 1685 wuchs die Zahl der Oberalten auf 15, die der Diakone auf 60 und die des erweiterten Kollegiums auf 180 Personen an. Vgl. ebd.; S. 41. 296
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der Zünfte und der Kaufleute. Diesen Vierundsechzig gehörten auch die Spitzen der evangelischen Bewegung an, so daß die Lübecker Reformation vor allem durch dieses Gremium Rechtscharakter gewann.299 Wie auch in Hamburg, so plante hier Bugenhagen, daß vier Verbindungsleute des Rates den Kontakt zum Personal der Kästen gewährleisten, von ihnen im Namen des Rates und der Vierundsechzig Rechenschaft fordern und sie in allem Notwendigen unterstützen sollten. Diese vier Männer waren in Lübeck durch die Vierundsechzig vom Rat anzufordern, der eine Vakanz auch immer auf deren Vorschlag hin wiederbesetzen mußte. Zwei von ihnen sollten für die Gemeinen Kästen der Kirchspiele und damit für die Armenfürsorge, zwei für den gemeindeübergreifenden Schatzkasten zuständig sein.300 Auf der Ebene der Kirchengemeinden sah Bugenhagen auch hier jeweils zwölf Diakone vor. Je drei der jüngsten sollten nach einem ausgelosten Rotationsverfahren für einen Monat den Klingelbeutel in den Gottesdiensten umtragen, den Erlös in ihre Gemeinen Kästen legen, ihn wöchentlich unter Aufsicht von fünf Ältesten am Hauptkasten zählen und anschließend den Armen ihrer Kirchspiele austeilen, nachdem gegebenenfalls ein Finanzausgleich vorgenommen worden war.301 Hierzu sollte jeder der drei einen anderen Schlüssel zu seinem Kasten haben, während der vierte Schlüssel von einem hierfür abkömmlichen Schatzkastenherrn, einem ,Kirchenvater‘ verwaltet wurde. Die drei Ältesten jedes Kirchspiels dagegen waren für den zweigeteilten Armenhauptkasten der Marienkirche zuständig, je einer von ihnen für die Eingänge, je zwei für die Kapitalien und Urkunden.302 Das Prinzip verschiedener Schlüssel und gegenseitiger Kontrolle galt auch hier. Ebenfalls zwei Abteilungen sollte der übergemeindliche Schatzkasten haben. Doch für seine Verwaltung war eigenes Personal zu wählen, das anders als in Hamburg nicht mit den Armendiakonen identisch wäre. Je vier Kirchenväter, die allgemein für das wirtschaftliche und personelle Wohl und die Kirchenfabrik ihrer Gemeinde zu sorgen hätten, waren von den Vierundsechzig aus den fünf Gemeinden heraus zu wählen und vom Rat zu bestätigen. Je einer aus jedem Kirchspiel war auch hier für die Eingänge, je zwei für die Kapitalien und Urkunden zuständig, wieder mit jeweils verschiedenen Schlüsseln. Derjenige Kirchenvater, der ohne Schlüssel blieb, beaufsichtigte die diensthabenden Jüngsten Diakone seines eigenen Kirchspiels, hielt einen eigenen Schlüssel zum dortigen Armenkasten und stand ihnen als Helfer zur Seite.303 Trotz der gesteigerten Komplexität der Lübecker Diakonatsverfassung, die in dieser Weise auch nicht zustandekam, liegt der wichtigste Unterschied zur Ham299 Vgl. Kock (1830); S. 37–40. – Hauschild 1981; S. 182. – Die Vierundsechzig wurden jedoch 1535 nach Niederlage und Beseitigung des Bürgermeisters Jürgen Wullenwever aufgelöst. Durch seine fehlende Bindung an die Kirchspiele war dieses Gremium, anders als in Hamburg, weitaus anfälliger für die Unbilden der Politik. Vgl. Funk 1867; S. 174. 300 Vgl. soweit Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 171 f. 301 Vgl. ebd.; S. 157 u. 179 f. 302 Vgl. ebd.; S. 176–178. 303 Vgl. ebd.; S. 173–175.
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burger doch in einer Reduktion der politischen Aufgaben der kirchengemeindlichen Diakone. Gewiß, ihre enge Bindung an die öffentliche Ordnung und ihre Verantwortung gegenüber dem ganzen christlichen Gemeinwesen, repräsentiert durch Rat und Vierundsechzig, ihrerseits vertreten durch die vier Verbindungsmänner, sollten auch in diesem Fall gewährleisten, daß die kirchlichen Finanzen im Sinne ,reformatorischer Öffentlichkeit‘ verwaltet und von allen so verstanden werden konnten, daß ein Diakon stets nur stellvertretend für alle Christen der Lübecker Gemeinde zu handeln und sich zu verantworten hatte. So bestimmte Bugenhagen, daß bei schwierigen Entscheidungen stets die Gesamtheit der Kirchherrn bzw. der Diakone hinzuzuziehen wäre, darüberhinaus die vier Verbindungsleute und notfalls auch der Rat und die Vierundsechzig selbst.304 Doch anders als in Hamburg wurden die administrativen Aufgaben der Diakone nicht für eine bürgerschaftliche Interessenvertretung als Pendant zum Rat genutzt, weil es eine solche bereits auf Basis der Berufsverbände gab – eben die Vierundsechzig. So hätten sich die Lübecker Diakone weitaus stärker auf ihre fürsorglichen Dienste konzentrieren können – wenn das Modell so zur Geltung gekommen wäre. In Hamburg dagegen wurde mit dem Kollegium der Oberalten ja geradezu aus den Kirchspielen heraus eine bürgerschaftliche Interessenvertretung geschaffen, deren politische Rolle in den folgenden Jahrhunderten immer stärkeres Gewicht bekommen sollte. Daß es in beiden Hansestädten überhaupt gelang, den Räten solche Gremien zur Seite zu stellen, die als solche auch akzeptiert wurden, bleibt indes bemerkenswert. Diese Entwicklung will zunächst im Rahmen jener bürgerschaftlichen Mitsprachebestrebungen gesehen werden, die in den Hansestädten schon vor der Reformation immer wieder in der Bildung von Bürgerausschüssen ihren Ausdruck gefunden hatten.305 In diesem Sinne verstand man im 19. Jahrhundert den Hamburger Hauptkistenvertrag von 1528, durch den das Kollegium der Oberalten eingesetzt worden war, schlechterdings als Beginn der „Bürgerschaftlichen Verfassung“, deren dreihundertjähriges Bestehen 1828 gefeiert wurde.306 Wirklich demokratisch war die reformatorische Ordnung nun freilich nicht, doch führte sie bisher unbekannte Wahl‑ und Kontrollverfahren in die Hamburger Politik ein, die mit gewissem Recht als frühmoderne Form stadtrepublikanischer Interessenvertretung gewertet werden dürfen. Für die Folgezeit hat Rainer Postel betont, „daß die bürgerliche Mitsprache in Hamburg nicht als oppositionell oder gar revolutionär verstanden werden kann, sondern als eine Kontrollinstanz, die ihr Augenmerk vor allem auf die Wahrung des mit der Reformation Erreichten richtete. Ihr Charakter war im Grunde konservativ.“307 Dieser Zug wurde im weiteren Verlauf der Hamburger Stadtgeschichte noch verstärkt. Schon nach 304
Vgl. etwa ebd.; S. 174. Vgl. (auch zum folgenden) Postel 1979; hier bes. 2 f. – Hatje 2002 b. 306 Vgl. Lappenberg 1828. 307 Postel 1979; S. 15. 305
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einer Generation rekrutierten sich die Oberalten nicht mehr aus den Spitzen der reformatorischen Bewegung, sondern fast durchweg aus denselben – meist kaufmännischen – Gesellschaftsschichten wie auch der Rat und gingen auch nach kurzer Zeit zum reinen Selbstergänzungsprinzip über. Darum stand zur Mitte des 17. Jahrhunderts Kritik an der zunehmenden Verfilzung der bürgerlichen Gremien bereits auf der Tagesordnung, wenn man etwa bei Wahlen „zu nahe in die Freundschaft gegangen“ war.308 So ergänzte sich insbesondere das Kollegium der Oberalten aus den übrigen Diakonen, und zwar nach Lebensalter im Rahmen einer festgelegten Aufstiegskarriere.309 Durch das Senioritätsprinzip „vergreiste dieses Kollegium stark – das Alter bei der Wahl lag zwischen 1753 und 1820 bei durchschnittlich 63,5 Jahren – und wurde deshalb auch als Kollegium der ,Überalten‘ verspottet.“310 Der Hamburger Französischlehrer Jacob Gallois († 1872) karikierte das Gremium 1835 gar als „eine Gesellschaft von Invaliden, eine Sammlung von Perücken, einen Rosenkranz von Einfaltspinseln; es sind antike, beratende und verdauende Nullen. Man muß schon die Gicht haben und ein Hinfälligkeitspatent, um da hineinzugelangen.“311 Als Hamburg 1860 eine moderne Verfassung erhielt, fielen durch die Trennung von Kirche und Staat auch das Abstimmungsverfahren nach Kirchspielen und überhaupt die bürgerliche Administration durch Gremien der Diakonatsverfassung fort, und das Kollegium der Oberalten, seiner politischen Funktion beraubt, konzentrierte sich wieder verstärkt auf seine diakonischen Aufgaben.312 So ist es bis heute geblieben.313 Gewiß, die Verwaltung des Heilig-Geist-Spitals und des ehemaligen Franziskanerklosters wie auch weiterer Stiftungen hatte seit der Reformation ununterbrochen in den Händen der Diakone gelegen, die im Laufe der Jahrhunderte nicht aufgehört hatten, Sachwalter der öffentlichen Fürsorge zu sein. Anfangs gingen sie noch mit den Klingelbeuteln um und verteilten turnusgemäß die Almosen.314 Doch nicht die konkrete Pflege der Armen, Kranken und Sterbenden stand im Vordergrund ihrer Dienste, sondern eher die ökonomischen, administrativen und politischen Verwaltungsaufgaben, die mit der gewinnbringenden Bewirtschaftung der Kloster‑ und Spitalgüter zusammenhingen. Damit waren besonders die Oberalten zu Garanten der öffentlichen Fürsorge Hamburgs geworden, während die konkrete Arbeit in den Häusern der Armen‑ und Krankenfürsorge bezahlten Fachkräften überlassen werden konnte. Die Kehrseite war jedoch, daß die Kollegien zunehmend den Kontakt zur Armut auf der Straße verloren. Akzeleriert durch die behördliche Verwaltung umfang308
Vgl. von Schade 2003; S. 53. Vgl. Hatje 2002 a; S. 237 u. 247 f. 310 M[ichael] H[undt]: Oberalte, in: Hamburg-Lexikon (hg. v. Franklin Kopitzsch u. Daniel Tilgner). Hamburg 1998, S. 356. 311 Von Schade 2003; S. 149. 312 Vgl. ebd.; S. 132. 313 Vgl. generell die Chronik von Herwarth von Schade 2003. 314 Vgl. Hatje 2002 a; S. 215. 309
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reichen Grundbesitzes, den engen Kontakt mit dem soziostrukturell ähnlich zusammengesetzten Rat, eine fortschreitende Zurückgezogenheit bei politischen Verhandlungen und das offenbar wachsende Bedürfnis, ihren elitären Status von Generation zu Generation zu perpetuieren, wurden sie selbst als Teil der weltlichen Obrigkeit wahrgenommen und vermochten auf neue Herausforderungen an die Entschlußfreudigkeit christlicher Nächstenliebe nur noch äußerst schwerfällig zu reagieren. Bezeichnend ist, daß in Hamburg die nachhaltig wirksamen Anstöße, die im 19. Jahrhundert von Amalie Sieveking († 1859) und Johann Hinrich Wichern († 1881) kamen, gerade nicht innerhalb des etablierten kirchengemeindlichen Fürsorgesystems stattfanden, sondern im Rahmen neugegründeter diakonischer Vereine. Trotz des soliden Weiterbestands der von den Oberalten effizient verwalteten Häuser ließ doch der Umstand, daß dort „die Hospital‑ und Klosterangelegenheiten mit der Zeit von den bürgerschaftlichen überwuchert wurden“315, von ihrer Seite keine Reaktionsbereitschaft angesichts neuer sozialer Fragen erwarten. Der persönliche Kontakt mit den Schwachen am Rande der Gesellschaft gehörte überdies längst nicht mehr zum Alltag der Diakone, wie es einst von Bugenhagen vorgesehen war und jetzt von Sieveking und Wichern erneut gefordert und praktiziert wurde. Was etwa das vergleichweise anspruchslose, von vielen aber deshalb als demütigend wahrgenommene Umtragen des Klingelbeutels betraf, einen Dienst also, der in Hamburg, Lübeck und andernorts immerhin zu den klassischen Aufgaben des neugeschaffenen Diakonats gehörte316, so beschlossen Rat und Bürgerschaft der Stadt Hamburg 1701, daß „alle und jede Oberalten, nun und künftig von der Sammlung mit dem Klingelbeutel in den Kirchen befreit seyn und dort, wie auf dem Rathause über die andern Diaken ihren Rang haben“317 sollten. Das bedeutete, daß die Oberalten sich analog zu ihren politischen Aufgaben auch im Dienst am Nächsten deutlich von den Jüngsten Diakonen zu unterscheiden wünschten. Als Johann Friedrich Mayer († 1712), Hauptpastor an der Jakobikirche, seinen Ältesten Diakon Peter Carstens dennoch um diese Gefälligkeit bat, weigerte der sich standhaft. Daraufhin hielt Mayer eine geharnischte Predigt, zu deren Schluß er den Klingelbeutel auf die Kanzelbrüstung legte mit den Worten: „Bleib liegen, du armer, verlassener Klingelbeutel, Jesus erbarme sich über die Armen!“318 In ähnlicher Weise könnten sich die Diakone allmählich aus der persönlichen Visitation der Spitäler zurückgezogen haben, die eine Ordnung vom 315
Ebd.; S. 233, ähnlich 231. Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 145. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 244 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 179 f. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 114. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 52 f. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 182–185. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 880. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 78. 317 Von Schade 2003; S. 59. 318 Ebd.; S. 59 f. 316
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Ampt der OberAlten von 1600 ihnen noch einmal im Sinne der Kirchenordnung eingeschärft hatte. „Was sie dort zu sehen bekamen, welche Missstände sie feststellten, was sie hörten, worauf sie achteten, davon ist nichts überliefert“, gibt Frank Hatje zu bedenken. „Wir wissen nicht einmal, ob diese Visitationen tatsächlich stattfanden. Denn keines der erhaltenen Protokoll‑ oder Rechnungsbücher gibt uns einen Hinweis darauf. Möglicherweise ereilte die Visitation des Hospitals dasselbe Schicksal wie die in den Gotteskastenordnungen vorgeschriebene vierzehntägige oder monatliche ,Visitation‘ der eingezeichneten Armen, die dazu diente, deren aktuelle Bedürfnisse festzustellen und individuelle Hilfe zu leisten. Diese Visitation nämlich wurde nicht nur von Kirchspiel zu Kirchspiel unterschiedlich gehandhabt, was ein Gutachten von 1613 moniert, sondern beispielsweise in St. Katharinen an die Vögte und Unterküster delegiert, von diesen aber sehr unregelmäßig betrieben, weil das Kollegium der Diakone dem wenig Aufmerksamkeit schenkte.“319 Auch in Lübeck bereitete das Umtragen der Klingelbeutel erhebliche Probleme. Dort war es sogar als eigentliche Hauptaufgabe des Diakonats, einer „Bürger-Pflicht und Bürger-Last“320, übriggeblieben, nachdem die sonstige Armenfürsorge im St.-Annen-Kloster zentralisiert worden war und die in den einzelnen Kirchspielen gesammelten Gelder weitgehend dahin abgeführt werden mußten.321 Da die Lübecker Ordnung eine Wahl unbescholtener, zuverlässiger Männer zu Diakonen vorgesehen hatte, wurden diese auch während der folgenden Jahrhunderte aus den Bürgern jedes Kirchspiels bestimmt, wogegen sich die Gewählten oft genug sträubten – bisweilen wurde der Überbringer des Wahlergebnisses gröblich beschimpft und zur Tür hinausgeworfen.322 Wer zu klein, zu alt oder nicht gesund war, konnte sich durch ärztliches Attest von der Wahl befreien lassen.323 Auch waren bestimmte Berufsgruppen ausgeschlossen oder konnten jedenfalls langwierige Verhandlungen begründen. So zog sich die Neubesetzung eines Postens von Mai 1698 bis Februar 1699 hin, weil der Auserwählte sich als Gelehrter strikt weigerte, das Amt anzutreten. Die Diakone hingegen beharrten auf der Wahl und suchten ihrer Forderung Gewicht zu verleihen, indem sie die Klingelbeutelsammlung einstellten, um Rat und Verbindungsleute zu energischem Handeln zu zwingen. Unterdessen klagten auch die Vorsteher des St.-Annen-Klosters, daß wegen der Starrköpfigkeit eines Einzelnen „so Viele Armen leiden müssen, und daß darin keine remidirung geschaffet wird.“ Mit dem Anwalt des Mannes wurde schließlich eine Ablösesumme ausgehandelt, die den Armen zugutekam.324 Ein Einzelfall war es freilich nicht. Der Freikauf von der 319
Hatje 2002 a; S. 232. Funk 1867; S. 177. 321 Vgl. ebd.; S. 174. 322 Vgl. ebd.; S. 197. 323 Vgl. ebd.; S. 179. 324 Vgl. ebd.; S. 180–184, zit. S. 181. 320
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Wahl oder noch aus dem angetretenen Amt war in Lübeck völlig normal, so daß bis ins 19. Jahrhundert komplexe Abfindungstarife und Ausnahmebestimmungen entwickelt wurden.325 Der Lübecker Jurist Martin Funk hat 1867 belegen können, „wie sehr man früher bemüht war, den Abkauf zu einer Einnahme-Quelle für die Armen zu machen“326. Auch ein übler Lebenswandel konnte mit Geldstrafen belegt werden327, wie auch freche Bemerkungen im Dienst328 oder allzu gröbliche Handhabung der Sammelgeräte.329 Wie das Diakonenamt also in späteren Epochen wahrgenommen wurde, darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß Johannes Bugenhagen an einem echten Laienamt mit hoher sozialer Verantwortung gelegen war, daß er hierfür institutionelle Strukturen auf Dauer plante und daß dieser Dienst jedenfalls in der Anfangszeit auch erfolgreich getan wurde. Insbesondere will bedacht sein, daß Meldungen über Korruption, Machtmißbrauch und andere Verletzungen der diakonischen Amtspflicht in aller Regel gerade wegen ihres normabweichenden Charakters überliefert wurden, wogegen das alltägliche Funktionieren evangelischer Fürsorgepolitik kaum Nachrichtenwert gehabt haben dürfte und in den einschlägigen Quellen daher auch nicht ausdrücklich erwähnt zu werden brauchte. Das entspricht einer historiographischen Gesetzmäßigkeit, die lange bekannt ist. Insofern muß davor gewarnt werden, die geschilderten Entwicklungen zu generalisieren. Und dennoch gibt es eine Quellengattung, die sehr beredt über die Erfolge im evangelischen Diakonat Auskunft geben kann. Es sind die Kastenrechnungen. Ich werde darauf noch ausführlich zu sprechen kommen.330 Die exemplarische Durchsicht von Rechnungen und Rechenschaftsberichten aus Braunschweig und Stolp hat jedoch Ergebnisse gebracht, die an dieser Stelle bereits genannt werden können: Aus den Einnahme‑ und Ausgabestatistiken der Gemeinen Kästen in beiden Städten ist jedenfalls für das 16. Jahrhundert sehr deutlich abzulesen, daß die Diakone ihren finanzpolitischen Handlungsspielraum meist großzügig zugunsten der Bedürftigen auslegten und sich keinesfalls streng den angeblich feststehenden Definitions‑ und Exklusionskriterien unterwarfen, mit denen Arme und Kranke sozialdisziplinatorisch hätten klassifiziert und kontrolliert werden sollen. Das in der Forschung zu oft ungeprüft reproduzierte Postulat, frühneuzeitliche Armenfürsorge sei von den weltlichen Obrigkeiten erstrangig zur Sozialdisziplinierung instrumentalisiert worden, findet in diesen Rechnungen keine Entsprechung. Erstaunlich große Eigenverantwortlichkeit und Flexibilität in der Amtsführung läßt sich aus ihnen etwa im Blick auf den
325
Vgl. ebd.; S. 190–194. Ebd.; S. 194. 327 Vgl. ebd.; S. 201. 328 Vgl. ebd.; S. 205. 329 Vgl. ebd.; S. 206 f. 330 Vgl. unten; S. 296 ff. 326
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nachweislich konzilianten Umgang mit Fremden331 und mit Schuldnern332 ablesen – beides Gruppen, für deren Nöte auch schon Bugenhagen den Diakonen ,um Gottes Willen‘ eine gewisse Toleranz empfohlen hatte333 – wie auch hinsichtlich der Reaktionsbereitschaft im Einnahme‑ und Ausgabeverhalten, besonders in Krisenzeiten. Diakone leisteten unbürokratische und am Einzelfall orientierte Hilfe bei Krankheit, Unfällen, Hausbränden oder sonstiger Not und förderten arme Jugendliche zur Heirat, zum Schulbesuch oder zum Studium. Sie erfüllten die Anweisungen nachreformatorischer Testamente (etwa durch Kauf und Verteilung von Sachgütern und Lebensmitteln), legten Stiftungskapital gewinnbringend an, handelten mit den Nachfahren altgläubiger Stifter neue Konditionen für den Fortbestand der Vermächtnisse aus und beurkundeten jeden Handel, jeden Verleih, jede Neufassung einer Stiftungsurkunde für die Nachwelt. Schließlich zeigen die teils mit größter Akribie geführten Bücher ihrerseits, daß die Aufgaben im Sinne reformatorischer Öffentlichkeit ernstgenommen wurden. Die Braunschweiger und Stolper Kastenrechnungen wurden bis weit in die Neuzeit fortgeführt, in Braunschweig sogar bis ins 20. Jahrhundert. In beiden Städten orientierten sich die Diakone offenbar weitgehend an Bedarf und Bedürftigkeit, stets gedeckt und entlastet von den Stadtherren. Ein solches Tätigkeitsspektrum, wie es hier aus der archivalischen Überlieferung rekonstruiert werden konnte, entsprach bei aller Gestaltungsfreiheit der Norm. Das wird besonders augenfällig, wenn zusätzlich zu den Aufträgen der Kirchenordnungen eine weitere normative Quellengattung herangezogen wird: Spätestens im 17. Jahrhundert wurde es üblich, die Diakone zu vereidigen, um ihre Zuverlässigkeit sicherzustellen und im Falle nachlässiger Amtsführung entsprechende Rechtsmittel gebrauchen zu können. In Hamburg wurden 1603 neue Eidesformeln für die öffentlichen Ämter eingeführt. Bei dieser Gelegenheit leisteten auch die Oberalten ihren Amtseid.334 Vielleicht schon früher, mindestens aber seit dieser Zeit335 gelobten sie, „dat ick der Armoedt und gemeenen GaddesKasten, mede högsten sorgvoldigen Flÿte, Ehrbarlich uprichtig, unde getrouwlick vör stahn, Ehr Bestes soecken und Schaden affwenden will“336. Die Armengüter wollten sie stets auf zuträglichste Weise, „der Armoth thom Besten“ vermieten oder verpachten, stets nur an solvente Personen, und hierbei insbesondere keine Geschenke annehmen oder sonstige Vorteilnahme verabreden. Daß nichts für 331
Vgl. unten; S. 318 et passim. Vgl. unten; S. 385. 333 Vgl. insgesamt unten; S. 385 ff. 334 Vgl. von Schade 2003; S. 104 f. 335 Die wohl früheste Handschrift des Textes ist wohl erst „bald nach 1688 angefertigt“, repräsentiert möglicherweise den Text von 1603, wurde freilich später modifiziert. Vgl. ebd.; S. 107. 336 Ebd.; S. 198. – Übertragung: „[…] daß ich der Armut und dem allgemeinen Gotteskasten mit höchstem, sorgfältigen [sic] Fleiß ehrbar, aufrichtig und getreulich vorstehen, ihr Bestes suchen und Schaden abwenden will“. Ebd.; S. 109. 332
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eigene Zwecke abgezweigt werden durfte, mußte ausdrücklich beeidet werden. Ferner war die Buchführung, die in Hamburg durch einen Schreiber erledigt wurde, von den Oberalten genau zu beachten wie auch den Verbindungsleuten jährlich die Rechnungen in allen Einzelheiten vorzulegen. Damit standen die diakonischen Aufgaben des Kollegiums noch deutlich im Vordergrund, und der Eid sollte im Interesse der Bedürftigen vor allem vor Unterschlagung und Korruption schützen. Was schließlich die politischen Aufgaben betraf, so würden die Oberalten besonders darauf achten, daß das Stadtbuch und die einschlägigen Rezesse „stedes in ehrer Woorde vullenföhret unde achterfolget, oock Freede unde Eendracht in düßer guden Stadt erholden werde. Unde so ick hierinnen jenig Gebreck, Mißbruck effte Versumnüße spören würde; So will ick nevenst mÿnen Mittverordneten de Nothdorfft E. E. Rahde andragen lathen“337. Es ist bezeichnend, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts die diakonischen Aufgaben völlig aus dem Eidestext verschwunden waren.338 Die politisch-administrativen Verfahrensfragen traten darin erst mit der neuen Verfassung von 1860 wieder zurück. Nun beobachteten die Oberalten wieder „die Verhältnisse der christlichen Kirchen und Schulen […] so wie die Verwaltung des heiligen Geisthospitals und des Marien-Magdalenen-Klosters“339. Ausgesprochen vielseitig war das Tätigkeitsprofil, für das sich im 17. Jahrhundert ein Vorsteher des Schleswiger Heilig-Geist-Spitals vereidigen lassen mußte (Abb. 14). Er schwor, daß er „in diesem vorsteher Ampt so wol des Armen Hauses als der allgemeinen Armuht dieser Stadt mich getreulich wil annehmen / derselben Einkommen / und was sonsten von guthertzigen Christen denenselben zum Besten und Unterhaltung legirt und geschencket / fleissig auffzeichnen / und zu rahte halten / bey den Predig-Tagen mit dem Kling-Beutel / wie gebruchlich / in der Kirchen umgehen / daß bey den Leichbegngnissen das ArmenBecken außgesetzet werde und persnlich mich dabey einzufinden / zu keiner Zeit verabsumen / was allemal gesammlet und gegeben wird so fort in den dazu verordneten Armen-Kasten schtten / auch / daß die Armen-Kaste / Arm-Pfle / und die in der Stadt außgetheilte Armen-Bchsen / alle Quartal geffnet werden / befordern / was verhanden getreulich anschreiben / und den einheimischen Armen / dasjenige was ihnen zur wochentlichen Unterhaltung verordnet / zu rechter Zeit reichen und folgen lassen / wann einer oder ander kranck / demselben gute Auffsicht bestellen / und / da jemand in den Armen-Husern versterben solte / solches so fort dem Burgermeister dieser Stadt vermelden / nach dessen Befehl des Verstorbenen Nachlaß inventiren / Jhn zur Erden besttigen / 337 Ebd.; S. 108. – Übertragung: „[…] stets in ihrer Würde durchgesetzt und befolgt, auch Frieden und Eintracht in dieser guten Stadt erhalten werden, und wenn ich hierbei irgend einen Mangel, Missbrauch oder Versäumnis spüren werde, will ich nebst meinen Mitverordneten diesen Notstand an Einen Ehrbaren Rat herantragen“. 338 Vgl. ebd.; S. 110 u. 114.f. 339 Ebd.; S. 113 u. 115.
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und das brige ohn Unterschleiff den Armen berechnen.“ Neben diesen unmittelbar diakonischen Aufgaben oblag ihm freilich auch die Finanzverwaltung. Insbesondere mußten Schuldner ermahnt, Kapital und Zinsen genau im Auge behalten und die Rechnungen gewissenhaft geführt werden. Generell war bei regelmäßigen Visitationen mit Ernst darauf zu achten, „daß in den Armen-Husern alles Christlich / Ehrbahrlich / und GOtt-gefllig zugehe“340 In Schleswig lagen also die unterschiedlichen Aufgaben der Armen-, Kranken‑ und Totenfürsorge noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts personell in einer Hand. Mit dem Diakon oder Armenvorsteher ist der Kirchgeschworene (kercksware) oder Jurat nicht zu verwechseln. Dieses Amt war keine reformatorische Neuerung.341 Es diente der Mitsprache, vor allem aber der juristischen und ökonomischen Geschäftsführung in einem Kirchspiel durch kompetente Laien und kann cum grano salis als Vorläufer des Kirchenvorstands oder Presbyteriums betrachtet werden. In der Regel waren es die Juraten, die bereits vor der Reformation für die bestimmungsgemäße Verwaltung testamentarischer Stiftungen verantwortlich waren und aus diesem Grunde auch im evangelischen Kirchenwesen oft in der Armenfürsorge tätig wurden. So verteilten die beiden Juraten der Kieler Nikolaikirche 1588 regelmäßig Geld, Lebensmittel und Textilien an Arme, die in Spitälern und Buden wohnten. Weil das Geld hierzu wohl aus älteren Armenstiftungen kam, das im Gesamthaushalt der Gemeinde noch immer mit dieser Bestimmung verknüpft war, leisteten sie also diese diakonische Aufgabe in Ausübung ihres geschäftsführenden Amtes.342 Zugleich gab es dort drei Diakone, die dem Gotteskasten der Nikolaikirche beigeordnet waren und hierfür die spontanen Gaben einsammelten.343 Das Nebeneinander beider Ämter entsprach der Trennung von Schatzkasten und Gemeinem Kasten und war juristisch durch die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung begründet.344 Indes begegnen auch Fälle, in denen die Juraten sich ganz einfach dem Amt der Armenpfleger anverwandelt hatten, ohne daß ein neues Diakonenamt entstanden wäre. Im Kirchspiel Tolk in Angeln etwa wurde im 17. Jahrhundert „alle halb Jahr der Armenkasten geöffnet, und von den Juraten den Hausarmen ein Almosen und nothdürfftigen Kindern das Schulbrod gereichet“345. Ebenso konnten ,Armenvorsteher‘ als leitende Geschäftsführer eines Spitals diakonische Aufgaben für das ganze Gemeinwesen übernehmen. Wie bereits zu sehen war, wurde insbesondere in Skandinavien die öffentliche Fürsorge einer Gemeinde in den bestehenden Spitälern zentralisiert, 340
Schleswig SHLA, Abteilung 400.5, Nummer 626 (wohl von 1682). Vgl. Lorenzen-Schmidt 1980; S. 232 f. u. 240. 342 Vgl. Kiel StA, Nr. 48304; fol. 36. 343 Vgl. ebd.; fol. 84 r°. 344 Vgl. Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 160–163, 170 f. (Juraten) u. 174 f. (Diakone). – Der Kieler Gotteskasten hatte allerdings nicht die beabsichtigte Funktion eines Gemeinen Kastens, in den alle Aufgaben und Gelder öffentlicher Fürsorge integriert worden wären. 345 Hoffmann 2001; S. 21. 341
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ohne daß diese unter einen neu zu gründenden Gemeinen Kasten integriert worden wären. Dies war etwa in Schleswig und Rendsburg zu sehen, wo auch nicht von ,Diakonen‘ die Rede war. Daneben gab es auch hier das Juratenamt.346 Und schließlich sollen auch die Bettelvögte oder Bettlerkönige nicht als Diakone mißverstanden werden. Hierbei handelte es sich meist ihrerseits um Angehörige der Unterschichten, oft eingesessene Bettler, die im Auftrag der Kommune ordnungspolizeiliche Aufgaben zur Disziplinierung ihrer Standesgenossen übernahmen und später auch besoldet wurden.347 Deutlich als eigene Berufsgruppe sind dann wieder die Boten und Schreiber zu erkennen, wie Bugenhagen sie zur Unterstützung der Diakone forderte. Sie bekämen viel zu tun, sollten daher auch gut bezahlt werden, zumal sie die eigene Arbeit ganz vernachlässigen müßten.348 Das gelte auch für den Boten, „wente ydt ys eyn arm man / vnd dat gelt ys doch der armen / vnd he denet vns ock.“349 Darauf, daß Besoldung auch als Fürsorge verstanden werden konnte, wird noch einmal zurückzukommen sein.350 Das hier skizzierte Spektrum diakonischer Berufe in der norddeutschen und skandinavischen Reformation führt abschließend noch einmal zu Bugenhagens Verständnis vom evangelischen Diakonat schlechthin zurück. Wie andere Reformatoren auch, so betrachtete er diesen Dienst als unerläßliches Gemeindeamt, das nicht aus dem Predigtamt ausgegliedert oder ihm unterstellt wäre, sondern selbständig neben diesem begründet war.351 Zu tätiger Nächstenliebe an Verwandten und Nachbarn war nach seiner Auffassung jeder Mann und jede Frau im christlichen Gemeinwesen berufen und auf sie verpflichtet, in einem weiteren Sinne war es jedoch Christenpflicht der weltlichen Obrigkeit, die Kräfte für solche Aufgaben zu bündeln und zu organisieren, die vom Einzelnen nicht zu bewältigen wären.352 Das machte aus dem Diakon keinen städtischen Angestellten. Im Gegenteil – daß Bugenhagen den Diakonat weitgehend analog zum Pfarramt bewertete, belegt schon der Titel seiner Flugschrift De coniugio episcoporum et diaconorum von 1525.353 Hätte der Diakonat in seinen Augen ein rein bürgerlicher 346
Vgl. Jensen 1912; S. 300. – Dazu hier S. 315. Vgl. für Dänemark Brinker 1994; S. 51 f. – Für Sachsen Helmut Bräuer: Bettelvögte. Sozial‑ und mentalitätsgeschichtliche Beobachtungen aus Obersachsen während der Frühen Neuzeit, in: Landesgeschichte und Archivwesen. Festschrift für Reiner Groß zum 65. Geburtstag (hg. v. Renate Wißuwa, Gabriele Viertel u. Nina Krüger). Dresden 2006, S. 121–148. – Für Lübeck vgl. unten; S. 296. 348 Vgl. etwa Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 228 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 163 f. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 126. 349 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 164. – Übertragung: ,… denn er ist ein armer Mann, und das Geld ist doch für die Armen, und er dient uns auch.‘ 350 Vgl. unten; S. 416 ff. 351 Vgl. zu diesem Punkt Hans M. Müller: Evangelischer Diakonat als kirchliches Amt [zuerst 2000], in: ders.: Bekenntnis – Kirche – Recht. Gesammelte Aufsätze zum Verhältnis Theologie und Kirchenrecht. Tübingen 2005 (JusEcc 79), S. 401–415; hier bes. 406 f. 352 Vgl. den Beginn des folgenden Kapitels. 353 Johannes Bugenhagen: De conivgio episcoporvm et diaconorvm ad venerandum doctorem VVolfgangvm Reissenbvsch monasterij Lichtembergensis Praeceptorem per Ioannem 347
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Stand, kein kirchliches Gemeindeamt sein sollen, so hätte es wohl schwerlich einer Erklärung bedurft, warum Diakone fortan heiraten dürften. Bugenhagen hatte vielmehr das christliche Gemeinwesen als Ganzes im Blick, in dem das Predigtamt und der Diakonat prominente Posten einnahmen – nicht aufgrund besonderer von außen verliehener Würde, sondern aufgrund besonderer, in der Heiligen Schrift begründeten Aufträge. Eine Ordination ins Diakonenamt stand aber gerade deshalb nicht zur Debatte. Zuerst hatte Bugenhagen ja sogar die Ordination von Pfarrern durch Handauflegung noch mißbilligt und lehnte bis 1535 die Wittenberger Zentralhandlung ab: „Qui eligitur ab ecclesia et acceptatur, hic est ordinatus“, stand 1525 für ihn fest.354 Daß in seinen Kirchenordnungen dann die Ordination ins Pfarramt vorgesehen war, nicht aber die zum Diakon, hat indes noch einen inneren Grund: Der Diakon sollte aus den angesehenen Bürgern einer Stadt gewählt werden und nach einer bestimmten Dienstperiode wieder dorthin zurücktreten, um seiner gewöhnlichen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hierzu war er, anders als der Pfarrer, regelmäßig durch den Rat und oft auch den Superintendenten gültig zu entlasten. Eine Ordination hätte bedeutet, ihn weiter in die Pflicht zu nehmen als nötig. Sie war einfach nicht erforderlich.355 Die Ordinationsfrage ist insofern von Bedeutung, als sie in der Literatur zum Kriterium eines wirklich ekklesialen Diakonats gemacht worden ist, das nicht nur fürsorgliche, sondern auch gottesdienstliche Dimensionen, bestenfalls auch die Bestätigung durch eine geistliche Weihe hätte und damit wirklich die Wiederherstellung des frühkirchlichen Konzepts durch die Reformation belegen könnte. So ist es bei Martin Bucer gesehen worden. Angeblich „gab der Straßburger Reformator diesem Amt seine drei Attribute zurück, die einst dieses besondere kirchliche Amt ausgemacht hatten: die karitative Aufgabe, die liturgische Verpflichtung und die Weihe des Amtsträgers durch Handauflegung.“356 In seiner Straßburger Zeit indes fehlten solche Überlegungen noch.357 Dort hatte er zwar in seiner Schrift Von der waren Seelsorge (1538) ein Verfahren zur Wahl und Einsetzung der „Diener“ vorgeschlagen, die durch „Hendufflegen“ ordiniert werden sollten358, sprach Bugenhagium Pomeranum. Wittenberg: Joseph Klug 1525, in: Flugschriften auf Microfiche 4 (1981), Nr. 1814. – Dazu Stephen E. Buckwalter: Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation. Gütersloh 1998 (QFRG 68); S. 280 f. 354 Johannes Bugenhagen: Pomeranus. Dominica Quasimodogeniti, Euangelium Joh. 20. 23. April 1525, in: ders.: Ungedruckte Predigten (1910), S. 212–218; hier 217, Z. 36. – Übersetzung: ,Wer von der Kirche gewählt und angenommen ist, der ist ordiniert.‘ – Vgl. Georg Kretschmar: Die Ordination bei Johannes Bugenhagen, in: Rituels. Mélanges offerts à PierreMarie Gy (hg. v. Paul De Clerck u. Eric Palazzo). Paris 1990, S. 357–384; bes. 372, auch 362 et passim. 355 Vgl. noch aus heutiger Sicht die Erläuterungen zur Ordination ins Amt der Verkündigung, von dem die Sendung zum Diakonat durch dessen unterschiedlichen Dienstauftrag klar zu unterscheiden empfohlen wird durch H. Müller 2000 (2005); S. 409–411. 356 Hammann 2003; S. 259. Kursivdruck dort. 357 Vgl. ebd.; S. 256, 260 et passim. 358 Bucer: Wahre Seelsorge 1538 (1964); S. 139 f. – Vgl. Bernoulli 1953; S. 11 f.
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hierbei aber nur sekundär von Armenfürsorge und entfaltete in erster Linie ein seelsorgerliches Konzept, das vor allem Aufgaben der Kirchenzucht beinhaltete. Erst spät, in England 1549, strebte Bucer tatsächlich an, das brüderliche Teilen in der Gemeinde – und damit auch die Fürsorge für die „minimis, esurientis, sitientis, extorris, nudi, aegroti, vincti“ (Mt 25) – liturgisch mit dem Teilen von Brot und Wein in der Abendmahlsfeier zu verknüpfen und begründete dies aus der apostolischen Tradition.359 Fürsorgliche und eucharistische Aspekte des Opferbegriffs sollten in der gottesdienstlichen Feier sinnfällig verbunden sein. Die Einbindung des Diakonats in die Gottesdienstgemeinde nahm wenig später Johannes a Lasco († 1560) auf, als er für die reformierte Flüchtlingsgemeinde zu London eine Ordnung entwarf, die der Armenfürsorge durch Diakone erhebliches Gewicht beimaß. Neue Diakone sollten nach einer eindringlichen Befragung unter Gebet und Handauflegung ordiniert werden.360 In beiden Fällen sollte das Amt dauerhaft unter Einsatz der ganzen Person ausgeführt werden, schloß seelorgerliche und liturgische Aspekte ein und bedurfte daher, analog zum Hirten‑ und Lehramt, folgerichtig einer gültigen Ordination. Bugenhagen favorisierte dagegen ein Modell, demzufolge Laien vom christlichen Gemeinwesen für begrenzte Zeit in die Pflicht genommen werden, ausdrücklich aber auch wieder entlastet und in ihren gegebenen Stand zurückgeschickt werden sollten. Seine anfängliche Skepsis gegenüber jeder Ordination gab er beim Diakonat nicht auf. Zugespitzt auf die Abwandlung einer bekannten theologischen Formel müßte man sagen: Seiner Vorstellung vom allgemeinen Diakonat aller Gläubigen hätte eine Ordination nur geschadet.
5. Definition und Exklusion armer Unterschichten Dem administrativen Apparat, den Bugenhagen bei der Neugestaltung des Fürsorgewesens einplante, standen Menschen gegenüber, die Hilfe nötig hatten. Daß die Reformatoren über deren tatsächliche Bedürfnisse eifrig hinweggeplant hätten, ist bisweilen in der Forschung zu lesen.361 Aus dem normativen Aufwand ihrer Kirchenordnungen ist vereinzelt sogar geschlossen worden, „daß mit dieser institutionellen Form eine Entpersönlichung der Armenfürsorge einsetzt und sich immer mehr durchsetzt. Es ist nicht mehr der Kontakt von Mensch 359
Vgl. Hammann 2003; S. 257 f. Vgl. Johannes a Lasco: Kirchenordnung, wie die unter dem christlichen könig auß Engelland Edward dem VI. in der statt Londen in der niderlendischen gemeine Christi durch kön. majest. mandat geordnet und gehalten worden, mit der kirchendiener und eltesten bewilligung, durch herrn Johann von Lasco, freiherrn in Polen, superintendenten derselbigen kirchen in Engelland, in lateinischer sprach weitleuftiger beschrieben, aber durch Martinum Micronium in eine kurze summ verfasset und jetzund verdeutschet. Gedruckt in der churfürstlichen statt Heidelberg durch Johannem Mayer 1565, in: EKO 7/II/1 (1963), S. 579–667; hier 597 f. 361 Vgl. Schubert 1991; S. 110 u. 117. 360
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zu Mensch, nicht mehr etwa der mit seinen Nöten persönlich bekannte Nachbar, dem man sich verpflichtet weiß.“362 Aber warum denn nicht? Die private Nächstenliebe galt selbstverständlich weiterhin als biblische Verpflichtung jedes einzelnen Christenmenschen, konnte und sollte jedoch nicht den normativen Vorschriften obrigkeitlicher Kirchenordnungen unterworfen werden. Deshalb hielt Bugenhagen diesen Teil der Fürsorge von vornherein aus seinen organisatorischen Plänen heraus, wies aber deutlich auf die Prioritäten hin: Wer sich bereits um die Nahestehenden nicht kümmern wolle, so führte er mit Verweis auf Paulus (1 Tim 5,8) in der Braunschweiger Ordnung aus, der habe den Glauben verleugnet. In zweiter Linie sei auf Verwandte und Bekannte zu achten, besonders die Glaubensgenossen (nach Gal 6,10). Und drittens gehöre auch den Beleidigern und Verfolgern (nach Mt 5,44) unsere Hilfe, die in ihrer Not welche bräuchten.363 Damit der Gemeine Kasten „nicht besweret werde / vnde de armen de vorlaten synt van allen deste bet mogen vorsorget werden“, sei es also jedermanns Christenpflicht, zuerst die Seinen zu versorgen wie zuvor. Der kleine Zusatz „so he touor etliken notrofftigen hefft besundergen geholpen“ bringt den Wunsch nach Kontinuität persönlicher Nächstendienste unmißverständlich zur Sprache.364 An eine Ablösung der individuellen Beziehung zwischen Helfer und Notleidendem durch eine „seelenlose“365 Armenbüchse war nie gedacht. Doch eine obrigkeitliche Neuorganisation des persönlichen Helfens wäre schlechterdings absurd gewesen: „Sůlck hret nycht yn disse bescreuene ordeninge / sunder vele leuer yn de predycke“366! Über den Horizont der privaten Fürsorge hinaus, die uns sowieso befohlen sei, waren nun jedoch besondere Vorkehrungen für diejenigen Armen und Bedürftigen nötig, „der sick nemand annympt / vnd were velichte ock etliken framen Christen tho vele / wo wol se sůlcks gerne dohn wolden. Jtem etlike arme synt ock so heymelick / dat me nycht wet wor se synt / ock synt se ehrer armt vnn notrofft nycht bekand / dat synt wol de alder armesten armen / mehr den de gemeynen bedelere. Vor sůlcke rechte armen wert desse versorginge maket 362
Heyden 1963; S. 28. Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 138. 364 Ebd.; S. 145. – Übertragungen: ,… nicht beschwert werde und die Armen, die verlassen sind [also keine Angehörigen haben], von allen desto besser versorgt werden können‘ – ,… so, wie er zuvor etlichen Bedürftigen besonders geholfen hat‘. – Ähnlich ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 878. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 77. 365 Schubert 1991; S. 116. – Ähnlich Bog 1975; S. 995. – Heyden 1963; S. 28. – Glüber 2000; S. 52. 366 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 10. – Übertragung: ,Solches gehört nicht in diese verschriftlichte Ordnung, sondern viel lieber in die Predigt“. Vgl. demgegenüber Stupperich 1979; S. 32: „Bugenhagen erwähnt zwar auch den Nachbarschaftsdienst, aber die eigentliche Versorgung der Armen und Kranken läßt er doch durch die amtliche Fürsorge geschehen.“ 363
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werden“367. Denjenigen Armen, die in der Großstadt beziehungslos dastanden, sollte also spezielle Aufmerksamkeit zukommen. Welche Typen von Bedürftigkeit dafür infrage kommen konnten, war in der Lübecker Ordnung gleich im Anschluß zusammengestellt: Hausarme, Handwerker und Arbeiter, „de dat ehre nycht versupen / edder vnntte tobringen / ßůnder arbeyden flitych / leuen yn allen ehren vnn redelicheyt / vnn hebben doch dar neuen vngelcke / dat se witlike nt lyden ane ehre schult.“368 Insbesondere war an solche gedacht, die durch Krankheiten oder Körperbehinderungen erwerbsunfähig geworden waren, und denen für die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt wohl manchmal zur Genesung verholfen werden mochte. Ebenso an Witwen und Waisen, die nichts verdienen konnten und niemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Hier war noch einmal betont, daß solche Frauen keine „lesterinnen“ sein sollten. Jungen Witwen, armen Jungfrauen und Dienstmägden konnte vielleicht zu einer günstigen Ehe verholfen werden (nach 1 Tim 5,13 f.).369 Der in diversen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts geradezu stereotyp umrissene Kreis der unterstützungswürdigen ,Hausarmen‘ umfaßte also ein mannigfaltiges Gemisch von Angehörigen verschiedener Unterschichten, die irgendwie in der Stadt ansässig sein mußten (daher der Begriff, der hingegen nicht auf Wohnungseigentum beruht), und deren ausgesprochene Erwerbsunfähigkeit als gemeinsames Bedürftigkeitskriterium gewertet werden konnte. Zu solchen Voraussetzungen kam ein rechtschaffener Lebenswandel als weiterer Prüfstein hinzu. Diejenigen Armen, die den zuständigen Diakonen noch unbekannt waren, sollten ihnen daher durch bekannte Bürger angezeigt werden, um die unbeabsichtigte Versorgung devianter Personen zu vermeiden.370 Allerdings muß betont werden, daß gerade Bugenhagen auf die Definition sozialen Normverhaltens, dem der Kreis unterstützungswürdiger Hausarmer zu gehorchen hatte, relativ geringe Anstrengung verwandte. Der restriktive Ton, mit dem etwa in der Großen Württembergischen Kirchenordnung (1559) deren Verhaltenskodex ausführlich als Unterstützungsbedingung erklärt und abweichendes Verhalten mit teils drakonischen Strafen belegt wurde371, fand in Bugenhagens Kirchenordnungen keine Entsprechung. Ihm genügten die Einschränkung, daß die betreffenden 367 Ebd.; S. 11. – Übertragung: ,… derer sich niemand annimmt. Und es wird vielleicht auch etlichen frommen Christen zu viel, obwohl sie das gern tun wollten. Item: Etliche Arme leben auch so versteckt, daß man sie nicht kennt; auch weiß man nichts von ihrer Armut und Bedürftigkeit. Das sind wohl die allerärmsten Armen, mehr als die gemeinen Bettler. Für solche rechten Armen wird diese Versorgung angestellt werden.‘ 368 Ebd. – Übertragung: ,… die das Ihre nicht versaufen oder nutzlos durchbringen, sondern fleißig arbeiten, in allen Ehren und Redlichkeit leben und doch dabei Unglück haben, daß sie ohne ihr Verschulden nachweisliche Not leiden ‘. 369 Vgl. insgesamt ebd.; S. 11 u. 158. – Ähnlich ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 136. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 222 f. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 117. 370 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 158. 371 Vgl. Kastenordnung, in: EKO 16 (2005), S. 200–222; hier 204. – Eine Zusammenstel-
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Personen keine Trinker und Verschwender, und der Wunsch, daß sie ehrbar und unbescholten sein sollten. Auch brauchten sich die Unterstützungsempfänger nicht mit Almosenzeichen auszuweisen, wie sie in süddeutschen Städten auch nach der Reformation noch lange üblich waren, um die würdigen Hausarmen von Fremden und Betrügern eindeutig unterscheiden zu können.372 Die armen Leute, so meinte Bugenhagen gleich zu Beginn der Lübecker Ordnung, könnten und sollten ihre Zuwendungen ja nicht auf Leistungsbasis verdienen, wie es für die Prediger und Lehrkräfte vorgesehen war, sondern allein aus christlicher Liebe müsse man ihre Not ansehen, um des heiligen Evangeliums willen.373 Hier liegt der Schlüssel für einen differenzierten Zugang zu Bugenhagens Fürsorgekonzeption, die keineswegs ordnungspolizeilichen Prinzipien folgte, sondern einer dezidiert pastoralen Ethik: Im Zweifelsfall sollte nicht das Recht regieren, sondern die Liebe. Wenn etwa empfohlen wurde, rechtschaffenen Handwerkern, die mit ihren Familien in Not geraten seien, zinslose Darlehen zu geben, so warnte Bugenhagen zugleich davor, den Schaden durch die Kreditvergabe noch zu vergrößern. „Ouersth de christlyke leue schall doch alweghe meyster synn.“374 Könnte der Schuldner das Geld nicht zurückzahlen, solle man Milde walten lassen – aber doch so, daß nicht Betrug gefördert werde.375 Solche Darlehen und die großzügige Handhabung der Rückzahlungsmodalitäten sind aus Braunschweig auch tatsächlich belegt: Dort hatte beispielsweise ein gewisser Hans Berndes 1540 Kleider und Hausrat an Juden verpfänden müssen, als er mit seiner Frau krank und damit erwerbsunfähig geworden war. Die Diakone des Martinikastens lösten seine Habe aus und gaben sie ihm, als beide nochmals erkrankten, „vmme goddes willen“ zurück, verzichteten jedoch zunächst auf die vollständige Rückzahlung der Auslösesumme, bis er seinen Unterhalt wieder allein bestreiten könnte. Berndes selbst schilderte den Vorgang auf einem Schuldzettel, der in den Rechenschaftsbüchern aufbewahrt wurde.376 Und in den Armenrechnungen der Stadt Stolp finden sich bisweilen über Jahrzehnte die Namen von Schuldnern, deren Rückstände offenbar nicht eingetrieben, sondern Jahr für Jahr angeschrieben wurden, bis man sie gelegentlich aus den Papieren strich.377
lung restriktiver Bestimmungen aus vornehmlich süddeutschen Kirchenordnungen hat Kreiker 1997; S. 102–107. 372 Vgl. Maué 1999; S. 134. 373 Vgl Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 12. 374 Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 224. – Übertragung: ,Aber die christliche Liebe soll doch stets Meister sein.‘ – Vgl. auch ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); 161. 375 Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 228. 376 Vgl. Braunschweig StA, Abt. B IV 11, Nr. 144, fasc. 4 (1540); weitere Beispiele in der ganzen Akte. 377 Vgl. z. B. Greifswald PLA ; Rep. 38 b Stolp, Nr. 846, fasc. [1], fol. [24 v°] (von 1556). – Ebd.; Nr. 860, fol. [33–35] (von 1575). – Zur Kreditvergabe vgl. ergänzend Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 228 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 161.
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Der Primat der Liebe galt auch für die geplante Abschaffung des Bettels. Diese war für Bugenhagen nicht Ausgangspunkt, sondern notwendige Konsequenz seiner Überlegungen. Damit die stadtbekannten Armen nicht zulasten der verschämten Hausarmen versorgt würden, mußten fortan alle Fürsorgeleistungen gleichmäßig über den Gemeinen Kasten laufen.378 Bereits in der Braunschweiger Ordnung war hierfür eine Übergangslösung vorgesehen, mit der die Nöte der Bettler ernstgenommen wurden, statt sie jäh zu kriminalisieren: „De rechten armen lde de v brt gan / mgen noch etlike weken v gan / so lange disse Caste in den swanck kumpt / dat me re namen dar na inscriue vnde se na gelegenheit rer notrofft vorsorge.“379 Fremde und arbeitsfähige Bettler sollten zwar auch nach Bugenhagens Kirchenordnungen nicht weiter geduldet werden, doch selbst in dieser Hinsicht war stets in christlicher Liebe auf den Einzelfall zu achten: Falls nämlich Fremde (aber „nycht eyn walfaerder edder landtlper“380!) während ihres Aufenthaltes krank werden, „by den wille wy dohn alse by den de by vns gewanet edder gednet hebben / Wente sulke achte wy dat se vns Got sulvest in rer nt tobesorgen thowerpet. Krege ock ouers to tiden eyn dorchreysende notrofftige van vnse gemeynen gude eynne porteke / id were gelt / hasen edder schoh / besondergen dorch vohrbede framer borgern edder der predicanten / schal id so nwe nicht gespannet syn / doch ane afbroke vnser armen.“381 Auch Schülern und Studenten sollte fortan zwar die Bettelei verwehrt bleiben, weil jeder seine eigenen Kinder zu ernähren habe. War dies im Einzelfall nicht möglich, blieben aber auch hier die Diakone aufgefordert, eine Lösung zu finden, damit man die ,Bettlerchen‘ nicht länger auf der Straße hätte.382 Gewisse Konzessionen konnten in den Kirchenordnungen selbst Müßiggängern und Verschwendern gemacht werden. Einen ehrsamen Lebenswandel als Würdigkeitskriterium zu fordern, war eine Sache – doch in schlimmen Notlagen trotzdem helfend einzugreifen eine andere, die für Bugenhagen zwingend aus dem Gebot der Feindesliebe folgte. Er riet freilich in aller Schärfe, einen 378
Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 220. Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 145. – Übertragung: ,Die rechten armen Leute, die nach Brot gehen, mögen noch etliche Wochen umgehen, solange dieser Kasten anläuft, damit man anschließend ihre Namen einschreibe und sie nach dem Stand ihrer Bedürftigkeit versorge.‘ 380 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 162. – Übertragung: ,kein Wallfahrer oder Landstreicher‘. 381 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 146. – Übertragung: ,… an denen wollen wir so handeln wie an denen, die bei uns gewohnt oder gedient haben; denn von jenen erachten wir, daß sie uns Gott selbst zuteilt, um sie in ihrer Not zu versorgen. Wenn aber auch zuweilen ein durchreisender Bedürftiger von unserem Gemeinen Gut eine Porteke kriegt, sei es Geld, seien es Hosen oder Schuhe, besonders auf die Fürbitte frommer Bürger oder Prediger hin, soll es so genau nicht genommen werden. Doch ohne Verlust für unsere Armen!‘ – Vgl. insgesamt auch ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 226. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 162. – Ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 878. 382 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 145. – Hierzu vgl. unten; S. 392 ff. 379
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deutlichen Unterschied zu den ehrsamen Hausarmen zu machen, „dat yd by den lůden nycht eynen schyn hebbe / gelyck efft wy de buerye sterckeden / vnde mennich boue mchte spotten vnde spreken. Jck wyl so henne leuen / werde ick olt edder krank / so mt my de gemene Caste wol vden / Nen / Ein stock vor de hůnde.“383 Der energische Ausruf zeigt, daß auch Bugenhagen nicht bereit war, die Bequemlichkeit arbeitsfähiger Unterstützungsempfänger noch finanziell oder gar moralisch zu fördern; aber er wußte, daß es auch bei solchen Leuten echte Not gab, die nicht leichtfertig ignoriert werden durfte. Trotz klarer moralischer Vorstellungen, die ganz der zeitgenössischen Tendenz entsprachen, sollte im Einzelfall die Nächstenliebe oberste Priorität behalten. Obrigkeitlich verordnete Policey lag nicht in seinem Blickfeld. Generell finden sich in den Städten und Territorien, wo Bugenhagens Ordnungen galten, für einen streng ordnungspolizeilichen Umgang mit armen Menschen im 16. Jahrhundert noch keine Indizien, auch nicht in der tatsächlichen Praxis der kommunalen Behörden. Eine Ausnahme, über die noch zu sprechen sein wird, machte Dänemark-Norwegen mit den Herzogtümern Schleswig und Holstein. In Norddeutschland aber entwickelten sich Tendenzen zu gestrengerer Policey auf diesem Gebiet erst im Laufe des 17. Jahrhunderts. Zunächst konzentrierte man sich vielmehr darauf, die von Bugenhagen gewünschten Charaktereigenschaften der Betroffenen durch Intensivierung der katechetischen und poimenischen Betreuung zu erreichen. In Hamburg wurde hierzu 1550 ein Armenexamen eingeführt.384 In der vorbereitenden Verordnung wurde eingangs Gottes Wille betont, „daß wir den [sic] gantzen Menschen an Leib undt Seele, als er von Gott geschaffen dienen sollen. Gott der Herr hat dem Menschen Leib und Seele gegeben undt der Mensch bedarff beÿdes an Leib undt Seele des Nechsten Trost und Hülffe.“385 Aus diesem Grund sollte neben dem leiblichen Almosen, wie es bereits seit zwei Jahrzehnten gültig war, die seelsorgerliche Betreuung der Armen verstärkt werden. Dazu gehöre „Unterrichtung in Gottlichen worte, undt Geistliche Nothwendige Disciplin, dardurch sie zum Predigt hören, Verstände Göttliches worts, rechten Glauben, der heiligen Sacramenten Gebrauch, Gottseligkeit undt Gehorsam göttlicher Gebote undt einen außwendigen Ehrbarlichen undt unsträflichen Lebens mögen gefordert undt geführet werden.“386 Viele der versorgten Armen würden nämlich Gottes Wort wenig achten und auch selten zum Abendmahl gehen. So sollten künftig in jedem Kirchspiel zweimal im Jahr die dort versorgten Armen durch Pastor und Kaplan 383 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 158. – Übertragung: ,… damit es bei den Leuten nicht den Anschein hat, als unterstützten wir die Büberei, und mancher Bube könnte spotten: ,Ich will so weiterleben; werde ich alt oder krank, so muß mich der Gemeine Kasten ja füttern.‘ Nein, ein Stock für die Hunde!‘ 384 Vgl. Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 84; hier fol. 36 v°–38 v°. 385 Ebd.; fol. 37 r°. 386 Ebd.
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„auff das Einfältigste nach dem Catechismo und undt [sic] der Armen Gelegenheit“387 geprüft und belehrt werden, wobei auch Superintendent und Hilfslektor des Johanneums hinzugezogen werden konnten. Ferner mußten selbstredend einige Diakone des jeweiligen Kirchspiels zugegen sein. Geplant waren schriftliche Zeugnisse, die zum Almosenempfang berechtigten. Die Einführung des Armenexamens paßt zur generellen Tendenz in der Stadt, Unterstützungsempfängern einen regelmäßigen Gottesdienstbesuch zur Auflage zu machen.388 In erster Linie wurde also die Verbesserung der Glaubenspraxis bei den Armen als humanitäre Vervollkommnung gewertet. Von der Einschränkung ihrer Rechte, von der Zurückweisung bestimmter Charaktere und Laster oder gar von Strafen ist hier keine Rede. Nur eine einzige Stelle verrät, daß „die Allmosen billich sollen gegeben werden oder entzogen“389, daß also ein Mißerfolg der katechetischen Unterweisung gegebenenfalls auch zum Verlust der Unterstützungsberechtigung führen konnte. Im selben Jahr 1550 wurde für die Stadt Braunschweig eine Bettelordnung erlassen, die die Berufung zweier Bettelvögte als Gehilfen der Diakone vorsah. Doch selbst dieser Text ist von einem durchaus freundlichen Ton geprägt: Die Vögte sollten prioritär „midt allem flithe / sunderligen achtungen vnd gudt vpsehent hebben / vnd doin / vp alle / de vmme de almissen hir bidden“390. Das freie Umhergehen von bedürftigen Bettlern blieb auch weiterhin „allene vme goiddes willen“391 erlaubt, so wie es Bugenhagen bereits 1528 zugestanden hatte, nur waren dafür nun bestimmte Tageszeiten festgesetzt. Insbesondere hatten die Vögte hierbei auf Ruhe und Ordnung zu achten. Wer roh und gewalttätig wurde, sollte aber erst mehrfach freundlich ermahnt werden, bevor Strafmaßnahmen angedroht und gebraucht werden konnten. Besonders bei Gelegenheiten, zu denen traditionell viele Arme zusammenkamen, war darauf zu achten, daß die Menge ruhig und bescheiden blieb: bei kirchlichen Familienfeiern reicher Bürger etwa oder bei der Verteilung von Almosen. Für diese Aufsichtsdienste durften die Vögte auch Trinkgelder nehmen.392 Zudem sollte auf den Friedhöfen, „der Cristen Slapkamer“393, für Ruhe gesorgt und Störer zur Rede gestellt oder be387
Ebd.; S. 38 r° Vgl. Postel 1980 (2004); S. 174 f. – Hatje 2006; S. 215 f. 389 Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 84; hier fol. 38 r°. – Zu ähnlichen, auch älteren Bestimmungen vgl. Maué 1999; S. 127. 390 Braunschweig StA, Abt. B IV 13 d, Nr. 2; hier Bl. 3 r°. – Übertragung: ,… mit allem Fleiß besondere Aufmerksamkeit und gute Aufsicht führen über alle, die hier um Almosen bitten‘. – Weitere Handschrift des Textes: Ebd., Nr. 7, Bl. 143 ff. 391 Ebd., Nr. 2; Bl. 3 v°. – Daß man, wie Anneliese Sprengler-Ruppenthal (2004; S. 189) meint, trotz Bugenhagens Kirchenordnung „des Bettelunwesens in Braunschweig nicht Herr geworden“ sei, ist also nur eine mögliche Lesart. Man folgte offenbar auch nach vielen Jahren noch dessen konzilianten Richtlinien. 392 Hier kam es wohl zu Unregelmäßigkeiten, denn von anderer Hand ist hinzugefügt, daß die Vögte von armen Leuten aber nichts fordern sollten. Vgl. ebd.; Bl. 4 v°. 393 Ebd.; Bl. 5 r°. 388
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straft werden. Das entsprach einer allgemeinen Tendenz, die im Mittelalter noch vielfältig genutzten Friedhöfe als rein sakrale Räume zu schützen.394 Zwar waren die Bettelvögte auch ermächtigt – nicht verpflichtet395 – , fremde, betrügerische und ganz unbekannte Bettler der Stadt zu verweisen, doch nicht ohne „den Diaken des wickbeldes ahntoßeggende, vp dat de na ghelegenhayt der wÿdt, dem wechtowÿßenden bedeler Eyne Almissen geuen“396. Das entsprach der von Bugenhagen empfohlenen „porteke“397 für Fremde, die auf einer vergleichsweise großzügigen Handhabung der tradierten Ausschlußkriterien beruhte. Sogar der Verweis auf Paulus (Gal 6,10) ist in die Bettelordnung von 1550 übernommen worden. Erst recht müsse den armen Kindern und Schülern geholfen werden. Für sie sollte der Schulbesuch um Gottes willen frei sein.398 Und schließlich waren die Vögte angewiesen, sich Kranke und Behinderte genau anzusehen und sie dann zu den Diakonen zu schicken, denn: „Offthen vellichthe dorch arsthen / ohne konde ghehulpen werden / vnd nicht dorfften Jmmer Bedelers bliuen“399. Auch dieser Gedanke einer nachhaltigen Verbesserung der sozialen Lage fand sich bereits in Bugenhagens Vorschlägen. Obwohl also auch in Braunschweig und Hamburg obrigkeitliche Ordnungen eingeführt wurden, die im weitesten Sinne auf eine Disziplinierung armer Unterschichten abzielten, ist hier doch ein durchweg freundlicher Ton erkennbar. Nächstenhilfe aus christlicher Liebe stand in beiden Texten unmißverständlich im Vordergrund, wohinter die Möglichkeit scharfer Sanktionen auffällig weit zurücktrat. Die vergleichsweise dehnbaren Bestimmungen zum Empfängerkreis eröffneten den Diakonen gewisse Spielräume, die auch wirklich im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten genutzt wurden: Nach Ausweis der Braunschweiger Kastenrechnungen etwa wurden nicht allein die registrierten Hausarmen, sondern regelmäßig auch Fremde mitversorgt. So kannte die Rechnung des Katharinenkastens eine eigene Sparte: „Vthgedelt almosen denne so nychteß alle wekenn thor kasten kamen ock fromde bedelersß dar myt güthwillige frome lüde vp den 394 Vgl. Katharina Simon-Muscheid: Lebende, Tote und Dämonen: der Friedhof als Ort der Begegnung, in: Engel, Teufel und Dämonen. Einblicke in die Geisterwelt des Mittelalters (hg. v. Hubert Herkommer u. Rainer Ch. Schwinges). Basel 2006, S. 103–118; hier 104, 107 f. u. 115. 395 An anderer Stelle (Bl. 5 r°) begegnet die Wendung ,macht vnd beueel hebben‘, die sowohl die Befugnis als auch die Verpflichtung zum Handeln ausdrückt, und die hier (Bl. 3 r°) fehlt. Bei der Ausweisung aus der Stadt sollte der Handlungsspielraum großzügig bemessen sein. 396 Braunschweig StA, Abt. B IV 13 d, Nr. 2; hier Bl. 3 r°. – Übertragung: ,… den Diakonen des Weichbildes bescheid zu geben, damit diese je nach Sachlage dem auszuweisenden Bettler ein Almosen geben‘. 397 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 146. – So auch ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 226. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 162. – Ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 878. 398 Vgl. Braunschweig StA, Abt. B IV 13 d, Nr. 2; hier fol. 4 r°. 399 Ebd. – Übertragung: ,Oftmals könnte ihnen vielleicht durch Ärzte geholfen werden, und sie müßten nicht immer Bettler bleiben‘.
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karckhoüen ock uor oren hüssen vnde sünst nycht besweret vnd vnsen armen de almosen nicht enttogen werde.“400 Und für die Hamburger Armenfürsorge hat Frank Hatje durch archivalische Stichproben herausgefunden, „dass der Anteil derer, die als Herkunftsort Hamburg oder dessen Landgebiet angaben, nicht über 60 % lag.“401 Das entsprach der von Bugenhagen vorgegebenen Richtung. Auch der Auslegungsspielraum beim Ausschluß normabweichenden Verhaltens war in den Ordnungstexten durch ausgesprochen unscharfe Klassifikationskriterien sicher vorsätzlich breit gehalten worden. Nicht auf der Ausgrenzung unerwünschter Personen, sondern auf ihrer Verbesserung und Integration lag dort das argumentative Hauptgewicht. Dies änderte sich, wie bereits angedeutet, erst im Laufe des 17. Jahrhunderts. So war in Pommern seit 1600 eine Verordnung Herzog Barnims X. in Kraft, die drakonische Strafen für „gardende Knechte, auch fremde Bettler, Zigeuner, Rohrleute, Wahrsager und dergleichen Landfahrer und Mßiggnger“ vorsah und auch deren Unterstützer mit Gefängnis bedrohte.402 Und im Braunschweiger Stadtarchiv403 haben sich Vordrucke für Bettelkonzessionen aus den 1660 er Jahren erhalten (Abb. 15), die in Verbindung mit entsprechenden Registern umsingender Armer deutlich belegen, daß der Bettel inzwischen dauerhaft beibehalten, der hierzu berechtigte Kreis jedoch amtlich eingegrenzt und kontrolliert wurde. Der Trend zu einer strengeren Policey im Fürsorgewesen läßt sich also anhand von Definitions‑ und Exklusionskriterien verschiedener Bettlertypen systematisieren: Gründe für härtere Sanktionen konnten entweder darin bestehen, daß ein generelles Bettelverbot (und damit auch ein generelles Almosenverbot) mißachtet wurde – oder daß dort, wo das Heischen regulär gestattet war, partielle Einschränkungen unterwandert wurden, etwa die Sittlichkeitsanforderungen an geduldete Bettler oder der Ausschluß fremder und fahrender Leute. Wo Bugenhagens Fürsorgebestimmungen jede Form von Bettel (aber nicht die solidarische Nachbarschaftshilfe) überflüssig machen und allenfalls Ausnahmen gestatten sollten, setzte man, wie zu sehen war, im 16. Jahrhundert noch zunächst auf den Primat der Liebe, auf humanitäre Besserung der Leute durch Predigt und Katechese und auf die Verantwortung der Geistlichen und Diakone, während die Rolle der welt400 Ebd., Abt. F I 4, Nr. 469; hier fol. 125 v°. – Übertragung: ,Almosen, das denjenigen ausgeteilt wurde, die nicht jede Woche zum Kasten kommen, auch fremden Bettlern, womit gutwillige fromme Leute auf den Kirchhöfen wie auch vor ihren Häusern usw. nicht beschwert und unseren Armen die Almosen nicht entzogen werden.‘ – Vgl. beispielsweise auch die Gaben an Unbekannte am Andreaskasten: Ebd., Abt. B IV 11, Nr. 213, fol. 133 r° et passim. Ebd.; Abt. F I 5, Nr. 623, fol. 7 v° et passim. 401 Hatje 2006; S. 212. 402 Vgl. *[Barnim X. von Pommern-Stettin:] Herzogliches Edict, wider die gardende Knechte, fremde Bettler, Zigeuner, Landfahrer, Mßiggnger u. dgl. Von 1600, in: Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rgischer Landes-Urkunden, Gesetze, Privilegien, Vertrge, Constitutionen und Ordnungen (hg. v. Johann C. Daehnert). Stralsund: Struck 1769, S. 418–421. 403 Vgl. Braunschweig StA, Abt. B IV 13 d, Nr. 7; hier Bl. 64–68 v.
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lichen Policey zurückstand. Wo jedoch der Bettel grundsätzlich erlaubt blieb, entstand sehr früh die Notwendigkeit, den hierzu berechtigten Personenkreis genau zu definieren, von illegitimen Bettlern durch klare Kriterien deutlich abzugrenzen und durch konsequente Mobilitätsbeschränkungen innerhalb eines ordnungspolizeilich überschaubaren Radius zu halten. Dies war in Skandinavien der Fall. Die weltliche und geistliche Gesetzgebung König Christians II. hatte 1521 und 1522 die europäischen Tendenzen zu einer Privilegierung würdiger Bettler gegenüber unwürdigen, also gesunden und arbeitsfähigen Bettlern, die damit als Müßiggänger galten, aufgenommen, und denjenigen, die ohne Notwendigkeit vom Almosen leben wollten, die Vertreibung angedroht.404 Hierauf aufbauend hatte Christian III. im ersten Kopenhagener Rezeß 1536 den so definierten unwürdigen Bettlern sogar die Todesstrafe angedroht405, die jedoch im zweiten Kopenhagener Rezeß 1537 wieder zu einer gewaltsamen Vertreibung aus der jeweiligen Stadt abgemildert wurde. Demgegenüber sollten den erwerbsunfähigen Armen durch zwei beauftragte Bürger Abzeichen gegeben werden, die sie zum Betteln in den Städten legitimierten. Auf dem Lande galt für die Harden (Gerichtsbezirke) dasselbe Prinzip wie auf der Ebene der Städte.406 Bis zur Reformation hatte sich also ein Verfahren entwickelt, das sich vom spätmittelalterlichen Fürsorgesystem süddeutscher Städte keineswegs unterschied: Die Betroffenen sollten überprüft, als unterstützungswürdig gekennzeichnet und zum Betteln legitimiert – oder zur Arbeit angehalten und bei illegal versuchter Bettelei unter Prügel vertrieben werden. Doch die Reformation bedeutete in dieser Hinsicht keine prinzipielle Änderung. Weder in der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz von 1537 noch in den Rette Ordinans von 1539, auch nicht in der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung von 1542 wird die Möglichkeit einer Abschaffung des Bettels überhaupt erwogen. Das könnte sich jedenfalls zum Teil aus der Wirkung altskandinavischer Fürsorgetraditionen erklären, in denen das Engagement der Familienverbände ohnehin einen ausgesprochen hohen Stellenwert hatte, während Bedürftige ohne vermögenden Familienanschluß nach dem Rechtsprinzip des fatœkra manna flutning stets über Nacht verpflegt und dann zum nächsten Hof weitergeleitet werden mußten.407 Daß Arme über Land zogen, war daher in Skandinavien nicht so stark bemißtraut wie im übrigen Europa. Die Gesetzgebung der Könige Christian II. und Christian III. behielt die Rechtmäßigkeit des Bettelns für unterstützungswürdige Personen durchaus bei, folgte jedoch dem europäischen Trend zur ordnungspolizeilichen Unterscheidung verschiedener Bettlertypen. Diese doppelte Grundentscheidung wurde in der Reformation nicht angetastet. 404
Vgl. Dahlerup 1979–1981; S. 197. – Brinker 1994; S. 33. Vgl. Brinker 1994; S. 38 u. 52. – Riis 1997; S. 131. 406 Vgl. Brinker 1994; S. 38 f. u. 52. 407 Vgl. H[arald] Ehrhardt: Armut und Armenfürsorge. B. Armenfürsorge. IV . Sonderformen in Skandinavien, in: LMA 1 (1980); Sp 990–992; hier 992. 405
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Die Konzentration der Fürsorgefinanzen in kommunalen Armenkassen brachte vielmehr noch eine Verstärkung des Heimatprinzips mit sich: 1552 befahl Christian III., auf allen Hardengerichten zu verkünden, daß fortan jeder Arme in seinem Heimatort bleiben und dort versorgt werden solle. Falls die Kapazitäten einer Gemeinde nicht hinreichten, sollte der Pastor einzelne Bettelkonzessionen ausstellen, die zum Umgehen in der ganzen Harde berechtigten.408 Mit dem Koldinger Rezeß wurde das Verfahren 1558 reichsweit verbindlich.409 Zugleich wurde allen Lehnsmännern, Adligen und Bürgern erlaubt, arbeitsfähige Bettler zur Arbeit anzuhalten und in die Knechtschaft zu nehmen.410 Für unterstützungswürdig befundene Personen hingegen sollten ab 1574 zusätzlich durch die Hardesvögte registriert werden, ab 1587 durch die Gemeindepfarrer, in den Städten auch durch Ratsverordnete. Dabei wurde die Ausgabe von Bettelmarken beibehalten, die nunmehr so gestaltet waren, daß aus ihnen die Heimatgemeinde leicht ersichtlich war. Grenzübertritt wurde schwer geahndet.411 Zugleich wurde freilich auch mangelnde Hilfsbereitschaft unter Strafe gestellt.412 In Skandinavien, wo die reformatorischen Kirchenordnungen schlechterdings keine Aussagen über den unterstützungswürdigen Personenkreis enthielten, wurde mithin die ordnungspolizeiliche Richtung des Fürsorgewesens nicht nur fortgesetzt, sondern sogar noch verstärkt. Insbesondere das Heimatprinzip setzte sich bald auch in Schleswig-Holstein mit größter Selbstverständlichkeit durch – nicht allein im Blick auf den Straßenbettel, sondern auch in der geschlossenen Armenpflege. Dies belegt eindrücklich ein Vorgang aus der Stadt Schleswig vom Herbst 1624.413 Eine gewisse Anna Petersen hatte sich dort brieflich um Hilfe an Herzog Friedrich III. gewandt, damit er ihrer Bitte um Aufnahme ins städtische Heilig-Geist-Spital nachhelfen möge. Solche Gesuche sind häufiger belegt und führten manches Mal tatsächlich zum Erfolg.414 Auch diesmal befahl der Herzog unter Beifügung des Bittschreibens, die Frau sei aufgrund ihrer Supplikation unverzüglich ins Heilig-Geist-Spital aufzunehmen. Doch Bürgermeister, Rat und Armenvorsteher der Stadt protestierten: Mit einigem Befremden habe man ver408
Vgl. Brinker 1994; S. 47 f. Vgl. Den Koldingske reces, in: Corpus Constitutionum Daniæ. Forordninger, recesser og andre kongelige breve, Danmarks lovgivning vedkommende 1558–1660 (hg. v. V. A. Secher). Bd. 1, Kopenhagen 1887, S. 1–50; hier 43. – Brinker 1994; S. 48. – Riis 1997; S. 131. 410 Vgl. Brinker 1994; S. 53. 411 Vgl. ebd.; S. 47–51, insbesondere Abb. 1–2. – Für Schleswig-Holstein vgl. die einschlägigen Beispiele bei Sievers / Zimmermann 1994; S. 67–69. – Johann Adolph: Eyderstedtisches Land-Recht 1591 (1794); S. 149, § 9. 412 Vgl. Reces om, hvorledes der skal forholdes med betlere (1587), in: Corpus Constitutionum Daniæ. Forordninger, recesser og andre kongelige breve, Danmarks lovgivning vedkommende 1558–1660 (hg. v. V. A. Secher). Bd. 2, Kopenhagen 1889 f., S. 497–508; hier 503. – Brinker 1994, S. 46 f. 413 Vgl. Schleswig SHLA , Abteilung 7, Nr. 5910. 414 Vgl. etwa ebd., Nr. 5638 (19 undat. Briefe, Husum, erste Hälfte 17. Jh., ohne Antwort). – Ebd., Nr. 5771; fasc. 4 (Kiel 1621, mit positivem Bescheid). 409
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nommen, „Welchermaßen sich dieß Weib nicht entferbet, mit vielem vnwahrhafften Berichte E: F: G: vndter Augen vnd anzulauffen, Derowegen auch eine notturfft zu sein erachtet, Auff ihre Supplication So weit zu Andtwordten, das vns nicht Bewust, Ob sollte sie in dieser Statt Burtig, oder Lange Jahre darinnen häußlich geseßen sein, Weniger Schatz oder Schulde entrichtet, oder iemahls Burger gleich vnd Recht gethan haben.“ Mit der Zurückweisung der Rechte Anna Petersens an einer Altersversorgung wollte man jedoch keinesfalls den Eindruck erwecken, als interessierten die Nöte der Armen dort niemanden. Im Gegenteil, die Leistungen des Schleswiger Fürsorgesystems, die in diesem Brief ausführlich geschildert wurden, seien stets „den hauß-Armen, nemblich den Alten Burgern, welche dieser Statt odera Lang und viele Jahr her getragen, vnd endtlich BeAldtert vnd verArmet“, zugute gekommen, und zwar als „wohlverdhieneten vndterhalt“. Keineswegs dürfe demgegenüber zugelassen werden, daß „vnß dieses weib, welche in J: F: G: Statt Schleswig nicht gebohren, viel weniger da gewohnet, einige Schazung vnd vnpflicht helffen tragen, oder scheinigermaßen vmb die Gemeine verdhienet gemacht obtrudiret, vnd zum widerwillen auffgenommen, vnd also vnsern eigenen StattArmen, deren sich Leider mehr, dan zuviele Befinden, das Brodt furm Maule enzogen vnd abgeschnitten werden soldte“. Vielmehr solle sie nach Westerrönfeld geschickt werden, wo sie geboren sei. Für die Vertreter der Stadt Schleswig bestand kein Zweifel daran, daß nicht allein jede Kommune für die eigenen Armen zu sorgen habe, sondern auch geradezu verpflichtet sei, zu deren Schutz andere Bittsteller von der städtischen Fürsorge auszuschließen, die weder durch Geburt noch durch besondere Leistungen ein Heimatrecht beanspruchen konnten. Ausdrücklich wurde die Versorgung der Hausarmen als deren wohlverdienter Unterhalt, als Belohnung für geleistete Dienste und Beiträge bezeichnet. Bugenhagens theologische Überlegungen, wonach die Fürsorge gerade nicht aufgrund von Verdiensten, sondern aus freier christlicher Liebe gewährt werden sollte, waren hier nicht angekommen. In den Kirchenordnungen für Dänemark-Norwegen und Schleswig-Holstein fehlten solche Erwägungen ganz. Den Entwurf der dänischen Theologen in dieser Hinsicht zu ergänzen, scheint Bugenhagen nicht für nötig gehalten zu haben. Das Fehlen einer theologischen Basis unter dem Primat der Liebe führte etwa zu der paradoxen Situation, daß auch die Schleswiger ihrerseits unter Hinweis auf das Heimatprinzip abgewiesen wurden, als sie König Christian IV. in Hadersleben um finanzielle Hilfe beim Neubau des Armenhauses baten: Im zitierten Brief berichteten sie nämlich dem Herzog verbittert, „ob wol Burgermeister Rath vnd ganze Gemeine dazumahl Beÿ Jhrer Kön: Maÿtt: supplicando vmb eine gleichmaßige Steur vnderthenigste ansuchung gethan, Man auch von ihrer Kön: Maÿtt officirern gute vertröstung erlanget, das man deroselben nur nach haderschleben, wohin sie auff den Landtag verreißt, folgen soldte, Vnd der damahliger Vorsteher demnach dahin abgefertiget vnd vnkosten auffgelauffen, So haben sich doch Jhre Kön: Maÿtt: wider verhoffen gnedigst erkleret, das sie mit diesem Armenhauß
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nichtes zuschaffen, Besundern in dero Ländern vnd herrschafften selbst Armen gnug hetten, die da versorget werden müsten“. Der Zusammenhang scheint nicht bemerkt worden zu sein. Majestät waren nur auf höherer Ebene demselben Prinzip gefolgt. Der Verstärkung des Heimatprinzips entsprachen zur selben Zeit die zunehmenden Klagen und Maßnahmen gegen Landstreicher, fremde Bettler und Landsknechte.415 Rechtschaffener Bettel war freilich beibehalten worden. In Angeln notierte 1635 ein Visitator: „Hausarme müssen ihren Unterhalt kümmerlich vor den Thüren suchen, wogegen mit fremden Herumstreichern große Unordnung herrscht.“416 Während des Dreißigjährigen Krieges und danach wurden zwar verstärkt Konzessionen und Fürbittbriefe für landfahrende Bettler ausgestellt. Aus den Armenrechnungen der holsteinischen Gemeinde Neuenkirchen (1644–1732) geht deutlich hervor, daß daraufhin die aus nah und fern kommenden Fremden aus den im Gottesdienst eingesammelten Gaben, die Hausarmen dagegen aus Renteneinkünften der Armenkasse Unterstützung fanden. Die zunehmende Verbreitung von Bettlerzeugnissen unterschiedlicher Aussteller scheint aber auch zu Verwirrung, weiteren Mißbrauchsmöglichkeiten und zu neuer Ablehnung geführt zu haben.417 Noch 1736 äußerte König Christian VI. sein Mißfallen über „eine Menge sowohl herumvagirenden, meistens auswrtigen und frembden Herren-losen Gesindels, als auch einheimischer Gassen-Bettler […], welche nicht nur Unseren Unterthanen auf viele Weise beschwerlich fallen, sondern ebenmßig mehrentheils den wahren Armen, alten, gebrechlichen, verwayseten und nothleidenden Leuten die Allmosen gleichsam vor dem Munde wegnehmen“418. In dieser scharfen Verordnung wider das herumschweifende Herrenlose Gesindel waren dieselben Deklassifizierungsargumente wirksam wie zweihundert Jahre zuvor, nur die Sanktionsmöglichkeiten hatten sich weiterentwickelt: Fremde Bettler, zu denen nun auch ausdrücklich bettelnde Soldaten, Zigeuner, Handwerker und Gesinde gezählt wurden, waren jetzt mit sechswöchiger Festungsarbeit bedroht, im Wiederholungsfall mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe. Solche Personen mußten von jedermann sofort angezeigt werden: „Wer mit den Bettlern durch die Finger siehet, oder den Bettel-Voigt hinderlich fllt, ist
415 Vgl. beispielshalber für die Landschaft Angeln Gerhard Hoffmann: Die Armenfürsorge im Kirchspiel Tolk, in: Jahrbuch des Heimatvereins der Landschaft Angeln 65 (2001), S. 21–34; hier 21 f. – Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt: Sozialstruktur und Randgruppen der Herzogtümer 1500–1867. Ein Versuch, in: Arme, Kranke, Außenseiter. Soziale Randgruppen in Schleswig-Holstein seit dem Mittelalter (hg. v. Ortwin Pelc u. Jürgen H. Ibs). Neumünster 2005 (Studien zur Wirtschafts‑ und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 36), S. 9–40; hier 29. 416 C[laudius] J. Rickmers: Geschichte des Kirchspiels Satrup bis zum Jahre 1800. Gettorf 1902; S. 135. Ein ähnliches Beispiel aus Tolk S. 137 f. 417 Vgl. insgesamt D[etlef] Detlefsen: Ein Beitrag zur Geschichte des Bettels, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 31 (1901), S. 115–135. 418 Christian VI . von Dänemark 1736 (1749); S. 533.
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illkhrlich zu bestraffen“419. Mittlerweile gab es also Bettelvögte, oft gleichfalls w Angehörige der Unterschichten, denen die Policey über ihre Standesgenossen oblag, und die hierfür zum Teil bezahlt wurden.420 Ausnahmen galten nur bei solchen Fremden, „welche nicht mehr arbeiten knnen, und sonsten alt, krank und gebrechlich, auch nicht mehr im Stande sind, nach ihrer Heimath sich zu begeben, als welche aus Christlicher Liebe aus der Armen-Cassa desjenigen Orts, wo sie sich bishero aufgehalten, auf gleichen Fuß, wie die dortigen einheimischen Armen […] verpfleget und versorget werden sollen, dessen aber für das Zuknftige kein Frembder mehr sich zu getrsten hat.“421 Auch aus religiösen und anderen Gründen Verfolgte konnten unter Vorlage entsprechender Atteste ins Land gelassen werden, sollten aber nicht gleich betteln, sondern gehorsam und kooperativ weitere Anweisungen abwarten. Sie mochten gegebenenfalls unter Begleitung des Bettelvogts sammeln und mit einer Zehrung aus der Armenkasse, „wann sie es vermag“, weitergeschickt werden.422 Diejenigen Armen hingegen, die in den Herzogtümern Schleswig-Holstein beheimatet waren, sollten den Ort aufsuchen, zu dem sie gehörten, wobei die Gebrechlichen von Ort zu Ort zu transportieren und ihrer Heimatgemeinde zu überstellen waren, „und soll sodann die Obrigkeit dieses letzteren Orts sich nicht entlegen, solche Personen auf‑ und anzunehmen, selbige unterzubringen, und ihnen den ntigen Unterhalt aus der Armen-Casse zu verschaffen.“423 Hier tauchte das altskandinavische Prinzip des fatœkra manna flutning in modernisierter Form wieder auf. Das maßgebliche Unterscheidungskriterium der ,rechten Armen‘ blieb die Erwerbsunfähigkeit. Auch in dieser Hinsicht hatte sich seit dem Spätmittelalter nichts geändert. Personen, die sich zu arbeiten weigerten, sollten unter die Miliz oder ins Zuchthaus gesteckt werden, „bis sie der Arbeit gewohnet worden, und Hoffnung von sich geben, daß sie knftig ihr Brodt mit ihrer Hnde Arbeit, oder auf andere Art ehrlich zu suchen und zu verdienen, Lust und Willen haben.“424 Zu diesem Zweck waren bereits vom Beginn des 17. Jahrhunderts an die Zuchthäuser als Disziplinierungsinstitute eingerichtet worden: in Lübeck das Arbeits‑ und Werkhaus St. Annen (1601), in Kopenhagen das Zucht‑ und Waisenhaus als zentrale Einrichtung für das gesamte Doppelreich (1605) und in Hamburg das Werk‑ und Zuchthaus (1618).425 In der Lübecker Armenordnung von 1601 war 419
Ebd.; S. 541. Vgl. Bräuer 2006. 421 Christian VI . von Dänemark 1736 (1749); S. 533 f. 422 Vgl. ebd.; 536. 423 Ebd.; S. 542. 424 Ebd.; S. 541. 425 Vgl. Dirk Brietzke: „Hier wird der Bettler-Schwarm gehäuft hereingebracht, der durch den Winsel-Ton das Ohr verdrießlich macht“ – Zucht‑ und Arbeitshäuser in norddeutschen Hansestädten der Frühen Neuzeit, in: Arme, Kranke, Außenseiter. Soziale Randgruppen in Schleswig-Holstein seit dem Mittelalter (hg. v. Ortwin Pelc u. Jürgen H. Ibs). Neumünster 2005 420
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größter Wert darauf gelegt, daß nur die arbeitsfähigen Armen ins St.-Annen-Haus gebracht werden sollten. Arbeitsverweigerung war dort mit Essensentzug „und andern domesticis castigationibus“426 zu bestrafen. Wer zum Arbeiten zu krank oder zu alt war, sollte jedoch in eins der Hospitäler eingeliefert werden. Diese weigerten sich aber oft, so daß es bereits 1602 die ersten Konflikte gab – wohl stets zulasten der Betroffenen.427 Im 17. Jahrhundert kam es in Lübeck zu straßenkampfartigen Szenen, wenn aufgegriffene Bettler von Passanten oder Straßenkindern wieder befreit und die Armenpolizei verprügelt wurde.428 Dementsprechend wurden die Maßnahmen weiter verschärft, die Kriminalisierung der Bettler weiter vorangetrieben. Dirk Brietzke, der die norddeutschen Zuchthäuser genauer untersucht hat, interpretiert die Entwicklung ambivalent: „So wie die häufig wiederholten Mandate gegen das Betteln und die Behinderung der Vögte darauf hindeuten, dass der Erfolg der Verfügungen begrenzt blieb, sind doch die zahlreichen gewalttätigen Akte der Widersetzlichkeit umgekehrt ein Indiz dafür, wie stark der disziplinierende Druck empfunden wurde, der von den Zucht‑ und Arbeitshäusern ausging.“429 Die beschriebene Tendenz zur ordnungspolizeilichen Sozialdisziplinierung hatte jedoch kein konfessionelles Fundament. Insbesondere die untersuchten Kirchenordnungen können für die Ausbildung repressiver Policey in keiner Weise verantwortlich gemacht werden. Wie zu sehen war, fehlten Aussagen zum unterstützungswürdigen Personenkreis in der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz und in der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung völlig, während Bugenhagens Fürsorgebestimmungen in den übrigen Ordnungen von einem ausgesprochen konzilianten Ton geprägt waren.
6. Armenregister, Verteilungsbilanzen und Rechenschaftsberichte Bugenhagens Fürsorgemodell unter dem Primat christlicher Liebe und den stärker ordnungspolizeilich orientierten Armenordnungen anderer Verfasser war gemeinsam, daß sie beim Einsatz der verfügbaren Mittel auf größtmögliche Effizienz und Gerechtigkeit abzielten. Die unterschiedlichen Definitions‑ und Exklusionsmodelle, die auf den letzten Seiten vorgestellt wurden, zeigen dies deutlich – gleichgültig, wie streng oder großzügig der Kreis der Unterstützungswürdigen dabei abgesteckt war. Wo der Bettel grundsätzlich erlaubt blieb, war seit dem Spätmittelalter die Vergabe von Lizenzen üblich geworden, mit denen (Studien zur Wirtschafts‑ und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 36), S. 101–112. – Zum Kopenhagener Zucht‑ und Waisenhaus vgl. Brinker 1994; S. 58–72. 426 Vgl. Armen-Ordnung, wie dieselbe zwischen E. E. Rath und der Bürgerschaft beliebet und exequieret A°. 1601, in: Neue Lübeckische Blätter 8 (1842), S. 314 f., 323 u. 331 f.; hier S. 314 f. (§ 4). 427 Vgl. Brietzke 2005; S. 107 f. 428 Vgl. ebd.; S. 110. – Ähnlich Bräuer 2006; S. 132–134. 429 Brietzke 2005; S. 111.
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der Bewegungsradius, das Sozialverhalten und die Anzahl anerkannter Bettler unter Kontrolle gebracht, unerwünschte Bettler dagegen ferngehalten werden sollten. Wie zu sehen war, wurde hier nicht allein mit dem gemeinen Nutzen argumentiert, sondern auch mit Effizienz‑ und Gerechtigkeitskriterien – galt es doch, die unterstützungswürdigen Bettler vor den illegitimen Ansprüchen von Betrügern und Fremden zu schützen. Aber auch unabhängig davon, ob der Straßenbettel erlaubt blieb oder nicht, bedingten stets das Heimatprinzip und die verschiedentlich angesprochenen Würdigkeitskriterien notwendigerweise die Anlage örtlicher Personenlisten, um den Kreis der Unterstützungsempfänger handlungsorientiert überschauen und die Hilfen pragmatisch an die individuellen Notlagen anpassen zu können. Man hat hier mit einem gewissen Recht von einer „Bürokratisierung“ der Armenfürsorge gesprochen.430 Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß gerade Bugenhagen die Anlage von Armenregistern, Verteilungsbilanzen und Rechenschaftsberichten nicht als obrigkeitlichen Verwaltungsakt begriff, sondern lediglich als Mittel zum Zweck, als Instrumente einer am Einzelfall orientierten Ausübung des evangelischen Diakonats. Zugleich entsprach seine Aufforderung zu sorgfältiger Rechenschaft auch dem öffentlichen Charakter seines Fürsorgemodells, wie er bereits mehrfach angeklungen ist. Im Ergebnis sind die überlieferten Listen und Rechnungen heute auch erstrangige Quellen zur tatsächlichen Wirksamkeit von Bugenhagens Plänen. All dies wird sich im folgenden erweisen. Wenn künftig die zentralen Armeninstitute der einzelnen Kirchspiele die ortsbekannten Straßenbettler nicht zulasten verschämter Armer bevorzugen sollten, so war eine gerechte Erfassung aller bedürftigen Einwohner geboten, unabhängig vom tradierten Status des ,Bettlers‘, der idealerweise ganz aufgegeben werden sollte. Die Diakone waren also auf zuverlässige Informationen angewiesen. Fremd‑ und Selbstanzeige waren gleichermaßen denkbar: „Den diakenen konen de notrofftigen sick angeuen edder angeuen laten dorch frame lde / besondergen dorch de predicanten. So scholen denne de diakene dar hen schicken / so id vnbekande lde synt / vnde laten besehn wat dar nt is. etc.“431 Neben der eigenen Vorsprache waren also auch die Empfehlung glaubwürdiger Dritter und Hausbesuche zur Überprüfung der Bedürftigkeit vorgesehen – ein Verfahren, das bereits seit dem Spätmittelalter in Süddeutschland praktiziert worden war. So kannte schon die Nürnberger Bettelordnung von 1387 ein strenges Aufnahmeverfahren, das an die Aussage von zwei bis drei angesehenen Bürgen gebunden war, die die Bedürftigkeit des Antragstellers zu beeiden hatten.432 Demgegen430
Vgl. etwa von Hippel 1997; S. 47. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 139. – Übertragung: ,Den Diakonen können die Bedürftigen sich anzeigen oder anzeigen lassen durch fromme Leute, besonders durch die Prediger. Daraufhin sollen die Diakone hinschicken, wenn es unbekannte Leute sind, und untersuchen lassen, woran es fehlt usw.‘ 432 Vgl. oben; S. 93 f. 431
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über verzichtete Bugenhagen auch hier auf genaue Anweisungen zur Inspektion der Betroffenen. Zwar warnte auch er mit Nachdruck vor Betrügern und Verschwendern, nahm die Diakone aber vorsorglich sogar in Schutz, falls doch einmal die Falschen berücksichtigt würden. Ihm kam es darauf an, „dat se nicht sparen / wr id bewant is / so vele alse de gauen dregen konen / wedderu dat se nicht lsgter edder schendigen (bouen) geuen mit wetende / krigen se sus wat wech mit bedregerye so howen se hen vnde kamen nicht wedder / de Diakene hebben id nicht en v rer buerye willen gegeuen sonder v Gades willen / vnde Christus wert dat sulueste ock annmen alse dat andere.“433 Dieser erneute Verweis auf die Weltgerichtsrede Christi (Mt 25) ist von der Braunschweiger in die Hamburger Ordnung übernommen worden.434 Bereits im Sendbrief von 1526 hatte Bugenhagen die Gefahr übertriebener Sparsamkeit größer eingeschätzt als die, gelegentlich einmal von Betrügern und Lügnern überlistet zu werden, denn würden die Diakone „suntwelen bedragen alse mynschen de ren flt doen dat schadet nicht / weddermme dat se ock nicht so vnbermhertich synt / dat se nemande wolden guen edder thoguen“435. Lediglich die sogenannte Gotteskastenordnung der Nikolaikirche zu Hamburg (1527), ein Text also, der von der dortigen Gemeinde zwischen Bugenhagens Sendbrief und seiner Kirchenordnung beschlossen wurde, machte genaue Angaben darüber, „wo de besichtinge vnde beschriuinge der armen geschenn schole: Darnegest scholenn de twolff personen Jm suluenn kerspell, dorch alle straten vnnde twitenn Vnnde by der Stadtt murenn vmmeghaenn, Vnnde denn armoett besichtigenn, der armenn Vnde krancken notrofft, Jdt synn Man, offte fruwenn, Junck offte oeldt, anteken, Vnde Jdermanne na ghelegenheyt ßoüele moggelick tho helpende […]. Unnde wanner men eyn mall den armth alßo besichtiget vnnde beschreuenn hefft, Szo scholenn dennoch alle manthe, de twell vorstendere vp dat nyge vmmeghaenn, Jdermans gelegenheit, vnde wo sick desuluenn holdenn, wider to erfarende.“436 Auch hier zielte die monatliche Inspektion der 433 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 145. – Übertragung: ,… daß sie, wenn es angebracht ist, nicht sparen, so weit das Spendenaufkommen es hergibt; anderseits, daß sie nicht wissentlich losen und schändlichen Buben geben: Kriegen sie sonst etwas durch Betrug, dann hauen sie ab und kommen nie wieder. Die Diakone haben es ihnen nicht wegen ihrer Buberei gegeben, sondern um Gottes Willen, und Christus wird dasselbe auch wie das übrige annehmen.‘ 434 Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 224. 435 Ders.: Van dem christen louen 1526 (1987); fol. c1 r°. – Übertragung: ,… doch einmal betrogen als Menschen, die ihren Dienst tun, das schadet nicht; anderseits sollen sie auch nicht so unbarmherzig sein, daß sie niemandem geben oder zuschießen wollen.‘ – Vgl. ders.: dass. (1867); S. 261. 436 Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 68; hier Gotteskastenordnung, fol. 4 r°–v°. – Gotteskastenordnung St. Nikolai 1527 (1720); S. 113. – Übertragung: ,… wie die Besichtigung und Beschreibung der Armen geschehen soll. Zunächst sollen die zwölf Personen im selben Kirchspiel durch alle Straßen und Twieten und bei der Stadtmauer umgehen und die Armut besichtigen, die Bedürftigkeit der Armen und Kranken, gleich ob Mann oder Frau, jung oder alt, anzeigen, und jedem nach Gelegenheit soviel wie möglich helfen […]. Und wenn man einmal die
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bedürftigen Einwohner durch die Kastenvorsteher ausdrücklich auf größtmögliche Hilfe am Einzelnen. Wenn hier bereits von Beschreibung der Armut, also von Verzeichnissen, die Rede war, so war dies eine notwendige Voraussetzung der zentralen Fürsorge aus dem Gemeinen Kasten, denn mit dem Abschied vom leicht erkennbaren Typus des Straßenbettlers, der jederzeit spontanes Almosen erheischen konnte, wurden jetzt Instrumente langfristiger und gerechter Hilfeleistungen für alle Bedürftigen nötig, zumal die Besetzung der Diakonenämter in jedem Fall regelmäßig wechseln sollte: Weil „ye von keinem armen / vnter vnser versamlunge / solche stucke der teglichen notturfft / offentlich geruffen / geklaget vnd gebettelt / werd durfen“, so begründete Luther 1523 das Vorgehen, „darumb sollen die zehen fursteher / mit grossem steten vleis / erkundunge vnd nachforschunge furwenden / vnd warhafftig gruntlich wissen haben / aller solcher armen […] / v daruber alle sontage ratschlagen / vnd die nahmen der ienigen armen / welche also erforschet / vnd ynen hulffe zuthun / beschlossen / sollen zusambt dem beschlossenen ratschlage / yn das handelbuch / klerlich eingeschrieben werd damitte das vermogen aus vnserm gemeinen kasten / ordentlich außgeteylet werde.“437 Vom „handelbuch“, in das solche Nachforschungen, Verhandlungen und Beschlüsse protokolliert und auch die Namen der Unterstützungsempfänger eingetragen werden sollten, unterschied Luther in der Leisniger Kastenordnung zwei weitere Register: Ins „heubtbuch“ waren alle langfristig verfügbaren Werte einzutragen, Urkunden etwa, Testamente oder Erbregister. Das „Jarrechen Register“ sollte unter dem Vorjahresplus sämtliche Einnahmen und Ausgaben des jeweils laufenden Jahres enthalten, und zwar nach dem Muster allgemein üblicher Rechnungsführung, wie eigens betont wurde. Alle Bücher waren im Gemeinen Kasten zu archivieren.438 Bugenhagen übernahm die Verpflichtung zur gewissenhaften Anlage von Namensregistern und Rechnungen, verzichtete aber zunächst auf genauere Anweisungen: „De diakene scholen scriuen wat se krigen vnde wr se id hen geuen / vnde hebben bescreuen de namen vnde hse der ienen den se alle weke wat na gelegenheit der nt thokeren / dat se deste gewisser vnde vnuordechtige rekenschop konen dohn.“439 Daß, wie hier in der Braunschweiger Armut so besichtigt und beschrieben hat, so sollen gleichwohl alle Monate die zwölf Vorsteher aufs Neue umgehen, um jedermanns Lage, und wie er sich befindet, wieder zu erfahren.‘ 437 Luther: Leisniger Kastenordnung 1523 (1934); S. 419. – Übertragung: Weil ,ja von keinem Armen in unserer Gemeinde solche Angelegenheiten des täglichen Bedürfnisses öffentlich ausgerufen, geklagt und erbettelt werden dürfen, sollen die zehn Vorsteher mit großem stetem Fleiß Erkundungen und Nachforschungen anstellen und wahrhaft gründlich bescheid wissen über alle solche Armen […] und darüber alle Sonntage ratschlagen, und die Namen derjenigen Armen, die so erforscht wurden, und denen zu helfen beschlossen wurde, sollen zusammen mit dem Beschluß klar in das Handelbuch geschrieben werden, damit das Vermögen aus unserem Gemeinen Kasten ordentlich ausgeteilt werde.‘ 438 Vgl. ebd.; S. 414. 439 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 145. – Übertragung: ,Die Diakone sollen aufschreiben, was sie kriegen und wohin sie es geben, und sollen verzeichnet haben
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Ordnung, die Vorgänge um die neuen Armenkassen auf keinen Fall geeignet sein durften, Verdacht zu erregen, war bereits mehrfach zu sehen.440 So sollten etwa die im Gottesdienst eingesammelten Spenden unter aller Augen in den Gemeinen Kasten gelegt werden, der seinerseits „apenbar“441 in der Kirche aufzustellen war. Auch mochte die Abtrennung des Schatzkastens jeden Verdacht fernhalten, die Pastoren würden bei Spendenaufrufen in die eigene Tasche predigen.442 Die Gotteskastenordnung der Nikolaikirche und mit ihr etliche von Bugenhagens Kirchenordnungen folgten daher nicht allein Luthers Anweisung, ein Kapitalienregister und ein Rechnungsbuch für die laufenden Einnahmen und Ausgaben anzulegen, sondern einige Ordnungen sahen zusätzlich vor, vom Hauptbuch eine Zweitschrift beim Rat zu hinterlegen.443 Auch war in den meisten Kirchenordnungen444 ein jährlicher Rechenschaftsbericht beim Rat vorgesehen. Besonders weit ging hier die Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung: Sie sah vor, den Rechenschaftstermin am Sonntag zuvor von den Kanzeln abzukündigen. Wer Kritik oder Verbesserungsvorschläge machen wollte, „de mach sick up de tydt up dat rathus maken und rede dar frilick der saken tho gude und nicht thom vorderve. De döre schal em und anderen borgern, de darby willen syn, apen stan.“445 Reformatorische Öffentlichkeit. Der Hamburger Gotteskastenordnung war außerdem bereits „dat drudde boek“ bekannt, in das nach Ratschlag und Beschluß der Diakone monatlich alle bevorstehenden Ausgaben einzutragen waren. Es entsprach dem von Luther vorgesehenen „handelbuch“. Ihrer Funktion nach waren solche prospektiven Register von der Buchführung laufender Einnahmen und Ausgaben, von der retrospektiven Rechenschaftslegung zum Abschluß eines jeden Jahres und von den langfristigen Kapitalienverzeichnissen zu unterscheiden. „De Namenn der armenn de me eyne tydlangk / edder stedes vorsorgen moeth / schollenn in eynn Register gheschreuenn werdenn / vpp de scalme ßunderlick vppßeenn dath ße erlick leudie Namen und Wohnungen derjenigen, denen sie wöchentlich etwas je nach ihrer Notlage zuwenden, damit sie umso gewisser und unverdächtiger Rechenschaft ablegen können.‘ 440 Vgl. insgesamt oben; S. 212 f. u. 256 f. 441 Ebd.; S. 143. 442 Vgl. ebd. S. 144. 443 Vgl. Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 68; hier Gotteskastenordnung, fol. 15. – Gotteskastenordnung St. Nikolai 1527 (1720); S. 118. – Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 243. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 175, 177, 184. – Zwei Bücher auch ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 119. 444 Vgl. etwa ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 183 f. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 119. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 46 u. 53. – Abgeschwächt Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 174 f., 184 f. 445 Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 78. – Übertragung: ,… der kann sich an dem Termin zum Rathaus begeben und dort frei heraus zur Verbesserung der Sache reden, nicht zu ihrem Schaden. Die Tür soll ihm und anderen Bürgern, die dabei sein wollen, offen stehen.‘ – Ebenso Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 880.
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enn“, so sah es etwa die Hamburger Ordnung vor.446 Auch in Pommern sollten die würdigen Armen „ym regestere vp gescreuen werden“447. Solche Listen zur vorausplanenden Erfassung aller unterstützungswürdigen Armen eines Kirchspiels, die aufgrund der oben geschilderten Inspektionen zusammengetragen werden sollten, haben sich, soweit ich sehen kann, zwar nicht erhalten. Doch lassen Rechnungen, in denen rückblickend die Versorgung einer jährlich immer konstant bleibenden Zahl von Armen nachgewiesen wird, auf die Existenz solcher Register schließen.448 Nicht selten begegnen auch Rechnungen, die alle im Lauf eines Jahres versorgten Personen namentlich auflisten und so erkennen lassen, daß die Zuständigen längerfristig solche Informationen bereitgehalten haben müssen.449 In den Rechnungen des Kieler Annenklosters für das Jahr 1563 etwa findet sich unter dem Titel Duth kregen disse nageschreuen armen eine dreiseitige Personenliste, die nach Wochentagen gegliedert ist, sonst aber keine weiteren Angaben enthält. Die Liste scheint also rückblickend die an jedem Wochentag im vergangenen Rechnungsjahr versorgten Personen aufzuführen, zugleich aber für das kommende Jahr den Status quo anzuzeigen. Bisweilen erhielten die Leute Spitznamen, die uns Aufschluß über die Art der Arbeitsunfähigkeit geben: Die gehörlose „doue gretÿe“ etwa oder die „blinde plonnie“. Auch sozialer Abstieg von Handwerkerfamilien wird an Berufsnamen ablesbar: „marten bekeman“, „anneke goldsmedes“ oder „barber bundmakers“450. Trotz des Fehlens von Personenlisten, die prospektiv für die weitere Planung angelegt worden wären, haben sich doch in größerer Zahl Armenkastenrechnungen erhalten, die ein sicheres Bild von der Wirklichkeit reformatorischer Fürsorge, ihrer Finanzierung und ihrer Verwaltung ermöglichen. Ich stelle im folgenden drei ausgewählte Archivkomplexe aus den Städten Braunschweig, Stolp und Kiel vor. In keinem Fall konnte es um eine umfassende statistische Analyse des Datenmaterials gehen, geschweige denn um die jahrgangsweise Durchsicht nach Regeln moderner Wirtschaftsprüfung. Dies muß lokalen Einzelstudien vorbehalten bleiben. Vielmehr gebe ich an dieser Stelle Berichte von der jeweiligen Anlage der Rechnungsführung, vom Zustand der Bilanzen und von ihrem Charakter als Instrumente christlicher Nächstenliebe. Insbesondere wird darauf zu achten sein, wie weit Bugenhagens Vorgaben in die Tat umgesetzt wurden. Was dagegen inhaltlich aus den Rechnungen abzuleiten ist – die Höhe und Frequenz 446 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 224. – Übertragung: ,Die Namen der Armen, die man eine Zeitlang oder stets versorgen muß, sollen in ein Register geschrieben werden; bei ihnen soll man besonders darauf achten, daß sie ehrlich leben.‘ 447 Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 116 f. – Vgl. auch ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 78. 448 Vgl. etwa die Rechnungen des Kieler St.-Jürgens-Spitals, wo 1585–1587 konstant 18 Arme versorgt worden sind; Kiel StA, Nr. 19219; Heft 1–2. 449 Vgl. unten zu Braunschweig und Stolp 302 ff. 450 Kiel StA, Nr. 18653. – Der Titel bedeutet: ,Dies kriegen die nachfolgend aufgeführten Armen‘. – ,Buntmacher‘ waren Kürschner.
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der Einnahmen etwa, die soziale Lage der Unterstützungsempfänger oder die konkrete Form der Hilfeleistungen – ist in den übrigen Kapiteln nachzulesen. Die drei Städte Braunschweig, Stolp und Kiel eignen sich vorzüglich als Modellfälle für die drei Kirchenordnungstypen, wie sie zu Beginn dieser Studie unterschieden wurden: So zeigt eine Durchsicht der Braunschweiger Akten, daß das städtische Modell ab 1528 ohne Verzug in die Praxis umgesetzt wurde. Der Fall Stolp dokumentiert, daß auch die Fürsorgebestimmungen der ersten territorialen Kirchenordnung für Pommern 1535 in einer einzelnen Stadt des Herzogtums erfolgreich ausgeführt wurden. Und schließlich erweist sich am Kieler Beispiel, daß die relativ unspezifischen Anweisungen des Dänisch-Norwegischen und Schleswig-Holsteinischen Modells, das bekanntlich ohne Bugenhagens direkte Autorschaft entstand, auch zu einer entsprechend variablen Praxis der Armenfürsorge vor Ort geführt haben. a. Die Braunschweiger Armenregister „Der arme lude register jn allen vyfftwycbelden wat in den kysten [de] in den kercken stn, gegeuen wart, [dar] de vorstendere alle jar rekenscop van don, begunt anno xvcxxviij.“451 Dieser Aktentitel belegt eindeutig, daß es schon im Jahr der Kirchenordnung 1528 Gemeine Kästen in Braunschweig gab, die auch funktionierten. Es handelt sich um ein Rechenschaftsbuch, das chronologisch angelegt ist und innerhalb der Jahrgänge nach den fünf Weichbilden geordnet in knapper Form die jährlichen Rechnungsabschlüsse enthält. Als Beispiel sei der erste Eintrag (Abb. 16) herangezogen. „Jtem hans ketteler bernt scheppenstedden vnn tile serreman vorstendere edder dyaken der armen hüsarmen jn oldenstat tho sunte marten jn de kÿsten gegeüen waß alse van den fridagen an na jacobÿ maiori[s] anno xvc xxvij wente vp den fridaghe na wÿnachten xxviij vnn de tÿt aüer entffangen hadden ––– ijc xxv gulden munthe minus iij d vnn se do dat alle berekeden vor den kasten hern vnn x man wür se dat alle hen ghekert vnn gegeuen hadden armen husarmen vnn behalden do nach bÿ sÿck xxx gulden munthe tho voren“452 Die Notiz besteht aus fünf Informationen. Der Aufbau wiederholt sich 451 Braunschweig StA; Abteilung B IV 11, Nr. 2. – Übertragung: ,Der armen Leute Register in allen fünf Weichbilden, was in die Kisten der Armen, die in den Kirchen stehen, gegeben wurde, wovon die Vorsteher jedes Jahr Rechenschaft ablegen, beginnt Anno 1528.‘ 452 Ebd.; fol. 3 r°. – Übertragung: ,Item Hans Ketteler, Bernd Scheppenstedt und Tile Zernemann, Vorsteher oder Diakone der armen Hausarmen in der Altstadt zu St. Martin. In die Kiste war also gegeben von Freitag nach Jacobi Maioris 1527 bis Freitag nach Weihnachten 1528, und in dieser Zeit empfangen haben: 225 Gulden Münze weniger 3 Pfennig. Und die, die das alles berechneten vor den Kastenherren und den Zehnmännern, als sie alles verwendet und armen Hausarmen gegeben hatten, und behielten dann bei sich 30 Gulden Münze als Vorrat.‘ – Warum der erste Eintrag mit „Jtem“ beginnt, bleibt unklar, doch ,Jck‘ kann es dem paläographischen Befund zufolge nicht heißen. Auch Syntax und Schrift verraten keinen geübten Schreiber. Ich habe versucht, das in der Übertragung zu berücksichtigen.
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in späteren Einträgen. Zunächst werden die drei verantwortlichen Diakone genannt, dann die Zeitspanne, in der das Geld zusammenkam. Daß aber diese erste Rechenschaft vom 26. Juli 1527 bis Weihnachten 1528 gelten will, muß bereits ein Schreibfehler sein. Erst im März 1528 war im Reformprogramm der Hägener zum ersten Mal die Errichtung eines Gemeinen Kastens gefordert worden453, und erst im August 1528 beratschlagten die Gilden und Gemeinden anhand von Bugenhagens Kurzem Verzeichnis über dessen Kirchenordnung und ihre Einzelbestimmungen454. Doch auch wenn hier erst der 31. Juli 1528 als Beginn des Altstädter Kastens gemeint sein sollte, so müßte dieser noch vor Diskussion und Annahme der Kirchenordnung in Gang gesetzt worden sein und war damit vielleicht bereits von den Bürgerausschüssen angestoßen worden, die sich im Frühjahr um eine evangelische Neuordnung des Gemeinwesens bemüht hatten. Die dritte Information besteht darin, daß die Jahresrechnung im Beisein der Diakone und der Zehnmänner abgelegt wurde, also des Ratsausschusses für Finanzen, der 1512/13 eingesetzt worden war.455 Und schließlich werden zwei Bargeldbeträge in Gulden genannt: Die erste Summe scheint die Einnahme zu bezeichnen, die ,in die kiste gegeben‘ und von den Diakonen ,empfangen‘ wurde; die zweite bezieht sich zweifellos auf den nach Austeilung aller Gelder verbleibenden Rest als Rücklage für das folgende Jahr. Eine solche Interpretation wirft aber für die übrigen Einträge langfristig Verständnisprobleme auf.456 Ein Abgleich der hier enthaltenen Daten mit detaillierten Rechnungsbüchern der Neustadt457 ergab dagegen, daß es die Ausgaben jeden Jahres sind, die im gemeinsamen Rechenschaftsbuch jeweils an erster Stelle vermerkt, vom Schreiber jedoch oft mißverständlich als ,empfangen‘ quittiert werden. Ihnen folgt klar der aufgesparte Restbetrag. Dies wird durch weitere Einträge im gemeinsamen Rechenschaftsbuch bestätigt: Bald heißt es darin auch ausdrücklich, das Geld sei „den armen gegeuen“458 und ein gewisser Betrag als Rest übrigbehalten; bisweilen sind die Ausgaben sogar getrennt aufgeführt nach planmäßigen Hilfen für Hausarme und „thofellige[r] vthgave bynnen vnd butthen der stad“459. Somit lassen sich aus der Ausgabe und dem Restbetrag eines jeden Jahres für alle Weichbilde getrennt auch die übrigen Werte für den gesamten Zeitraum 1528–1568 errechnen. Einige der so zustandegekommenen Bilanzen einzelner 453
Vgl. Jürgens 2003; S. 53. Vgl. ebd.; S. 74. 455 Vgl. Spiess 1966; Bd. 2, S. 530 f. 456 Hier ist Vorsicht geboten. Auf der zu flüchtigen Durchsicht des reichen Materials beruht die Kapitulation von Frank P. Lane (1983; S. 155) vor „diese[n] ziemlich verwirrenden Zahlen“ aus dem Braunschweiger Stadtarchiv. 457 Verglichen wurden Daten des Andreaskastens aus den Jahren 1548 (Braunschweig StA; Abt. F I 5, Nr. 617 f.), 1549 (ebd.; F I 5: 620 f.) und 1550–1557 (ebd.; B IV 11, Nr. 213). 458 Vgl. ebd; Abteilung B IV 11, Nr. 2; fol. 6 r° et passim. 459 Vgl. ebd.; fol. 18 r° et passim. – Übertragung: ,… zufälliger Ausgabe innerhalb und außerhalb der Stadt‘. 454
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Kästen teile ich im folgenden mit, immer unter dem Vorbehalt, daß ganz selten einmal eine Zahl verschrieben oder, sal. ven., von mir verlesen sein könnte.460 Es bietet sich an, mit der Bilanz des Andreaskastens in der Neustadt zu beginnen, weil neben dem genannten Datenmaterial aus dem gemeinsamen Rechenschaftsbuch der fünf Weichbilde in diesem Fall auch einzelne Rechnungen des Andreaskastens hinzugezogen werden konnten, die das Bild ergänzen. Der Form nach handelt es sich dabei um laufende Jahresrechnungen, teils nach Einnahmen und Ausgaben in getrennten Heften geführt. Inhaltlich weisen die Einnahmerechnungen stets jede einzelne Geldsammlung in der Kirche aus, die erst am Ende der Liste zu einer Gesamteinnahme zusammengerechnet sind, diesmal jedoch einschließlich der regelmäßigen Einkünfte (Rentenzahlungen etwa).461 Die Ausgaben sind dann Woche für Woche mit Namensnennung der Unterstützten ausgewiesen, sofern nicht Unbekannte oder Kinder etwas erhielten. Die Kosten der Armenversorgung in der Neustadt sind in den vier Jahrzehnten 1528 bis 1568 praktisch gleichmäßig angestiegen. Das zeigt deutlich die Bilanzgraphik (Abb. 17). Nachdem 1528, in den wenigen ersten Monaten des Andreaskastens, nur 9 fl (also 27 mk) ausgegeben worden waren, stiegen die Aufwendungen in dieser Zeitspanne von 36 mk im Jahr 1529 um rund 100 mk auf 134 mk im Jahr 1567. Größere Amplituden sind dabei nicht zu erkennen. Neben den Ausgaben sind dem gemeinsamen Rechenschaftsbuch auch die Rücklagen als gesicherte Daten zu entnehmen. Zieht man diese Zahlen hinzu, so ist zu erkennen, daß sich die Ausgaben in den ersten sechs Jahren eng an den Einnahmen orientieren mußten, denn erst ab 1534 war man durch einmalig höhere Einkünfte imstande, einen Vorrat aufzubauen, der bis in die fünfziger Jahre hinein fast kontinuierlich verbessert werden konnte. So stieg das Haben des Andreaskastens bis 1551 zumeist stärker an als die laufenden Kosten, die ab 1548 vollständig von der Rücklage gedeckt waren. Erst ab Ende der fünfziger Jahre wuchsen die Ausgaben erneut über den festen Vorrat hinaus, so daß das Gesamthaben bei zugleich steigenden Einnahmen wieder leicht zurückging, die Ersparnis bis 1569 jedoch wieder bis auf 9 mk aufgebraucht werden mußte. Ein Vierteljahrhundert später konnte man jedoch wieder auf eine stabile Reserve zurückgreifen. Dies ergibt sich zusätzlich aus erhaltenen Rechnungen der neunziger Jahre. Die hieraus erhobenen Daten zeigen deutlich, daß sich das Ausgabenniveau der Jahre 1592– 1595 kaum von dem der sechziger Jahre unterschied und damit bequem vom mittlerweile stark angewachsenen Vorrat gedeckt werden konnte. Daß man diese 460 Auch habe ich zur Vereinfachung die in den Rechenschaften angegebenen Beträge auf volle Mark abgerundet und auf Brüche, die durch das Umrechnen der Schilling‑ und Pfennigbeträge entstanden wären, verzichtet. Und schließlich wurden Beträge, die in Gulden angegeben waren, näherungsweise in Mark umgerechnet (1 fl ≈ 3 mk); in solchen (und wenigen weiteren, nicht näher zu bezeichnenden) Fällen wurde dann mitunter auf ½ mk gerundet, so daß dort mit einer Dezimalstelle gerechnet wurde. 461 Vgl. Braunschweig StA; Abt. B IV 11, Nr. 213, Jg. 1550, fol. 123 r°. Vgl. oben S. 262 ff.
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finanziellen Kapazitäten nicht zu weiteren Ausgaben nutzte, braucht nicht in erster Linie als Zeichen übertriebener Sparsamkeit gewertet zu werden – vielmehr dürfte der Fürsorgebedarf seit etwa 1560 eine gewisse Sättigung erreicht haben. Das System hatte sich in jeder Hinsicht stabilisiert. In der Neustadt wurden diese Rechnungen bis 1919 geführt.462 Ein ganz anderes Bild zeigt die Bilanz des Katharinenkastens im Hagen für denselben Zeitraum 1528–1568 (Abb. 18): Bereits die im gemeinsamen Rechenschaftsbuch nachgewiesenen Ausgaben schwankten oft erheblich und konnten von einem Jahr auf das nächste rapide ansteigen, ebenso schnell aber auch wieder sinken. Die Bilanzgraphik zeigt, daß man sich hierbei am zunächst noch schwankenden Gesamthaben orientierte. Schon im dritten Jahr seines Bestehens wurden aus dem Kasten rund 70 mk gezahlt, was durch die vergleichsweise rasch aktivierte Spendenbereitschaft der Hägener ermöglicht wurde. Die Ausgabepolitik des ersten Jahrzehnts bis etwa 1540 scheint darauf abgezielt zu haben, stets mit einigem Sicherheitsabstand der Entwicklung des Gesamthabens zu folgen, so daß von Anfang an ein bescheidener Vorrat angespart wurde. Eine zweite Phase ab etwa 1540 war von zwei ertragreichen Spendenimpulsen 1539 und 1542 bestimmt, deren erster zwar noch im selben Jahr weitgehend aufgebraucht wurde und daher als Reaktion auf eine akute Notsituation interpretiert werden muß, deren zweiter jedoch mit den Ausgaben des Jahres 1542 nicht ausgeschöpft zu werden brauchte und sich danach nur langsam wieder abschwächte. Dadurch konnte der Bargeldvorrat sukzessive ausgebaut werden und hätte ab 1545 (mit Unterbrechungen) die in dieser Phase fast gleichmäßig ansteigenden Kosten sogar allein decken können. Dazu kam es dann auch zu Beginn der dritten Periode, denn 1556 wurde die günstige Haushaltslage zum Kauf einer Ewigrente bei der städtischen Münzstätte genutzt463. Hierfür wurden fast alle Rücklagen bis auf einen kleinen Rest von 5 mk investiert und standen jetzt nicht mehr als Sicherheit zur Verfügung. Zwar konnten weiterhin Einnahmen in gewohnter Höhe verbucht werden, doch erst nach zehn Jahren bildete sich wieder eine nennenswerte Reserve. Die Ausgaben mußten sich in dieser Zeit besonders streng an den Einnahmen orientieren. Auffällig ist, daß man in diesen Jahren nach 1556 keine Anstalten machte, durch Senkung der Ausgaben zu neuen Ersparnissen zu kommen. Wahrscheinlich gab es Gründe, jetzt große Rücksicht auf die soziale Lage im Hagen zu nehmen, die bei den Fürsorgekosten keine Abstriche erlaubte, wogegen in früheren Perioden das 462 Vorhanden in Braunschweig StA sind die Jahrgänge 1548–1549 (Abt. F I 5, Nr. 617– 620), 1550–1557 (Abt. B IV 11, Nr. 213), 1591–1919 (mit Lücken; Abt. F I 5, Nr. 623 ff. u. Nr. 713 ff.). 463 Der Vorgang erschließt sich allein aus der Kastenrechnung von 1556, wo es heißt: „Item waß tho yare yn demm forrade blef yß alleß by demm erbarenn rade vp der münsmede belech den armenn tho gode myt wittenn der oldesten alse 200 daller“. Braunschweig StA; Abteilung F I 4, Nr. 469, fol. 107 r°. – Übertragung: ,Item was dieses Jahr im Vorrat übrigblieb, ist alles beim ehrbaren Rat auf der Münzschmiede belegt, den Armen zugute, mit Wissen der Ältesten, nämlich 200 Taler‘.
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Ausgabeniveau keineswegs so aufmerksam hochgehalten worden war, wie es finanziell möglich gewesen wäre. So ist etwa zu fragen, warum in Jahren wie 1538, 1545 und 1549, in denen der Haushalt nur leicht nachgegeben hatte, die Ausgaben sofort gesenkt und bei einer Erholung wieder angehoben worden waren, obwohl die Reserven es in jenen Jahren durchaus erlaubt und ermöglicht hätten, die Fürsorgekosten auf dem Vorjahresniveau zu halten. Demgegenüber herrschte in der letzten Periode offensichtlich ein vordringliches Interesse daran, die hereingekommenen Spenden nahezu vollständig wieder an die Armen abzugeben und hierin sogar dem steigenden Einnahmetrend aufs engste zu folgen. Wie unterschiedlich die Vergabepolitik in den fünf Braunschweiger Weichbilden sein konnte, zeigt ein abschließender Vergleich mit dem dritten Beispiel, der Bilanz des Armenkastens von St. Ulrici, der für den Sack zuständig war (Abb. 19). Bereits vom zweiten Jahr seines Bestehens an konnte offensichtlich ein quantitativ einigermaßen fester Kreis von Unterstützungsempfängern versorgt werden, denn für die nächsten zehn Jahre unterlagen die Ausgaben keinen größeren Schwankungen mehr. Das bedeutete bei zunächst steigenden Einnahmen, daß bald ein Vorrat angespart war, auf den im Bedarfsfall dann auch zugegriffen wurde. So fällt besonders auf, daß trotz eines plötzlichen Einnahmerückgangs 1540 die Aufwendungen für Arme gerade nicht zurückgenommen, sondern im Gegenteil noch gesteigert wurden – anders als in dieser Phase im Hagen. Als in den folgenden zwei Jahren ein erheblicher Zuwachs an Spendengeldern verbucht wurde, senkte man jedoch wieder die Ausgaben und baute dadurch rasch neue Rücklagen auf. Kleinere Schwächen im Haushalt machten sich zwar auch im Ausgabeverhalten bemerkbar, doch stets deutlich gedämpft. Insgesamt wurden die Aufwendungen sogar stufenweise gesteigert. Daß dabei auch der Vorrat abnahm, scheint hier kein Hindernis gewesen zu sein. Den ertragreichen Spendenimpuls von 1549/50 gab man über dessen volle Höhe hinaus an die Armen weiter und senkte die Unterstützungsleistungen erst ganz allmählich wieder ab. Das führte zusammen mit einem plötzlichen Rückgang der Einnahmen dazu, daß der ansehnliche Vorrat 1553 bis auf einen kleinen Rest aufgebraucht war. Nun änderte sich das Ausgabeverhalten grundlegend. Fortan orientierte man sich stärker an den Einnahmen und sorgte dafür, daß die Reserve schrittweise wieder aufgebaut wurde. Daß in den verschiedenen Braunschweiger Weichbilden zu verschiedenen Zeiten auch unterschiedliche, bisweilen gar konträre Handlungsgrundsätze verfolgt wurden, die zum Teil situationsabhängig sein konnten, denen zum Teil aber auch mittelfristige Vereinbarungen der Diakone zugrundeliegen konnten, darf als deutliches Indiz für den grundsätzlich großen Handlungsspielraum in der städtischen Armenversorgung gewertet werden. Dies war beispielshalber an der Bevorratungs‑ und Ausgabepolitik zu sehen. Wenn die reformatorische Armenfürsorge pauschal als sozialdisziplinierender Zugriff der Obrigkeit auf die Unterschichten interpretiert werden sollte, so bleibt unklar, warum diese Obrigkeit ihre Fürsorgemaßnahmen nicht vereinheitlichend regiert hat, sondern zumindest im Un-
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tersuchungszeitraum die Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten respektierte. Mit anderen Worten: Allein die finanzpolitische Durchführung spricht gegen eine gezielt sozialdisziplinatorische Instrumentalisierung der städtischen Armenfürsorge. b. Die Stolper Armenregister Ähnliche Bedenken zeigen sich auch in einer Stadt, die nicht so ausgeprägt dezentral strukturiert war wie Braunschweig, nämlich Stolp in Hinterpommern. Die Zahl der Hospitäler war dort sogar von drei auf zwei reduziert und mitsamt ihrer Güter und Gerechtsame einem zentralen Gemeinen Kasten zugeschlagen worden.464 Die Armenrechnungen465 weisen dementsprechend alle Einnahmen und Ausgaben für das gesamte Fürsorgewesen der Stadt aus. Die Jahrgangshefte, die im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts regelmäßig in Makulatur aus liturgischen Handschriften und Inkunabeln eingebunden wurden466, sind bisweilen nach Einnahmen und Ausgaben getrennt angelegt worden, meistens aber in einer gemeinsamen Kladde für alle Aufzeichnungen, in die auch detailreich die einzelnen Hilfsmaßnahmen und die Rechenschaften vor dem Stolper Rat eingetragen wurden. Daß Hefte aus der vierzigjährigen Zeit 1548–1590 erhalten sind, ist unserer Fragestellung insofern günstig, als sie bereits das Fürsorgewesen einer pommerschen Stadt nach Bugenhagens Kirchenordnung von 1535 repräsentieren und nicht erst nach der zweiten, durch Jacob Runge 1563 bearbeiteten Kirchenordnung ansetzen. Auffällig ist, daß in den Einnahmerechnungen überhaupt keine spontanen Gaben verbucht worden sind. Möglicherweise wurden Spenden, die im Gottesdienst, bei Brautgängen und Leichenbegängnissen zusammengekommen waren, unmittelbar an Arme ausgegeben, ohne erst den Kasten und damit auch die Kastenrechnung zu durchlaufen. Denn es wäre sicher vermerkt worden, wenn solche Gelder zwar als Haushaltsposten eingeplant, aber längere Zeit nicht eingesammelt worden wären, etwa durch fehlende Motivation der Gemeindeglieder. Wie immer dieser Umstand zu deuten ist – daß man sich in Stolp keineswegs auf spontane Gaben stützte, sondern in hohem Maße auf langfristige Anlagen, zeigen 464
Vgl. Bartholdy 1910; S. 113 f.; 460. Ausgewertet werden konnten folgende Jahrgänge in Greifswald PLA: 1548 (Rep. 38 b Stolp; Nr. 842), 1549 (Nr. 462), 1553 (Nr. 841), 1554 (Nr. 836), 1556 (Nr. 846), 1558 (Nr. 839), 1559 (Nr. 840), 1560 (Nr. 845), 1561–1568 (Nr. 861–868), 1570 (Nr. 852), 1572 (Nr. 848), 1573 (Nr. 847), 1575 (Nr. 860), 1576 (Nr. 859), 1577 (Nr. 858), 1578 (Nr. 857), 1579 (Nr. 856 u. 455), 1580 (Nr. 855), 1582 (Nr. 853), 1583 (Nr. 851), 1584 (Nr. 850), 1585 (Nr. 849), 1586–1588 (Nr. 832–834), 1589 (Nr. 830) und 1590 (Nr. 829). 466 Das gilt für die Jahrgänge 1573–1590. Die letzten Hefte sind darüberhinaus durch Tintenfraß auffällig beschädigt; der gesamte Bestand weist starke Verschmutzungen und Lagerschäden auf und ist entsprechend mühsam benutzbar. Solche Schäden können darauf hindeuten, daß die Rechnungen im Gemeinen Kasten archiviert wurden. 465
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die Rechnungen deutlich. Die im Jahr 1548 gewonnenen Einnahmen von 826 Mark kamen zu rund 62 % aus der Verpachtung von Liegenschaften in sieben umliegenden Ortschaften (512 Mark)467, zu rund 34 % aus Rentenzahlungen (283 Mark)468 und nur ergänzend aus einzelnen Verkäufen (knapp 4 %, 31 Mark)469. Diese drei Komponenten wurden in den Einnahmerechnungen regelmäßig berücksichtigt und detailreich nachgewiesen. So sind die Pächter stets namentlich genannt.470 Davon unterschieden war Bodenzins als Abgabe von Unfreien.471 Die eingegangenen Rentenzahlungen kamen 1548 zu zwei Dritteln (189 Mark) von adligen472, zu einem Drittel (94 Mark) von bürgerlichen Verkäufern und wurden so getrennt auch in die Bücher eingetragen, wobei die Bürger mitunter nach den Straßennamen ihrer Wohnsitze sortiert wurden.473 Art und Umfang der Notizen über gewinnbringende Verkäufe schließlich variierten naturgemäß stark. Zu unterscheiden sind hier erstens Gelegenheitsverkäufe, etwa von nachgelassenen Gütern verstorbener Armer, die von den Hinterbliebenen wieder ausgelöst oder von anderen Interessenten gekauft werden konnten474, auch Veräußerungen von Nutzvieh475, Holz und anderen überschüssigen Waren; und zweitens die Einkünfte, die aus Liegenschaften und Gerechtsamen direkt erwirtschaftet wurden, etwa die Nutzungsgebühren einer Salzpfanne476 und einer Bleiche477 sowie die Verkaufserlöse aus Imkerei478 und Ziegelei479. Auch hier fällt die Präzision der Rechnungsführung auf, denn selbst Anzahl und Brennart der verkauften Backsteine sind in den Rechnungsbüchern genauestens verzeichnet. Noch detaillierter ist die Ausgabenseite geführt. Hier sind nicht allein die einzelnen Hilfsleistungen nach Zeitpunkt, Namen der Unterstützungsempfänger (getrennt nach Bewohnern beider Spitäler und Hausarmen der Stadt), Art der Leistung und ihren Kosten aufgeführt480 – Daten also, die im nächsten Kapitel ausführlicher zur Sprache kommen – sondern auch die Aufwendungen für In467
Vgl. Greifswald PLA; Rep. 38 b Stolp, Nr. 842, fol. [1–6]. Vgl. ebd.; fol. [8]. 469 Vgl. ebd.; fol. [7]. 470 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 841, fasc. [1], fol. [2–5 r°]; Nr. 842, fol. [2–5]; Nr. 843, fol. [2–6 r°]; Nr. 844, fol. [2–6 r°]. 471 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 462; fol. [1–3 r°] und [5–7]; Nr. 841, fasc. [1], fol. [24, 26–28 r°] und fasc. [2], fol. [1]; Nr. 842, fol. [23–27]; Nr. 843; fol. [29–32] und [34 r°]. 472 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 841, fasc. [1], fol. [6 v°–8] und [15–16]; Nr. 842, fol. [8–10]; Nr. 843, fol. [8–9] und [18 v°–20]; Nr. 844, fol. [6 v°–8]. 473 Vgl. z. B. ebd; Nr. 841, fol. [9–13] und [17–20]; Nr. 842, fol. [12–15]; Nr. 843, fol. [11–17] und [22–26 v°]. 474 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 841, fasc. [1], fol. [25]; Nr. 842, fol. [7 r°]; Nr. 843, fol. [6 v°–7 r°]. 475 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 843, fol. [28 r°]. 476 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 462, fol. [3 v°]; Nr. 842, fol. [30 r°]; Nr. 843, fol. [33 r°]. 477 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 841, fol. [29 r°]; Nr. 842, fol. [30 r°]. 478 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 462, fol. [3 v°]; Nr. 842, fol. [28 v°]; Nr. 843, fol. [33 r°]. 479 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 462, fol. [4 r°]; Nr. 841, fasc. [1], fol. [29 v°–30 r°]; Nr. 842, fol. [29 r°]. 480 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 841, fol. [4 r°–12 r°]. 468
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standsetzungsarbeiten an den Hospitalgebäuden und an der Ziegelei, einschließlich der Versorgung der Bauarbeiter481, Personalkosten aller Mitarbeiter (so auch des Organisten und des Armenboten, der jährlich neue Schuhe erhielt)482, Löhne bei besonderen Lieferungen und Handarbeiten483 sowie mannigfaltige Kostgelder während der regelmäßigen Rechenschaftssitzungen der Diakone.484 Dieser letzte Punkt verdient in unserem Zusammenhang besondere Beachtung, denn die großzügige Bewirtung, die man sich während jener Zusammenkünfte gönnte, belegt die überaus reiche Ausstattung des Stolper Kastens. Für die Kosten der Amtsführung war in den Registern ein eigener Abschnitt vorgesehen. Aus dem Jahrgang 1553 nur eine kleine Probe: „iij ß gegeuen vor beer frigdages na Nicolai ║ v ß vor beer gegeuen, do de erste pacht gehauen wart. ║ iiij ß, vor beer geuen, do de pacht thom andern male gehauen wart ║ xviij ß geuen vor beer, dat in der Collatien vordruncken wart, de men plecht tho holden na entfangener pacht. ║ xx ß dosuluest an kost vortert. ║ xxjjjj ß vor beer vnd kost thor rekenschop alße wi de register klar makeden des vorigen iares ║ viij ß thor Rekenschop bi der kökene / vnd des dages thouorne vordruncken. ║ iij mk vor j t° beers gegeuen thor rekenschop ║ xj ß geuen vor ij keße ║ iij ß vor ij hoñre ║ xi ß vor j laß ║ ij ß vor mehrreddich“485 und so weiter, fünf Seiten lang.486 Dazwischen begegnen einzelne Beköstigungen und Honorare für einen Steffen Hoppe, der im Namen der Vorsteher – wahrscheinlich als Rechtsanwalt – regelmäßig Mahnungen erledigte. Auch wurden stets Boten, die Ware brachten, oder Bauern aus dem Umland, die Hand‑ und Spanndienste zu leisten hatten, mit Bier, Heringen und Wecken verköstigt oder mit Bargeld entlohnt. Der Schulmeister erhielt Honorare für
481
Vgl. z. B. ebd.; Nr. 841, fol. [1], [21 r°–24 r°] Vgl. z. B. ebd.; Nr. 839, fol. [46 r°]; Nr. 841, fol. [13 r°] 483 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 839, fol. [50 v°]; Nr. 841, fol. [8 r°], [9 r°], [12 r°] 484 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 841, fol. [15 r°–17 r°] 485 Ebd.; Nr. 841, fol. [15 r°]. – Übertragung: ,3 Schilling gegeben für Bier Freitags nach Nikolaus. 5 Schilling für Bier gegeben, als die erste Pacht erhoben wurde. 4 Schilling für Bier gegeben, als die Pacht zum zweiten Mal erhoben wurde. 18 Schilling gegeben für Bier, das bei der Kollation [d. h., beim feierlichen Zusammentragen der Einkünfte] vertrunken wurde, die man nach Empfang der Pacht zu halten pflegt. 20 Schilling dabei an Kost verzeht. 24 Schilling für Bier und Kost zur Rechenschaft[ssitzung], als wir die Register des vorigen Jahres klar machten. 8 Schilling zur Rechenschaft[ssitzung] in der Küche und am Vortag [d. h., zur Vorbereitung!] vertrunken. 3 Mark für 1 Tonne Bier gegeben zur Rechenschaft. 11 Schilling gegeben für 2 Käse. 3 Schilling für 2 Hühner. 11 Schilling für 1 Lachs. 2 Schilling für Meerrettich‘ usw. – Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts rügte der Superintendent Johann Heinrich Sprögel die opulente Amtsführung. Vgl. Bartholdy 1910; S. 153–156. 486 Ähnlich muß es von den Diakonen der Hamburger Nikolaikirche gehalten worden sein. Dort wurde das üppige Mahl, das in jedem Jahr die Rechenschaftslegung begleitete, erst 1738 in eine Spende von 200 Mark courant zugunsten des Gotteskastens umgewandelt. Vgl. Mönckeberg 1846; S. 70. – Im Kieler Heilig-Geist-Spital hingegen berechnete man 1572 nur die halben Verpflegungskosten bei der Rechenschaftssitzung; die andere Hälfte scheint privat gezahlt worden zu sein. Vgl. Kiel StA, Nr. 48304; fol. 94. 482
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Armenbegräbnisse. Schließlich enthält die Liste auch noch einzelne Dienstreise-, Reparatur‑ und Materialkosten. Die unter solchen Bedingungen zustandegekommenen Rechenschaften wurden in unregelmäßigen Abständen im Beisein der Schatzkastendiakone und des Generalsuperintendenten dem Rat zur Entlastung vorgelegt, zumeist für mehrere Jahre zusammen. Angegeben wurden dabei Einnahmen (einschließlich der Reserve vom Vorjahr), Ausgaben (ohne weitere Differenzierung) und der für das kommende Jahr aufgesparte Rest. „Vnnd dewile ein Radt D, Jacobus Hogensehe, de Diaconj des schattkastens, vnnd olderlude vorgenant, der Diaconen, so den hospitalen dit Jar vorgestanden temelik flith gesporett vnnd entfunden, so Dank se ehn guder Rekenschop, vnnd seggen se vnnd ehre Eruen quitt leddich vnnd löß aller nhamanunge […]“487. Damit waren die Diakone entlastet. Über Jahrzehnte wurde das Verfahren im wesentlichen beibehalten, das jedesmal zu Dank und Entlastung durch Rat, Superintendent und Schatzkastendiakone führte – selbst dann noch, als die Kastenrechnungen zum Ende des Jahrhunderts hin stets mit hohen Defiziten schlossen.488 Aus den erhaltenen Rechenschaftsberichten und Jahresrechnungen ergibt sich nämlich eine Gesamtbilanz für den Zeitraum 1548–1591 (Abb. 20), die ökonomisch gesehen keineswegs nur von Erfolg zeugt: Zwar orientierte man sich in der Ausgabenpolitik offensichtlich seit Beginn des Überlieferungszeitraums mit strengem Sicherheitsabstand an den Einnahmen, so daß bis 1565 eine ansehnliche Reserve angespart war. Die finanziellen Kapazitäten der 1560 er Jahre hätten sogar noch höhere Ausgaben erlaubt, so daß angesichts des nicht ausgeschöpften Spielraums eher unwahrscheinlich ist, daß man die Armen gezielt knapp gehalten hätte, um bei lukullischer Amtsführung eine bequeme Rücklage auszubauen. Die Berichte für 1576–1590 zeigen aber dann ein geradewegs entgegengesetztes Bild: Nun mußte man bei jeder Rechenschaft namhafte Defizite eingestehen, und in manchem Jahr (z. B. 1586–1588) stiegen die ohnehin schon viel höheren Ausgaben noch einmal stärker an als die Einkünfte, deren Durchschnittsniveau im Vergleich zum ersten Abschnitt signifikant gesunken war. Offenbar sahen die Verantwortlichen keine Veranlassung oder Möglichkeit, die Fehlbeträge jetzt durch eine rigorose Sparpolitik wieder auszugleichen. Die defizitären Bilanzen sollten (oder konnten) augenscheinlich nicht auf Kosten der Bedürftigen saniert werden. Die Funktionstüchtigkeit der Stolper Fürsorgeinstitute mit ihrem bisherigen Aufgabenspektrum, das hat eine Durchsicht der Papiere ergeben, blieb auch in 487 Greifswald PLA ; Rep. 38 b Stolp, Nr. 841, fasc. [3], fol. 7 v°. – Übertragung: ,Und dieweil ein Rat, D. Jacob Hogensee, die Schatzkastendiakone und vorgenannten Älterleute den Diaconen, die den Hospitälern dieses Jahr vorgestanden haben, bescheinigen, angemessenen Fleiß angewandt zu haben, so danken sie ihnen für gute Rechenschaft und sprechen sie und ihre Erben quitt, ledig und los von allen Nachmahnungen […]‘. 488 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 829, fol. [61 r°]; Nr. 830, fol. [62 r]; Nr. 834, fol. [66]; Nr. 855, fol. [61].
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diesen Jahren voll gewahrt. Zwischen diesen beiden gegenläufigen Phasen fehlen nun freilich einige Rechenschaftsberichte, wenngleich die betreffenden Jahresrechnungen mit ihren zahllosen Einzelposten überliefert sind. Aus den überlieferten Quellen wird also nur mit größter Mühe zu rekonstruieren sein, wann und warum die Stolper Bilanzen ,umgekippt‘ wären. Bekannt ist aber, daß 1564 eine schwere Pestwelle die Stadt heimsuchte, die rund 1000 Todesopfer forderte, was einem Viertel bis einem Drittel der Stadtbevölkerung entsprochen haben wird.489 Auf ihre längerfristigen Folgen könnten sowohl die deutlich gestiegenen Fürsorgekosten als auch die bleibenden Einnahmeverluste zurückzuführen sein, die sich ihrerseits ja nicht aus nachlassender Spendenbereitschaft der Stolper Bevölkerung erklären lassen, denn spontane Gaben wurden in den Rechnungen nicht verbucht. Auffällig bleibt, daß die vollständige Entlastung der Kastenherren sich in jedem Jahr gleichlautend wiederholte, auch bei negativen Bilanzen. Anscheinend hatten Rat und Superintendent ein großes Interesse an der Aufrechterhaltung der Armenfürsorge in diesen Jahren, so daß der gleichbleibende, ja finanziell sogar noch gesteigerte Einsatz der Fürsorgeinstitute trotz bleibender Verschuldung dankbar gewürdigt wurde. Fraglich (und nur durch weitere Akten des Ratsarchivs zu beantworten) bleibt schließlich, auf welche Weise die Fehlbeträge ausgeglichen wurden, die sich, wie es scheint, nicht von Jahr zu Jahr addierten. Trotz der Unsicherheiten muß aber doch festgehalten werden, daß die Stolper Armenfürsorge im 16. Jahrhundert nach Auskunft der Quellen prioritär an Bedarf und Bedürftigkeit orientiert war, indem der finanzielle Spielraum in guten Zeiten keineswegs ausgeschöpft wurde, in schlechten aber auch nicht die Obergrenze der tatsächlich zu leistenden Hilfsmaßnahmen markierte. Hätte die Obrigkeit die öffentliche Fürsorge ihrer Stadt in sozialdisziplinatorischem Interesse instrumentalisieren wollen, so hätte sie diese Bedarfsorientierung sicher nicht so vorbehaltlos gedeckt. c. Spitalrechnungen und Matrikel der Geschworenen Bruderschaft der Hausarmen zu Kiel In Schleswig-Holstein kam es nach der Kirchenordnung von 1542 statt des Aufbaus Gemeiner Kästen, unter die die bestehenden Einrichtungen zu integrieren gewesen wären, vielerorts zur Umwandlung der Hospitäler in zentrale Fürsorgeinstitute, die die Funktion örtlicher Armenkassen zunächst übernahmen. Dies war bereits zu sehen.490 So war in Kiel das Heilig-Geist-Spital 1555 mit dem ehemaligen Franziskanerkloster zu einem städtischen Armenhaus zusammengelegt, daneben das Neugasthaus gebaut und zugleich das St.-Jürgens-Spital wie auch 489 Vgl. Bartholdy 1910; S. 43 und 37 f., wo aus der überlieferten Zahl von 700 bis 800 Stolper Bürgern etwa 3500 bis 4000 Einwohner errechnet werden. – In Stettin forderte die Pest in jenem Jahr 2500 Todesopfer. Vgl. Heyden 1963; S. 22. 490 Vgl. oben S. 218 f.
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das St.-Annen-und-Erasmi-Spital als Armenhäuser weitergeführt worden.491 Aus diesen vier nachreformatorischen Spitälern der Stadt, die zwar teilweise kooperierten, institutionell aber selbständig geführt wurden, haben sich für das 16. Jahrhundert nur wenige Rechnungen erhalten. Neben einer Rechnung des Annenklosters (1563)492 und Rechnungen des St.-Jürgens-Spitals (1585–1586)493 kann ich mich jedoch vorrangig auf ein Gesamtregister494 stützen, das 1563 für den Rat angelegt wurde und die einzelnen Rechnungsposten der Nikolaikirche und der Fürsorgeinstitute darlegt (1563–1572). Die dürftige Aktenlage wurde übrigens schon im 18. Jahrhundert von herzoglicher Seite gerügt.495 Für die Rechenschaft vor dem ganzen Rat waren paritätisch zwei Ratsleute und zwei „borgeren de men kerckschwaren nomedt“496 zuständig. Das entsprach der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung, die für alle Städte und Flecken die Wahl zweier Kirchgeschworenen oder Juraten für die Verwaltung der Kirchenfinanzen angewiesen hatte.497 Dort war auch ein eigenes Diakonenamt für die Armenfürsorge vorgesehen.498 Die Kieler Nikolaikirche hatte drei solcher Diakone, die den Gotteskasten betreuten. Dieser wurde zum Teil aus spontanen Spenden im Gottesdienst, bei Brautgängen und Leichenbegängnissen gespeist, zum Teil auch aus Renten einer älteren Stiftung, dem „Allmissenn“499. So kamen immerhin Gelder zusammen, die einen Diebstahl verlockend genug erscheinen ließen: Ein Berliner, der die Kiste 1585 aufbrach, wurde kurz darauf in Eckernförde gerädert.500 Doch hat der Kieler Gotteskasten niemals, wie es dem Konzept des Gemeinen Kastens entsprochen hätte, die Fürsorgeaufgaben des gesamten Kirchspiels integriert. Er hatte neben den vier Spitälern sogar nur marginale Bedeutung. Wahrscheinlich zielte er stärker als sie auf die offene Armenfürsorge. Zusätzlich konnten einzelne Armenausgaben aber auch der allgemeinen Rechnung des Nikolaikirchspiels beigemischt sein, so daß eine klare Unterscheidung von Gemeinem und Schatzkasten erst recht nicht erkennbar ist.501 Rechnungen der Nikolaigemeinde ab 1588 lassen darauf schließen, daß durch die Kirchen491
Vgl. Krüger / Künne 1991; S. 111. Vgl. Kiel StA; Nr. 18653. 493 Vgl. ebd.; Nr. 19219. 494 Vgl. ebd.; Nr. 48304, fol. 30–95. Ein Transkript hiervon, das 1991 für die Kieler Stadtchronik entstand, stellte mir großzügigerweise Professor Dr. Kersten Krüger (Rostock) zur Verfügung, wofür ihm an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Vgl. im übrigen Krüger / Künne 1991; S. 120 mit Anm. 123. 495 Vgl. Krüger / Künne 1991; S. 119 f. 496 Kiel StA; Nr. 48304, fol. 30 r°. 497 Vgl. Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 160–163 u. 170 f. – Das Juratenamt („kerkswaren“, Kirchgeschworere) war keine reformatorische Neuerung. Vgl. beispielshalber Lorenzen-Schmidt 1980; S. 232 f. u. 240. 498 Vgl Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 174 f. 499 Vgl. Kiel StA; Nr. 48304, fol. 81 r°. 500 Vgl. Bremer (1916); S. 104 u. 591 f. 501 Vgl. Kiel StA; Nr. 48304, fol. 45 r°. 492
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juraten regelmäßig Geld, Lebensmittel und Textilien an Arme verteilt wurden, die verstreut in der Stadt lebten, und zwar sowohl im Gasthaus als auch in den ,fünf Buden‘ und anderen provisorischen Unterschlüpfen.502 Das Geld hierzu kam offensichtlich aus älteren Armenstiftungen, die dem Gesamteinkommen des Nikolaikirchspiels zugeschlagen worden waren, etwa aus den Renten der Gertrudengilde und aus dem Katharinenlehen zum Grauen Laken.503 So läßt sich aus der Rechenschaft für 1563 das Nebeneinander sechs verschiedener Fürsorgeeinrichtungen rekonstruieren: Neben den vier Spitälern, die einer bestimmten Anzahl armer Leute504 Wohnraum, Kost und Kleidung bieten konnten, bestritten sowohl das Nikolaikirchspiel selbst – durch die Hand seiner Juraten – als auch der dort installierte Gotteskasten – durch die Hand der drei Diakone – Aufgaben der Armenfürsorge. Eine synchrone Aufstellung, die nach Einnahme‑ und Ausgabearten unterscheidet (Abb. 21), zeigt deutlich die jeweils charakteristischen Profile dieser verschiedenen Institute. Das Nikolaikirchspiel bestritt seine Einnahmen größtenteils aus Renten, die in hohem Maße noch als Erträge vorreformatorischen Stiftungskapitals hereinkamen. Ganz im Sinne der Kirchenordnung hatten Königin Sophia und Herzog Adolf 1546 beim Kieler Rat energisch darauf gedrungen, die bisherigen Vikarien und geistlichen Stiftungen endlich „tho einem rechten gebruke, vornemlichen tho schulen, predigstulen, dersulven dienern, armen husern und anderer gemeiner wollfarth“505 anzulegen. Nach dreizehn Jahren konnte der Rat den Empfang von dreizehn Rentenbriefen über insgesamt 5025 Mark bei einem jährlichen Rentenertrag von 271½ Mark beurkunden, alles Gelder, die „de olde vicarien und prester bether gehatt“506. Daß beides, herzogliche Ermahnung und Verbuchung der erfolgreich umgewandelten Stiftungssummen, in die Rechenschaft von 1563 eingetragen wurde, zeigt die Tragweite, die man dem Vorgang beimaß. Die freigewordenen Gelder wurden jetzt auf Personal, Bauwesen und andere laufende Kosten verwandt, wogegen nur ein geringer Teil (rund 6 %) des Haushalts, der wohl aus zweckgebundenen (und daher unablöslichen) Stiftungen kam, für Arme vorgesehen war. Der Kirchenordnung entsprach ferner, daß neben den bisherigen Pfründen auch der Vierzeitenpfennig, die Zehntzahlungen vom Lande sowie Erträge aus Liegenschaften und 502 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 376. Vier Buden hatten die Juraten 1565 auf dem Nikolaikirchhof bauen lassen. Vielleicht war dies derselbe Ort, dessen Kapazitäten inzwischen erweitert worden wären. Vgl. Bremer (1916); S. 506, Nr. 289. 503 Vgl. Kiel StA; Nr. 48304, fol. 33 v°. – Über Renteneinkünfte aus dem Kapital der Gertrudengilde heißt es ausdrücklich: „diese vj mk gehören jarlichs tho speck und brott den armen“; ebd. 504 Vom St.-Annen-Spital wurden 1563 wöchentlich 43 Personen versorgt (wohl nicht nur dessen Bewohner), vom Heilig-Geist-Spital 12, später 18, vom Neugasthaus 12 und vom St.-Jürgens-Spital 12, so daß durchaus mit einer Zahl von 80–100 Personen gerechnet werden kann. 505 Kiel StA; Nr. 48304, fol. 31. – Übertragung: ,… zu einem rechten Gebrauch, vornehmlich für Schulen, Predigtstühlen, deren Dienern, Armenhäusern und anderer allgemeiner Wohlfahrt‘. 506 Ebd.; fol. 32 r°. – Übertragung: ,… die alten Vikarien und Priester bisher innehatten‘.
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Gerechtsamen in den Kirchenschatz einflossen, wohl in erster Linie als Beiträge zur Pfarrbesoldung. Doch diese Einkünfte waren im Vergleich zu den regelmäßig hereinkommenden Renten nur von marginaler Bedeutung. In der Rechenschaft von 1563 waren die Vierzeitenopfer zwar als Einnahmequelle genannt, ihre Erträge aber nicht einmal aufgeführt. Ähnlich gering war die Bedeutung von Einkünften, die unmittelbar aus Liegenschaften flossen. Das lag vor allem daran, daß alle Rechte an den Kieler Stadtdörfern beim St.Jürgens‑ und beim Heilig-Geist-Spital belassen worden waren, wo in beiden Fällen rund 85 % der Gesamteinnahmen allein aus Liegenschaften und Gerechtsamen flossen, wogegen Rentengeschäfte dort viel geringeres Gewicht hatten.507 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß die reiche Ausstattung der Kieler Spitäler mit Grundbesitz und Gerechtsamen bald den Appetit Herzog Adolfs angeregt hatte, der nach ersten Zugriffsversuchen 1572 auf zunächst zwanzig Jahre die Rechte an den Stadtdörfern um eine jährliche Zahlung von 800 Mark erhandeln konnte. In den ersten Rechnungen seit 1572 sind die herzoglichen Zahlungen, die zwischen beiden Spitälern geteilt wurden, noch verbucht, aber später kam es, wie zu sehen war, zu skandalösen Unregelmäßigkeiten.508 Die anderen beiden Spitäler und der Gotteskasten stützten sich wiederum in hohem Maße auf Renten. Für das Neugasthaus und das St.-Annen-Spital sind 1563 überhaupt keine Einnahmen aus Liegenschaften und Gerechtsamen verbucht, allerdings auch kaum Personalausgaben. Vom Annenkloster wurden unter der Woche 43 Personen versorgt. Dabei ist 1563 offenbar mehr ausgegeben worden (120 mk 11 ß) als eingenommen (106 mk). Doch weil von einer Schuldnerin, deren Name eigens auf dem Umschlag der Rechnung notiert worden war, noch Zahlungen erwartet wurden, sollte bei ihr unter diesen Umständen mit gutem Recht gemahnt und der Fehlbetrag auf diesem Wege beglichen werden.509 Der Gotteskasten an der Nikolaikirche schließlich hat über die Zinsen des älteren ,Almissens‘ hinaus im Jahr 1563 noch 6 Mark Rentenzahlungen aus einer Bude gewinnen können, die der Rat zu seinen Gunsten für 200 Mark verkauft hatte.510 Diese festen Einnahmen wurden im Lauf des Jahres durch regelmäßige Verteilungen von Butter und Brot an eine feste Zahl armer Leute aufgebraucht. Hinzu kamen natürlich spontane Spenden, deren Höhe jedoch nicht verbucht wurde, denn solche Einnahmen wurden stets an die Bedürftigen weitergegeben (teils auch für Armenbegräbnisse aufgewandt), ohne daß sie die Rechnungen durchliefen. Eine siebente Einrichtung der Kieler Armenfürsorge wurde dann ab 1580 die Geschworene Bruderschaft der Kieler Hausarmen. Es handelte sich dabei um eine Stiftung unter der Verwaltung des Nikolaipastors und dreier angesehener Bürger. 507
Vgl. die Aufstellungen ebd.; fol. 48 r° u. 60 r°. Vgl. zum ganzen Vorgang oben S. 232 ff. sowie Lorentzen 2007; S. 21. 509 Vgl. Kiel StA; Nr. 18653. 510 Vgl. ebd.; Nr. 48304, fol. 81 r°. Der niedrige Zinsfuß von 3 % fällt auf. Üblich waren 6 % bis 6,25 %. 508
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Sie sollte vermutlich das Fehlen eines leistungsfähigen Gemeinen Kastens kompensieren. Satzungsgemäß sollte das gesamte Stiftungskapital „bey glaubwürdige Leute auff Rente geleget werden“ und auf diese Weise langfristige Einkünfte garantieren. Anders als ein Gemeiner Kasten, anders auch als der Gotteskasten an der Nikolaikirche, war diese Einrichtung damit ausdrücklich nicht zur Aufnahme von Einzelspenden gedacht, deren Umfang direkt an die Armen weitergegeben worden wäre, auch nicht zur Integration bereits bestehender Werte, sondern war auf größere Zustiftungen reicher Bürger und Adliger angewiesen.511 Erhalten ist das Matrikelbuch der Stiftung aus dem 17. Jahrhundert.512 Es enthält neben der Satzung und einer chronologischen Liste der Vorsteher ausführliche Stifterverzeichnisse, getrennt nach Adligen, Bürgern und Angehörigen des Stiftungsvorstands, ferner eine kurze Liste von Studenten, die aus der Stiftung unterstützt worden waren und eine offensichtlich aus älteren Rechnungen zusammengestellte „Computation“, die einen Überblick über das anfängliche Stiftungskapital und seine Entwicklung bis 1650 eröffnet. Den Abschluß der Matrikel bilden zwei Abschriften von Vertragswerken, die im Zusammenhang mit dem Kieler Armengüterstreit ab 1572 stehen. Das ist merkwürdig, denn an den Liegenschaften und Gerechtsamen des Heilig-Geist‑ und des St.-Jürgens-Spitals hatte die Stiftung keinen Anteil. Vermutlich war jedoch die Gründung der Geschworenen Bruderschaft eine Reaktion auf den Armengüterstreit, so daß es hilfreich schien, Kopien der einschlägigen Dokumente parat zu haben. Da die Stifterverzeichnisse ohne chronologische Ordnung offenbar aus älteren Papieren zusammengetragen wurden, allein um in der Matrikel das Andenken der besonders herausragenden Wohltäter zu wahren, läßt sich leider keine kontinuierliche Einkommensbilanz rekonstruieren. Auch die Kalkulation der Kapitalentwicklung folgt anscheinend älteren Rechnungen und bündelt die Angaben zur Höhe des Stiftungskapitals jeweils für mehrere Jahre, doch in unregelmäßigen Zeitabschnitten. Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, daß das im Gründungsjahr 1580 beschaffte Grundkapital von 319 Mark bis 1587 auf 400 Mark gestiegen war, dann bis 1610 auf 700 Mark, bis 1616 auf 2400 Mark, bis 1622 auf 4740 Mark, bis 1623 auf 5454 Mark, bis 1626 auf 6224 Mark und zuletzt bis 1634 auf 7609 Mark. Dabei setzte der Zinsfuß anfänglich bei 6 % an, also am unteren Ende des üblichen Satzes513, stieg dann bis 1610 auf 6,42 %, bis 1616 auf rund 7 %, bevor er wieder absank, auf unter 6 %. Für die letzten Zeitabschnitte fehlen solche Angaben. Konnte die Stiftung in den Anfangsjahren also zunächst 20 bis 45 Mark 511
Vgl. soweit oben; S. 252 f. Vgl. Schleswig SHLA, Abteilung 400.5, Nr. 408. – Hilfreich für die Beurteilung der Quelle war besonders ein klärendes Gespräch mit Dr. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (Hamburg), dem ich dafür herzlich danke. 513 Üblich war ein Zinsfuß von 1 ß Rente auf 1 mk Kapital, also der sechzehnte Teil der Hauptsumme (= 6,25 %). 512
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jährlich an Hausarme und Studenten verteilen, so stieg die hereinkommende Rente bis 1616 bereits auf 144 Mark und dürfte im Jahr 1634 rund 500 Mark jährlich betragen haben. Das waren beachtliche Kapazitäten – das offenbar hochverschuldete Heilig-Geist-Spital verfügte im Jahr 1645 nur über Einnahmen von knapp 379 Mark.514 So zeigt das Kieler Beispiel trotz der dürftigen Überlieferung nicht allein, daß auf die vergleichsweise unspezifischen Richtlinien der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung mittelfristig durch eine entsprechend größere Bandbreite von Fürsorgeeinrichtungen reagiert wurde als in Braunschweig oder Stolp; vielmehr dokumentieren die erhaltenen Papiere auch den langsameren Übergang vom spätmittelalterlichen Stiftungswesen zu öffentlichen Kassen, neben denen Formen vorreformatorischer Armenfürsorge noch lange als Teile des städtischen Wohlfahrtsnetzes weiterbestanden. Das kaum koordinierte Miteinander so verschiedenartiger Systeme scheint auch zunächst nicht als ineffizient wahrgenommen worden zu sein. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann man, über eine Fusion der vier Spitäler nachzudenken, doch mehrfach wurden solche Anträge noch abgelehnt, bis erst 1822 das Kieler Stadtkloster als zentrale Einrichtung der geschlossenen Fürsorge eingeweiht wurde.515
7. Unterstützungen aus dem Gemeinen Kasten Wie wurde den armen Menschen geholfen? Die ausgewerteten Rechnungen ergeben ein so genaues wie mannigfaltiges Bild von der Praxis reformatorischer Armenfürsorge. Bislang hat die Forschung diesen Aspekt, nämlich die Kenntnis der tatsächlichen Einzelmaßnahmen, beinahe ausgeblendet oder jedenfalls marginalisiert, weil das repressive Moment der obrigkeitlichen Ordnungstexte im Vordergrund stand. Doch normative Texte können nie den Schlußpunkt einer Entwicklung bilden. Insofern kommt dem Archivstudium auf diesem Feld eine kaum zu überschätzende Rolle zu, weil bislang zu wenige Vergleichsdaten vorliegen, um innerhalb eines Territoriums, erst recht mit dem Ziel überregionaler Vergleiche, die tatsächlichen Wirkungen der reformatorischen Fürsorgemodelle analysieren zu können. Meinen eigenen Archivstudien wie auch der Auswertung territorial‑ und lokalhistorischer Veröffentlichungen eignet vor diesem Hintergrund noch immer Stichprobencharakter. Ich habe oben516 die Auswahl solcher Stichproben begründet. 514
Vgl. Kiel StA; Nr. 9802. Vgl. Karl Trautmann: Kiels Ratsverfassung und Ratswirtschaft vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis zum Beginn der Selbstverwaltung. Kiel 1909 (Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 25 f.); S. 269 f. – Geckeler 2007, S. 82–84. 516 Vgl. oben; S. 51 f. 515
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Johannes Bugenhagen machte zunächst nur unspezifische Angaben über den Verteilungsmodus: „Alle sundage edder vp eynnen anderen bestemmeden dach in der weken moten de diakene to samende kamen in eynne ieweliken Caspele / den armen na notrofft vth tho dlen / vnde to rden wat nt is vor etlike kranken edder hsarmen“517. So in der Braunschweiger Ordnung. Damit lag die Verantwortung vollkommen bei den Diakonen, die ihre Gelder nach eigener Maßgabe einsetzen konnten. Erst in der Lübecker Ordnung wurde deutlich, daß an die Auszahlung von Bargeld gedacht war, soweit es in den Kirchen gesammelt worden war. Diejenigen drei Jüngsten Diakone der einzelnen Kirchspiele, die gerade den Schlüssel innehatten, sollten ihre Einnahmen sonnabends ungezählt zum Hauptkasten in der Marienkirche tragen, dort im Beisein der Ältesten zählen und – nach einem Finanzausgleich ärmerer und reicherer Kirchspiele – ihren Anteil sofort wieder in ihre Kirchen zurückbringen, um sie an die eingeschriebenen Armen zu verteilen. Nur was übrig blieb, sollte dann als allgemeine Reserve in den Hauptkasten gelegt werden.518 Diese war auch für akute Notfälle während der Woche gedacht. Einer der Jüngsten Diakone der betreffenden Gemeinde sollte dann den Betrag vorstrecken und am Sonnabend gegen Quittung wieder aus dem Hauptkasten zurückerhalten. Ob diese Verfahren auch so praktiziert wurden, bleibt freilich unklar. In Pommern war vorgesehen, das eingesammelte Geld am Sonntagnachmittag, oder wann es sonst passen würde, den Armen auszuzahlen, die im Register standen, oder auch anderen im Krankheitsfall oder bei plötzlicher Not.519 Die Bestimmungen waren also in jedem Fall ausgesprochen unscharf gehalten. Die freie Wahl des geeigneten Wochentages hatte hier noch die geringste Bedeutung; wichtiger war, daß die relative Offenheit des Empfängerkreises („ock anderen de ynn kranckheit vallen“520) und das eigene Ermessen bei der Höhe der Unterstützungsleistungen („dem einen mer, dem anderen weiniger, na gelegenheit“521) immer wieder akzentuiert und auch regelmäßig dazu ermuntert wurde, bei den Zusammenkünften alles zu besprechen, was gerade nötig wäre. Daß ein solcher Entscheidungsspielraum ausgerechnet an der Scharnierstelle zwischen Fürsorgeinstituten und Angehörigen der Unterschichten kaum geeignet sein 517 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 145. – Übertragung: ,Jeden Sonntag oder an einem anderen bestimmten Tag der Woche müssen die Diakone in jedem Kirchspiel zusammenkommen, um den Armen nach Bedarf auszuteilen und zu beraten, was not tut für etliche Kranke oder Hausarme.‘ – Wenig ausführlicher ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 880. Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 78. 518 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 157. – Daß an einen Finanzausgleich beim Hauptkasten gedacht war, wird dort eigens ausgeführt: Weil die ärmsten Kirchspiele auch die meisten Armen hätten, sei das Geld jeder Gemeinde für alle Armen der Stadt gedacht. 519 Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 113. 520 Ebd. 521 Ders.: Hildesheimer Ordnung 1542 (1980); S. 880. – Ebenso ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 78.
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dürfte, Belege für sozialdisziplinatorische Eingriffe der Obrigkeiten zu liefern, muß nicht eigens betont werden. Tatsächlich wurde an die Armen regelmäßig Bargeld verteilt. Aus den Rechnungen des Braunschweiger Andreaskastens für 1548522 geht etwa hervor, daß alle Hausarmen dort an jedem Sonnabend durchschnittlich 1 Schilling erhielten, doch differierten die Beträge und wurden wohl in der Tat nach Bedürftigkeit vergeben. So erhielten zwei Personen je 2 Schilling, sonst wurden mindestens 9 Pfennig ausgezahlt. Die Zahl der allein in der Neustadt auf diese Weise Versorgten schwankte in jenem Jahr zwischen 25 und 29, im Jahr 1550 zwischen 21 und 26523, wobei jahreszeitliche Bedingungen offenbar keine Rolle spielten. Diese vergleichsweise hohe Konstanz schlug sich in der Ausgabenstatistik des Neustädter Kastens (Abb. 17) auch auf längere Sicht nieder, indem hier kaum größere Schwankungen in der Kostenentwicklung zu verzeichnen waren. Dennoch war die Hilfe keineswegs auf einen exklusiven Kreis registrierter Hausarmer beschränkt, denn auch Unbekannte erhielten jeden Sonnabend ihre Gabe, die selten geringer, ja manches Mal sogar höher ausfiel als bei den Hausarmen üblich. So gab man 1550 „ein armen man“, „eyn armen kynth“, „eyn armen junen“, „eyn armen frawen“524 und anderen Fremden zwischen 6 Pfennigen und 10 Schilling, oft auf Vermittlung des Predigers, wie dann vermerkt wurde. Kosten von wöchentlich 3–4 Schilling für Brot wurden hier übrigens stets gesondert aufgeführt. Die Angaben bezogen sich also nicht auf den Kauf von Lebensmitteln, die verteilt werden sollten, sondern auf Bargeld, und zusätzlich gab es bei jeder Verteilung Brot. Noch in den neunziger Jahren wurden in einem Jahr insgesamt 8 Mark und 20 Schilling für Brot, 3 Mark und 20 Schilling für Laken525 und an jedem einzelnen Freitag etwa 1 Mark und 20–29 Schilling in bar an die Hausarmen ausgegeben, deren Anzahl hier freilich nicht mehr zu ermitteln ist, die aber deutlich unterschieden waren von „thofelligen armen“, also „ihnheimischen vnd auch frombden personen“, die nicht zum regelmäßigen Empfängerkreis gehörten.526 Das betraf auch akute Notfälle in der Nachbarschaft. So erhielt jemand, der bestohlen worden war, auf Fürbitte der Prediger 9 Schilling als Hilfe527, ein Mann, dessen Tochter einer Beinamputation unterzogen worden war, 18 Schilling528, ein anderer, dessen Haus abgebrannt war, 2 Schilling529, ein blinder Mann 2 Schil522
Vgl. Braunschweig StA; Abt. F I 5, Nr. 617 u. 621. Vgl. ebd.; Abt. B IV 11, Nr. 213, fol. 124 v°ff. 524 Ebd.; fol. 133 r°. 525 Vgl. ebd.; Abt. F I 5, Nr. 624 [von 1594], fol. 7 v°. 526 Ebd.; Abt. F I 5, Nr. 623 [von 1592], fol. 7 v°. 527 Ebd.; fol. 9 r°. 528 Vgl. ebd.; Abt. F I 5, Nr. 624, fol. 8 r°. 529 Vgl. ebd.; fol. 9 r° (ähnliche Fälle 9 v°, 10 r°). Vgl. auch ebd.; Abt. F I 5, Nr. 618, fol. 13 r°, 13 v°, 15 v°, wo Opfer eines größeren Brandes in Springe etwas Geld aus dem Andreaskasten erhalten. Davon zu unterscheiden ist das zinslose Darlehen über 600 fl, das der Stadt Einbeck nach einem Großbrand aus dem Braunschweiger Martinikasten zur Verfügung gestellt wurde. Vgl. 523
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ling530 und so fort. Besonders beachtet werden müssen jedoch die Hilfsleistungen an Auswärtige, deren Gründe oft genau angeführt waren, um die Rechenschaft hierüber zu erleichtern. Regelmäßig wurde vertriebenen oder kranken Predigern Geld gegeben, und zwar in jedem Fall Beträge, die die wöchentliche Armenunterstützung von durchschnittlich 1 Schilling deutlich überschritten; sie konnten von 3 Schilling bis zu 9 Gulden reichen.531 Die Höhe solcher Gaben könnte auch von den schicksalsvollen Geschichten abhängig gewesen sein, die die Diakone zweifellos überzeugten: „Demetrio Nicolaj ein Greichischer Prediger aus Thessalonien, war von Turcken gefangen, von wegen das er etzliche Kinder von Christlichen Muttern aber Turckischen, vattern geborn, ihm nahmen der heÿligen dreifaltigkeit getaufft. Vnnd tzu Christen gemacht Derwegen vom Turcken 6 Monat gefangen, vnnd mitt harter marter zum Abfall vom Christlichen glauben gedrungen geben 18 gr“532, so wurde 1595 in die Armenrechnung des Andreaskastens eingetragen. Bei aller Exotik, die dem Schreiber offenbar doch etwas zu viel war und durch Streichung wieder reduziert wurde, ist doch bemerkenswert, daß die griechisch-orthodoxe Konfession des Mannes hier kein Hindernis darstellte; vielmehr ist die korrekte Taufe geradezu als nota ecclesiae hervorgehoben. Schärfer wird die Feindschaft zu den Türken akzentuiert – und zu den Calvinisten: „Ehr Daniell Mumenius weÿlandt Pfarher zu Neundorff in furstenthum Anhalt alda von den Caluinisten mitt seinenn Weib vnnd dreÿen kleinen Kindern, vertreiben [sic] vnnd ins neundte Jahr im Exilio vnnd ohne dienste gewesen demselben lautt sinem Testimonio vnnd auff anweisung M: Fredericus Petri geben geuen 9 fl“533. Das ist, wenn kein Schreibversehen vorliegt, mehr als der achthundertfache Betrag dessen, was ein einzelner Hausarmer der Neustadt wöchentlich erhalten konnte, sofern er registriert war.534 Die Hausarmen erhielten freilich nicht nur wöchentliche Taschengelder, sondern auch Sach‑ und Lebensmittel. Von den regelmäßigen Brotverteilungen in Braunschweig war bereits die Rede. Daneben galt es, den alltäglichen Bedarf an Kleidung und Laken zu befriedigen. Etliche Braunschweiger Testamente, in ebd.; Abt. B IV 11, Nr. 144, fasc. 6 (von 1542). Zu solchen Unglücksfällen und ihren Folgen vgl. die Übersicht bei Hartmut Nickel: Schadenfeuer und deren Bekämpfung vom Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Kampf gegen Feuer. Von der Nachbarschaftshilfe zum modernen Dienstleistungsunternehmen – zur Geschichte der Berufsfeuerwehr in Braunschweig (hg. v. Gerd Biegel). Braunschweig 2000 (Veröffentlichungen des Braunschweigischen Landesmuseums 95), S. 19–107; besonders 22 f. 530 Vgl. Braunschweig StA; Abt. F I 5, Nr. 624, fol. 9 r°. 531 Vgl. z. B. Braunschweig StA; Abt. F I 5, Nr. 623, fol. 9 r°, 10 r°. Ebd.; Abt. F I 5, Nr. 624, Nr. 8 v°, zweimal 9 v°, 10 r°. Ebd.; Abt. F I 5, Nr. 625, fol. 12 v°. 532 Ebd.; Abt. F I 5, Nr. 625, fol. 11 v°. 18 Groschen entsprechen 2 Mark und 21 Schilling. 533 Ebd.; Abt. F I 5, Nr. 626, unter 1. Oktober 1596. 9 Gulden entsprechen 18 Mark. 534 Daß Angehörige höherer Stände bisweilen auch standesgemäße Unterstützung erhielten, scheint nicht ungewöhnlich gewesen zu sein. Vgl. Robert Jütte: Die Sorge für Kranke und Gebrechliche in den Almosen‑ und Kastenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Medizin und Sozialwesen 2007, S. 9–21; hier 12.
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denen die Armen bedacht wurden, konnten durch Rentengeschäfte mit dem Rat oder mit der Münzstätte nach dem Stifterwillen in regelmäßige Einkünfte umgewandelt werden, von denen ausdrücklich nur Sachgüter zur Austeilung an die Armen gekauft werden sollten. So zahlte einem Vertrag von 1586 zufolge der Braunschweiger Rat für das Hauptgeld von 800 Gulden aus dem Testament Barbara Vechtelds eine jährliche Rente von 32 Gulden an den Altstädter Kasten, wovon Stoff gekauft und immer im Herbst, zwischen Michaelis und Martini, zur Bekleidung der Armen verteilt werden sollte.535 Eine andere Erblasserin, Judith Barttenwerffer, bestimmte 1608 noch zusätzlich zu einem ähnlichen Verfahren (Stoff für jährlich 40 fl aus einer Summe von 800 fl, gezahlt von der Münzstätte): „So sollen Auch meine Nehisten Vorwandten beÿ solcher Außtheilung mit Ahn vnd vber sein, vnd macht haben vor Arme leute zubitten“536. Die Verwaltung der Gelder sollte also, ganz wie von Bugenhagen vorgesehen, durch das zentrale Armeninstitut übernommen, die Rolle der familiären Mitsprache und der persönlichen Begegnung mit den armen Leuten aber keineswegs aufgehoben werden. Auch in diesem Fall kann von einer generellen „Anonymisierung“ der Armenfürsorge durch die Reformation also keine Rede sein. Seit dem Mittelalter hatten sich solche Stiftungsformen, die auf die Versorgung des alltäglichen Bedarfs abzielten, weiterhin halten können und nahmen unangefochten ihre ,ewigen‘ Verpflichtungen wahr. In Rendsburg verteilte die 1334 gegründete Stiftung der grauen Laken und Schuhe im Jahre 1571 für 50–60 Mark Stoff und Schuhwerk an die Hausarmen der Stadt und an diejenigen, die im Gasthaus, im Heilig-Geist-Spital, im Steinkeller (einer stiftungsfinanzierten Unterkunft für acht arme Frauen537) oder im Siechenhaus lebten – und damit auch nach der Reformation weiterhin an solche, die ansonsten von der Gemeindekasse oder von der Steinkellerstiftung unterstützt wurden.538 Zu dieser Grundversorgung in der Stadt trug vor allem die 1375 testierte Stiftung Manu Poseveldts an der Marienkirche bei, aus der noch 1543, im Jahr nach der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung, folgende Leistungen bezahlt wurden: Von der Roggenheuer, die aus den Liegenschaften hereinkam, ließ man für die Armen in den Unterkünften, aber auch für andere Hausarme, Brot backen; darüberhinaus wurden jährlich 13 Tonnen Bier, auf Michaelis 2 Fleischseiten à 3 Mark, zur Fastenzeit eine Tonne Hering zu 3 Mark, dazu jährlich Laken für 20 Mark und Feuerholz für 20 Mark verteilt. Hinzu kamen weitere Lebensmittel von den Armenlansten, etwa der im Fockbeker See gefangene Fisch. An Bargeld wurden 1543 je 4 Pfennig an 26 Arme verteilt. Man rechnete stets damit, daß Roggenheuer und Renten übrigblieben, so daß Bauarbeiten und Personalkosten sattsam bezahlt 535
Vgl. ebd.; Abt. A III 8, Nr. 5. Ebd.; Abt. A III 8, Nr. 7. 537 Vgl. Höft 1887; S. 247 f. 538 Vgl. ebd.; S. 236–243; hier 242. 536
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werden konnten.539 Im selben Jahr wurde die Zweckbestimmung der jährlichen Rente von 24 Mark, die zuvor der Beköstigung des Rendsburger Kalands zugedacht waren, zugunsten der Armen geändert, so daß nun 28 Personen an jedem Sonntag je einen Pfennig, eine Wecke und ein Maß Butter bekamen.540 Diese und weitere Stiftungen wurden in Rendsburg erst 1798 zu einer gemeinsamen Kasse vereinigt.541 In Kiel waren es seit spätestens 1588 die Kirchenjuraten, die zweimal jährlich, zu Karfreitag und Weihnachten, Geld und Leinen, Speck und Brot an die Armen verteilten. Deren Rechnung (1588) zufolge „sind tho den armen gekofft – vj grawe Osenbruggesse lacken vnd folgenden personen vthgedelett vnd sind van dem Borgermeister Amling van Lengeke gekofft vnd kosten 60 mk“542. Im Gasthaus erhielten 12 Arme daraus je 4 Ellen Stoff, in den ,fünf Buden‘ 16 Arme je 3 Ellen, in weiteren kleinen Unterkünften ähnlich, und 23 namentlich genannte Einzelpersonen bekamen je 2–3 Ellen. Im selben Jahr wurden noch einmal 100 Ellen Leinen für 9 Mark an 22 Personen verteilt, die jeweils 3–6 Ellen erhielten.543 Und schließlich folgte eine Geldverteilung an 19 Personen, die meistens 10 Schilling bekamen, bisweilen weniger. Diese Reihenfolge wiederholte sich in den nächsten Jahren mit geringfügig anderen Zahlen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stieg die Zahl der Unterstützten erheblich, so daß die Beiträge auf 2–5 Ellen pro Person sanken. Die institutionelle Vielfalt der Versorgungsarten in Schleswig-Holstein wird erneut als Folge der relativ unspezifischen Anweisungen in der Kirchenordnung von 1542 zu deuten sein. Noch einmal sei daran erinnert, daß hier und in Skandinavien auch der Straßenbettel üblich blieb. Ein Blick nach Pommern soll das Bild ergänzen. Im Heilig-Geist-Spital zu Stolp wohnten 1553, wie aus der Jahresrechnung544 hervorgeht, 40 Personen, zu deren alten Rechten unter anderem stets eine Tonne Bier am Martinstag, zu Weihnachten und zu Ostern (immer 3 mk), Fleisch und Butter, Heringe und Bier zur Fastnacht (29 mk) und ein Taschengeld von je 4 ß zu Beginn der Fastenzeit auf „kopselige mandach“545 gehörten. Darüberhinaus wurde jedem der 40 Bewohner jährlich ein Fleischpfennig von 1 mk ausgezahlt. Insgesamt ergibt die Jahresrechnung für 1553 Ausgaben von 120 mk für Heringe und Butter, 46 mk für Fleisch und Fleischpfennig, 45 mk für Bier und 5 mk 7 ß für Holz. Im St.Jürgens-Spital waren die Verhältnisse im Grundsatz ähnlich, wichen aber in charakteristischer Weise ab. Auch hier gab es alte Ansprüche auf Bier und Fleisch zu 539
Vgl. soweit ebd.; S. 235. – Einnahmeregister 1543 (2006); S. 45. Vgl. Höft 1887; S. 243. 541 Vgl. ebd.; S. 248. 542 Kiel StA; Nr. 376, fol. [1]. – Übertragung: ,… sind für die Armen gekauft 6 graue Osnabrücker Laken und folgenden Personen ausgeteilt, und sind vom Bürgermeister Amling van Lengeke gekauft und kosten 60 Mark.‘ 543 Ebd.; fol. [2]. 544 Vgl. Greifswald PLA ; Rep. 38 b Stolp, Nr. 841. 545 Ebd.; fol. [5 r°]. – So hieß der Montag nach Invokavit, in diesem Fall der 20. Februar. 540
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Weihnachten, Bier am Martinstag, zu Ostern und Pfingsten. 1553 wurden, leider ohne daß die Personenzahl zu ermitteln ist, 125 mk 9 ß für Fleisch und Schlachtvieh, 41 mk 8 ß 9 d für Holz, 39 mk 10 ß für Butter, 16 mk für Salz, 11 mk 6 ß für Bier, 8 mk 6 ß für Schweinefutter, 4 mk 8 ß für Fisch, 3 mk 14 ß für Essig, 2 mk 12 ß für Hafergrütze, 2 mk für Pfeffer und 1 mk 14 ß für Öl ausgegeben. Der Unterschied im Speiseplan fällt ins Auge. Gerade im Siechenhaus St. Jürgen wird man zur Stärkung der Kranken auf gut zubereitete Kost mit viel Fleisch, wenig Fisch und wenig Bier geachtet – oder ganz Schwache mit Haferschleim gefüttert haben. Zwar nicht in der Pommerschen Kirchenordnung, aber dann in denen für Hildesheim und Braunschweig-Wolfenbüttel hatte Bugenhagen mit Blick auf die Armen in den Siechenhäusern gemahnt, „dat de nene nodt liden mit bedden, waschen, eten etc.“546. Sogar die Lebensmittelbestellungen konnten bisweilen fürsorgliche Züge annehmen. So wurde einem Schlachter Geld geliehen, das er durch sonntägliche Fleischlieferungen erstatten konnte.547 Aus der Krankenversorgung erklären sich auch die hohen Heizkosten, die ebenfalls in Bugenhagens Sinne gewesen sein dürften.548 Als dritte Gruppe waren die „armen vnd hußarmen“549 zu bedenken, Fremde wie Einheimische mithin, die nicht regelmäßig in den beiden Häusern versorgt wurden, oder die aus bestimmten Gründen besondere Unterstützung nötig hatten. So erhielt eine Frau, die offenbar im Siechenhaus lebte, Kostgeld für die Versorgung eines Waisenkindes550, anderen Leuten wurden Arztkosten bezahlt551, Schuhe552 und sogar Bücher553. Wollten arme Mädchen heiraten, so konnte ihnen oder ihren Vätern, die z. T. schon als alte Männer bezeichnet wurden, mit dem fehlenden Geld zur Aussteuer geholfen werden.554 Auch erhielt die Schule Geld für Armenbestattungen, was auf die Tätigkeit des Schulmeisters als Totengräber hindeutet.555 Doch bekamen auch immer wieder „vmb gots willen“ arme Männer und Frauen Geld, ohne daß sonst Gründe angeführt wurden. Zur Entlastung der Diakone mochte es genügen, hier auf die christliche Liebe hin546 Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 883. – So auch ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 80. – Übertragung: ,… daß die keine Not leiden mit Betten, Waschen, Essen usw.‘ 547 Vgl. Greifswald PLA , Rep. 38 b Stolp, Nr. 836, fol. [30 r°]. 548 Zu Bugenhagens Wunsch nach geheizten Kammern für die besonders Kranken vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 218 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 160. – Zur Hospitalversorgung insgesamt vgl. unten S. 338 ff. 549 Greifswald PLA ; Rep. 38 b Stolp, Nr. 846, fol. [8 r°]. 550 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 836, fol. ult. r°; Nr. 839, fol. [45 r]; Nr. 841, fol. [12 r°]; Nr. 846, fol. [8]. 551 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 839, fol. [45 r°]; Nr. 840, fol. [9]; Nr. 845, fasc. 3, fol. [9 r°]; Nr. 864, fol. [60]. 552 Vgl. ebd.; Nr. 840, fol. [9]. 553 Vgl. z. B. ebd.; Nr. 840, fol. [9]; Nr. 845, fasc. 3, fol. [9 r°]. 554 Zweimal sind 6 mk belegt, einmal 8 mk, einmal 12 mk, einmal 18 mk, einmal gar 36 mk. Vgl. ebd.; Nr. 846, fol. [8]; Nr. 862, fasc. 3, fol. [9] (8 mk und 36 mk!); Nr. 866, fol. [61]r°. 555 Vgl. ebd.; Nr. 840, fol. [12 r°].
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zuweisen.556 Zu den Fremden, die hier eine Unterstützung erhielten, gehörten schließlich auch immer wieder arme Prediger.557 In einem anderen Fall erhielt ein Pole, der in türkische Gefangenschaft geraten war und sich daraus „kantzunen scholde“, sich also auf Kaution hatte freikaufen müssen, durch Befehl des Bürgermeisters 4 mk ausgezahlt.558 Schon die stichprobenartige Durchsicht von Archivalien aus Braunschweig, Pommern und Schleswig-Holstein hat ein vielgestaltiges Bild von der Bandbreite der Hilfsmöglichkeiten geliefert. Die konkreten Maßnahmen beschränkten sich nicht darauf, Arme und Kranke mit einem Pfennig abzuspeisen; vielmehr wurde die persönliche Verantwortlichkeit der Diakone allerorten ernstgenommen und führte von Fall zu Fall zu Entscheidungen, die immer wieder ,um Gottes Willen‘, also aus christlicher Liebe getroffen wurden. Besonders die variantenreiche Versorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln, Textilien, Schuhen, sogar Büchern in und außerhalb der ,geschlossenen‘ Armenpflege belegt eindrücklich, daß es der reformatorischen Fürsorge in den untersuchten Städten und Territorien theoretisch wie praktisch keinesfalls nur darum gegangen sein kann, das individuelle Almosengeben durch eine zentral verwaltete, die Bedürftigen bürokratisch klassifizierende Vergabe von sparsamen Bargeldbeträgen zu ersetzen. Mittelalterliche Formen der persönlichen Begegnung zwischen Reich und Arm wurden sogar übernommen, wo es hilfreich schien. Eine bloß an ordnungspolizeilichen Interessen orientierte Fürsorge hätte sich, wenn auch vielleicht nicht enge, so aber doch strenge Grenzen gesetzt. Doch weder in den Bestimmungen Bugenhagens noch in der Praxis vor Ort konnten Indizien für sozialdisziplinatorisches Kontrolldenken gefunden werden.
8. Die Schatzkästen und ihre Bedeutung für die öffentliche Fürsorge Die konzeptionelle Abtrennung des Schatzkastens zur Besoldung des Personals und zur Deckung der übrigen laufenden Kosten einer Kirchengemeinde im Unterschied zum Gemeinen Kasten als Fürsorgeinstitut wird allgemein als besondere Leistung Bugenhagens und als Fortschritt gegenüber älteren Kastenmodellen gewertet.559 Wie bereits zu sehen war, mochte die bloße Existenz des Schatzkastens den Verdacht abwenden, die Spendenaufrufe der Prediger wären von eigenen Interessen getragen. Insofern konnte deren feste Besoldung aus einer eigenen 556
Vgl. ebd.; Nr. 836, fol. ult. Den als ,Prediger‘ bezeichneten Männern wurde ausgezahlt: 2 mk 4 ß (Nr. 836, fol. ult. r°); 2 mk auf Befehl des Bürgermeisters (vgl. ebd.; Nr. 845, fasc. [3], fol. [9 r°]); 13 ß (Nr. 862, fasc. [3], fol. [9]); zweimal 1 mk (Nr. 855, fol. [54 v°]; Nr. 864, fol. [60]). 558 Ebd; Nr. 855, fol. [54 v°]. 559 Stichproben aus der Forschungsgeschichte: Nobbe 1889, S. 588 f. – Wolf 1935 (21962); 275. – Lane 1974; S. 177. – Grell 1997; S. 52. – Kreiker 1997; S. 56 f. – Jütte 2007; S. 14. 557
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Kasse auch die Bereitschaft erhöhen, den Gemeinen Kasten als unabhängiges und durch Diakone selbstverantwortetes Fürsorgeinstitut zu unterstützen.560 Freilich darf nicht unterschlagen werden, daß auch der Schatzkasten als solcher gewisse Leistungen der öffentlichen Fürsorge übernehmen konnte. Einige Aspekte seien im folgenden skizziert. Bugenhagens Braunschweiger Ordnung sah vor, in jeder Kirchspielskirche einen Schatzkasten zu installieren, in den folgende Güter eingebracht werden sollten: (1.) Alle Stiftungen, die bisher im weitesten Sinne dem Unterhalt der Geistlichen gedient hatten, also solche für Seelmessen, Kalande, Benefizien, ausdrücklich aber erst, „wen se ls steruen“561. Die aktuellen Inhaber solcher Pfründen sollten davon zunächst weiterhin leben können. (2.) Alle Kirchengüter, wie sie zuvor von den Kirchgeschworenen verwaltet worden waren. (3.) Das Quatemberopfer, das speziell zur Unterstützung der Prediger in den vier Fastenzeiten des Jahres gezahlt werden sollte. Hierauf sei die Ordnung des Predigtamtes und der Schule besonders angewiesen, solange noch nicht auf die vakanten Stiftungs‑ und Kirchengüter zugegriffen werden konnte. Bei den Verhandlungen über die Annahme der Kirchenordnung anhand des kurzen Verzeichnisses wurden im August 1528 Bedenken laut, diese Abgabe solle besser in das Ermessen jedes Einzelnen gestellt werden.562 Die Einsprüche hatten jedoch keinen Erfolg, der Passus wurde gedruckt. Die Prediger sollten den Vierzeitenpfennig fleißig einfordern. (4.) Zweifellos, so heißt es weiter, würden auch die Gilden und Bruderschaften dasjenige, was zuvor für Wachslichte und Messen in die Kirchen geflossen sei, jetzt in den Schatzkasten geben. (5.) Was abwesende Benefizieninhaber ihren lesenden Meßvikaren gezahlt, auch was Oblaten und Wein gekostet hätten, sei fortan in den Schatzkasten zu entrichten. (6.) Über Investitionen der Weichbildräte bei den einzelnen Kirchen sei in jedem Fall gesondert zu verhandeln. Die Verwaltung der neuen Kästen sollte an jeweils vier aus dem Rat und der Gemeinde entsandte „vorstendere edder Schat Casten heren“ übergeben werden, „de ock to dehle diakene synt to vorsorgen de dnere der kerken“563. Damit war bereits angedeutet, daß auch der Unterhalt des kirchlichen Personals als diakonische Aufgabe verstanden werden konnte, insofern Besoldung wie Armenfürsorge gleichermaßen das tägliche Auskommen sichern und jede existentielle Not abwenden sollten. Ein festes Einkommen schloß nicht aus, daß zusätzlich einmal 560
Vgl. oben; S. 211 u. 299 f. Dezidiert anders Wolf 21962; S. 275. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 146. – Übertragung: ,… wenn sie ledig werden‘. 562 Vgl. Hering 1888; S. 53. 563 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 146. – Übertragung: ,… Vorsteher oder Schatzkastenherren‘, ,… die auch teilweise Diakone sind, [nämlich] um die Diener der Kirche zu versorgen‘. Vgl. insgesamt ebd.; S. 145–147. – Für Hamburg und Lübeck war nur ein zentraler Schatzkasten vorgesehen. Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 228–227. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 164–175. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 120–125. 561
V. Gemeine Kästen und Schatzkästen
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geholfen werden mußte. So sollten die Hamburger Schatzkastendiakone auf den Lebensstandard der Prediger ein Auge haben, „dath ße ene nene noedt lathenn lyden / wen ßunderghe noeth edder schade / edder kranckheyt en voruille / dath ße myth erem bestemmedenn ßolde nycht kondenn vthkamenn.“564 Über die fürsorglichen Aspekte von Besoldung und Dienstordnung der Geistlichen, aber auch über den Umgang mit altgläubigem Personal wird daher an späterer Stelle565 noch ausführlicher zu sprechen sein. Die Hospitäler566 sollten in Braunschweig nicht unter die Gemeinen Kästen integriert werden (so wie später in Hamburg567 und Lübeck568 unter die Armenhauptkästen), sondern bei eigenverantwortlicher Rechnungsführung mit den Schatzkästen in Verbindung stehen. Beabsichtigt war, daß stets einer der alten Hospitalvorsteher an seinem Platz bleibe, „dat nicht eyn schade geschehn mochte mit vnrade / wen nye dar to qumen de nicht dar mede hedden v gangen“569. Diesem erfahrenen, früher von der Stadt bestellten Vorsteher sollte jeweils einer der Schatzkastendiakone desjenigen Weichbilds zur Seite gestellt werden, in dem sich das Spital befand, bei außenliegenden Häusern möglichst einer aus der nächstgelegenen Kirche. Zusätzlich zu den bestehenden sollte vor den Toren der Stadt noch ein Pesthaus errichtet werden, und zwar durch die Schatzkastenherren der ganzen Stadt, während für seine möglichst großzügige Ausstattung „mit tende / drinkende / vre / beddewerke / arstenye etc“ die Armenkastendiakone zuständig sein sollten.570 Was mithin als Projekt der ganzen Stadt avisiert war, kam jedoch nicht zur Ausführung.571 Möglicherweise war der Bedarf mit 23 zur Fürsorge bestimmten Häusern, die in Braunschweig vom Mittelalter bis 1700 gezählt werden konnten, doch weitgehend gedeckt.572 Für alle Spitäler sah Bugenhagen im übrigen vor, daß nach der jährlichen Rechenschaftslegung die Überschüsse dem zugehörigen Schatzkasten übergeben werden sollten – doch 564 Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 118 f. – Übertragung: ,… damit sie sie keine Not leiden lassen, wenn ihnen besondere Not, Schaden oder Krankheit geschehen sollte, so daß sie mit ihrer bestimmten Besoldung nicht auskommen können.‘ 565 Vgl. unten; S. 416 ff. 566 Vgl. allgemein zu den Hospitälern unten S. 338 ff.; speziell zu Braunschweig Boldt 1988. 567 Vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 216 f. 568 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 159. – In Pommern war das Verfahren freigestellt, falls bestehende Hospitäler allein existieren könnten. Ansonsten waren sie ebenso wie künftige Neugründungen von den Armenkästen zu übernehmen. Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 118 f. 569 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 147. – Übertragung: ,… damit nicht durch Unerfahrenheit ein Unglück geschehe, wenn Neue dazukommen, die damit noch nicht zu tun hatten.‘ 570 Ebd.; S. 146. – Übertragung: ,… mit Essen, Trinken, Feuerung, Bettzeug, Arznei usw.‘ 571 In den akribisch recherchierten Katalogen der Braunschweiger Fürsorgeeinrichtungen bei Boldt 1988; S. 213–227 und 364–382 fehlt jedes Indiz, daß ein solches Haus gebaut und unterhalten worden wäre. 572 Vgl. ebd.; S. 213.
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nicht zum Schaden der Spitäler selbst und ihrer Bewohner.573 Umgekehrt ist auch davon auszugehen, daß die Schatzkästen im Notfall für die zugewiesenen Hospitäler aufkommen mußten. Eine Verbindung zu den Gemeinen Kästen, die für die offene Armenfürsorge bestimmt waren, ist in Braunschweig jedoch nicht angestrebt worden. Daß die Rechnungen der Braunschweiger Spitäler und Beginenhäuser seit jeher autonom, doch gleichwohl analog zu den allgemeinen Rechnungen der Kirchengemeinden geführt wurden, erhellt aus dem städtischen Goddeshuse Register, einem gemeinsamen Rechenschaftsbuch, das im Zeitraum von 1412 bis 1572 durch die Kirchgeschworenen und Älterleute der einzelnen Kirchengemeinden, Spitäler und Beginenhäuser zusammengestellt wurde.574 Es enthält für jedes Jahr ausschließlich die Überschüsse bzw. Defizite jeder einzelnen Kasse: Bereits in vorreformatorischer Zeit wurden den Daten der gemeindlichen Kirchenkassen diejenigen der Spitäler und Beginenhäuser ganz selbstverständlich zur Seite gestellt, was nach der Reformation auch prinzipiell ohne Änderung weitergeführt wurde – nur mit dem Unterschied, daß die Kirchengemeinden jetzt nur noch die Bilanzen ihrer Schatzkästen eingaben, während die Gemeinen Kästen hiervon getrennt mit separaten Rechnungen geführt wurden.575 Daher mußten alle Kassen im Jahr nach der Umstellung fast ausnahmslos erhebliche Einbrüche, zum Teil auch signifikante Defizite verbuchen. Dies ergibt sich aus einem diachronen Vergleich von Bilanzdaten derjenigen Kassen, die in den Jahren vor und nach der Kirchenordnung regelmäßig ihre Angaben ins Goddeshuse Register eintragen ließen.576 Ein Nachlassen der Spendenbereitschaft als Folge der reformatorischen Rechtfertigungslehre kommt als Ursache nicht infrage, denn die Schatzkästen sollten ja gerade nicht auf spontane Gaben angewiesen sein, sondern von der angesprochenen Mischung aus Kirchengütern und Stiftungskapital gespeist werden, von denen schon zuvor die laufenden Kosten für Personal, Bauten und andere Zwecke der Gemeinde bestritten worden waren. Doch gerade die Ablösung älterer Meßstiftungen und Vikarien brauchte nach der Kirchenordnung ihre Zeit, während die Abtrennung der Gemeinen Kästen gleich nach der Kirchenordnung für das baldige Funktionieren des offenen Wohlfahrtssystems sorgen konnte. Die dort verwendeten Gelder standen den Schatzkästen nicht zur Verfügung. So sind die plötzlichen Einbrüche des Jahres 1529 zu erklären, die jedoch innerhalb we573
Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 147 f. Vgl. Braunschweig StA, Abteilung B I 14, Nr. 2. 575 Ab 1529 ist in etlichen Gemeinden ausdrücklich „van der groten kÿsten“, also vom Schatzkasten der Kirchengemeinde die Rede, um den Unterschied zum Armenkasten zu verdeutlichen. Vgl. z. B. ebd.; fol. 94 v°. 576 Nicht alle kirchengemeindlichen Kassen und nicht alle Hospitäler und Beginenhäuser haben in jedem Jahr ihre Daten genannt. Ich berücksichtigte daher diejenigen elf Kassen, deren Bilanzen von 1520 bis 1535 einigermaßen vollständig im Register belegt sind, ohne an dieser Stelle eine tiefgehende Analyse aller Bilanzen vorlegen zu wollen. Erst in späteren Jahrgängen sind bis zu 22 Kassen vertreten (etwa 1567, vgl. ebd.; fol. 156). 574
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niger Jahre größtenteils wieder wettgemacht werden konnten. Die Bestimmungen der Braunschweiger Ordnung, die eine Parallelisierung der Spitalfinanzen zu den gemeindlichen Schatzkästen vorsah, statt jene den Gemeinen Kästen unterzuordnen, orientierten sich also am lang praktizierten Verfahren, führten dann nur kurzfristig zu Verlusten dieser Kassen und bildeten in den weiteren Jahren die rechtliche Grundlage zu deren Restabilisierung. Die Verknüpfung der Braunschweiger Hospitäler mit den Schatzkästen bedeutet nicht nur die Anerkennung ihrer institutionellen Autonomie. Diese Einrichtungen wie auch das Amt der Hebamme rechnete man dort unproblematisch in den Bereich der kirchlichen Aufgaben mit laufenden Kosten (Besoldung und Kirchenfabrik), nicht in jenen von der Spendenbereitschaft der Gemeinde, von der Umwidmung bestehender Stiftungen und generell von der christlichen Liebe abhängigen Haushalt, der sonst von den Armenkästen abgedeckt wurde. Tatsächlich sollten die Braunschweiger Hebammen jährliche Zuwendungen durch die Schatzkastendiakone erhalten577, in Hamburg jedoch wieder durch die Armendiakone, weil dies nun ausdrücklich als Kompensation kostenloser Dienste an den besonders Armen betrachtet wurde.578 Ähnlich war es mit Stipendien. In Hamburg war vorgesehen, zum Besten der Stadt „veer Studentenn in Vniuersiteten tho holdende / vth der ghemenenn Schatkastenn“. Hier war nicht an Armenfürsorge, sondern an die Entsendung fähiger Leute gedacht, die sich später in ihrer Stadt nützlich machen würden. Daher lag die Bezahlung aus dem Hauptkasten nahe.579 In Lübeck wiederum sollten fünf Studenten dasselbe Stipendium, jeweils 30 Gulden, aus den Gemeinen Kästen ihrer fünf Kirchspiele erhalten – allerdings nur, wenn die Kästen etwas übrig hätten. Dabei entsprach die Summe einer echten Lehrerbesoldung.580 Und schließlich war die Anschaffung geeigneter Bücher für den Gesang und die Lektüre durch Schulkinder nicht als Akt der Fürsorge, sondern als Kauf unverzichtbaren Inventars zu verstehen und mußte daher selbstverständlich aus dem Schatzkasten bezahlt werden.581
577
Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912).; S. 148. Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 122 f. 579 Ebd.; S. 62. – Übertragung: ,… vier Studenten an Universitäten zu unterhalten aus dem Haupt-Schatzkasten‘. 580 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 45. 581 Vgl. ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 74. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 168 f. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 71, wo von den Kästen die Rede ist. 578
VI. Ordnung der Dienste Mit den Kastenordnungen war Bugenhagens Fürsogemodell nicht erschöpft.1 Sie bildeten zwar das finanzpolitische und organisatorische Kernstück hierzu, aber auch in den übrigen Passagen seiner Kirchenordnungen machte Bugenhagen immer wieder Vorschläge zur seelsorgerlichen und medizinischen Betreuung Kranker (VI.1), zum Umgang mit Kriminellen und anderen Sündern (VI.2), zum Dienst an jungen Müttern und ihren Neugeborenen (VI.3), zur Fürsorge an Schülern, Lehrern und Studenten (VI.4), zum friedvollen Umgang mit den Altgläubigen (VI.5) wie auch zur fürsorglichen Gestaltung landesherrlicher Personalpolitik (VI.6). Darüberhinaus gab er einschlägige Hinweise in Flugschriften. So muß um den Bereich der Kastenordnungen mit ihren Plänen zu Einnahme, Verwaltung und Verwendung der Gelder ein weiter Kreis gezogen werden, der die unterschiedlichsten Aspekte öffentlicher Fürsorge in den Städten, Territorien und Reichen einschließt oder jedenfalls berührt. Erst dieser vergrößerte Radius wird es ermöglichen, vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ein geschlossenes Gesamtbild von Bugenhagens Auffassungen zu gewinnen. Insofern die Vielfalt der genannten Gesichtspunkte auch den unterschiedlichen Werken der Barmherzigkeit Rechnung trägt, leiblichen wie geistlichen, sind auch diese Ausführungen dezidiert theologischer Art und lassen sich nicht von Bugenhagens theoretischen Vorüberlegungen zum Thema isolieren. Wie sich am Ende (VI.7) sogar herausstellen wird, können diese Ordnungstexte nicht nur jeweils partiell, sondern auch insgesamt als Akte obrigkeitlicher Fürsorge am christlichen Gemeinwesen interpretiert werden. Daß in den jetzt folgenden Kapiteln die tatsächliche Wirkung von Bugenhagens Anweisungen und Vorschlägen vor Ort nur recht selten nachgewiesen werden kann, hat seine Ursache in der teils ausgesprochen schwierigen Quellenlage zu den genannten Themen. Hier und dort wird es freilich möglich sein, jedenfalls wirkungsgeschichtliche Spuren zu verfolgen. In erster Linie soll es im folgenden jedoch um den Nachweis gehen, daß Bugenhagens Fürsorgekonzeption in der ganzen Fülle ihrer Aspekte einem konsistenten Programm folgte, das unter dem Primat christlicher Liebe stand.
1 Anders beispielsweise Sprengler-Ruppenthal 2004, wo fast durchweg nur von Bugenhagens „Kastenordnungen“ die Rede ist.
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1. Dienst an Kranken Im Spätsommer 1527 zog in Wittenberg die Schwarze Pest ein.2 Teile der Universität wurden nach Jena verlegt. Am 10. August forderte Kurfürst Johann auch Martin Luther auf, sich dorthin mit Frau und Kind in Sicherheit zu bringen.3 Doch Luther mochte die Stadt nicht verlassen: „Ego maneo“, schrieb er unmißverständlich an Georg Spalatin4, „Et necessarium est propter monstrum pauoris istius in vulgo. Itaque Pomeranus & ego hic soli sumus cum Capellanis, Christus autem adest, ne soli simus“. Daß er mit Johannes Bugenhagen, Georg Rörer und Johannes Mantel zugunsten seiner Gemeinde die Stellung halten wolle, sie aber durch Christus gleichwohl nicht allein wären, gab er in dieser Zeit gleichsam als Parole an verschiedene Briefpartner aus.5 Die Vorlesungs‑ und Predigttätigkeit führte er fort, ungeachtet der grassierenden Seuche, die zunehmend auch in Luthers engerer Umgebung manches Opfer forderte. Als am 2. November die pestkranke Hanna Rörer nach einer Totgeburt starb, die Schwester Johannes Bugenhagens, zog auch dieser mit seiner Familie in Luthers Haus6, aus dem inzwischen geradezu ein privates Hospital geworden war.7 Hier tröstete man sich gegenseitig. Da Luther von heftigen Anfechtungen gequält wurde, meinte Bugenhagen einmal: „,Sine dubio Deus sic cogitat: Quid faciam ego huic homini amplius? Dedi ei tot excellentia dona, et ipse desperat de mea gratia?‘ Magna mihi erat consolatio“, berichtete Luther vier Jahre später bei Tisch8, „et quasi Angeli vox esset, haerebat in corde meo, quanquam ipsium non intellexisse putem, quid dixerit, aut quod ita bene dixerit.“ Die Szene vermag den hohen Stellenwert seelsorgerlichen Handelns in einer von Krankheit und Tod geprägten Gesellschaft zu verdeutlichen, das weit über medizinische Versorgung und Pflege hinausging. Zugleich belegt sie eindrücklich, daß die Reformatoren auch selbst der Nächstenhilfe bedürftig waren, die sie kirchenorganisatorisch in größerem Maßstab forderten. 2
Vgl. zum ganzen Brecht 1994; Bd. 2, S. 205–207. Vgl. Kurfürst Johann an Luther. Torgau, 10. August 1527, in: WA.Br 4 (1933), Nr. 1127, S. 227 f. 4 Luther an Spalatin. Wittenberg, 19. August 1527, ebd. Nr. 1130; hier S. 232. – Übersetzung: ,Ich bleibe. Das ist auch nötig wegen des Ungeheuers dieser allgemeinen Angst. Und so sind Pomeranus und ich hier mit den Kaplänen allein, auch Christus ist dabei, damit wir nicht allein sind.‘ 5 Vgl. ders. an Nikolaus Hausmann. [Wittenberg,] 20. August 1527, ebd. Nr. 1131. – Ders. an Joh. Agricola. [Wittenberg,] 21. August 1527, ebd. Nr. 1132. 6 Vgl. ders. an Justus Jonas in Nordhausen. [Wittenberg,] 4. November 1527, ebd. Nr. 1165. 7 Vgl. ders. an Amsdorf in Magdeburg. Wittenberg, 1. November 1527, ebd. Nr. 1164; hier S. 275. 8 WA .TR 1 (1912), Nr. 122. Innere Anführungszeichen von mir. – Übersetzung: ,,Zweifellos denkt Gott: Was soll ich mit diesem Menschen noch machen? Ich habe ihm so viele ausgezeichnete Geschenke gegeben, und der verzweifelt an meiner Gnade?‘ Das war mir ein großer Trost und wie die Stimme eines Engels. Es haftete in meinem Herzen, obwohl er selbst wohl nicht verstand, was er gesagt oder wie gut er es gesagt hatte.‘ 3
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In den späteren Kirchenordnungen waren die Bestimmungen zur Krankenfürsorge niemals auf die Unterschichten beschränkt. Zwar ist der medizinische Zusammenhang von Krankheit und Armut in der Frühen Neuzeit9 nicht von der Hand zu weisen, doch will unter seelsorgerlichen Aspekten bedacht sein, daß der kranke und sterbende Mensch unabhängig von seiner sozialen Lage in schwerlich zu überschätzendem Maße auf geistliche Medizin angewiesen war. a. Krankenbesuche Beide, Luther und Bugenhagen, arbeiteten während jener Monate an Flugschriften zum Thema. Dringende Bitten Breslauer Theologen um eine Entscheidungshilfe beim verantwortlichen Umgang mit der Seuche beantwortete Luther im Oktober mit der Schrift Ob man vor dem Sterben fliehen möge10. Zwei gegensätzliche Möglichkeiten galt es hier zu bedenken: Einerseits habe Gott geboten, das Leben zu erhalten und nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen – auf der anderen Seite jedoch hatte er jedem Menschen seinen Platz in der Gesellschaft zugewiesen, der ihn mit anderen lebensnotwendig verband. Daher lobte Luther einerseits die Starkgläubigen, die auf ihren Posten bleiben wollten, warnte aber auch eindringlich vor Leichtsinn und billigte den Schwachen zu, sich vor der Seuche in Sicherheit zu bringen. Maßgebliches Kriterium sei jedoch die Verantwortung anderen gegenüber, an der in solchen Lagen besonders treu festzuhalten sei. So dürften die geistlichen und weltlichen Ämter eines Gemeinwesens unter keinen Umständen verlassen werden, weil ihre Dienste unverzichtbar seien. Ausnahmen könne es also nur geben, falls die hinreichende Versorgung beider Bereiche auch weiterhin garantiert sei, so daß nicht jeder zwingend am Ort sein müsse. Herren und Knechte, Frauen und Mägde, Ehepartner, Eltern und Kinder seien ebenso aneinander gebunden. „Ja es kan kein nachbar vom andern fliehen, wo sonst nicht sind die der krancken mgen an yhre stat warten und pflegen. Denn ynn diesen fellen ist allerdinge der spruch Christi zufurchten: ,Jch bin kranck gewesen und yhr besucht mich nicht‘ etc. [Mt 25, 43]. Aus welchem spruch wir alle sind aneinander verbunden“11. Wer aber nicht gebraucht werde, sei frei. Die Angst vor der persönlichen Zuwendung zum kranken Nächsten sei ein Werk des Teufels, dem jedoch fröhlich und mit aktiver Hilfe entgegengetreten werden könne, denn die Krankenpflege sei ein Werk, mit dem eigentlich Christus selbst gedient werde. „Lieber was sind alle ertzte, apoteken und warter gegen Gott? […] Was sind all Pestilentz und teuffel gegen Gott, der sich hie zum warter und artzt verbindet und verpflichtet?“12 Damit aber auch die Geistlichen ihre Aufgaben in Zeiten so 9
Vgl. Jütte 2007; hier 9–12. Vgl. Martin Luther: Ob man vor dem Sterben fliehen möge. 1527, in: WA 23 (1901), S. (323)338–386. 11 Ebd.; S. 345. 12 Ebd.; S. 359–361. 10
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großer Not richtig wahrnehmen könnten, riet Luther den eigenen Mitbürgern, sich regelmäßig durch Gottes Wort belehren zu lassen, früh und bereitwillig mit Beichte, Versöhnung und Sakramentsempfang zu beginnen und auch im Sterben nicht zu lange zu warten, bis endlich der Geistliche gerufen werde. Wenn es zum Sprechen bereits zu spät sei, dann könne kein Sakrament mehr gereicht werden. Zur selben Zeit veröffentliche Johannes Bugenhagen für solche Fälle einen Underricht deren, so yn kranckheyten und tods nöten liegen.13 Die Schrift, in handlichem Oktav gedruckt, war offensichtlich als Vademecum für Krankenbesuche gedacht, als Aufklärung darüber, „Wie vnd was man denen / so kranck ynn tods nten ligen / sagen vnd frlesen sol / Vnd auch vom Sacrament des waren leibs vnd bluts Christi.“14 Tatsächlich handelt es sich um einen kurzen Abriß der lutherischen Sünden‑ und Rechtfertigungslehre mit besonderem Schwergewicht auf dem Abendmahl. „Gott der Herr wil / das wir vns erkennen fr snder. Das wir snder sind / kan er wol leyden / das wir vns aber dar fr nicht halten / kan er nicht leyden.“15 Kein noch so frommes Werk kann uns daraus befreien. Nur der Glaube daran, daß Christi Tod uns erlöst hat, vermag die Sünde auszulöschen. Diese Gnade wird uns im Abendmahl zuteil. In den Einsetzungsworten „sihestu ffentlich / darvon wir zuuor geredt haben / das du ynn deinen snden verdampt bist / vnd kanst nicht genug thun mit all deinen krefften vnd wercken fr die aller geringste snd. Warmb solt Christus seinen leib geben haben yn den tod / vnn sein blut vergossen haben am Cretz vmb deiner sund willen / wenn du selb vermchtest dich mit deynen wercken von den snden erretten?“16 Mit der rhetorischen Frage klingt der aus dem Galaterbrief (Gal 2,21) variierte Satz aus Bugenhagens Epistola ad anglos wieder an: „Si ex operibus et nostro arbitrio iustificamur, ergo gratis Christus mortuus est.“17 Wer jedoch an die Rechtfertigung durch Christi Tod glaubt, braucht sich seiner Sünden wegen nicht zu fürchten. Typisch für Bugenhagens Laiendidaktik ist im weiteren Verlauf die einprägsame Wiederholung und Variation des Gedankens. Erst ganz am Schluß erscheint das Gespräch am Krankenbett, für das die Schrift konzipiert ist: „Nach solchem allem fragt man den krancken / ob er solchs / so er jtzt gehrt / also gleub. Gleubt 13 *[Johannes Bugenhagen:] Ein Underricht deren / so yn kranckheyten vnd tods nten ligen / Von dem heyligen Sacrament des waren leibs vnd bluts Christi / seer gut vnd ntzlich allen Christen zu lesen. Wittenberg: Barth 1527. – Die Schrift erschien 1530 auf dänisch, wohl durch Jørgen Jensen Sadolin aus Viborg übersetzt. Vgl. Martin Schwarz Lausten: En gudelig formaning, in: En håndbog for sognepræster 1535. En gudelig formaning for enfoldige sognepræster 1530 (hg. v. dems. u. Inger Bom). Kopenhagen 1970 (SRT 1), S. XX–XXIII; die Edition folgt S. 33–40. 14 Ebd.; fol. A1 r°. 15 Ebd. 16 Ebd.; fol. A3 r°. – Die Stelle ist ein schönes Beispiel für den reformatorischen Begriff des ,Öffentlichen‘. Vgl. nochmals Wohlfeil 1984. 17 Bugenhagen: Epistola 1525 (1978); fol. A2 v°. – Frühneuhochdeutsch: „So wir auss den wercken vnd auss vnserm freyen willen gerechtfertiget werden / so ist Christus vergeblich gestorben.“
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ehrs / so mag man yhn absoluirn / durch trst vnd verheyssen selicheit aus dem heyligen Euangelio. Ja solch glauben wie gesagt / ist die rechte Absolutio / Da spreche wir aus Gtlicher gwalt vns von Christo geben“18. Bugenhagen dachte also wirklich an Beichte und Absolution durch Laien. Ihnen wollte er mit dem Underricht eine kurze Anleitung zum seelsorgerlichen Gespräch in der Bedrängnis der Pestzeit geben und ermunterte sie ausdrücklich, den bekennenden Kranken die Vergebung zuzusprechen. Der abschließende Hinweis, daß die Absolution aus der Vollmacht Christi autorisiert sei, mochte die Gewissen der Beteiligten angesichts solcher Aufgaben entlasten. Dieser Zug ist bereits angeklungen.19 Im Zusammenhang mit der Nottaufe durch Frauen wird uns die für Bugenhagen typische Stärkung der Ämter im allgemeinen Priestertum noch einmal beschäftigen.20 In den Kirchenordnungen, die nicht für akute Notsituationen geschrieben waren, setzte Bugenhagen den gewöhnlichen Fall voraus, daß der Ortspastor zu den Kranken ging. Hier legte er freilich größten Wert darauf, daß die Angehörigen „nicht harren mit ren krancken bet an den lesten adem / wen se nicht bekennen konnen / vnde laten denne vnschicklick lopen in der nacht na de prestere“21. Solche Eile sei ganz plötzlichen Notfällen vorbehalten. Wenn der Geistliche dagegen überhaupt nicht gerufen werde, sei er entschuldigt, denn vielleicht verachte man dort das Evangelium und wünsche keinen Pastor. Doch einmal verständigt, solle er dann auch täglich oder alle zwei, drei Tage ans Krankenbett gehen, es sei denn, es wären sonst vernünftige Leute dort. Auch hier kommt das allgemeine Priestertum zum Tragen: Jeder Einzelne ist zur Hilfe am Krankenbett verpflichtet, und das schließt auch und insbesondere die Seelsorge ein. Wenn sich fähige Leute darum kümmern können, ist der Pastor frei. In den Ordnungen für Hamburg und Lübeck beließ es Bugenhagen bei eher allgemeinen Hinweisen, die gleichwohl erkennen lassen, daß ihm an gültiger Beichte und Mahlfeier ebensosehr gelegen war wie am seelsorgerlichen Gespräch, das Unterweisung im Wort Gottes, aber auch Beratung einschließen konnte.22 Erst von der 18
Ebd.; fol. A8 r°. Vgl. etwa oben; S. 270. 20 Vgl. etwa unten; S. 383 f. 21 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 51. – Übertragung: ,… nicht warten mit ihren Kranken bis zum letzten Atemzug, wenn sie nicht mehr beichten können, und dann unhöflicherweise in der Nacht nach dem Priester laufen lassen‘. – Ebenso ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 98 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 130. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 84 f. – Ähnlich Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 31. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 116 f. – Anders, aber der Tendenz nach ähnlich Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 858. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 62. 22 Der Pastor soll etwa mit den Kranken „rden vnde raden“. Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 51. – Ebenso ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 98 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 130. 19
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Pommerschen Kirchenordnung an entwickelte er aus einer ersten Braunschweiger Skizze23 ein besonderes Formular für die Krankenkommunion, das konzeptionell an die Meßordnung der Gemeinde angegliedert war, wogegen die Krankenbesuche selbst in die Dienstbeschreibung der Prediger hineingehörten.24 Der Abschnitt begann in der Pommerschen Kirchenordnung mit der Mahnung, auch den Kranken das Mahl nicht ohne Wort und Befehl Christi zu reichen. Daher legte Bugenhagen Wert darauf, daß auch hier die Konsekration vor dem Kranken geschehen sollte, damit dieser die Einsetzungsworte auch hören und verstehen könne. Daß Brot und Wein aus dem Gottesdienst ins Krankenzimmer mitgebracht würden25, kam schon deshalb nicht in Frage. Die Worte Christi sollten, wie Luther bereits in De captivitate Babylonica gefordert hatte, nicht heimlich gesprochen und nicht dem gemeinen Mann vorenthalten werden.26 Das war hier berücksichtigt. „Mit solcker wyse darff me neen Sacrament wech setten ynn dat ciborium / Vnde wy knen des misbrukes mit den monstrantien wol entberen.“27 Es ging Bugenhagen also darum, die Elemente wirklich nur für die individuelle Krankenfeier zu gebrauchen und jede Form der alten Sakramentsfrömmigkeit vor und nach der Feier auszuschließen. In diesem Sinne hatte er bereits in der Braunschweiger Ordnung betont, daß die Krankenfeier keine Winkelmesse sei: „wo denne / mit den kranken? schal me de ock alleyne communiceren? Antwort. Nt hefft eyn sunderlick recht“. Daher müsse den Kranken das gewünschte Sakrament auch gegeben werden, „wente se hren in vnse gemeyne / vnde gedenken vns nu gude nacht to seggen / dat se nicht wedder kamen willen in vnse lyfflike vthwendige gemeyne vp erden.“28 Auch sollte das Abendmahl den pommerschen Kranken in beiderlei Gestalt gereicht werden. Die ausdrücklich schlichte Zeremonie begann mit einer kurzen Vermahnung des Priesters an den Kranken und die Hausgemeinde, setzte sich mit Glaubensbekenntnis und Vaterunser fort, führte dann mit den Einsetzungsworten zum Mahl und wurde mit einem oder zwei Trostsprüchen beschlossen. Später sollte der Kranke auch weiterhin besucht werden. Mit der einmaligen Kommunion war der Dienst nicht erledigt. Auffälligerweise fehlt im pommerschen Krankenzeremoniell die Beichte, die in der kurzen Anweisung für Braunschweig noch stärker akzentuiert war. Dort 23
Vgl. ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 124. Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 84 f. mit 139–141. 25 So ermöglicht dies etwa die Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Neu bearbeitete Ausgabe, Bd. 3, Teil 4, Hannover 1994; S. 31 u. 76–83 mit einem eigenen Formular für das Mitbringen des Mahls aus dem Gottesdienst. 26 Vgl. Luther: De captivitate 1520 (1982); S. 197. 27 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 140. – Übertragung: ,Auf diese Weise braucht man kein Sakrament ins Ciborium wegzulegen, und wir können auf den Mißbrauch mit den Monstranzen gut verzichten.‘ 28 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 124. – Übertragung: ,Was ist denn mit den Kranken? Soll man für die auch allein kommunizieren? Antwort: Not hat ein besonderes Recht […], denn sie gehören in unsere Gemeinde und gedenken uns jetzt gute Nacht zu sagen, da sie nicht wiederkommen werden in unsere leibliche äußerliche Gemeinde hier auf Erden.‘ 24
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stand sie am Beginn der Feier. Wo in den übrigen Kirchenordnungen hier keine ausdrückliche Form der Krankenbeichte vorgeschlagen wurde, war jedoch in der Regel durch die Warnung, die Pfarrer nicht erst herbeizurufen, wenn der Kranke nicht mehr sprechen könne, implizit ausgesprochen, daß vor der Kommunion und vor dem Tod selbstverständlich gebeichtet werden müsse. In den meisten Ordnungen hieß es dazu übereinstimmend, wer bis zum Tode unbußfertig bleibe, habe auch kein Recht auf das Mahl. Dem jedoch, der zwar übel gelebt und das Evangelium verachtet habe, sich sterbend aber noch bekehre, könne auch gefahrlos das Sakrament gegeben werden. Der Pfarrer brauche hier nicht weiter zu richten.29 Die Besorgnis, daß er ohne genauere Überprüfung des Bußbekenntnisses vielleicht auch „sich selber zum Gericht ißt und trinkt“ (1 Kor 11,28 f.), sollte also keineswegs ausschlaggebend sein. Erneut begegnet hier der für Bugenhagen so typische Zug, die Gewissen der Verantwortlichen zu entlasten, indem statt allzugroßer Strenge empfohlen wird, im Zweifelsfall zugunsten des Schwachen zu handeln. Mit Blick auf die Beichte und ihren möglichen Einsatz als Disziplinierungsinstrument wird sich der Eindruck weiter unten sogar noch erhärten.30 Besonders ausführlich, offenbar durch die Arbeit der dänischen Theologen, war das Krankenzeremoniell der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz und mit ihr der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung. Sein Kern ist schon aus den Haderslebener Artikeln übernommen worden.31 Ein Vergleich mit dem korrigierten Entwurf zur Kirchenordinanz32 zeigt, daß Bugenhagen in diese Form nur an wenigen Stellen eingegriffen hat. Sie ist durch erheblich genauere Gesprächsanweisungen charakterisiert, die die eigentliche Kommunionsfeier gleichsam einrahmen. So wird dem Pfarrer empfohlen, sich zunächst ein Bild davon zu machen, inwiefern sich der Besuchte schon vor seiner Krankheit im Evangelium ausgekannt habe, damit er ihn gezielt unterrichten könne.33 Insbesondere sei, „wo ydt de gelegenheit des krancken liden kann“, in klaren Worten darzulegen, „dat wy alle snder syn / vnde allene dorch den gelouen yn Jhesum Christum / vorgeuinge der snde er-
29 Vgl. ebd.; S. 51. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 100 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 130. Falsch ist die Übertragung ebd.: „die Priester dürfen da nicht weiter richten“. Hier ist aber eine Gewissensentlastung der Geistlichen gemeint, denn ,dörven‘ bedeutet mit Negation stets ,nicht brauchen‘. Das Bekenntnis des Kranken soll ausschlaggebend sein, weitere Nachforschungen sind unnötig, um ein gültiges Abendmahl zu haben. Die Priester brauchen sich damit nicht zu belasten. – Vgl. auch Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 32 f. („nec enim latius minister judicare valet“). – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 122 f. 30 Vgl. unten S. 356 ff. 31 Vgl. Haderslebener Artikel 1528 (1983/84); S. 54–57. 32 Vgl. Udkast 1537 (1849); S. 87–90. 33 Noch die lutherische Agende von 1964 sieht vor: Wenn der Pfarrer zu einem Kranken geholt wird, „so überzeuge er sich bei seinem Eintreffen in einem seelsorgerlichen Gespräch, ob der Kranke das Sakrament begehrt und ob sein Zustand einen gesegneten Empfang erwarten läßt.“ Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 3, Berlin u. Hamburg 1964.
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langen“34. An dieser Stelle war vermutlich die Beichte vorgesehen, für die auch hier keine ausdrückliche Form verlangt war. Während der Vermahnung vom Sinn und Nutzen des Abendmahls sollten die übrigen Anwesenden „den disch mit einem reinen doke decken / vnde ein bernende licht / wor men dat hebben mach vpsetten / Thom lesten dat brodt vp de patenen leggen / vnde denn wyn yn den Kelck geten“35. Dann konnte die eigentliche Kommunionsfeier eröffnet werden, indem mit dem Vers „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind …“ (Mt 18,19) auf den vollgültigen Charakter des folgenden Zeremoniells hingewiesen wurde. Das Mißverständnis, hier könnte es sich um eine Winkelmesse handeln, war auch hiermit zurückgewiesen. Noch heute findet sich der Vers in einigen Agenden zur Eröffnung der Krankenfeier.36 Nach der Ansprache an die Hausgemeinde folgten Glaubensbekenntnis, Vaterunser und Einsetzungsworte, dann ausdrücklich die Austeilung in beiderlei Gestalt. Neu war bei dieser Gelegenheit der Hinweis, daß die Pfarrer „wol mgen er gewntlike kledt anhebben / Doch schal datsulue eerlick vnd temelick syn / vmme der werdigheit willen des Sacramentes.“37 Den Abschluß der Feier sollten weitere Belehrungen über Taufe, Glauben und Kreuz bilden, besonders über die Geduld im Leiden: Gott lege uns das Kreuz nicht auf, um uns zu vernichten, sondern als Anreiz zur Buße. In der Hildesheimer Kirchenordnung, die sonst wieder eine kürzere Form bot, kamen am Schluß der Feier zusätzlich Dankkollekte und Segen hinzu, auch ein, zwei gute Sprüche aus der Schrift wurden zur Tröstung empfohlen.38 In Schleswig-Holstein gab es Krankenbesuche mit Abendmahl in beiderlei Gestalt spätestens seit den 1530 er Jahren. Von der Halbinsel Eiderstedt sind aus den Kirchspielen Garding und Tating zwei Kelche bekannt, die noch vor der 34 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 118. – Übertragung: ,… je nachdem, wie es der Zustand des Kranken erlaubt‘ und ,… daß wir alle Sünder sind und allein durch den Glauben an Jesus Christus Vergebung der Sünde erlangen‘. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 31. – Udkast 1537 (1849); S. 88. 35 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 118. – Übertragung: ,… den Tisch mit einem sauberen Tuch decken und, wo man eine haben kann, eine brennende Kerze darauf stellen, zuletzt das Brot auf die Patene legen und dann den Wein in den Kelch gießen.‘ – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 31. – Udkast 1537 (1849); S. 88. – Daß der möglichst weißgedeckte Tisch so vorbereitet werden soll, daß der Kranke alles verfolgen kann, haben noch etliche neuere Agenden bewahrt. Vgl. etwa die Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 3, Berlin u. Hamburg 1964; S. 223. – Agende für die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck. Bd. 3, Kassel 1975; S. 136. 36 Vgl. etwa Kirchenbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg. Zweiter Teil, Teilbd. Das Heilige Abendmahl, o. O. 1977; S. 70. 37 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 120. – Übertragung: ,… gut ihre gewöhnliche Kleidung tragen können, doch soll dieselbe um der Würde des Sakraments willen würdig und angemessen sein.‘ – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 32. – Anders noch Udkast 1537 (1849); S. 89. Die Wendung geht also wohl auf Bugenhagens Bearbeitung zurück. 38 Vgl. Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 863. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 66.
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Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung in diesem Gebrauch gewesen sein müssen. Sicher als evangelischer Krankenkelch hergestellt und durch eine Inschrift als solcher zu identifizieren ist das Tatinger Stück von 1541.39 Aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert auch ein Krankenkelch des Goldschmieds Jürgen Bokholt in Lübeck-Schlutup.40 Der Brauch konnte in der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz und der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung also schon in gewissen Grenzen vorausgesetzt werden, wenn darin so selbstverständlich die Herrichtung eines Tisches mit reiner Decke, Kelch, Patene und Kerzen gewünscht wurde. Vor allem mußte man bereits davon ausgehen können, daß der Pastor die Gerätschaften mitbringen konnte. Das Verfahren scheint dann bald im ganzen Land akzeptiert worden zu sein. „Die breite Streuung von Krankenkelchen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts belegt“ einer Folgerung Wolfgang Teucherts gemäß, „daß sich auch bei der geistlichen Versorgung der Kranken und Sterbenden das Abendmahl in beiderlei Gestalt durchgesetzt hatte.“41 Auch wenn wohl noch oft das große Geschirr zur Krankenkommunion verwendet wurde, darf die Anschaffung eines geeigneten Kelchs als sicherer terminus post gewertet werden. So bezahlte 1601 die Kirchengemeinde Flintbek 4 Mark 2 Schilling für einen Krankenkelch, wobei der Goldschmiedegeselle zusätzlich 8 Schilling als Trinkgeld erhielt. Im Jahr darauf wurde für eine dazugehörige Patene und für die Reinigung des Kelches der Betrag von 2 Mark 2 Schilling ausgegeben.42 Bis heute sehen die Agenden eigene Formen für Krankenbesuche vor, die in ähnlicher Weise wie in der Reformationszeit um die Abendmahlsfeier in der Hausgemeinde herum konzipiert sind und wie damals Beichte, Zuspruch, Sakrament und Segenswort enthalten.43 Der Anteil der Seelsorge und der praktischen Hilfe darf dabei freilich nicht unterschlagen werden. Sowohl in den reformatorischen Kirchenordnungen als auch in den modernen Agenden kommt dem seelsorgerlichen Gespräch mit Kranken und Sterbenden eine wichtige Rolle zu. Daher forderte Bugenhagen die Prediger zu regelmäßigen Besuchen auf, nicht nur zum Zweck der Mahlfeier. Wie bereits zu sehen war, dachte er vor allem daran, daß die Kranken vielleicht selbst „vorstendige lde by sick hedden“, so daß ein Besuch des Pastors im Einzelfall gar nicht nötig wäre.44 Der Auffassung, daß der Dienst am Nächsten im christlichen Gemeinwesen alle betraf, entsprach aber auch eine speziellere Idee, mit der ins39 Vgl. W[olfgang] T[euchert]: Der älteste datierte evangelische Krankenkelch in SchleswigHolstein. Krankengerät (Kelch und Patene), in: Glauben. Nordelbiens Schätze 800–2000. Kat. Kiel 2000 (hg. v. Johannes Schilling); Neumünster 2000, S. 271. 40 Vgl. Beseler 1967 (1989); S. 171. 41 W[olfgang] T[euchert]: Die Gefäße für das Krankenabendmahl werden in den verschiedensten tragbaren Behältnissen aufbewahrt. Krankengeräte, in: Glauben 2000, S. 271 f. 42 Vgl. Schleswig SHLA ; Abt. 19, Nr. 748, fol. 12 r°–13 r°. 43 Vgl. etwa die Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Neu bearbeitete Ausgabe, Bd. 3, Teil 4, Hannover 1994. 44 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 51.
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besondere die weibliche Krankenpflege neu bewertet wurde. In jedem Kirchspiel, so schlug Bugenhagen in den ersten drei Stadtordnungen45 vor, sollte eine Liste von Frauen angelegt werden, die in Hospitälern oder durch regelmäßiges Almosen versorgt würden, doch gleichwohl imstande wären, sich um Kranke zu kümmern, weil sie selbst keine kleinen Kinder oder Kranke in der eigenen Familie zu versorgen hätten. Wenn solche Frauen gefunden werden könnten, die den Kranken dienen und ihnen Besorgungen machen wollten, so müßten sie es gewiß nicht umsonst tun, denn die Angehörigen sollten ihnen diese Dienste bezahlen, und für besonders arme Leute könnte auf Vermittlung der Prediger oder anderer der Gemeine Kasten aufkommen. Die Besonderheit dieses Vorschlags liegt darin, daß er auf doppelte Hilfe abzielte: Bedürftigen Frauen sollte geholfen werden, indem sie nach ihren Fähigkeiten Nächstenhilfe leisteten. Solchen Frauen, die dies bekanntermaßen wegen eigener Krankheit oder anderer Sorgen nicht schaffen würden, sollte der Krankendienst indes nicht aufgedrängt werden. Andere jedoch, die gut für solche Aufgaben geeignet wären, sich ihnen aber verweigerten, sollten künftig nicht weiter im Hospital geduldet und nicht mehr aus dem Gemeinen Kasten versorgt werden: „Wen se nmen scholen so is der bderlerschen vle / ouers to sulke dnste kan me to tiden nicht eynne vinden.“46 Daher sollten solche Frauen durch die Prediger freundlich ermahnt werden. In der Braunschweiger Ordnung war sogar eine Liste aller Braunschweiger Spitäler und Beginenhäuser angefügt, die hierfür infrage kämen. Auch sei bei der Werbung darauf zu achten, daß nicht böse Frauen das Projekt behinderten oder den bereitwilligen Frauen übel nachredeten. Mit der Erwähnung der Beginen griff Bugenhagen ausdrücklich eine bereits bestehende Form weiblicher Fürsorge auf, denn zum Unterhalt ihrer Häuser und Höfe hatten sich diese Religiosen bereits in hohem Maße der Krankenfürsorge und dem Totendienst verschrieben.47 Aus reformatorischer Sicht scheint es wichtig gewesen zu sein, solche Aufgaben von einem exklusiven Kreis besonders frommer Frauen und Männer auf alle Mitglieder des Gemeinwesens auszudehnen. Wenn Bugenhagen hierbei speziell an arme Frauen ohne Familienanhang dachte, also in erster Linie Witwen und Jungfrauen, aber eben auch die Beginen, die sich oft bewußt gegen eine Zukunft im Familienverband und für ein Leben in Armut entschieden hatten48, so entsprach dies ganz dem Bedürftigkeitsprofil der großen Städte. Aus denjenigen Braunschweiger Armenrechnungen, in denen Namenslisten geführt wurden, geht sehr deutlich hervor, daß die Unterstützten zum
45 Vgl. ebd.; S. 51 f. – Ebenso ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 100–103. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 131 f. 46 Ebd. – Übertragung: ,Wenn’s ans Nehmen geht, gibt es viele Bettlerinnen, aber zu solchem Dienst kann man zu Zeiten nicht eine finden.‘ 47 Vgl. Gleba 2004; S. 199 f. 48 Vgl. ebd.; S. 198.
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weit überwiegenden Teil weiblich waren.49 Es lag daher nahe, besonders unter den armen Frauen nach fähigen Kräften zum Krankendienst zu suchen. Dabei mochte es nicht nur um die Erschließung neuer Verdienstmöglichkeiten gehen. Attraktiv könnte vor allem die gesellschaftliche Anerkennung gewesen sein, die mit der Arbeit verbunden war. Ob der Vorschlag jedoch ausgeführt wurde, muß für alle drei Städte leider fraglich bleiben. b. Krankenfürsorge in Hospitälern und Pesthäusern Die Pestepidemie von 1527 hatte in Wittenberg auch eine Erweiterung der institutionellen Krankenpflege unter hygienischeren Bedingungen erfordert. Am 21. August willigte Kurfürst Johann brieflich in die Bitte des Rates ein, das aufgelöste Franziskanerkloster für die Unterbringung der Kranken freizustellen.50 Wenig später bestand Luther in einem Brief an den Kurfürsten51 noch einmal darauf, daß wirklich das ganze Kloster den Armen und Kranken als Wohnung zur Verfügung gestellt würde, einschließlich der Wasserversorgung, der Badestuben und der Brauerei, da man in den Armen Christus selbst diene (Mt 25,40). Dabei dürfte der Umstand, daß die Franziskanerkirche ursprünglich Grablege der Askanier gewesen war, als Hintergrund der eschatologischen Mahnung eine wichtige Rolle gespielt haben. Daß die vorhandenen Hospitäler für die große Zahl der Infizierten nicht ausreichen würden, war bei dieser Aktion sicher ein Motiv; entscheidend dürften aber hygienische Überlegungen gewesen sein, denn die Wirkung ansteckender Krankheiten war längst erkannt. Daher muß bereits in der spätmittelalterlichen Fürsorge unterschieden werden zwischen den eigentlichen Hospitälern, die für eine bunt gemischte Zahl von Bedürftigen eine Grundversorgung durch Obdach, Nahrung und Kleidung bereitstellten – und solchen Einrichtungen, die im Gegensatz hierzu auf bestimmte, meist streng definierte Gruppen spezialisiert waren. So dienten die Pest-, Blattern‑ oder Antoniterhäuser den je spezifischen Bedürfnissen der ansteckend (oder vermeintlich ansteckend) Kranken, die zum Schutz der anderen und zur konzentrierten Versorgung grundsätzlich isoliert, oft auch innerhalb der Häuser voneinander separiert untergebracht waren, während die Elendenherbergen vorrangig arme Pilger aufnehmen 49 Nicht alle Namen, die in den wöchentlichen Verteilungslisten geführt wurden, sind eindeutig Männern oder Frauen zuzuweisen. Einige sind Spitznamen, manche sind unlesbar oder so ungewöhnlich, daß eine klare Zuordnung ausscheidet. Eine exakte Auszählung ist daher kaum möglich. Eine gewisse Fehlerquote eingerechnet, kann zur Mitte des 16. Jahrhunderts jedoch der Anteil der Männer auf maximal 20 %–25 % derer geschätzt werden, die in der Braunschweiger Neustadt Unterstützung aus dem Gemeinen Kasten erhielten. Vgl. Braunschweig StA; Abt. B IV 11, Nr. 213. 50 Vgl. Edith Eschenhagen: Wittenberger Studien. Beiträge zur Sozial‑ und Wirtschaftsgeschichte der Reformationszeit, in: Lutherjahrbuch 9 (1927), S. 9–118; hier 105. 51 Vgl. [Martin] Luther an Kurfürst Johann. [Wittenberg], 16. September 1527, in: WA . Br. 4 (1933), Nr. 1144, S. 248.
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sollten. Die Grenzen waren freilich fließend, zumal Krankheit und Behinderung in der Regel auch Arbeitsunfähigkeit und damit Armut bedeuteten. Doch muß in unserem Zusammenhang festgehalten werden, daß nur der zweite Typ im eigentlichen Sinne der Krankenversorgung diente, dafür aber zu Spezialisierung und Isolation neigte, während die vergleichsweise offenen Hospitäler üblicherweise alle Funktionen der Armenfürsorge, doch nur ausnahmsweise auch medizinische Versorgung boten.52 Eine dritte Gruppe hatte sich seit dem 14. Jahrhundert mit dem Trend zum Pfründnerwesen ausgebildet. Wohlhabende Bürger kauften sich zur lebenslangen Versorgung in solche Einrichtungen ein, die teilweise niemals zur Unterbringung Bedürftiger bestimmt gewesen waren.53 Weiter vorn54 war bereits zu sehen, daß die Bevorzugung zahlungskräftiger Bürger bei der Aufnahme ins Große Hospital zu Straßburg auf heftige Kritik des Münsterpredigers gestoßen war, der in energischen Eingaben an den Rat auch die katastrophalen seelsorgerlichen wie medizinischen Zustände in den verschiedenen Einrichtungen der Stadt beklagte. Die Reformatoren behielten die spezialisierten Krankenhäuser bei, forderten und förderten sogar noch zusätzliche Einrichtungen dieser Art. Die Vorgänge um das ehemalige Franziskanerkloster zu Wittenberg mögen das beispielhaft verdeutlichen. Den Einkauf solventer Pfründner in die Hospitäler jedoch wies Johannes Bugenhagen in den Kirchenordnungen deutlich zurück. Solche Verfahren wären mit der reformatorischen Vorstellung einer Fürsorge aus christlicher Liebe nicht vereinbar gewesen. Die vom ganzen Gemeinwesen verantworteten Einrichtungen der Armen‑ und Krankenfürsorge sollten fortan vorbehaltlos den Armen dienen, in denen Christus selbst geehrt wurde. Dies wird bereits in der Braunschweiger Ordnung deutlich: „Vor gelt schal me nemand mehr nmen in de riken hospitale / sonder me holde dat alse id gemaket is vor arme olde borgere vnde borgerinnen / de sus anders neyne entholdinge / noch van ren guder noch van rer fruntschop / hebben“55. Offenbar wurde das nicht gleich umgesetzt. Der Rat bestätigte 1583 noch einmal, daß „in die Hospital Keine huren vnnd buben vmb gelt, sondern Arme vnuermugentsame burger vmbsonst vnd vmb Gotts willen“56 52 Vgl. insgesamt Kay P. Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter. Darmstadt 2005; S. 113 f. 53 Vgl. ebd.; S. 114. – Ferner ders.: Normbruch und Funktionswandel. Aspekte des Pfrundmissbrauchs in mittelalterlich-frühneuzeitlichen Hospitälern und Leprosenhäusern, in: Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 2006 (VSWG.B 189), S. 137–145; bes. 142 f. 54 Vgl. oben S. 109. 55 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 148. – Übertragung: ,Gegen Geld soll man niemanden mehr in die reichen Hospitäler aufnehmen, sondern man halte das, wie es eingerichtet ist für arme Bürger und Bürgerinnen, die sonst keinen anderen Unterhalt haben, weder von ihren Gütern, noch von ihrer Familie.‘ – Ähnlich noch ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 883. – Ders.: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 80. 56 Boldt-Stülzebach 1989; S. 58.
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aufgenommen werden sollten. Allein die Hamburger Ordnung sah begründete Ausnahmen vor, die aber nicht näher definiert waren.57 In der Regel sollten also nur arme Leute in die Braunschweiger Hospitäler genommen werden, die unverschuldet in Not geraten waren und auch nicht von ihren Familien ernährt werden konnten, „alse Paulus secht van den rechten vorlatenen wedewen / de ehrlick / reddelick / vnde Christlick by vns geleuet hebben“ (wohl nach 1 Tim 5,5.10). Was darüberhinaus von der Unterstützungswürdigkeit armer Leute auch in der offenen Fürsorge galt, ist bereits gesagt worden58 und war bei der Aufnahme ins Hospital analog anzuwenden. Bugenhagen scheint hier sogar ein viel stärkeres Interesse an strengen Ausschlußkriterien gehabt zu haben als in der offenen Fürsorge. So sollten Leute mit bekanntermaßen schlechtem Ruf grundsätzlich nicht in die ehrlichen Hospitäler genommen, aber in ihrer Not doch auf andere Weise versorgt werden. Auch sei es ungerecht und schade den ehrlichen Bewohnern, wenn böse und gotteslästerliche Diener in die guten Häuser kämen.59 In der Lübecker Ordnung war zwar ebenso die Feindesliebe hervorgehoben, doch anderseits auch davor gewarnt, Präzedenzfälle für Betrüger zu schaffen. „Besůndergen schal me sulke vnehrlike lde nycht yn de ehrliken Hospitalia nehmen ewych tho ernerende / me mach ehn sus wol anders in ehren warhafftigen nden tohůlpe kamen / alse gesecht ys.“60 Das zeigt, daß die offene Fürsorge aus Bugenhagens Sicht toleranter gehandhabt werden konnte als die geschlossene. Wie bereits zu sehen war, sah die Braunschweiger Ordnung eine weitgehende Autonomie der bestehenden Hospitäler vor, die gleichwohl mit dem Schatzkasten des zugehörigen Kirchspiels in Verbindung stehen sollten. Die Ordnung spricht von elf Einrichtungen, von „den Hospitalen to sunte Jste / to sunte Lenard / to sunte Elisabeth / to wrder / to sunte Tomes / to sunte Joans / de beginen by den bruder / beginen vp de kerckhaue Sancti Petri / beginen in sunte Peters pare / beginen in sunte Vlrikes pare / beginen i huse der van Damme.“61 Die fünf Spitäler und sechs Beginenhäuser nahmen zu dieser Zeit verschiedene Funktionen wahr: Das St.-Jodocus-Spital62 war 1351 als städtisches Pestkranken57
Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 228 f. Vgl. oben S. 282 ff. 59 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 148 f. 60 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 158. – Übertragung: ,Insbesondere soll man solche unehrlichen Leute nicht in die ehrlichen Hospitäler nehmen, um sie ewig zu ernähren; man kann ihnen gut auch anders in ihren wirklichen Nöten zu Hilfe kommen, wie gesagt ist.‘ 61 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 52. – Übertragung: ,den Spitälern zu St. Jodocus, zu St. Leonhard, zu St. Elisabeth, auf dem Werder, zu St. Thomas, zu St. Johannes, die Beginen bei den [Minder‑]Brüdern, Beginen auf dem St.-Peters-Kirchhof, Beginen in der St.Peters-Pfarrei, Beginen in der St.-Ulrici-Pfarrei, Beginen im Haus der van Dammes.‘ 62 Vgl. Helmut Gleitz: Das Hospital St. Jodoci zu Braunschweig. Ein Beitrag zur Geschichte des Wohlfahrtswesens der Stadt Braunschweig, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 17 (1940), S. 37–83. – Boldt 1988; S. 217. – Annette Boldt-Stülzebach: „tobehouf der armen pockenden lude …“ – Seuchenhospitäler im mittelalterlichen Braunschweig, in: 58
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haus gegründet worden, hatte sich aber entgegen seiner ausdrücklichen Bestimmung zunehmend zur Pfründnerinnenanstalt und schließlich zum Beginenhaus gewandelt. Das St.-Johannis-Spital63 diente jedenfalls zu Bugenhagens Zeit der Krankenfürsorge, beherbergte daneben auch zahlende Pfründner, war jedoch im 13. Jahrhundert zunächst allgemein zur Aufnahme bedürftiger Leute gegründet worden. Kurz vor der Reformation wurden auch hier tätige Beginen genannt. St. Leonhard64 dagegen, die älteste der genannten Einrichtungen, war wohl schon vor 1200 als Leprosenhaus außerhalb der Stadt gegründet worden und wechselte bis ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder sein Aufgabenprofil. Auch das St.Thomae-Spital65 war wohl vor 1330 vor den Toren gegründet worden, jedoch als Pilgerhof, der freilich auch bald Pfründner aufnahm und bereits im 16. Jahrhundert über besonders große Kapazitäten verfügte. Es „nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als es trotz des Wegfalls der Pilgerbetreuung nicht den Status eines Beginenhauses erlangt hat, sondern weiterhin Krankenbetreuung betrieb.“66 Das St.-Elisabeth-Spital67, nicht später als 1473 gegründet, war ebenfalls zur Aufnahme von Pilgern gedacht, hatte sich aber wiederum zu einem Beginenhaus entwickelt, das im 17. Jahrhundert neben St. Thomae zu den leistungsstärksten Fürsorgeeinrichtungen der Stadt gehörte. Ein Beginenhaus war auch der St.-Annen-Konvent auf dem Werder68, gegründet wohl zur Mitte des 15. Jahrhunderts, doch fehlen für Bugenhagens Zeit weitere Nachrichten. Auch nennt die Kirchenordnung mehrere eng benachbarte Beginenhäuser in der Gegend zwischen Petrikirche und Franziskanerkloster: Das Haus auf dem St.-Petri-Kirchhof 69 war 1290 für zwölf Schwestern gestiftet worden; auch der danebenliegende Alte Konvent St. Petri70, zuerst 1316 beurkundet, war auf das Zusammenleben alleinstehender Frauen eingerichtet. In Nachbarschaft zur Brüdernkirche kommen zwei Beginenhäuser infrage, der 1331 erstmals erwähnte Neue oder Hunebostelsche Konvent71, in den sich alleinstehende Frauen als Pfründnerinnen einkauften, und der ähnlich strukturierte, 1353 gestiftete Konvent Albert von Lesses72. Schließlich werden zwei Beginenhäuser der Familie van Damme genannt, von denen das kleinere, das 1408 gestiftet worden war, zu Bugenhagens Zeit nur einer oder Gotts verhengnis und seine straffe – Zur Geschichte der Seuchen in der Frühen Neuzeit. Katalog von Petra Feuerstein-Herz. Wiesbaden 2005, S. 77–84; S. 81 f. 63 Vgl. dies. 1988; S. 214. 64 Vgl. W[olf]-D[ietrich] von Kurnatowski: St. Leonhard vor Braunschweig: Geschichte des Siechenhospitals, der Kirche und des Wirtschaftshofes. Braunschweig 1958 (Braunschweiger Werkstücke 23). – Boldt 1988; S. 214 f. – Dies. 2005; S. 78 f. 65 Vgl. insgesamt Boldt 1988. 66 Dies. 1989; S. 48. 67 Vgl. dies. 1988; S. 221. 68 Vgl. ebd.; S. 220. 69 Vgl. ebd.; S. 215 f. 70 Vgl. ebd.; S. 216. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. ebd.; S. 218.
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zwei armen Personen Platz bot, das größere, vor 1366 gegründet, bis zu elf. Beide standen stets unter Verwaltung des Familienältesten.73 Die von Bugenhagen zusammengestellte Liste bietet also einen synchronen Querschnitt des geschlossenen Fürsorgewesens in Braunschweig und vermag mit den genannten elf Einrichtungen dessen mannigfaltigen Bestand zu repräsentieren. Zugleich ist jedoch auch der mehrfach angesprochene diachrone Wandel im Aufgaben‑ und Nutzerprofil einzelner Häuser geeignet, eine kürzlich erst aufgestellte und erprobte These der jüngeren Hospitalforschung trefflich zu bestätigen, wonach „die Fähigkeit zum strukturellen Wandel […] geradezu konstitutiv zu sein [scheint] für den dauerhaften Bestand von Hospitälern und damit auch für deren Geschichte“74. Mit Bugenhagens Forderung, künftig keine zahlenden Pfründner mehr in die Spitäler aufzunehmen, sollte nach 1528 ein erneuter Wandel hin zur durchweg kostenlosen Versorgung armer und kranker Leute eintreten, doch bedeutete das finanzpolitisch bedeutsame Verdikt nun keinesfalls den Niedergang des Braunschweiger Hospitalwesens. Die Einrichtungen blieben vielmehr in ihrer Verschiedenartigkeit bestehen und konnten vergleichsweise autonom weitergeführt werden, wie an einer Durchsicht jenes Goddeshuse Registers bereits gezeigt werden konnte, in das von 1412 bis 1572 die Bilanzen der meisten Schatzkästen, Hospitäler und Beginenhäuser der Stadt eingetragen wurden.75 Zur Zeit der Kirchenordnung partizipierten an dem Register durchschnittlich elf solcher Kassen (die nicht völlig identisch mit den von Bugenhagen elf genannten waren), doch im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts stieg die Zahl der jährlichen Einträge signifikant in die Höhe und hatte sich z. B. 1567 auf 22 beteiligte Einrichtungen verdoppelt.76 Ohne die entsprechende Wandlungsfähigkeit hätten die bestehenden Häuser unter den neuen Bedingungen nicht weiterbestehen können. Indes waren hierfür schon die Bestimmungen der Braunschweiger Ordnung selbst flexibel genug angelegt, indem die bisherige Parallelisierung der Spitalfinanzen zu den gemeindlichen Schatzkästen beibehalten werden sollte, statt jene in die Gemeinen Kästen zu integrieren. So war für eine weitgehende Autonomie der Häuser gesorgt, deren finanzpolitische Eigenverantwortlichkeit bewahrt werden konnte – freilich stets mit Bindung an den Schatzkasten des jeweiligen Weichbilds.77 Auch in anderen Städten blieben die Spitäler und ähnliche Einrichtungen in der Regel bestehen. Wie bereits zu sehen war, wurden sie zum Teil in die aufgelassenen Klöster verlegt, teils gründete man dort auch ganz neue Spitäler, deren 73
Vgl. ebd.; S. 218 f. u. dies. 1989; S. 44. Michael Matheus: Einleitung: Funktions‑ und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich, in: Funktions‑ und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich (hg. v. dems.). Stuttgart 2005 (Geschichtliche Landeskunde 56), S. VII–XI; hier X. 75 Vgl. oben; S. 326 f. 76 Vgl. Braunschweig StA, Abteilung B I 14, Nr. 2; fol. 156. 77 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 147 f. 74
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Aufgaben jetzt im Sinne gezielter Krankenfürsorge ausdifferenziert waren. In Lübeck forderte bereits am 30. Juni 1530, noch vor Bugenhagens Eintreffen, die Gemeindeversammlung den 64 Männern gegenüber, „dat dat kloster thor Borch tho einem krankenhuse, dar men arme borger inleggen mag“, umgewandelt werde.78 Demensprechend präzisierte die Lübecker Ordnung das Vorgehen, indem eine Hälfte des Burgklosters nach dem Fortgang der Dominikaner künftig „vor vnse elenden armen“ bestimmt sein sollte, „de myth Frantzosen edder pocken beuallen / dar ynne schlen se dorch de oldesten Diakene der armen myt Arstedie vnde temeliker notrofft vorsorget werden beth tho erer suntheyt / ydt were denne dat se sůluest gelt hedden / edder andere bekanden vnd frnde en huelpen / dat de gemeine Caste nycht vnndich besweret werde.“79 Die andere Hälfte des Klosters sollte Hausarmen als Wohnung dienen. Ganz in der Nähe, zwischen innerem und äußerem Burgtor, befand sich das alte Pockenhaus, das künftig für Pestkranke verwendet werden sollte: „dar schal eyn yewelick krancke (dat de eyne denn anderen nycht mehr vergyfftige) hebben sine egene affgedelede stede mit einem schorsteneken etc.“80 Großer Wert war hier und in anderen Kirchenordnungen81 darauf gelegt, daß man die Kranken sorgfältig mit Arznei, Nahrung, Heizung und Bettzeug versorge, damit auf diese Weise ein Gottesdienst an ihnen getan werde. Auch hier wurde die Alternative von falschem geistlichen Dienst an den prunkvollen Bildern und wahrem Dienst an den Bildern Christi vorausgesetzt und zusätzlich noch einmal deutlich gewarnt: „se wytlick tho vorsmende were snde“82. Befolge man dagegen solche Dienste, so werde Gott umso rascher wieder frische Luft geben – aus Gnade, versteht sich. Mindestens ebenso wichtig wie die medizinische Ausstattung war die seelsorgerliche. Seit dem dritten Laterankonzil (1179) sollte jedes größere Leprosenhaus eine eigene Kirche, einen eigenen Friedhof und einen eigenen Pfarrer haben 78 Kock (1830); S. 75. – Übertragung: ,… daß das Burgkloster zu einem Krankenhaus, in das man arme Bürger verlegen kann …‘ 79 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 160. – Übertragung: ,… für unsere elenden Armen, die mit Syphilis oder Pocken befallen sind. Darin sollen sie durch die Ältesten Armendiakone mit Arznei und gehörigem Lebensbedarf bis zu ihrer Genesung versorgt werden – es sei denn, daß sie selbst Geld hätten oder andere Bekannte und Freunde ihnen helfen, damit der Gemeine Kasten nicht unnötig beschwert werde.‘ 80 Ebd. – Übertragung: ,Da soll jeder Kranke (damit nicht einer den anderen anstecke) seinen eigenen abgeteilten Platz haben mit einem kleinen Kamin usw.‘ – Ähnliche Anweisungen zur Ausstattung des neuen Spitals in Hamburg machte ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 146. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 218 f. 81 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 47. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 178. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 883. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 80. 82 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 160. – Übertragung: ,sie wissentlich zu vernachlässigen, wäre Sünde.‘ – Ähnliche Anweisungen zur Ausstattung des neuen Spitals in Hamburg machte ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 218 f.
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dürfen, ohne das Recht der bestehenden Pfarren zu verletzen.83 Nach der Reformation sollte die seelsorgerliche Betreuung in den Hospitälern und Siechenhäusern weiterhin gewährleistet, ja sogar noch möglichst flächendeckend ausgebaut werden. So war für das Lübecker Heilig-Geist-Spital ein Prediger anzustellen, der auch für das neue Pockenhaus im Burgkloster zuständig sein und den übrigen Predigern bei ihren Diensten aushelfen sollte.84 Dementsprechend wurde auch in der ehemaligen Dominikanerkirche weiterhin Gottesdienst für die Bewohner des dortigen Armen‑ und Pockenhauses gefeiert.85 In Hamburg sollte der dritte Kaplan der Jakobikirche sogar im St.-Jürgens-Spital wohnen, neben der üblichen Besoldung bei freier Kost und Taschengeld, das sich erhöhte, sofern er verheiratet war. Seine Aufgabe war es, die Aussätzigen im Spital und die Kranken im Pockenhaus zu betreuen wie auch dem Pfarrer der Jakobikirche zu helfen, weil „dar vele meer krancken synth vnnd Elende lude alße in anderen Carspellenn“86. Ähnlich waren die Bestimmungen für das Heilig-Geist-Spital, das ebenfalls von einem Prediger versorgt wurde, der dort wohnen, ferner mit den Geistlichen der Petri-, Nikolai-, Katharinen‑ und Jakobikirche kooperieren und das neu zu errichtende Große Spital und Pesthaus mitbetreuen sollte.87 Die geistliche Versorgung würde mithin nicht an den Verwaltungsgrenzen der Spitäler haltmachen, denn die Verwaltung des St.-Jürgens-Spitals stand auch weiterhin in der Verantwortung des Hamburger Rates, während die übrigen Einrichtungen dem Gemeinen Kasten eingegliedert werden sollten. „Darumme“, so mahnte die Hamburger Ordnung, „schollen de Diakene erenn Hospitalenn vlitich vorstann dath der Armenn dar inne nycht werde vmme der kasten wyllen / affghebraken.“88 Auch in den skandinavischen Kirchenordnungen wurden die Prediger angehalten, ein‑ bis zweimal wöchentlich die kranken Hospitalbewohner zu besuchen, sie freundlich mit Gottes Wort zu trösten und, falls nötig, zu unterweisen. Die Visite war auch Visitation: Sollte der Geistliche etwa Versorgungsmängel bemerken, so wäre zunächst der Ökonom zur Rede zu stellen; zeigte sich dieser uneinsichtig, konnten die Vorsteher verständigt werden.89 Wie die Verbindung aus geistlicher und leiblicher Fürsorge in solchen Häusern nach der Reformation auch architektonische Gestalt gewann, läßt sich besonders 83 Vgl. Raymonde Foreville: Lateran I –IV (übers. v. Nikolaus Monzel). Mainz 1970 (GÖK 6); S. 198 u. 258 f. 84 Vgl. Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 93. 85 Vgl. Hauschild 1981; S. 201. 86 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 118. – Übertragung: ,… es da viel mehr kranke und elende Leute gibt als in anderen Kirchspielen.‘ 87 Vgl. ebd. – Zum Plan eines Großen Spitals vgl. ebd.; S. 218 f. Der Pesthof wurde freilich erst mit Ratsbeschluß von 1606 gegründet und bestand bis 1814, als ihn die Franzosen niederbrannten. Vgl. ebd.; S. 219, Anm. 299. 88 Ebd.; S. 218. – Übertragung: ,Darum sollen die Diakone ihren Hospitälern fleißig vorstehen, damit den Armen wegen des Gemeinen Kastens nicht verlorengeht.‘ 89 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 47. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 178.
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schön am Heilig-Geist-Spital zu Stralsund ablesen, das zuerst 1256 erwähnt worden war.90 Hier wie in zahlreichen anderen Heilig-Geist-Spitälern Norddeutschlands war dem eigentlichen Spitalkomplex eine stattliche Kirche vorgelagert, in diesem Fall eine hohe dreischiffige Hallenkirche des 15. Jahrhunderts, der im Spätmittelalter zahlreiche Altäre, Vikarien und Kleinode gestiftet worden waren. Ihr flacher Chorabschluß mündet seit etwa 1645 zu beiden Seiten des Altars direkt in den „Kirchgang“, eine hölzerne Emporengalerie, die rechts und links zu den symmetrisch in langgestreckten Flügelbauten angelegten Kammern führt. So war im Stralsunder Heilig-Geist-Spital sogar Bettlägerigen die Teilnahme am Gottesdienst ermöglicht, indem die Kirche gleichsam in die Wohnstätten verlängert war. „Noch 1996 bemerkte eine Bewohnerin des Kirchgangs, dass sie des Sonntags vom eigenen Wohnzimmer aus Predigt und Orgelspiel verfolge, ja dass sie aufgrund der guten Akustik gar nicht umhin könne, sich dem gottesdienstlichen Geschehen zu widmen.“91 Nach umfänglichen Sanierungsarbeiten wohnen heute wieder 20 Mieter im Kirchgang.92 Es ist bezeichnend für die Nachhaltigkeit reformatorischer Fürsorgepolitik, daß auch in anderen Städten Norddeutschlands die alten Heilig-Geist-Spitäler noch immer bewohnt sind, bisweilen ganz im wörtlichen Sinne. Die solchen und ähnlichen Häusern zugrundliegenden Stiftungen, so verschiedenartig sie auch waren, konnten in vielen Fällen teils ununterbrochen bis in die Gegenwart fortgeführt werden und finanzieren heute moderne Senioreheime, diakonische Pflegedienste und andere Serviceeinrichtungen. Mitunter sind formal noch die alten Satzungen gültig, in anderen Fällen gewährleisteten pragmatische Fusionen kleinerer Fonds die dauerhafte Erfüllung der Stiftungszwecke. Nur wenige Beispiele aus den Geltungsbereichen von Bugenhagens Kirchenordnungen mögen das illustrieren: In Braunschweig behauptete das St.-Thomae-Spital, das als einziges den Zweiten Weltkrieg mit wohl leidlich ausreichenden Reserven überstanden hatte, gegen alle Widrigkeiten seinen ursprünglichen Stiftungszweck und nahm 1954/55 die Überreste der meisten anderen Fürsorgeinstitute der Stadt in sich auf, so daß die neu stabilisierte Stiftung St. Thomaehof heute wieder etliche Wohnungen und Pflegeplätze für rund 630 Senioren zur Verfügung stellen kann.93 Bemerkenswert ist in Braunschweig besonders, daß sich neben den übrigen Spitälern, Siechenhäusern und Herbergen sogar die Beginenhäuser noch bis weit in die Neuzeit hinein als Wohnstätten für arme Leute gehalten haben. So wurden 1853 noch 43 Personen allein in den privat beaufsichtigten Beginenhäusern gezählt, in den übrigen Fürsorgeeinrichtungen älterer Gründung insgesamt 242 Personen. Der 90 Vgl. zum folgenden Heyden 1963; S. 39 f. – Ingrid Scheurmann u. Katja Hoffmann: Sakralbauten. Bonn 2001 (Kulturerbe bewahren), S. 126–137. 91 Ebd.; S. 129. 92 Vgl. ebd.; S. 132. 93 Vgl. Boldt 1988; S. 341 u. 397 f. – Internetpräsenz der Stiftung: www.stiftungstthomae hof.de (4. Juni 2008).
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Fortbestand der Beginen‑ und Begardenhäuser in evangelischen Städten und Territorien entsprach der reformatorischen Linie. Wie Johannes Bugenhagen, so hatten sich beispielsweise auch die Straßburger Prediger entschieden dafür ausgesprochen, solche Häuser in evangelisch geordneter Form beizubehalten, damit dort „etliche christliche mann vnnd frawen, die man dazu besonders fleyß, wie by den alten beschehen, erwölete, vffenthalten wurden, damit, wer jr dörffte, seinen krancken zu warten, sie wößte zu finden vnnd nit wie ietz allenthalb clag, ann siechen warteren solicher manngel were“94 Das Braunschweiger Beispiel zeigt deutlich, daß die in der Kirchenordnung verankerte Selbständigkeit der Fürsorgeeinrichtungen unter maßvoller Aufsicht der städtischen Obrigkeiten wirklich zu langfristiger Kontinuität geführt hat. In den Hansestädten Hamburg95 und Lübeck werden die Heilig-Geist-Spitäler noch heute als moderne Senioren‑ und Pflegeeinrichtungen weiterbetrieben, in Lübeck sogar am alten Ort. Hier verließen die letzten Bewohner erst 1970 die hölzernen Kammern, die sogenannten Kabäuschen, die 1820 in die Große Halle des Spitals eingebaut worden waren, während in der Nachbarschaft und im mittelalterlichen Gebäudekomplex selbst mehrere Seniorenheime moderner Prägung entstanden. Der Stiftungszweck wird immer noch aus Kapitalvermögen und umfangreichen Liegenschaften in der Lübecker Umgebung finanziert; im Jahr 2004 betrug das Anlagevermögen rund zwölf Millionen Euro. Daneben sind seit 1941 etliche kleinere Stiftungen, die teilweise schon seit dem 15. Jahrhundert Wohnraum für alte Leute finanzierten, zu einer effizienteren Stiftung Lübecker Wohnstifte zusammengefaßt worden und stehen zusammen mit weiteren fusionierten wie selbständigen Stiftungen und dem Heiligen-Geist-Hospital treuhänderisch unter der Stiftungsverwaltung Lübeck.96 Auf diese Weise können dort heute insgesamt 835, in Hamburg rund 1200 Wohnplätze zur Verfügung gestellt werden. Für Pommern ist neben dem genannten Stralsunder Heilig-Geist-Spital auf die Geistliche Stiftung St. Georg und St. Spiritus in Pasewalk hinzuweisen, die ein Seniorenpflegeheim in vier Häusern, einen diakonischen Pflegedienst und dreißig betreute Wohnungen unterhält. Der Hauptbau des eigentlichen Heilig-Geist-Spitals, errichtet zu Beginn des 16. Jahrhunderts, und das barocke St.-Jürgens-Spital sind noch heute Bestandteile der Anlage.97 Und in Holstein vermag das St.-Jürgens-Spital zu Itzehoe mit seiner bis heute andauernden Stiftungsgeschichte die Wirksamkeit reformatorischer Fürsorgepolitik zu belegen: Mit drei weiteren milden Stiftungen 94 Vgl. Martin Bucer u. a.: Vorschläge der Predicanten und Kirchenpfleger an den Rat zur Bekämpfung verschiedener Mißstände und Sekten und zur Abhaltung einer Synode (30. November 1532), in: ders.: Opera I,5 (1978), S. 366–377; hier 375 (die zitierte Passage von Konrad Hubert). 95 Vgl. die Internetpräsenz der „Kleinen Stadt für Senioren“: www.hzhg.de (4. Juni 2008). 96 Vgl. die Internetpräsenz der Stiftungsverwaltung Lübeck: www.stiftungsverwaltung-lue beck.de (4. Juni 2008). 97 Vgl. die Internetpräsenz der Stiftung: www.sanktspiritus.de (4. Juni 2008).
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des 17. bis 19. Jahrhunderts wurde der Fonds 1979 zu den Itzehoer Bürgerstiftungen vereinigt, die heute 44 günstige Wohneinheiten für „unbescholtene, in Not geratene ältere Itzehoer Bürger“ und 35 Grundstücke mit einem Jahreserlös von rund 90.000 € unterhalten.98 In diesem Fall hat der früher schon geschilderte Verkauf der Klostergüter auf Rentenbasis 1580 offenbar tatsächlich zu sehr langfristigen und stabilen Einkünften geführt. Er darf nicht als widerrechtliche Aneignung von Kirchengut durch die weltliche Herrschaft, erst recht nicht als „Nachahmung“ des herzoglichen Vorgehens im Kieler Armengüterstreit mißverstanden werden99, sondern ist ein Beispiel nachhaltiger evangelischer Hospitalwirtschaft. Doch selbst in Kiel hat der herzogliche Zugriff auf die Armengüter nicht zu einem Niedergang der Spitalwirtschaft geführt, so daß im Jahr 2007 das 750 jährige Bestehen des Kieler Stadtklosters gefeiert werden konnte, wie die seit 1819 wirksame Fusion der vier Spitäler inzwischen heißt. Diese Einrichtung betreibt heute zehn Häuser für rund 1000 Senioren in Kiel und Bad Malente-Gremsmühlen und seit 2005 zusätzlich einen ambulanten Pflegedienst.100 Dreierlei ist festzuhalten. Erstens bleibt der in den Spitälern geleistete Anteil wirklicher Krankenfürsorge im engeren Sinne merkwürdig unscharf. Zwar finden sich in Bugenhagens Kirchenordnungen immer wieder Aufforderungen zum Erhalt oder gar zum Neubau spezieller Krankenanstalten, etwa für Pest-, Pocken‑ und Syphiliskranke, und auch die mehrfach wiederkehrende Aufzählung hoher Qualitätsanforderungen an Unterbringung, Beköstigung und Pflege solcher Kranker belegt, daß durchaus an sehr ausdifferenzierte Versorgungslandschaften gedacht war, mit denen unterschiedlichen Gruppen von Bedürftigen geholfen werden sollte. Und dennoch scheinen diejenigen Einrichtungen, die bloß Obdach und Nahrung für Arme boten, auch stets in hohem Maße der Kranken-, später dann wiederum primär der Seniorenpflege gedient zu haben. Wenn Bugenhagen selbst die ,Kranken in den Hospitälern‘ erwähnte, so wird er nicht den Ausnahme-, sondern den Regelfall vor Augen gehabt haben – ebenso wie die spezialisierten Siechen‑ und Seuchenspitäler sich keineswegs der Pflege Wohlhabender gewidmet haben. Im Gegenteil, Armut und Krankheit hingen so eng zusammen, daß eine funktional differenzierende Scheidung trotz erkennbarer Spezialisierungstendenzen ein anachronistisches Unternehmen wäre. Gemeinsam war den Bewohnern aller angesprochenen Haustypen ihre ausgesprochene Schwäche, und das heißt nach dem bisher Gesagten selbstverständlich: ihre Erwerbsunfähigkeit. Wer kerngesund war oder doch als alter Mensch Familien-
98 Hans W. Scheel: Das St. Jürgen-Stift Itzehoe. Unsere älteste Sozialeinrichtung. Vom Leprosen-Hospital zum Bürgerstift, in: Steinburger Jahrbuch 49 (2005), S. 119–130; hier 126. 99 So bei Ernst-Adolf Meinert: Die Hospitäler Holsteins im Mittelalter. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Stadtgeschichte. Neumünster 1997 (QFGSH 107); S. 99. 100 Vgl. die Festschrift von Kürtz / Geckeler / Wulfheide 2007 und die Internetpräsenz des Kieler Stadtklosters: www.stadtkloster.de, www.750 jahre-stadtkloster.de (4. Juni 2008).
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anschluß hatte, gehörte nicht ins Spital.101 An solche Leute wie auch an zahlende Pfründner sollten darum künftig keine Plätze mehr vergeben werden. Zweitens ist der fortwährende Funktionswandel solcher Häuser zu bedenken, der geradezu als konstitutive Bedingung ihres langen Fortlebens interpretiert werden kann.102 Besonders am Braunschweiger Beispiel war zu sehen, daß etliche derjenigen Einrichtungen, die 1528 in der Kirchenordnung genannt wurden, bereits unterschiedliche Nutzungsphasen hinter sich hatten und sich in ihrer teils jahrhundertelangen Geschichte schon mehrfach an veränderte hygienische, medizinische, ökonomische oder soziokulturelle Rahmenbedingungen angepaßt hatten. Ein und dieselbe Einrichtung mochte als Pilgerherberge oder Siechenhaus gegründet worden sein, nach Abflauen der Wallfahrt oder der Krankheit ihr Fortleben durch Pfründenverkäufe gesichert oder sich durch geschlechtsspezifische Profilierung allmählich zu einem Beginenkonvent gewandelt haben und in der Neuzeit abermals in ein Krankenhaus umgestaltet worden sein, ohne dabei ihre körperschaftliche Identität zu verlieren. Wie andernorts mehrfach zu sehen war, konnten nach der Reformation selbst Umzüge in aufgelassene Klöster oder neuerrichtete Hospitalbauten an anderer Stelle die Kontinuität der Institute nicht erschüttern. Daß etliche davon bis heute funktionstüchtig weiterbestehen, habe ich oben als Beleg für die Nachhaltigkeit reformatorischer Fürsorgepolitik bewertet, denn die Kirchenordnungen stellten zwar Anforderungen an Bestand, Ausstattung und geistliche Versorgung der Hospitäler, griffen aber kaum in ihre ökonomische Selbständigkeit und Selbstverantwortung ein, so daß die Reformation in manchen Fällen nicht einmal bemerkenswerte Zäsuren in den Akten hinterlassen hat. Auch dies konnte beispielhaft anhand der Braunschweiger Sachlage demonstriert werden, wo das Goddeshuse Register von 1412 bis 1572 ununterbrochen fortgeführt wurde, weil Bugenhagen die Selbstverantwortung der einzelnen Fürsorgekassen – parallel zu den Schatzkästen der Weichbildgemeinden – ausdrücklich respektierte. Solche langen Kontinuitäten, deren Stabilität bis in die Gegenwart hinein gerade vom Anpassungs‑ und Wandlungsvermögen der einzelnen Körperschaften bedingt war, sind institutionengeschichtlich sonst fast nur im Mönchtum zu finden. Und drittens: Trotz relativer Autonomie der einzelnen Fürsorgeinstitute war doch ihre flächendeckende geistliche Versorgung angestrebt, und zwar nicht 101 Deshalb gelangt Ulrich Knefelkamp in einer Untersuchung zur Krankenpflege in spätmittelalterlichen Hospitälern zum voraussagbaren Ergebnis, daß „alle vorgestellten Spitäler zumindest zeitweise als Krankenanstalten“ bezeichnet werden können. Das ist, abgesehen vom jeweils unterschiedlichen Anteil der Pfründner, nicht überraschend. Doch müßte auch umgekehrt einmal gefragt werden, wie gesund solche vorgeblich Wohlhabenden eigentlich waren. Wahrscheinlich rechneten sie damit, im Alter hilfsbedürftig zu werden. Vgl. Ulrich Knefelkamp: Über die Pflege und medizinische Versorgung von Kranken in Spitälern vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Funktions‑ und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich (hg. v. Michael Matheus). Stuttgart 2005 (Geschichtliche Landeskunde 56), S. 175–194; zit. S. 192. 102 Vgl. nochmals Matheus 2005; S. X.
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mehr, wie vom dritten Lateranum eingeräumt, in bedachtsamer Distanz zu den Ortspfarrern, deren Rechte nicht beschädigt werden sollten, sondern in enger Vernetzung mit den lokalen Gemeinden, so daß statt Konkurrenz nunmehr gegenseitige Entlastung und Hilfe ausdrücklich erwünscht war. Schon dieser Umstand läßt es wenig ratsam erscheinen, von einer Säkularisierung oder gar Säkularisation des Fürsorgewesens durch die Reformatoren zu sprechen. Bugenhagens Kirchenordnungen waren auch in dieser Hinsicht auf das ganze christliche Gemeinwesen hin ausgerichtet. c. Ärztliche Pflege und medizinische Vorsorge Selbstverständlich war für Bugenhagen, daß die ärztliche Betreuung armer Leute nicht auf deren Kosten gehen konnte. Das galt nicht allein für die Spitalbewohner, zu deren notwendiger Behandlung nach Anweisung der skandinavischen Ordnungen gleich Spezialisten aus der Stadt heranzuziehen waren, die aus der Spitalkasse bezahlt werden sollten.103 Ganz generell waren Arme kostenlos zu versorgen. In der Hamburger Ordnung wurde deshalb mit besonderem Nachdruck dazu ermahnt, die seit Jahren vakante Stelle des Stadtphysikus neu zu besetzen, der speziell die Armen umsonst behandeln sollte. Vom Rat besoldet und angemessen untergebracht, könne er bei den reicheren Patienten genügend Gewinn machen und sich daher vor dem Rat und den Diakonen auf gewissenhafte Betreuung insbesondere der Armen verpflichten. Bezeichnend ist, wie großen Wert Bugenhagen auf Qualität legte. Der Rat solle zu diesem Amt „den allerghelerdestenn vnnd erfarnestenn den men krighen kann“ einstellen, der sich überdies auch zu regelmäßigen Vorlesungen am neuen Lektorium verstehen müsse. Ferner sei dem Stadtphysikus ein erfahrener Chirurg oder Wundarzt zur Seite zu stellen. Offenbar nicht beim Rat angestellt, sollte dieser von Behandlungshonoraren leben, die für ärmere Patienten stellvertretend durch die Diakonen gezahlt werden sollten. Sogar die sorgfältige Ausstattung der Apotheke mit frischer Ware sollte nach Bugenhagens Willen streng beachtet werden, „Dath nicht de kranckenn werdenn vorßumeth / edder vpp mheer schadenn kamen / dorch vnduchtighe / edder ock schedelyke krudere / vnnd specerie etc.“104 Daß die Krankenfürsorge nicht auf die Spitäler, Siechenhäuser und andere geschlossene Einrichtungen beschränkt sein sollte, geht aus den Anweisungen deutlich hervor. In der Pommerschen Kirchenordnung wurde den Diakonen eingeschärft, stets einen Vorrat einzuplanen, „so
103 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 47. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 178. 104 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 56 f. – Übertragung: ,… damit die Kranken nicht unterversorgt werden oder zu noch größerem Schaden kommen durch untaugliche oder gar schädliche Kräuter und Gewürze usw.‘
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men nicht anderen radt weth vr de armen de hastich kranck werden ynn der wehke / edder ock vr de kinder beddesche frowen.“105 So ist es dann auch gehalten worden. In Stolp wurden die Dienstleistungen eines gewissen Meisters Hans Elenberge106 mehrfach aus dem Armenkasten bezahlt, wenn er bei Krankheiten oder Unfällen armer Leute tätig geworden war. So gab man dort 1553 für die Pflege einer kranken Frau 12 Schilling aus, die jedoch verstarb, so daß auch ihr Begräbnis aus dem Armenkasten bezahlt werden mußte.107 Eine andere Frau brach sich bei einem Sturz 1558 einen Arm und bekam 1 Mark.108 Einer dritten, die sich im folgenden Jahr verbrannt hatte, legte der Meister einen Verband an und erhielt 12 Schilling.109 Wieder ein Jahr später gab man einer Frau 2 Schilling für Salbe, weil sie von einem Hund gebissen worden war, während Elenberge für die offenbar ungleich kompliziertere Behandlung einer zweiten, der dasselbe Geschick widerfahren war, unmittelbar 2 Mark 13 Schilling erhielt; einer dritten Frau gab man sogar „vmb gots willen“ 8 Mark ausdrücklich für Arzthonorare, als sie sich ein Bein gebrochen hatte.110 1564 erhielt eine blinde Frau 5 Mark für eine Staroperation.111 Nach welchen Grundsätzen man das Geld den Betroffenen selbst oder doch gleich dem Arzt gab, bleibt unklar. Eine Frage des Vetrauens vielleicht. Bugenhagen zielte indes nicht allein auf die ärztliche Betreuung armer Leute ab, sondern sogar auf Vorsorgemaßnahmen. Wenngleich er kein systematisches Programm zur medizinischen und hygienischen Vorbeugung entwickelt hat, so verdienen seine verstreuten Überlegungen hierzu doch Beachtung, zeigen sie doch ein ungewöhnliches Problembewußtsein für solche Fragen. Bereits die Sorge um richtige Ausstattung der Hamburger Apotheken mit stets frischer Ware dokumentiert, daß ihm die Gefahren falscher Medikation durch schlechte oder verdorbene Zutaten bekannt waren. Auch legte er Wert darauf, daß der Küster „offt im Jare frisch wasser in den Tauffstein tragen“ müsse, „das es nicht stinckend werde“112. Nach der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung sollte bei 105 Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 117. – Übertragung: ,… sofern es keine andere Hilfe gibt für die Armen, die während der Woche plötzlich krank werden oder auch für die Kindbettinnen.‘ 106 Der Name begegnet an einer Stelle vollständig: Greifswald PLA ; Rep. 38 b Stolp, Nr. 845, fasc. 3, fol. 9 r°. Sonst ist manchmal von „Meister Hans“ die Rede. 107 Vgl. ebd.; Nr. 841, fol. 16 v°. 108 Vgl. ebd.; Nr. 839, fol. 45 r°. 109 Vgl. ebd.; Nr. 840, fol. 9 r°. 110 Vgl. ebd.; Nr. 845, fasc. 3, fol. 9 r°. Ein ähnlicher Fall ebd.; Nr. 866, fol. [65]r°. 111 Vgl. ebd.; Nr. 864, fol. 60 r°. Zwei Jahre später werden einem Mann, der in irgendeinem Zusammenhang „vor de blinde frowe der dat star gestocken wart“, Geld ausgelegt hatte, aus dem Kasten 3 Mark zurückerstattet. Vgl. ebd.; Nr. 866, fol. [61]r°. 112 *Johannes Bugenhagen: Von den ungeborn Kindern / und von den Kindern / die wir nicht teuffen knnen / und wolten doch gern / nach Christus Befehl / Vnd sonst von der Tauffe etc. Wittenberg: Creutzer 1557; fol. K6 v°. – Vgl. auch die Anweisung in der Kirchenmatrikel für Greifenberg (1540), in: Pommersche Kirchenvisitationen 1540–1555, Nr. 62 a; S. 53.
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der Krankenfeier ein sauberes Tischtuch benutzt werden.113 Solche hygienischen Vorkehrungen waren offenbar nicht überall gang und gäbe: Bei der Visitation im holsteinischen Flintbek mußte Paul von Eitzen dem Küster und seiner Frau erklären, daß man das Altarzeug gelegentlich doch einmal waschen müsse! Daraufhin erhielt die Frau des Küsters ab 1591 regelmäßig 4 Schilling für diesen Dienst.114 Bugenhagen war vermutlich während der Wittenberger Pest von 1527 für Ansteckungsgefahren sensibilisiert worden, wie aus einer eindrücklichen Passage der Lübecker Ordnung erhellt: Im Zusammenhang mit der Besoldung der Geistlichen in der Hansestadt wird nämlich dort auch die Einrichtung bequemer Dienstwohnungen empfohlen. Insbesondere sei ein Studierzimmer wichtig – nicht nur, um sich darin für Gebet und Lektüre zurückziehen zu können, sondern auch, um in Zeiten der Pest einen abgeschiedenen Raum zu haben, wo nach den gefährlichen Krankenbesuchen der Rock am Feuer ausgezogen und unbemerkt ein frischer angelegt werden könne. Das Risiko solcher Gänge sei gewiß hoch, und wen Gott haben wolle, der müsse wohl oder übel sterben, doch dürfe man es nicht darauf ankommen lassen. Schon aus Rücksicht auf die eigene Familie sei Vorsicht geboten, denn „du schalt nycht dden.“115 Dieselbe Argumentationsfigur hatte Luther 1527 in seiner Schrift Ob man vor dem Sterben fliehen möge auf denjenigen gerichtet, „der seinen Leib so vernachlässigt und die Pest nicht abwehren hilft, soviel er kann, auch viele andere beschmutzen und anstecken kann, die sonst wohl lebendig geblieben wären“. Solche Leute seien Mörder.116 Bugenhagen verstand hygienische Vorsorge also mit Luther als eine Form praktizierter Nächstenliebe. Doch nicht nur Ansteckungs-, auch Erkältungsrisiken beschäftigten ihn. Kürzlich erst hat Ole Peter Grell es als medizinhistorische Leistung Bugenhagens gewürdigt, daß er in seinen Anweisungen zur Kindertaufe besonders auf die Gesundheit der Täuflinge geachtet habe.117 Das hatte theologisches Gewicht. In Hamburg war es nämlich Brauch, das Kind bekleidet zur Taufe zu bringen und nur sein Köpfchen mit Wasser zu bestreichen. Bugenhagen favorisierte jedoch die ihm bekannte Form, nämlich dreimaliges Übergießen von Kopf und Rücken beim nackten Kind.118 Er holte zunächst Luthers Meinung ein, der das Besprengen des Kopfes zwar für einen Mißbrauch hielt, aber doch zur Besonnenheit riet, damit nicht der Irrtum aufkäme, die Hamburger Taufen wären ungültig und müßten wiederholt werden. In der Hamburger Ordnung betonte Bugenhagen dementsprechend, daß der Brauch zweifellos erlaubt und gültig, vor dem Hintergrund biblischer wie auch kanonischer Zeugnisse aber grob mißbräuchlich sei. Daß die Kinder nackt und vollständig getauft werden sollten, leitete er von der 113
Vgl. Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 118 f. Vgl. Schleswig SHLA; Abteilung 19, Nr. 748, fasc. 1. 115 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 139 f. 116 Luther: Ob man vor dem Sterben 1527 (1901); S. 365. 117 Grell 1997; S. 53–55. – Ders. 2004; S. 101. 118 Vgl. Hering 1888; S. 69 f. – Brunk 2003; S. 291–300. 114
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Rechtfertigungslehre her, indem wir „Christo […] de kyndere naket offeren tho der wedderbordt / Alße ße naket ghebarenn synth / Wenthe eynn Christenn schall im hertenn / vor Christo naket vnnd bloedt staenn“119, indem er sich auf nichts verlassen kann als auf dessen Gnade. Sollten die Kinder nach Bugenhagens Kompromißvorschlag jedoch künftig mit gelösten Kleidchen zur Taufe getragen, dort aufgedeckt und durch dreimaliges Übergießen aus der vollen Hand getauft werden, dann mußte auch dafür gesorgt sein, daß sie hierdurch keinen Schaden litten: „Im wynther beßundergenn wen ydt ghefrarenn ys / ßo schallme ydt dem koster thouorenn latenn anßegghenn / de schall warm water makenn / vnnd in eynn wijth beckenn / vann der karckenn vorschaffet / ßettenn in de funthe / vth welckem warmenn wather me denne schall dopenn / dat de Dope thor ßalicheyt ghegeuenn / nycht den kynderenn am lyue schadenn do.“120 Die Vorbereitung warmen Taufwassers im Winter ging dann als selbstverständliche Aufgabe des Küsters in spätere Kirchenordnungen ein.121 Bemerkenswert ist allein, daß die dänischen Theologen 1537 den Hamburger Kompromiß übernahmen, wonach das Kind zwar nackt zu taufen sei, aber im Kleid zur Fünte getragen werden könne, wobei hier gerade mit jener Formel argumentiert wurde, mit der zuvor die Bereitstellung warmen Wassers und damit eigentlich die Nackttaufe motiviert worden war: „Baptismus enim in salutem non in perniciem puerorum confertur.“122 Doch in der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung korrigierte Bugenhagen die Stelle, betonte erneut die Nackttaufe und milderte den Grundsatz wieder durch die Anweisung, warmes Wasser vorzubereiten.123 Der Gesundheitsvorsorge diente schließlich auch ein Passus, der erst neu in die Pommersche Kirchenordnung hineinkam: „Van Graden ynn Eesaken“124. Durch ihn 119 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 114. – Übertragung: … indem wir ,Christus […] die Kinder nackt zur Wiedergeburt darbringen, wie sie auch nackt geboren sind, denn ein Christ soll im Herzen vor Christus nackt und bloß dastehen‘. 120 Ebd.; S. 114–116. – Übertragung: ,Im Winter, besonders wenn es gefroren hat, soll man dem Küster zuvor bescheid sagen lassen: Er soll warmes Wasser zubereiten und es in einem weiten Becken, das die Kirche beschafft, in die Fünte setzen; mit diesem warmen Wasser soll man dann taufen, damit die zur Seligkeit gegebene Taufe den Kindern keinen körperlichen Schaden zufüge.‘ 121 Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 99. – Kirchenmatrikel Greifenberg (1540), in: Pommersche Kirchenvisitationen 1540–1555, Nr. 62 a; S. 53. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 84. – Kirchenordnung für das Land Hadeln von 1526, in der Fassung der Überarbeitung unter Herzog Magnus um 1542, unter Angabe der noch im 16. Jahrhundert eingetretenen Änderungen, und mit den Zusatzartikeln von Franz I., in: EKO 5 (1913), S. 465–476; hier 469. Grell (1997; S. 54) mißversteht die Stelle als Vorlage Bugenhagens, doch erst um 1542 entstand diese zweite Redaktion, die deutlich dem Schleswig-Holsteinischen Vorbild verpflichtet ist. 122 Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 22. – Übersetzung: ,Die Taufe ist zum Heil, nicht zum Verderben der Kinder eingesetzt.‘ – Vgl. im übrigen Lorentzen 2004 b; S. 76 (noch mit etwas anderer Deutung der Stelle). 123 Vgl. Anm. 121. 124 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 90 f.
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waren die bislang durch kanonisches Recht normierten Ehehindernisse bei Verwandtschaft eines Paares in den Rechtsbestand der evangelischen Landeskirche integriert, doch maßgeblich sollten dabei künftig die kaiserlichen Rechtsnormen sein, während zur Scheidung und anderen Eherechtsfragen das kanonische Recht überhaupt keine Geltung mehr haben sollte. Seit dem vierten Laterankonzil 1215 war die Ehe unter Verwandten bis zum vierten Grad verboten.125 Die bischöfliche Jurisdiktion sollte nach Bugenhagens Wunsch nurmehr über Verwandtschaften dritten und vierten Grades richten, und dann auch nur dort, „wo ydt ane ergernisse gescheen kne“. Andere Vorbehalte sollten nach Bugenhagens Wunsch ganz wegfallen, etwa die bisher als verwandtschaftliches Ehehindernis behandelte Taufpatenschaft beider Partner am selben Kind.126 Erst in der Agende von 1542 waren die hinderlichen Verwandtschaftsgrade im einzelnen aufgeführt, um den Pfarrern sichere Entscheidungskriterien an die Hand zu geben. Dort war der vierte Grad sogar ganz freigestellt, „darmede wi den lüden nicht sunderlicke borden uplegen.“127 Dennoch verdient der Umstand besondere Beachtung, daß das Thema in der Pommerschen Kirchenordnung überhaupt neu zur Sprache kam – nicht aber in Bugenhagens drei vorhergehenden. Im ausgesprochen dünn besiedelten Herzogtum wird der Inzest ein verbreitetes Phänomen gewesen sein. Man kannte selbstverständlich die Folgen solcher Verbindungen und hatte als Pfarrer im weiten Land eine umso größere Verantwortung dafür, die Verhältnisse genau zu überprüfen. In den lebhaften Großstädten Braunschweig, Hamburg und Lübeck dagegen war die Auswahl möglicher Geschlechtspartner ohnehin viel größer; zudem war durch die sozialen Verbände (Gilden, Zünfte) auch eine ständische Kontrolle gesichert. Indem Bugenhagen in seiner ersten Territorialordnung das Problem der Verwandtenehe thematisierte, konnte er den Pfarrern gegenüber andeuten, unter welchen Prioritäten das bisherige Eherecht jetzt anzuwenden sei: So wurden die älteren Verbote für Ehen besonders naher Verwandter im Grundsatz noch einmal bekräftigt, periphere Bestimmungen dagegen ausdrücklich gelockert. Daß mithin die gefährlicheren Verbindungen weiterhin verboten, biologisch unproblematische jedoch im Gegenzug ermöglicht werden sollten, spricht für eine gewisse Kenntnis der genealogischen Zusammenhänge und für Sensibilität im Blick auf die schwierige Partnersuche im weiten Land Pommern.
2. Dienst an Kriminellen und anderen Sündern „Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen“ – nach diesem Wort aus der Weltgerichtsrede Christi (Mt 25,36) wurde vor allem der geistliche 125
Vgl. Foreville 1970; S. 360 f. Vgl. zu diesem Punkt bereits Luther: An den Adel 1520 (1982); S. 141. 127 Pommersche Kirchenordnung 1542 (1911); S. 368. – Übertragung: ,… damit wir den Leuten nicht besondere Bürden auferlegen.‘ 126
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Besuch bei Gefangenen stets unter die Werke der Barmherzigkeit gerechnet.128 Hierzu gehörte bereits im Mittelalter, daß denjenigen, die zum Tode verurteilt worden waren, Gelegenheit zur Beichte und zum Sakramentsempfang gegeben wurde. So errichteten die Lübecker Dominikaner 1377 eigens zu diesem Zweck eine Kapelle am Burgkloster.129 Doch nicht überall scheint man diese Aufgaben ernstgenommen zu haben: Johannes Geiler von Kaysersberg etwa beklagte sich öffentlich darüber, daß den Straßburger Delinquenten regelmäßig die Eucharistie verweigert werde. Doch „die Menschen haben nitz zu nemmen das gott eim gitt durch sin gnad und barmhertzikeit“. Das zeigte Wirkung.130 Und in der Carolina, der Peinlichen Gerichtsordnung von 1532, war die Beichte des Verurteilten wie auch seine geistliche Begleitung durch Priester, „die jn zu der lieb gottes, rechtem glauben vnd vertrawen zu Gott vnd dem verdienst Christi vnsers seligmachers, auch zu berewung seiner sünd vermanen“ sollten, ausdrücklich vorgesehen, ohne indes die Kommunion zu erwähnen.131 Doch die Reformatoren legten besonderen Wert auf diese Akte – speziell Johannes Bugenhagen, wie bereits Gerhard Uhlhorn zutreffend hervorgehoben hat.132 Es entsprach indes Luthers Lehre von den zwei Regimenten, daß die Bestrafung Krimineller ausdrücklich in die Zuständigkeit der weltlichen Obrigkeit gehörte.133 Das geistliche Regiment hingegen, „das frum macht“134, hatte ungeachtet solcher Strafen seiner poimenischen und liturgischen Aufgaben zu walten, auch und gerade bei den Verbrechern. Wenn Bugenhagen daher in seinen Kirchenordnungen die Pfarrer zu gewissenhaftem Dienst an Gefangenen verpflichtete, besonders an Todeskandidaten, so beanspruchten diese Aufgaben keinen eigenen Rang, sondern waren nur eine speziellere Form der Seelsorge, die jeder Sünderin und jedem Sünder zukommen sollte. Darum kann die Kriminellenseelsorge, wie sie Bugenhagen vorschwebte, nur im Kontext seiner generellen Aussagen zu Beichte und Bann gesehen werden.135 Wie sich zeigen wird (a.), gab er beiden unter dem Primat christlicher Liebe eine ausgesprochen fürsorgliche Konzeption. Die Pläne zur Kriminellenfürsorge (b.) werden vor diesem Hintergrund verständlich. In einem dritten Schritt (c.) können verstreute Aussagen zu einem fürsorglich angewandten 128
Vgl. oben; S. 80. Vgl. Uhlhorn 21895; S. 416. 130 Maternus Berler: Chronik, in: Code historique et diplomatique de la ville de Strasbourg. Bd. 1, Teil 2, Straßburg 1843, S. 71–130; hier 119 f. 131 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina) (hg. v. Friedrich-Christian Schroeder). Stuttgart 2000 (RUB 18064); S. 69 (§ 102 f.). 132 Vgl. Uhlhorn 21895; S. 571. 133 Vgl. etwa Martin Luther: Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können. 1526, in: ders.: StA 3 (1983), S. (357–)360–401; hier 367 f. 134 Ders.: Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, ebd. S. (27–) 31–71; 41. 135 Vgl. generell zu Bugenhagens Auffassung von Beichte und Bann Dörfler-Dierken 2003; S. 52–64. Zu Luther und den Bekenntnisschriften ebd.; S. 38–52. 129
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Eherecht und zur Verbrechensprävention zusammengetragen werden, die sich erneut in Bugenhagens weitgespanntes Konzept gemeindlicher Nächstenliebe fügen. a. Beichte und Bann Als Wittenberger Stadtpfarrer war Johannes Bugenhagen auch erster Beichtvater seiner Gemeinde. In dieser Funktion malte ihn Lucas Cranach d. Ä. für den neuen Altar der Stadtkirche, den Bugenhagen der Überlieferung nach am 24. April 1547 geweiht haben soll, dem Tag der Mühlberger Niederlage. Das wohl bekannteste Portrait Bugenhagens (Abb. 22) ist Teil eines ausgeklügelten Bildprogramms, dem der 7. Artikel des Augsburger Bekenntnisses zugrundeliegt: Die Versammlung aller Gläubigen ist durch Wittenberger Zeitgenossen repräsentiert, bei welchen das Evangelium durch Martin Luther unter Hinweis auf den Gekreuzigten gepredigt und die heiligen Sakramente gereicht werden, nämlich auf dem linken Flügel die Taufe durch den Laien Philipp Melanchthon, auf dem Mittelbild das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Der rechte Flügel nun zeigt den Stadtpfarrer bei der Beichte. Das ,Amt der Schlüssel‘ (nach Mt 16,19) mit der Vollmacht des Beichtvaters zur Vergebung der Sünden (nach Joh 20,23) ist hier anschaulich ins Bild gesetzt. Zu Bugenhagens rechter Seite kniet ein Bürger mit gesenktem Kopf, das Barett in Händen. Der reuige Sünder wird vom Beichtvater losgesprochen, was durch einen großen Schlüssel sinnfällig wird, dessen Bart auf den Kopf des Mannes weist. Ein zweiter dagegen, durch seine offen sichtbare Bewaffnung wie durch die geckenhafte gelb-rote Kleidung bereits negativ konnotiert und durch Haltung und Mimik deutlich als unbußfertig gekennzeichnet, wird mit dem Knauf eines zweiten Schlüssels zurückgewiesen, mit gebundenen Händen. Hinter dem Beichtstuhl, einer Art hölzerner Sichtblende, warten geduldig weitere Frauen und Männer. Bugenhagens Beliebtheit als Beichtvater, besonders in seinem Verhältnis zu Luther, ist geradezu volkstümlich geworden.136 Seine Auffassung von guter Seelsorge, von christlicher Beichte und Absolution unterschied sich indes charakteristisch von der Darstellung auf dem Wittenberger Altar, die natürlich von Cranach nicht als Abbild einer tatsächlich vollzogenen Beichthandlung, sondern als Versinnbildlichung des evangelischen Schlüsselamtes mit der Macht zu ,lösen‘ und zu ,binden‘ komponiert worden war. Dabei hat sich der Maler vielleicht an Luthers Schmalkaldischen Artikeln137 orientiert, wo das Gegenüber von Löse‑ und Bindegewalt viel stärker betont war als der Vorgang des seelsorgerlichen Beicht136 Vgl. beispielshalber nur Klaus Harms: Bugenhagen im Schrifttum Luthers, in: Johann Bugenhagen 1958, S. 24–50; hier 37–44. – Ernst Kähler: Bugenhagen und Luther, ebd. S. 108–122; hier 116–122. 137 Vgl. Luther: Schmalkaldische Artikel 1536/38 (1992); S. 424–427. – BSLK 5 (1960); S. 452–456.
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gesprächs, und wo zur Abwehr gegen die Enthusiasten das gültig ausgesprochene Wort der Absolution in besonderer Weise hervorgehoben war. Bugenhagen betonte demgegenüber das heilsame Gespräch als Hilfe an seinen Beichtkindern. Dies war freilich nicht von Anfang an so. Die etwa zehnjährige Entwicklung dieser Beichtkonzeption (ca. 1525–1535) will ich daher kurz nachzeichnen. Als opinio communis galt in der Frühzeit der Reformation, daß die Beichte kein Zwang, sondern frei sein müsse – was ihre Frequenz wie auch die Art und Weise des Beichtvorgangs und der Absolution betraf. Besonders scharf polemisierten die frühreformatorischen Prediger gegen den Zwang zur Ohrenbeichte unter Aufzählung aller Sünden, die zur Genugtuung durch Bußleistungen führen mußte. Das entsprach bereits der 1517 in Luthers Ablaßthesen138 vorgebrachten Kritik der mittelalterlichen Bußpraxis. So bezeichnete Johann Eberlin von Günzburg die Beichtstühle als „dieb der edl zeit, bulheuser, metzgen vnd fleischbenck der armen betrbt selen“. Daß in der Beichte die Angst vorherrsche, nicht aber Freude über die Rechtfertigung des reuigen Sünders durch Christus, galt einvernehmlich als schwerer Mißstand.139 Doch nachdem Karlstadt am Weihnachtstag 1521 in Luthers Abwesenheit zu Wittenberg das Abendmahl in beiderlei Gestalt eingeführt hatte, und zwar unter Verzicht auf die vorangehende Beichte140, wandte sich Luther in aller Schärfe gegen ihre völlige Abschaffung. Zwar sei sie nicht zwingend geboten, „aber dannocht“, so erklärte er am 15. März 1522 in seiner letzten Invokavitpredigt, „wil ich mir die heymliche beicht niemants lassen neme(n) / vn(d) wolt sie nit vmb der gantze(n) welt schatz gebe(n) / dan(n) ich weyß was trost vn(d) stercke sie mir gegebe(n) hat.“141 Aus eigener Erfahrung konnte Luther einem Verbot der Beichte also nicht zustimmen. Dem folgte Bugenhagen, doch mit zunehmend eigener Pointe. Ab 1525 schrieb er öffentlich über die Beichte. Sie müsse in jeder Hinsicht „gantz fry syn“, bestätigte er im selben Jahr in einer vnderrichtynge van der bycht vnde Christlyken Absolutien, „yfft me bychten wyl / vnde wanner / vnde wo vaken / vnde weme me wyl / ydt sy eynem prester edder leyen / myt vortellynge der sunde aller / went mogelick were / edder etliker / edder sunder sodaner vortellynge / tho horende van synem broder eyn trostlyck Gades wort der vorgeuynge der sunde“142. Bereits 138 Vgl. ders.: Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum 1517 / Disputation zur Klärung der Kraft der Ablässe 1517, in: ders.: Lateinisch-deutsche Studienausgabe (hg. v. Wilfried Härle u. a.). Bd. 2, Leipzig 2006, S. (1–)2–15; speziell 2–3 (Thesen 1–12). 139 Vgl. soweit Moeller / Stackmann 1996; S. 329. 140 Vgl. Brecht 1994; Bd. 2, S. 42. 141 Luther: Acht Sermone 1522 (1982); S. 557. 142 Eyn sendebreff heren Johan Bugenhagen Pomern / Parners tho Wittemberch / vp eyne frage vam Sacramente. Jtem eyne vnderrichtynge van der bycht vnde Christliken Absolutien. Wittemberch M D XXV, in: Flugschriften auf Microfiche 3 (1980), Nr. 1164; hier fol. A4 r°. – Hochdeutsche Fassung: „Beycht […] sol gantz frey sein ob man beichten will / vnd wann / wie offt / vnd wilchem man wil / es sey einem priester odder leyen / mit ertzelung der sunden aller / wens muglich were / oder etlicher / oder on solche ertzelung zu hren von seinem bruder ein trstlich Gottis wort der vergebung der sunden“. Antwurt hernn Johan Bugenhagen Pomern /
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hier klingt an, daß es ihm vor allem auf den brüderlichen Zuspruch der Erlösung durch Christus ankam, der keinesfalls in einem mechanischen Bußakt, sondern nur im seelsorgerlichen Gespräch erfolgen konnte. Bugenhagen kritisierte vor allem die Meinung, daß die vom Priester gesprochenen Worte „absolvo te a peccatis …“ den Sünder freimachen könnten. Hierauf komme es jedoch nicht an, sondern auf den Zuspruch der Gnade, der dann auch geglaubt werden müsse, um zur Erlösung zu führen. Daher berichtete der Stadtpfarrer, wie er selbst es mit der Absolution seiner eigenen Beichtkinder hielt: „Jck / de wyle gemeynliken alle thom sacramente begeren tho ghande de my bychten / pleget so tho makende. Na vorkundynge saliges trostes dorch dat Euangelien Christi / alse ick eynem ynwelken [sic] behoff vnde noth see / spreke ick. Louestu dat? Wenn he antwerdet / Ja / So segge ick / Dorch den louen in Christum heffstu vorgeuynge alle dyner sunde / vnde ick / dorch de gnade vnses heren Jesu Christi de synen lycham vor vns hefft gegeuen in den dodt vnde syn blott vor vns vorgaten ym crutze tho vorgeuinghe vnser sunde / vorkundige dy vorgeuynge all dyner sunde / Gha hen vnde sundige nicht mer [Joh 8,11].“143 Bugenhagen tröstete seine Beichtkinder also je nach Lage der Dinge aus dem Evangelium, fragte sie, ob sie auch daran glaubten, und konnte sie dann, sofern sie zustimmten, frei von Sünde entlassen. Hierzu war ein richtiges Beichtgespräch notwendig. Dasselbe Verfahren empfahl er 1527 während der Pest durch seinen Unterricht deren, so in Krankheiten und Todesnöten liegen.144 Ausdrücklich hielt er hier wie dort die Freiheit offen, auch vor Laien zu beichten und von ihnen absolviert zu werden und gestand jedem zu: „eyn ander mach ydt ock wol anders maken / dar ys nicht angelegen / wenn dar men Christus Euangelien vorhanden ys“145. Bugenhagen verstand also die Beichte als freien Dienst unter Brüdern und Schwestern des christlichen Gemeinwesens. Doch besonders wichtig ist der Zusammenhang zur Partizipation seiner Beichtkinder am Abendmahl, der in der zitierten Passage angedeutet wird: NorPfarrer zu Wittemberg / vber eyn frage vom hochwirdigen Sacrament. Auch eyn vnderricht von der beicht vnnd Christlichen absolution. Wittenberg [Kolophon:] 1525, in: Flugschriften auf Microfiche 5 (1982), Nr. 2129; hier fol. A4 v°. 143 Bugenhagen: Sendbreff 1525 (1980); fol. B1 v°-B2 r°. – Hochdeutsche Fassung: „Ich / weyl gemeynicklich alle zum Sacrament begeren zu gehen / die mir beichten / pflege es also zu machen / Nach verkundigung slchs trostes durchs Euangelion Christi / wie ich eynen yglichen bedarff vnd von ntten sehe / spreche ich. Gleubstu das? Wenn er antwortet / Ja / So sage ich / durch den glauben ynn Christum hastu vergebung aller deiner sunden / vnnd ich durch die gnad vnsers herrn Jhesu Christi der seinen leichnam fur vns hatt gegeben ynn den tod / vnd sein blut fur vns vergossen am creutz zur vergebung vnnser sunden / verkundige dir vergebung aller deiner sunden / Gehe hyn vnd sundige nicht meer [Joh 8,11].“ Ders.: Antwurt 1525 (1982); fol. A7 r°. 144 Vgl. ders.: Underricht 1527; fol. A8 r°. Hierzu oben; S. 331 f. 145 Ders.: Sendbreff 1525 (1980); fol. B2 r°. – Hochdeutsche Fassung: „ein ander mag es auch wol anders machen / da ist nichts angelegen / wenn nur Christus Euangelion da vorhanden yst“. Ders.: Antwurt 1525 (1982); fol. A7 r°.
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malerweise wollten alle, die bei ihm beichten, zum Sakrament gehen, schreibt Bugenhagen. Inzwischen hatte sich nämlich eine folgenreiche Entwicklung eingestellt, die à la longue zu neuem Zwang im Rahmen strenger Kirchenzucht führte. Luther hatte in der Formula missae et communionis 1523 zum ersten Mal vorgesehen, daß die Kommunikanten sich zuvor bei ihrem Pfarrer anmelden müßten und keinesfalls zum Tisch gelassen werden sollten, „nisi rationem fidei sue reddiderint, (et) interrogati responderint, an intelligant, quid sit caena domini“146. Auch solle der Pfarrer kontrollieren, „an vita (et) moribus eam fidem (et) intelligentiam probent […], hoc est, si viderit aliquem scortatorem, adulterum, aebrium, lusorem, vsurarum, maledicum, aut alio crimine manifesto infamem“147. An dieses Katechismusexamen, verbunden mit einer Rechenschaft über den christlichen Lebenswandel derer, die zum Tisch zu gehen wünschten, könne sich dann drittens, so meinte Luther, eine Privatbeichte anschließen, die er weiterhin ausdrücklich für frei hielt.148 Doch in der Praxis war diese Verbindung hochproblematisch, denn die Akte konnten ineinander übergehen, ohne daß das freie Sündenbekenntnis noch klar von der vorhergehenden Prüfung auf Katechismuswissen und Lebenswandel unterscheidbar wäre. „Der Umstand, daß das Verhör mit der Absolution durch den Pfarrer schloß, begünstigte“ einer Einschätzung Ernst Bezzels zufolge „diese Entwicklung: Aus dem Pflichtverhör war wieder die Pflichtbeichte geworden, die zur Pflichtkommunion dazugehörte.“149 Dogmatische wie moralische Abweichungen konnten daher zuweilen mit identischen Sanktionen belegt werden.150 Ebenso problematisch war, daß die Tendenz zur strafamtlich gebrauchten Pflichtbeichte zunehmend simplifizierte und ritualisierte Beichtformen hervorbrachte, die von den Gemeinden auch und gerade wegen ihrer Durchsichtigkeit weitgehend akzeptiert wurden.151 Symptomatisch für die pietistische Ablehnung dieser rituellen und auf die Kontrolle rechter Lehre und christlichen Lebenswandels abzielenden Beichtpraxis der lutherischen Orthodoxie wurde dann erst der Berliner Beichtstuhlstreit (1696–1698), als dessen Ergebnis die seelsorgerliche Beichtfreiheit in der Stadt wiederhergestellt und der 146 Luther: Formula missae 1523 (1979); S. 380. – Übersetzung: ,… wenn sie nicht Rechenschaft über ihren Glauben ablegten und Fragen beantworteten, ob sie wirklich verstehen, was das Abendmahl sei.‘ 147 Ebd.; S. 381. – Übersetzung: ,… ob sie durch Leben und Sitte diesen Glauben und dieses Verständnis bestätigen […], das heißt, ob er irgendeinen Hurer, Ehebrecher, Trunkenbold, Spieler, Wucherer, Nachreder oder mit anderem öffentlichen Laster Berüchtigten erkennt.‘ 148 Vgl. ebd.; S. 382. 149 Ernst Bezzel: Beichte III . Reformationszeit, in: TRE 5 (1980), S. 421–425; hier 423. – Vgl. auch Martin Brecht: Protestantische Kirchenzucht zwischen Kirche und Staat. Bemerkungen zur Forschungssituation, in: Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa (hg. v. Heinz Schilling). Berlin 1994 (ZHF.Beiheft 16), S. 41–48. 150 Vgl. Hauschild 1981; S. 277–280. 151 Vgl. insgesamt die instruktive Studie von Hans-Christoph Rublack: Lutherische Beichte und Sozialdisziplinierung, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993), S. 127–155.
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Beichtpfennig abgeschafft wurden.152 Doch anderswo blieben die mechanisierten Formen noch lange bestehen.153 Dieser Fortgang der Dinge war freilich nicht abzusehen, als der kursächsische Unterricht der Visitatoren 1528 zweifach Luthers frühere Forderung aufnahm, niemanden zum Abendmahl zuzulassen, der zuvor nicht beim Pfarrer gewesen war, um Aufschluß über seine katechetischen Kenntnisse zu geben und sich auch sonst beraten zu lassen.154 Insbesondere wurde davor gewarnt, „mit vnfleis“, also durch fehlenden Einsatz, Unwürdige zum Tisch gehen zu lassen.155 So konnte öffentlichen Sündern, insbesondere Ehebrechern, die sich trotz mehrfacher Mahnung nicht bereit zeigten, ihr Verhalten zu ändern, der Zugang zum Abendmahl bis auf weiteres versperrt werden. Damit war (nach Mt 18,18) die Möglichkeit zum Bann ausgesprochen, der jedoch ausdrücklich keine gesellschaftliche Ächtung einschließen sollte: „Es mu(e)gen auch die verbannte wol ynn die predigt gehen / Denn lesset man doch auch die Ju(e)den vnd heiden ynn die predigt gehen.“156 Bugenhagen übernahm die hier vorgegebenen Muster in seine drei städtischen Ordnungen für Braunschweig, Hamburg und Lübeck: „Nemand schal ock to sacramente gelaten werden“, hieß es in der Braunschweiger Ordnung157, „sonder he hebbe to ringesten to vorne / de predicanten edder prestere de dat beualen is / rekenschop vnde berichtinge gegeuen synes louens / dat nicht dorch re vorsmenisse etlike vnwerdich vnde tor vordmenisse to sacramente gn“. Auch was den Ausschluß öffentlicher Sünder betraf, so folgte Bugenhagen dem Wittenberger Plan: Solche, die in offenem Ehebruch oder Hurerei lebten, Trunkenbolde und Herumtreiber, die dem Gemeinwesen schadeten, sollten zunächst mehrfach auf Besserung ermahnt und dann bei Fortsetzung ihrer Sünden vom Tisch ausgeschlossen werden – bis zur öffentlichen Umkehr. Dabei könnten sie freilich weiter zur Predigt gehen, wie auch sonst der bürgerliche und geschäftliche Umgang mit ihnen fortbestehen konnte – gut nachbarlich, aber doch distanziert. „Beteren ban kone wy noch tor tidt nicht holden / Christus hefft vns ock nicht mehr beualen“158. 152
Vgl. Helmut Obst: Beichte IV. Neuzeit, in: TRE 5 (1980), S. 425–428; hier 426. Vgl. Rublack 1993 a; S. 137–153. 154 Vgl. Unterricht 1528 (1983); S. 433 u. 437. 155 Vgl. ebd.; S. 437. 156 Ebd.; S. 453. 157 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 51. – Übertragung: ,Es soll auch niemand zum Sakrament gelassen werden, wenn er nicht wenigstens dem Prediger oder Priester, dem das befohlen ist, Rechenschaft von seinem Glauben abgelegt habe, damit nicht durch deren Versäumnisse etliche unwürdig und zu ihrer Verdammnis zum Sakrament gehen.‘ – Ebenso ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 98 f. 158 Ders: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 53. – Übertragung: ,Besseren Bann können wir zur Zeit nicht haben – Christus hat uns auch nichts weiter befohlen‘. – Der ganze Abschnitt ebenso in ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 104–107. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 134–137. – Später ähnlich ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 153
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Bugenhagen setzte also schon in seinen frühen Ordnungen eigene Akzente. So lag ihm die Trennung der Regimente besonders am Herzen. Wenn er die Geistlichen davor warnte, weiter zu richten als es der geistliche Bann ermöglichte, stand dahinter die Einsicht, daß die weltliche Obrigkeit für die Bestrafung Krimineller eigene Sanktionen bereithielt. Der Braunschweiger Rat als christliche Obrigkeit (nach Röm 13,4) möge sogar seine Ehegesetze noch verschärfen, soweit offener Ehebruch dadurch zurückgedrängt werden könnte. Doch für die Geistlichen galt ungeachtet der weltlichen Rechtsprechung die Pflicht, sich der Sünder anzunehmen. Es fällt jedenfalls auf, daß Luther erst zehn Jahre später, in den Schmalkaldischen Artikeln von 1538, den geistlichen Bann ausdrücklich und öffentlich von der weltlichen Rechtsprechung an Kriminellen trennte und ihn so vor der kanonischen Jurisdiktionspraxis profilierte: „DEn grossen Bann / wie es der Bapst nennet, halten wir fur ein lauter weltliche straffe / vnd gehet uns Kirchen diener nichts an. Aber der kleine / das ist der rechte Christliche Bann / das man offenberliche / halstarrige su(e)nder nicht soll lassen zum Sacrament / oder ander gemeinschafft der Kirchen / komen / bis sie sich bessern / vn(d) die sunde meiden. Vnd die Prediger sollen jnn diese geistliche straffe oder Bann nicht mengen die weltliche straffe“159. Luther könnte hier Bugenhagen gefolgt sein, der seinerseits in den späten Kirchenordnungen für Hildesheim und BraunschweigWolfenbüttel160 deutlich auf die Formulierung der Schmalkaldischen Artikel zurückgriff, um unmißverständlich den rein geistlichen Charakter des ,kleinen Banns‘ zu unterstreichen. Unterdessen klang die Beichte in Bugenhagens frühen Ordnungen nur am Rande an. Er gehorchte zwar den Wittenberger Vorgaben, wonach die Zulassung zum Abendmahl von einem Vorgespräch abhängig zu machen sei, vermied es jedoch, die Überprüfung des christlichen Lebenswandels – und damit die Möglichkeit, über einen ,kleinen Bann‘ zu entscheiden – ausdrücklich in den Zusammenhang eines Beichtverfahrens mit Katechismusexamen zu stellen, wie von Luther vorgeschlagen. Doch 1535 änderte sich diese Zurückhaltung plötzlich, denn die Pommersche Kirchenordnung emanzipierte jetzt die Beichte sehr deutlich als hilfreiches und heilsames Beratungsgespräch. Bugenhagen scheint sich dabei geradezu auf die Anfänge seiner Beichtkonzeption zurückbesonnen zu haben: „Wo woll de Christen mit der hemelicken edder ohren bicht / alle stcke by vordmenisse thouortellen / nicht beschweret edder vorstricket schlen werden / dennoch schall de hemelicke edder ohren bicht / nicht affgedaen werden / sunder alse ein heylsame / berathslaginge / geholden werden / Dar ein yeder synem bicht vader (1980); S. 865. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 67. 159 Luther: Schmalkaldische Artikel 1636/38 (1992); hier S. 433. – BSLK 5 (1960); S. 456 f. 160 Vgl. die Passagen bei Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 865. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 67.
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edder prester gerne syne gebreken vnde sonderlick anliggende feyll vormelden vnde beklagen schall / radt vnde trost vnde endtlick de Absolution van em entfangen / welckes gar heylsam ys / vnde denet tho der stillinge vnde vorsekeringe der conscientien vnde thor schuw / sick henforder vor solcke sunde thouorwaren“161. Zugleich empfahl Bugenhagen, jedenfalls die einfachen Leute, besonders Kinder, alte Menschen und Gesinde, vor dem Gang zum Abendmahl sorgfältig zu befragen und ihnen, wo nötig, katechetische Nachhilfe zu geben, damit sie nach wahrer Buße und Absolution frei von Sünden zum Abendmahl gehen könnten. Es fällt auf, daß hier nicht allein die Beichte als heilsames Beratungsgespräch stärker als zuvor zur Geltung kommt, sondern auch zum ersten Mal in Bugenhagens Kirchenordnungen der enge Zusammenhang zum Katechismusverhör geschlossen wird. Nachforschungen zum christlichen Lebenswandel der Kommunikanten in den Zusammenhang des Beichtverfahrens zu integrieren, wurde jedoch weiterhin vermieden. Zwar hielt Bugenhagen am ,kleinen Bann‘ fest, reduzierte in der Pommerschen Kirchenordnung jedoch die Ausführungen hierzu auf ein Minimum und gab auch kein Indiz, daß er die Beichte gern zur gezielten Ausforschung des Privatlebens empfohlen hätte. Auch in der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz und der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung162 finden sich geradezu fürsorgliche Beichtbestimmungen: Ob man sich ganz allgemein als Sünder bekennen, bestimmte Fehler beichten oder auch sonst Gewissensprobleme mit dem Pfarrer besprechen wolle – eine vollständige Aufzählung von Sünden war auch hier nicht gefordert. Für Schleswig-Holstein ergänzte Bugenhagen den Passus, der sonst auf die dänischen Theologen zurückgeht, um den ausdrücklichen Hinweis, daß „wy schollen de orenbicht / de vns van Gade nicht gebaden ys / nicht ndich maken / sonder nttliken gebruken / Vnde wedderumme dat ock etlike stcke / welcker de Conscientien am meisten beschweren / vortellet werden“163. Das war bereits in den Haderslebener Artikeln angeklungen164 und ist an dieser Stelle erneut betont worden. Übereinstimmend heißt es weiter, der Beichtvater müsse daher umsich161 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 88. – Übertragung: ,Obwohl die Christen damit, daß sie in der heimlichen oder Ohrenbeichte bei Androhung der Verdammnis alle Einzelheiten aufzählen sollen, nicht beschwert oder verstrickt werden sollen, ist die heimliche oder Ohrenbeichte dennoch nicht aufzugeben, sondern als heilsame Beratung zu halten, wo jeder seinem Beichtvater oder Priester gern seine Gebrechen und besonders drängende Fehler melden und beklagen, von ihm Rat und Trost und schließlich Absolution empfangen soll, was sehr heilsam ist und zur Beruhigung und Sicherheit des Gewissens dient und zur Scheu, um sich fürderhin vor solcher Sünde zu schützen.‘ 162 Vgl. insgesamt Udkast 1537 (1849); S. 76–78. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 23 f. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 88–95. 163 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 90. – Übertragung: … daß ,wir die Ohrenbeichte, die uns von Gott nicht geboten ist, nicht zu einer Notwendigkeit machen, sondern sie in nützlicher Weise gebrauchen, daß aber doch auch manche Dinge, die das Gewissen am meisten beschweren, erzählt werden.‘ 164 Vgl. Haderslebener Artikel 1528 (1983/1984); S. 41.
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tig sein „vnde na gelegenheit einer ytliken snde arstedie vth dem worde Gades herur“165 holen können. Die Hilfe am Beichtkind stand also auch hier im Vordergrund. Insbesondere dürfe der Sünder, der nach seiner Absolution zum Tisch gehen wolle, auf Befragen des Beichtvaters aber den Katechismus nicht kenne, keineswegs offen zurückgewiesen werden, sondern stets heimlich. Als einer, der kein hochzeitliches Kleid anhabe (Mt 22,1–14), müsse er zunächst katechetische Fortschritte machen und sei bald wieder zum Tisch zugelassen. Würde man solche Leute jedoch im Beisein der Gemeinde am Altar zurückweisen, könne das kaum ohne üble Nachrede geschehen.166 Daß das einzelne Beichtkind unbedingt zu schützen sei – dieser Gedanke fehlte noch im Entwurf der dänischen Theologen. Bugenhagen hat ihn, so meine ich, für die endgültige Fassung der DänischNorwegischen Kirchenordinanz hinzugesetzt. Dazu paßt, daß er bereits seit 1528 in seinen städtischen Ordnungen den Predigern freistellte, Sünde zu strafen, „doch vnuormercket de personen“167, also ohne Namen zu nennen! Denn ihre Aufgabe sei die Besserung der Leute, nicht ihre Stigmatisierung, wie auch Christus den Judas keineswegs öffentlich beschuldigt, gleichwohl aber seinen Verrat gestraft habe. Hanseatische Diskretion. Der ,kleine Bann‘ wurde also beibehalten, aber deutlich vom gleichzeitig stärker profilierten Beichtgespräch geschieden – denn die Absolution sollte vor, nicht nach der katechetischen Befragung stattfinden, falls das Beichtkind im Anschluß zum Abendmahl gehen wollte. Nichts weist auf eine Absicht hin, die freiwillige Beichte hier zum Entscheidungsintrument über den Bann einzusetzen. Bugenhagen warnte 1542 sogar ausdrücklich davor, die Sanktionsmöglichkeiten selbstherrlich zu gebrauchen: „Vnse Presters / scholen de armen snders / nicht Tyrannisch vorwerpen / Sonder gerne annemen / vnde thom Sacramente laten / de van herten thoseggen / dat sick betern willen.“168 Diesen Appell zur Milde 165 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 90. – Übertragung: ,… und nach Sachlage einer jeden Sünde Medizin aus dem Wort Gottes hervorholen‘. – Ebenso Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 25. – Ausführlicher noch Udkast 1537 (1849); S. 77. 166 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 24. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 92. – Daß Luther im Juni 1537, also einen Monat vor Bugenhagens Reise nach Kopenhagen, an der Wittenberger Universität eine Zirkulardisputation über das hochzeitliche Kleid (Mt 22,1–14) halten ließ, kommt als Anregung für die zitierte Passage der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz nicht infrage, denn das Bild findet sich bereits im Entwurf der dänischen Theologen. Vielleicht aber ließ Luther sich umgekehrt durch diese Stelle des Entwurfs, den Christian ihm im April zugeschickt hatte, zur Aufgabenstellung anregen. Vgl. Martin Luther: De veste nuptiali 1537. Über das hochzeitliche Kleid (übers. v. Tobias Goldhahn), in: ders.: Lateinisch-deutsche Studienausgabe 2 (2006), S. 443–445. Udkast 1537 (1849); S. 77. 167 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 38. – Ebenso ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 80. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 102. 168 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 100. – Übertragung: ,Unsere Priester sollen die armen Sünder nicht selbstherrlich zurückweisen, sondern gerne annehmen und zum Sakrament lassen, die von Herzen versprechen, daß sie sich bessern wollen.‘
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hat Bugenhagen erst neu in die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung eingefügt. Er paßt sich nahtlos in seine Fürsorgekonzeption unter dem Primat christlicher Liebe ein. Wie mehrfach zu sehen war, sollten die Gewissen der Verantwortlichen stets entlastet werden, indem sie durch die Ordnungstexte ausdrücklich ermuntert wurden, ihren Entscheidungsspielraum im Zweifelsfall zugunsten der Schwachen zu nutzen. Erinnert sei etwa daran, daß bei der Beichte im Kranken‑ und Sterbezimmer nicht weiter nachgeforscht zu werden brauchte, um ein gültiges Abendmahl feiern zu können. Das Bekenntnis des Kranken, sogar dessen, der zeitlebens das Evangelium verachtet habe, reiche vollkommen aus.169 Auch bei der Anwendung des ,kleinen Banns‘ sollte dem Sünder zum Heil verholfen werden, statt ihn weiter zu strafen als nötig. Ausschlaggebend sollte dessen eigenes Bekenntnis sein. Wer bereits unter dem Bann lebte, mußte für eine Wiederzulassung zum Abendmahl gültig absolviert worden sein, mußte sich also vorher zur Beichte begeben haben, um sich bußfertig zu zeigen. Doch als generelles, auf alle Beichtkinder anzuwendendes Ausleseverfahren über Zulassung oder Nichtzulassung zum Abendmahl durfte das Beichtgespräch nicht herhalten. Auf diese Gefahr scheint dann auch Martin Luther verstärkt geachtet zu haben, wie aus den Revisionen des Unterrichts der Visitatoren 1538 und 1539 hervorgeht: „Denn ob der Pfarher selbs oder Prediger / so teglich damit umbgehen / on beicht oder verho(e)re / zum Sacrament gehen wil / sol jm hiemit nichts verboten sein. Des gleichen ist auch von anderen verstendigen personen / so sich selbs wol berichten wissen oder zu sagen / Damit nicht wider ein newer Bapst zwang oder no(e)tige [d. i. notwendige] gewonheit aus solcher Beichte werde / die wir sollen und mu(e)ssen frey haben. Vnd ich Doctor Martin selbs / etlich mal vngebeichtet hinzugehe / das ich mir nicht selbs eine no(e)tige gewonheit mache im gewissen / Doch widerumb der Beichte brauche / vnd nicht emperen wil“170. Daß das freiwillige und heilsame Beichtgespräch jetzt wieder deutlicher gegen eine mißbräuchliche Kontrollfunktion der katechetischen Befragung exponiert wurde, könnte vielleicht auf Bugenhagens Profilierung in der Pommerschen Kirchenordnung und in der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz zurückgehen. In dessen späteren Kirchenordnungen für Hildesheim und Braunschweig-Wolfenbüttel waren die Freiwilligkeit der Beichte, ihre heilsame Wirkung und die allein aus Gottes Gnade am gläubigen Sünder geleistete Absolution noch einmal besonders ausführlich entfaltet.171 Ja, die katechetische Unterweisung sollte nun sogar weitgehend aus dem Beichtvorgang herausgehalten werden: Zwar müßten die Superintendenten streng darauf achten, daß die einfachen Leute und die Kinder in der Beichte sorgsam unterrichtet würden, aber doch nur knapp, damit andere nicht warten müßten. Würde sich herausstellen, daß jemand längerer Unterwei169
Vgl. oben; S. 334. Unterricht 1528 (1983); S. 433 f., Anm. 250. Ergänzung dort. 171 Vgl. Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 861–863. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 64–66. 170
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sung bedürfe, so könne er das Fehlende in der Predigt aufholen oder auch einen eigenen Gesprächstermin vereinbaren.172 Die Hochschätzung der Beichte als hilfreiches Beratungsgespräch war damit nicht aufgegeben, im Gegenteil: Damit man die Leute umso besser beraten könne, sei künftig sogar darauf zu achten, daß nicht alle zugleich am Sonntagmorgen zur Beichte kämen, sondern auch auf den Vorabend verteilt. Als Lucas Cranach d. Ä. also den Wittenberger Stadtpfarrer in Ausübung seines Schlüsselamtes porträtierte, hatte dieser längst ein seelsorgerliches Beichtverständnis entwickelt, das einem bloß formelhaften Urteilsverfahren, das allein zur Abweisung oder Zulassung beim Abendmahl geführt hätte, deutlich entgegenstand. Ein direkter Zusammenhang von Beichte und Kirchenzucht war also jedenfalls von Bugenhagen nicht beabsichtigt. Wie zu sehen war, ist vielmehr die Möglichkeit, das Beichtverfahren zur Ausforschung der Lebensumstände zu mißbrauchen, soweit sie für die Anwendung eines ,kleinen Banns‘ relevant sein könnten, in seinen Kirchenordnungen sukzessiv abgebaut worden – zugunsten des allmählich stärker profilierten seelsorgerlichen Beichtgesprächs. Und in den beiden spätesten Ordnungen für Hildesheim und Braunschweig-Wolfenbüttel findet sich nicht einmal mehr der Hinweis auf eine zwangsweise Anmeldung zum Abendmahl, die mit einem Katechismusexamen verbunden gewesen wäre. Stattdessen wird nur eingeschärft, die Leute sollten gern und regelmäßig zum Sakrament gehen. „Mit nener andern wise“, heißt es lapidar, „schal men de lüde tom sacramente dringen edder nötigen“173. b. Beichte und Mahlfeier der Verurteilten Ein Spezialfall der Seelsorge an allen Sündern war, wie oben bereits angedeutet, diejenige an Kriminellen, insbesondere an den zum Tode Verurteilten. Es entsprach ganz der Zwei-Regimenten-Lehre, daß die Urteile obrigkeitlicher Gerichte als solche akzeptiert wurden, zugleich aber keine Deutungshoheit über den Stand der Sünde beim Einzelnen beanspruchen durften. Ging es dort um die Wahrung äußeren Friedens im Gemeinwesen durch das weltliche Schwert, so war hier ungeachtet der verhängten Strafe, auch der Todesstrafe, das geistliche Schwert zu führen – eben jenes, „das frum macht“174 und ausnahmslos dem Heil jedes individuellen Sünders dienen muß. Wenn in der Braunschweiger Ordnung die öffentlich gebilligte Lynchjustiz des Pöbels an einem ungeschickten Scharfrichter gerügt wurde, und zwar mit Bugenhagens Begründung, es sei „wedder alle Gotlike vnde mynschlike recht / dat de misdder ls werde de den hals vor172 Vgl. ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 858. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 61 f. 173 Ebd.; S. 58. – Übertragung: ,Auf keine andere Weise kann man die Leute zum Sakrament drängen oder nötigen‘. 174 Luther: Oberkeit 1523 (1983); S. 41.
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braken hefft / vnde de vnschuldige bdel vkame“, so stand dahinter die Lehre von den zwei Regimenten. Wer christlich leben wolle, so war dort weiter ausgeführt, müsse sich nun einmal solchen Mordens enthalten – alles weitere sei Sache des Rates.175 Üblicherweise mußte erst die weltliche Strafe abgegolten oder jedenfalls angetreten worden sein, bevor ein Krimineller auf sein Bekenntnis hin von allen Sünden absolviert und somit wieder zum Abendmahl zugelassen werden konnte. So forderten die Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz und die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung, daß Totschläger sich vor ihrer Absolution zunächst mit der Gegenpartei verglichen und der Familie des Getöteten Genugtuung geleistet haben müßten. Ausnahmen in besonderen Notfällen waren möglich, durften aber keinen Präzedenzstatus bekommen. Auch solche Verfahren sollten also unter dem Primat der Liebe stehen können. War der Vergleich erfolgt und von den Verwandten akzeptiert worden, konnte der Totschläger vor der ganzen Gemeinde am Altar seine Reue bekennen und unter allgemeiner Fürbitte öffentlich absolviert werden.176 Daß Totschlag im Unterschied zu Mord nicht peinlich bestraft wurde, sondern auf ein Vergleichsverfahren hinauslief, war schon im Mittelalter gang und gäbe.177 Für die Buße galt in den Kirchenordnungen dann eine einfache Faustregel: „aperta peccata palam absoluenda sunt“, wogegen „occulta […] etiam occulte sunt absoluenda.“178 Dasselbe Verfahren galt mithin auch für all jene, „welcker er eigen blodt schenden / vnde sst mit apenbaren lastern de gemeinen Christenheit ergern“179: Wenn die weltliche Obrigkeit ihre Strafe verhängt hatte, konnten öffentliche Buße und Absolution erfolgen, sofern die Straffälligen um Vergebung baten. Besonders großer Nachdruck wurde jedoch darauf gelegt, „Dat men keinen vlith vnderlathen schal / by dene vorthowendende / welcker vmme ere missedadt willen thom Dode / dorch ein apentlick gerichte vorordelt sint. Den mach men / nicht allene de Absolutio mede deelen / sonder ock dat Sacramente geuen / wo 175 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 68. – Übertragung: ,… wider alles göttliche und menschliche Recht, daß der Verbrecher, der den Hals verwirkt hat, entschlüpfe, und der unschuldige Henker umkomme.‘ 176 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 24. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 92–95. 177 Vgl. W[olfgang] Schild: Totschlag, in: LMA 8 (1997), Sp. 902. – Der Totschläger Heinrich Schiering war zur Sühne dem Kieler Nikolaikasten ab 1571 eine Ewigrente von 3 Mark schuldig. Vgl. dieses und weitere Belege zur Fortführung der Sühnepraxis nach der Reformation bei Bremer (1916); S. 40, 97 u. 121. 178 Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 24. – Übersetzung: ,offen sichtbare Sünden müssen auch öffentlich absolviert werden‘, wogegen ,heimliche auch heimlich absolviert werden müssen.‘ – Entsprechend Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 94 f. 179 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 94. – Übertragung: ,… die Blutschande begehen oder sonst mit offenbaren Lastern der Christengemeinde zum Ärgernis fallen.‘ – Ebenso, doch ohne den darauffolgenden Zusatz zur weltlichen Stafe: Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 24.
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se des begern.“180 Angesichts des bevorstehenden Todes mußte hier unmittelbar seelsorgerlich gehandelt werden, denn ein öffentliches Bußverfahren zur Wiederaufnahme des Verurteilten in die Abendmahlsgemeinschaft wäre in solchen Fällen absurd gewesen. Deshalb, so forderten bereits die frühen städtischen Ordnungen181, dürften die Geistlichen nicht erst zu den Todeskandidaten gelassen werden, wenn diese zur Hinrichtung abgeführt würden, sondern auch oft genug vorher, solange sie im Gefängnis säßen, um sie zu lehren und zu beraten, damit sie wieder Gottes Gnade sehen möchten. Die dänischen Theologen verstärkten dann den seelsorgerlichen Aspekt noch weiter: In der Regel würde nämlich ein einziger Besuch nicht genügen, weil solche Sünder die Gnade oft ganz mißachten. Wolle Gott jedoch, einige von ihnen würden ihren Glauben bekennen und sich das Abendmahl wünschen, dann müsse es ihnen auch gegeben werden, einen oder zwei Tage vor der Hinrichtung. Die übrigen seien Gott anzubefehlen, doch dürfe auch bei ihnen nichts unterlassen werden, was ihnen nütze. Insbesondere dürften sie bei der Hinrichtung nicht alleingelassen werden.182 Daß man ihnen solche Dienste mit Seelsorge, Beichte und Abendmahl keinesfalls hochmütig verweigern dürfe, betonten dann noch einmal die Kirchenordnungen für Hildesheim und Braunschweig-Wolfenbüttel – denn „Christus vorsmadede den scheker nicht, de mit em gekrütziget ward“183 (Lk 23,39–43). Offensichtlich kam es regelmäßig vor, daß Delinquenten ohne Beichte und Mahlfeier in den Tod geschickt wurden, „alse in vele rden gescht“.184 Demgegenüber akzentuierten die Kirchenordnungen solche Aufgaben als Werke praktizierter Barmherzigkeit, die Christus am jüngsten Tag anerkennen werde (Mt 25).185 Das eschatologische Argument war analog zur Motivation der Armenfürsorge eingesetzt. Als besonders eindrückliches Zeugnis für Bugenhagens dezidiert seelsorgerlichen Umgang mit Kriminellen und Inkriminierten darf schließlich eine kuriose Bestimmung aus den skandinavischen Ordnungen betrachtet werden, die sich nur dort findet: Frauen, die im Bett versehentlich ihre Kinder totgedrückt hatten, sollten mit glaubwürdigen Zeugen zum Superattendenten gehen, um bei ihm zu beichten und die Absolution zu erlangen. Das scheint auf dem Lande, zumal in 180 Ebd. – Übertragung: ,… daß man an denen keine Mühe unterlassen soll, die um ihrer Missetat willen durch ein öffentliches Gericht zum Tode verurteilt worden sind. Denen mag man nicht nur die Absolution erteilen, sondern auch das Sakrament geben, wenn sie es begehren.‘ 181 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 67. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 108 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 138. 182 Vgl. Udkast 1537 (1849); S. 90. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 33. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 122–125. – Das letzte auch zuvor, wie in Anm. 181. 183 Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 865. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 67. – Übertragung: ,Christus verschmähte den Schächer nicht, der mit ihm gekreuzigt worden war‘ (Lk 23,39–43). 184 Wie in Anm. 181. 185 Ebenso.
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Skandinavien, wo üblicherweise in Alkoven geschlafen wurde, nicht ganz selten gewesen zu sein, wie die sonderbar herausgehobene Position des eigenständig überschriebenen Artikels nahelegt.186 Die Prediger waren in diesem Zusammenhang sogar gehalten, die Leute fleißig über diese Gefahr aufzuklären. Daß hier die seelsorgerliche, nicht die juristische Tragweite so sehr betont wurde, ging erst auf Bugenhagens Eingreifen zurück. In ihrem Entwurf hatten nämlich die dänischen Theologen noch erklärt, solche nachlässigen Frauen gehörten unter das Strafrecht („suerdtsenns reth“), und nur falls ihre Unschuld vermutet werden könnte, sollten sie beim Propsten zur Beichte gehen und lediglich mit einem Strafgeld zugunsten der Armen belegt werden. Das erinnert an ein Verfahren, das Bischof Johann zu Roskilde 1339 dem Kaplan des St.-Jürgens-Spitals zu Rambin in Pommern ausdrücklich gestattet hatte: Mütter, die im Bett ihr Kind totgedrückt hatten, konnten dort von ihrer Bußstrafe teilweise dispensiert werden, sofern sie dem Spital etwas zugute kommen ließen.187 Daß in jenem Fall eigens ein bischöfliches Privileg nötig war, um diese Form von Ablaß gewähren zu dürfen, zeigt den Ausnahmecharakter solcher Bußmilderungen. Weil auch im Entwurf von 1537 zunächst vom Strafrecht ausgegangen und nur für den abweichenden Fall eines Versehens der Bußgang zum Propsten vorgeschlagen wurde, scheint es üblich gewesen zu sein, prioritär von Kindsmord auszugehen, einem Delikt also, das auf dem Gebiet des deutschen Rechts, so auch in Holstein, besonders drakonisch bestraft wurde. Die Carolina von 1532 sah vor, daß die Delinquentinnen lebendig begraben und gepfählt oder dort, „inn welchem gericht die bequemlicheyt des wassers darzu vorhanden ist, ertrenckt werden.“188 So wurde zu Kiel 1587 eine alte Frau vergraben und gepfählt, die angeblich nicht nur Hexerei und Unzucht getrieben, sondern auch eins ihrer unehelichen Kinder mit einem Kissen erstickt und ihr zweites verhungern lassen hatte.189 War der Totschlag jedoch nicht vorsätzlich geschehen, so sah beispielsweise das Eiderstädtische Landrecht von 1591 die gnädigere Enthauptung vor.190 Wenn also die dänischen Theologen für die künftige Kirchenordnung vorschlugen, es in Ausnahmefällen bei einer kirchlichen Geldstrafe zu belassen, so war dies schon eine sehr konziliante Auslegung mitteleuropäischer Rechtsnormen. Trotzdem ließ Bugenhagen den ganzen Absatz streichen. Seine Version verzichtete jetzt vollkommen auf juristische Kategorien und stellte Beichte und Absolution konkurrenzlos in den Vordergrund. Der Superintendent sollte ihr eine erträgliche Geldbuße auferlegen, die freilich „yn der armen kysten ge186 Vgl. Udkast 1537 (1849); S. 94 f. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 36 f. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 138 f. 187 Vgl. Heyden 1963; S. 38. 188 Carolina 1532 (2000); S. 82 (§ 131), zum peinlichen Untersuchungsgang auch S. 41 (§ 35 f.). 189 Vgl. Bremer (1916); S. 114 f., auch 200. 190 Vgl. Johann Adolph: Eyderstädtisches Land-Recht 1591 (1794); S. 129, Art. LI , § 2.
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worpen“ werden sollte. In der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung ergänzte er zudem: „Darna schal de Superattendente / de Frouwen wedderumme tho erem Kerckhern schicken / mit synem Breue / Dat se ys Absoluert / vnd he dat der Kercken vorwitlike.“191 Ein demütigendes Bußverfahren in aller Öffentlichkeit war mithin überflüssig. Der pastorale Zug, der hier zum Tragen kommt, und der verständnisvolle Umgang mit den inkriminierten Frauen fügen sich nahtlos in Bugenhagens Fürsorgekonzeption unter dem Primat der Liebe vor dem geschriebenen Recht. c. Eherecht und Verbrechensprävention In kaum einem anderen Bereich des öffentlichen Lebens wird die Schwelle zwischen unmoralischem und kriminellem Verhalten so schmal gewesen sein wie in Fragen der Sexualität und der Ehe. So wurde Ehebruch von den weltlichen Obrigkeiten als Kriminaldelikt bestraft192, konnte aber zugleich, wenn er öffentlich wurde, in empfindlicher Weise den Frieden im christlichen Gemeinwesen gefährden, so daß hier der ,kleine Bann‘ eine akzeptierte Sanktionsmöglichkeit bis zur Reïntegration bedeuteten mochte. Wie zu sehen war, setzten die Kirchenordnungen dabei die Zwei-Regimenten-Lehre voraus. Dasselbe galt etwa für Inzest, Homosexualität und alle anderen devianten Praktiken, die von weltlichen Gerichten verfolgt und von der christlichen Gemeinde geächtet wurden. In seinen Kirchenordnungen hat Johannes Bugenhagen jedoch nicht allein die Möglichkeit zum Bann vorgesehen, sondern auch Präventivmaßnahmen empfohlen, die erneut unter dem Primat christlicher Liebe stehen sollten. Dies galt nicht nur für Ehesachen, sondern vereinzelt auch für andere Themen, die ihn beschäftigten. Als hervorragendes Mittel gegen die genannten Vergehen akzentuierte Bugenhagen die Vorbildlichkeit eines ordentlichen Lebenswandels in der Gemeindeöffentlichkeit, ja generell die Hochschätzung des Ehestands. So forderte er als wahren Gottesdienst einer christlichen Gemeinde, arme Mädchen präventiv vor Mißhandlung und Prostitution zu schützen, indem man sie mit vereinten Mitteln zur Ehe brachte: „To ander vnnutten vnde schedelike Gades dnste hebbe wy sus lange hehr grne mit beyden henden gegeuen“193, argumentierte er für die Braunschweiger Prediger. Die Alternative von falschem und wahrem Gottesdienst war analog zur Motivation der Armenfürsorge gebildet. 191 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 138. – Übertragungen: ,Danach soll der Superattendent die Frau wieder zu ihrem Pfarrer schicken, mit seiner Bescheinigung, daß sie absolviert ist und er dies der Kirche[ngemeinde] bekanntgebe.‘ 192 Vgl. z. B. W[olfgang] Sellert: Ehebruch V. Germanisches und deutsches Recht, in: LMA 3 (1986), Sp. 1655. – Carolina 1532 (2000); S. 77 (§ 120). 193 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 54. – Übertragung: ,Für anderen unnützen und schädlichen Gottesdienst haben wir früher gern und lange mit beiden Händen bezahlt.‘
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Auch der öffentliche Ehestand des Priesters konnte Aufklärungs‑ und Präventivcharakter annehmen. Bereits 1525, im Jahr von Luthers Heirat, warb Bugenhagen durch eine Flugschrift für die Akzeptanz der Priesterehe.194 Hier wie auch in den Kirchenordnungen seit 1528 warnte er die Geistlichen massiv davor, der evangelischen Ehe ein bloß vordergründig zölibatäres, doch in Wahrheit mit heimlichen Konkubinaten, Prostitution und Selbstbefriedigung infiltriertes Lotterleben vorzuziehen: Wem nicht von Gott beständige Enthaltsamkeit geschenkt sei, der gerate nun einmal im heiratsfähigen Alter leicht in solche Sünden, führte Bugenhagen für Hildesheim und Braunschweig-Wolfenbüttel aus, Sünden aber, die ein eheloses Leben doch nur behelfsmäßig erleichtern würden. Statt die Heirat zu verurteilen, sollten auch die Geistlichen besser den bisherigen Mönchsgelübden und anderem Teufelswerk abschwören. Künftig werde man, so heißt es schon in der Braunschweiger Kirchenordnung, solche Priester und Pfarrer nicht mehr dulden, die Huren bei sich hätten.195 Bugenhagen wandte sich also nicht grundsätzlich gegen freiwillige Ehelosigkeit, bevorzugte aber für gewöhnliche Naturen eine öffentlich geführte Priesterehe gegenüber heimlichen Regelverstößen, die ebenso hätten geahndet werden müssen wie bei jedem anderen Gemeindeglied auch. Allerdings will kritisch bedacht werden, ob nicht gerade die topische Wiederkehr von Unzuchtsvorwürfen, mit denen „evangelische Flugschriften den altgläubigen Klerus der ,Hurerei‘ bezichtigten und die Klerikerehe als ,keusch‘ hinstellen, […] vermuten [läßt], daß sie eine das Gegenteil glaubende Umwelt zu überzeugen hatten. […] Die Flugschriften zur Priesterehe zeugen“ den Überlegungen von Stephen Buckwalter zufolge „von der Erklärungsnot, in der sich verheiratete Priester befanden.“196 Doch liegen etwa aus Hamburg ausreichend Zeugnisse darüber vor, daß es die Geistlichen der Hansestadt mit dem Zölibat wirklich nicht so genau nahmen wie es das weltliche und kanonische Recht forderten. Schon 1503 mahnte Kardinal Raimundus Peraudi († 1505) dort im päpstlichen Auftrag, „daz sie ire beischleferinnen innerhalb einer Monatsfrist von sich tun sollten.“ Im selben Zeitraum protestierte der Domdekan Albert Krantz († 1517) mehrfach, doch ohne bleibenden Erfolg, gegen die Sittenlosigkeit seiner Kollegen, von denen manche bereits einmal geläutert und jetzt „– wie Hunde zu ihrem Erbrochenen – in ihre früheren Laster verfallen“ waren.197 Auch der Rat verfolgte eine konsequente Sittenpolitik. Daher widersprach er zunächst der be194
Vgl. Bugenhagen: De coniugio 1525 (1981). – Buckwalter 1998; S. 280 f. Vgl. zum Ganzen ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 54 u. 64. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 106 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 137. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 89 f. – Ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 838. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 71 f. 196 Buckwalter 1998; S. 300. 197 Rainer Postel: Horenjegers und Kökschen. Zölibat und Priesterehe in der hamburgischen Reformation, in: ders.: Beiträge zur hamburgischen Geschichte der Frühen Neuzeit. 195
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reits ausgesprochenen Einladung an Johannes Bugenhagen, der 1524 geheiratet hatte.198 Am deutlichsten wurden die Verhältnisse nach Annahme seiner Ordnung dann 1530 im Streit zwischen Rat und Domkapitel benannt: Von den 21 amtierenden Klerikern, die das Kapitel unter 25 Zeugen benannt hatte, „gaben zehn unumwunden den Umgang mit Konkubinen zu, teilweise in schöner Offenheit.“199 Etliche hatten Gewissensbisse und stellten sich der Gnade Gottes anheim.200 Nicht wenige waren Väter. Vom Rat benannte Zeugen bestätigten die verbreiteten Gewohnheiten und konnten sogar mehrere Konkubinen übereinstimmend benennen.201 Die nunmehr geforderte städtische Obrigkeit ging in diesen Jahren dazu über, ihre Sittenpolitik auf den Klerus auszudehnen und in exemplarischen Fällen von der Gefängnisstrafe Gebrauch zu machen.202 Vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen wird das argumentative Gewicht erklärlich, das in Bugenhagens Kirchenordnungen auf der Priesterehe lag: Die evangelischen Pfarrer erfüllten seiner Ansicht nach eine Vorbildfunktion, die durch den schriftwidrigen Zölibatszwang nicht gleichermaßen hätte eingelöst werden können: Prävention durch reformatorische Öffentlichkeit. Nachdem mit Luthers Wort die Ehe als „weltlich Ding“, nicht mehr als Sakrament galt, waren künftig mit Scheidungsprozessen und anderen Ehesachen die hierfür neu einzurichtenden Konsistorien zu betrauen, lokale und regionale Kirchenbehörden der weltlichen Obrigkeiten. Was die Kirchenordnungen diesbezüglich vorsahen, war oft bereits auf Institute dieser Art zugeschnitten, auch wenn ihre Gründung sich noch hinzog. Für Bugenhagens Fürsorgekonzeption ist von Belang, daß er das kaiserliche Recht ausdrücklich dem alten kanonischen gegenüber favorisierte und deutlich einige besonders harte und ungerechte Punkte hervorhob, die er künftig abzumildern wünschte. Dazu gehörte der kanonische Brauch, „dat me nycht radt geuen kan dem vnschůldigen parthe / wenn de Duel wedder Godt de ehe to reten hefft / dorch vnbeterlicken ehebrock / edder dorch vnuorsonlicke wechlopen / dar neyne hopninge ys der beterynge / edder der wedder kominge“203. Diese Praxis wurde später vom Trienter Konzil noch einmal ausdrücklich bestätigt.204 Sollte denn, so fragte Bugenhagen in der Ausgewählte Aufsätze zum 65. Geburtstag (hg. v. Lars Jockheck). Münster 2006 (Geschichte: Forschung und Wissenschaft), S. 87–102; hier 89. 198 Vgl. Hering 1888; S. 34. 199 Postel 2006, S. 91. 200 Vgl. ebd.; S. 88 u. 91. 201 Vgl. ebd.; S. 92. 202 Vgl. ebd.; S. 93. 203 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 133. – Übertragung: ,… daß man dem unschuldigen Teil nicht helfen kann, wenn der Teufel gegen Gott die Ehe zerrissen hat durch unabänderlichen Ehebruch oder unversöhnliches Fortlaufen, so daß keine Hoffnung auf Besserung oder Wiederkunft besteht.‘ 204 Vgl. DH 37; Nr. 1805 u. 1807. – Dazu Rudolf Wiegand: Das Scheidungsproblem in der mittelalterlichen Kanonistik, in: ders.: Liebe und Ehe im Mittelalter. Goldbach 21998 (Bibliotheca Eruditorum 7), S. 179*–187*; bes. 186*f.
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Lübecker Ordnung, der unschuldig verlassene Ehepartner unter Gefährdung von Leib und Seele verderben? Doch blieb die rhetorische Frage diesmal noch offen. In der Pommerschen Kirchenordnung fügte er dann nachdrücklich hinzu, man müsse im Gegenteil jeden Fleiß anwenden, die Partner wieder zusammenzubringen, weil es göttlichem und natürlichem Recht zuwider sei, einen Unschuldigen so im Stich zu lassen. Der unbarmherzige Grundsatz des kanonischen Rechts sollte also nicht mehr bindend sein. Stattdessen orientierte sich Bugenhagen – wie auch andere Reformatoren – in hohem Maße am Römischen Recht, besonders an Justinian.205 Zwar dürfe man nach dem Wort Christi (Mt 19,1–12) nicht scheiden, aber wenn „eyner sick wedder Godt scheydet dorch vnuorhapentlick wedderkamendt edder vnvorsnl icken ehebrke / so scheyde wy se nicht / snder de duell hefft se gescheydet / vnde ys denne recht / dat men dem vnschldigen [sic] parte helpe Doch schal mit Citation / termin vnde processen des rechten / edder ock mit vlitigem anholdende efft vorsoninge knde gescheen / thovrn gehandelt vnde flitlich vorsocht werden.“206 Der Teufel hat die Ehepartner bereits geschieden, so daß jetzt die Unterlassung engagierter Vermittlungsversuche, liebevoller Hilfe und billiger Rechtsgewährung an die unschuldige Partei ihrerseits als böse und widergöttlich dastehen müssen. „Damit werden“, wie Anneliese Sprengler-Ruppenthal scharfsinnig herausgestellt hat, „die kaiserlichen Rechte dem Andringen des Teufels selbst entgegengestellt.“ Das Gegenüber von kanonischer und kaiserlicher Rechtsprechung mußte aus reformatorischer Perspektive geradezu als eschatologische Alternative erscheinen: „auf der Seite Gottes die kaiserlichen Rechte, die Liebe und Billigkeit kennen, auf der Seite des Bösen das Kanonische Recht, das der Liebe und der von Gott geschaffenen Natur ins Gesicht schlägt.“207 Am Jahrhundertende war es juristische Norm, daß der unschuldige Part sich gültig scheiden lassen konnte: „Und stehet der Manns‑ oder Weibsperson, derer Ehegenoß ihr durch solchen Ehebruch untreu geworden, frey, sich von dem Ehebrecher oder Ehebrecherin wegen des begangenen Lasters scheiden zu lassen“ – so galt es ab 1591 für die Halbinsel Eiderstedt.208 Daß Bugenhagen Sicherheiten für Frauen und Mädchen zu stärken wünschte, zeigt sich auch an der Ablehnung eines weiteren Satzes aus dem kanonischen 205 Vgl. hierzu die ergiebige Studie von Anneliese Sprengler-Ruppenthal: Zur Rezeption des Römischen Rechts im Eherecht der Reformatoren [zuerst 1982], in: dies.: Aufsätze 2004, S. 202–250. 206 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 91 f. – Übertragung: ,wenn jemand sich gegen Gott[es Gebot] scheidet, ohne daß Hoffnung auf Wiederkunft ist, oder durch unversöhnlichen Ehebruch, dann scheiden nicht wir, sondern der Teufel hat sie geschieden, und dann ist es recht, daß man dem unschuldigen Partner helfe – doch soll es zuvor fleißig mit Einbestellung, Termin und Prozessen auf dem Rechtsweg oder auch mit fleißigen Aussöhnungsbemühungen probiert werden.‘ 207 Sprengler-Ruppenthal 1982 (2004); S. 216 f. 208 Johann Adolph: Eyderstedtisches Land-Recht 1591 (1794); S. 119, Art. XXXIV , § 4.
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Eherecht, die ebenso energisch ausfiel: Dort war für eine Hochzeit keine Einwilligung der Eltern erforderlich, jedenfalls nicht zwingend. Doch aus seiner Sicht konnte diese kleine Unschärfe dem verbrecherischen Mädchendiebstahl Tür und Tor öffnen, insofern „eyn gheselle edder man defflick vnde vorretlick den Oldern affstelt ehre dochter mit dem yaworde / ane des vaders vnde moder wetent vnde wyllen / Mochte me ehne doch leuer stelen hundert gulden etc.“209 Der Pommerschen Kirchenordnung galten sogar nicht nur Eheschließungen ohne Einwilligung der Eltern oder der nächsten Verwandtschaft, sondern darüberhinaus auch ohne die Billigung der Obrigkeit oder des Bischofs als nicht bindend.210 In dieser Fassung war zwar generell vom entführten „kindt“ die Rede, doch darf die Regelung in jedem Fall als rechtliche Absicherung der Töchter interpretiert werden – daß Söhne in der Regel nicht mit dem Jawort geraubt wurden, liegt auf der Hand. Das Trienter Konzil nahm 1563 direkt auf solche Skrupel der Reformatoren211 bezug, indem diejenigen, die „falso affirmant, matrimonia a filiis familias sine consensu parentum contracta irrita esse“, mit dem Anathema belegt wurden.212 Zugleich wurde jetzt aber ein Aufgebotsverfahren vorgeschrieben, das die Gültigkeit einer Eheschließung an die Gegenwart des Geistlichen band.213 Damit folgte man tendenziell der reformatorischen Praxis. So hatte der Hamburger Rat bereits in den fünfziger Jahren Aufgebot und Heiratserlaubnis durch das Geistliche Ministerium eingeführt.214 Schließlich belegt eine Anweisung aus der Hamburger Kirchenordnung, daß Bugenhagen sogar die Mechanismen damaliger Zwangsprostitution durchschaute: „Welckere thostadenn myth wetthende / dath eyne gheschendede maghet myth ghewalth werde ghedrunghenn tho syne eyne ghemene vor alle bouenn / ße wylle edder nycht / de ßundighenn grauer vor gade wen de maghet gheßundighet hefft myth erer erstenn ßunde etc. Darumme schall ßulck eynn hs / dar ßulckes schudt in der Nygen Strate na dusßem daghe / tho ßulcker mothwillighenn vnnd schendighenn schande nycht ghebruket werdenn.“215 Eine ver209 Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 133. – Übertragung: ,… ein Jüngling oder Mann diebisch und verräterisch den Eltern ihre Tochter mit dem Jawort wegstiehlt – ohne des Vaters und der Mutter Wissen und Einwilligung. Möchte man ihnen doch lieber hundert Gulden stehlen usw.!‘ – Vgl. auch Carolina 1532 (2000); S. 76 (§ 118). 210 Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 91. 211 Vgl. speziell De abroganda missa privata Martini Lutheri sententia. 1521, in: WA 8 (1889), S. (398–) 411–476; hier 466. 212 DH 37 (1991); Nr. 1813. – Dortige Übersetzung: „… fälschlicherweise behaupten, Ehen, die von Kindern ohne die Zustimmung der Familien geschlossen wurden, seien ungültig“. 213 Vgl. ebd.; Nr. 1814–1816. – Ursula Beykirch: Tametsi, in: Lexikon des Kirchenrechts (hg. v. Stephan Haering u. Heribert Schmitz). Freiburg i. Br. u. a. 2004, Sp. 237–240. 214 Vgl. Postel 2006, S. 93. 215 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 254 f. – Übertragung: ,Diejenigen, die wissentlich zulassen, daß ein geschändetes Mädchen mit Gewalt gezwungen wird, für alle Buben frei zu sein, ob sie will oder nicht, die sündigen schwerer vor Gott als das Mädchen mit seiner ersten Sünde usw. Darum soll ein solches Haus in der Neustraße, wo das passiert, von diesem Tag an für solche mutwillige und schändliche Schande nicht weiter gebraucht werden.‘
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gewaltigte Jungfrau galt nämlich als entehrt und stand somit für eine ordentliche Heirat nicht mehr zur Verfügung. Falls sie während der Tat nicht vernehmlich geschrien hatte, setzte man bei Gericht sogar ihre Einwilligung voraus216, so daß sie dann ihrerseits der Unkeuschheit, ja der Wollust schuldig war. Vor diesem Hintergrund apostrophierte auch Bugenhagen den folgenreichen Geschlechtsakt selbstverständlich als ,erste Sünde‘ des Mädchens. Aber durch die Vergewaltigung auf ein soziales Abstellgleis geraten, blieb dem Opfer häufig nur der Weg in die Prostitution – es sei denn, der Gewalttäter fand sich selbst bereit, sie zu heiraten und ihre beschädigte Ehre so wiederherzustellen.217 An dieser Stelle setzte jetzt Bugenhagens Kritik an, indem er diejenigen, die das Opfer unter Ausnutzung seiner anfänglichen Stigmatisierung zu weiterem Abstieg zwangen oder dies auch nur billigend in Kauf nahmen, noch größerer Schuld anklagte. Dieser Einspruch ist prinzipieller Art. Es wäre zu kurz gegriffen, Bugenhagen hier nur bei der Schließung eines Hamburger Bordells am Werk zu sehen; vielmehr scheint es ihm generell um den Schutz Unschuldiger und Schwacher vor sexueller Gewalt gegangen zu sein.218 Dafür sprechen die schon angesprochenen Initiativen zum Schutz der Schwachen ebenso wie ein Passus, der gleichlautend in den drei frühen städtischen Ordnungen dazu auffordert, nicht nur den Mädchenschänder zu bestrafen, der das Opfer nicht wieder zu Ehren bringen, sie also nicht heiraten wolle, sondern ebenso „de bsen huren / so etlike synt / de dar to geholpen hebben“219.
3. Dienst an jungen Müttern Den Schwangeren galt in den Kirchenordnungen besonders große Sorge. Das wird bereits an der prominenten Stellung des umfangreichen Kapitels „Van den HeueAmmen“ gleich zu Beginn der Braunschweiger Ordnung deutlich, das unmittelbar mit den Anweisungen zur Taufe zusammenhing und noch den Schulbestimmungen vorangestellt war.220 In Lübeck war die Vorbildfunktion der Prediger bei Krankenbesuchen hervorgehoben, damit gerade in Pestzeiten die 216 Vgl. St[efan] C. Saar: Notzucht, in: LMA 6 (1993); Sp. 1298 f. – H[einz] Holzhauer: Gerüfte, in: LMA 4 (1989); Sp. 1357 f. 217 Diese Möglichkeit erwähnt sogar Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 54. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 106 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 136. 218 Ich greife damit eine Frage Hans Wenns nach der generellen Bedeutung dieser Stelle auf; vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 255, Anm. 362. 219 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 54. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 106 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 136. 220 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 18–23. – Zur prominenten Stellung des Taufkapitels in der Braunschweiger Ordnung, das ein Fünftel des ganzen Ordnungstextes ausmacht, vgl. Brunk 2003; S. 54–59.
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Notleidenden, speziell die schwangeren Frauen nicht vernachlässigt würden.221 In den Bestimmungen, die der Butenlübeckischen Ordnung für Travemünde angefügt waren, erschienen unter den Nutznießern des Gemeinen Kastens an erster Stelle die Wöchnerinnen: „de Vaget myt den kerkvederen schlen dat vthdelen, efft wor eine arme frowe ynt kindelbedde queme, de neynen anderen trost hedde, edder sus armen tor kledinge, vringe edder anderer notrofft.“222 In Pommern wurde den Diakonen eingeschärft, immer eine finanzielle Rücklage zu behalten, „so men nicht anderen radt weth vr de armen de hastich kranck werden ynn der wehke / edder ock vr de kinder beddesche frouwen.“223 Doch nicht allein aus medizinischer Notwendigkeit legte Bugenhagen überaus großen Wert auf ordentlichen Dienst an schwangeren Frauen und jungen Müttern. Im Rahmen einer dezidiert evangelischen Neuordnung sollten auch auf diesem Gebiet seelsorgerliche und diakonische Motive im Vordergrund stehen. Sie führten dazu, daß Bugenhagen den Beruf der Hebamme als wichtiges Gemeindeamt auf der Basis allgemeinen Priestertums emanzipierte. Daher sollen seine Vorstellungen hierzu in einem eigenen Kapitel beleuchtet werden.224 Groß sei die Gefahr, wo Hebammen fehlten, heißt es in der Braunschweiger Ordnung, besonders bei armen Frauen, die sich keine gute Hilfe verschaffen könnten. Teils nehme das Kind Schaden, teils die Mutter. Wo dies ohne eigenes Verschulden von Gott geschickt sei, so füge man sich und sei geduldig, „wo wol id weh deyt“225. Aber in solchen Fällen sei auch zu fragen, ob nicht doch etwas versäumt worden sei. Die Zuständigen machten sich zweifellos schuldig, wenn sie nicht die gebotene Vorsorge träfen. Darum forderte Bugenhagen den Braunschweiger Rat auf, durch kluge Frauen226 so viele Hebammen zu bestellen, wie in der Stadt nötig wären. Sie sollten aus der Ratskasse ihre Miete und aus den Schatzkästen
221
Vgl. Bugenhagen: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 140. Butenlübeckische Ordnung 1531 (1981); S. 204. – Übertragung: ,Der Vogt und die Kirchväter sollen das austeilen, wenn etwa eine arme Frau ins Kindbett käme, die keine andere Hilfe hätte, oder sonst an Arme zur Kleidung, Heizung oder anderen Bedürfnissen.‘ 223 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 117. – Übertragung: ,… sofern es keine andere Hilfe gibt für die Armen, die während der Woche plötzlich krank werden oder auch für die Kindbettinnen.‘ 224 Vgl. neuerdings auch Ute Gause: Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive. Tübingen 2006 (UTB 2806); S. 127–137. 225 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 18. – Übertragung: ,… wenn es auch weh tut.‘ 226 Der bemerkenswerte Umstand, daß die Hebammen ebd. ausdrücklich „dorch vorstendige wiue“ bestellt werden sollen, fügt sich kaum in das holzschnittartige Bild einer zunehmenden Zwangsreglementierung des traditionell funktionierenden Hebammenwesens durch verständnislose Männer, die „die städtische Geburtshilfe zu bevormunden versuchten, ohne sie selbst auszuüben“ – so bei Eva Labouvie: Frauenberuf ohne Vorbildung? Hebammen in den Städten und auf dem Land, in: Geschichte der Mädchen‑ und Frauenbildung (hg. v. Elke Kleinau u. Claudia Opitz). Bd. 1, Frankfurt a. M. u. New York 1996, S. 218–233; hier 225. 222
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mehrmals jährlich namhafte Unterstützungen bekommen.227 Im Gegenzug müßten sie sich verpflichten, armen Frauen umsonst zu helfen. Wohlhabendere sollten ihnen bezahlen, was ihnen zustehe, denn von solchen Mitteln würden sie leben. Auch sei auf eine pragmatische Verteilung der Hebammen in der Stadt zu achten, damit sie schnell zur Stelle wären. In der Hamburger Ordnung waren zusätzlich die Armendiakone angewiesen, stets gewissenhaft über arme Frauen zu informieren, damit im Bedarfsfall schnell geholfen werden könne.228 Auch in den Hansestädten bestand die Verpflichtung, armen und reichen Frauen unterschiedslos zu helfen: Weil die Hebammen von diesen ihren Unterhalt bekämen und vom Rat ihre übliche Unterstützung, „schollenn ße ock yo vth christlyker leue / welck doch ock eynn juwelick christene schuldich ys tho helpende / wor ße kann truwelick helpenn den armenn frowenn / wenn ße ock ßo arm werenn / dath ße byllick nycht eynenn pennyngk vann en vormodenn“229. Als zusätzlichen Ansporn sollten sie durch die Armendiakone jährlich gut bemessene Zuwendungen bekommen, aber auch versprechen, sich gewissenhaft und christlich um die armen Frauen zu kümmern wie auch den Diakonen stets besondere Notfälle zu melden. In Hamburg und Lübeck verstand man die Zahlungen aus den Armenkästen also als Kompensation der fehlenden Honorare armer Frauen, die von den Diakonen gleichsam stellvertretend übernommen wurden. Dieser Regelung entsprach die ausdrückliche Mahnung an die christliche Nächstenliebe, denn die Verpflichtung basierte hier nicht auf geregelten Arbeitsverhältnissen. In Schleswig-Holstein wird man dies ähnlich gehalten haben. Aus Kiel wissen wir etwa, daß „kathrinne pueckes de bade moeme“ im Jahr 1563 an jedem Mittwoch Armenunterstützung erhielt.230 Sie war keineswegs arbeitslos, wie die Berufsbezeichnung beweist, doch wird diese Bademuhme, also Hebamme, gleichwohl erwerbslos gewesen sein, vermutlich weil sie in erster Linie armen Frauen diente. Hierfür nahm man sie kurzerhand in die Liste derer auf, die wöchentlich vom St.-Annen-Spital unterstützt wurden. Die Höhe ihrer Entschädigung ist leider nicht überliefert. Demgegenüber hatte die Braunschweiger Ordnung vorgesehen, die Hebammen aus den Schatzkästen zu bezahlen. Hier war der Posten also unter die laufenden Personalausgaben gezählt, denn aus dem Schatzkasten erhielten 227 Vgl Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 18, wogegen die Hebammen S. 148 nur einmal im Jahr eine anständige Entschädigung aus dem Schatzkasten erhalten sollten. 228 Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 122 f. – In Lübeck sollten dies die Kapläne übernehmen; vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 143. 229 Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 122. – Übertragung: ,… sollen sie wirklich aus christlicher Liebe, aus der doch auch jeder Christ zu helfen schuldig ist, wo sie können gewissenhaft den armen Frauen helfen – und wenn sie auch so arm wären, daß sie billigerweise nicht einen Pfennig von ihnen erwarten.‘ – Vgl. über die genannten Stellen hinaus auch ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 161. – Ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 882. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 80. 230 Vgl. Kiel StA, Nr. 18653.
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bekanntlich auch die Prediger, Küster und Schulmeister ihre Vergütung. Die deutlich auf ein festes Gemeindeamt bezogene Zahlweise ist für die Hansestädte jedoch gleich wieder abgeändert worden. Vielleicht erschien es pragmatischer, diese naturgemäß kaum planbare Dienstleistung in erster Linie von Fall zu Fall durch die Wohlhabenderen bezahlen zu lassen und nur subsidiär zu ergänzen, was zum Lebensunterhalt fehlte. Hierfür wird der Gemeine Kasten geeigneter gewesen sein, denn er war von Anfang an auf stark impulsive Ausgaben eingerichtet. Daß Bugenhagen die Verbindung von Schwangerschaft und Armut so nachdrücklich exponierte, entsprach der Realität: Lediglich „ein geringer Teil mittelalterlicher Frauen gebar ihre Kinder in einer sauberen Umgebung mit weich gepolsterter Bettstatt, während gut gekleidete Hebammen die Tücher an der Feuerstelle wärmten und heißes Wasser bereithielten.“ Darauf hat für das Mittelalter Kay Peter Jankrift231 mit Bezug auf die stark idealisierte Ikonographie der Geburt Johannis des Täufers hingewiesen. Wenngleich in manchen Hospitälern ein paar Betten für arme Frauen reserviert waren, die hier gebären konnten232, fanden Geburten doch in der Regel in der alltäglichen Umgebung statt, ohne daß teures Personal zur Hilfe stand, geschweige denn ein Arzt.233 So kam der Hebamme als zumeist einziger Geburtshelferin – von hinzugezogenen Frauen aus der eigenen Familie abgesehen – die entscheidende Rolle zu. Daß beim Geburtsvorgang die Frauen zumeist unter sich waren234, machte die Hebamme für Männer suspekt und brachte sie in die Nähe unehrlicher Berufe, die durch ihren Umgang mit Leichen (wie Abdecker, Henker und Bestatter) oder durch intimen Körperkontakt mit Fremden (wie Prostituierte, Bader-Barbiere und Chirurgen) in existentiellem Konflikt mit gesellschaftlichen Berührungstabus standen.235 Besonders der Umstand, daß Hebammen bei Geburtskomplikationen oft einen Kaiserschnitt herbeiführen mußten, den die Mutter in der Regel nicht überlebte, und daß sie nicht selten unangenehme Extraktionen toter Föten aus dem Leib vorzunehmen hatten, begünstigte mannigfache Verdächtigungen, die sich auch in einer überdurchschnittlichen Zahl von Hexenprozessen gegen Hebammen kon-
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Jankrift 2005; S. 56. Vgl. Britta-Juliane Kruse: Verborgene Heilkünste. Geschichte der Frauenmedizin im Spätmittelalter. Berlin u. New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur‑ und Kulturgeschichte 5); S. 187. 233 Vgl. Jankrift 2005; S. 58. 234 Freilich gibt es Anzeichen dafür, daß zum Spätmittelalter hin beide Geschlechter an der Geburtshilfe beteiligt sein konnten, ohne daß dies die Regel gewesen sein wird. Vgl. Kruse 1996; S. 126–132. 235 Vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 1, München 1990; S. 82. – Robert Jütte: Bader, Barbiere und Hebammen. Heilkundige als Randgruppen? In: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand‑ und Studienbuch (hg. v. Bernd-Ulrich Hergemöller). Warendorf 21994, S. 89–120; hier 89–91. – Von Hippel 1995; S. 36 f. 232
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kretisieren konnten.236 Diesem Mangel an Einsicht in die tatsächlichen Vorgänge am Kindbett suchten im Spätmittelalter die städtischen Obrigkeiten abzuhelfen und verstärkten ihre Bemühungen, den Beruf unter Kontrolle zu bekommen. Hierzu gehörten Einstellung und Vereidigung städtisch besoldeter Hebammen wie auch der Erlaß von Hebammenordnungen, die den Berufsstand einheitlichen Handlungs‑ und Verhaltensmustern unterwerfen sollten. Doch solche Ordnungen erfüllten keine theologischen Zwecke.237 Bugenhagens Leistung bestand nun darin, daß er dem Hebammenberuf einen anerkannten Status in der christlichen Gemeinde verschaffen wollte: „Dusße Moghenn ock woll hetenn Karckenn Denerynnenn Wenthe an ohrem ampthe ys vele ghelegenn / dath ydt togha Inth erste vorstendich vnnd vlitich / Dar na ock Christlick“238. An erster Stelle sollten also weiterhin Sachverstand und Gewissenhaftigkeit der Geburtshelferinnen stehen – neu war jedoch ein dezidiert christliches Amtsverständnis. Als ,Kirchendienerinnen‘ stellte Bugenhagen diese Frauen den männlichen ,Kirchendienern‘ eines Gemeinwesens zur Seite, den Pfarrern, Diakonen und Küstern. Yvonne Brunk hat diese Pläne in den Kontext seiner Tauftheologie eingeordnet, insofern die poimenischen, diakonischen und sogar sakramentalen Aufgaben, die er diesen Frauen zuwies, dazu beitragen sollten, die von Christus geforderte „Taufverantwortung der Gemeinde“239 zu erfüllen. Um den Anspruch einlösen zu können, war es nötig, die Hebammen in diesem Sinne zu unterrichten – unbeschadet der zweifellos zentralen medizinischen Ausbildung und des Erfahrungsschatzes, aus dem die Geburtshelferinnen traditionell schöpften, ungeachtet auch bereits verbreiteter Aufklärungsschriften mit handwerklichem Schwerpunkt wie Der Swangeren Frauwen und Hebammen Rosegarten von 1513, dem frühesten Druck dieser Art.240 Die abgeschlossene Ausbildung sollte jetzt vielmehr ergänzt werden, indem die Hebammen nun dem Superintendenten oder einem anderen Prediger zuzuweisen wären, der sie, wie es in der Braunschweiger Ordnung heißt, unterrichten sollte, „wat Gades wort bedrept in orer sake.“241 Dabei galt, wie Kenneth Appold jüngst betont hat, die 236 Vgl. Jütte 21994; S. 90. – Kruse 1996; S. 140 f. – Labouvie 1996; S. 219. – Jankrift 2005; S. 57. 237 Vgl. Gause 2006; S. 124. 238 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 122. – Übertragung: ,Diese mögen auch gut Kirchendienerinnen heißen, denn an ihrem Amt ist viel gelegen, daß es erstens verständig und fleißig zugehe, danach auch christlich.‘ 239 Brunk 2003; S. 245. 240 Vgl. [Eucharius Rösslin:] Der Swangeren Frawen vnd hebaen Rosegarten. Straßburg 1513; Ndr. (m. Beitrr. v. Roland Schuhmann, Ortrun Riha u. Ulrich Tröhler) Wutöschingen 1993. Der gereimten Vorrede zufolge wollte Rößlin verhindern, daß unfähige Hebammen „Manch mensch vmb ewigs leben bringen“ (B1 r°), indem sie aus Fahrlässigkeit manchen Mord begingen. Insofern war auch dieses Buch nicht rein handwerklich begründet. Rößlin verstand es als frommes Werk, für das er die Fürbitte seiner Leserinnen erwartete. 241 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 18. – Übertragung: ,… was Gottes Wort betrifft in ihrer Sache.‘
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„Aufsicht durch den Superintendenten […] nicht nur der Kontrolle der Hebammen, sondern ebenso sehr der formalen Autorisation ihrer Tätigkeit.“242 Auch die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung sah einen Unterricht der angestellten Hebammen durch die Prediger vor, und zwar differenziert nach ihren künftigen Diensten an Müttern und an Neugeborenen.243 Auf diese Zweiteilung wird zu achten sein. Was einerseits den Dienst an den Müttern selbst betraf, so war es zunächst nötig, sie über Schmerzen und Anfechtungen während Schwangerschaft und Geburt hinwegzutrösten, doch in einem tieferen und wichtigeren Sinne bedurften sie auch angesichts ständiger Todesgefahr für Mutter und Kind einer geistlichen Zurüstung. Hiermit hing der andere Aspekt des evangelischen Hebammenberufs aufs engste zusammen, insofern der Dienst am Neugeborenen die Befähigung zur Nottaufe einschließen mußte. Davon wie auch von Bugenhagens theologischen Überlegungen zum Tod des noch ungetauften Kindes wird weiter unten die Rede sein. Zur Tröstung der Frauen im Kindbett skizzierte Bugenhagen zunächst in der Braunschweiger Ordnung eine Reihe von Anregungen, an denen sich die Hebammen orientieren mochten: Erstens könne die Frau zur Dankbarkeit ermuntert werden, daß sie überhaupt schwanger geworden sei – etliche Frauen würden viel dafür geben. Zum andern könne ihr das unbegreifliche Wunder nahegebracht werden, wie Gott in ihrem Leib mit eigenen Händen das Kind erschaffe (mit Ps 139 und 2 Makk 7,23 f). Zum dritten sei Gott auch vertrauensvoll um Hilfe anzurufen, um Gefahr fernzuhalten, und auch den Anweisungen der Hebamme sei Folge zu leisten. Viertens müsse die Frau, wenn sie in Angst und Not gerate, von der großen Barmherzigkeit unterrichtet werden, mit der Gott Eva bestraft habe: Daß sie ihre Kinder mit Kummer gebären solle (Gen 3,16), sei doch eine gnädige Strafe, denn sie bedeute ja zunächst, daß Gott sie schwanger machen und ihr Kinder schenken wolle: „Wor is eyn wyff dat sulcks nicht be gret / wen ock noch so vele nt vorhanden were? Wat nicht kostet dat gelt ock nicht.“244 Glaube die Schwangere daran, daß ihr diese gnädige Strafe auferlegt sei, dann finde Gott an ihr ebensolches Wohlgefallen wie an seinem eigenen Sohn, der das auferlegte Kreuz gehorsam trug. Wenn die Frau verunglücken sollte, sei das in Erfüllung ihres von Gott bestimmten Werkes geschehen. Und schließlich müsse der Schwangeren auch die große Freude vor Augen geführt werden, die nachher die Schmerzen des Geburtsvorgangs auslösche (mit Joh 16,21).245 242 Kenneth G. Appold: Frauen im frühneuzeitlichen Luthertum: Kirchliche Ämter und die Frage der Ordination, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 103 (2006), S. 253–279; hier 257. 243 Vgl. Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 128. – Ebenso DänischNorwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 34 f. 244 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 19. – Übertragung: ,Wo gibt es eine Frau, die sich das nicht wünscht – wenn auch noch so große Not dazugehörte?‘ 245 Vgl. soweit ebd.; S. 18 f.
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Die hanseatischen Kirchenordnungen246 verwiesen generell auf die Ausführungen der Braunschweiger Ordnung, und auch in Skandinavien wurden die seelsorgerlichen Vorschläge weitgehend übernommen.247 Dort ergänzte man noch, daß die Schwangere sich in größter Gefahr mit allen anderen zusammen, die das Kreuz zu tragen hätten, im Gebet Gott anbefehlen könne – doch hierüber brauche man mit ihr erst zu sprechen, wenn sie wirklich in akuter Gefahr sei. In Skandinavien war sogar eine selbständige Unterweisung der Wöchnerinnen angefügt, wofür die Hebammen oder die Prediger angeleitet werden sollten: Einmal war ein Gebet vorgeschlagen, das die Eltern während der Schwangerschaft regelmäßig sprechen könnten, um das ungeborene Kind vor Christus zu bringen. Ich komme darauf zurück. Zweitens sollte den Wöchnerinnen ausgeredet werden, daß sie des Teufels sind – so habe man früher aus Unkenntnis und Unglauben geurteilt, obgleich die Schwangeren auf ihrem Lager schon härter als andere Leute geprüft würden. Die dänischen Theologen, auf die der Abschnitt (mit geringen Ergänzungen Bugenhagens) zurückgeht, nahmen den alten Aberglauben in geschickter Weise auf, doch so, daß die Frauen ermuntert werden konnten, solche Anfechtungen durchzustehen: Darauf habe es der Teufel nämlich gerade angelegt, daß er den Schwangeren ihren Beruf zur Qual machen wolle, durch den sie aber doch gerade Gott am liebsten seien (mit 1 Tim 2,15). Im übrigen wurde den Wöchnerinnen nahegelegt, in ihren Häusern zu bleiben: Zwar seien sie frei vom Gesetz des Mose (gemeint ist hier Lev 12,4 f), aber wenn nicht in gesundheitlichem Interesse, so doch wenigstens aus Rücksichtnahme auf „de erbarheit / de tucht vnde gude Policie des landes“248 sollten sie nicht gleich wieder in die Kirche gehen oder sich sonst in der Öffentlichkeit zeigen. Es wäre anderen Frauen gegenüber kein gutes Vorbild, auch wenn die Mutter imstande wäre, das Haus wieder zu verlassen. Neben den Schmerzen und Nöten der Schwangeren war beim Unterricht der Hebammen ganz besonders die Todesgefahr zu bedenken, in der sich das Kind befand – auch über eine gelungene Geburt hinaus. Zeichnete sich ab, daß das Neugeborene sterben müßte, so war es wenigstens gültig zu taufen.249 „Hebammen mußten mit der häufigen Wiederkehr solcher Situationen rechnen“, gibt Kenneth Appold zu bedenken. „Das Taufen gehörte so gesehen zu ihrem 246 Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 122. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 142. 247 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 34 f. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 128. 248 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 136. – Übertragung: ,… die Ehrbarkeit, Zucht und gute Policey des Landes‘. – Im Text der Dänisch-Norwegischen Kirchenordinanz fehlt der Hinweis auf ,gute Policey‘ noch, dort ist nur auf ,honestas‘ und ,malum exemplum‘ hingewiesen. Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 36. 249 Die Notwendigkeit sofortiger Taufe ist erst in der Aufklärungszeit bestritten worden, und auch dann nur vereinzelt. Vgl. Bruno Jordahn: Der Taufgottesdienst im Mittelalter bis zur Gegenwart, in: Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes (hg. v. Karl F. Müller u. Walter Blankenburg). Bd. 5, Kassel 1970, S. 349–540; hier 575 f. – Vgl. insgesamt auch HansChristoph Schmidt-Lauber: Nottaufe, in: EKL3 3 (1992), Sp. 797.
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Beruf.“250 Die Möglichkeit einer Nottaufe durch die Hebamme war schon im Hohen Mittelalter bekannt. Die Frauen sollten durch Ortsgeistliche unterrichtet werden, damit sie die richtige Taufformel anwenden könnten.251 Bisweilen ist das Verfahren in örtliche Taufanweisungen eingegangen, so 1482 in Konstanz.252 Doch daß Laien, dazu noch Frauen, das Sakrament der Taufe in gültiger Weise vornehmen konnten, muß noch in der Reformationszeit dubios erschienen sein, sonst hätte Bugenhagen gerade diesen Aspekt des Hebammenberufs nicht so vehement verteidigt, um das neue Gemeindeamt zu stärken. Überdies war von reformierter Seite die Heilsnotwendigkeit der Kindertaufe bestritten worden.253 In der Braunschweiger Ordnung schlug Bugenhagen zunächst ein kurzes Taufformular vor, dessen Anwendung er ausdrücklich freistellte, je nachdem, welche Worte Gott in der Hast eingebe: „HERE JESV CHRISTE wy offeren dy dit kyndeken / nym id an vnde lt id ock Christene syn / alse du gesecht hest / Latet de kynderken to my kamen / sulker is dat rike Gades“ (Mk 10,14)254. Ohne Verzug sollte gleich die Wassertaufe folgen: „Jck dpe dy i namen des vaders vnde des snes vnde des hilgen geistes.“255 Hatte das Kind in der Eile noch keinen Namen bekommen, konnte man ihm nachträglich einen geben. Damit waren die obrigkeitlichen Anweisungen zur Nottaufe, die durch Belehrung der Pfarrer an die Hebammen vermittelt werden sollten, auf ein pragmatisches Minimum beschränkt. Ja, die Hebammen sollten sogar vermahnt werden, nicht später zum Pfarrer zu laufen, um das Kind erst richtig taufen zu lassen: „Christene hebben men eynne dpe.“256 Die Nottaufe ist vollgültig und bedarf keiner Korrektur. Eine bessere Taufe gibt es nicht. Damit entzog Bugenhagen das Taufamt der Hebammen kategorisch jedem Zweifel. Die reformierten Kirchen haben diesen Schritt, wie wir wissen, nicht mitgemacht.257 Trotzdem soll der Geistliche nach erfolgter Nottaufe gleichwohl die Eltern zu den Umständen der Taufe befragen und über dem Kind vielleicht das Glaubensbekenntnis sprechen, das Vaterunser oder auch einen deutschen Psalm, dazu das Wort „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ (Mk 10,14). Doch unterstehe er sich 250
Appold 2006; S. 256. Vgl. Eva Labouvie: Beistand in Kindsnöten. Hebammen und weibliche Kultur auf dem Land (1550–1910). Frankfurt a. M. u. New York 1999 (Geschichte und Geschlechter 29); S. 67. 252 Vgl. Jordahn 1955; S. 390. 253 Vgl. Gause 2006; S. 134. 254 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 19. – Übertragung: ,Herr Jesus Christus, wir bringen dir dieses Kindlein dar. Nimm es an und laß es auch Christ sein, wie du gesagt hast: Laßt die Kindlein zu mir kommen, ihnen gehört das Reich Gottes‘ (Mk 10,14). 255 Ebd. – Übertragung: ,Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.‘ 256 Ebd.; S. 20. – Übertragung: ,Christen haben genau eine Taufe.‘ 257 Vgl. etwa Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio christianae religionis (hg. v. Otto Weber). Neukirchen 1955; S. 910–912 (= Inst. Chr. IV,15,20–22). – Labouvie 1999; S. 69. 251
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nicht, jetzt noch über dem Täufling den Exorzismus zu sprechen. Die rituelle Teufelsbeschwörung, seit der frühen Kirche fester Bestandteil des Taufrituals, war zwar von den Reformatoren grundsätzlich beibehalten worden, etwa nach Luthers Taufbüchlein von 1526 in der Form: „Jch beschwere dich, du unreyner geyst, bey dem namen des vaters + vnd des sons + v des heyligen geists +, das du aus farest vnd weichest von disem diener Jhesu Christi .N. Amen.“258 Doch nach einer schon gültig vollzogenen Nottaufe wäre der Exorzismus jetzt, wie Bugenhagen warnte, eine Lästerung des Heiligen Geistes, „de gewislick by de gedofften kynde is.“259 Fast wörtlich übernahm Luther die Warnung in einer Tischrede, „auf daß wir nicht den heiligen Geist, der gewißlich bei dem Kinde ist, bösen Geist heißen“260. Generell scheint sich Luther, der sich in den beiden Taufbüchlein von 1523 und 1526 überhaupt nicht zur Nottaufe geäußert hatte, in dieser Hinsicht an Bugenhagen orientiert zu haben. So gestand er den Frauen freimütig das Recht zur Nottaufe zu, riet dann aber, wenn das Kind überlebte, ebenfalls zur Anzeige beim Ortspfarrer, der den Vorgang nach Befragung der Eltern bestätigen und auch den Paten ihr Amt zuweisen müsse.261 Auch schlug Luther für diese nachträgliche Bestätigungszeremonie vor: Glaubensbekenntnis, „Lasset die Kindlein“, Vaterunser. Daß er auf diesem Gebiet, wie Bruno Jordahn262 meinte, eigene Wege einschlug, ist also leicht korrekturbedürftig: Es waren Bugenhagens Wege, denen Luther gern folgte. In dessen weiteren Kirchenordnungen263 ist die Möglichkeit zur Nottaufe mit anschließender Bestätigung durch den Ortspfarrer in dieser Weise, stets mit Warnung vor Wiedertaufe, aber mit Vaterunser, Markusevangelium (Mk 10,14) und Glaubensbekenntnis, manchmal auch mit den Worten „Der Herr behüte deinen Eingang und Ausgang“ (Ps 121,8) und mit weiteren Formeln des Taufbüchleins, beibehalten worden. Franz Lau hat es als „Hauptmotiv“ der nachträglichen Bestätigung einer Nottaufe exponiert, „daß noch eine erhöhte Publizität hergestellt werden soll.“264 Luther betonte, die geschehene Taufe müsse „auch ein offent258 Martin Luther: Das Taufbüchlein aufs Neue zugerichtet, in: WA 19 (1897), S. (531–) 537–541; hier 540. 259 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 20. – Übertragun g: ,… der gewiß beim getauften Kind ist.‘ – Vgl. auch Brunk 2003; S. 276 f. 260 WA .TR 6 (1921), Nr. 6758; hier S. 169. – Vgl. hierzu und zum folgenden Jordahn 1955; S. 391. 261 So zusätzlich zu den Tischreden: Luther an Andreas Osiander in Nürnberg. [Wittenberg,] 13. Mai 1531, in: WA.Br 6 (1935), Nr. 1817; hier S. 98. 262 Jordahn 1955; S. 391. 263 Vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 108–111. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 123, 129 f. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 86. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 22 f. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 84–87. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 860 f. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 64. 264 Franz Lau: Die Konditional‑ oder Eventualtaufe und die Frage nach ihrem Recht in der lutherischen Kirche, in: Luther-Jahrbuch 25 (1958); S. 110–140; hier 114.
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lich Zeugnis haben“265, und wenn Bugenhagen zur Bekräftigung der Nottaufe auf jeden Fall Paten heranzuziehen wünschte, die den Vorgang immer bezeugen könnten, so entspricht auch dies der ,reformatorischen Öffentlichkeit‘. In Braunschweig-Wolfenbüttel beispielshalber sollte der Pfarrer bei der Bestätigungshandlung sagen: „Leven brodere, dit kind is nu gedofft und hefft den hilgen Geist mit vorgevinge der sunden entfangen. Darumme willen wy dit kind nicht noch einmal döpen, dat wy den hilgen Geist nicht hohnspotten. Des werden gy alle und besunderlick gy vadderen und paden, tügen dartho gefordert, stendich syn. Danket Gade dem Heren, dat he dit kind in syne gnade dorch Christum angenamen hefft.“266 Somit war die privat vollzogene Taufe in öffentlichem Rahmen bestätigt und bezeugt. Was aber, wenn die Nottaufe unglaubwürdig oder bekenntniswidrig war, oder wenn aus anderen Gründen unklar blieb, ob das Kind getauft war oder nicht, etwa bei Findelkindern? Unter Abwägung beider soteriologischer Risiken, einer versehentlichen Wiedertaufe nämlich ebenso wie einer versehentlichen Unterschlagung der Taufe, war man im Mittelalter zur Lösung der Konditionaltaufe gelangt: „Si baptizatus es, non te baptizato; sed, si nondum baptizatus es, ego te baptizo, etc.“267 So hat es Bugenhagen auch noch in seinen hansestädtischen Ordnungen gehalten, freilich mit nachdrücklicher Beschränkung auf solche Zweifelsfälle.268 Doch bereits für Pommern war diese Möglichkeit 1535 wieder aufgegeben, und Bugenhagen griff nun sogar heftig jede Unsicherheit beim Taufen an: „Wente idt ys ynn der warheit. Si tu non es baptizatus etc / nicht meer gesecht / denn efft men so wolde spreken. Js de erste dpe recht / so ys disse vnrecht / Js uerst desse recht / so ys yene vnrecht / Welkere ys nu recht? Dat het im vnlouen vnde im dsteren handelen.“269 Dies war die erste Ablehnung der Konditionaltaufe in einer gedruckten Kirchenordnung, nachdem bereits die handschriftliche Kirchenordnung der Stadt Wittenberg 1533, angestoßen durch etwas frühere theologische Erörterungen Luthers, mit ganz ähnlichen Argumenten für ein sicheres 265
WA .TR 6 (1921), Nr. 6758; hier S. 168. Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 64. – Übertragung: ,Liebe Brüder, dieses Kind ist schon getauft und hat den Heiligen Geist mit Vergebung der Sünden empfangen. Darum wollen wir dieses Kind nicht noch einmal taufen, damit wir den Heiligen Geist nicht verhöhnen. Dafür werdet ihr alle und besonders die Gevattern und Paten, immer Zeugen sein, die dazu bestellt sind. Danket Gott dem Herrn, daß er das Kind in seiner Gnade angenommen hat.‘ – Die Ansprache haben zuerst die dänischen Theologen formuliert. Vgl. Udkast 1537 (1849); S. 75. 267 DH 37 (1991); Nr. 758. – Übersetzung: ,Wenn du getauft bist, taufe ich dich nicht; wenn du aber noch nicht getauft bist, taufe ich dich usw.‘ – Zur vorreformatorischen Geschichte der Konditionaltaufe vgl. ausführlich Lau 1958; S. 116–124. 268 Vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 110. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 130. 269 Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 86. – Übertragung: ,Denn in Wahrheit ist mit ,Si tu non es baptizatus …‘ nicht mehr gesagt, als wollte man sprechen: ,Ist die erste Taufe recht, so ist diese unrecht, ist aber diese recht, so ist jene unrecht.‘ Welche ist denn jetzt die richtige? Das heißt, im Unglauben und im Dunkeln handeln.‘ 266
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Taufen und gegen jede Konditionalformel eingetreten war.270 Im Zweifelsfall sollte bedenkenlos getauft werden, ohne Angst vor einer unfreiwilligen Wiedertaufe.271 Auch die skandinavischen Kirchenordnungen lehnten die Konditionaltaufe ab, sahen jedoch wiederum den Exorzismus vor, sowohl bei gewöhnlichen Taufen als auch in Zweifelsfällen, nur nicht bei gültig vorangegangener Nottaufe.272 Doch ist der Exorzismus auch in Schleswig-Holstein bald wieder außer Gebrauch gekommen. Als 1613 einige Täuflinge auf der Halbinsel Eiderstedt schon gegen den Willen der Eltern exorziert worden waren, schaltete sich der Herzog mit einer bischöflichen Weisung ein: Weil solche „Ceremonien deß Exorcismi in Gottlicher heiliger Schrift keines weges gegründet“ seien, müßten sie „alß ein Menschensatzung vnnd Vnnötiges ergerliches wesen“273 umgehend eingestellt werden. Indem also Bugenhagen jeden Zweifel beim Taufen als Zeichen des Unglaubens zurückwies, vermochte er das Gemeindeamt der Hebamme emanzipatorisch zu stärken. An den regelmäßig durch Frauen vollzogenen Taufen, so lautete die Botschaft, gab es nichts zu verbessern. Die Hebammen waren durch ihre Ortspfarrer und Superintendenten zu Wortverkündigung und Seelsorge autorisiert und sollten wenigstens an manchen Orten sogar aus dem Schatzkasten, vergleichbar mit den übrigen Ämtern der Gemeinde, besoldet werden. Zugleich entlastete Bugenhagen das Amt vor neuer Schuld, falls nämlich die Taufe nicht mehr rechtzeitig vollzogen werden könnte und das Kind ungetauft verstürbe. Um solchen Fällen vorzugreifen, hatte die scholastische Theologie erlaubt, den Fötus bei Lebensgefahr, aber auch nur dann, bereits an einzeln sichtbaren Gliedmaßen zu taufen oder gleich noch im Mutterleib.274 Doch auch solchen Praktiken widersprach Bugenhagen heftig: „Non potest renasci qui nondum est natus.“275 Christus habe auch nicht befohlen, solche Kinder zu taufen, da Gott sie nicht in unsere Hände gegeben habe. Daher müsse denjenigen Eltern, die ihre Kinder doch gern selig bei Gott wüßten, guter Rat und Trost gegeben werden. Statt auf ungewisse Praktiken zu setzen, für die es keinen Befehl gebe, könne vielmehr auf die Gewißheit von Gottes Wort gebaut werden. Im Vertrauen auf seine Gnade 270 Vgl. hierzu wie auch zum ganzen Komplex den grundlegenden Aufsatz von Gottfried Seebass: Das Problem der Konditionaltaufe in der Zeit der Reformation, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 35 (1966), S. 138–168; hier 163. 271 So auch Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 861. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 64. 272 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 23. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 86. 273 Schleswig SHLA , Abteilung 7, Nummer 3947. 274 Vgl. Thomas von Aquin: ST h III , q. 68, a. 11. 275 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 20. – Übertragung: ,Wer noch nicht geboren ist, kann nicht wiedergeboren werden.‘ Der Satz war aus dem Decretum Gratiani bekannt und reichte der Substanz nach bis Augustin zurück. Vgl. Decretum Magistri Gratiani, in: CIC(L) 1 (1879, Ndr. 1959); hier Sp. 1397 (= Decr. Grat. III, dist. IV, c. 115). – Zu Bugenhagens Widerspruch vgl. ausführlich Brunk 2003; S. 277–279.
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möge ihm das tote Kind im Gebet anvertraut werden. Bereits in der Braunschweiger Ordnung schlug Bugenhagen den Hebammen für diese Zwecke mehrere Gebete vor, mit denen das Kind bei Lebensgefahr dem Herrn anbefohlen werden konnte. Nur eins davon sei hier wiedergegeben: „HERE JESV CHRISTE du hast eyn wolgefal an den kynderken de dy werden togebracht vnde nymst se gerne an to ewigen leuende / wente du hest gesecht. Latet de kynderken to my kamen / sulker is dat rike Gades [Mk 10,14] / Vp dat wort offere wy dy dit kyndeken / nicht vp vnsen armen sonder dorch vnse bt to dy vnse salichmaker nym id an / vnde lt id dyner erlosinge / vns i crtze verworuen / ewich beualen syn. Amen.“276 Auch wäre es gut, fuhr Bugenhagen fort, wenn die Eltern bereits während der Schwangerschaft in diesem Sinne zu beten lernten. Der tröstliche Gedanke, daß ungetauft verstorbene Kinder im vertrauensvollen Gebet zu Gott getragen werden könnten, war ein immer wiederkehrendes Thema in Bugenhagens Theologie277 – angefangen bei einer schon 1524 gehaltenen Predigt278, in praktische Anleitungen umgesetzt in den Kirchenordnungen279 der Jahre 1528 bis 1543 und zu einem eigenen theologischen Gegenstand ausgebaut in zwei Flugschriften der Jahre 1542 und 1551: Die erste von beiden280 war eine christologische Auslegung des 29. Psalms, die das Thema der ungeborenen und ungetauften Kinder noch einmal aus systematisch-theologischer Sicht aufgriff und konsequent in derselben Weise beantwortete, wie es bereits in den Kirchenordnungen geschehen war: In der Not wird Christus, seinem Wort gemäß, die Kinder auch ohne Wassertaufe annehmen, wenn sie ihm statt auf den Armen im vertrauensvollen Gebet anbefohlen werden. Auch diese Schrift leitete zum Elterngebet an. Luther freilich schlug nach der Lektüre vor, auch diejenigen Mütter zu bedenken, die im Unglück einer mißlungenen Schwangerschaft gerade nicht in diesem Sinne gebetet hatten, obwohl sie sicher alles drangegeben hätten, 276 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 21. – Übertragung: ,Herr Jesus Christus, du hast ein Wohlgefallen an den Kindlein, die dir zugebracht werden, und nimmst sie gerne an zum ewigen Leben, denn du hast gesagt: ,Lasset die Kindlein zu mir kommen, solcher ist das Reich Gottes‘ [Mk 10,14]. Auf dieses Wort hin bringen wir dir dies Kindlein dar, nicht auf unseren Armen, sondern durch unsere Fürbitte an dich, unseren Seligmacher. Nimm es an und laß es deiner Erlösung, die für uns am Kreuz erworben ist, ewig befohlen sein. Amen.‘ 277 Vgl. zum folgenden ausführlicher Brunk 2003; S. 329–334. 278 Johann[es] Bugenhagen: Dominica ante Adsumptionis Mariae Virginis. Mar[cus] 7[,31 ff.]. 14. August 1524, in: ders.: Ungedruckte Predigten (1910), S. 25–30; hier 26, Z. 3–5. – Vgl. Brunk 2003; S. 329. 279 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 21. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 35. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 134. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 868. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 69. 280 Vgl. *Ders. mit Martin Luther: Der XXIX . Psalm, ausgelegt Durch Doctor Johan Bugenhagen / Pomern. Darinnen auch von der Kinder Tauffe. Item von den ungeborn Kindern / vnd von den Kindern die man nicht teuffen kan. Ein Trost D. Martini Luthers fur die Weibern / welchen es vngerat gegangen ist mit kinder geberen. Wittenberg: Klug 1542. – Brunk 2003; S. 96–98. – Gause 2006; S. 133–137.
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wenn ihr Kind getauft worden sei. Bugenhagen ging darauf ein und ließ Luther einen Anhang in diesem Sinne verfassen.281 Der Doppeltraktat war Christian III. von Dänemark-Norwegen gewidmet und erschien 1551 noch einmal als Teil der umfangreicheren Flugschrift Von den ungebornen Kindern und von den Kindern, die wir nicht taufen können und wollten doch gern282. Die Erweiterung ist von Belang, weil Bugenhagen sich hier noch einmal besonders scharf gegen die Kritiker der Haustaufe als „Weiber Tauffe“ wandte – und damit Jahre nach den letzten Kirchenordnungen das evangelische Gemeindeamt der Frau erneut gegen Angriffe verteidigte: „Wenn du spottest / Es ist eine weiber Tauffe / So mchte auch ein ander spotten / Es ist eine manne Tauffe. Seid jr denn so vnuerstendig worden / das jr nicht wisset / das wir Christen haben nicht eine weiber Tauffe / auch niht [sic] eine manne Tauffe / Sondern die einige Tauffe vnsers lieben HErrn Jhesu Christi.“283 Der Satz hat es in sich. Er läßt mit seiner ausdrücklichen Gleichstellung von Mann und Frau emanzipatorische Konsequenzen anklingen, die Bugenhagen vor dem Hintergrund der von Männern dominierten Tradition gleichwohl nicht einzulösen vermochte. Wie um seine Gegner zu beruhigen, bekräftigte Bugenhagen im Anschluß an diese Passage, daß „vnsere Weiber in der Kirchen nicht müssen [d. h. nicht dürfen] predigen / Mulier in Ecclesia taceat [1 Kor 14,34]. Also lassen wir sie auch nicht in der Kirchen teuffen / Ja sie teuffen auch nicht daheim / wens nicht not ist“284. Obwohl das sakramentale Amt der Frau hier ausdrücklich besonderen Zwangslagen vorbehalten und somit wieder stark relativiert wird, muß in Erinnerung bleiben, daß Bugenhagen die Hebammen stets zu Diakonie, Seelsorge und Verkündigung des Evangeliums in den Dienst der evangelischen Gemeinde stellen und ihren Taufdienst von jeder Kritik freihalten wollte. Insofern mag der oben zitierte Passus von den ,Weiber-‘ und ,Männertaufen‘ exemplarisch für die Spannweite reformatorischer Theologie stehen, die für die Gleichstellung von Mann und Frau ein erhebliches Potential barg, sich zu dessen folgerichtiger Ausführung gleichwohl noch nicht bereitfinden konnte. Das blieb späteren Epochen vorbehalten.285 Zunächst aber stieß Bugenhagens und Luthers Doppeltraktat auf enorme Resonanz. Erst kürzlich hat Ute Gause in einer für die Genderforschung höchst instruktiven Würdigung reformatorischer Impulse auf das Geburtswesen demonstrieren können, daß etwa die Regensburger (1552 und 1555) und die Frankfurter Hebammenordnung (1573) nunmehr eigene Abschnitte zur Seelsorge an Schwangeren und Gebärenden boten, die teils wörtlich an die Flugschrift von 1542 ange281
Vgl. Brunk 2003; S. 97, Anm. 493. Vgl. oben; S. 350. – Brunk 2003; S. 107–109. 283 Bugenhagen: Von den Kindern 1551 (1557); Bl. J4 r°. – Vgl. Brunk 2003; S. 107 f. 284 Bugenhagen: Von den Kindern 1551 (1557); Bl. J5 v°. 285 Zur Entwicklung im 20. Jahrhundert vgl. jetzt Helga Kuhlmann: Protestantismus, Frauenbewegung und Frauenordination, in: Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960 er und 70 er Jahren (hg. v. Siegfried Hermle, Claudia Lepp u. Harry Oelke). Göttingen 2007 (AKZG.B 47), S. 147–162. 282
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lehnt waren.286 In Regensburg waren die Hebammen 1555 sogar zu Beichte und Absolution ermächtigt, falls dies nötig wäre, so daß sie an den Betten sterbender Frauen jetzt wirklich priesterliche Aufgaben wahrzunehmen hätten.287 Und vom Augsburger Diakon Jeremias Schweiglein († 1580) erschien 1580 Ein trefflicher schöner Lere und Trostspiegel für Schwangere und Gebärende, in dem ausdrücklich auf Luthers und Bugenhagens Schriften zurückverwiesen wurde.288 Besonders die Frage, „Ob an der vngetaufften Kindtlein Seelenheil / vnd Seligkeit zu zweiffeln sey / oder nicht“289 wurde ganz in Bugenhagens Sinne beantwortet. Auch die Verteidigung der Nottaufe durch Frauen und die primär seelsorgerlichen Empfehlungen für den Hebammendienst gehen deutlich auf ihn zurück. Damit reichte Bugenhagens Einfluß in der theologisch begründeten Seelsorge an Schwangeren, Gebärenden und jungen Müttern bis nach Oberdeutschland hinein, wo sich die Kirchenordnungen ja im übrigen signifikant von den norddeutschen Modellen unterschieden. In der Erbauungsliteratur des letzten Jahrhundertviertels konnte man sich ihm offenbar unproblematisch anschließen.290 Das „Mulier taceat“ freilich wurde nie aufgegeben, und das Gemeindeamt der Frau blieb stets nur Notrecht. Schon zum Ende des 16. Jahrhunderts hin wurden Hebammen eher zu denunziatorischen Aufgaben der Sittenpolizei verpflichtet.291 Generell nahm der seelsorgerliche Anteil solcher Instruktionen vom 17. Jahrhundert stark ab, so daß die Ordnungen der Reformationszeit doch „in der gesamten Entwicklung des Hebammenwesens eine Ausnahmeerscheinung“292 blieben.
4. Dienst an Schülern und Studenten Die Reformation der Schulen und Universitäten gehörte von Anfang an zu den Hauptanliegen der evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts.293 286
Vgl. Gause 2006; S. 130. Vgl. ebd.; S. 131 f. 288 Vgl. ebd.; S. 137–147. 289 Ebd.; S. 139. 290 Zur Einordnung des Erbauungsschriftstellers Schweiglein in die Frömmigkeitsliteratur seiner Zeit vgl. Wolfgang Sommer: Theologie und Frömmigkeit, in: Handbuch der Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern (hg. v. Gerhard Müller, Horst Weigelt u. Wolfgang Zorn). Bd. 1, St. Ottilien 2002, S. 419–456; hier 443. 291 „Es sollen auch die Wehe Mtter oder Bade Ammen bey willkhrlicher Strafe verpflichtet seyn dem Pastoren heimlich zu melden, wen die Kindbetterin zum Vater des Kindes genennet, und soll die Kindbetterin von der Wehemutter mit Ernst darum gefraget werden.“ Johann Adolph: Eyderstedtisches Land-Recht 1591 (1794); S. 156, Art. XIII, § 3. 292 Gause 2006; S. 125. 293 Vgl. zum folgenden ausführlich Kreiker 1997; S. 117–233. – Markus Wriedt: Zur theologischen Begründung der Bildungsreform bei Luther und Melanchthon, in: Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. Hans Junghans gewidmet (hg. v. Michael Beyer u. Günther Wartenberg mit Hans-Peter Hasse). Leipzig 1997, S. 155–183. 287
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Nachdem Luther bereits in der Adelsschrift von 1520 entsprechende Maßnahmen gefordert hatte294 – darunter erstmals die regelmäßige Einrichtung von Mädchenschulen –, ordnete er 1523 für die Stadt Leisnig die Einstellung einer geeigneten Persönlichkeit zum Schulunterricht aus Mitteln des Gemeinen Kastens an295 und übergab den Bildungsauftrag damit eindeutig der Stadtobrigkeit. Daß nicht etwa die Landesfürsten, erst recht nicht Privatleute, sondern sinnvollerweise die „Ratherren aller Städte deutsches Lands“ fortan „christliche Schulen einrichten und erhalten“ sollten296, war im Jahr darauf Luthers energisch artikulierte Forderung im Rahmen einer weit ausgreifenden Flugschriftenkampagne. Zusammen mit Melanchthons stärker humanistisch bestimmter Schulkonzeption im Unterricht der Visitatoren297 wirkte Luthers Schrift An die Ratherren massiv in die Kirchenordnungen der Städte, Territorien und Reiche hinein, wo die evangelische Bildungspolitik einen prominenten Stellenwert bekam. Freilich haben die Reformatoren das öffentliche Schulwesen nicht erfunden. Vielerorts waren schon zuvor Schulen und Universitäten nach humanistischen Prinzipien erneuert worden, ohne daß es erst eines evangelischen Ordnungsrufes bedurfte.298 Doch im Zentrum der reformatorischen Bildungskonzeption stand das Evangelium. Von diesem Zentrum her sollten die neuen Schulen regiert werden. Es genügte darum nicht, die als Folge der frühen Reformation eingegangenen Kloster-, Dom‑ und Stiftsschulen, die Luther gern als „esel stelle und teuffels schulen“299 apostrophierte, nun bloß durch moderne Bildungsstätten humanistischer Prägung zu ersetzen. Vielmehr sei, so die Einschätzung Ivar Asheims300, „Luthers großer Gedanke“ gewesen, „daß die neue Schule ein Produkt der beiden Bewegungen des Humanismus und der Reformation werden muß.“ In diesem Sinne nahmen Luther, Melanchthon und mit ihnen die evangelischen Kirchenordnungen das humanistische Bildungsideal in den Dienst des Evangeliums, mit dem Ziel der Vervollkommnung des christlichen Gemeinwesens: Das sei, so schrieb Luther den Ratsherrn ins Stammbuch, „einer Stadt bestes und aller reichest gedeyen, heyl und krafft, das sie viel feiner gelerter, vernünfftiger, erbar, wol gezogener burger hatt“301 – ganz abgesehen von der Möglichkeit, stets die Besten für öffentliche Aufgaben weiterzubilden. Im Vordergrund stand nicht Eliten-, sondern Allgemeinbildung. Dafür sprechen auch Überlegungen zur Unter294
Vgl. Luther: An den Adel 1520 (1982); S. 157 f. Vgl. ders.: Leisniger Kastenordnung 1523 (1934); S. 417 f. 296 Vgl. ders.: Ratherren 1524 (1899); Titel. 297 Vgl. Unterricht 1528 (1983); S. 456–462. 298 Vgl. Kreiker 1997; S. 123–125. 299 Luther: An die Ratherren 1524 (1899); S. 31. 300 Ivar Asheim: Glaube und Erziehung bei Luther. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik. Heidelberg 1961 (Pädagogische Forschungen 17); S. 82. Zur Forschungsdiskussion um den Charakter des reformatorischen Bildungssystems vgl. ebd.; S. 81. 301 Luther: An die Ratherren 1524 (1899); 34. 295
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stützung armer Schüler und Studenten und die neue Wertschätzung öffentlicher Elementarschulen für Jungen wie für Mädchen. Das Wittenberger Bildungsprogramm soll an dieser Stelle nicht im einzelnen erläutert werden. Stattdessen will ich nur einige Aspekte öffentlicher Fürsorge an Schülern und Studenten zusammentragen, soweit sie in Bugenhagens Kirchenordnungen Gestalt gewannen. Dieser übernahm das von Luther und Melanchthon vorbereitete Modell in alle seine Ordnungswerke mehr oder weniger detailreich.302 Daß das Thema dem früheren Schulrektor zu Treptow303 ein besonderes Anliegen war, darf gewiß unterstellt werden. In der Vorrede einer von Murmellius verfaßten lateinischen Grammatik, die er dort 1515 publiziert hatte, um das philologische Studium zu fördern, stellte er bereits das Evangelium ins Zentrum des Unterrichts.304 Die humanistische Gelehrsamkeit war ihm kein Selbstzweck; sie zielte schon vor der Reformation auf ein tieferes Verständnis der Heiligen Schrift.305 Hieran konnte Bugenhagen in den Kirchenordnungen anknüpfen, wo die Schulbestimmungen stets prominente Posten einnahmen. In der Braunschweiger Ordnung war die Schule von der Taufe her begründet, insofern die Kinder, die einmal Christus zugebracht worden seien, nach dessen Taufbefehl (Mt 28,19) dann auch gelehrt werden müßten, damit sie bei ihm blieben.306 Dazu hätte ein gründlicher Katechismusunterricht wohl genügt. Doch die Einrichtung guter Schulen eröffnete vor allem die Aussicht, daß aus den Kindern „midt der tidt mogen werden gude scholemeystere / gude predigere / gude rechtuorstandige / gude arsten / gude Gades fruchtende / tuchtige / ehrlike / redelike / gehorsame / fruntlike / gelrde / fredesame / nicht wylde / sonder frlike borgere / de ock so vortan re kynder to besten mogen holden / vnde so vortan kyndes
302 Vgl. exemplarisch für Braunschweig Hermann Oertel: Bugenhagens Schulordnung in der Braunschweiger Kirchenordnung von 1528, in: Reformation in Braunschweig 1978, S. 103–110. – Für Hamburg Hans Oppermann: Bugenhagen und das hamburgische Schulwesen, in: Zum Gedenken an Bugenhagen 1958, S. 13–19. Ders.: Die Hamburgische Schulordnung Bugenhagens. Hamburg 1966. – Für Lübeck M[artin S.] Funk: Kirche und Schule in Lübeck seit der Reformation. Braunschweig u. Leipzig 1911; hier S. 3–14. Hans Bode: Johannes Bugenhagen: Die Schulkonzeption eines Reformators, in: Johannes Bugenhagen. Festschrift des Katharineums zu Lübeck 1985 (red. v. dems.). Lübeck 1985, S. 16–25. – Für Schleswig-Holstein Tim Lorentzen: Luthers Schrift „An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ (1524) in ihrer Bedeutung für die SchleswigHolsteinische Kirchenordnung von 1542, in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, Reihe II, Bd. 47 (1996), S. 40–58. – Für Braunschweig-Wolfenbüttel Horst Berndt: „… daß man Kinder zur Schule halten solle“. Bugenhagen, die Reformation in Alfeld und die Lateinschule, in: Jahrbuch des Landkreises Hildesheim 7 (1993), S. 89–109. 303 Vgl. Leder 1995 (2002), S. 95–121. 304 Vgl. Murmellius: Grammatik (1515); fol. A1 v°. 305 Vgl. oben; S. 116 f. 306 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 23 f. – Brunk 2003; S. 301–307.
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kynd.“307 Diesen universellen Anspruch auf ethische Verbesserung des ganzen christlichen Gemeinwesens konnte nur ein schichtenübergreifendes Schulwesen einlösen. Als Akt christlicher Fürsorge im öffentlichen Interesse muß daher die Chancenförderung armer Schüler und Studenten betrachtet werden. In diesem Zusammenhang (a.) wird auch an den Umgang mit fahrenden Schülern und speziell an die neuzeitliche Rolle der Kurrende, der institutionalisierten Form des Schülerbettels unter Gesang, zu denken sein. Von der Armenfürsorge im engeren Sinne muß das Stipendienwesen getrennt werden (b.), denn die gezielte Förderung einzelner Studenten galt als Investition in die künftige Führungselite einer Stadt, so daß zwischen Gebern und Nehmern gleichsam auf die künftigen Funktionen abzielende Vertragsverhältnisse bestanden. Als dritter Aspekt schließlich (c.) wäre der Stellenwert der Mädchenbildung zu berücksichtigen, denn für Bugenhagen scheint, wie die bisherige Untersuchung bereits partiell zeigen konnte, eine ausgesprochen fürsorgliche Aufwertung der Rechte von Frauen und Mädchen geradezu charakteristisch gewesen zu sein. a. Schule für Arm und Reich Um dem Allgemeinwohl dienen zu können, setzte das neue Schulsystem auf eine Hebung der evangelischen Humanitas, und das hieß nach den Vorstellungen Luthers, besonders aber Melanchthons, daß von moderner, christlich gebrauchter Latinitas ausgegangen werden mußte. Melanchthons Konzept im Unterricht der Visitatoren folgend, bekam in Bugenhagens Kirchenordnungen daher die Lateinschule oberste Priorität. In Braunschweig etwa sollten die beiden städtischen Lateinschulen beibehalten und normativ ausgebaut werden.308 Sie waren durch Ratsbeschluß 1407 in Konkurrenz zu den bestehenden kirchlichen Lehranstalten gegründet, den beiden Kirchen St. Martin und St. Katharinen angegliedert und nach Ersuchen des Rates 1415 und 1419 päpstlich privilegiert worden.309 Kinder aus der Altstadt, dem Sack und der Altenwieck sollten künftig auf das Martineum geschickt werden, Kinder aus der Neustadt und dem Hagen auf das Katharineum. Daneben plante Bugenhagen zwei deutsche Elementarschulen für Jungen und sogar vier für Mädchen, damit diese nicht so weit vom Elternhaus fortmüßten.310 307 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 25. – Übertragung: ,… mit der Zeit gute Schulmeister, gute Prediger, gute Rechtsgelehrte, gute Ärzte, gute, gottesfürchtige, züchtige, ehrliche, redliche, gehorsame, freundliche, gelehrte, friedliche, nicht wilde, sondern fröhliche Bürger werden, die fortan auch genauso ihre Kinder zum Besten anhalten möchten, und genauso fortan die Kindeskinder.‘ – Noch zum Ende des 16. Jahrhunderts ist die Überzeugung eines Landesherrn, daß gute Schulen „zu Fortpflanzung unserer heilsamen Christlichen Lehre, auch zu Befrderung guten politischen Wesens“ führen.“ Johann Adolph: Eyderstedtisches Landrecht 1591 (1794); S. 152, Art. IX, § 1. 308 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 26 f. 309 Vgl. Oertel 1978; S. 103 f. 310 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 33 f.
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Mit der Priorität der beiden Lateinschulen war nun gerade keine strikte Reproduktion der Gesellschaftsschichten beabsichtigt. Es konnte nicht im Sinne des reformatorischen Bildungskonzepts sein, wenn Kinder aus den Unterschichten grundsätzlich wieder in ihren eigenen Stand hineinunterrichtet wurden, indem für sie nur der Weg in die Elementarschulen blieb, während der gesellschaftlich ohnehin bessergestellte Nachwuchs prinzipiell an den Lateinschulen auf Führungsaufgaben vorbereitet wurde. Im Gegenteil, Bugenhagens Kirchenordnungen liefern genügend Hinweise dafür, daß Typ und Länge des Schulbesuchs zuerst an der Begabung der Kinder orientiert sein müßten, und daß ärmere Kinder, sofern sie talentiert genug wären, nicht vom Besuch der Lateinschule und von einer akademischen Karriere ausgeschlossen bleiben dürften. Das wird bereits an der Staffelung der Schulgelder deutlich: Für den Besuch der Lateinschulen zahlten einfache und reiche Braunschweiger jährlich 8 Mariengroschen, die ärmeren jeweils 12 Matheuser, was 6 Mariengroschen entsprach. Bugenhagen rechnete vor, daß auf dieser Grundlage eines reichen Mannes Sohn zehn Jahre lang für dasselbe Geld zur Schule gehen könne, das eine Dienstmagd in einem einzigen Jahr bekam. Sollte nicht sogar, so fragte er weiter, an dem Erben mehr gelegen sein als an der Hausangestellten, die eines Tages wieder fortgehen würde?311 In Hamburg sollte der Besuch der Lateinschule für Auswärtige im Jahresquartal 4 Schilling, für Reiche 3 Schilling, für Mittelreiche („Mediocres“) 2 Schilling und für Arme einen Schilling kosten.312 Die Lübecker Ordnung wiederum sah für reiche Schüler quartalsweise 4 Schilling, für mittelreiche 3 Schilling und für arme höchstens zwei vor, nicht ohne zu ergänzen: „Slck hefft me tho vorne ock gegeuen / vnde ys nemande beswerlick“313. Abgesehen jedoch von der sozialen Staffelung der Schulgelder sahen alle Kirchenordnungen die Möglichkeit vor, den ärmsten Schülern solche Beiträge ganz zu erlassen: „Weren ouers so arme lde de nichts vor mochten / vnde wolden doch re kyndere ock 311 Vgl. ebd.; S. 28. – Das Problem, das von Bugenhagen hier bedacht wird, entspricht einer einfachen volkswirtschaftlichen Rechnung: Je länger der Schulbesuch dauert, desto größer sind die individuellen marginalen Kosten und Verluste, besonders bei armen Eltern, die auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen sind. Ist die Lesefähigkeit überschritten, scheint der individuelle Nutzen dagegen unter die Kosten abzusinken. Demgegenüber veranschlagten die Reformatoren einen weitaus höheren individuellen und gemeinen Nutzen und versuchten demgegenüber die individuellen marginalen Kosten, besonders für Arme, solidarisch oder subsidiär von der Gemeinde aus zu senken. Neuerdings sind diese Zusammenhänge von Wirtschaftswissenschaftlern auf Grundlage des von Gary Becker entwickelten Paradigmas ,Humankapital‘ neu bedacht und für ein Erklärungsmodell konfessionsspezifischer Wohlstandsprofile in Preußen ausgewertet worden. Vgl. insgesamt Sascha O. Becker u. Ludger Wössmann: Was Weber Wrong? A Human Capital Theory of Protestant Economic History. München 2007 (Münchner Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge (VWL) 2007–07), veröffentlicht unter http://epub.ub.uni-muenchen.de/ archive/00001366/01/weberLMU.pdf (30. März 2007); bes. S. 10–12. 312 Vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 50 f. 313 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 40. – Übertragung: ,Soviel hat man früher auch gegeben, und das fällt keinem schwer.‘
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gerne holden to besten / de mogen gan to den vorstender der gemeynen Schat Casten in re wickbelde / de werden in sulke valle de Scholemeystere anseggen vnde sulke kyndere thobringen / v Gades willen antonmen / dat mit sulker wise / sulke lere vnde gude tucht der kyndere / gemeyne werde / vor de riken vnde vor de armen.“314 Lehre und Erziehung für alle, nicht nur für die finanzstarken Eliten – das sollte das Ziel sein! Entsprechende Regelungen galten für die Elementarschulen. Die Braunschweiger Ordnung nannte als einfache Regel: „dester riker vnde mehr“, wobei auch für diesen Schultyp galt (und bei den Mädchenschulen besonders hervorgehoben wurde), daß ganz arme Kinder nach Rücksprache mit den Diakonen gratis zur Schule gehen könnten.315 Von allen Härtefällen war aber stets der Zahlungsverzug normal bemittelter Eltern zu trennen. Diese sollten durch die Diakone gütlich vermahnt werden, ohne jedoch einen Streitfall daraus zu machen.316 Um den ärmsten Kindern Zugang zu jener christlichen Humanitas zu verschaffen, die künftig für alle „gemeyne“ werden sollte, war also kein Stipendium aus dem Gemeinen Kasten vorgesehen, das ihnen die Zahlung der Schulgelder und einen bescheidenen Unterhalt ermöglicht hätte. Gleichwohl nahmen die Kastendiakone hier eine wichtige Funktion ein, indem sie zunächst beim Schulrektor Fürsprache einlegen mußten, damit das Kind gratis unterrichtet würde. Soweit der Dispens „v Gades willen“ gestattet wurde, hatte er in den Kirchenordnungen freilich deutlichen Ausnahmecharakter. Kaum wird man jedoch bei einem für das 16. Jahrhundert grob geschätzten Unterschichtenanteil von 50–60 % der Gesamtbevölkerung317 an ein allgemeines Verfahren gedacht haben, durch das allen armen Kindern kostenloser Schulbesuch ermöglicht worden wäre. Damit wäre selbst die bereitwilligste Solidarität der zahlenden Ober‑ und Mittelschichten hoffnungslos überfordert gewesen. Bei der Begutachtung des Falls wird 314 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 29. – Übertragung: ,Wären da aber so arme Leute, daß sie nichts vermöchten, obwohl sie doch auch gern ihre Kinder zum Besten halten halten wollten, dann mögen sie zu den Vorstehern des Gemeinen Kastens [wohl nicht: des Schatzkastens] ihres Weichbilds gehen; die werden in so einem Fall dem Schulmeister bescheid sagen und ihm solche Kinder zuführen, damit er sie um Gottes Willen annehme, damit auf diese Weise solche Lehre und Erziehung der Kinder allgemein werde für die Reichen wie für die Armen.‘ – Ähnlich ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 50 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 40 f. – Ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 873. – Sehr knapp ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 73. 315 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 33, ähnlich 34. – Übertragung: ,je reicher, desto mehr‘. – Ähnlich ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 62 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 47–49. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 76, wo an den Mädchenschulen allgemein höheres Schulgeld zu zahlen war als an den Knabenschulen, aber die ärmsten Kinder sollten auch in diesem Falle frei sein. 316 So ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 50 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 40. 317 Vgl. von Hippel 1995; S. 15.
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man außer auf die soziale Lage indes besonders auf die Begabung des Kindes geachtet haben. Aus Bugenhagens Anweisungen zur Beurteilung der sechzehnjährigen Lateinschüler durch ihre Lehrer geht deutlich hervor, daß nur diejenigen zum Studium weitergeschickt werden sollten, bei denen sich ein Talent zur Übernahme öffentlicher Aufgaben zeigen würde. Den meisten würde man raten, einen ehrlichen Beruf „nach der werlde lope“ zu erlernen.318 Übertragen auf die Empfehlung der Diakone zum kostenlosen Schulbesuch einzelner Kinder heißt dies, daß eine strikte Reproduktion der gesellschaftlichen Standesunterschiede nicht beabsichtigt war, und daß daher die Einstufung nach Talenten tendenziell geeignet war, auch denjenigen intellektuelle und berufliche Perspektiven zu eröffnen, deren Herkunft ihnen bislang einen solchen Zugang verschlossen hatte. Bis zu einem kostenlosen Schulbesuch für alle Kinder, erst recht bis zum Postulat voller Chancengleichheit sollte es noch lange dauern, doch ein Anfang war mit dem humanistischen und reformatorischen Bildungssystem gemacht, das auf Integration aller Stände abzielte. Wie bereits zu sehen war, brachte die Konzentration auf das Institut des Gemeinen Kastens in der offenen Armenfürsorge mit sich, daß der tradierte Status des Straßenbettlers aufgegeben werden mußte, der von jedermann spontanes Almosen erheischen konnte. Neben oder außerhalb der diakonischen Versorgung ordentlich verzeichneter Bedürftiger noch dauerhaft einzelne Bettlergruppen zu akzeptieren, hätte die Monopolstellung des Gemeinen Kastens samt ihrer theoretischen Begründung konterkariert und dem System eine wichtige Finanzierungsgrundlage entzogen. Bugenhagens Bemühungen, die Akzeptanz des Schülerbettels zu beseitigen, und bedürftigen Kindern stattdessen eine solide Grundversorgung im Rahmen öffentlicher Fürsorge zu verschaffen, sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Schon im Hamburger Sendbrief von 1526 war zu lesen: „Me schal uerst nicht lyden dat de schlere vmme broet gn / alse ss lange hr / me krege anders de stadt vul bdelers. Eyn ytlick ernre syne kyndere sluest / alse Godt beualen hefft. Dat rde ick van schlres nicht van anderen armen.“319 Noch hatte Bugenhagen also kein generelles Bettlerverbot im Blick, verwies die Straßenkinder aber an die Verantwortung ihrer Eltern. Statt individueller Bettelei empfahl im Jahr darauf die Gotteskastenordnung der Nikolaigemeinde, einzelne Schüler in Privathaushalten anzustellen, die Kosten aber selbst zu tragen oder von dritter Seite zu beschaffen, so daß jedenfalls die Kinder nicht nötig hätten, zum Betteln herumzugehen.320 Nachdem sich der Gemeine 318 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 32. – Übertragung: ,… nach dem Lauf der Welt‘. 319 Ders.: Van dem Christen louen 1526 (1982); Bl. b3 v°. – Übertragung: ,Man soll aber nicht dulden, daß die Schüler, wie seit langem, um Brot gehen; sonst kriegt man die Stadt voller Bettler. Ein jeder ernähre seine Kinder selbst, wie Gott befohlen hat. Das sage ich von Schülern, nicht von anderen Armen.‘ – Ders.: dass. (1867); S. 258. 320 Vgl. Kiel NEKA , Bestand 39.03, Nr. 68; hier Gotteskastenordnung; fol. 14 v°. – Gotteskastenordnung St. Nikolai 1527 (1720); S. 118.
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Kasten bald in allen Kirchspielen durchgesetzt hatte, konnte schon die Hamburger Ordnung auf die Möglichkeit hinweisen, daß armen Schülern durch Diakone geholfen werden könnte. Sie wiederholte und erweiterte zunächst das Bettelverbot aus dem Sendbrief: „Neenn Scholer frommeth edder inwaner schall hyr vmme brodt ghaenn / dath wy nicht orßake gheuenn vele bedelere tho makende / alße to vorne / dhon ock woll eynn rykemans ßone mochte vnchristlick vmme brodt ghaenn / vmme des wyllen dath he eynn scholer was etc. Vpp wythlike noeth auerst behordt de Dyakenn der armenn tho ßeende.“321 So ist in Hamburg dann auch verfahren worden.322 Auch in Braunschweig war bereits die Versorgung armer Schüler den Diakonen vorbehalten, „dat me so der bdelerken ls werde / de vnder de scholere namen de lde vor den dren vexren.“323 Warum die Zulassung des Schülerbettels die Stadt unversehens mit Bettlern füllen würde, wie bereits im Sendbrief angedeutet, geht aus diesen Stellen deutlicher hervor: Als der Gesang der Scholaren vor den Haustüren noch üblich war, schlossen sich im Schutz dieser Tradition ebenso Kinder reicher Eltern dem Bettel an, und manch ein Betrüger mag sich als Schüler ausgegeben haben, um an den Türen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Um diesem Problem zu begegnen, hatte bereits die Augsburger Almosenherrenordnung von 1522 vorgesehen, daß diejenigen Hauswirte, die sich am zentralisierten Almosen beteiligt hatten, ihre Häuser entsprechend kennzeichneten, um nicht zusätzlich zu ihrer Spende die lästigen Sänger ertragen zu müssen. Wer ihnen das Almosen aber noch auf die alte Weise an der Haustür geben wollte, war hierin frei.324 Mit dem Verfahren kam eine kritische Distanzierung vom mittelalterlichen Schülergesang zum Ausdruck, die schon lange vor der Reformation eingesetzt hatte und nahtlos in jene dilemmatische Entwicklung der Fürsorgemotivation hineingehörte, die ich weiter oben geschildert habe. Genossen die fahrenden Schüler im Hochmittelalter zwar keinen glänzenden Ruf, aber doch allgemeine Akzeptanz als intellektuelle Sondergruppe auf Universitätsreise, so verloren sie zum Spätmittelalter hin, als offenbar immer mehr Jugendliche diese Lebensform adaptierten, zunehmend ihren Seltenheitsstatus. Durch den althergebrachten Brauch der fahrenden Schüler weitgehend gedeckt, gerieten der häufige Ortswechsel (oft ohne Schulbesuch), das bandenartige Straßenleben mit Neigung zur Kriminalität und das alltägliche Umsingen
321 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1528 (1912); S. 50 f. – Übertragung: ,Kein Schüler, weder fremd noch einheimisch, soll hier um Brot gehen, damit wir keinen Anstoß dazu geben, viele Bettler zu machen wie früher, als sogar eines reichen Mannes Sohn unchristlich nach Brot gehen konnte, nur weil er Schüler war usw. Aber auf offenkundige Not zu sehen, ist Aufgabe der Diakone.‘ 322 Vgl. etwa Koppmann 1882; S. 141. 323 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 145. – Übertragung: ,damit man so die Bettlerchen loswerde, die unter dem Schülernamen die Leute vor den Türen belästigen.‘ 324 Vgl. Augsburger Almosenherrenordnung 1522 (1904); S. 172. – Vgl. oben; S. 174.
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an den Haustüren zu einem Massenphänomen, das vom übrigen Vagantentum kaum noch zu unterscheiden war.325 Indem Bugenhagen darauf bestand, daß die wirklich bedürftigen und wirklich lernwilligen Schüler sich auf jeden Fall an die zuständigen Diakone wenden müßten, suchte er den Schülerstatus vor weiterem Mißbrauch – und auch vor weiterer Diskreditierung – zu schützen und vermochte zugleich die Monopolstellung des Gemeinen Kastens für jede Art von Bedürftigkeit zu stärken. Vermögende Eltern waren jetzt in die Verantwortung genommen, während die Bildungsförderung armer Familien im üblichen Rahmen der öffentlichen Fürsorge zu geschehen hatte. Der holsteinischen Stadt Rendsburg empfahl Herzog Johann 1571 in diesem Sinne, daß fremde Schüler, Studenten und Prediger, die Hilfe brauchten, sich an den Pastor der Marienkirche wenden sollten, und ihnen „auff sein gutachten die almissen mitgetheilet werden.“326 Zugleich scheint das Umsingen einheimischer Kinder noch selbstverständlich geduldet worden zu sein, nur sollten künftig allein diejenigen ein Almosen bekommen, die nachweislich zur Schule gingen, und zu diesem Zweck erwog Johann die Einführung entsprechender Abzeichen und Registereinträge. Zwei Jahre später erhielt der Schulmeister 7 Mark aus zwei Stiftungen, um alle armen Kinder umsonst zu unterrichten.327 Damit war gleichwohl noch nicht für den Lebensunterhalt gesorgt, so daß der Schülerbettel hier wie an vielen anderen Orten wohl beibehalten werden mußte. Ich komme darauf zurück. Daß eine Unterstützung, gleich welcher Art, jedenfalls vom tatsächlichen Schulbesuch abhängig gemacht wurde, ist mancherorts zu sehen. In Braunschweig etwa sollten 1550 die Jungen und Mädchen ausgefragt werden, ob sie zur Schule gingen, und falls nicht, ernstlich ermahnt werden „mydt billiger bedrauwinghen / vnd Anßegginghe ohrer Elderen Effthe frunden dar by ße sin / vnd wen ße Jn de lerhe tho der scholen komen / ßodane arme kinder dorffen ße Jo gar nichttes gheuen / sunder ße vmb goddes willen lerhen lathen“328. Wollte man erreichen, daß Jungen und Mädchen regelmäßig zur Schule gingen, ohne dafür auf der Straße nach Brot zu gehen, so ging das nicht ohne die Unterstützung der Erwachsenen. Ein besonderer Kunstgriff war es aber, daß Bugenhagen den Schulkindern zwar das Betteln verbot, ihren regelmäßigen Gesang in der Öffentlichkeit hin325 Vgl. Ernst Schubert: Fahrende Schüler im Spätmittelalter, in: Bildungs‑ und schulgeschichtliche Studien zu Spätmittelalter, Reformation und konfessionellem Zeitalter (hg. v. Harald Dickerhoff). Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter 19), S. 9–34; hier 18. – Vgl. auch die Schilderung solchen Vagantenlebens aus zeitgenössischen Selbstzeugnissen bei Kreiker 1997; S. 173–180. 326 Jensen 1912; S. 313. 327 Vgl. ebd.; S. 311 f. 328 Braunschweig StA, Abt. B IV 13 d, Nr. 2; hier fol. 4 r°. – Übertragung: ,… mit angemessenen Drohungen und Benachrichtigung der Eltern oder Verwandten, wo sie sich aufhalten. Und wenn sie zum Schulunterricht kommen, so brauchen sie solche armen Kinder überhaupt nichts zahlen zu lassen, sondern sollen sie um Gottes willen lernen lassen.‘
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gegen aufwertete. Schon im Spätmittelalter hatte sich diese Form des Almosenheischens in den Kurrenden verfestigt, in mehr oder minder geordneten Zügen singender Schulkinder, die nicht vor den Haustüren Station machten, sondern im Gehen sangen, während Korbträger die Gaben einsammelten. Eine vorreformatorische Kurrende konnte bisweilen gewissermaßen als verlängerter Arm, als mitleiderregende Stimme einer wild vagierenden Schülerbande eingesetzt werden, deren ältere Mitglieder dann die ersungenen Almosen einstrichen, ohne selbst in Erscheinung zu treten.329 Sollten in den Kirchenordnungen für Braunschweig, Hamburg und Lübeck die Schulkinder zwar nicht mehr um Brot gehen, so machte sich Bugenhagen aber doch die Tradition zunutze, um den bezahlten Gesang der Schulkinder jetzt pädagogisch, liturgisch und sogar finanziell im neuen Sinne einzusetzen. Würde etwa jemand wünschen, daß die Schüler am Grabe deutsche Psalmen oder ein Te Deum oder anderes beim Brautgang in der Kirche singen würden, dann sollten, wie er in der Braunschweiger Ordnung vorsah, die Schulgesellen den hierfür spendierten Betrag unter sich aufteilen, der Rektor ausgenommen.330 Beide Anteile des früheren Brauchtums, Singen und Almosennehmen, lebten also in stark domestizierter Form weiter, ohne daß nun jedoch die Spenden zum Lebensunterhalt der Kinder dienten. Dies hätte die bisherigen Aussagen zum Schülerbettel natürlich unterlaufen. Doch die Dienstleistung in der Kirche war fortan Bestandteil des Lehrplans, wofür an jeder Schule ein Kantor eingestellt werden sollte. Freilich wurde Wert darauf gelegt, daß man die Kinder nicht überlaste.331 Auch sollten aus Mitteln des Schatzkastens lateinische und deutsche Bibeln für den Chorgesang gekauft werden.332 Für den täglichen Gesang der Schüler in den Kirchen, der im Rahmen des humanistischen Unterrichts ihr Gedächtnis, ihre Bibelkenntnis und ihren Liedschatz schulen und sie zu sauberem Latein und guter deutscher Artikulation anleiten sollte, arbeitete Bugenhagen ausgesprochen detaillierte Pläne aus, die in allen seinen Kirchenordnungen einen wichtigen Platz einnahmen.333 Diese liturgiegeschichtlich und hymnologisch interessanten Chorgesänge können hier nicht zur Darstellung kommen. Entscheidend ist für unser Thema jedoch, daß der historische Zusammenhang mit den singenden Scholaren der vorreformatorischen Zeit ausdrücklich hergestellt wird, wenn es etwa heißt, man wolle nicht die verdrießlichen Horengesänge der alten Kirche einüben, die besser „den 329
Vgl. nochmals die eindrücklichen Zeugnisse bei Kreiker 1997; S. 173–175. Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 29. 331 Vgl. ebd.; S. 31 f. 332 Vgl. ebd.; S. 74. 333 Vgl. ebd.; S. 72–81. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 138–141, 166–181. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 49–62. – Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 130–139. Dazu weitere Belege bei Heyden 1965; S. 71. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 12–15. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 40–51. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 848–853. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 50–53. 330
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drunckenen Chorschleren“334 vorbehalten seien. Auch erinnerte Bugenhagen diejenigen, die als Schüler selbst mit Gesang sozialisiert worden waren, daran, „dat id en tor lere vnde tor memorie geholpen hefft“335, und warnte sie davor, jetzt die Zugbrücke hochzuziehen, wenn fromme Leute nachfolgen wollten. Durch Gottes Gnade könne der Gesang der Schüler jetzt sogar schicklich und auf biblischer Basis gehalten werden. Als direkte Ablösung der Kurrenden ist der tägliche Chorgesang der Kinder freilich nicht zu verstehen – einmal, weil vor allem die mittelalterliche Tradition des Chorgebets336 hier in reformatorischer Gestalt weitergeführt werden sollte (besser als früher, nämlich so, daß die Kinder „auch in der Schulen / lernen sollen verstehen / was sie singen oder lesen“337); zweitens aber auch, weil das Kurrendenwesen seinerseits bald wieder auflebte, ja sogar auf obrigkeitliche Anordnung und in semiprofessioneller Form erst nach der Reformation zur eigentlichen Blüte kam. Besonders auffällig ist, daß die Pommersche Kirchenordnung als einzige den Schülerbettel nicht verbot, sondern sogar mit der Bedürftigkeit der armen Schüler für seine Tolerierung argumentierte: „Dar mede uerst arme kinder nicht van der Schole gedrungen werden / schal men den ydt van nden ys / vor den dren tho bedelen / nicht vorbeden.“338 Dieser einmalige Sinneswandel wird kaum zureichend durch den Umstand zu erklären sein, daß Bugenhagen seine ersten Kirchenordnungen eben für drei Städte konzipiert hatte, deren Schul‑ und Armenwesen vergleichsweise überschaubar war, so daß dort arme Schüler ohne Umschweife an die zuständigen Diakone verwiesen werden konnten, während im weitläufigen Herzogtum Pommern die Verhältnisse erst bei längeren Visitationen zu überprüfen wären. Denn auch in Braunschweig, wo die evangelische Armenfürsorge in allen fünf Weichbilden sehr schnell einsetzte, scheinen die Kinder weiter auf der Straße um Brot gegangen zu sein. Das ergibt sich aus einem Paragraphen339 der dortigen Bettlerordnung von 1550, der besonders dem fürsorglichen Umgang mit armen Kindern galt: Gott habe ernsthaft geboten und 334 Vgl. ebd.; S. 72. – Ähnlich ders.: Von mancherley Christlichen sachen 1531; fol. A4 v° u. N4 v°. 335 Vgl. ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 72 f. – Übertragung: ,daß es ihnen zur Lehre und zum Gedächtnis geholfen hat.‘ 336 Vgl. überblickshalber A[ngelus] Häussling: Stundengebet, in: LMA 8 (1997), Sp. 260– 265. – Zur reduzierten Fortsetzung der älteren Traditionen vgl. besonders Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 129 f. 337 Ders.: Von mancherley Christlichen sachen 1531; fol. A4 v°. 338 Ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 100. – Übertragung: ,Damit aber arme Kinder nicht von der Schule fernbleiben müssen, soll man denen, die es nötig haben, nicht verbieten, vor den Türen zu betteln.‘ – Auch die Pommersche Kirchenordnung von 1569 ging davon aus, daß Schüler „almissen“ sammelten. Vgl. Kerckenordeninge im lande to Pamern dorch de dorchlüchtigen hochgebarnen försten unde herren herrn Bernim unde herrn Philipsen, hochlöffliker gedechtnis […] (1569), in: EKO 4 (1911), S. 376–419; hier 400. 339 Braunschweig StA, Abt. B IV 13 d, Nr. 2; hier Bl. 4 r°. – Übertragung: ,… mit tröstlichen Worten und milder Handreichung …‘ – ,… demnach muß man es auch geben den armen Kindern und Schülern, die um Gottes Willen betteln, Psalmsingen oder beten‘.
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befohlen, allen Bedürftigen „mydt trostliken worden / vnd milder hantrekinghe“ zu Hilfe zu kommen, heißt es darin, „dem na moste me Js ock gern gheuen den Armen kindern / vnd scholere de vmb goddes willen bidden / Psalmsingen edder beden“ – das bedeutet, daß die Kurrende und andere Formen des Schülerbettels dort 1550 noch weiterbestanden und von der städtischen Obrigkeit völlig unproblematisch als Ziele individueller Fürsorge angesprochen werden konnten. Wie bereits zu sehen war, erlaubte diese Bettlerordnung weiterhin „allene vme goiddes willen“340 das freie Almosenheischen in den Straßen, so wie es Bugenhagen selbst schon 1528 für eine gewisse Übergangsfrist zugestanden hatte. Aber Kindern war das in der Braunschweiger Ordnung noch ausdrücklich verboten, und zwar mit Hinweis auf die Gefahr betrügerischer Nachahmer, die unter dem Deckmantel des Schülerstandes die Leute an den Haustüren belästigten. Stattdessen sollten sich bedürftige Schüler ausschließlich an die zuständigen Diakone wenden.341 Daß diese dann auch mit Geldbeträgen halfen, war aus den Rechnungen ersichtlich.342 Warum Bugenhagen nur sieben Jahre später, in der Pommerschen Kirchenordnung von 1535, den Schülern gerade aus fürsorglichen Motiven das Betteln wieder gestattet hat? Es wird wohl der normative Zwang des Faktischen gewesen sein. In den weitläufigen Territorien war mancherorts noch zwei Jahrhunderte später kein wirksames Verfahren zur Unterstützung armer Schüler in Gang gekommen. Für Schleswig-Holstein etwa erging 1726 eine königliche Resolution, wonach an „denen Orten auf dem Lande, woselbst kein Fond zum Unterhalt der ArmenKinder und deren Schul-Geld verhanden, an denen Sonn‑ und Fest-Tagen ein besonderer Kling-Beutel umgehe; jedoch mit dem Beding, daß das davon eingesammelte Geld zu nichts anders, als zur Unterhalt‑ und Unterweisung der armen Jugend angewandt werden solle“343. Reformatorisch geordnete Kurrenden mochten also ein öffentlichkeitswirksames und zugleich pädagogisch instrumentalisierbares Mittel werden, den Schülern doch auf diesem Wege einen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Dazu war eine straffere Organisation mit institutioneller Angliederung an die bestehenden Schulen und unter musikalischer Leitung nötig. Nicht mit unkontrolliertem Vagantentum, sondern mit evangelischer Schulmusik auf der Straße sollten die nachreformatorischen Kurrenden assoziiert werden. Das hieß, aus der Not eine Tugend machen. Für Pommern ist das Kurrendenwesen durch einschlägige Archivstudien von Hellmuth Heyden erschlossen. Demnach liegt für 1557 die erste Erwähnung einer Kurrende in Greifswald, für 1559 in Barth vor. Im Greifswalder Visitationsregister heißt es darüber: „Panem propter Deum. Die armen schueller scholen umbidden und die scholemeister sie darto holden, dat sie responsoria und 340
Ebd.; Bl. 3 v°. – Vgl. oben; S. 288. Vgl. oben; S. 286. 342 Vgl. oben; S. 318 u. 322. 343 Des Rendsburgischen Synodi Bekanntmachung Knigl. Resolution wegen einiger Schul ‑ und Kirchen-Sachen, in: Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum 1 (1749); S. 259 f. 341
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antiphonen de tempore singen“344, und ähnlich klang auch die Anweisung für Barth, wo der Martinstag und Weihnachten ausdrücklich nur für die Kurrende reserviert waren, während ihr andere Sänger und Bettler ausweichen mußten. Daß die Schüler mithin auf Anweisung der Obrigkeit sangen, vertreten durch ihre Lehrer, kam dann auch in der revidierten Kirchenordnung von 1563 zur Geltung: „De scholmeister unde cantor schölen armen unde frömden knaben darto gewennen, dat se vor den dören singen“ – nach dem Vorbild der Wittenberger Kurrende.345 Nur die besten Sänger scheinen dann für die Gottesdienste ausgewählt worden zu sein. So erinnerte sich der Stralsunder Bürgermeister Bartholomäus Sastrow mit einigem Stolz daran, daß er es soweit gebracht hatte, vor der Gemeinde und „fur der grossen Menge der Cleresei“ singen zu dürfen.346 Mancherorts hatten die geregelten Kurrenden bis ins 19. Jahrhundert Bestand. So wurde die Kurrendenkasse an der Stettiner Jakobikirche 1582 gegründet, verschmolz 1835 mit der städtischen Armenschule und verfügte 1849 noch über das ansehnliche Kapital von 11.525 Reichstalern, einen von den Geistlichen der Stadt paritätisch verwalteten Fonds, wovon Unterricht, Kleidung und Unterhalt für 40 Schüler (im 18. Jahrhundert noch 60 Schüler) sattsam bezahlt wurden.347 Die Kurrende zu Gollnow bestand gar noch 1877.348 Indem das regelmäßige Umsingen armer Kinder und Jugendlicher in die obrigkeitliche Schulordnung integriert wurde, konnte der überkommene, wegen seiner Begleiterscheinungen bei vielen unbeliebte Brauch domestiziert und für pädagogische, liturgische wie auch volksmissionarische Zwecke intrumentalisiert werden. „So eröffnete“ nach einer Einschätzung Sebastian Kreikers349 „das Kurrendenwesen die Aussicht, das Begabungspotential der armen Schüler auszuschöpfen, ohne daß dabei hohe Kosten anfielen, da die Jungen einen Teil ihres Unterhaltes selber bestritten, indem sie um Almosen sangen. Mit einem Verbot der Kurrende hätte man den armen Schülern die Lebensgrundlage und zugleich die Möglichkeit entzogen, einen Zugang zu höherer Bildung zu finden.“ Zu ergänzen wäre lediglich, daß gerade ihre organisatorische Einbindung in das öffentliche Schulsystem auch die Möglichkeit schuf, die Kurrenden auf lange Sicht zu stabilisieren – personell, liturgisch-musikalisch, aber auch finanziell, wie am Stettiner Beispiel ansatzweise gezeigt werden konnte. Neben den Gemeinen Kästen konnten auf diese Weise zweckgebundene Sondervermögen angelegt 344 Hellmuth Heyden: Die Kurrende in Pommern, ein Beitrag zur Geschichte der Sozialfürsorge, in: ders.: Neue Aufsätze zur Kirchengeschichte Pommerns. Köln u. Graz 1965 (VHKP 12), S. 68–86; hier 72. – Übertragung: ,Brot um Gottes Willen. Die armen Schüler sollen Umbittgänge machen und die Schulmeister sie dazu anhalten, daß sie Responsorien und Antiphonen singen je nach [liturgischer] Zeit.‘ 345 Pommersche Kirchenordnung 1569 (1911); S. 400. 346 Kreiker 1997; S. 186. 347 Vgl. Heyden 1965; S. 73 f. 348 Vgl. ebd.; S. 82–84. 349 Kreiker 1997; S. 185.
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werden, von denen der Schulbesuch armer Kinder mit allen dazugehörigen Posten finanziert werden konnte. Ein vormodernes Fundraising-Modell, aus der Not geboren. b. Stipendien als Zukunftsinvestition Nur partiell folgte die Unterstützung begabter Studenten durch Stipendienvergabe denselben Mustern wie im Schulwesen. Gewiß, auch dieses Förderungsmodell war argumentativ zunächst auf besondere Armut der Betreffenden ausgerichtet, doch traten auch vertragliche Elemente hinzu, die die Stipendienempfänger ihrem Gemeinwesen gegenüber als künftige Dienstleister gezielt in die Pflicht nahmen. In der Braunschweiger Ordnung war zunächst ein Ausleseverfahren vorgesehen, mit dem die sechzehnjährigen Lateinschüler daraufhin überprüft werden sollten, ob sie sich eines Tages ihrerseits zur Lehre eignen würden. Den meisten würde man wohl raten, gleich einen gewöhnlichen Beruf zu ergreifen, doch besonders talentierte Schüler, so hieß es weiter, „de offere me Gade / dat se ander lden dnen i geystliken vnde werliken [sic] regimente. Sulker lde bedarff me / Eyn is to tiden bter de gemeynen besten wen teyndusent andere“350. Daß die besten Schüler Gott geopfert werden sollen, fand selbst Bugenhagen erläuterungsbedürftig: Die Wendung bedeute, „dat me sulke nicht late kamen to handwerken / id were denne nt / edder to ander werlike handele de neringe andrapende / sonder me sende se to studren vortan / so lange se des bedaruen / eynnen ieweliken to den kunsten dar he to geneget is.“351 Die Entsendung besonders begabter Schüler zum Studium an einer geeigneten Universität brachte sie und ihre Familien um solche Verdienstmöglichkeiten, die sich ihnen sehr bald mit einer handwerklichen oder kaufmännischen Ausbildung erschlossen hätten. Von ihnen mußten daher im wahrsten Sinne des Wortes Opfer gefordert werden, die gewiß nicht jede Familie zu tragen bereit war. Insofern mußte wohl manchmal darauf verzichtet werden, die Talente im Universitätsstudium weiterzubilden, wenn die Arbeitskraft des Jungen unentbehrlich war. Doch bei besonderer Armut sollten die begabten Schüler trotzdem auf eine Universität geschickt werden können, damit künftig das christliche Gemeinwesen nicht auf ihr Talent zu verzichten brauchte: „Synt se arm“, schlug Bugenhagen vor, „me geue en thohulpe / mit sulkem beschde / dat se vns vorbunden scholen syn vor vnsen sold to dnen / wen wy se vth de studio edder vth eynne 350 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 32. – Übertragung: ,… die opfere man Gott, damit sie anderen Leuten dienen im geistlichen und weltlichen Regiment. Solcher Leute bedarf man. Einer ist manchmal besser für das Gemeinwohl als zehntausend andere.‘ 351 Ebd. – Übertragung: ,… daß man solche (außer wenn es notwendig ist) nicht zu Handwerken gelangen lasse oder zu anderem weltlichem Handel, der die Versorgung betrifft, sondern man schicke sie fortan zum Studium, solange sie es brauchen, einen jeden zu der Wissenschaft, zu der er Neigung hat.‘
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anderen dnste to vns forderen.“352 Bedürftigkeit der Schüler, ein besondes Geschick für künftige Aufgaben im Gemeinwesen und die Verpflichtung, sich hierfür zur Verfügung zu halten, waren also Voraussetzungen solcher Stipendien, die nach Bugenhagens ersten Plänen durchaus von reichen Bürgern gestiftet werden könnten.353 Früher schon ausgelobte Stipendien jetzt für andere Zwecke umzuwidmen, konnte nicht in seinem Sinne sein. Sie waren weiterzuzahlen.354 Doch bereits in der Hamburger Ordnung war die Vergabe von Stipendien genauer geregelt, indes der Charakter der Indienstnahme vom Studienbeginn an noch stärker betont: „Thor noedth vnnd thom bestenn / vnnd tho ehrenn dusßer ghudenn Stadt ys vor ghudt angheßeen / veer Studentenn in Vniuersiteten tho holdende / vth der ghemenenn Schatkasten“355, also aus dem Hauptkasten, derjenigen Kasse, aus der die laufenden Kosten und damit auch die festbesoldeten Kirchendiener bezahlt werden sollten. Hierzu sollte jedes Hamburger Kirchspiel durch seinen Ratsverordneten und die Diakone einen Studenten bestellen. Um Mißbrauch zu vermeiden und wirklich nur die aussichtsreichsten Kandidaten in den Genuß der Unterstützung zu bringen, sollten der Superintendent und der Rektor mit ihren Stellvertretern sich auf jeweils einen gemeinsamen Vorschlag einigen. Jedem der vier Studenten sollten jährlich 30 Gulden zur Verfügung stehen. Dasselbe galt für Lübeck, wo jedes der fünf Kirchspiele zur Entsendung eines Studenten gehalten war. Wenn die Studenten mehr Geld bräuchten, müßte ihnen die Verwandtschaft aushelfen, sie wären denn ausgesprochen arm oder begabt. Doch im Unterschied zu den Hamburger Stipendien sollte das Geld aus dem Gemeinen Kasten genommen werden, und auch nur dann, wenn die übliche Armen‑ und Krankenfürsorge vollauf gesichert war.356 In Pommern sollte jede Stadt mindestens zwei, jede wohlhabendere jedenfalls vier Bürgersöhne zum Studium schicken, von denen abgesehen, die freiwillig, also auf eigene Kosten studieren wollten.357 Beispiele aus der Stadt Hamburg vermögen das reformatorische Stipendienwesen etwas näher zu beleuchten. Dort war bereits in den ersten Jahren der reformatorischen Bewegung das Interesse an einem Studium in Wittenberg sprunghaft angestiegen. Zwar hatten sich auch vor der Reformation jährlich ein bis zwei Hamburger an der progressiven sächsischen Universität eingeschrieben, 352 Ebd.; S. 32 f. – Übertragung: ,Sind sie arm, gebe man ihnen Beihilfe – mit der Auflage, daß sie uns verpflichtet sein sollen, gegen unseren Sold zu dienen, wenn wir sie aus dem Studium oder aus einem anderen Dienst zu uns abfordern.‘ – Soweit auch ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 52 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 42. 353 Vgl. ebd. 354 Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 64 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 46. 355 Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 62 f. – Übertragung: ,Aus Notwendigkeit und zum Besten und zur Ehre dieser guten Stadt ist für gut angesehen, vier Studenten in Universitäten zu halten, aus dem allgemeinen Schatzkasten.‘ 356 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1535 (1985); S. 45. 357 Vgl. ders.: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 104.
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doch in den vier Jahren seit 1519 waren es 21 Studenten, ein Interessezuwachs, der deutlich mit der rapide gestiegenen Popularität Luthers und Melanchthons zusammenhing.358 Für einige Jahre gingen die Immatrikulationen Hamburger Studenten in Wittenberg dann wieder stark zurück, doch ab 1528 stabilisierten sich die Zahlen dann plötzlich. Durchschnittlich kamen zunächst vier Studenten im Jahr nach Wittenberg, in den vierziger und fünfziger Jahren sogar häufig mehr als zehn. Die Rostocker Universität war von den Hamburgern zwar wegen ihrer Nähe noch wesentlich stärker frequentiert, und als dritter Studienort war zunächst noch Frankfurt an der Oder beliebt, doch ging das gewachsene Interesse an der Wittenberger Universität spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre deutlich zulasten der andern beiden.359 Die Universität Rostock hatte sich der Reformation länger versperrt als die Stadt selbst, so daß der Einbruch der dortigen Immatrikulationszahlen aus konfessionellen Gründen zu einer echten „Existenzkrise“360 führte. Erst nach ihrem Anschluß an die Reformation wurden in den evangelischen Städten Norddeutschlands Rettungsversuche unternommen. Ein Kapital von 600 Mark, das 1537 von Mauritius Witte, Vikar in Hamburg, Domherr zu Lübeck und Bardowieck sowie Kollegiat der Rostocker Universität, zugunsten Hamburger Studenten gestiftet wurde, war zusammen mit einem früheren Stipendium derselben Höhe an den Besuch der Rostocker Universität geknüpft, und 1547 testierte er noch einmal 400 Mark für zwei Stipendien in Rostock. Ab 1540 unterstützten Hamburg und Lübeck die Rostocker Universität durch die Besoldung je eines Professors. Allmählich wurden wieder mehr Hamburger in Rostock immatrikuliert.361 Noch 1529, im Jahr der Kirchenordnung jedoch, waren alle fünf Hamburger Studenten in Wittenberg eingeschrieben, von denen zwei offenbar aus dem Gemeinen Kasten bezahlt wurden.362 Für sie verwandte sich Bugenhagen brieflich bei den Hamburger Diakonen, nachdem er selbst nach Wittenberg zurückgekehrt war, so daß man ihm die Beurteilung ihrer Lage wohl abnehmen mochte: „Meine lieben Herren“, mahnte er die Kastenvorsteher, „ich zweifel nicht, das ir Eur ampte jegen die armen und jegen die kirchendiener fleissich furstehn, aber fur alle schauet je fleiſsich auf die Schole, das da nichts gebreche edder vorsäumelich werde gehandelt, den daraus müsset ir sulche leute erzeugen, die ir itzt zu zeiten nirgend kond uberkomen, wie ir das wol wisset.“ Die bislang erfolglos verlaufene Suche der Hamburger nach einem neuen Prediger für die Petrikirche, erst Recht aber nach einem geeigneten Superintendenten für die Hansestadt363, 358
Vgl. soweit Postel 1986; S. 181 f. Vgl. die Zusammenstellung ebd.; S. 344–348. 360 Ebd.; S. 329. 361 Vgl. soweit ebd.; S. 329 f. 362 Vgl. hierzu und zum folgenden [Johannes] B[ugenhagen] an die Kastenvorsteher zu Hamburg, in: ders.: Briefwechsel (1966); Nr. 32, S. 86–88. 363 Zu diesen Schwierigkeiten vgl. Sillem 1886; S. 168. 359
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nahm Bugenhagen also zum Anlaß und als mahnendes Beispiel, um noch einmal die Wichtigkeit öffentlicher Bildungsförderung für das Gemeinwohl herauszustellen. Nur wenn die Diakone dies Amt nicht versäumten, wäre der nötige Nachwuchs gesichert. Vor diesem Hintergrund ist dann die folgende Passage zu verstehen: „Euer beiden Studenten studeren sere und werden durch Gots gnade on zweifel sulche leute, die Eur Stad Gotlich und ehrlich dienen konnen. Darum haltet es ihn zu gute wen sie euch oft um gelt anreden. Die not furderet es und es kan nicht besser angelegt werden, auch ist meine bete an euch ir wollet sie in ihrem studio furderen. Besunderen begeret Nicolaus Cordes buchere zu kaufen, und der ander bedarf es auch wol. Sulchs werdet ir aus ihren briefen wol vorstehn.“ Der genannte Nikolaus Kördes (unter diesem Namen bereits im Vorjahr in Wittenberg immatrikuliert364) scheint tatsächlich zu den ärmeren Studenten gehört zu haben, da er die Literatur und anderen Bedarf offenbar nicht selbst bezahlen konnte, während sich beispielsweise ein 1519 dort eingeschriebener Student Joachim Hesterberg aus Hamburg während seiner Wittenberger Studienzeit sogar sieben Druckschriften Luthers leisten konnte.365 In der Regel schickten wohlhabende Hamburger Kaufmannsfamilien mindestens einen ihrer Söhne zum Studium366, so daß mit den sehr wenigen Fällen, in denen wie hier eine spezielle Unterstützung durch die Armenkästen überliefert ist, wirklich Ausnahmen gegeben waren, denen besondere Bedürftigkeit und wohl auch besonderes Talent zugrunde gelegen haben müssen. Der Brief dokumentiert nicht allein, daß Studienförderung mithin auch in der Praxis als gezielte Elitenbildung im Interesse des Gemeinwohls verstanden wurde. Er belegt auch eindeutig die hierauf abzielende Versorgung bedürftiger Studenten aus Mitteln der öffentlichen Armenfürsorge, während in der Hamburger Ordnung noch von einer Art Besoldung aus dem Hauptschatzkasten die Rede war. Davon, daß die beiden Studenten zusammen mit zwei weiteren Hamburgern gar Anspruch auf eine jährliche Versorgung von 30 Mark hätten, ist hier erst recht nichts zu sehen. Im Gegenteil, sie erscheinen mehr als eigentliche Bittsteller, deren Anliegen durch Bugenhagen noch brieflich flankiert werden müssen, um den Gewinn für die Stadt einleuchtend herauszustellen. Daß es drei Monate nach Annahme der Kirchenordnung noch kein geregeltes öffentliches Stipendienwesen gab, nur die bislang bestehenden Privatstiftungen367, mag vielleicht nicht auffällig sein. Doch dabei blieb es dann auch. Weil der zentrale Schatzkasten in Hamburg nicht zustande kam368, blieben arme Studenten auf die „hovetkiste“ angewiesen, jenen übergemeindlichen Kasten für Zwecke der Armen‑ und Krankenfürsorge, 364
Vgl. Postel 1986; S. 337. Vgl. ebd.; S. 183. 366 Vgl. ebd.; S. 328. 367 Vgl. ebd.; S. 327. 368 Vgl. ebd.; S. 326. – Rüdiger 1902; S. 3. – Wenn 21991; S. 274–276; dass. (2004); S. 92–95. 365
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der bereits im September 1528 duch Vertrag zwischen den Kirchspielen eingerichtet worden war. Statt einer auftragsgebundenen Entsendung begabter Studenten mit Anspruch auf regelmäßigen Unterhalt, ähnlich dem des kirchlichen Personals, blieb es also bei milden Gaben, die die Armendiakone aus christlicher Liebe an Bedürftige vergeben konnten, ohne daß hieraus ein Dienstverhältnis abgeleitet werden konnte, das von Bugenhagen eigentlich gemeint war. Allein – wer Unterstützung gewann, wurde gleichwohl auf künftige Dienste verpflichtet: So zahlte man auf Bugenhagens Bitte dem Studenten Johann Kramme 15 Mark, und „dar vor heft he sick vorsecht, dusser stadt vor anderen tho denende; dar hefft he sine handtscrift upp geven.“369 Für ihren Unterhalt waren die Studenten also auf Ausnahmeregelungen auf der Basis christlicher Liebe und wohlwollender Fürbitte angewiesen, während sie ihre Gegenleistung bereits durch Unterschrift garantieren sollten. Diese definitorische Unterscheidung bei der Behandlung armer Studenten erwies sich als hochproblematisch. Vom Beginn der zwanziger bis zum Ende der dreißiger Jahre blieben die Hamburger Studentenzahlen insgesamt auf einem signifikant niedrigen Niveau, bis sie ab etwa 1537 wieder deutlich anstiegen.370 Erst in diesem Jahr erwirkte der engagierte Katharinenpastor Stephan Kempe bei den zuständigen Oberalten der vier Kirchspiele, daß aus dem Hauptkasten jedenfalls zwei regelmäßige Stipendien für arme Studenten eingerichtet wurden – aus Furcht, „dath unß unde unßen nakamelingen willen gelerde lude gebrecken“371, besonders aber gebildete Prediger und Lehrer. Die ersten Nutznießer waren die unbemittelten Handwerkersöhne Hinrick Knost und Hans Becker, die später als Heinrich Knaustinus († 1580) und Johannes Pistorius († 1565) berühmt wurden und die Auswahl der Oberalten damit trefflich bestätigten.372 Selbstverständlich kann ein solches Stipendium nicht für einen Anstieg der Hamburger Studentenzahlen gesorgt haben. Doch allmählich hatten auch Privatleute begonnen, sich verstärkt um den Erhalt der reformatorischen Lehre zu sorgen und eigene Maßnahmen zur Unterstützung armer Studenten zu ergreifen. Die bereits einmal erwähnte Witwe Anna Büring etwa, die 1535 ihr dreißig Jahre altes Testament von 1503 in evangelischem Sinne abänderte, setzte in der Neufassung auch ein Stipendium zum Studium an einer „christlichen Universität“ aus.373 Damit entsprach sie mit zahlreichen weiteren Testatoren dieser Jahre dem verbreiteten Wunsch, „dat in dusser stadt mogen gelerde lude gefunden werden to underholdinge got-
369 Koppmann 1882; S. 139. – Übertragung: ,… dafür hat er versprochen, dieser Stadt vor anderen zu dienen; dies hat er unterschrieben.‘ – Ein ähnlicher Vertrag S. 140. 370 Vgl. die Graphik bei Postel 1986; S. 349. 371 Ebd.; S. 327. – Übertragung: ,… daß uns und unseren Nachkommen gelehrte Leute fehlen werden …‘. 372 Vgl. ebd. 373 Postel 1980 (2004); S. 168. – Vgl. auch oben; S. 265.
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like warafftige und christlike lere“, wie einer der Oberalten 1537 erklärte.374 In diesem Sinne wurden jetzt auch ältere Stiftungen, die einst zur persönlichen Jenseitsvorsorge testiert worden waren, von den Testamentsverwaltern nachträglich zugunsten solcher Stipendien umgewandelt. Daß dabei mitunter nicht nur der gemeine Nutzen im Vordergrund stand, hat Rainer Postel an einem kuriosen Fund zeigen können: „Die Verwalter des Albert Wulhase Testaments ersetzten – allerdings erst 1542 – die vom Testator verfügten Mariengesänge durch ein Stipendium vor eynen armen geßellen; daß der Sohn des Mitverwalters und Ratsherrn Joachim Moller erster Nutznießer wurde, ließ die Regelung allerdings ziemlich dehnbar erscheinen.“375 c. Mädchenbildung als öffentliche Fürsorge Gehen wir noch einmal zurück in die Schule, um einen wenig beachteten Aspekt öffentlicher Fürsorge anzusprechen. Wie bereits mehrfach zu sehen war, hatte Bugenhagen ein geradezu fürsorgliches Interesse daran, die Rechte von Frauen und Mädchen emanzipatorisch zu heben und sie im christlichen Gemeinwesen dann auch stärker in die Pflicht zu nehmen. Weil in der Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung sogar ein besonders umfangreicher Abschnitt „Van der junkfrauenscholen“376 handelte, sei hierauf kurz eingegangen. In den vorherigen Kirchenordnungen waren Elementarschulen für Mädchen zwar schon angesprochen, teils auch in eigenen Abschnitten, die knapp über die Pläne zu Lehrinhalten, Personal und Besoldung Auskunft gaben377. Doch ein so geschlossenes, zudem theologisch untermauertes Konzept zur Mädchenbildung findet sich sonst nicht. So beginnt der Abschnitt, abweichend von früheren Ordnungen, gleich mit einer Bestimmung der Lernziele: „Eine schole schal men uprichten in den steden und flecken in einem gelegenen orde vor de kleinen junkfrauen und de schollen darinne leren schryven und lesen edder thom weinigesten alleine lesen, welck se in einem edder twen jaren leren könen.“378 Zuvor hatten stets die Bibel, der Katechismus und deutsche Lieder im Vordergrund gestanden – sei es, um daran 374 Ebd. – Übertragung: ,… daß in dieser Stadt gelehrte Leute gefunden werden möchten, um die göttliche, wahrhaftige und christliche Lehre aufrechtzuerhalten.‘ 375 Ebd.; S. 169. Dort auch weitere Belege zu Stipendien privater Stifter. 376 Vgl. Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 75 f. – Dazu kurz Siegrid Westphal: Reformatorische Bildungskonzepte für Mädchen und Frauen – Theorie und Praxis, in: Geschichte der Frauen‑ und Mädchenbildung (hg. v. Elke Kleinau u. Claudia Opitz). Frankfurt a. M. u. New York 1996, Bd. 1, S. 135–151; hier 143. 377 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 33 f. – Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 60–63. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 46–48. 378 Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 75. – Übertragung: ,Eine Schule soll man an passendem Ort in den Städten und Flecken für die kleinen Jungfrauen errichten. Sie sollen darin schreiben und lesen lernen, oder doch wenigstens nur lesen, was sie in einem oder zwei Jahren lernen können.‘
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das Lesen zu lernen, sei es, um die Sprüche und Lieder auswendigzulernen als Vademecum für das Leben einer Christin. Vom Schreiben war keine Rede.379 Doch in der Braunschweig-Wolfenbütteler Ordnung stand nun der Erwerb von Lese‑ und Schreibkompetenzen deutlich an erster Stelle der Argumentation, während Lektüre und Memorieren der geistlichen Lieder, des Katechismus und des deutschen Psalters zwar beibehalten wurden, aber doch eher als Unterrichtsmedien hinter dieses erste Ziel zurücktraten. Hierfür spricht auch, daß fortgeschrittenen Schülerinnen vorgeschlagen wird, zusammen mit dem Schreibunterricht auch „geschreven breve“, also Handschriften, lesen zu lernen, falls noch weiterer Unterricht gewünscht werde. Zwei Stunden vormittags und zwei am Nachmittag waren für den Unterricht eingeplant, und für den Heimweg wurde empfohlen, „ersten einen psalm edder geistlick led [to] singen, darmede könen se dat singen ane anderen erbeit leren mit luste und leve.“380 Während der übrigen Zeit sollten sie zu Hause bleiben, etwas lesen und von ihren Müttern das Haushalten lernen. Die Frauen versahen also im evangelischen Verständnis ebenfalls einen Teil der Lehre an ihren Töchtern, während diese wie üblich im Haus oder im Gewerbe halfen. Im übrigen legte Bugenhagen Wert darauf, die Kinder nicht zu überlasten: „Men schal en ock nicht tho vele upleggen, mate is tho allen dingen gut. Men late de kleinen kinder tho tyden ock spelen, dat se darna deste vlitiger thom studirende wedder ankamen.“381 Auch dies ein fürsorglicher Zug, den Bugenhagen aus Luthers Schrift An die Ratherren übernommen haben könnte. Dort war in Abgrenzung zum „fegefewr“ der alten Schulen, in denen man „durch so viel steupen / zittern / angst und jamer“ tatsächlich nichts gelernt habe, dem Spiel der Kinder ein eigener Wert zuerkannnt worden, auch in der pädagogischen Praxis: „Weyl denn das junge volck mus lecken und springen odder yhe was zu schaffen haben / da es lust ynnen hat / und yhm darynn nicht zu wehren ist / auch nicht gut were / das mans alles weret: warumb sollt man denn yhm nicht solche schulen zurichten und solche kunst furlegen?“382 Einmal ganz abgesehen vom heutigen Einver379 Auf diese bescheideneren Anforderungen an die Mädchenschule bezog sich Wolf 1935 (21962); S. 266, ohne die skizzierte Verlagerung in der Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung zu bedenken. – Positiv gewürdigt bei Fritz Strübing: Bugenhagens Fürsorge für Schule und Lehrer, in: Berliner Lehrerzeitung 12 (1958), S. 200–202; hier 202. 380 Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 75. – Übertragung: ,… gleich einen Psalm oder ein geistliches Lied zu singen; auf diese Weise können sie das Singen ohne weitere Mühe mit Lust und Liebe lernen.‘ 381 Ebd. – Übertragung: ,Man soll ihnen auch nicht zuviel auferlegen. Maßhalten ist bei allen Dingen gut. Man lasse die kleinen Kinder bisweilen auch spielen, damit sie umso eifriger wieder zum Studieren kommen.‘ 382 Luther 1524 (1899); S. 46. – Übertragungen: ,… durch soviel Prügel, Angst und Jammer …‘ – ,Weil nun das junge Volk hüpfen und springen oder jedenfalls etwas zu tun haben muß, an dem es Lust hat, und ihm darin nicht zu wehren ist und auch nicht gut wäre, das alles zu verbieten – warum sollte man ihm dann nicht solche Schulen zurichten und solche Kunst anbieten?‘
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ständnis, sogar dem der Neurobiologen383, über die Wirkung von Freude auf den Lernerfolg, dürften solche Überlegungen von größter motivatorischer Bedeutung speziell für die Elementarschulen des 16. Jahrhunderts gewesen sein, von denen hier die Rede ist: Denn hatte ein fleißiger Lateinschüler die Aussicht, eines Tages Karriere zu machen und so unter Umständen die Grenzen seines Standes überschreiten zu können, so fehlte eine solche Perspektive denjenigen Jungen und Mädchen, die nach teils mühsamer Alphabetisierung und Katechisierung wieder im Haus und im elterlichen Gewerbe gebraucht wurden. Den Eltern solcher Kinder mußte der kostspielige und zeitraubende Schulbesuch also auf andere Weise schmackhaft gemacht werden. Es scheint Bugenhagen sehr darauf angekommen zu sein, besonders dieser speziellen Klientel gegenüber die unbestreitbaren Nachteile eines Schulbesuchs aller Kinder, auch der Töchter, zu relativieren und ihn zugleich in einen Funktionszusammenhang im christlichen Gemeinwesen zu stellen.384 Zur Motivation der Mädchenschulen wies er auf den Schluß der Proverbia hin: „Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den Herrn fürchtet, soll man loben“ (Spr 31,30). Weil gottlose Mütter nichts nach Gottes Wort fragten, zögen sie auch Kinder und Gesinde gottlos auf. Aus einer Mädchenschule kämen aber einmal gottesfürchtige Mütter, die im Glauben blieben und ihrerseits Kinder und Gesinde zur Gottesfurcht erzögen. Von solchen Hausmüttern und ihren Kindern hoffte Bugenhagen einmal die Städte erfüllt zu sehen, Kindern, aus denen fromme Bürger und Bürgerinnen würden, und so fort, bis an den Jüngsten Tag.385 Eine Art Generationenvertrag mithin, der die Frauen und Mädchen für den Fortbestand des Evangeliums in die Pflicht nahm. Es entsprach der Schöpfungsordnung, wenn ihre biologische Disposition sie zu diesem besonderen Amt verpflichtete. Analog zur geistlichen Obrigkeit, die den Erhalt des Evangeliums im äußeren Gemeinwesen garantieren sollte, übernahmen die Mütter nach diesem Modell das geistliche Regiment in den Häusern und in den Generationen ihrer Familien und übten demnach Funktionen des allgemeinen Priestertums nach innen hin aus, dabei mindestens ebenso umspannend. Das christliche Haus konnte nach diesem Modell als eine Art Kerngemeinde gesehen werden, an deren Ausstattung mit allem Nötigen dieselbe Sorgfalt gewandt werden mußte wie in der Parochialgemeinde. Mit Blick auf Luther, dem Bugenhagens Ausführungen hier besonders verpflichtet waren, hat Gottfried Maron die neue Rollenzuschreibung auf die prägnante Formel gebracht: „Statt Kloster die christliche Familie, das christliche
383 Vgl. Frederic Vester: Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann läßt es uns im Stich? Mit zahlreichen Abbildungen (m. Beitr. v. Rudolf Schilling). München 292002; S. 120–196. 384 Vgl. an dieser Stelle nochmals das oben in Anm. 311 Ausgeführte. 385 Vgl. Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 76.
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Haus als exemplarisches Stück Kirche.“386 Die Ablehnung der Klostergelübde war für Frauen und Mädchen nun freilich nicht unproblematisch, wie sich im folgenden zeigen wird.
5. Fürsorge an den Altgläubigen Im Februar 1538 sandten 28 Zisterzienserinnen des holsteinischen Klosters Itzehoe ein Bittgesuch an Christian III. ab: Von ihrem Pastor hätten sie schon seit langem Gottes Wort gehört, müßten aber durch den Willen ihrer Äbtissin weiterhin die alten Zeremonien singen und lesen, obgleich sie doch inzwischen wüßten, daß es gegen das Evangelium sei. Daher setzten sie große Hoffnung auf die angekündigte Kirchenordnung, der sich die Äbtissin dann beugen wolle. Vorher sei mit ihr nicht zu reden, ja sie rate ihnen gar, „gy kont yo wol ym harten anders denken unde lykewol myt dem munde syngen“387. Es sei durchaus nicht so, versicherten die Nonnen, daß sie gar nicht mehr singen wollten, wenn doch nur das gottlose Unwesen aufhöre. So wie jetzt könne es jedenfalls nicht weitergehen. Sich durch eine Minderheit von 13 altgläubigen Schwestern gegen das Evangelium bestimmen zu lassen, bereitete dieser Gruppe erhebliche Gewissensnöte. Doch daran, das Kloster einfach zu verlassen, war schlechterdings nicht zu denken, denn außerhalb seiner Mauern fehlte den Frauen jede soziale Perspektive. Während das männliche Mönchtum unter dem Einfluß der reformatorischen Lehre sehr rasch von Austrittsbewegungen erfaßt wurde, eigenmächtiger und in aller Regel unorganisierter Klosterflucht, die Enno Bünz sehr geistreich als „eine Art Abstimmung mit den Füßen“388 apostrophiert hat, verließen Frauen ihre Klöster nur sehr viel zögerlicher. „Um in die Welt zurückzukehren“, so Bünz, „mussten die Nonnen entweder wieder von ihren Familien aufgenommen 386 Gottfried Maron: Vom Hindernis zur Hilfe. Die Frau in der Sicht Martin Luthers. Ein Vortrag [zuerst 1983], in: ders.: Die ganze Christenheit auf Erden. Martin Luther und seine ökumenische Bedeutung. Zum 65. Geburtstag des Verfassers (hg. v. Gerhard Müller u. Gottfried Seebaß). Göttingen 1993, S. 95–105; hier 100. – Der Schluß dieses Kapitels verdankt sich besonders den Anregungen von Meike Rieckmann (Bonn), die mir wiederholt Einblick in ihre jetzt abgeschlossene Dissertation gewährte. Darin wird der Begriff des ,christlichen Hauses‘ in der skizzierten Weise als maßgebliches Interpretament für Luthers Geschlechterverständnis angewandt. 387 Sieben Urkunden zur schlesw.-holst. Reformationsgeschichte (hg. v. Volquart Pauls), in: Die lateinische Kirchenordnung König Christians III von 1537 nebst anderen Urkunden zur Schleswig-Holsteinischen Reformationsgeschichte (hg. v. Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte). Kiel 1934 (SVSHKG I, 18), S. 103–121; hier 112. – Übertragung: ,Ihr könnt ja im Herzen anders denken und gleichwohl mit dem Munde singen.‘ 388 Enno Bünz: Das Ende der Klöster in Sachsen. Vom „Auslaufen“ der Mönche bis zur Säkularisation (1521–1543), in: Glaube & Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. 2. Sächsische Landesausstellung Torgau, Schloß Hartenfels 2004. Eine Ausstellung des Freistaates Sachsen, ausgerichtet durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (hg. v. Harald Marx u. Cecilie Hollberg). Bd. 1, Dresden 2004, S. 80–90, hier 81.
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werden oder heiraten; ihre Mitgift aber hatten sie bei ihrer Profess in das Kloster eingebracht.“389 Bekannt ist, daß die berühmteste jener Nonnen, die 1523 aus dem sächsischen Kloster Nimbschen heimlich nach Wittenberg gebracht worden waren, erst zwei Jahre bei Lucas Cranach d. Ä. unterkam, bevor Martin Luther sich entschloß, sie zu heiraten.390 Die Bittschrift der Itzehoer Nonnen spiegelt mithin ein schwerwiegendes soziales Dilemma: Trotz wachsender Ablehnung der Gelübde als widerchristlicher Menschensatzungen gab es für sie praktisch keine Alternative zum Klosterleben, sofern sie nicht Hilfe von außen bekamen. Doch selbst wenn Männer grundsätzlich bessere Chancen hatten als Frauen, nach dem Verlassen ihres Klosters eine geeignete Arbeit zu finden, so war doch auch für sie das mögliche Berufsspektrum begrenzt, während eine große Zahl ungelernter und illiterater, aber auch altersschwacher, kranker und behinderter Ordensleute für den (ohnehin nicht offenen) Arbeitsmarkt nur äußerst schwer vermittelbar gewesen sein dürfte. Sollten die Klöster also durch obrigkeitliche Anordnung aufgelöst werden, so mußten dem Personal, gleich welchen Geschlechts, sozialverträgliche Sicherungsmodelle angeboten werden. Das von Bugenhagen favorisierte Modell war die unterstützte Wahlfreiheit. Wer das Kloster verlassen wollte, war hierzu frei und sollte aus dem Gemeinen Kasten eine Abfindung bekommen; wer sich zum Bleiben entschied, sollte im Kloster unter bestimmten Auflagen weiter unterhalten werden, unabhängig von seiner inneren Überzeugung. Hierüber wird ebenso zu sprechen sein wie über die große Zahl von Meßpriestern neben den Orden, für die nach der Reformation ebenfalls keine Stellen mehr eingeplant waren. Wie die Klöster, so sollten auch diese Altarlehen mit der Zeit ,absterben‘ und die zugrundeliegenden Kapitalien mit dem Tod der Inhaber in den Gemeinen Kasten eingehen. Damit war eine ganze Gesellschaftsschicht von tiefgreifenden sozialen Umbrüchen erfaßt, die im Rahmen dieser Studie kaum mehr als nur skizziert werden können. Es dürfte aber deutlich sein, daß die öffentliche Fürsorge auf diesem Feld besonders herausgefordert war. Aus diesem Grund verwies Bugenhagen Priester und Mönche in sozialen Notlagen gleich in der Braunschweiger Ordnung an die Verantwortung des Gemeinen Kastens: Viele der Meßstiftungen, so hieß es dort, würden den Inhabern weiter zum Lebensunterhalt belassen, doch wenn bei ihnen oder bei den Mönchen im Zuge der weiteren Entwicklung Not eintreten sollte, sei es billig, sie aus dem Armenkasten zu versorgen, „so verne se redelik leuen / vnde vnse Euangelio
389 Ebd. – Vgl. ferner Antje Rüttgardt: Die Diskussion um das Klosterleben von Frauen in Flugschriften der frühen Reformationszeit (1523–1528), in: „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform (hg. v. Anne Conrad). Münster i. W. 1999 (KLK 59), S. 69–94; hier zunächst 80 f. 390 Vgl. Brecht 1994; Bd. 2; S. 194 f.
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nicht vorhinderlick syn / se luen ock wat se luen“391. Vier für Bugenhagen typische Züge waren hier bereits angelegt, die für den Umgang mit dem altgläubigen Personal fortan tragend wurden: erstens die Bereitschaft, Priester und Mönche noch übergangsweise in ihren bisherigen Lebenszusammenhängen fortleben zu lassen, verbunden als zweites mit der (noch nicht präzisierten) Auflage einer ,redlichen‘ Lebensführung, drittens die Selbstverständlichkeit, mit der das evangelische Gemeinwesen durch seinen Gemeinen Kasten der Bedürftigkeit auch und gerade unter diesen Mitbürgern abhelfen soll, und viertens schließlich eine Toleranzaussage, deren Bedeutung angesichts zurückliegender Gewaltakte gegen Kirchen und Klöster in anderen Territorialkirchen hier kaum hoch genug veranschlagt werden kann. Ausgerechnet das Heilig-Geist-Spital zu Treptow an der Rega war im Frühjahr 1521 von Bilderstürmern verwüstet worden – vermutlich die erste Aktion dieser Art im Laufe der Reformationsgeschichte.392 Ob Bugenhagen noch davon Kenntnis bekam, kurz bevor er zum Studium nach Wittenberg abreiste, muß offen bleiben. Am neuen Ort hat er dann sicher die antimonastischen Tumulte und das gescheiterte Klosterbrechen während der Wittenberger Unruhen im Dezember 1521 mitbekommen.393 In Pommern fanden erneut 1525 zu Stralsund, Stettin und Stolp solche Aktionen statt, die sicher nicht allein religiöse, sondern sogar in erster Linie politische Gründe hatten und vom reformatorischen Impuls gewissermaßen katalysiert worden waren.394 Wenn Bugenhagen in seinen Kirchenordnungen immer wieder daran erinnerte, die Altgläubigen unabhängig von ihrem Glauben als Nachbarn desselben Gemeinwesens zu sehen und ihnen besonders in sozialen Nöten so zu helfen wie den ,Glaubensgenossen‘ (Gal. 6,10)395, dann mag die Ablehnung solcher Gewaltaktionen den Hintergrund abgegeben haben. Maßgeblich für die weitere Entwicklung wurden die Ereignisse während Bugenhagens Aufenthalt in Hamburg. Dort hatte der Rat bereits 1526 allen Predigern, altgläubigen wie reformatorisch gesinnten, ihre gegenseitigen Beschimpfungen und Lehrverurteilungen auf den Kanzeln verboten und in mehreren Disputationen dafür sorgen wollen, daß die Debatte auf geordnete Weise aus den Kirchen in die Bürgerschaft getragen wurde.396 Auch Bugenhagens 391 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 147. – Übertragung: ,… soweit sie redlich leben und unser Evangelium nicht behindern, sie mögen auch glauben, was sie glauben.‘ 392 Vgl. Sergiusz Michalski: Die Ausbreitung des reformatorischen Bildersturms 1521– 1537, in: Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? (Hg. v. Cécile Dupeux, Peter Jezler u. Jean Wirth). München 2000, S. 46–51; hier 46. 393 Vgl. Oehmig 1995; S. 104 u. 107. 394 Vgl. Michalski 2000; S. 46. – Für Stralsund insbesondere Schnitzler 1999. 395 Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 138, wo die Beleidiger und Verfolger (nach Mt 5,44) ebenso in den Kreis der Unterstützungswürdigen gerechnet werden wie die Glaubensgenossen (nach Gal 6,10) 396 Vgl. Postel 1986; S. 255–276.
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erste Predigten nach seiner Ankunft im Oktober 1528 mahnten zum Frieden zwischen den Parteien.397 Schon am 1. November konnte er Luther berichten, daß besonders die Ordensleute sich dem Evangelium aufgeschlossen zeigten: Die Franziskaner seien schon übergetreten, die Dominikaner nicht abgeneigt, und die Beginen hätten ehrwürdige Bürgerinnenkleidung angelegt und ihren Konvent reformiert. Generell sei Mönchen und Nonnen erlaubt, die Ordenstracht abzulegen, doch denjenigen, die bleiben wollten, sollte fortan auch eine Ordnung gegeben werden, nach der sie anständig und ohne Müßiggang in ihren Klöstern fortleben könnten. Aufschlußreich ist, was Bugenhagen vom holsteinischen Zisterzienserinnenkloster Reinbek mit seiner Priörin Anna von Plessen berichten konnte, das für die Versorgung Hamburger Bürgertöchter398 eine wichtige Rolle spielte: „Domina cum duabis virginibus hic aliquot hebdomadis audivit conciones meas, bis mecum conversata et semel apud me coenata. Ea est illic docta magistra omnium per evangelium et sex jam emisit ad conjugia, quarum una est uxor illius civis, qui hic constitutus est procurator domus meae, mulier formosissima et modestissima, quae fructum conjugii jam fert in utero.“399 Soweit waren also schon einige Nonnen auf Betreiben der Priörin verheiratet worden. Diese jedoch habe Bugenhagen gefragt, ob sie selbst ihre Ordenstracht bis auf weiteres behalten könne, sie wolle doch dadurch nicht als schlechtes Vorbild noch weitere Jungfrauen in solche Vulkanschlünde hineinziehen („in talia vulcani antra intrudere“). Bugenhagen riet ihr dennoch, zu bleiben. Sie wollte die Auflösung ihres Klosters offenbar selbst organisieren und ihre Schwestern alle versorgt wissen. „Nihil magis veretur quam ut monasterium maneat monasterium.“400 Tatsächlich verkaufte Anna von Plessen das Kloster im Jahr darauf an König Friedrich I. von Dänemark, den Hamburger Klosterhof dagegen an die Hansestadt. Jede der 41 Schwestern bekam vom König 300 Mark.401 Hier war der Übergang zur Reformation also durch eigenen Entschluß auf besonders verträgliche Weise in die Wege geleitet worden, ohne daß die Nonnen auf eine ehr‑ und perspektivose Zukunft am Rande der Gesellschaft rechnen mußten. Freilich gab es auch Hindernisse. So protestierte Luder Schack auf Gut Basthorst energisch dagegen, seine vier Töchter jetzt wie397
Vgl. Leder 2002 b; S. 262. Vgl. Sillem 1886; S. 14 f. 399 Bugenhagen: Briefwechsel (1966); Nr. 26, hier S. 78. – Übersetzung: ,Die Priörin hat mit zwei Jungfrauen schon einige Male unter der Woche meine Predigten gehört, zweimal mit mir gesprochen und einmal bei mir gegessen. Sie ist dort allen eine gelehrte Meisterin im Evangelium und hat schon sechs zum Heiraten fortgeschickt, von denen eine die Gattin jenes Bürgers ist, der hier zum Verwalter meines Hauses eingesetzt ist, eine sehr hübsche und sehr bescheidene Frau, die die Frucht der Ehe schon im Leib trägt.‘ 400 Ebd. – Übersetzung: ,Nichts fürchtet sie mehr, als daß das Kloster ein Kloster bleibe.‘ 401 H[einrich] Finke: Zur Geschichte der Holsteinischen Klöster, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte (1883), S. 145–248; hier 191, ohne Kenntnis von Bugenhagens Bericht. 398
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der aufnehmen zu müssen und beklagte sich beim niedersächsischen Kreistag, daß Friedrich die Schwestern „zum Theil mit Drang, etliche mit guten, süßen Worten aus dem Kloster gebracht, das Vorhandene habe zerschlagen oder wegschleppen und das Kloster tyrannisch ärger als Türken und Heiden habe spoliieren lassen.“402 Tatsächlich hatten wohl Hamburger Bürger im vorübergehend unbeaufsichtigten Kloster geplündert.403 Wieder anders verhielt es sich mit dem zweiten Zisterzienserinnenkloster in Hamburgs Nachbarschaft, mit Harvestehude. Auch dieses Kloster diente der Versorgung prominenter Bürgertöchter, teils aus Familien, die im Rat, teils aus solchen, die im Domkapitel saßen. Die evangelische Lehre hatte dementsprechend ein geteiltes Echo hervorgerufen. Doch die Äbtissin hielt energisch an den Klostergelübden fest und ließ auch keinen evangelischen Prediger ins Kloster, auch nicht auf den wachsenden Druck der Bürgerschaft hin. Diese bat zunächst freundlich, drohte dann mit Strafen und beschloß zuletzt im Februar 1530 den kontrollierten Abriß des Klosters. Denjenigen Nonnen, die nach der Zerstörung ihr Ordensleben fortsetzen wollten, wurde aushilfsweise das Johanniskloster angeboten, was sie auch annahmen.404 Inzwischen war jedoch längst die Hamburger Ordnung fertiggestellt und in Kraft gesetzt. Durch die Verzögerungstaktik der Äbtissin war ihre Fertigstellung noch erheblich verschleppt worden. Da sich bis zur Annahme der Ordnung im Mai 1529 noch immer keine Lösung abgezeichnet hatte, blieb die vorgesehene Stelle frei: „Des Closters haluenn tho Heruestehude / ys ock besprakenn vnnd beualen …“405. Die Stelle zeigt, daß Bugenhagen das soziale Problem, das in der Auflösung von Jungfrauenklöstern lag, gern geregelt wissen wollte, was zunächst aber nicht gelang. Dieses Problem veranlaßte ihn aber noch in Hamburg zu einer umfangreichen Flugschrift unter der Titelfrage, Wat me van dem Closter leuende holden schal.406 Darin unterzog er die klassischen Mönchsgelübde einer biblischen Überprüfung, doch nicht hauptsächlich als genereller Angriff auf das Mönchtum, sondern vor dem Hintergrund der spezifischen Probleme, die er in Hamburg kennengelernt hatte: Der Vorrede zufolge war ihm vor allem an Gewissensberatung für alle diejenigen gelegen, die „myt Closter wesende vorstrycket synt / aller meyst vor de armen kyndere de me Nunnen nmet edder Begynen / de doch myt groter vnwetenheyt yn sulck wesent / vnder eynem hylligen schyne / gheuret sint“. Vor allem wünschte Bugenhagen, daß „de oldern betrachten mogen wat se 402
Ebd.; S. 193. Vgl. ebd.; S. 191. 404 Vgl. Sillem 1886; S. 159–163. 405 Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 232 f. – Übertragung: ,Wegen des Klosters zu Harvestehude ist ferner besprochen und befohlen worden …‘ 406 Ders.: Wat me van dem Closter leuende holden schal / allermeyst vor de Nunnen vnde Bagynen geheschreuen. Vth der hilgen schrifft. Dorch Joannem Bugenha. Pome. Tho Hamborch. 1529, in: Flugschriften auf Microfiche, Serie 5 (1982), Nr. 2251. – Übertragung: ,Was vom Klosterleben zu halten ist, hauptsächlich für die Nonnen und Beginen geschrieben.‘ 403
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yeghen ore sulke kyndere schuldich synt tho donde.“407 Das Problem der Jungfrauenklöster wurde hier also von den Eltern her in Angriff genommen, die ihre Töchter zur Versorgung oder aus familienpolitischen Gründen zum Ordensleben bestimmt hatten. Dagegen begann Bugenhagens Flugschrift mit den programmatischen Sätzen: „Nunnen edder Bagynen schal me nicht mehr maken / Willen etlyke oldern ewyge Junckfrowen hebben van ren kyndern / so Godt den kyndern sulcke gaue gegheuen hefft […] / so beholden se de Junckfraw by sick / dat se helpe Hs holden vnde arbeyde edder helpe regren vnd thosehn / alse se ock schuldich ys / vnde de oldern edder negeste fruntschop synt ock schuldich se dar tho tholrende vnde thoholdende.“408 Den Einwand, es gehöre sich nicht, so große Mädchen im Haus zu behalten, ließ Bugenhagen nicht gelten: „do wath du wulth / du machst en wol Manne geheuen“409. Wer nun aber alt oder krank wäre oder sonst niemanden hätte, könnte auch getrost im Kloster bleiben, denn der Ort selbst schade seiner Seele nicht, sofern man ihn da nicht zu gottlosen Dingen verführe. Das bedürfe keiner neuen Gesetze: „Jck late yn dysser nth frme lde raden vnd dohn wat en gudt duncket / doch yn aller hre vnd redelicheyt / frde vnd eynycheyt ym Clostere.“410 Solchen Mönchen, die sich nicht zum Predigtamt eigneten, sollte man anders zu guter Arbeit verhelfen. Wer so das Kloster verlasse, sei ja nun wirklich im Stand der Armut und gehöre zu den elendsten Leuten auf Erden. Daher sei es das größte Almosen, solchen Menschen aufrichtig zu helfen.411 Denselben Weg schlug Bugenhagen auch in der Hamburger Ordnung ein. Schon in der Vorrede konzedierte er, daß es unchristlich wäre, künftig nicht den altgläubigen Klosterleuten und Priestern beizustehen, da sie keinen Broterwerb mehr haben würden – auch sie seien verführt worden, „so wol alse wy touören“412. Darum sollten die Meßpriester ihre Einkünfte bis zum Tod behalten, bis das Stiftungskapital an den Schatzkasten fallen würde. Jetzt könnten sie das 407 Ebd.; fol. A1 v°. – Übertragung: ,… mit Klosterleben verstrickt sind, hauptsächlich für die armen Mädchen, die man Nonnen nennt oder Beginen, die doch in großer Unwissenheit unter dem Schein der Heiligkeit in einen solchen Zustand geführt worden sind […], daß die Eltern betrachten mögen, was sie diesen ihren Kindern zu tun schuldig sind.‘ 408 Ebd.; fol. A2. – Übertragung: ,Nonnen oder Beginen soll man nicht mehr machen. Wollen manche Eltern von ihren Kindern ewige Jungfrauen haben, falls Gott den Kindern diese Gabe gegeben hat […], so behalten sie die Jungfrau bei sich, auf daß sie haushalten und arbeiten helfe oder regieren und dabei zusehen, wie sie es auch schuldig ist, und die Eltern und ihre Familie sind auch schuldig, es sie zu lehren und sie dazu anzuhalten.‘ 409 Ebd.; fol. G4 r°. – Übertragung: „… tu was du willst – du kannst ihnen ja Männer geben.“ 410 Ebd.; fol. G5 r°. – Übertragung: ,Ich lasse in solchen Notlagen fromme Leute raten und tun, was ihnen gut dünkt, aber in allem Anstand und aller Redlichkeit, Frieden und Einigkeit im Kloster.‘ 411 Vgl. ebd.; fol. G5 v°. 412 Ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 6 f. – Übertragung: ,… so wie wir früher‘. Zu Bugenhagens Gewohnheit, über die früheren Zustände in der ersten Person zu sprechen, vgl. oben S. 167.
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Geld sogar mit besserem Gewissen annehmen als zuvor, weil es ihnen in ihrer Notlage aus christlicher Liebe, nicht um ihrer Verdienste willen, zugestanden würde.413 Überdies müßte besonders auf alte, schwache und kranke Priester geachtet werden, die jetzt nichts mehr besäßen und „de sick velichte schemen tho biddende / dat me se mit hülpe vth der gemeinen Casten tröste.“414 Auch wer als Mönch im Kloster bleiben wollte, mußte versorgt werden – als Bruder, nicht als Vater.415 Zu schlemmen bräuchte er dabei freilich nicht, heißt es an späterer Stelle, wo dieselben Forderungen nochmals entfaltet werden, doch sollte er auch keine Not leiden und dieser Hilfe eingedenk sein. Wer das Kloster verlassen wolle, dem gebe man eine angemessene Abfindung und versuche, ihm eine gute Arbeit zu verschaffen, eine Predigerstelle oder ein Schulmeisteramt vielleicht oder ein Handwerk, „na ghelegenheyt der perßonenn. Wy schollenn yo redelick vnnd ghenochßam / de noeth ßulcker nun van allenn vorlatenenn ludenn bedencken / dath vorderth vnnße Euangelionn vnde rechte christlyke leue“416. Auch eine Tätigkeit als Küster kam infrage.417 Die „armen kindere“ wiederum zu versorgen, die Nonnen und Beginen, galt ebenfalls als Christenpflicht, zudem waren sie an die Verantwortung ihrer Familien zurückverwiesen.418 Äußere Bedingung bei allem sei freilich, daß niemand von ihnen das Evangelium lästere oder ein schändliches Leben führe. „Wat se öuerst edder ein ander by sick suluest löuen / dar hefft neyn minsche auer thobedende / dar darff ock eyn ander nicht vor antwerden.“419 Das in der Braunschweiger Ordnung bereits andeutungsweise skizzierte Programm ist hier und in den weiteren Kirchenordnungen420 also noch stärker zum Tragen gekommen. 413
Vgl. ebd.; S. 226, 234 f. Ebd.; S. 6 f. – Übertragung: ,… die sich vielleicht schämen zu bitten, so daß man sie mit Beihilfe aus dem Gemeinen Kasten tröste.‘ 415 Vgl. ebd.; S. 6–9. 416 Soweit ebd.; S. 226 f. – Übertragung: ,… je nach persönlicher Eignung. Wir müssen ja redlich und angemessen die Not solcher nun von allen verlassenen Leute bedenken, das fordert unser Evangelium und rechte christliche Liebe.‘ 417 Vgl. ebd.; S. 120 f. 418 Ebd.; S. 8 f. 419 Ebd. – Übertragung: ,Was aber sie oder andere bei sich selbst glauben, darüber hat kein Mensch zu gebieten, dafür braucht sich auch keiner zu verantworten.‘ – Nochmals ebd.; S. 228 f., 234 f. – Soweit insgesamt auch schon ders.: Van dem Christen loven 1526 (1982); fol. b4 v°. – Ders.: dass. (1867); S. 260. – Vgl. oben; S. 144. 420 Vgl. ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 93 f., 141, 162, wo als mögliche Perspektive für die ehemaligen Mönche auch ein Studium in Betracht gezogen wird, und 168 f. – Butenlübeckische Ordnung 1531 (1981); S. 199, wo die Altgläubigen darüberhinaus mit den Schülern im Chor singen sollen. – Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 110, 138 f. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 30, 58–60. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 108 f., 194–199, wo den im Kloster Verbleibenden auferlegt wird, fleißig zu studieren, damit einmal gute Prediger daraus werden. – Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 881 f. – Ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 79. 414
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Und in der Tat wurde dann auch so verfahren.421 Schon 1529, im Jahr der Hamburger Ordnung, teilte man den dortigen Mönchen die Pläne mit und stellte ihnen eine Abfindung von zehn Gulden in Aussicht, falls sie ihr Kloster verlassen wollten. Denjenigen aber, die bleiben wollten, wies man das Franziskanerkloster als gemeinsames Refugium zu, wo sie eine Versorgung auf Lebenszeit bekommen sollten. Dort sollten sie unter einem gemeinsamen Guardian leben, weil das Johanniskloster der Dominikaner für die neue Lateinschule gebraucht wurde.422 Etliche von ihnen, so notierte der Katharinenpastor Stephan Kempe, nahmen das Geld, manche verschwanden einfach so, und diejenigen, die sich zum Bleiben entschlossen hatten und sich ins Franziskanerkloster begaben, wurden dort auf lange Sicht versorgt. Überhaupt scheint es so, daß Altgläubige vollkommen unbehelligt in Hamburg leben konnten.423 In Pommern standen die Mönche gleichfalls vor der Wahl, ihre Klöster zu verlassen oder in ihnen weiter unterhalten zu werden. Während seiner Visitationsreise durch das Herzogtum examinierte Bugenhagen 1535 unter anderem die Zisterzienser im Kloster Eldena vor Greifswald. Diese waren, wie es in der Anekdote eines beteiligten Mönches heißt, durch seinen Famulus bereits instruiert worden und konnten daher auf die Fragen so gut antworten, daß Bugenhagen lachend meinte: „Ex propria pharetra non provenit ista saggita.“424 Einige Mönche baten um ein Studium in Wittenberg auf Kosten des Klosters, was ihnen gestattet wurde unter der Auflage, sich künftig für das Herzogtum zur Verfügung zu halten. Andere blieben zusammen mit ihrem Abt in Eldena und erhielten anständige Versorgung, mußten allerdings evangelische Zeremonien einführen. Genauso wurde in anderen pommerschen Klöstern verfahren. Auch die Akten der ersten evangelischen Visitation im eroberten Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel (1542) belegen, daß die Mönche teils in den Klöstern weiterversorgt, teils abgefunden wurden, bisweilen sogar mit zusätzlichen Stipendien, sofern sie sich zum Studium eigneten. So wird aus Königslutter berichtet: „Vier alte verlebte Männer, darunter einer vom Adel, erhalten lebenslängliche Versorgung im Kloster, Essen, Trinken, Schuh, Kleidung und 10 Gulden jährliches Handgeld. Der fünfte wird mit 120 Gulden abgefunden und bekommt sein Bettgewand, Kleider und was sonst seiner Person zuständig ist, und dem sechsten, Heinrich Denker, wird die Pfarre zu Berklingen verliehen nebst einer Abfindung von 40 Gulden.“425 Wer dagegen in den Klöstern und Stiften bleiben wollte oder mußte, war gehalten, künftig auf die überkommenen Zeremonien zu verzichten und schriftgemäße Gebete und Gesänge anzunehmen, damit das Leben im Kloster nie421
Vgl. zum folgenden Kiel NEKA, Bestand 39.03, Nr. 110 (II); S. 282. Vgl. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 232 f. 423 Vgl. Postel 1980 (2004); S. 177. 424 *Daniel Cramer: Das grosse Pomrische Kirchen Chronicon […]. Stettin: Barthelt 1628; hier Teil 3, S. 91. – Übersetzung: ,Dieser Pfeil kam nicht aus eigenem Köcher.‘ 425 Koldewey 1868; S. 267, ferner 273, 280 f., 289 et passim. 422
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mandem zum Ärgernis werde. Zu diesem Zweck verfaßte Bugenhagen seine Pia et vere catholica ordinatio (1535), eine neue Zeremonialordnung für Mönche und Kanoniker, die ursprünglich als Anhang zur Pommerschen Kirchenordnung angelegt war, ihr dann jedoch in einem selbständigen Druck folgte.426 Sie wurde in die Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz und in niederdeutscher Übersetzung auch in die Schleswig-Holsteinische und die Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung wiederaufgenommen.427 Einer evangelischen Neufassung der Stundengebete, des Abendmahls und der übrigen Zeremonien war eine umfangreiche und heftige Polemik gegen die Werkgerechtigkeit der Ordensgelübde und des Klosterlebens vorangestellt. Doch die Ordnung zielte vor allem darauf, „den lden radt tho geuende / de eres olders edder Kranckheit haluen so vorschwecket / Dat se sick yn keinen andern standt wol begeuen knnen / Dat dennoch de suluigen mit singende vnde lesende / eine uinge vor sick hebben mgen / Jn der hilligen Schrifft / vnde worde Gades.“428 Diejenigen Mönche, Nonnen und Kanoniker, die sich zum Bleiben entschlossen hatten, sollten also nicht bloß mit materiellen Gütern versorgt werden, sondern vor allem mit Gottes Wort. Bugenhagen verstand die Pia ordinatio gewissermaßen als Akt der Seelsorge am bedürftigen Nächsten. Was schließlich die Versorgung von Töchtern der großen Bürger‑ und Rittergeschlechter betrifft, so ist kurz auf die Entstehung der Adligen Damenstifte hinzuweisen, die künftig die Funktion der alten Feldklöster übernahmen, ohne von den Jungfrauen ein monastisches Gelübde zu fordern: Sie konnten zur Heirat jederzeit ihr Stift verlassen, persönlicher Besitz war erlaubt, der höhere Status dieser Lebensform im Sinne ,evangelischer Räte‘ aufgegeben. In Schleswig-Holstein hatte Christian III. im Jahr 1541 eine große Visitation der Feldklöster angeordnet, der sich jetzt nur noch das Kloster Uetersen und das Lübecker Domkapitel versperrten.429 In Uetersen brach der Herzog den Widerstand, indem er dort im folgenden Jahr selbst erschien.430 Im Interesse der schleswig-holsteinischen Ritterschaft, der weiterhin viel am dauerhaften Unterhalt – und übrigens auch an der standesgemäßen Bildung – ihrer unverheirateten Töchter lag, wurden vier der Konvente, nämlich die Benediktinerinnenklöster zu Schleswig und Preetz und 426 Vgl. Bugenhagen: Gottesdienstordnung 1535 (1907–1908). – Ders.: Pia ordinatio 1535 (1911). 427 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 65–89. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 258–355. – Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 81. 428 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 310–313. – Übertragung: ,… denjenigen zu raten, die aus Alters‑ oder Gesundheitsgründen so geschwächt sind, daß sie sich nicht wohl in einen anderen Stand begeben können, daß sie sich aber dennoch mit Singen und Lektionen in der Heiligen Schrift und im Wort Gottes üben können.‘ – Parallelstellen: Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 78. – Bugenhagen: Pia ordinatio 1535 (1911); S. 349. 429 Vgl. Sieben Urkunden (1934); S. 113–121. 430 Vgl. Finke 1883; S. 201.
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die Zisterzienserinnenklöster zu Itzehoe und Uetersen, bei Wahrung des Grundbesitzes und mit der Auflage, die Kirchenordnung „ungekrencket“ zu halten, in solche Damenstifte umgewandelt, die in ihrer institutionellen Form noch heute bestehen.431 Auch in anderen Territorien hat sich dieser Typus bis in die Gegenwart erhalten.432 So waren für jene „armen kyndere“, um die sich Bugenhagen so gesorgt hatte, jetzt wirklich wieder ihre Familien zuständig – wenn auch auf ganz andere Weise als von ihm geplant. Denn ihre langfristige Versorgung war betriebswirtschaftlich gelöst worden, ohne die abgeschiedene Lebensform dieser unverheirateten Frauen ihrerseits infrage zu stellen. Daß ihnen allein die Ehe ein standesgemäßes Leben außerhalb der Klöster ermöglicht hätte, daran hatte sich – bei aller Freiheit, die Stifte zu verlassen – grundsätzlich nichts geändert. Anderseits dürfen diese Konvente nicht allein auf ihre Versorgungsfunktionen reduziert werden433, so als wären die Bewohnerinnen mit dem wirtschaftlichen Unterhalt in Abgeschiedenheit gleichsam in einen goldenen Käfig gesperrt und dort unmündig gehalten worden. Vielmehr konnte beispielshalber die Aufhebung der Klausur in den folgenden Jahrhunderten auch dazu beitragen, daß die Damenstifte zu gesellschaftlich anerkannten und sogar frequentierten Zentren aufgeklärter weiblicher Bildung wurden. Erinnert sei an das bemerkenswerte Beispiel der selbstbewußten Augusta Luise Gräfin zu Stolberg-Stolberg († 1835), die 1766–1783 als Stiftsdame in Uetersen lebte und von dort aus intensive Kontakte zur literarischen Avantgarde pflegte – Goethes „Gustgen“434.
6. Besoldung und Dienstordnung der Prediger als öffentliche Fürsorge In seiner deutlich vom evangelischen ,Kirchenkampf ‘ unter dem Nationalsozialismus geprägten Studie über „Johannes Bugenhagen, Gemeinde und Amt“ hat Ernst Wolf es als bedeutsame Leistung des Reformators gewürdigt, „daß dort, wo er ordnend eingriff, […] die Gefahr eines klerikalen Proletariats mit Einschluß der Schullehrer durch die Einrichtung geordneter materieller Versorgung der ,Arbeiter im Evangelium‘ gebannt wurde.“435 Zunächst: So mag es geplant 431 Vgl. den schmalen Band von Dieter-J. Mehlhorn: Klöster in Schleswig-Holstein. Itzehoe – Preetz – Schleswig – Uetersen. Heide 2004 (Kleine Schleswig-Holstein-Bücher 55); zum Zitat S. 58, 68. 432 Generell vgl. Geistliches Leben und standesgemäßes Auskommen. Adlige Damenstifte in Vergangenheit und Gegenwart (hg. v. Kurt Andermann). Tübingen 1998 (Kraichtaler Kolloquien 1). – Lucia Koch: „Eingezogenes stilles Wesen“? Protestantische Damenstifte an der Wende zum 17. Jahrhundert, in: „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform (hg. v. Anne Conrad). Münster i. W. 1999 (KLK 59), S. 199–230. 433 Vgl. Koch 1999; S. 202. 434 Mehlhorn 2002; S. 48–52. 435 Wolf 1935 (21962); S. 277. – Vgl. zur forschungshistorischen Einordnung seiner Studie Luise Schorn-Schütte: „Papocaesarismus“ der Theologen? Vom Amt des evangelischen Pfar-
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gewesen sein. Ob die Erfolge dann auch eintraten, steht bekanntlich auf einem anderen Blatt. Aber die Überlegungen sind es wert, im Blick auf die öffentliche Fürsorge noch einmal genauer betrachtet zu werden. Dabei kann es also nicht darum gehen, Bugenhagens Amts‑ und Ordinationsverständnis im Rahmen seiner Ekklesiologie noch einmal zu entfalten.436 Vielmehr soll sein Gedanke, daß die Gemeinde versorgt werden müsse mit allem Notwendigen, also auch und vor allem mit guten Predigern und Superintendenten, mit guten Diakonen und Hebammen, Lehrerinnen und Lehrern, einmal als fürsorglicher Akt der Obrigkeit am christlichen Gemeinwesen interpretiert werden. Es sollte an nichts mangeln, was die geistliche Versorgung in den Städten, Territorien und Reichen betraf, und das bedeutete folglich auch, daß es dem kirchlichen Personal seinerseits an nichts mangeln durfte. Das ist der zweite Aspekt fürsorglichen Handelns im Bereich der Personal‑ und Besoldungspolitik, insofern auch die Mitarbeiter selbst, so wie jedes andere Gemeindeglied auch, Objekte der Fürsorge werden konnten. Dabei war Bugenhagen nicht allein an ausreichender Bezahlung und, falls doch einmal Mangel eintreten sollte, großzügiger Hilfe gelegen, sondern insbesondere mußte die Versorgung der Witwen und Waisen verstorbener Pfarrer geregelt werden, ein Problem, das ja mit der reformatorischen Priesterehe gerade erst neu entstand, und das rasch einer sozialverträglichen Lösung bedurfte. Diese verschiedenen Ebenen des Fürsorgebegriffs gilt es im folgenden zu berücksichtigen. Der enorme Finanzierungsbedarf, der bei der strukturellen Neuorganisation evangelischer Kirchentümer erstmals offen zutage trat, wird bei den Altgläubigen erhebliche Skepsis ausgelöst haben, nicht nur im Blick auf die jetzt gebündelt sichtbaren Erfordernisse in der Armen‑ und Krankenfürsorge, sondern auch in allen anderen Bereichen kirchlicher Ausgaben, etwa bei der neuartig zentralisierten Besoldung. In Hildesheim, wo die Trennung von Gemeinem und Schatzkasten wieder aufgegeben worden war und sich folglich sämtliche Ausgaben einer Gemeinde zu nie gekannten Beträgen summieren konnten, rechnete Bugenhagen mit besonders heftiger Kritik der Altgläubigen: „Solcke werden hyr grote rekenschop maken unde alle sölde der kercken unde scholen tor groten summa maken, unde seet, leven börger, welck ein grote besweringe wil men up düsse s[t]adt bringen, dat wy so vel geldes schöllen alle jar utgeven […]“437. Daher brachte er in der Hildesheimer Kirchenordnung eine Apologie kirchlicher Ausgaben, einen argumentativen Vorgriff auf die möglichen Einwände mit sechs Erklärungen: rers in der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft bei Bugenhagen, in: Archiv für Reformationsgeschichte 79 (1988), S. 230–261; hier 233 u. 257, Anm. 11. 436 Vgl. zu diesem Komplex generell Wolf 1935 (21962). – Schorn-Schütte 1988. – Kretschmar 1990. 437 Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 845. Ergänzung dort. – Übertragung: ,Diejenigen werden hier eine große Rechenschaft veranstalten und alle Besoldungen der Kirchen und Schulen zu einer einzigen Summe aufrechnen, und: ,Seht, liebe Bürger, welch eine große Beschwernis will man über diese Stadt bringen, daß wir jährlich so viel Geld ausgeben müssen!‘‘
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(1.) Stadt und Bürger zahlen nach der Umstrukturierung nichts drauf – schon daher spricht nichts dagegen, so viele Prediger wie nötig einzustellen und eine „herlike“ Schule einzurichten. (2.) Die Stadt bekommt jetzt einen so großen Kirchenschatz wie nie zuvor, allen Nachkommen zugute bis zum Jüngsten Tag. Hat sie das beschwert? (3.) Die Verfasser schrieben die Kirchenordnung nicht für sich und ihre Kinder, „dat ys jo klar am dage“, sondern ganz zum Besten der Stadt, so daß es undankbar wäre, ihnen die Lasten vorzuwerfen. (4.) Man will keine unflätigen Chorschüler berufen, sondern ausgebildete Prediger und Schulleute, die der Stadt dienen können. Wer gute Knechte oder Mägde einstellen muß, hat vor den Kosten keine Scheu, aber in dieser Angelegenheit, wo das Personal wirklich unentbehrlich ist, will der Teufel alles beschwerlich machen. (5.) Eine große Stadt braucht viele Prediger, „grote bene möten grote hosen hebben“. Daher darf nicht so argumentiert werden, als ginge es nur um eine Kirche oder um einen Prediger, auf den die große Summe zusammenkommt. Die Ausgaben sind auf viele Diener verteilt, deren jeder stets genug Sold für anständiges Haushalten übrighaben muß. Bleibt es bei sieben Kirchspielen, so gehen doch anderseits die Klostergüter in den Kasten ein und werden erst auf diese Weise zu wahrem Gottesdienst verwendet. (6.) In der Ordnung sind Maximalforderungen repräsentiert, die kaum alle auf einmal verwirklicht werden können. Auf die große Schule könnte man zunächst noch verzichten, aber nicht auf die Einstellung von Predigern.438 Es fällt auf, in wie hohem Maße Bugenhagen die notwendigen Kosten mit dem Allgemeinwohl begründete. Weil die Ausgaben jedem Einwohner, auch den Altgläubigen, zugute kommen würden, durfte es keinerlei Abstriche geben. Entsprechend breit gefächert war die Bestimmung des reichen Kirchenschatzes „vor unse predicanten, scholgesellen unde unse arme lüde, uns, unsen kindern und nakömelingen bet tom jüngesten dage“439. Die Einstellung gut ausgebildeten Personals, das dann auch gut bezahlt werden müsse, galt Bugenhagen mithin als fürsorglicher Akt der städtischen Obrigkeit am ganzen Gemeinwesen. Zum Besten der Stadt eingesetzt, waren vor allem die Prediger unverzichtbar, diese Posten standen nicht zur Debatte.440 Das galt auch in den Territorien. Aufschlußreich für Bugenhagens Definition des Pfarramts als eines fürsorglichen Dienstes am Gemeinwohl ist eine Passage aus der Pommerschen Kirchenordnung: Jedes Kirchspiel müsse einen Pfarrer haben, der je nach Bedarf einen oder mehrere Prediger brauche, die ihm helfen, „dat worth Gades vlitich prediken / de Sakramente vorrheken / dat volck recht vnterwisen / mit leren / straffen / trsten vnde stercken / 438
Vgl. soweit ebd.; S. 845 f. Ebd. – Übertragung: ,… für unsere Prediger, Schulgesellen und unsere armen Leute, uns unsere Kinder und Nachkommen bis an den Jüngsten Tag.‘ 440 Vgl. nochmals Wolf 1935 (21962); S. 272 f. Eine Tendenz zur Begrenzung evangelischer Freiheit allerdings geben diese Formeln gewiß nicht zu erkennen. Sie bezeichnen den festen Grundbestand christlicher Gemeindebildung, so wie im Königsbrief von 1537 in unverrückbare göttliche und freie menschliche Ordnung unterschieden ist. Vgl. oben; S. 41. 439
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die krancken vlitich besken / mit dem worde Gades starcken / vnde sonderlick darup seen / dat arme nottrofftige lde vorsorget werdenn.“441 Die Zusammenstellung der Aufgaben entspricht gewiß nicht zufällig den im Augsburger Bekenntnis genannten Kennzeichen der Kirche (Wortverkündigung und Darreichung der Sakramente), aber zusätzlich auch einer ganzen Reihe von leiblichen und geistlichen Werken der Barmherzigkeit: So wurden ja seit dem Mittelalter442 die hier angesprochene Hilfe an Bedürftigen (an Hungernden, Dürstenden, Nackten und Fremden) und der Besuch bei Kranken zu den sieben leiblichen, ferner die Belehrung Unwissender wie auch Zurechtweisung und Trost zu den sieben geistlichen Almosen gezählt. Damit eignet der Dienstbeschreibung für die pommerschen Geistlichen ein dezidiert fürsorglicher Charakter.443 Pfarrdienst ist Dienst am Menschen – nicht am Altar. Die von Bugenhagen postulierte „Fürsorgepflicht für städtische Obrigkeit“, wie sie Luise Schorn-Schütte444 genannt hat, umfaßte also weitaus mehr als nur die zentralisierte Neuordnung der Armen‑ und Krankenfürsorge. Sollten die Pfarrer und Lehrer, die Hebammen und Diakone ihren Dienst am Gemeinwesen in der skizzierten Weise versehen, so war für anständige Bezahlung zu sorgen: „Js id oers [sic] ntlik sulke dnste in den Scholen vnde kerken to hebben“, heißt es gleich zu Beginn der Braunschweiger Ordnung, „so is id ock ntlick reddelik vnde Gotlik / alse Christus secht / dat eyn arbeydes man synes lohnes werdich sy [Lk 10,7]“445. Hierin bestand die obrigkeitliche Fürsorgepflicht. In Skandinavien war sie als Selbstverpflichtung des Königs und Herzogs formuliert: „De Scholemeister schollen yn allen rden dat beholden / wat se thouorn gehat hebben / wo den etlike gefunden werden / den nicht genoch tho erer vnder holdinge gemaket werde / vnde de Bisschop edder Kerckhere solckes antge / willen wy eme / vnd den andern de der yget vorstan / gude vnd erlike besoldinge maken / vnd van dem vnsen ene geuen / wat eme [sic] ndich.“446 Analog hierzu schärfte die ge441 Bugenhagen: Pommersche Kirchenordnung 1535 (1985); S. 83. – Übertragung: ,… das Wort Gottes zu predigen, die Sakramente zu reichen, das Volk recht zu unterweisen durch Lehren, Strafen, Trösten und Stärken, die Kranken fleißig zu besuchen, mit dem Wort Gottes zu stärken und besonders darauf zu achten, daß arme bedürftige Leute versorgt werden.‘ 442 Vgl. ausführlicher oben; S. 80. 443 Eine besondere „Betonung des Dienstes der Pfarrer an der Gemeinde“, ihre „Verpflichtung auf den ,gemeinen nutz‘“ sieht auch Schorn-Schütte 1988; S. 242. Vor allem Bugenhagens „deutliche Charakterisierung der Predigertätigkeit als Beruf, der wie der Beruf weltlicher Obrigkeit als von Gott gegebenes Amt definiert wird“ (241) unterscheide das neue Tätigkeitsprofil von dem der altgläubigen Vorgänger. 444 Ebd.; S. 256. 445 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 3. – Übertragung: , Ist es aber nötig, solche Dienste in den Schulen und Kirchen zu haben, so ist es auch nötig, redlich und göttlich, wie Christus sagt, daß ein Arbeiter seines Lohnes wert sei [Lk 10,7].‘ 446 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 150 f. – Übertragung: ,Die Schulmeister sollen an allen Orten das behalten, was sie zuvor gehabt haben. Sollten sich einige finden, deren Unterhalt nicht genüge getan würde, und der Bischof oder Kirchherr zeigte das an, so wollen wir ihm und den anderen, die der Jugend vorstehen, gute und anständige Besol-
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meinsame Regierung der schleswig-holsteinischen Teilherzogtümer den drei für Dithmarschen neugewählten Superintendenten 1559 noch einmal ein, auf Besoldung und Wohnung der Kirchendiener zu achten, „dat se ehrlich und wohl wahnen, ock ehre Besoldinge tho rechter Tiedt und volkamener mgen erlangen“, und wo sie dennoch erführen, daß dem nicht so sei, sollten sie mit den Vögten „Flieth anwenden, dat ere Besoldinge na Gelegenheit verbeteret werde.“447 In den früheren Stadtordnungen war es Aufgabe der Schatzkastenherren gewesen, auf angemessene Besoldung und Unterkunft zu achten, „dat se neyne nt liden wen se mit sulker besoldinge nicht konden tokamen.“448 Das brauchten keine plötzlichen Einzelfälle zu sein. So baten 1573 die Geistlichen der Stadt Braunschweig gemeinschaftlich um Erhöhung ihres Einkommens.449 Im Braunschweiger Fürstentum war die Finanznot der Gemeinen Kästen gleich nach der Einnahme durch den Schmalkaldischen Bund 1542 ein offenes Geheimnis. Regelmäßig wurde festgestellt, daß die Besoldungen nur durch zusätzliche Regierungsgelder aufrechterhalten werden könnten, die freilich erst beantragt werden müßten. Der Kaplan zu Helmstedt gar „hatte aus Noth seine Kleider und Hausgeräthe versetzen müssen, der zu Schöningen hatte nur die Hälfte seiner Besoldung erhalten und klagt, daß er bisher habe ,im Stalle‘ wohnen müssen“450. Dementsprechend mahnte Bugenhagen in der Kirchenordnung noch einmal: „Wat were nu dat vor ein Christen, de syne predicanten und seelsorger nicht eines penniges werd achtede etc.“451 Das half aber wenig. Daß der Vierzeitenpfennig oft ganz verweigert wurde, dürfte wohl dem überaus harten Vorgehen der evangelischen Besatzer geschuldet gewesen sein.452 Doch gab es in Braunschweig-Wolfenbüttel auch genau entgegengesetzte Fälle. So wünschten die Einwohner von Zellerfeld im Harz einen evangelischen Pfarrer und versprachen sogar, ihm wöchentlich einen Gulden zu zahlen, dazu den Vierzeitenpfennig, ihm zwei Umgänge jährlich und umfangreiche Weiderechte zu gewähren. Den Pfarrer wiederum, der auf dieses Willkommen hin ab 1543 den Dienst für Zellerfeld, Grund und Wildemann versah, bekümmerte die mit der Selbstverpflichtung verbundene Belastung von Armen und Reichen zugleich, so daß dung verschaffen und ihnen vom Unsrigen geben, was sie brauchen.‘ – Entsprechend DänischNorwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 39. 447 Der erste Rendsburgische Abschied, in: Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum, Nebenbd. 1 (1750), S. 23–27; hier 25. – Übertragung: ,… daß sie anständig und gut wohnen, auch ihre Besoldung rechtzeitig und vollständig bekommen …‘ – ,… Fleiß darauf wenden, daß ihre Besoldung nach Gelegenheit verbessert werde.‘ 448 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 41. – Übertragung: ,… daß sie keine Not leiden, wenn sie mit solcher Besoldung nicht auskommen können.‘ – Ähnlich ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 118 f. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 449 Vgl. Braunschweig StA; Abteilung B IV 11, Nr. 20.14. 450 Koldewey 1868; S. 307. 451 Bugenhagen / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 77. 452 Vgl. Koldewey 1968; S. 296 u. 300.
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er vor den Visitatoren mit seinem Fortgang drohte, wenn es nicht gelänge, die ärmeren Gemeindeglieder angemessen zu entbürden und seine Stelle auf sozialverträglichere Weise zu finanzieren. Das zeigte vermutlich Wirkung, denn Johann Gnapheus blieb noch mehr als drei Jahrzehnte.453 Auch für Lehrkräfte sahen die Stadtordnungen ausreichende Besoldung und angemessene Unterkunft vor. Keinesfalls dürften die Lehrkräfte wie Bettler behandelt werden. Wenn man ihre Bedürftigkeit ausnutze, würden sie bei nächster Gelegenheit davonlaufen und sich anderswo verdingen.454 Auch die Lehrerinnen sollten „keine Not leiden / die weil sie Christlich dienen / der gantzen Stad“455. Überhaupt legte Bugenhagen Wert darauf, daß die Lehrkräfte nicht auf zusätzliche Nebenverdienste angewiesen wären, denn sie bekämen genug zu tun und sollten sich nicht noch weiter belasten. Aber wer nun fleißig und fromm wäre und gern zusätzliche Arbeit annehmen wollte, solle das gern tun und mit seinem Fleiß einen Vorteil daraus gewinnen.456 Die Braunschweiger Ordnung sah sogar eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vor.457 Generell verteidigte Bugenhagen die Personalausgaben auch für einfachere Schulgesellen: „Wente de ringeste geselle darff wol so geleret nicht syn alse de andern / so wert he doch mehr kyndere vnder sick hebben / vnde nicht mit ringer arbeyde beladen werden“458. Und schließlich sollten die Gesellen zwar auch bescheidener untergebracht sein als ihre Schulmeister, doch wenn einer von ihnen heiraten wollte, so galt es, ihm eine passende Wohnung zu besorgen, notfalls mit Hilfe des Gemeinen Kastens.459 Das spezifisch reformatorische Amtsprofil der evangelischen Prediger mit seiner vielfältigen und anspruchsvollen Aufgabenstruktur bedeutete freilich auch, daß im fortgeschrittenen Alter eine Ruhestandsregelung gefunden werden mußte, während die altgläubigen Meßpriester ihre Stiftungspfründe in der Regel auf Lebenszeit genießen konnten. Den verdienten Kirchen‑ wie auch Schuldienern seiner Reiche und Herzogtümer, die „lange vnde truwelick gedenet hefft“ und dann aus Altersgründen außerstande wären, weiterzuarbeiten, versprach Christian III. daher: „Wenn wy darumme angelanget werden / So wille wy eme eine gnedige vorsorginge don.“460 Obwohl die Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz hier sogar deutlicher von einer Pfründe (praebenda) spricht461, so ließ sich doch 453
Vgl. Koldewey 1868; S. 282. Vgl. Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 27. 455 Ders.: Von mancherley Christlichen sachen 1531; fol. F1 v°. 456 Vgl. ders. Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 29. 457 Vgl. ebd.; S. 27. 458 Ebd.; S. 29. – Übertragung: ,Denn der einfachste Geselle braucht zwar nicht nicht so gelehrt zu sein wie die anderen, wird aber doch mehr Kinder unter sich haben und nicht mit weniger Arbeit belastet sein.‘ 459 Vgl. ebd.; S. 30. 460 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 192. – Übertragungen: ,… lange und treu gedient haben …‘ – ,Wenn wir darum ersucht werden, wollen wir ihm aus Gnade eine Versorgung gewähren.‘ 461 Vgl. Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 58. 454
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ein gesetzlicher Pensionsanspruch daraus nicht ableiten. Ein solcher wurde in Preußen erst mit dem Emeritirungs-Gesetz vom 2. März 1891 eingeräumt.462 In Hildesheim sollte vornehmlich der Gemeine Kasten für das Auskommen der gewesenen Pfarrer und Lehrer sorgen: „De kercken‑ unde scholdener, de by uns yn unsem truwen denste vorkranken, vorderven edder voröldern, dat se nicht mer können, wil wy ut dem kasten unde ock süss vorsorgen eerlick. Wo könde wy ydt anders vor Godde unde den lüden vorantworten?“463 Der Appell an die städtische Verantwortung vor Gott und den Menschen verdeutlicht noch einmal, daß die Aufgabe zu jenen Werken gezählt wurde, deren Versäumnis zweifellos unter Gottes Strafgericht fallen würde. Für das Geleistete wie für das Versäumte einmal vor Gott und den Menschen Rechenschaft ablegen zu müssen – diese Perspektive bestimmte auch Bugenhagens eigenes Handeln, wie aus einer Passage gleich am Anfang der Lübecker Ordnung hervorgeht: „Ick bekenne frylick vor Gade vnde ydermne […] / dat ick ock scholde verordenen to trste den wedewen v kyndern der vorstornen [sic] predicanten“464. So sei es bereits zur Zeit der Apostel gehalten worden (mit 1 Tim 5,17 f.). Doch eine geregelte Pfarrbesoldung zu schaffen, sei bereits auf so große Schwierigkeiten gestoßen, daß für eine Versorgung der Witwen und Waisen keine Kapazitäten übrigblieben, und „so mot ick Gade ßůlcke velle beuehlen […] u dar neuen framen Christenen lden. Jn dessem stcke wil ick vor Gade entschůldiget syn / he wet wol dat ick ydt yn desse ordeninge nycht bringen kan etc.“465 Trotz des offensichtlichen Mißerfolgs, über dessen (wie es scheint, ärgerliches) Zustandekommen jedoch weiter nichts bekannt ist, schärfte Bugenhagen den Kirchvätern an späterer Stelle der Ordnung ein, beim Tod eines Predigers die Witwe und seine Kinder nicht im Stich zu lassen, „moth me doch ßlck yegen andere nottrofftigen don / de vns nicht gedenet hebben.“466 So gehörte die Unterstützung der Hinterbliebenen also noch in eine Art Grauzone zwischen Armenfürsorge aus christlicher Liebe und amtlicher Beihilfe auf462 Vgl. Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 193, Anm. 281, wo allerdings übersehen wird, daß die herzogliche Zusage gerade nicht eine gesetzliche Regelung des Problems, sondern eine Gnadengabe in Aussicht stellt. 463 Bugenhagen: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 882. – Übertragung: ,Die Kirchen‑ und Schuldiener, die bei uns in treuem Dienst krank, schwach oder alt werden, so daß sie nicht mehr können, die wollen wir aus dem Kasten und auch sonst anständig versorgen. Wie könnten wir es anders vor Gott und den Menschen verantworten?‘ – Ausführlicher ders.: Von mancherley Christlichen sachen 1531; fol. G1 v°–G2 v°. 464 Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 9. – Übertragung: ,Ich bekenne frei vor Gott und jedermann […], daß ich auch etwas anordnen sollte zum Trost der Witwen und Kinder der verstorbenen Prediger‘. 465 Ebd. – Übertragung: ,… so muß ich solche Fälle Gott und frommen Christen anbefehlen. In dieser Sache werde ich vor Gott entschuldigt sein. Er weiß gut, daß ich es nicht in diese Ordnung bringen kann usw.‘ 466 Ebd.; S. 141. – Übertragung: ,… muß man doch solches auch anderen Bedürftigen erweisen, die uns nicht gedient haben.‘
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grund der Verdienste des Verstorbenen. In der Hamburger Ordnung waren es die Armendiakone, die sehr generell zur Aufmerksamkeit für die Hinterbliebenen aufgefordert waren467, während das Thema in der Braunschweiger Ordnung noch gar nicht zur Sprache gebracht und auch in der Pommerschen Kirchenordnung wieder ausgespart war. Darin spiegelt sich die grundsätzliche Unsicherheit im Umgang mit solchen Problemen, die ja erst neu aus der reformatorischen Priesterehe resultierten. Diese gehörte, um ein Wort von Inge Mager aufzunehmen, „sowohl in der Optik zeitgenössischer Laien als auch vom kirchen‑ und reichsrechtlichen Standpunkt aus mit zu den systemsprengendsten Veränderungen, die infolge der Reformation in Kirche und Gesellschaft eingetreten sind.“468 Die – publizistisch in großer Breite zum Ausdruck gekommene – Aufregung um die unerhörte Neuheit, daß Geistliche nun heirateten und Familien gründeten, beruhigte sich in der Tat erst gegen Ende der zwanziger Jahre469, so daß die nur zögerlichen Bestimmungen zur Versorgung solcher Familien gewiß noch als Folge des schwierigen Akzeptanzprozesses verstanden werden können. Doch nicht der äußere moralische Druck war ausschlaggebend, ein inneres Hindernis kam hinzu: Mit dem Abschied vom Pfründenwesen der vorreformatorischen Kirche wurde auch die enge Verknüpfung des Lebensunterhalts eines Einzelnen mit dem konkreten Altardienst aufgegeben, weil sich das Aufgabenspektrum aller reformatorischen Geistlichen, wie zu sehen war, erheblich erweitert hatte. Sollten jetzt aber, wie es die Kirchenordnungen vorsahen, nach dem allmählichen Absterben der Meßpriester die jeweils zugrundeliegenden Kapitalmassen in den Schatzkasten einfließen, so daß die (nicht mehr an einzelne Dienste, sondern an das Amt geknüpfte) Pfarrbesoldung allmählich stabilisiert werden könnte, so war kaum damit zu rechnen, daß hieraus auch lebenslang die Familien mitbezahlt werden könnten, denn die alten Stiftungen hatten immer nur einen einzigen ledigen Pfründner an jeder einzelnen Altarstelle vorgesehen. Auch die traditionell zu leistenden und neu eingeführten Abgaben, der Vierzeitenpfennig etwa, konnten vernünftigerweise nicht sowohl dem Amtsinhaber mit seiner eigenen Familie als auch zusätzlich derjenigen des verstorbenen Vorgängers zugutekommen. Das Problem der Witwen‑ und Waisenversorgung, mithin „der wundeste Punkt des neuen evangelischen Pfarrerstandes“470, ist auch von Bugenhagen nicht nachhaltig gelöst, in seiner Bedeutung aber wenigstens erkannt und benannt worden. Allein die skandinavischen Kirchenordnungen sahen ein ausgeklügeltes Verfahren vor, das sich an den Perioden des Erntejahrs orientierte, damit beide Amtsgenerationen – die Familie des Verstorbenen und die seines Nachfolgers – 467
Vgl. ders.: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 118 f. Inge Mager: Theologenehefrauen als „Gehilfinnen“ der Reformation, in: Katharina von Bora. Die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages (hg. v. Martin Treu). Wittenberg 1999 (Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt; Katalog 5), S. 113–127; hier 122. 469 Vgl. insgesamt Buckwalter 1998. 470 Mager 1999; S. 115. 468
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in gerechter und verträglicher Weise vom Zehnt und den Einkünften der Pfarrländereien leben konnten. Diese Bestimmungen kamen ausnahmslos von den dänischen Theologen471, ohne daß Bugenhagen hier Ergänzungen vorgenommen hätte. Zunächst durfte die Familie des Verstorbenen ein ganzes Jahr lang weiter im Pfarrhaus bleiben, bis ein anderes Quartier und eine gute Versorgung gefunden wären. Der Nachfolger freilich zog bereits bei ihr ein und mußte ihre Anwesenheit solange dulden. Währenddessen konnte die Witwe anderthalb Ernten einfahren und die Hälfte des Zehnten für sich behalten: War der Pfarrer zwischen Martini (11. November) und Philippi (1. Mai) gestorben, also nach der Wintersaat, so konnte die Witwe die volle Ernte hieraus und die halbe Ernte der Sommersaat wie auch den halben Zehnten beanspruchen, mußte den Nachfolger aber hiervon mitbeköstigen. Entsprechendes galt, wenn der Pfarrer nach der Sommersaat gestorben war, also zwischen Philippi und Bartholomäi (24. August). Begann jedoch das Gnadenjahr im Herbst, zwischen Bartholomäi und Martini, so konnte die Witwe den Zehnt in vollem Umfang beanspruchen und die Wintersaat noch zur Hälfte ausbringen, mußte den Nachfolger aber solange unterhalten, bis er eigene Einkünfte hatte. Erst nach Ablauf des Gnadenjahres war der neue Kirchherr frei, die Witwe aus dem Haus zu setzen. Sicher führte diese Regelung zu Konflikten. Vorsorglich wurden die Pfarrer ermahnt, beim Umgang mit der alten Pfarrfrau an ihre eigenen Witwen zu denken, die später einmal das zurückerhalten würden, worauf sie jetzt selbst zunächst verzichten müßten. Ein Generationenvertrag also, der jedoch sehr deutlich immer nur für eine Übergangszeit gedacht war, bis die Hinterbliebenen auf andere Weise „wol vorsorget v vpgeholden mg werden.“472 Doch wie eine solche weitere Versorgung aussehen sollte, dazu gaben auch die dänischen Theologen keine Auskünfte. Im übrigen sollten die Bestimmungen nicht allein für die Hinterbliebenen der Kirchherrn auf dem Lande gelten, sondern analog auch für die ihrer Mitprediger473 und sogar der Stadtgeistlichen, die notfalls aus den Gemeinen Kästen weitere Beihilfe erhalten müßten. In seinen späteren Ordnungen griff Bugenhagen den Impuls auf. So heißt es in der Hildesheimer Kirchenordnung: „Wenn ein dörpparhere stervet, so schal me der armen wedewen unde kinderen laten volgen alle ynkoment des negesten halven jars edder mer na gelegenheit der parr“474, wobei unterdessen auch hier der Nachfolger von ihr mitbeköstigt werden mußte. Wenig später in derselben 471 Vgl. Udkast 1537 (1849); S. 108. – Dänisch-Norwegische Kirchenordinanz 1537 (1934); S. 45 f. – Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 172–175. 472 Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung 1542 (1986); S. 170. – Übertragung: ,… gut versorgt und untergebracht werden können.‘ 473 Diese Bestimmung nur ebd.; S. 174 f., also wohl ein Zuatz Bugenhagens für SchleswigHolstein. 474 Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 846. – Übertragung: ,Wenn ein Dorfpfarrer stirbt, so soll man der armen Witwe und den Kindern alle Einkommen des nächsten halben Jahres oder mehr belassen, je nach Möglichkeiten der Pfarre.‘
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Ordnung war freilich noch ein anderes Verfahren vorgeschlagen: Beim Tod eines Geistlichen, ob Superintendent, Pfarrer oder Prediger, sollten alle übrigen der Stadt ein Jahr lang dessen Arbeit untereinander aufteilen, während seine Besoldung an die Hinterbliebenen weitergezahlt werden sollte, „hyrmede geit der kercken nichtes aff.“475 Auch hier war das Nachjahr als Übergangslösung gedacht, bis es um die Familie besser stünde – ohne daß ansatzweise geklärt war, wie eine solche Verbesserung bewerkstelligt werden könnte. Und auch hier fehlte nicht die Mahnung an die Lebenden, „dat öhren frouwen unde kindern ock sölckes wert wedderfahren.“476 Die Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung reproduzierte das Modell im wesentlichen, orientierte sich allerdings wieder stärker am Erntezyklus und gestand den Hinterbliebenen „na gelegenheit der saet“ mindestens ein halbes Nachjahr zu.477 Danach waren nicht wenige Pfarrwitwen berufstätig, etwa als Lehrerinnen oder Hebammen.478 Im Fürstentum wurde erst 1749 eine Pfarrwitwenkasse installiert, die von Beiträgen aller Geistlichen gespeist wurde. Bis zu dieser Zeit galt dort eine Mischung aus Gnadenhalbjahr, beschränkten Gerechtsamen und Privilegien (etwa einem steuerfreien Braurecht).479 Das Nebeneinander solcher Vorschläge zeigt freilich, daß die Frage im Grunde noch ungelöst war. Wie in der Praxis verfahren wurde, um die Hinterbliebenen auch nach Ablauf des Gnadenjahres zu versorgen, zeigt ein Beispiel aus Nordschleswig.480 Als in Hoyer nach bloß vier Dienstjahren 1592 Pastor Schwen Hansen starb, hinterließ er eine junge Witwe und zwei Kinder. Die verzweifelte Frau bat Herzog Johann Adolf († 1616) um Hilfe. Besonders schwer wog neben ihrer Trauer der Umstand, daß sie eine bedeutende Mitgift in das Pfarrgut eingebracht hatte und jetzt fürchtete, nach so kurzer Zeit keinen Nutzen mehr daraus zu haben. Der Herzog antwortete, „woferne hernacher ein gelerter vnnd qualificirter Man oder geselle sich finden vnnd Sie die Witwe hinwiderumb ehelichen vnnd freyen worde, daß derselbige die Pfarre annehmen, auch sie vnnd er also bey der Pfarre sein vnnd pleiben sollen.“ Natürlich müßte der Bewerber imstande sein, die Pfarrstelle auch erwartungsgemäß auszufüllen. Und weil der Vater und Amtsvorgänger des Verstorbenen ebenfalls noch lebte und im Ruhestand vom Sohn mitversorgt worden war, sollte auch diese Gewohnheit auf den neuen Pastor übergehen. Was blieb der Witwe anderes übrig? Sie heiratete Peter Brodersen, der das Amt von 1594 475
Ebd.; S. 848. – Übertragung: ,… hiermit geht der Kirche nichts verloren.‘ Ebd. – Übertragung: ,… daß ihren Frauen und Kindern das auch wiederfahren wird.‘ 477 Vgl. ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955); S. 47. 478 Vgl. Luise Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Gütersloh 1996 (QFRG 62); S. 323. 479 Vgl. ebd.; S. 325. 480 Vgl. zum folgenden [Christian] Rolfs: Zur Geschichte der Fürsorge für die Predigerwitwen und ‑waisen im nördlichen Schleswig, in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte II, 3 (1905), S. 480–483. 476
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bis zu seinem Tod 1637 versah. Die alte Frau jedoch, zum zweiten Mal verwitwet, mußte sich erneut an den Herzog, inzwischen an Friedrich III. († 1670), wenden. „Jetzt konnte“ – so schilderte ein Amtsnachfolger im frühen 20. Jahrhundert den Fortgang der Dinge – „natürlich nicht mehr davon die Rede sein, daß sie selbst den Nachfolger ihres Mannes heiratete; sie hatte aber eine Enkelin, und der Herzog verfügte, daß derjenige Bewerber um das Pastorat ,vor anderen‘ berücksichtigt werden sollte, der bereit wäre, die Enkelin der Supplikantin zu heiraten.“ Das Gnadenjahr blieb selbstverständlich davon unberührt, doch mußte währenddessen ein geeigneter Kandidat gefunden werden. Von 1638 bis 1650 versah nun Peter Hansen die Pfarrstelle. An manchen Orten lassen sich solche Familienkontinuitäten über Jahrhunderte verfolgen. Doch gab es auch Konflikte, etwa wenn die Heirat von einer der beiden Seiten abgelehnt wurde. So blieb ein Flensburger Pastor, den die Gemeinde in das Pfarramt wählte, kurzerhand ledig, weil er weder die Witwe noch eine ihrer Töchter heiraten wollte. Die Predigerwitwe zu Wallsbüll verklagte 1697 gar den neuen Pastor, weil er ihre Tochter noch zu jung fand, die aber doch schon über 15 Jahre alt sei! Zu Wittstedt fand sich 1709 der Pastor nicht bereit, die Witwe seines Vorgängers zu heiraten, mußte ihr aber trotzdem die Hälfte seiner Einkünfte überlassen. Auch im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel führte, wie Luise SchornSchütte herausgefunden hat, das ungelöste Versorgungsproblem auf Dauer „zu eher unwürdigen Lebensumständen“481. So kam der Bau von Pfarrwitwenhäusern, den Herzog Julius in der Kirchenordnung von 1569 ausdrücklich allen Kirchspielen befohlen hatte, während des 16. und 17. Jahrhunderts nur äußerst schleppend in Gang. Ohne dauerhafte Bleibe waren die alten Frauen oft auf Gedeih und Verderb der Willkür des Amtsnachfolgers ausgeliefert. Wie 1649 aus Bodenburg bekannt wurde, hatte man der Pfarrwitwe „nach verfloßener halbjähriger Gnadenzeit auff der Pfarr die Thür gewiesen, da sie noch krank gewesen und nicht gewußt, wo sie mit den Ihren sich hinwenden sollte: daher sie vor erst in des Küsters Haus vor dem Pfarrhoffe, weil sie sich nicht weiter vermocht, gewiesen, und als daselbst der raum, wegen haltender Schule zu eng gefallen, bei andern so lange auff ihre eigenen kosten mietungsweise inne sein müssen, biß sie endlich ins Stifft Halberstadt, daher sie gekommen sich wiederbegeben, und da selbst ihr Leben, so gut als sie gekont, zum ende gebracht.“482 Der Pfarrer, der dies zu Protokoll gab, erklärte vor dem Konsistorium auch, einer seiner Amtsvorgänger habe den Bau eines Witwenhauses zwar vorantreiben wollen, sei in der Bevölkerung jedoch auf heftigen Widerspruch gestoßen.483 Solche Vorgänge dokumentieren, daß es in der Witwen‑ und Waisenfürsorge gerade nicht zu dauerhaft gültigen Lösungen gekommen ist, allenfalls zu dauer481
Schorn-Schütte 1996; S. 323. Ebd. 483 Ebd.; S. 324. 482
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haft gewordenen Provisorien, über die von Fall zu Fall neu verhandelt und entschieden werden mußte. Dazu paßt, daß sogar Johannes Bugenhagen sich schon brieflich vergewissern mußte, daß einmal für seine Frau gesorgt wäre, wenn er nicht mehr lebte. Am 1. Mai 1556, ihrem Geburtstag, beendete er eine umständliche Danksagung an Christian III. von Dänemark-Norwegen mit der Bitte, „das E. M. gnedig wolle verschreiben und mit eigener Hand unterschreiben, das meine Fraue nach meinem Tode weil sie lebet muge von E. M. haben jarlich die funfzig Taler, mein gnadengelt.“ Bugenhagen erhielt vom König regelmäßig üppige Gnadengeschenke und konnte wegen seiner Leistungen am dänischen Hof gewiß auf eine Zusage rechnen, doch wie um ihn angesichts der Witwenrente gnädig zu stimmen, fügte er sogleich hinzu: „Es kan auch mit ir nicht lange wehren, sie machet sich schwach und ist heut, auf Walburgis oder Philippi und Jacobi sechsundfunfzig Jar alt. Stirbt sie ehe den ich – das hoffe ich nicht – so ist diese Bitte an E. K. M. vergebens. Weil ich lebe, habe ich meine Slde; die stirben alle mit mir wenn ich stirbe.“484 Selbstverständlich ging der König auf die Bitte ein.485 Auch vom sächsischen Kurfürsten erbat sich Bugenhagen noch im Jahr seines Todes Unterstützung für seine Frau, erfolgreich vermittelt durch Melanchthon.486 Walpurga Bugenhagen starb erst 1569, elf Jahre nach ihrem Mann, wohl ohne während dieser letzten Jahre am Hungertuch genagt zu haben. Daß, wie sie 1563 der sächsischen Kurfürstin Anna († 1585) schrieb, „mein lieber herr, der ehrwirdig doctor Pomeranus sehelicher und loblicher gedechtnus diesen landen, auch e. churf. g. geliebtem vaterlandt, dem konigreich Dennemarck, mit ausbreitung gottliches wortts, seinem beruf nach, mitt vollem treuen fleiß gedienet“ hatte, garantierte ihr selbst noch Jahre nach dessen Tod einen gewissen Ehrenstatus, den sie nun ihrerseits zu nutzen wußte, indem sie sich in einem Gnadengesuch bei der gebürtigen Dänin für einen inkriminierten Fleischer verwandte.487 Theologische Prominenz dürfte mithin zumindest noch im 16. Jahrhundert besonders ersprießlich für die wirtschaftliche und soziale Absicherung solcher Frauen durch die Obrigkeit gewesen sein. Dies zeigt auch der Fall des Braunschweiger Superintendenten Martin Chemnitz († 1586), dessen Witwe Anna dort „mit 250 Reichstalern, zusätzlichen Sachleistungen und freier Witwenwohnung“ ausgesprochen generös versorgt wurde.488 Die sich im ,orthodoxen‘ Zeitalter verfestigende Ämterhierarchie der lutherischen Kirchen führte dann auch zu einer ausgeprägten Bevorzugung von Witwen höherer Kirchenfunktionäre. So stand der Witwe des Gandersheimer Generalsuperintendenten seit 1734 484 Soweit Bugenhagen: Briefwechsel (1966); Nr. 290, S. 565. – „Weil“ bedeutet hier ,solange‘. 485 Vgl. ebd.; Nr. 295, S. 571. – Mager 1999; S. 115. 486 Vgl. [Philipp] M[elanchthon] an Joachim Camerarius (in Leipzig), in: MBW 8 (1995), Nr. 8511. 487 Theodor Distel: Ein Schreiben der Witwe Bugenhagen’s, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 11 (1890), S. 483 f. 488 Schorn-Schütte 1996; S. 325.
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ein repräsentatives Wohnhaus in Seesen zur Verfügung, mit zwei Geschossen, einem Hof mit Stallungen und einem Baumgarten mit Laube; ferner konnte sie einen Anteil des Ertrags vom Pfarrland beanspruchen und war von bestimmten Steuern dispensiert. Bescheidener, aber im Vergleich zum Status gewöhnlicher Pfarrwitwen ähnlich bevorzugt, wohnte die Witwe des Spezialsuperintendenten zu Ahlshausen in ihrem dortigen Fachwerkhaus.489 In jener Zeit kamen freilich auch feste Witwenkassen auf Selbsthilfebasis auf, deren Mitgliedschaft den amtierenden Pfarrern allerdings nur in einigen Landeskirchen zur Pflicht gemacht wurde, etwa in Schleswig-Holstein und eben in Braunschweig-Wolfenbüttel.490 Doch von staatlicher Seite wurde in Preußen erst seit 1889 ein zentraler Fonds zur Witwen‑ und Waisenversorgung entwickelt, so daß die Rechte der Betroffenen nun erstmals wirklich einklagbar waren.491
7. Kirchenordnung als fürsorglicher Akt der Obrigkeit Daß nicht nur die Versorgung Armer, Kranker und gesellschaftlich Benachteiligter zu Bugenhagens Fürsorgekonzept zu rechnen ist, sondern auch, wie im vorangehenden Kapitel gezeigt, die gesicherte Dienstordnung und Besoldung aller Mitarbeiter und ihrer Familien, kann am Ende dieses letzten Untersuchungsteils zum Anlaß genommen werden, den Blick noch einmal zurückgehen zu lassen und Bugenhagens Kirchenordnungen unter erweiterter Perspektive generell als fürsorgliche Akte der christlichen Obrigkeiten zu interpretieren. Ausgehend vom Gemeinen Kasten als demjenigen Institut, das künftig mit solider Ausstattung für sämtliche Belange der Armen‑ und Krankenfürsorge zuständig sein sollte, haben sich im Verlauf der Studie gleichsam konzentrische Ringe um diese Einrichtung ziehen lassen, die einem erweiterten Bedürftigkeits‑ und Fürsorgebegriff entsprechen. So sollten zur Krankenversorgung nicht allein Bau und Ausstattung von Spitälern beitragen, sondern auch der tröstende Besuch von Pfarrern und Laien an den Kranken‑ und Sterbelagern. So wie Bugenhagen die Gewissen der Diakone seelsorgerlich entlastete, falls sie doch einmal Betrügern oder Müßiggängern etwas gegeben hätten, so ermunterte er auch die Pfarrer, in der Beichte am Krankenbett nicht weiter nachzuforschen als nötig und hielt damit die Schwelle eines gültig gefeierten Abendmahls niedrig. Ähnliches galt für Seelsorge und Abendmahl bei Verurteilten wie auch generell bei der Anwendung des Kirchenbanns 489
Vgl. zu beidem ebd.; S. 326 f. Vgl. Oliver Janz: Von der Pfründe zum Pfarrgehalt: Zur Entwicklung der Pfarrbesoldung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Die Finanzen der Kirche. Studien zu Struktur, Geschichte und Legitimation kirchlicher Ökonomie (hg. v. Wolfgang Lienemann). München 1989 (FBESG 43), S. 682–711; hier 708. – P[aul] Schoen: Das evangelische Kirchenrecht in Preußen. Bd. 2, Berlin 1906; S. 190 f. – Schorn-Schütte 1996; S. 325. 491 Vgl. Janz 1989; S. 709 f. – Ed[uard] u. [Hermann Freiherrn] von der Goltz: Preußen, kirchlich-statistisches, in: RE3 21 (1908), S. 815–838; hier 822. 490
VI. Ordnung der Dienste
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und schließlich auch bei der Nottaufe durch Hebammen. Speziell dieses Frauenamt, das Bugenhagen nicht als bloßes Handwerk, sondern als anerkannten evangelischen Gemeindedienst etabliert wissen wollte, verteidigte er immer wieder mit Blick auf die seelsorgerlichen und sakramentalen Aufgaben, die damit verbunden waren. In einen weiteren Kreis der öffentlichen Fürsorge muß auch die prinzipielle Durchlässigkeit von Schul‑ und Universitätskarrieren hineingenommen werden, insofern grundsätzlich arme Kinder die Möglichkeit eines intellektuellen Aufstiegs im Dienste des Gemeinwesens haben sollten. Dies war durch Schulgeldzahlungen und Stipendien zu gewährleisten. Auch konnte ein Blick auf den Umgang mit altgläubigen Priestern, Mönchen und Nonnen verdeutlichen, daß Bugenhagen sie als Bürgerinnen und Bürger des christlichen Gemeinwesens respektierte, ohne von der weltlichen Obrigkeit die konfessionelle Vereinheitlichung der Bevölkerung zu erwarten. Waren sie in Not, kam der Gemeine Kasten für die Versorgung Bedürftiger auf, unabhängig von ihrer Glaubensüberzeugung. Im vorausgegangenen Kapitel war schließlich zu sehen, daß die Besoldung der Mitarbeiter und die Versorgung ihrer Hinterbliebenen zum Teil mit ganz ähnlichen Argumenten eingefordert wurde wie die Zuwendung zu den Schwachen am Rande der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist Luise Schorn-Schüttes Wort von der „Fürsorgepflicht“492 der Obrigkeit tatsächlich nicht auf die Armenversorgung, sondern auf die sorgsame Einrichtung des gesamten Gemeinwesens anzuwenden, auf eine evangelisch begründete Obhut über seine Mitglieder und damit, reformatorisch gesprochen, auf Kirchenordnung schlechthin. Die Frage ist also, ob und inwiefern nicht allein die genannten Einzelaspekte in ihrer Vielfalt, sondern der Erlaß einer Kirchenordnung als Ganzes im Sinne eines fürsorglichen Aktes verstanden werden kann, in dem sich die Obrigkeit den bedürftigen Menschen zuwendet. Zu ihrer Beantwortung muß noch einmal an die theologische Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments in Kursachsen erinnert werden. Aus der Vorrede zum Unterricht der Visitatoren ging ja hervor, daß die Wittenberger Theologen ihren Kurfürsten gebeten hatten, er möge sie „aus Christlicher liebe ‹denn sie nach weltlicher o(e)berkeit nicht schuldig sind› vnd vmb Gotts willen / dem Euangelio zu gut vnd den elenden Christen ynn. S(eine) K(ur) F(ürstlichen) G(naden) landen / zu nutz vnd heil“493 mit den Visitations‑ und Ordnungsaufgaben betrauen, die sie sich nicht aus eigener Autorität anmaßen wollten. Entscheidend ist, daß der Fürst hier ,aus christlicher Liebe‘ und ,den elenden Christen zu Nutz und Heil‘ handeln sollte, nicht aufgrund seiner weltlichen Herrschaftsbefugnisse.494 In derselben Vorrede zog Luther das alttestamentliche Beispiel Samuels (1 Sam 7,15–17) heran, der „nicht aus lust zu spacirn / sondern aus liebe vnd pflicht seins ampts / dazu aus not vnd durfft des 492
Schorn-Schütte 1988; S. 256. Unterricht 1528 (1983); S. 409. 494 Vgl. Krumwiede 1967; S. 97–105. Diesem Abschnitt sind meine folgenden Ausführungen verpflichtet. 493
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volcks / vmbherzoch“495. Lange jedoch hätten die Bischöfe solche Aufgaben nicht wahrgenommen. Als nun das Evangelium wiedergekommen sei, habe sich erst herausgestellt, „wie elend die Christenheit / verwirret / zurstrewet / vnd zu rissen ist“496. Auch im Ordnungstext selbst war das Motiv der Bedürftigkeit gebraucht: So sollten keine ungelehrten Pfarrer „zu verfu(e)rung des armen volcks“497 aufgenommen werden, und in den Schulen sollte künftig nur Latein gelehrt werden, statt wie bisher „die armen kinder“498 mit vielen Sprachen zu beschweren. Kirchenordnung wird also als ein Akt verstanden, der einen Zustand des Elends, d. h. der Fremdheit, eine anhaltende Phase der Armut, Not und Bedürftigkeit beenden soll. Diese Not erst begründet das Notrecht, aus dem heraus der Kurfürst Maßnahmen zur Sicherung des Kirchenwesens einleiten kann. Das hat ,aus christlicher Liebe‘ zu geschehen, ,um Gottes willen‘ und ,den elenden Christen zu Nutz und Heil‘. Die Analogie der Argumentation zur Begründung christlicher Fürsorge an den Armen und Schwachen am Rande der Gesellschaft ist bemerkenswert. Bugenhagen folgerte aus der Obhutspflicht des Fürsten für sein christliches Volk schon fünf Jahre zuvor, daß dieser im Angriffsfall auch dem Kaiser widerstehen müsse, wenn das Volk ihn darum anrufe. Vom Sekretär Georg Spalatin († 1545) um ein Gutachten für Friedrich den Weisen gebeten, kam er als einziger der Wittenberger Theologen im Februar 1523 zu der Haltung, daß diese Schutzaufgabe dringlicher zu bewerten sei als die höhere Stellung des Kaisers.499 Auch 1529 wiederholte Bugenhagen sein „bedencken“, noch bevor es in Torgau 1530 zur entscheidenden Wende in der Widerstandsfrage kam: Kein ,Unterherr‘ dürfe zwar gegen seinen ,Oberherrn‘ kämpfen. „Wollen sie aber nicht uberherrn nach ordenlicher gewalt Gots, sondern vorweldigere, mrdere und Turken seyn, so folget nicht darauß, das die frommen fursten yhrer ordenlichen gewalt, yhn von Gott befohlen, zu beschermen im rechten yhre untersssen, auch sollen abestehn.“500 Unterdrückung des Evangeliums, ein Angriff des Kaisers gar, forderten unbedingt, daß der evangelische Fürst die Seinen mit dem Schwert beschirme, ungeachtet der kaiserlichen Autorität. Erst im Oktober 1530, als auch Luther und Melanchthon eingelenkt hatten, wurde diese Haltung dann zum Wittenberger Konsens.501 Auch Andreas Osiander († 1552) und Martin Bucer entwickelten jetzt erst ähnliche Widerstandsbegründungen, die von Schutzverpflichtungen 495
Unterricht 1528 (1983); S. 406. Ebd.; S. 409. 497 Ebd.; S. 456. 498 Ebd.; S. 458. 499 Vgl. [Johannes] Bugenhagen: Gutachten (für Kurfürst Friedrich den Weisen). (Wittenberg, kurz vor 8. Februar 1523), in: Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546 (hg. v. Heinz Scheible). Gütersloh 1969 (TKTG 10), S. 18 f. 500 Ders. an Kurfürst Johann den Beständigen von Sachsen. Wittenberg, 29. September 1529, ebd., S. 25–29, zit. S. 28. 501 Vgl. Eike Wolgast: Bugenhagen in den politischen Krisen seiner Zeit, in: Johannes Bu496
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des ,Unterherrn‘ ausgingen.502 Als versucht wurde, die ,Torgauer Wende‘ publizistisch gegen Luthers Integrität und damit gegen den Schmalkaldischen Bund auszuspielen, wies Bugenhagen öffentlich auf seine früh gewonnene Haltung zum Widerstandsrecht gegen den Kaiser hin und stellte sie – nicht ganz unproblematisch – als Anfang der offiziellen Wittenberger Position dar: „von dem Sentenz bin ich noch nie gewichen“.503 Die Vorgänge mögen beispielhaft verdeutlichen, wie ernst es Bugenhagen um die „Fürsorgepflicht“ der Obrigkeit war. In unserem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, daß es dabei nicht einfach um eine beliebige Aufgabenbeschreibung des weltlichen Fürsten ging, sondern um den Schutz des Evangeliums. In diesem Sinne mußte auch den Untertanen, die des Evangeliums bedürftig waren, wie jedem Bedürftigen seine Obhut und Zuwendung gelten. Die Kirchenordnungen sind vor diesem Hintergrund in allen ihren Teilen als Inpflichtnahme, in Skandinavien sogar ausdrücklich als Selbstverpflichtung des christlichen Herrschers zu lesen. An drei Aspekten konnte dies in der zurückliegenden Untersuchung besonders deutlich herausgestellt werden – drei Teilen des großen Ordnungsunternehmens, die auch nach Bugenhagens Worten als vordringlichste Aufgaben einer christlichen Obrigkeit anbefohlen waren: „Dat erste“, so erklärte er zu Beginn der Braunschweiger Ordnung, „gude scholen vp torichten vor de kindere. Dat andere / predikere de Gades wort reyn dem volke vordragen / antonemen ock latinische lectien vnde vthleginge der hilgen scrifft / vor de gelrden to vorschaffen. Dat drudde / gemeyne Casten antorichten mit kerken guderen vnde anderen gauen / dar vth sulke vnde andere kerken dnste erholden / vnde der armen notrofft werde geholpen.“504 Mit diesen drei Teilaufgaben erfüllten die Magistrate ihre evangeliumsgemäße Schutzpflicht, dienten die Fürsten um Gottes willen ihren bedürftigen Untertanen: Was erstens die Schule betraf, so hatte schon Luther betont, es sei „einer Stadt bestes und aller reichest gedeyen, heyl und krafft, das sie viel feiner gelerter, vernünfftiger, erbar, wol gezogener burger hatt“505. Bugenhagen knüpfte hieran an, indem er das Schulwesen als Gewinn für das ganze Gemeinwesen anpries, das eines Tages nicht nur gebilgenhagen 1984, S. 100–117. – Zur ,Torgauer Wende‘ vgl. ausführlicher Brecht 1994; Bd. 2, S. 396–400. 502 Vgl. Adolf Laube: „Daß die Untertanen den Obrigkeiten zu widerstehen schuldig sind“. Widerstandspflicht um 1530, in: Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (hg. v. Günter Vogler). Weimar 1994, S. 259–276; hier 263. 503 Bugenhagens Argumentation war allerdings sehr gewagt; vgl. Wolgast 1984; S. 110. 504 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 6. Hervorhebung von mir. – Übertragung: ,Vor allem werden drei Dinge als notwendig angesehen: Erstens, gute Schulen für die Kinder einzurichten. Zweitens, Prediger anzunehmen, die Gottes Wort rein dem Volk vortragen, und auch lateinische Vorlesungen und Schriftexegese für die Gelehrten zu beschaffen. Drittens, Gemeine Kästen anzulegen mit Kirchengütern und weiteren Spenden, aus denen solche und andere Dienste der Kirche erhalten und der Bedürftigkeit der Armen abgeholfen werden können.‘ 505 Luther: An die Ratherren 1524 (1899); S. 34.
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dete Eliten hätte, sondern ganz allgemein „tuchtige / ehrlike / redelike / gehorsame / fruntlike / gelrde / fredesame / nicht wylde / sonder frlike borgere“506. Damit die ganze Stadt aber auf Generationen hinaus profitieren könnte, mußten auch alle Schichten und Stände an den evangelischen Schulen partizipieren können. So erklärt sich Bugenhagens hohe Aufmerksamkeit für arme Schüler und Studenten, besonders aber auch für Mädchenschulen. Nicht an Eliten-, sondern an Allgemeinbildung und eine Hebung des ganzen städtischen Gemeinwesens war gedacht, wie aus der Begründung weiblicher Belesenheit in aller Deutlichkeit hervorging: Gottesfürchtige Mütter zögen auch Kinder und Gesinde wieder so auf, daß eines Tages die Städte erfüllt wären von solchen frommen Bürgerinnen und Bürgern.507 Folgte die Obrigkeit solchen Erklärungen, so wird sie diesen Aspekt der Kirchenordnung auch als Teil ihrer reformatorischen Gestaltungsaufgabe ernstgenommen haben. Inwiefern zweitens die Dienstordnung der kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als fürsorglicher Akt der Obrigkeit an ihren Untertanen zu verstehen wäre, ist ebenfalls bereits angeklungen und braucht hier nur kurz wiederholt zu werden.508 Bugenhagens Gedanke, daß die Gemeinde versorgt werden müsse mit allem Notwendigen, also auch und vor allem mit guten Predigern und Superintendenten, Diakonen und Hebammen, Lehrerinnen und Lehrern, entsprach ganz der evangelischen Obhutspflicht der Magistrate und Fürsten. Voraussetzung war freilich, daß es dem Personal seinerseits an nichts mangeln dürfe. Hierher gehört auch die – bei Bugenhagen nur angedeutete – Versorgung der Pfarrwitwen und Waisen, die leider erst Jahrhunderte später von staatlicher Seite gelöst wurde. Alle so vielfältigen Dienste, von denen in den Kirchenordnungen die Rede war, Predigt und Sakramentsverwaltung, Beichte und Krankenbesuche, Geburtshilfe, Schule und Universität, Armenfürsorge und Hospitalbau, Kirchenaufsicht und vieles andere, betrafen in enger Verknüpfung das ganze Gemeinwesen und vermochten nach Bugenhagens Plänen in ihrer Gesamtheit geradezu dessen Bestand auf Dauer zu garantieren. Drittens: Es scheint keiner besonderen Beweisführung zu bedürfen, warum Armenfürsorge ein Akt der Fürsorge sei. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. Zunächst ist in Bugenhagens Aufzählung ja vom Gemeinen Kasten die Rede, hier stellvertretend für die Kirchenfinanzen insgesamt: In der besonders ausführlichen Vorrede zur Lübecker Ordnung war dargelegt, daß aus der Notwendigkeit von Schulen und guten Predigern für das ganze Gemeinwesen auch resultiere, „alse Christus sluest vor recht achtet [Mt 10,10] / dat me sůlcke ar506 Bugenhagen: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 25. – Übertragung: ,züchtige, ehrliche, redliche, gehorsame, freundliche, gelehrte, friedliche, nicht wilde, sondern fröhliche Bürger werden.‘ 507 Vgl. ders. / Corvinus / Görlitz: Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 (1955), S. 76. 508 Vgl. oben; S. 416 ff.
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beydere / welkere desse gde Stadt yn desser Christliken ordenynge nycht kan entberen / myt redeliken / v ehrliken solde besorget / eynen yeweliken na syner kunst v amptes weerde“509. So war auch in der Hildesheimer Kirchenordnung die Vielfalt und Höhe der Ausgaben, die jetzt plötzlich gebündelt auf die Stadtgesellschaft zukämen, mit dem Allgemeinwohl begründet: Jedem Einwohner, sogar den Altgläubigen, kämen die Investitionen „vor unse predicanten, scholgesellen unde unse arme lüde“ zugute – „uns, unsen kindern und nakömelingen bet tom jüngesten dage“510. Bis zum Jüngsten Tag – insbesondere die Armenfürsorge, die in solchen Passagen stets mit der Versorgung des Personals verknüpft war, wurde ostentativ mit dem Heil des ganzen Gemeinwesens begründet, aber nicht als dessen Voraussetzung, sondern als notwendige Folge, der zu widerstreben geradezu die Verleugnung des christlichen Glaubens bedeutete. Wie zu sehen war, spielte hier die Alternative von falschem und wahrem Gottesdienst stets eine besonders große Rolle. Wer Heuchelwerke vorzeigen würde, drohte am Ende aller Tage doch verworfen zu werden.511 Über diese Konsequenzen aufzuklären, war Aufgabe der christlichen Obrigkeit. Und schließlich kann, um den Nutzen des Gemeinen Kastens für alle Einwohner zu illustrieren, nicht nur für die Bedürftigen, noch einmal exemplarisch auf jene Federzeichnung aus der Gotteskastenordnung der Hamburger Nikolaikirche verwiesen werden, die den Armenkasten unter einem ruhenden Mars geradezu als Garant für Frieden und Eintracht darstellte (Abb. 8). In Hamburg breitete sich die Reformation ja geradezu von den Gemeinen Kästen her aus – und damit nicht nur von einer diakonischen Einrichtung her, sondern durch den damit verbundenen Diakonat auch auf bürgerliche Mitsprache hin: Öffentliche Fürsorge. Wo dagegen die Regelung der Armenfürsorge als ungerecht empfunden wurde, war der soziale Frieden gefährdet – und dabei gingen, wie ein erstaunlicher Vorgang aus Pommern zeigt, die Proteste nicht von den Armen selbst aus, sondern von den Stadträten: In der Pommerschen Agende von 1569 war der Opferpfennig bei Brautgängen und Totenbegängnissen, auch beim ersten Kirchgang der Kindbettin, nicht mehr wie in Bugenhagens Kirchenordnung für die Armen, sondern für die Prediger bestimmt. Diese kleine Änderung veranlaßte mehrere Stadträdte und Bürgermeister zu heftigem Widerspruch. So sprachen die Greifswalder von „Beraubunge Des Armen Lazarj“ und kündigten an, daß sie „Solliche entziehung Des Jhennen, So ohnwidersprechlich Armuth gepuret, Nicht pilligen 509 Bugenhagen: Lübecker Kirchenordnung 1531 (1981); S. 7. – Übertragung: ,… wie Christus selbst für recht erachtet [Mt 10,10], daß man solche Arbeiter, die diese gute Stadt in dieser christlichen Ordnung nicht entbehren kann, mit redlichem und ehrlichem Sold versieht, einen jeden nach seiner Kunst und seines Amtes Wert.‘ 510 Ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 845. – Übertragung: ,… für unsere Prediger, Schulgesellen und unsere armen Leute – uns, unseren Kinder und Nachkommen bis an den Jüngsten Tag.‘ 511 Vgl. etwa ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981), S. 13 f.
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wurden.“512 Nachdem die Städte ein gemeinsames Vorgehen verabredet hatten, protestierten auch Bürgermeister und Rat der Stadt Anklam bei Jacob Runge, der als Superintendent für die Agende verantwortlich war. Ärgerlicherweise hätten die Prediger die Neuerung kaum abwarten können, „Sondern ehe wir mit der Gemeine geredt […] die endernus Jns werck gestellet […] Darob sich dan viel Jn vnßer Gemeine geergert vnnd vngedultig wider die Prediger geworden“513. Es sei dann zu „allerlej vnwilligkeit“ gekommen, auch zu beiderseitigen Beschimpfungen, indem „die Prediger von etzlich einzeln Personen Jn Jrren bejsein auch hinter Rucken mit worten angegriffen worden“514 seien und ihrerseits von den Kanzeln über die ganze Stadt geflucht „vnd diese dingk gar hefftig getrieben“515 hätten. In einem mehrtägigen Schlichtungsverfahren im Juli 1570 brachte Runge die Ratsherrn und Prediger schließlich dazu, einen Kompromiß zu akzeptieren: Vor dem Altar könnte, sofern die Bürgerschaft zustimmte, ins Becken geopfert werden – und „gleichwoll auch Jder Zeit darbej Jn die arme Caste, wie bißhero geschehn. Jn begrebnussen aber soll allein den armen Jn den Gots Casten gestochen werden.“516 Und so war „Godt lob der Jngefallene Zanck Zwischen den Predigern vnd dem Radt fruntlich auffgehoben vnd beigelecht, Haben sich widerumb vorßönet vnd vorbetten“517. Der Konflikt ist bemerkenswert, weil er noch einmal den hohen Stellenwert einer gerechten Armenfürsorge für den sozialen Frieden der Städte belegt, und weil es die weltliche Obrigkeit war, die sich der Sache annahm und mit theologischen Argumenten bestritt. Die Bürgermeister und Stadträdte betrachteten es offenbar als ihre Aufgabe, zugunsten der Armen zu handeln und den Brauch der alten Kirchenordnung zu verteidigen. Aufs Ganze gesehen, können mithin solche diakonischen Anteile der Kirchenordnungen ebenso wie ihre Bestimmungen zum Schulwesen und zu den Predigern als Dimensionen fürsorglichen Handelns der Obrigkeit am ganzen christlichen Gemeinwesen interpretiert werden.
512
Greifswald PLA, Rep. 38 b Anklam, Nr. 4269; fol. 3 r°. Ebd.; fol. 4 v°. 514 Ebd.; fol. 5 r°. 515 Ebd.; fol. 5 v°. 516 Ebd.; fol. 15 v°. „Gestochen“ bedeutet hier ,gesteckt‘. 517 Ebd.; fol. 16 r°. 513
VII. Ertrag und Ausblick 1. Theologie „Ein der befreienden Botschaft von der Erlösung des Menschen durch Jesus Christus verpflichteter Theologe hat in mühevoller Kleinarbeit jeweils vor Ort versucht, die christliche Praxis in verschiedenen Aufgabengebieten vom Geist des Evangeliums her zu formen.“ So hat Wolf-Dieter Hauschild1 das reformatorische Werk Johannes Bugenhagens gewürdigt. Die enge Verbindung von Theologie und Organisationstätigkeit dieses Reformators, ja ihre eigentliche Einheit, ist besonders von Hauschild immer wieder betont worden: Bugenhagens Kirchenordnungen seien „in Praxis umgesetzte evangelische Rechtfertigungslehre.“2 Das hat sich in der hiermit abzuschließenden Untersuchung trefflich bestätigt. Vor allem konnte sich dabei noch einmal Bugenhagens Eigenständigkeit erweisen, sein charakteristisches Profil in theologischer wie in organisatorischer Hinsicht, ohne ihn anderseits aus dem vielfältigen Beziehungsgeflecht seiner Zeitgenossen isolieren zu wollen. Das lebenslage Hauptinteresse Bugenhagens galt dem rechten Verhältnis von Glaube und Werken. Dies zeigte sich schon in seiner vorreformatorischen Theologie, die stark von Erasmus und generell von bibelhumanistischen Prinzipien geleitet war. Die Konzentration allein auf Christus führte ihn schon damals zu einer Ethik, der die Zuwendung zum Armen mehr galt als lukrative Seelmessen. Diese bemerkenswert früh formulierte Alternative baute Bugenhagen später zu einem Hauptargument seiner Fürsorgekonzeption aus, zum Kontrast von falschem und wahrem Gottesdienst. Immer wieder ist dieser Dualismus zum Thema eigener Reformationsschriften geworden, deren Zutrauen auf die praktische Handlungsfähigkeit des bekehrten und erlösten Sünders in charakteristischer Weise von der skeptischeren Einschätzung Luthers abwich. Hier ist besonders auf die selbständige Bewertung des Gesetzes hinzuweisen, dessen Stellenwert nach den Auseinandersetzungen um Johannes Agricola besonders hoch veranschlagt, das zugleich aber auch in praktisch-theologischem Interesse von Luthers zweistufigem Gesetzesverständnis emanzipiert war. Bugenhagen folgte in seiner ausgesprochen optimistischen Ethik eher Melanchthon 1 2
Hauschild 1985; S. 44. Ebd.; S. 50.
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und seiner Vorstellung eines triplex usus legis. Die Einheit von Theologie und Organisation wäre hier entscheidend motiviert, indem bei Bugenhagen der gescheiterte, wieder aufgerichtete und erlöste Sünder jetzt auch wahrhaft gute Werke tun kann, die von Christus gefordert sind – noch immer unvollkommen, aber doch mit Gottes Hilfe seinem Nächsten zugute. Verweigert er sich dagegen der Hilfe an den Geringsten, droht er am Ende aller Tage doch verworfen zu werden. Damit bleibt das Heil weiterhin von der Gnade Gottes abhängig, ohne daß das nur äußerliche Werk, sogar das der Nächstenhilfe, gezielt zur Selbsterlösung eingesetzt werden könnte. Sondern allein ,aus christlicher Liebe‘ und ,um Gottes willen‘ sind die Werke der Barmherzigkeit nun motiviert. Diese Formeln erscheinen nicht allein regelmäßig in den Kirchenordnungen, sondern auch in nachreformatorischen Testamenten, was die Aufnahme der neuen Lehre eindrücklich bestätigt. Zum Teil wurden solche Willenserklärungen sogar noch in evangelischem Sinne abgeändert. Unmittelbar aus seiner biblischen Theologie also leitete Bugenhagen die Hand lungsmaximen seiner organisatorischen Pläne ab. Beides, Theologie und Organisation, entwickelte er im Laufe seiner reformatorischen Tätigkeit stufenweise fort, wie sich am Vergleich des Hamburger Sendbriefs Van dem Christen louen von 1526 mit dem Tractat von guten Werken von 1543 und mit einschlägigen Passagen dazwischenliegender Kirchenordnungen gezeigt hat. Die angesprochene Alternative von falschem und wahrem Gottesdienst führte auf der organisatorischen Ebene etwa dazu, daß Familien, deren Vorfahren im Rahmen ihrer Jenseitsvorsorge Kapital für Seelgerätstiftungen testiert hatten, nach der Reformation überzeugt werden sollten, das Geld nicht wieder zurückzuziehen, weil es nun erst dem rechten Gottesdienst an den Bedürftigen zugewandt werden könne. Damit wäre der Stifterwille erstmals wirklich erfüllt, und Christus werde die Zuwendung im Jüngsten Gericht so ansehen, daß sie ihm selbst gegolten habe (nach Mt 25). Die eschatologische Relevanz der Spende behielt argumentativ ihr Gewicht. Die zweckgebundene Verwaltung von Stiftungsgut und Liegenschaften, zusätzlich von spontanen Gaben aus den kirchlichen Sammlungen, die ihre äußere Form in der Einrichtung Gemeiner Kästen zum Zwecke der öffentlichen Fürsorge fand, war also ebenfalls ein Ausdruck des neuen Gottesdienstverständnisses. Die zentrale Installation solcher Kästen und sogar ihre ausgesprochen prächtige Darstellung im Bild (Abb. 8) vermögen ihren hohen Stellenwert im Sinne dieses theologischen Wandels sinnfällig zu dokumentieren. Als zweites Beispiel für die unmittelbar theologische Begründung organisatorischer Aufgaben kann aus der Fülle des Dargestellten auf Bugenhagens Pläne zum Diakonat hingewiesen werden. Auf seiner Interpretation des altkirchlichen Diakonats aufbauend, versuchte er, ein Laienamt mit hoher sozialer Verantwortung zu etablieren, das als personifizierter Ausdruck des neuen Gottesdienstverständnisses interpretiert werden kann: Alle Aufgaben der Hilfe am bedürftigen Nächsten (und damit an Christus selbst), die nicht bereits von Einzelnen auf nachbarschaftlichem Wege übernommen werden
VII. Ertrag und Ausblick
437
konnten, sollten fortan gebündelt und vom Rat autorisiert durch diese Männer koordiniert, überwacht und verantwortet werden. Jedem Gemeindeglied war durch Gottes Wort die Hilfe am Nächsten anbefohlen. Es hat jedoch mit Bugenhagens feinem Realitätssinn3 zu tun, daß er von den Christinnen und Christen des Gemeinwesens nicht erwartete, daß damit alle Not beseitigt wäre, denn auch wenn jeder sich um die Seinen kümmern wollte, blieben doch noch viele, die niemanden hätten, während manch einer, der gern helfen würde, bereits überfordert wäre. Deshalb war das Fürsorgekonzept der Kirchenordnungen nicht als Ablösung der Nächstenliebe durch anonymisierte Vergabeverfahren mißzuverstehen, sondern ging ausdrücklich über diejenigen Dienste hinaus, die auf persönlicher Ebene getan werden könnten. In diesem Sinne habe ich von einem ,allgemeinen Diakonat aller Gläubigen‘ gesprochen, insofern stellvertretend einzelne Bürger für solche Dienste ausgewählt, autorisiert und beauftragt, doch später auch öffentlich entlastet und wieder in ihren bürgerlichen Stand zurückgeschickt werden sollten. Sie sollten also nicht erneut in ein exklusiv kirchliches Amt ordiniert werden, sondern ausdrücklich einen ehrenvollen, evangeliumsgemäßen Laiendienst wahrnehmen. Die auch an manch anderem Beispiel belegbare Einheit von exegetisch gewonnener Theologie und strukturellen Veränderungen kann auch heute noch durch die Geschlossenheit ihrer Argumentation überzeugen. Demgegenüber hat sich die Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Soziale Ordnung entschieden, bei der Vorbereitung ihrer Denkschrift Gerechte Teilhabe (2006) ihrer sozialethischen und arbeitsmarktpolitischen Argumentation nur ein äußerst dünnes theologisches Fundament zu geben. Was dort erst an nachgeordneter Stelle als Theologisch-sozialethische Orientierung gekennzeichnet ist, enthält in drei Absätzen einige kaum zusammenhängende Bibelstellen4, die mehr einer Aphorismensammlung gleichen, ohne daß hier die jahrhundertelange exegetische und sozialtheologische Tradition des Christentums auch nur ansatzweise tragende Funktion erhielte. Soll jedoch beispielshalber mit Blick auf die Schwachen am Rande der Gesellschaft eine besondere Würde des Menschen aus seiner Gottebenbildlichkeit abgeleitet werden – ein Weg, den ja etwa Geiler von Kaysersberg, Bucer und Bugenhagen durchaus gegangen sind –, so genügt es nicht, hierfür auf den Schöpfungsbericht hinzuweisen (Gen 1,26 ff), ohne danach auch gleich den Fall des Menschengeschlechts, seine anhaltende Erlösungsbedürftigkeit und schließlich auch seine Wiederaufrichtung durch Jesus Christus mitzubedenken. Im Armen, so hatte es Geiler von Kaysersberg formuliert, „erglestet die bildung ihesu christi“5, erglänzt also das Bild Jesu Christi – weil dieser einmal im Jüngsten Gericht (Mt 25) die Barmherzigkeit an Bedürftigen als Dienst an ihm selbst an3 Vgl. Ernst Kähler: Die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit der Welt im Werk Johann Bugenhagens, in: Evangelische Theologie 19 (1959), S. 453–469. 4 Vgl. Gerechte Teilhabe 22006; S. 43–49; hier nur die Absätze 66, 69 und 72. 5 Geiler von Kaysersberg (1520); fol. LI r°.
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erkennen wird. Anfang und Ende der biblischen Imago-Dei-Lehre dürfen nicht simplifizierend voneinander isoliert werden. Das besondere Profil von Bugenhagens praktisch-theologisch ausgerichtetem Programm beruhte vielmehr darauf, daß er Nächstenliebe geradezu als Christusliebe, Dienst an den Schwachen als Dienst an Christus zum Handlungskriterium des Einzelnen machte6 und hierfür einen institutionellen Rahmen schuf, in dem die Gefahr, daß Menschenwerke den Blick auf Gottes Gnade verstellten, so gering wie möglich gehalten werden sollte. Die bei allem praktischen Optimismus doch realistische Einschätzung des Menschen als eines schwachen, fehlbaren und erlösungsbedürftigen Geschöpfs relativierte bei Bugenhagen jeden Absolutheitsanspruch der von ihm konzipierten Ordnungen. Darin unterschied er sich deutlich vom energischeren Bucer, der eine sittliche Vereinheitlichung des Gemeinwesens unter strenger Kirchenzucht für möglich und sogar geboten hielt.
2. Funktionstüchtigkeit Als zweites Untersuchungsergebnis bleibt festzuhalten, daß Bugenhagens Fürsorgekonzept funktioniert hat. Das konnte zum ersten Mal jedenfalls stichprobenartig durch einschlägige Archivstudien belegt werden. In allen fünf Braunschweiger Weichbilden etwa wurde gleich im Jahr der Kirchenordnung 1528 ein Gemeiner Kasten errichtet und eine gewissenhafte Rechnungslegung begründet, die teilweise kontinuierlich bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt wurde. Die vielfältigen Aufgaben, die damit verbunden waren, koordinierte vom selben Jahr an eine Gruppe von Diakonen in jedem einzelnen Weichbild und folgte hier offensichtlich auch jeweils eigenen, nicht vom Rat vereinheitlichten Maximen bei der Einnahme‑ und Ausgabepolitik. Entsprechendes gilt für die übrigen Städte und Territorien, soweit Akten aus der Frühzeit nach Erlaß der Kirchenordnungen ausgewertet werden konnten. In jedem Fall wird es künftig unzureichend sein, den bloßen Wortlaut einer Kirchenordnung bereits für deren tatsächliche Wirksamkeit zu beanspruchen; die hier dokumentierten Beispiele haben vielmehr gezeigt, daß auf die Überprüfung solcher Folgen nicht verzichtet werden kann, wenn die reformatorischen Vorgänge in den Städten, Territorien und Reichen sachgemäß beschrieben werden sollen. Darüberhinaus war zu sehen, daß auch die Praxis der Armenfürsorge in Norddeutschland in vielen Einzelheiten tatsächlich auf dem theologischen Fundament beruhte, das von Bugenhagen gelegt worden war. Reformatorische Spezifika dürfen nicht als schmückendes Beiwerk landesherrlicher Gesetzgebung abgetan werden, um dann festzustellen, „dass es auf der Ebene der Verordnungen kaum konfessionsspezifische Unterschiede gab, lässt man die Aus-
6
Vgl. Schorn-Schütte 1988; S. 235.
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sagen zur Werkgerechtigkeit einmal unberücksicht.“7 Eine solche Verkürzung – hier in einem Vergleich frühneuzeitlicher Fürsorge‑ und Repressionsmaßnahmen in Nassau und Kurtrier – ist methodisch zumindest heikel, unbeschadet der übrigen Ergebnisse, die dabei gewonnen werden. Auf der Einnahmeseite der Gemeinen Kästen galt es insbesondere die Folgen der Rechtfertigungslehre zu überprüfen: Ob die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung – unbeeindruckt von Bugenhagens motivatorischen Bemühungen – zurückging, weil doch der Mensch allein aus Gnade, ohne Zutun der Werke erlöst werde? Dagegen zeigte sich zunächst, daß die Bilanzen, die ja erst mit den reformatorischen Kirchenordnungen einsetzten, kein Indiz für notorische Finanzknappheit hergaben, oft sogar im Gegenteil von erheblichen Reserven zeugten. Sollte jedoch ein Spendenmangel nach der Reformation dazu geführt haben, daß die Bedürftigen nicht mehr versorgt werden konnten wie zuvor – warum hätte man dann zu deren Nachteil solche Geldvorräte zurückgehalten, statt sie gleich auszuteilen? Es scheint eher, daß der Bedarf an Fürsorgemitteln von einem bestimmten Sättigungsgrad an gedeckt war, so daß dazu übergegangen werden konnte, die Jahresüberschüsse zu einer beachtlichen Sicherheitsrücklage auszubauen. In günstigen Zeiten konnte hieraus ein größerer Betrag für eine Ewigrente investiert werden, die die Kasse auf lange Sicht zu stabilisieren half. Diese gewinnbringende Beteiligung der reformatorischen Armenkassen am Kapitalmarkt hat besonders deutlich gezeigt, daß die oft gestellte Frage nach den Folgen der Rechtfertigungslehre für das Spendenverhalten der Bevölkerung bereits von der falschen Voraussetzung ausgeht, als wären die Gemeinen Kästen vor allem aus spontanen Gaben gespeist worden. Sie sind aber nicht mit Opferstöcken zu verwechseln. Vielmehr bestritten sie den Hauptanteil ihrer Einnahmen durch Liegenschaften und Gerechtsame und durch eine bemerkenswert unproblematische Beteiligung am frühneuzeitlichen Rentenmarkt. Trotz Luthers heftiger Kritik an ,Zinskauf ‘ und ,Wucher‘ blieb der Rentenhandel die einzige Möglichkeit, eine Kasse langfristig und unabhängig von agrarwirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Risiken zu stabilisieren, weil andere vorreformatorische Finanzierungsformen – der Ablaßhandel z. B. – aus theologischen Gründen ausfielen. Die Quellen bezeugen generell ein unkompliziertes Verhältnis zu frühmodernen Formen gewinnorientierter Betriebswirtschaft – neben dem Rentenhandel und der kaufmännischen Rechnungsführung vor allem unternehmerische Produktions-, Verkaufs‑ und Dienstleistungsstrategien, wie sie am Beispiel der Spitalökonomie im pommerschen Stolp angeklungen sind. Die institutionelle Kontinuität mittelalterlicher Spitäler bis in die Gegenwart hinein verdankt sich auch dem Umstand, daß die Kirchenordnungen zwar ihre 7 Sebastian Schmidt: „Gott wohlgefällig und den Menschen nutzlich“. Zu Gemeinsamkeiten und konfessionsspezifischen Unterschieden frühneuzeitlicher Armenfürsorge, in: Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit (hg. v. dems. u. Jens Aspelmeier). Stuttgart 2006 (VSWG.B 189), S. 61–90; hier 86.
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Beschaffenheit, Ausstattung und geistliche Versorgung regelten, ihre ökonomische Selbständigkeit und Selbstverantwortung jedoch weitgehend respektierten, so daß die Reformation in manchen Fällen nicht einmal in den Akten merkliche Zäsuren verursachte. So wurde das Braunschweiger Goddeshuse Register von 1412 bis 1572 ununterbrochen fortgeführt. Die Fähigkeit zur Anpassung und zum wiederholten Funktionswandel8 hat sich auch in diesem Fall geradezu als Bedingung für die jahrhundertelange Spitalgeschichte erwiesen. In Schleswig-Holstein und Dänemark-Norwegen, wo die Bestimmungen zur öffentlichen Fürsorge weniger präzis angelegt waren als in den Städten, nahmen die Spitäler zumeist auch nach der Reformation die Funktion zentraler Fürsorgeinstitute ein, ohne daß sie neuzugründenden Gemeinen Kästen untergeordnet wurden. Wie mit den vergleichsweise unspezifischen Fürsorgebestimmungen für das Territorium dann im Einzelfall umgegangen wurde, hat sich am Beispiel der Landstadt Kiel gezeigt, wo vorreformatorische Stiftungsformen zum Teil ohne Änderung weiterbestanden, anderseits aber auch die Spitäler mit ihrer reichen Ausstattung an Grundbesitz und Gerechtsamen weitergeführt und von Bürgermeister und Rat sogar vehement gegen den Zugriff des Landesherrn verteidigt wurden. Überhaupt muß, abgesehen von solchen Einzelfällen, das große Interesse der weltlichen Obrigkeit am Funktionieren der öffentlichen Fürsorge festgehalten werden. Nicht nur am Kieler Armengüterstreit, sondern auch am juristischen Einsatz des Königs und Herzogs Christian III. zugunsten der Fürsorgeinstitute und schließlich auch am Protest pommerscher Stadträte und Bürgermeister gegen eine Einzelbestimmung der dortigen Agende von 1569 hat sich deutlich erwiesen, daß weltliche Obrigkeiten ihrer „Fürsorgepflicht“9 zugunsten des sozialen Friedens offenbar wirklich nachkamen. Demgegenüber konnten Anzeichen für eine gezielte Instrumentalisierung der Fürsorgeeinrichtungen in sozialdisziplinatorischem Interesse nicht entdeckt werden – jedenfalls nicht in Bugenhagens direktem Wirkungsbereich und im Untersuchungszeitraum bis ungefähr 1600. In Skandinavien entwickelten sich die Verhältnisse anders. Darauf ist gleich noch einmal zurückzukommen. Die Leistungsfähigkeit von Bugenhagens Fürsorgemodell muß also territorial differenziert werden. Das gilt noch einmal besonders für den Diakonat. Während aus Braunschweiger und Stolper Akten hervorging, daß die dortigen Diakone sich tatsächlich als engagierte Anwälte der Armen und Kranken betätigten, nahmen die Hamburger und Lübecker Diakone ihre fürsorglichen Aufgaben sehr viel reservierter wahr – in Hamburg lag dies an der politischen Rolle, die dieses Amt von Anfang an auszeichnete, und die bald ganz in den Vordergrund drängte, in Lübeck an der drastischen Reduktion des Fürsorgekonzepts nach der Niederlage von Bürgermeister Wullenwever. Paradoxerweise besteht ausgerechnet das Kollegium der Oberalten zu Hamburg bis heute fort, nachdem es sich seit 1860 wieder 8 9
Vgl. Matheus 2005; S. X. Schorn-Schütte 1988; S. 256.
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verstärkt den wirklich diakonischen Aufgaben zugewandt hat. Doch wo der Diakonat gleich umgesetzt wurde wie geplant, hat sich eine bemerkenswert eigenverantwortliche, flexible und konziliante Amtsführung gezeigt, die kaum geeignet gewesen sein dürfte, sozialdisziplinatorische Interessen der weltlichen Obrigkeit zu bedienen. In beiden Städten orientierten sich die Diakone offenbar weitgehend an Bedarf und Bedürftigkeit, stets gedeckt und entlastet von den Stadtherren. Die in großer Zahl überlieferten Akten geben darüber beredt Auskunft.
3. Öffentlichkeit Von ,Diakonie‘ wurde in der Untersuchung viel seltener gesprochen als von ,öffentlicher Fürsorge‘. Das hat verschiedene Gründe und erklärt sich nur teilweise daraus, daß der evangelische Diakoniebegriff, dessen heutige Bedeutung im 19. Jahrhundert geprägt wurde, kaum vorbehaltlos auf frühere Epochen übertragen werden kann – auch nicht rückschlußartig auf die Zeit des Neuen Testaments, aus dem er hergeleitet ist. In jüngster Zeit ist die schillernde Semantik der Wortgruppe diakon‡a ktl wiederholt Gegenstand der exegetischen Forschung gewesen, die das frühere, vorrangig sozialkaritative Begriffsverständnis in verschiedene Richtungen korrigiert hat.10 Wenn allerdings die Reformatoren den neutestamentlichen und frühkirchlichen Diakonat für die soziale Umgestaltung der evangelischen Gemeinwesen beanspruchten, so geschah dies in erster Linie als Absage an die mittelalterliche Praxis, wonach der Diakonat nurmehr einen Weihegrad in der priesterlichen Ämterhierarchie repräsentierte, und erst in zweiter Hinsicht konstruktiv als exegetischer Rückgriff auf die Quellen. Wie auch die ursprüngliche ,Aufsicht‘ durch Bischöfe, so sollte der ursprüngliche ,Dienst‘ durch Diakone wiederhergestellt werden. Abgesehen davon, daß auch Bugenhagens Interpretation deren sozialkaritative Rolle in den Vordergrund stellte, erstaunt doch, daß er in seiner Dienstbeschreibung zweien der heutigen Interpretationen des neutestamentlichen Begriffs di›kono" als ,Vermittler‘ (Collins) und als ,Beauftagter‘ (Hentschel) schon sehr nahe kam, und daß die tatsächliche Amtsführung – soweit die Braunschweiger und Stolper, teils auch die Hamburger Überlieferungen hierüber Auskünfte geben – diesen Vorstellungen auch folgte. So könnte doch unabhängig von den definitorischen Entscheidungen des 19. Jahrhunderts einiges dafür sprechen, den Diakoniebegriff auch für die Reformationszeit zu verwenden. Dennoch wurde der Ausdruck ,öffentliche Fürsorge‘ bevorzugt und hat sich im Laufe der Untersuchung auch bewährt, weil er deutlicher erkennen läßt, 10 Vgl. John N. Collins: Diakonia. Re-interpreting the Ancient Sources. New York u. Oxford 1990. – Anni Hentschel: Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung von Frauen. Tübingen 2007 (WUNT II, 226).
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daß es sich bei den hiermit bezeichneten Aufgaben um eine Angelegenheit des ganzen christlichen Gemeinwesens handelte. Zu Beginn hatte ich darunter alle diejenigen Formen des Nächstendienstes verstanden, die in einer christlichen Gemeinde auf die eine oder andere Weise verabredet und geordnet werden müssen. Was nach Bugenhagen von Einzelnen im Rahmen privater Nächstenliebe nicht geleistet werden könnte, sollte zusammen mit allen anderen Aufgaben des neuzuordnenden Kirchenwesens künftig eine Sache der ganzen ,Öffentlichkeit‘ werden. Wie sich erwiesen hat, war damit keine Säkularisierung der Armen‑ und Krankenfürsorge, der Seelsorge und anderer Dienste an den Schwachen und Bedürftigen bezeichnet, indem die ,Kirche‘ solche Funktionen an den ,Staat‘ abgetreten hätte. Vielmehr konnte gezeigt werden, daß dieser Prozeß geradezu als Sakralisierung des ganzen Gemeinwesens begriffen wurde, insofern die weltlichen Träger dieser Umgestaltung, die Stadträte und Fürsten, einzig im Auftrag der christlichen Gemeinde und auf der alleinigen Grundlage des Evangeliums handeln sollten. Die Einheit von Theologie und Ordnung mochte in dieser Hinsicht garantieren, daß die sozialen Aufgaben, die künftig von den weltlichen Obrigkeiten verantwortet werden sollten, nicht als beliebig isolierbare Einzelprobleme ordnungspolizeilicher Art mißverstanden wurden, sondern als Teilbereiche von Gottes Ordnung, als unmittelbare Ausführung dessen, was aus seinem Wort für die Menschen folgt. Das Beispiel König Christians III. hat idealtypisch gezeigt, daß ein weltlicher Herrscher sich diesem Modell eines evangelisch sakralisierten Reichs auch einzufügen vermochte, etwa indem er sich in Gerichtsverhandlungen stets eindeutig für den Verbleib von Seelgerätstiftungen bei den Fürsorgeinstituten aussprach und die Zugriffsmöglichkeiten des Adels auf solche Güter empfindlich einschränkte. Wie ich am Schluß der Studie in einer letzten Ausweitung des Fürsorgebegriffs dargetan habe, konnte sogar die kirchenorganisatorische Umgestaltung des Gemeinwesens in allen ihren Teilbereichen, ja auch als Ganzes, im Sinne eines fürsorglichen Aktes interpretiert werden, der von den weltlichen Obrigkeiten auf das Wohl der ,armen‘, ,elenden‘ und ,zerstreuten‘ Christen gerichtet war, indem ihnen gerechte Teilhabe am lebensnotwendigen Evangelium verschafft und erhalten werden sollte. Anderseits hielt Bugenhagen auch nachdrücklich an Luthers Zwei-Regimenten-Lehre fest, wie am Umgang mit Kriminellen und der Anwendung des kirchlichen Banns deutlich zu sehen war. Die Sakralisierung erstreckte sich daher auf die Mitglieder des Gemeinwesens, soweit sie Christinnen und Christen waren, nicht jedoch in einem theokratischen Sinne auf ihre Ämter, Aufgaben und Lebensbezüge in der Welt, die stets noch ihr eigenes Gesetz mit eigenen Sanktionen hatte. Gleichwohl bekam auch die Armen‑ und Krankenfürsorge, besonders das Amt der Diakone, politische Dimensionen. In dieser Hinsicht führte die Hamburger Diakonatsverfassung besonders weit. Die Reformation in der Hansestadt ist institutionell geradezu von den Gemeinen Kästen und ihrem Personal aus in die Wege geleitet worden, indem sich nach der Nikolaigemeinde auch die übrigen
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Hamburger Kirchspiele dem neuen System anschlossen und sich hiermit eine Verfassung gaben, die den zu Diakonen bestimmten Bürgern tragfähige Mitspracherechte neben dem Rat eröffnete. In diesem Sinne hat Frank Hatje die hansestädtische „Armenfürsorge als Politikum“ gekennzeichnet.11 Während sich in Lübeck und anderen Städten eine solche Interessenvertretung unabhängig vom Diakonat konstituiert hatte und dann in der Regel an prominenter Stelle ihrer reformatorischen Programme die Einrichtung Gemeiner Kästen forderte, gewann die reformatorische Bewegung in Hamburg also bereits von den Gemeinden und ihren Fürsorgeeinrichtungen her eine politische Funktion, die später nicht nur beibehalten wurde, sondern sogar immer stärker dominierte. Bugenhagen konnte bereits auf das funktionierende System aufbauen, als er zur Gestaltung seiner Kirchenordnung in Hamburg war. Eine letzte Perspektive des Begriffs ,öffentliche Fürsorge‘ tut sich im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser politischen Verknüpfung auf: Ein Streben nach ,reformatorischer Öffentlichkeit‘, wie sie von Rainer Wohlfeil12 erläutert wurde, konnte im Laufe der Untersuchung an verschiedenen Teilaspekten von Bugenhagens Fürsorgemodell herausgestellt werden. Daß der Öffentlichkeitsbegriff hier keine Desakralisierung, keine Verstaatlichung bezeichnet13, konnte bereits gezeigt werden. Er vermag jedoch die umfassende Außendarstellung der Vorgänge, die mit den Gemeinen Kästen, ja generell mit dem reformatorischen Fürsorgewesen zusammenhingen, in allen Varianten ihrer Verbreitung, Plausibilisierung und Akzeptanzförderung zu beschreiben – im Sinne des ,Offenbaren‘, desjenigen, was für jedermann in der Gemeinde klar und einsichtig sein sollte. Hierzu gehörte, daß die Gemeinen Kästen ,offenbar‘ in jeder Kirche stehen sollten. Unter aller Augen sollte das Geld hineingesteckt werden, das in den Gottesdiensten eingesammelt worden war. Zu den Spenden konnten die Prediger, deren besondere motivatorische Rolle für die Anwerbung von spontanen Gaben und Vermächtnissen deutlich zur Sprache kam, bedenkenlos aufrufen, ohne in den Verdacht zu geraten, in die eigene Tasche zu wirtschaften, denn ihrerseits wurden sie aus dem Schatzkasten besoldet, der eigenen öffentlich kontrollierten Gesetzmäßigkeiten unterworfen war. Auch zu den Rechenschaftssitzungen sollte von den Kanzeln her eingeladen werden, und wer dazu kommen mochte, dem sollte die Tür offen stehen. Diese Rechenschaftsberichte führten zur Entlastung der Diakone durch die Vertreter der Gemeindeöffentlichkeit – in der Regel durch den Rat, bisweilen zusätzlich durch den Superintendenten. In den Hansestädten sah Bugenhagen darüberhinaus eine ständige Kontrolle, aber auch politische Hilfestellung durch Verbindungsleute des Rates vor, so daß auch in dieser Hinsicht die ,Öffentlichkeit‘ des Fürsorgesystems einen engen Bezug zur politischen Ver11
Hatje 2002 b. Wohlfeil 1984. 13 Vgl. auch Hatje 2002 b; S. 74. 12
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fassung bekam. Zur ,reformatorischen Öffentlichkeit‘ gehörte ferner, daß eine verbreitete Akzeptanz der Priesterehe wie auch generell eine Aufwertung des Ehestandes präventiv vor heimlichen Buhlschaften, vor Unzucht und Vergewaltigung schützen sollten. Und wenn schließlich eine Hebamme, die jetzt den Status eines evangelisches Gemeindeamtes innehaben sollte, in der Not ein Kind getauft hatte, das dann überlebte, so war die Taufe im Gemeindegottesdienst mit den Paten zu bestätigen, aber keinesfalls zu wiederholen und das Kind auch nicht zu exorzieren. Eine Privatisierung diakonischer Aufgaben, ein Rückzug oder eine Verdrängung aus der Gemeindeöffentlichkeit, wie heute bisweilen beklagt wird, würde aus reformatorischer Perspektive eine deutliche Schwächung organisierter Nächstenliebe bedeuten – und damit eine Schwächung des ganzen christlichen Gemeinwesens. Daß hingegen „alle diakonischen Einrichtungen und Dienste“ in absehbarer Zeit „in einer definierten Kooperations‑ bzw. Partnerschaftsbeziehung zu den Kirchengemeinden bzw. Kirchenbezirken ihrer Region“ stehen werden, kann darum heute zurecht ein realistisches Zukunftsziel sein.14
4. Reformation für Frauen und Mädchen Als besondere Leistung Bugenhagens ist sein Bestreben zu würdigen, die Rechte von Frauen und Mädchen zu heben und sie zugleich im Rahmen einer christlichen Gemeinde aus Brüdern und Schwestern in selbstverständlicher Weise in die Pflicht zu nehmen. Gewiß, auch aus seiner Sicht neigten viele Frauen zu Klatschsucht und Verschwendung, weshalb man bei der Auswahl geeigneter Diakone stets auch auf den Charakter ihrer Ehefrauen zu achten hätte. Das öffentliche Laienamt sollte durch die Möglichkeit privater Interessen und Konflikte so wenig wie möglich beeinträchtigt werden. Doch solche Warnungen galten auch für die Diakone selbst. Insofern dürfen Bugenhagens Vorbehalte gegen ,böse Weiber‘ nicht einseitig als Zeugnisse persönlicher Misogynie gewertet werden. Wie sich aber im Laufe der Untersuchung gezeigt hat, führte ein ausgesprochen scharfer Blick für die geschlechtsspezifischen Probleme von Frauen und Mädchen jeden Alters und Standes dazu, daß er in allen Teilen seiner Kirchenordnungen gezielt darauf bezug nahm. Einige Beispiele seien hier noch einmal zusammengetragen. Von den Fürsorgebestimmungen im engeren Sinne, wo stets auch selbstverständlich von der Hilfe an armen Jungfrauen und der Versorgung von Witwen und Waisen die Rede war, braucht vorerst nicht gesprochen zu werden. Was zunächst die Rechte betrifft, so konnte an einer Reihe neuer Bestimmungen zum weltlichen Eherecht gezeigt werden, daß Bugenhagen wirklich an einer juristischen Gleichbehandlung der Partner gelegen war. So war bei Ehebruch der 14 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD. Hannover 2006; S. 83.
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unschuldige Partner, unabhängig vom Geschlecht, unbedingt zu schützen und konnte, wenn keine Hoffnung auf Wiederkehr des Ehebrechers bestand, auf eine Scheidung rechnen. Gegen die Adaption klassischer Bibelstellen (Mt 19,6; 1 Kor 7,10) auf weltliches Recht brachte Bugenhagen vor, daß der Teufel das Paar bereits geschieden habe und es nun vielmehr darauf ankomme, den Hilfsbedürftigen beizustehen. Das schloß die Verpflichtung zu engagierten Vermittlungsversuchen nicht aus. Auch mit seiner Ablehnung von Eheschlüssen ohne Einwilligung der Eltern, später auch des Konsistoriums, widersprach er der kanonischen Rechtspraxis, weil sie einer Entführung von Jungfrauen aus dem Elternhaus Tür und Tor öffnen würde. Ein öffentliches Aufgebot wurde in den reformatorischen Kirchen dementsprechend früher eingeführt als in der römisch-katholischen. Und schließlich muß daran erinnert werden, daß Bugenhagen auch die Abläufe damaliger Zwangsprostitution kannte und in Hamburg dagegen protestierte, daß ein vergewaltigtes Mädchen in einem Bordell weiterleben mußte, wo man ihre erstmalige Entehrung profitabel ausnutzte. Nicht nur die unmittelbar Verantwortlichen, sondern auch diejenigen, die das billigten, seien zu bestrafen – ein klares Wort an den Rat. Generell war ihm also am Schutz Unschuldiger und Schwacher vor sexueller Gewalt gelegen. Überdies setzte er in den skandinavischen Kirchenordnungen sogar durch, daß Frauen, die versehentlich im Schlafe ihre Kinder totgedrückt hatten, mit Buße und Absolution beim Superintendenten und einer Geldstrafe davonkommen könnten. Damit ging er weit über den Vorschlag der dänischen Theologen hinaus, die freilich schon in recht konzilianter Weise von der unterschiedslosen Anwendung weltlichen Rechts abgesehen hatten, wo grausame Strafen vorgesehen waren und auch praktiziert wurden. Der seelsorgerliche Zug, der in diesen und anderen Bestimmungen zum Tragen kam, und der verständnisvolle Umgang mit den inkriminierten Frauen fügen sich nahtlos in Bugenhagens Fürsorgekonzeption unter dem Primat der Liebe vor dem geschriebenen Recht. Und schließlich ist auf Bugenhagens Haltung zu den Jungfrauenklöstern hinzuweisen, die gleichfalls zeigt, daß er sich der geschlechtsspezifischen Probleme ihrer Bewohnerinnen durchaus bewußt war. Während es nämlich unter Mönchen schon in der Frühzeit der Reformation zu einem buchstäblichen ,Klosterlaufen‘ kam, verließen Nonnen ihre Konvente viel zögerlicher, weil sie ohne Arbeit und ohne Heirat keine Aussicht auf soziale Sicherung hatten. Oft mußten sie zu den Eltern zurückkehren. Bugenhagens Hamburger Flugschrift Wat me van dem Closter leuende holden schal war dementsprechend „aller meyst vor de armen kyndere de me Nunnen nmet edder Begynen“ konzipiert und argumentierte gerade von den Eltern aus, damit sie „betrachten mogen wat se yeghen ore sulke kyndere schuldich synt tho donde.“15 Darüberhinaus galt es 15 Bugenhagen: Closter leuende 1529 (1982); fol. A1 v°. – Übertragung: ,… hauptsächlich für die armen Mädchen, die man Nonnen nennt oder Beginen‘ – ,… auf daß sie betrachten, was sie diesen ihren Kindern zu tun schuldig sind.‘
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in der Hamburger Ordnung als allgemeine Christenpflicht, diesen Frauen und Mädchen besonders beizustehen. Die reformatorische Abkehr vom Mönchtum bedeutete in der Praxis freilich auch, daß mit den Klöstern fast die einzigen weiblichen Bildungsstätten aufgegeben wurden, die es bis dahin gegeben hatte, während Latein‑ und Elementarschulen für Jungen schon verbreiteter waren. Das ist der Hintergrund von Bugenhagens verstärktem Engagement für die Einrichtung von Mädchenschulen in den Städten. Wie zu sehen war, sollte das städtische Bildungswesen insgesamt dem Wohl und Nutzen des Gemeinwesens dienen, indem es ihm über viele Generationen hinweg sowohl Humanität als auch Christianität zu stärken und zu bewahren helfe. Insofern habe ich auch die Reformation des Schulwesens als Teilaspekt fürsorglichen Handelns der Obrigkeit an der Bevölkerung interpretiert, was indes eine Beschränkung auf einzelne Eliten ausgeschlossen hätte. Vielmehr sollten alle Stände und beide Geschlechter in Stadt und Land von der christlichen Humanitas profitieren und hieraus auch in die Pflicht genommen werden können. Die gültige Rollenverteilung von Mann und Frau stellte dabei auch Bugenhagen nicht zur Debatte, doch ist es umso bemerkenswerter, daß er für die Lese‑ und Schreibfähigkeit von Mädchen geradezu mit ihrer künftigen Mutter‑ und Hausfrauenrolle argumentierte: Ihr Unterricht sollte täglich in wenigen Schulstunden und gleichfalls in der häuslichen Erziehung durch die Mütter bestehen. Aus Mädchen, die lesen und schreiben könnten und damit für die Aufnahme und Beurteilung von Gottes Wort nicht weiter auf die Vermittlung durch Dritte angewiesen wären, würden nämlich auch einmal fromme Mütter, die ihre Töchter und Söhne wie auch das Gesinde wiederum aus eigener Kompetenz zur Gottesfurcht erzögen. So führten die Frauen also geradezu im Sinne eines allgemeinen Priestertums das geistliche Regiment im Hause, von dem die Stabilität der christlichen Gesellschaft über Generationen garantiert werden könne. Daß gebildete und urteilsfähige Frauen umso stärker in die Pflicht genommen werden könnten, dafür aber jetzt auch öffentlich autorisiert wären, hat sich besonders an der Reformation des Hebammenwesens gezeigt, dem auffälligsten Feld von Bugenhagens frauenspezifischen Fürsorgebestimmungen. Der evangelische Dienst an schwangeren und gebärenden Frauen verband sich hier mit einer Aufwertung des Hebammenberufs zu einem kompetenten Gemeindeamt mit poimenischen und sakramentalen Funktionen. Das originelle Programm hat in dieser Weise kein Vorbild. Schon die Prominenz des Hebammendienstes innerhalb mancher Kirchenordnungen und Bugenhagens immer wieder betonte Sorge um die Schwangeren zeigen, daß es für ihn um eine zentrale reformatorische Aufgabe ging. Insbesondere war dafür zu sorgen, daß die Hebammen gut zu erreichen wären und so bezahlt wurden, daß sie sich zu kostenlosem Dienst an Armen verpflichten könnten. Statt als notorisch verdächtige Randgruppe sollten diese Frauen fortan regelrecht als evangelische „Karckenn
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Denerynnenn“16 betrachtet werden, analog zu den männlichen Kirchendienern, und in diesem Sinne über die bislang tradierten Aufgaben hinaus auch geistliche Aufgaben wahrnehmen. Hierfür sollten sie bei den Superintendenten oder anderen Predigern entsprechend belehrt werden, womit obrigkeitliche Aufsicht, aber auch Autorisation und Legitimation verbunden wurden. Zu den vielfältigen seelsorgerlichen Kompetenzen, die die Hebammen fortan auszeichnen sollten, gehörte es, die werdenden Mütter vom Evangelium aus über Schmerzen und Anfechtungen während der Schwangerschaft hinwegzutrösten und ihnen vor allem die Furcht zu nehmen, daß ein ungetauft versterbendes Kind für Gott verloren wäre. Vielmehr entwickelte Bugenhagen aus der Rechtfertigungslehre ein Begründungsmodell, das es ermöglichte, das Kind schon im Mutterleib dem Herrn im Gebet herzlich anzubefehlen und darauf zu vertrauen, daß er es in der Not aus Gnade annehmen werde wie das getaufte Kind. Falls auch das Neugeborene noch in Gefahr schwebte, so war es dann durch die Hebamme gültig zu taufen – nicht vorher (also keine Taufe in utero oder in partu), aber auch nicht noch einmal danach (also keine Wiedertaufe). An den regelmäßig durch Frauen vollzogenen Taufen, so lautete Bugenhagens immer wieder vorgebrachte Regel, gab es nichts zu verbessern. Die Taufkompetenz der Frauen verteidigte er in Flugschriften gegen jede Polemik – doch behielt er sie ausdrücklich Notfällen vor. Das „Mulier taceat“ (1 Kor 14,34) galt auch für ihn ohne Zweifel. Dennoch war die Inanspruchnahme und gleichzeitige Aufwertung dieses weiblichen Gemeindeamtes mit diakonischem, poimenischem und sakramentalem Sachverstand ein bemerkenswerter Schritt, der neuerdings auch in der historischen Geschlechterforschung gewürdigt wird.17 Soziale Aufwertung von benachteiligten Frauen durch Inpflichtnahme für soziale Dienste, diese beiden Seiten verbanden sich schließlich auch in einem Konzept für die Krankenfürsorge, das Bugenhagen für die drei Städte Braunschweig, Hamburg und Lübeck entwarf. Besuche bei Kranken waren zunächst jedem einzelnen Gemeindeglied anbefohlen und schlossen im Sinne eines allgemeinen Priestertums stets auch Seelsorge, Beichte und Absolution ein – auch durch Laien. Dies empfahl 1527 sein Underricht deren, so yn kranckheyten und tods nöten liegen. In den Kirchenordnungen baute er den Laiendienst an Kranken institutionell aus, indem er vorschlug, bedürftige Spitalbewohnerinnen für Seelsorge und Pflege an Kranken heranzuziehen, sofern solche Frauen dazu geeignet wären. Sie bekämen solche Dienste von Angehörigen oder notfalls aus dem Gemeinen Kasten bezahlt, so daß sie nicht umsonst arbeiten müßten. Wer zu schwach wäre, könne freilich zu diesen Diensten nicht gezwungen werden, doch Frauen, die sich verweigerten oder die Arbeit behinderten, obwohl sie dazu imstande wären, sollten ihre Unterstützung verlieren. Damit war ein erheblicher 16 17
Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (1976); S. 122. Vgl. etwa Gause 2006; S. 127–137.
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Anreiz verbunden, sich durch die Beteiligung an fürsorglichen Aufgaben selbst ein Zubrot zu verschaffen, das sicher mit erhöhter Anerkennung verbunden war. Insofern zielte der Vorschlag auf doppelte Hilfe ab. Daß Bugenhagen vorrangig an Frauen dachte, wird neben ihrer tradierten Rollenzuschreibung vor allem darauf beruhen, daß Armut in der Frühen Neuzeit primär ein weibliches Problem war. Das haben die Akten deutlich gezeigt. Bugenhagens besonderes Augenmerk auf die geschlechtsspezifischen Probleme von Frauen und Mädchen trug diesem Umstand mit organisatorischen Vorschlägen Rechnung, die in solcher Dichte, aber auch in ihrer steten Verknüpfung mit seiner charakteristischen Theologie einen einzigartigen Stellenwert unter den Kirchenordnungen einnehmen. In solchen Bestimmungen wie etwa zum Hebammendienst werden, wie Ute Gause bilanziert, ein „genuin protestantisches Interesse und eine Wertschätzung sichtbar, die nicht unter dem Begriff der Domestizierung subsummiert werden kann. In diesem Sinne gab es eine Reformation innerhalb der Seelsorge für protestantische Frauen“18.
5. Primat christlicher Liebe „Ouersth de christlyke leue schall doch alweghe meyster synn.“19 So schloß Bugenhagen seine Ratschläge zum Umgang mit Schuldnern ab – ein generelles Entscheidungskriterium, dessen Tragweite die Einzelbestimmungen seiner Kirchenordnungen keineswegs aufheben, sie aber in den rechten Maßstab bringen sollte. Den Primat christlicher Liebe vor dem geschriebenen Recht habe ich daher als Schlüssel zum differenzierten Verständnis seines gesamten Fürsorgemodells bezeichnet. Vorgeprägt war diese Haltung möglicherweise schon in Treptow-Belbuck, wo er auf seine Frage nach einem christlichen modus vivendi von Luther zur Antwort erhielt: „Vere Christianus non indiget praeceptis morum. Fidei enim spiritus ducit eum ad omnia quae deus vult et fraterna exigit caritas.“20 Diese Regel, die ihre Regelhaftigkeit gerade nicht aus einem strengen Gesetzescharakter, sondern aus der Freiheit eines Christenmenschen bezog, scheint ein Leitmotiv für Bugenhagens theologische Arbeit im Ganzen geworden zu sein. Ihr entsprach nicht allein, daß der Liebe stets Vorrang vor dem geschriebenen Recht und dem Buchstaben der Kirchenordnung gebühren sollte, sondern bereits auf der theologischen Seite, daß die gläubigen Kinder Gottes, aufgerichtet durch das erlö18
Gause 2006; S. 149. Bugenhagen: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 224. – Übertragung: ,Aber die christliche Liebe soll doch stets Meister sein.‘ – Vgl. auch ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); 161. 20 Bugenhagens Briefwechsel (1966); S. 8, Nr. 3. – Übersetzung: ,Der Christ braucht wirklich keine Moralgebote! Der Geist des Glaubens führt ihn nämlich zu allem, was Gott will und brüderliche Liebe fordert.‘ 19
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sende Wort des Evangeliums, auch wirklich zu Guten Werken gemäß dem Gesetz Gottes imstande wären. Diesen Optimismus hat Bugenhagen im Unterschied zu Luther nie aufgegeben, ihn sogar im Fortgang seiner theologischen Arbeit noch erheblich verstärkt. Von ihm zeugt das allgemeine Zutrauen auf Liebesfähigkeit und Vergebungsbereitschaft aller Mitglieder des christlichen Gemeinwesens, und zwar ganz besonders im Hinblick auf deviante, fremde, kriminelle und auf altgläubige Personen. Bugenhagens anspruchsvolle Erwartung auf tätige Nächstenliebe richtete sich also gerade nicht exklusiv auf den Kreis jener Nächsten im Gemeinwesen, mit denen ohnehin Einverständnis herrschen würde, sondern ging deutlich über diese Einstimmigkeit hinaus. Eine Vereinheitlichung der Stadtgesellschaft als Christengemeinde desselben Schlages, so wie sie Martin Bucer anstrebte, lag nicht in Bugenhagens Interesse. Auf den freundlichen Umgang mit solchen eher problematischen Gruppen sollen die folgenden Beispiele konzentriert bleiben, um noch einmal das Gewicht von Bugenhagens Liebesforderung zu verdeutlichen: So definierte er zwar in der üblichen Weise den unterstützungsberechtigten Kreis Hausarmer, die in der Stadt ansässig sein sollten, durch ihre ausgesprochene Erwerbsunfähigkeit, wünschte auch einen rechtschaffenen Lebenswandel und ordnete an, daß sie bei den Diakonen durch bekannte Bürgen angezeigt würden, verwandte jedoch auf die weitere Eingrenzung solcher Verhaltensnormen auffällig geringe Anstrengungen. Darin unterschieden sich seine Kirchenordnungen signifikant von den stärker ordnungspolizeilichen Armenordnungen und Bettelverboten Südwestdeutschlands, sogar den dortigen Kirchenordnungen, wo normabweichendes Verhalten in der Regel genau definiert und teils drakonisch bestraft werden sollte. Schließlich, so argumentierte Bugenhagen, sollten sich die Schwachen ihre Zuwendungen nicht verdienen, anders als das kirchliche Personal, sondern allein aus christlicher Liebe müsse man ihre Not ansehen. Daher war es für ihn auch denkbar, daß bisweilen solche Personen Unterstützung bekamen, die nicht in die einschlägigen Normkategorien hineinpaßten, die aber doch Not litten und eben deshalb christlicher Hilfe bedürftig wären. Dasselbe galt für Fremde: Zwar sollten die Leistungen des Gemeinen Kastens nach dem üblichen Heimatprinzip in aller Regel auf die Bedürftigen der eigenen Stadt gerichtet sein, doch wenn Durchreisende in der Stadt erkrankten, sollte man sie als von Gott zugewiesen erkennen, und auch falls sonst einmal ein Fremder etwas bekam („id were gelt / hasen edder schoh“21), dann sollte es so genau nicht genommen werden – vorausgesetzt, den eigenen Armen ginge dadurch nichts ab. Die Akten haben gezeigt, daß man solchen Vorschlägen auch ganz unproblematisch folgte. Innerhalb der Stadt Braunschweig sollte durch die Monopolstellung des neuen Fürsorgesystems zwar der Bettel eingestellt wer21 Ders.: Braunschweiger Ordnung 1528 (1912); S. 146. – Übertragung: ,… sei es Geld, seien es Hosen oder Schuhe …‘ – Ähnlich ders.: Hamburger Ordnung 1529 (21991); S. 226. – Ders.: Lübecker Ordnung 1531 (1981); S. 162. – Ders.: Hildesheimer Kirchenordnung 1542 (1980); S. 878.
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den, weil eine Doppelbelastung der Bürger – durch individuelles Almosen wie auch Gaben an den Gemeinen Kasten – schlechterdings nicht zu plausibilisieren gewesen wäre. Aber bis die neuen Armeninstitute eingespielt wären, mochte auch der Straßenbettel weiter geduldet werden. Die Braunschweiger Bettelordnung von 1550 und das Hamburger Armenexamen vom selben Jahr belegen auch, daß anstelle von Bestrafung tatsächlich zunächst mit dem Versuch einer humanitären Verbesserung, mit freundlichen Ermahnungen und mit Übergangslösungen operiert wurde, statt die Bettler jäh zu kriminalisieren. Die geplante und auch praktizierte Versorgung altgläubiger Mitbürger fügt sich nahtlos in diesen Kontext ein: Auch wenn man ihren Glauben nicht teilte, galt ihnen gegenüber doch: „ydt ga sůs edder so / myt der leue do wy recht vnde Christelyck.“22 Daher war für Bugenhagen selbstverständlich, daß das Klosterpersonal je nach individuellen Möglichkeiten und Wünschen entweder in den Konventen weiterversorgt oder beim Verlassen mit einer guten Summe abgefunden werden müßte. Auch dies ist in der Regel so gehalten worden. Was den Umgang mit Kriminellen und anderen Sündern betraf, so zeigte sich unterschiedslos derselbe Vorrang der christlichen Liebe – trotz oder gerade wegen der Abweichungen, die die Gemeinde inhaltlich nicht zu billigen brauchte, um doch ihre Not anzuerkennen. Juristisch harmlos war noch die Duldsamkeit mit Schuldnern des Gemeinen Kastens, die nach Bugenhagens Empfehlungen auch entsprechend weitherzig gehandhabt wurde, statt die Rückstände in jedem Fall einzutreiben. Doch auch in schwereren Fällen konnte im Einzelfall die christliche Liebe Anwendung finden: Wenn Totschläger sich üblicherweise zunächst mit der Gegenpartei verglichen haben mußten, um wieder zum Abendmahl gehen zu dürfen, so galt auch hier, daß Ausnahmen möglich wären, sofern sie keinen Präzedenzstatus bekämen. Die strafrechtliche Seite blieb davon unberührt. Anders war es bei der konzilianten Praxis, die Bugenhagen für Mütter empfahl, die versehentlich ihre Kinder totgedrückt hatten. Betonten die dänischen Theologen noch, daß sie unter das weltliche Recht gehörten, so war in Bugenhagens Version keine Rede mehr davon – sondern ausschließlich von Seelsorge. Was die rechtsgültig zum Tode verurteilten Verbrecher betraf, so war der Besuch vor der Hinrichtung dezidiert seelsorgerlich zu gestalten. Insbesondere sollte nichts unterlassen werden, was zu einer gültigen Abendmahlsfeier führen könne. Bekannte ein Delinquent seine Sünden, war er loszusprechen, wünschte er das Abendmahl, durfte es ihm nicht hochmütig verweigert werden. Auch diese Barmherzigkeit werde Christus am Jüngsten Tag anerkennen. In der Beichte am Kranken‑ und Sterbebett brauchte gleichfalls nicht weiter nachgeforscht zu werden, um ein gültiges Abendmahl feiern zu können. Das Wort sollte hier genügen. Beichte und Bann waren grundsätzlich liebevoll anzuwenden, vor allem nicht so, daß der 22 Ebd.; fol. b 4 v° bzw. S. 260. – Übertragung: ,Ob es so geht oder so, mit der Liebe tun wir recht und christlich.‘
VII. Ertrag und Ausblick
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Sünder unnötig stigmatisiert würde, sondern stets als seelsorgerlicher Anreiz zu seiner Besserung. Daher war Bugenhagen zurückhaltender als Luther, was den öffentlichen Strafcharakter des kleinen Banns betraf, und warnte die Geistlichen vor einem selbstherrlichen Gebrauch dieser Mittel. Mit solchen Anweisungen sollten stets die Gewissen der Verantwortlichen entlastet werden. Ebensowenig wie der Buchstabe des Gesetzes, so lautete die Botschaft, brauchte der Buchstabe der Kirchenordnung erfüllt zu werden, um vor Christus bestehen zu können. Dieser werde etwa dasjenige, was versehentlich einmal an Betrüger ausgegeben wurde, ebenso anerkennen wie alle übrigen Gaben, die aus dem Gemeinen Kasten an Bedürftige verteilt worden seien. Auch war die Schwelle zu einem gültigen Abendmahl am Kranken‑ und Sterbebett oder in der Gefängniszelle so niedrig wie möglich gehalten. Auf die Gültigkeit einer von Laien zugesagten Absolution konnte sich der Kranke und Sterbende ohne jeden Zweifel verlassen. Dasselbe galt für die Taufe, die im Notfall mit dem geringsten liturgischen Aufwand auskam, und deren Gültigkeit nicht anzuzweifeln war. Hatte ein totgeborenes oder verstorbenes Kind nicht mehr getauft werden können, so mochten die Eltern es dennoch Christus anbefehlen und auf seine Gnade hoffen. Es sollte dann auch ganz gewöhnlich auf dem Kirchhof begraben werden können. Jeder andere Zweifelsfall sollte stets zugunsten der Schwachen ausgelegt werden. Der Toleranzgedanke, der aus dem Primat christlicher Liebe folgte, war also nicht allein auf Mitleid begründet, sondern auch als Abwehr gegen ein falsch verstandenes Pflichtgefühl gegenüber der Kirchenordnung: Die ängstliche und mechanische Erfüllung aller Anweisungen zur Fürsorge wäre doch kein Ausdruck christlicher Liebe und trüge eher die Gefahr eines neuen Gesetzesgehorsams in sich. So war die Aufforderung zur Freiheit im Grunde seelsorgerlicher Art. Erst die Fähigkeit, im Einzelfall auch anders zu entscheiden und diese Entscheidung kompetent am Geist des Evangeliums zu überprüfen, vermochte die Verantwortlichen vom Risiko zu befreien, am Ende der Tage doch nur starre Werke vorweisen zu können: „eyn ander mach ydt ock wol anders maken / dar ys nicht angelegen / wenn dar men Christus Euangelien vorhanden ys“23, so oder ähnlich ermunterte Bugenhagen nicht nur einmal seine Leser zu großzügiger Anwendung des Gedruckten. Die Durchsicht einschlägiger Archivalien hat ergeben, daß auch wirklich in diesem Sinne verfahren wurde. Oft gab man auch „thofelligen armen“, also „ihnheimischen vnd auch frombden personen“, die nicht zum regelmäßigen Empfängerkreis gehörten.24 Zur eigenen Entlastung genügte es in der Regel, wenn dazu notiert wurde, daß es ,aus christlicher Liebe‘ oder ,um Gottes willen‘ geschehen war, bisweilen auch auf direkte Fürbitte eines Geistlichen. Dazu paßt 23 Ders.: Sendbreff 1525 (1980); fol. B2 r°. – Hochdeutsche Fassung: „ein ander mag es auch wol anders machen / da ist nichts angelegen / wenn nur Christus Euangelion da vorhanden yst“. Ders.: Antwurt 1525 (1982); fol. A7 r°. 24 Braunschweig StA; Abt. F I 5, Nr. 623, fol. 7 v°.
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der konziliante Umgang mit Schuldnern, deren Rückstände eher großzügig angeschrieben und oft nach vielen Jahren aus den Bilanzen getilgt wurden. Auch sonst konnten die Stichproben in den meisten Fällen ein überaus pragmatisches und am individuellen Einzelfall orientiertes Vorgehen erweisen. Besonders die Einnahme‑ und Ausgabepolitik der Braunschweiger und Stolper Diakone legt es nahe, von einer eigenständigen, engagierten und stets an Bedarf und Bedürftigkeit orientierten Wahrnehmung dieses Amtes auszugehen, wogegen von gezielten Eingriffen der weltlichen Obrigkeit in sozialdisziplinatorischer Absicht wenig zu sehen war. Sie billigte die Arbeit der Diakone offensichtlich auch in schweren Zeiten, wenn die Ausgaben anstiegen und erhebliche Defizite verursachten, und sie scheint mithin größeres Interesse an der Aufrechterhaltung öffentlicher Fürsorge als an der Disziplinierung der armen Leute gehabt zu haben. Das bedeutet nicht, daß die zeitgenössischen Definitions-, Klassifikations‑ und Exklusionskriterien in den norddeutschen Städten und Territorien nicht galten – in Bugenhagens Kirchenordnungen waren diese Kriterien ja durchaus adaptiert worden, wenngleich mit bemerkenswert geringem Nachdruck. Es bedeutet aber sicher, daß dort, wo Menschen in Not waren, nicht in erster Linie die weltliche Obrigkeit mit ihren Ordnungen und Gesetzen, nicht einmal mit ihren Kirchenordnungen, sondern zunächst einmal die christliche Liebe der „meyster“ sein sollte, und daß diese Regel offensichtlich auch befolgt wurde. In Dänemark-Norwegen und Schleswig-Holstein, wo Bugenhagens Einfluß geringer war, entwickelten sich die Dinge anders. Der von ihm verfaßte Königsbrief zeigt aber, welchen Stellenwert er dem Dienst an den Schwachen dort beimaß. Sein Auftraggeber Christian III. hat sich diese Haltung zu eigen gemacht. Christliche Liebe ist mehr als Solidarität. Sie ist unmittelbar in Gottes Ordnung verankert und geht mithin über anerkannte Sympathie-, Effizienz‑ und Gerechtigkeitskriterien der jeweiligen Gesellschaft hinaus. Ihr Vorrang vor dem gedruckten Buchstaben fordert keinen Bruch mit ökonomischen, juristischen oder politischen Regeln. Er kann jedoch fordern, die gültigen Regeln und Ordnungen zugunsten der Schwachen und Hilfsbedürftigen auszulegen und gewiß auch auszudehnen. Eine „vorrangige Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten“, wie sie heute zurecht von den christlichen Kirchen angemahnt wird25, gab es schon in der Reformationszeit – in Theorie und Praxis. Ihren theologischen und organisatorischen Ausdruck fand sie im Norden in einer Reihe nachhaltig wirksamer Kirchenordnungen: Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge.
25 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (hg. v. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland u. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz). Hannover u. Bonn [1997] (Gemeinsame Texte 9); S. 44 f.
Quellen‑ und Literaturverzeichnis Bibliographische Abkürzungen richten sich nach Siegfried M. Schwertner: IATG2. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben / International glossary of abbreviations for theology and related subjects. Periodicals, series, encyclopedias, souces with bibliographical notes / Index international des abréviations [sic] pour la théologie et domaines apparentés / Glossario internazionale delle abbreviazioni per la teologia e materie affini / Índice international de abreviaturas para teología y materias afines. Berlin u. New York 21992. – Dort nicht verzeichnete Abkürzungen sind unmittelbar im Quellen‑ und Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt und alphabetisch wie Kurztitel sortiert. – Kurztitelbildung in den Fußnoten nach Verfassernamen und Erscheinungsjahr, wobei Jahreszahlen in runden Klammern ( ) spätere Editionen, Übersetzungen und Nachdrucke kennzeichnen. Wo Kurztitel von diesem Prinzip abweichen, sind sie im Literaturverzeichnis durch zusätzliche Sperrung gekennzeichnet, bei vereinheitlichten Quellentiteln stehen sie in eckigen Klammern [ ] vor der bibliographischen Angabe. – Anonyma und Sammelbände wurden im Verzeichnis grundsätzlich nach Titel sortiert, nie nach Herausgebernamen. Alte Drucke (1500–1800) sind in den Fußnoten stets in vereinfachter Form bibliographiert, aber mit einem Asteriskus (*) gekennzeichnet und im Quellenverzeichnis durch eine ausführliche Titelaufnahme (doch ohne Kollationsformel, roter Druck erscheint hier eingeschlossen in /R…R\) und einen bibliographischen Nachweis identifizierbar.1 Das gilt auch, wo einzelne Reproduktionen von Originalen benutzt wurden, sofern diese nicht ediert sind. In jedem Fall wurde der Standort nachgewiesen. Alte Drucke dagegen, die als Faksimiles oder in publizierter Microform vorliegen, sind wie moderne Ausgaben bibliographiert. Für die Zitation der Quellen wurde ein konservatives Editionsverfahren gewählt, wonach grundsätzlich keine Veränderungen gegenüber den archivalischen Texten und Alten Drucken (1500–1800) vorgenommen wurden, insbesondere keine sprachlichen Normalisierungen (in Orthographie und Zeichensetzung etwa).2 Auf der Wortebene wurden die Abbreviaturen und Ligaturen aufgelöst, auf der graphematischen vereinheitlichte ich nur \ und s zu s sowie 2 und r zu r. Virgeln sind einheitlich als / wiedergegeben, und ein - be1 Vgl. Christoph Weismann: Die Beschreibung und Verzeichnung alter Drucke. Ein Beitrag zur Bibliographie von Druckschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980 (hg. v. Hans-Joachim Köhler). Stuttgart 1981 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 13), S. 447–593. 2 Für die Edition von Handschriften und Drucken wird der diplomatische Abdruck begründet durch Franz Simmler: Prinzipien der Edition von Texten der Frühen Neuzeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit (hg. v. Lothar Mundt, Hans-Gert Roloff und Ulrich Seelbach). Tübingen 1992 (Beihefte zu editio 3), S. 36–127.
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zeichnet stets ein in der Vorlage vorhandenes Trennungszeichen. Ferner stehen einheitlich mk für ,Mark‘, ß für ,Schilling‘, gr für ,Groschen‘, d für ,Pfennig‘ und fl für ,Gulden‘. Auch Editionen und andere Drucke nach 1800 werden grundsätzlich so zitiert wie in der Vorlage, wobei die editorischen Entscheidungen der Herausgeber in diesem Fall nicht korrigiert oder vereinheitlicht wurden (so blieben Abbreviaturen und Ligaturen bei solchen Zitaten in der Regel unaufgelöst, ö wurde konsequent als ö wiedergegeben, doch als , nur s und Bindestrich wurden vereinheitlicht).
1. Archivalische Quellen Braunschweig, Stadtarchiv (StA) Abteilung A III 8: Nr. 1, 5, 7, 51. Abteilung B I 14: Nr. 2. Abteilung B IV 11: Nr. 2, 11, 20.14, 46, 144, 213. Abteilung B IV 13 d: Nr. 2, 7. Abteilung F I 4: Nr. 469. Abteilung F I 5: Nr. 617–618, 620–621, 623 ff., 713 ff. Greifswald, Pommersches Landesarchiv (PLA) Rep. 38 b Stolp: Nr. 426, 455, 462, 829–830, 832–834, 836, 839–843, 845–853, 855–868. Rep. 38 b Anklam: Nr. 4269. Hildesheim, Stadtarchiv (StA) Bestand 5: Nr. 129, 139. Bestand 7: Nr. 162. Bestand 8: Nr. 17. Kiel, Nordelbisches Kirchenarchiv (NEKA) Bestand 18.14.00: Nr. 1025. Bestand 39.03: Nr. 68, 84, 110 (II). Kiel, Stadtarchiv (StA) Nr. 230, 376, 9802, 11180, 18653, 19219, 48304 (parallel hierzu konnte dankenswerterweise ein von Prof. Dr. Kersten Krüger (Rostock) angelegtes Transkript der letzten Nummer benutzt werden, Kopie beim Verfasser). Schleswig, Schleswig-Holsteinisches Landesarchiv (SHLA) Abteilung 7: Nr. 3947, 5638, 5770–5771, 5910. Abteilung 19: Nr. 748. Abteilung 400.5: Nr. 408, 626. Für diejenigen Bibliotheken, aus denen Alte Drucke benutzt (und im Verzeichnis gedruckter Quellen und Sekundärliteratur näher bibliographiert) wurden, sind darüberhinaus folgende Siglen verwendet worden:
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Göttingen, Staats‑ und Universitätsbibliothek (Göttingen SUB) Hannover, Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek (Hannover GWLB) München, Universitätsbibliothek (München UB) München, Bayerische Staatsbibliothek (München BSB) Weitere Bibliotheken, Archive und Museen, wo einzelne Anfragen (auch negativ) beantwortet, Archivalien und Sachobjekte zugänglich gemacht und in hilfreichen Korrespondenzen und Gesprächen weiterführende Hinweise gegeben werden konnten: Altentreptow, Heimatstube Bützow, Kirchengemeinde Greifswald, Pommersches Kirchenarchiv Güstrow, Mecklenburgisches Landesmuseum Hamburg, Staatsarchiv der Hansestadt Kempten, Kirchenbibliothek St. Mang Lübeck, Kunsthalle St. Annen und St. Annen-Museum Marburg, Hessisches Staatsarchiv Bad Oldesloe, Kirchengemeinde Rostock, Kulturhistorisches Museum Kloster zum Heiligen Kreuz Schleswig, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloß Gottorf Wolfenbüttel, Landeskirchliches Archiv
2. Gedruckte Quellen Johannes A e p i n u s : Kirchen‑ und Schulordnung für die Stadt Stralsund vom Jahre 1525, in: EKO 4 (1911), S. 542–545 A g e n d e für die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck. Bd. 3, Kassel 1975 A g e n d e für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 3, Berlin u. Hamburg 1964 A g e n d e für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Neu bearbeitete Ausgabe, Bd. 3, Teil 4, Hannover 1994 A l b e rtu s M ag n u s : Commentarii in quartum librum sententiarum, in: B. Alberti Magni Ratisbonensis episcopi, ordinis Praedicatorum, opera omnia […] (hg. v. Stephanus Borgnet). Bd. 29, Paris 1894 A l m o s e n o r d n u n g vo n c a . 1 3 7 0 , in: Willi Rüger: Mittelalterliches Almosenwesen. Die Almosenordnungen der Reichsstadt Nürnberg. Nürnberg 1932 (Nürnberger Beiträge zu den Wirtschafts‑ und Sozialwissenschaften 31), S. 68 f. Sancti A m b r o s i i Mediolanensis episcopi de officiis ministrorum libri tres, in: MPL 16 (1880) A r m e n o r d n u n g f ü r d i e S t a d t A z p e i t i a 1535 – veranlasst durch Ignatius von Loyola, in: Entstehung einer Ordnung 2004, Bd. 2, S. 197–206 A r m e n o r d n u n g der Stadt N ü r n b e r g 1522, ebd. S. (57–)62–74 A r t i ke l , darinne etlike mysbruke by den parren des förstendoms Lüneborg entdecket unde darjegen gude ordenynge angegeven werden mit bewysynge und vorklarynge der schrift. 1527, in: EKO 6,1,1 (1955), S. 492–521
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
– Von der wa r e n S e e l s o r g e und dem rechten Hirtendienst, wie derselbige in der Kirchen Christi bestellet und verrichtet werden solle, durch Martin Bucer, in: ders.: Opera I,7 (1964), S. (67–)90–245 Martin B uc e r u . a . : Vorschläge der Predicanten und Kirchenpfleger an den Rat zur Bekämpfung verschiedener Mißstände und Sekten und zur Abhaltung einer Synode (30. November 1532), in: Bucer: Opera I,5 (1978), S. 366–377 Martin B uc e r u. Wolfgang Cap i to an den Rat der Stadt Straßburg, in: Bucer: Opera III,2 (1989); S. 236 f. Martin B uc e r u. Johannes G r o p p e r : Das ,Wormser Buch‘, latein und deutsch (1540/1541), in: Bucer: Opera I,9,1 (1995), S. (323–)338–438 Johannes B u g e n hag e n (hg. v. Joachim Rogge). Berlin 1962 (Quellen 30/2) – an Kurfürst Johann den Beständigen von Sachsen. Wittenberg, 29. September 1529, in: Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546 (hg. v. Heinz Scheible). Gütersloh 1969 (TKTG 10), S. 25–29 – A n t w u r t hernn Johan Bugenhagen Pomern / Pfarrer zu Wittemberg / vber eyn frage vom hochwirdigen Sacrament. Auch eyn vnderricht von der beicht vnnd Christlichen absolution. Wittenberg [Kolophon:] 1525, in: Flugschriften auf Microfiche 5 (1982), Nr. 2129 – *A u s l e g u n g der kurtzen Episteln S. Pauls durch Johann Bugenhagen / den Pomern / zu nutz gemeyner Christenheyt vordeutzschet. Wittenberg: Klug 1524. Titelaufnahme: Auslegung der ║ kur²en Epi ║ ¾eln ║ S. Pauls ║ durch Johann ║ Bugenhagen / ║ den Pomern / zu nu² ║ gemeyner Chri¾en‑ ║ heyt vordeu²¬et. ║ Wittemberg. 1524. [in Titelholzschnitt (Bordüre mit tanzenden Putten)] – Insgesamt 406 Bll. in 8°. – Bibliographischer Nachweis: Geisenhof 1908; Nr. 66. – Benutztes Expl.: München UB. – [B r a u n s c h we i g e r O r d n u n g 1 5 2 8 ( 1 9 1 2 ) ] Johannes Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung 1528 (hg. v. Hans Lietzmann). Bonn 1912 (KlT 88) – [B r a u n s c h we i g e r O r d n u n g 1 5 2 8 ( 1 9 5 5 ) ]: Der erbarn stadt Brunswig christlike ordeninge to denste dem hilgen evangelio, christliker leve, tucht, frede unde eynicheit. Ock darunder vele christlike lere vor de borgere. Dorch Joannem Bugenhagen Pomeren bescreven. 1528, in: EKO 6/I/1 (1955), S. 348–455 – Dr. Johannes Bugenhagens B r i e f we c h s e l (hg. v. Otto Vogt, dann Eike Wolgast m. Hans Volz). Hildesheim 1966 – Wat me van dem C l o s t e r l e u e n d e holden schal / allermeyst vor de Nunnen vnde Bagynen gheschreuen. Vth der hilgen schrifft. Dorch Joannem Bugenha. Pome. Tho Hamborch. 1529, in: Flugschriften auf Microfiche, Serie 5 (1982), Nr. 2251 – D e c o n i v g i o episcoporvm et diaconorvm ad venerandum doctorem VVolfgangvm Reissenbvsch monasterij Lichtembergensis Praeceptorem per Ioannem Bugenhagium Pomeranum. Wittenberg: Joseph Klug 1525, in: Flugschriften auf Microfiche 4 (1981), Nr. 1814 – E p i s t o l a Ioannis Bvgenhagij Pomerani ad Anglos. M. D. XXV., in: Flugschriften auf Microfiche, Serie 1 (1978), Nr. 97 – En gudelig f o r m a n i n g for enfoldige sognepræster 1530, in: En håndbog for sognepræster 1535. En gudelig formaning for enfoldige sognepræster 1530 (hg. v. Martin Schwarz Lausten u. Inger Bom). Kopenhagen 1970 (SRT 1), S. 33–40 – G u t a c h t e n (für Kurfürst Friedrich den Weisen). (Wittenberg, kurz vor 8. Februar 1523), in: Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546 (hg. v. Heinz Scheible). Gütersloh 1969 (TKTG 10), S. 18 f.
Quellen‑ und Literaturverzeichnis
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– [H a m b u r g e r O r d n u n g 1 5 2 9 ( 1 9 1 3 ) ] Kirchenordnung für Hamburg von 1529, in: EKO 5 (1913), S. 488–540 – [H a m b u r g e r O r d n u n g 1 5 2 9 ( 21 9 9 1 ) ] Der Ehrbaren Stadt Hamburg Christliche Ordnung 1529. De Ordeninge Pomerani (hg. v. Hans Wenn, m. Beitr. v. Martin Elze). Hamburg 21991 (AKGH 13) – [H i l d e s h e i m e r K i r c h e n o r d n u n g 1 5 4 2 ( 1 9 8 0 ) ] Christlike kerckenordeninge der löffliken stadt Hildenssem. Mit einer vörrede Antonii Corvini (hg. v. Anneliese Sprengler-Ruppenthal), in: EKO 7/II/2 (1980), S. 829–884 – H i s t o r i a Des lydendes unde upstandinge / unses Heren Jesu Christi: / uth den veer Euangelisten. Niederdeutsche Passionsharmonie. Faksimiledruck nach der Barther Ausgabe von 1586 (hg. v. Norbert Buske). Berlin [Ost] u. Altenburg 1985 – Bugenhagens K a t e c h i s m u s p r e d i g t e n vom Jahre 1534. Ein Beitrag zur Geschichte der Katechismuspredigt in Wittenberg (hg. v. Georg Buchwald), in: Archiv für Reformationsgeschichte 17 (1920), S. 92–104 – [L ü b e c ke r O r d n u n g 1 5 3 1 ( 1 9 1 3 ) ] Der keiserliken Stadt Lübeck christlike Ordeninge tho denste dem hilgen Evangelio, Christliker leve, tucht frede unde enicheit vor de jöget in einer guden Scholen tho lerende. Unde de Kerken denere und rechten armen Christlick tho versorgende. Dorch Jo. Bugen. Pom. beschreven. 1531, in: EKO 5 (1913), S. 334–368 – [L ü b e c ke r O r d n u n g 1 5 3 1 ( 1 9 8 1 ) ] Lübecker Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1531. Text mit Übersetzung, Erläuterungen und Einleitung (hg. v. WolfDieter Hauschild). Lübeck 1981 – Johann Bugenhagens Gottesdienstordnung für die Klöster und Stifte in Pommern 1535 (P i a o r d i n a t i o caeremoniarum) (hg. v. Alfred Uckeley), in: Archiv für Reformationsgeschichte 5 (1907–1908), S. (113–)132–170 – P i a et vere catholica et consentiens veteri ecclesiae o r d i n a t i o caeremoniarum in ecclesiis Pomeraniae. 1535, in: EKO 4 (1911), S. 344–353 – Johannes Bugenhagens Po m e r a n i a (hg. v. Otto Heinemann). Stettin 1900 (Quellen zur pommerschen Geschichte 4). Ndr. (hg. v. Roderich Schmidt). Köln u. Wien 1986 (MDF.S 7) – [Po m m e r s c h e K i r c h e n o r d n u n g 1 5 3 5 ( 1 9 1 1 ) ] Kercken-ordeninge des ganzen Pamerlandes dorch de hochgebaren försten und heren, heren Barnym unde Philips, beyde gevedderen, up dem landdage to Treptow, to eeren dem hilligen evangelio bestaten [sic]. Dorch Doc. Joannem Bugenhagen. 1535, in: EKO 4 (1911), S. 328–344 – [Po m m e r s c h e K i r c h e n o r d n u n g 1 5 3 5 ( 1 9 8 5 ) ] Die pommersche Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1535. Text mit Übersetzung, Erläuterungen und Einleitung (hg. v. Norbert Buske). Berlin [Ost] 1985 – Eine P r e d i g t von Johannes Bugenhagen, i m K l o s t e r B e l b u c k gehalten. Aus dem Originale mitgetheilt von Carl E. Förstemann, in: Zeitschrift für Historische Theologie 5 (1835), S. 229–247 – [P r e d i g t vo m 2 6 . Ju n i 1 5 2 4 ( 1 9 1 0 ) ] Dominica post Johannis baptistae Luk. 6 ,Estote misericordes‘ etc. 26. Juni 1524, in: ders.: Ungedruckte Predigten (1910), S. 17–21 – [P r e d i g t vo m 2 6 . Ju n i 1 5 2 4 ( 1 9 9 1 ) ] Lukas 6,36–42 (m. Beitr. v. Wolfgang Wischmeyer), in: Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert (hg. v. Gerhard K. Schäfer). Heidelberg 1991 (VDWI 4), S. 156–163
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Quellen‑ und Literaturverzeichnis
– [P r e d i g t vo m 1 4 . A u g u s t 1 5 2 4 ( 1 9 1 0 ) ] Dominica ante Adsumptionis Mariae Virginis. Mar[cus] 7[,31 ff.]. 14. August 1524, in: ders.: Ungedruckte Predigten (1910), S. 25–30 – [P r e d i g t vo m 2 3 . A p r i l 1 5 2 6 ( 1 9 1 0 ) ] Pomeranus. Dominica Quasimodogeniti, Euangelium Joh. 20. 23. April 1525, ebd. S. 212–218 – S e n d b r i e f [ 1 5 2 1 ] an die Schüler zu Treptow. Aus einer gleichzeitigen Handschrift mitgetheilt von Carl E. Förstemann, in: Zeitschrift für die Historische Theologie 7 (1837), S. 139–155 – Eyn s e n d e b r e f f [ 1 5 2 5 ] heren Johan Bugenhagen Pomern / Parners tho Wittemberch / vp eyne frage vam Sacramente. Jtem eyne vnderrichtynge van der bycht vnde Christliken Absolutien. Wittemberch M D XXV, in: Flugschriften auf Microfiche 3 (1980), Nr. 1164 – Ein S e n d b r i e f f an die Christen ynn Engeland / warynnen ein Christlich leben stehet. Johan Bugenhagen Pomer. Wittemberg. 1 5 2 5 ., in: Flugschriften auf Microfiche, Serie 5 (1982), Nr. 2077 – *Ein U n d e r r i c h t deren / so yn kranckheyten vnd tods nten ligen / Von dem heyligen Sacrament des waren leibs vnd bluts Christi / seer gut vnd ntzlich allen Christen zu lesen. Wittenberg: Barth 1527 Titelaufnahme: Ein Vnderricht ║ deren / \o yn kran>heyten ║ vnd tods nten ligen / ║ Von dem heyligen Sa‑ ║ crament des waren leibs ║ vnd bluts Christi / \eer ║ gut und n²li< allen ║ Chri¾en zu le\en. ║ Johan. Pomer. ║ Wittemberg. M. D. XXVij. ║ [in Titelholzschnitt (Architekturrahmen, Putto mit Druckerzeichen)] ║ [Kolophon:] Gedr>t zu Wittemberg durch Hans ║ Barth ym Jar. ║ M. D. XXVij. – Insgesamt 8 Bll. in 8°. – Bibliographischer Nachweis: Geisenhof 1908; Nr. 217. – Benutztes Expl.: München UB, Signatur 8° Theol. 5053 – U n g e d r u c k t e P r e d i g t e n Johann Bugenhagens aus den Jahren 1524 bis 1529. Zumeist aus Handschriften der Großherzoglichen Universitätsbibliothek zu Jena zum erstenmal veröffentlicht (hg. v. Georg Buchwald). Leipzig 1910 (QDGR 13) – [Va n d e m C h r i s t e n l ove n 1 5 2 6 ( 1 8 6 7 ) ] Von dem christlichen Glauben und rechten guten Werken wider den falschen Glauben und erdichtete gute Werke, dazu, wie man’s soll anrichten mit guten Predigern, daß solch Glaube und Werke gepredigt werden, an die ehrenreiche Stadt Hamburg durch Johannes Bugenhagen Pommer. Wittenberg 1526, in: Vogt 1867, S. 101–267 – [Va n d e m C h r i s t e n l ove n 1 5 2 6 ( 1 9 8 2 ) ] Van dem Christen louen vnde rechten guten wercken / wedder den falschen louen vnde erdichtede gude wercke. Dar tho / wo me schal anrichten myt guten prdickeren / dat suelck loue vnd wercke geprdiket werden. An de ehrentrike stadt Hamborch. Drch Johannem Bugenhagen Pomeren. Wittemberch. M. D. xxvj, in: Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts (hg. v. HansJoachim Köhler, Hildegard Hebenstreit-Wilfert u. Christoph Weismann). Serie 5, Zug 1982, Nr. 2106 – *Vo n d e n ungeborn K i n d e r n / und von den Kindern / die wir nicht teuffen knnen / und wolten doch gern / nach Christus Befehl / Vnd sonst von der Tauffe etc. Wittenberg: Creutzer 1557 Titelaufnahme: Von den vn- ║ geborn Kindern / vnd ║ von den Kindern / die wir ni