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German Pages [332] Year 1993
V&R
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte
Herausgegeben von Adolf Martin Ritter
Band 51
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1993
Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation
Die Entwicklung seiner frühen Theologie anhand des Matthäuskommentars und der Passions- und Auferstehungsharmonie von
Anneliese Bieber
Mit 23 Abbildungen
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1993
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Anneliese Bieber: Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation: die Entwicklung seiner frühen Theologie anhand des Matthäuskommentars und der Passions- und Auferstehungsharmonie / von Anneliese Bieber. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 51) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1990/91 ISBN 3-525-55159-2 NE: GT
© 1993 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Bindearbeit: Hubert Sc Co., Göttingen
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 1990 abgeschlossen und im Wintersemester 1990/91 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen; für den Druck wurde sie geringfügig verändert. Mein herzlicher Dank gebührt vor allem Herrn Prof. Dr. Wolf-Dieter Hauschild, der diese Untersuchimg angeregt, ihre Entstehung mit freundlicher Ermunterung und kritischem Rat gefordert und ihre Drucklegung in die Wege geleitet hat. Herrn Prof. Dr. Martin Brecht danke ich ebenfalls für die fachliche Beratung und die Erstellung des Korreferats. Herr Christian Reichert hat die Arbeit auf dem Computer druckfertig eingerichtet, ihm gilt mein besonderer Dank. Den Münsteraner Freunden und den Mitgliedern meiner Familie bin ich sehr dankbar für die fortwährende Ermutigung, ohne die ich die Arbeit nicht geschrieben hätte. Schließlich danke ich der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses sowie dem Verlag für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte" .
Münster, im April 1992
Anneliese Bieber
Inhaltsverzeichnis Vorwort
5
Abbildungsverzeichnis
13
Einleitung
15
I Der W e g zur Reform: Orientierung an der Heiligen Schrift u n d Verinnerlichung der Frömmigkeit 25 1 Schriftprinzip und historische Wahrheit 27 A) Die erasmischen Grundsätze zum Verständnis der Evangelien 28 1. Die Philosophie Christi als Grundlage der Bibelauslegung 28 2. Zinn Wert und der Vertrauenswürdigkeit der Evangelien, besonders des Matthäusevangeliums 35 3. Evangelium und Kirche 41 4. Die erasmischen Scopi des Evangeliums 42 B) Die erasmischen Hilfen zur Exegese 44 C) Die Auslegungen der Kirchenväter und ihre Kompilationen im Mittelalter 48 D) Die haxmonistische Arbeit 60 1. Der harmonisierte Bibeltext und die Wahrheit der Heiligen Schrift 60 2. Zur harmonistischen Tradition 64 a) Evangelienharmonien 64 b) Lateinische Passionsharmonien vor Bugenhagen . . . 66 c) Deutsche Passionsharmonien vor Bugenhagen . . . . 70 d) Passionsharmonien in Plenarien 73 3. Bugenhagens Passionsharmonie 75 a) Die Ebene des Geschehens 76 α Wann wurde Jesus gekreuzigt? 77 Zum Tag der Kreuzigung 78
8
Inhaltsverzeichnis
Zur Stunde der Kreuzigung Der letzte Abend Jesu Zum Verhältnis von Passahmahl und Abendmahl Die Fußwaschung Die Bezeichnung des Verräters Nahm Judas am Abendmahl teil? Das Tischgespräch über die Vorrangstellung unter den Jüngern Harmonisierung nach dem Wortlaut der Schrift Die literarische Gestalt der Passionstexte α „Jesus vor dem hohen Rat / die Verleugnung des Petrus" β Die vier Evangelien in Bugenhagens Passionsharmonie - ein Überblick 7 Die Harmonisierung der Einsetzungsworte . . . δ Die Verwendung von Vulgata und Erasmus-Übersetzung Auferstehungsharmonie Die Praefatio: Von der Predigt der Auferstehung . . Zur Harmonisierung der Auferstehungsberichte vor Bugenhagen Bugenhagens Anordnung der Berichte zur β
b)
4.
Die a) b) c)
RESURRECTIO ET ASCENSIO
d)
Zur Abfolge der Erscheinungen des auferstandenen Herrn β Von der Himmelfahrt Christi zum Pfingstfest Zur literarischen Gestalt der Bibeltexte in der
e)
Die Erläuterungen zur Harmonisierung der
81 83 84 86 87 88 90 91 93 94 96 99 102 103 104 105 108
α
RESURRECTIO ET ASCENSIO RESURRECTIO ET ASCENSIO
5.
Zusammenfassung: Bugenhagens harmonistische Arbeit und die Erneuerung der Kirche
2 Die Verinnerlichung der Frömmigkeit A) Die Bedeutung der Buße im Leben des Christen. Bugenhagens Kommentierung von Mt 3,1-12; 16,18 f. und 18,18 1. Buße als Sinnesänderung und Bekenntnis. Die Kommentierung von Mt 3,1-12 a) Der erasmische Bußbegriff nach den ANNOTATIONES b) Erweiterungen des erasmischen Bußbegriffes
108 . 110 111 111
117 119 119 120
120
122
Inhaltsverzeichnis
9
c) Die Johannestaufe - Bußtaufe ohne den Heiligen Geist 125 Das Binden und Lösen des Sünders. Die Kommentierung von Mt 16,18 f. und 18,18 127 a) Die Vollmacht derer, die zu Petrus gehören Mt 16,18 f. 127 b) Die brüderliche Ermahnung als der Normalfall der Sündenvergebung - Mt 18,18 129 3. Bugenhagen und die Heilsvermittlung in den Sakramenten 133 Die Erneuerung der Kirche unter der Herrschaft Christi. Ekklesiologische Aussagen im Matthäuskommentar 135 1. Das regnum coelorum: Christi Herrschaft unter den Glaubenden 135 2. Die Kritik an der zeitgenössischen Kirche 140 2.
B)
3
Durch die Lehre Christi zur Reinheit des Herzens. Die Auslegung der Bergpredigt A) Die Seligpreisungen als Grundsätze der Philosophia Christiana 1. Glück und Frieden: Die Zugehörigkeit zur himmlischen Welt 2. Demut als Voraussetzung und Völlendung des christlichen Lebens 3. Die Gerechtigkeit als Reinheit des Herzens 4. Die gegenwärtige Belohnung der Verdienste. Zu den Nachsätzen der Seligpreisungen B)
C) D)
E)
F)
Die Erfüllung des Gesetzes Christi 1. Christus und die Erfüllung des Gesetzes durch die Gläubigen 2. Die Ergänzungen Christi zum Gesetz Zur Verantwortung des Christen - Entscheidungshilfen bei der Erfüllung der Gebote Das Gebet als Ausdruck der Liebe zu Gott und den Brüdern 1. 2. Der 1. 2.
149 149 153 155 157 160 161 162 163 166 170
Gegen die Entleerung des Gebets in der Kirche Das Vaterunser beschwerliche Weg zur Seligkeit - Trost und Ermahnung Die Erhörung des Sünders Das Kompendium der Gebote Christi
170 173 179 179 181
3. Die Aufforderung, sich um Vollkommenheit zu bemühen Zusammenfassung: Das Leben nach der Lehre Christi
181 183
10
Inhaltsverzeichnis
II Keine Wende, aber neue Ansätze: Reformatorische Elemente in Matthäuskommentar und Passionsharmonie • · 187 1 Standortbestimmung im Kampf um die Wahrheit der christlichen Lehre. Erste Annfiherung an Luther 189 2 Präreformatorische Elemente in Bugenhagens Theologie: Konzentration auf Christus und das Heil der Menschen . . 199 A) Christus als Salvator. Beobachtungen zum Vorkommen des Begriffs salvator im Matthäuskommentar 199 1. Das Kommen des Heilandes 200 2. Die Worte des Heilands 201 3. Die Herablassimg des Heilands 203 4. Salvator - Schlüsselwort aus dem Bereich der Alten Kirche203 B) Das Heil (salus) der Menschen 205 1. Das Heil der Welt 205 2. Das Heil in Jesus Christus 206 a) Das Heil in der Ankunft Jesu Christi 206 b) Die Erlösimg durch Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu Christi 207 c) Das Heil aus Gnaden. Zur Auslegung von Mt 20,1-16 207 d) Zum Vergleich: Die Gnade und ein christliches Leben. Elemente des mittelalterlichen Gnadenbegriffs in Bugenhagens Kommentar 212 3 Die neue Erkenntnis: Das Mahl des Herrn als Ort der Liebe und der Vergebung 215 A) Traditionelle Grundlagen: Liebe und Glaube als Voraussetzung des Sakramentsempfangs 217 1. Christi Liebe, die Grundlage der Mahlgemeinschaft . . . 217 2. Spiritualis manducatio - die Gemeinschaft mit Christus in der Kirche 218 3. Das Bleiben in Christus 219 4. Was heißt geistliches Essen und Trinken? Eine Rede Christi220 5. Der rechtfertigende Glaube - Kennzeichen der Gemeinschaft mit Christus 222 6. Die Einladung zum eschatologischen Festmahl 223 B) Der aktuelle Hintergrund: Die Auseinandersetzung um das Altarsakrament um 1520 224 C) Ein neues Verständnis des Mysterium fidei. Zu Bugenhagens Kommentierung der Einsetzungsworte 225 1. Die Interpretation der Zusätze im Canon missae 225
Inhaltsverzeichnis
11
2.
D)
E)
F)
G)
Bugenhagens Verhältnis zum Canon missae im Vergleich zu Luthers Ausführungen in D E CAPTIVITATE 230 3. Bugenhagens Zentralbegriff Mysterium fidei auf dem Hintergrund des erasmischen Meßverständnisses 234 4. Die entscheidende Annäherung an Luthers Lehre: Mysterium fidei als Glaube an die Zusage im Testament 237 5. Die Einsetzungsworte ids Grund und Vergewisserung des Glaubens 243 a) Accepit panem. Vom Brot des Lebens 245 b) Gratiaa egisset. Das Abendmahl als Eucharistie . . . 246 c) Fregit. Die Zueignimg des Heils 248 d) Mortem annunciabitis. Die Ansage des Heils und die dankbare Liebe zu Christus 252 Die notwendige Folge: Kritik an falscher Zelebration und Besinnung auf die Rechtfertigung aus Glauben 255 1. Der Maßstab rechter Meßfrömmigkeit: Liebe und Glaube 256 2. Die ängstliche Vorbereitung des Meßpriesters 257 3. Mögliche Fehler bei der Zelebration 259 4. Die Entwertung der Buße 261 5. Die Wurzel des Mißstandes: Vertrauen auf die eigenen Werke 264 6. Die Befreiung aus falscher Frömmigkeit durch den Glauben265 Konsequenzen für die einsetzungsgemäße Feier der Messe . . 268 1. Die Freiheit, den Zeitpunkt der Kommunion zu wählen . 268 2. Die Realpräsenz von Leib und Blut Christi 269 3. Zur Frage der rechten Disposition 272 4. Das Mahl zur Vergebung der Sünden 275 5. Eine direkte Anlehnung an Luthers Lehre: Der Friede des Gewissens 281 Einzelfragen zur Gestaltung der Messe 282 1. Die Frage des Laienkelchs 283 2. Die Rezitation der Einsetzungsworte 284 3. Die Elemente im Herrenmahl 285 4. Die Gemeinschaft des Leibes Christi 287 Zusammenfassung: Bugenhagens Abendmahlslehre in der Passionsharmonie 1520/21 289
4 Die Entwicklung reformatorischer Gedanken im Glaubensverständnis. Ein Aspekt der Kommentierung des Matthäusevangeliums und der Passionsharmonie 295 A) Der Ausgangspunkt: Die evangelische Lehre als Inhalt des Glaubens 295
12
Inhaltsverzeichnis
Β) C)
Die vorläufige Differenzierung: Glaube als fides und fiducia . 297 Der Angelpunkt: Rechtfertigung aus Glauben 299
Zusammenfassung
307
Literaturverzeichnis
315
Abbildungsverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Matthäuskommentar Bl. [l r ] Matthäuskommentar Bl. [l v ] Matthäuskommentar Bl. [2r] Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Matthäuskommentar Bl. [34v] Matthäuskommentar Bl. [35r] Matthäuskommentar Bl. [99v] Matthäuskommentar Bl. [lOCF] Matthäuskommentar Bl. [143v] Matthäuskommentar Bl. [144r] Matthäuskommentar Bl. [128v] Matthäuskommentar Bl. [129r] Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl. Passions- und Auferstehungsharmonie Bl.
[164r] [164v] [165r] [165v] [215v] [216r]
[178r] [178v] [181r] [181v] [206r] [206v]
29 30 31 56 57 58 59 113 114 150 151 191 192 196 197 208 209 232 233 279 280 300 301
Einleitung Johannes Bugenhagen (1485 - 1558) hat die Reformation in drei wichtigen Bereichen mitgestaltet. Als Stadtpfarrer in Wittenberg seit 1523 und als Seelsorger Luthers hat er im Kreis der Wittenberger Theologen wichtige Entscheidungen für den Gang der Reformation mit getroffen.1 Von Wittenberg aus hat Pomeranus, wie er meistens genannt wurde, zwischen 1528 und 1542 die Neuordnung der Kirche in norddeutschen Städten und Territorien sowie in Dänemark durchgeführt. Seine Kirchenordnungen sind über längere Zeit gültig geblieben.2 Schließlich hat Bugenhagen mit gedruckten Bibelkommentaren, die aus seinen Vorlesungen in Wittenberg erwuchsen, und reformatorischen Schriften, die er anläßlich bestimmter Mißstände verfaßte, Uterarisch gewirkt.3 Es ist umstritten, wie eigenständig der Theologe Bugenhagen war. Nach dem Reformationsjahrhundert galt er als jemand, der nur die Gedanken Luthers aufnahm und sie in die Praxis des kirchlichen Lebens umsetzte. In den letzten Jahrzehnten hat sich vor allem H.H. Holfelder bemüht, Bugenhagen als einen Theologen darzustellen, der ein durchaus eigenes Profil besaß.4 Ein abschließendes Urteil über den Theologen Bugenhagen läßt sich wohl erst gewinnen, wenn seine Schriften, die größtenteils seit dem 16. Jahrhundert nicht mehr aufgelegt wurden, wieder zur Kenntnis genommen werden. An ihrer Edition wird zur Zeit unter Leitung von Prof. W.-D. Hauschild gearbeitet. Aus der Mitarbeit an diesem Editionsprojekt ist die vorliegende Dissertation erwachsen. Sie beschäftigt sich mit einer frühen Schrift Bugenhagens, die bislang so gut wie nicht bekannt war: einem lateinischen Kommentar zum Matthäusevangelium und - statt der Kommentierung von Mt 26 bis 28 'Zum Stadtpfarramt und seiner Arbeitsgemeinschaft mit den Wittenberger Theologen s. Leder, BERUFUNG, sowie ders., Luthers Beziehungen, 4 2 8 - 4 3 2 . 2 Zu den Kirchenordnungen s. Scholz, BUGENHAGENS KIRCHENORDNUNGEN, und Hauschild, BIBLISCHE THEOLOGIE. 3 Bin fast vollständiges Verzeichnis der Schriften Bugenhagens enthält Geisenhof, BlBLIOTHECA BUGENHAGIANA. 4
Vgl. Holfelder,
TENTATIO,
sowie ders.,
SOLUS CHRISTUS.
16
Einleitung
einer Passions- und Auferstehungsharmonie aus allen vier Evangelien. Eine Kopie dieses Werkes in Bugenhagens eigener Handschrift konnten wir vom Rat der Stadt Stendal erwerben, ohne daß uns weitere Auskünfte über den derzeitigen Aufbewahrungsort des Manuskripts gegeben wurden.5 Es handelt sich um die von H. Alberts 1934/35 beschriebene Handschrift, die der Schönbeckischen Fundation in Stendal gehörte.6 G. Heibig hat die Handschrift gekannt und wohl edieren wollen.7 Sie umfaßt 215 Blätter im Format 11x17 cm, die keine Originalpaginierung tragen. Die Schrift des Autors ist sorgfältig, für das Lateinische werden viele Abkürzungen verwendet.8 Ganz offensichtlich liegt eine Reinschrift vor. Der Charakter einer Reinschrift und die Anrede pie lector [18r]9 lassen darauf schließen, daß es hier nicht um ein Vorlesungsmanuskript geht, wie wir zunächst annahmen, 10 sondern um einen Bibelkommentar, der einen bestimmten Leserkreis erreichen sollte. Möglicherweise hat Bugenhagen ihn zum Druck vorbereitet. Warum ist der Matthäuskommentar nie gedruckt worden?11 Der Grund liegt im theologischen Gehalt. Der vorliegende Kommentar unterscheidet
5
Seit 1990 befindet sie sich wieder im Besitz der Marienkirche in Stendal, SchönbeckBibliothek, Sign.: V a 13. 6 Vgl. Alberts, BUGENHAGENFUNDE, 61 f. und 69-72. Zur Provenienz der Handschrift gibt Alberts an, dafi Joh. Frid. Scholtz sie 1730 der Schönbeckischen Fundation vermacht habe. Scholtz hat sie offenbar von der Familie von Seidel übernommen, die in einem Vermerk auf der Handschrift bis heute genannt wird: „Manuscriptum est / Doctoris Johannis / Bugenhagij Pomera / ni / Fidelis Beati / Lutheri Socij / Ex bibliotheca Seideliana." - Bisher konnte nicht herausgefunden werden, welches Mitglied der Familie Seidel, die schließlich verarmte und ihren umfangreichen Besitz an Münzen und Schriften veräufiern mußte, die Handschrift erworben hatte. (Zum Verkauf der Sammlung s. H. Pröhle in ADB 33, 625, sowie Küster, G E S C H I C H T E DERER VON S E I D E L , 40). Denkbar sind zwei Wege: - Das Studium in Wittenberg, das von Erasmus Seidel, geb. 1553, Erasmus Seidel, geb. 1594, sowie Joachim Ernst von Seidel, geb. 1632, absolviert wurde (vgl. Küster, ebd. 15, 17 und 27). - Ein Aufenthalt in Pommern, der von dem bedeutenden Martin Friedrich Seidel, geb. 1621, berichtet wird. Für diese Herkunft der Handschrift würde auch die Tatsache sprechen, daß Martin Friedrich Seidel Verzeichnisse und Bilder von Theologen sowie einen Autograph Luthers besaß (vgl. Küster ebd. 23f. und 39 f.). 7 Vgl. Heibig, G E D Ä C H T N I S , 1 2 0 - 1 2 2 . 8 Kopie der Handschrift im Seminar für Alte Kirchengeschichte, EvangelischTheologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität. 9 Die Paginierung von Bugenhagens Handschrift des Matthäuskommentars und der Passionsharmonie wird im folgenden ohne Angabe des Werks in eckigen Klammern direkt in den Text gesetzt. 10 So noch Hauschild, A U S E I N A N D E R S E T Z U N G , 9 6 . "Bugenhagens Veröffentlichung von 1 5 4 3 , IN I I I I P R I O R A CAPITA E U A N G E L I J SECUNDUM M A T T H A E U M (vgl. Geisenhof, B I B L I O T H E C A B U G E N H A G I A N A Nr. 3 2 7 ) ist eine völlig neue Arbeit und wird vom Autor ausdrücklich auf die Vorlesungstätigkeit in Wittenberg zurückgeführt.
17
Die POMERANIA
sich von den gedruckten Bibelkommentaren ab 152412 darin, daß er nicht das Zeugnis eines reformatorischen Theologen ist. Bugenhagen erweist sich im Matthäuskommentar in erster Linie als Bibelhumanist, wie wir ihn aus einigen Schriften kennen, die aus seiner Belbucker Zeit aufbewahrt wurden. Im Briefwechsel mit dem Münsteraner Humanisten Murmellius von 1512, den Bugenhagen 1515 zusammen mit einer erweiterten Ausgabe von dessen Grammatikregeln veröffentlichte, bat er um Hinweise auf Zeitgenossen, die den Kirchenvätern Hieronymus, Ambrosius, Augustin und Laktanz vergleichbar seien. Er erhielt die Antwort, daß er sich mit Pico della Mirandola, Jacques Lefevre d'Etaples, Charles Bouelles, Johannes Reuchlin und vor allem mit Erasmus von Rotterdam beschäftigen solle.13 Die Rezeption von Schriften des Erasmus ist in der handschriftlich erhaltenen Geschichte Pommerns von 1517/18 und einer Predigt vom Peter-und-Pauls-Tag 1518 oder 1519 im Kloster Belbuck nachweisbar.14 Beide Schriften sind mehrfach untersucht worden, zuletzt von H.H. Holfelder 1986 und von W.-D. Hauschild 1987.15 Einige Motive, die im Matthäuskommentar in ähnlicher oder abgewandelter Form wiederkehren, sollen zur besseren Erhellung des Hintergrundes genannt werden. * *
*
Im Auftrag des Herzogs Bogislaw X. verfaßt Bugenhagen 1517/18 eine Geschichte Pommerns, zu der Otto Heinemann im Vorwort seiner gedruckten Ausgabe im Jahre 1900 festgestellt hat, sie solle „die kirchliche und politische Unabhängigkeit und die Einheit Pommerns" nachweisen.16 Ebenso deutlich ist die Tendenz des Kirchenmannes Bugenhagen, seine Landsleute als berufene Kinder Gottes darzustellen und sie dazu aufzurufen, dieser Berufung gemäß zu leben. 17 In der Art eines apostolischen Briefes leitet Bugenhagen das zweite Buch d e r POMERANIA, D E POMERANORUM AD CHRISTUM CONVERSIONE, e i n . E r 12
Zum Psalmenkommentar von 1524 (Geisenhof, BIBLIOTHECA BUGENHAGIANA, Nr. fT.) vgl. Holfelder, T E N T A T I O , zur Kommentierung der Paulusbriefe von 1524/25 und 1527 (Geisenhof, BIBLIOTHECA BUGENHAGIANA, Nr. 62ff. und 215f.) vgl. ders., SOLUS
3
CHRISTUS. 13
Vgl. Vogt, BRIEFE, 1 - 7 . Von der Handschrift der POMERANIA hat O. Heinemann 1900 eine kritische Edition mit ausführlicher Einleitung erstellt (Nachdruck 1986). Die Predigt liegt außer in einer Handschrift mit autographischem Zusatz in Editionen von Förstemann (1835) und C.A.D. Vogt (1856) vor. Eine genaue Analyse des jeweiligen theologischen Gehalts findet sich für die POMERANIA bei Hauschild, AUSEINANDERSETZUNG, 88-90, für die Belbucker Predigt bei Holfelder, TENTATIO, 119-127, und Hauschild, AUSEINANDERSETZUNG, 90-95. 15 Vgl. Holfelder, B U G E N H A G E N S THEOLOGIE, und Hauschild, AUSEINANDERSETZUNG. 16 Heinemann (Hg.), P O M E R A N I A , V . 17 Zum folgenden vgl. Hauschild, AUSEINANDERSETZUNG, 9 0 . 14
18
Einleitung
beginnt mit einem Lob Gottes nach 1 Petr 1,3 f., schließt Eph 2,9 an: qui de tenebris vocavit nos in admirabile lumen suum18 und ermahnt am Ende mit Eph 5,9: Curemus tantum, ut in lucem vocati ut filii lucis ambulemus.19 Licht und Finsternis sind die Kategorien, mit denen die Geschichte beurteilt werden muß. Das Licht liegt im christlichen Glauben, der von Gott aus Gnaden gegeben wird.20 Gegen das Licht kämpft dagegen die Finsternis des Heidentinns, die sich auch nach ersten Bekehrungserfolgen noch zu behaupten weiß: Non finierat populi stulticia et diaboltca mentium excaecatio.21 Obwohl Pommern seit dem Wirken Ottos von Bamberg als bekehrt gilt, ist die Berufung zu Söhnen des Lichts und Söhnen Gottes 22 in vielen Bereichen noch zu bewähren. So kämpft Bugenhagen gegen den Irrglauben, es sei Torheit, wenn die Herzöge und der Adel von ihrem Besitz den Klöstern etwas zukommen ließen. Hier erinnert er daran, daß selbst Christus, die höchste Weisheit Gottes, des Wahnsinns bezichtigt wurde.23 Nicht Torheit, sondern Weisheit ist es, wenn durch die Gründung der Klöster das Volk Gottes mit doctrina und scientia versehen wird.24 Diesem Anspruch sollen nun freilich auch die Klöster, unter denen er besonders die zisterziensischen und prämonstratensischen Gründungen hervorhebt,25 gerecht werden. Hier gibt es viele Mißstände, und fromme und gute Mönche sind eher in der Minderzahl.26 Beispielhaft ist die Einrichtung eines Lektorats im Kloster Belbuck im Jahr 1517, das Bugenhagen selbst versieht, und das er indirekt auch den Domkollegien in Cammin, Kolberg, Stettin und Greifswald empfiehlt.27 In den Lektoraten soll nicht die scholastische Disputation, gegen die Bugenhagen polemisiert, sondern „Heiliges" gelehrt werden.28 Nicht das Selbstbewußtsein der Mönche und ihre Funktionen im Gottesdienst (cum tibi vel cantandum vel sacrificandum sit) sollen gestärkt werden, sondern die Seelsorge für die Pfarrgemeinde muß verbessert werden.29 Dabei soll die Kenntnis der Heiligen Schrift als einer gesunden Lehre auch zu einer besseren Predigt führen, in der erfundene Geschichten
Heinemann (Hg.), POMERANIA, 46. Ebd. 47. 2 0 Vgl. ebd. 2 1 Ebd. 52. 2 2 Vgl. ebd. 94. " V g l . ebd. 95. 2 4 Vgl. ebd. 94. " V g l . ebd. 95. 2 6 Vgl. ebd. 96. 2 7 Vgl. hierzu Hauschild, AUSEINANDERSETZUNG, 89. 2 8 Vgl. Heinemann (Hg.), POMERANIA, 97. 2 9 Vgl. ebd. 18
19
Die Predigt am Peter-und-Pauls-Tag
19
keinen Platz mehr haben. 30 Christi doctrina ist die eigentliche Waffe gegen die Mächte der Finsternis, deswegen sollen sich die Priester vor allem um sie mühen. 31 Wer in ein Kloster eintritt, soll in Zukunft so belehrt werden, daß sein Leben dem Anspruch der gesunden christlichen Lehre und eines Lebens in Frömmigkeit gerecht wird.32 Faßt man die genannten Motive aus Bugenhagens POMERANIA zusammen, so lassen sie sich alle dem Bibelhumanismus zuordnen, den Erasmus von Rotterdam entwickelt hat: 33 Die Finsternis der Dummheit und Verblendung soll durch Belehrung und Wissen aufgehellt werden. Entscheidend ist die Lehre Christi, denn Christus ist selbst die Weisheit. Richtige Belehrung hat eine Besserung des Lebens zur Folge. Bugenhagen strebt eine Besserung des ganzen Landes durch eine Reform der Klöster an. Wenn Lehre und Leben der Mönche glaubwürdig werden, hat das Auswirkungen auf die Seelsorge an den anvertrauten Gemeinden. Bugenhagens Predigt am Peter-und-Pauls-Tag gilt, wie seine spätere, handschriftliche Bemerkung festhält, Klerikern.34 Während das Kloster Belbuck am Tag seiner Schutzheiligen Ablässe erteilt, zielt Bugenhagens Predigt darauf ab, seine Zuhörer vom Heiligenkult zu einem Leben in Heiligkeit und in der Nachfolge der Heiligen zu fuhren: Quicunque ergo sancte vivunt in Christo, Uli sunt filii et hereditas apostolorum [...] ne praesumamus, nos esse filtos sanctorum et hereditatis eorum participes futuros, st non et ipsi sancti simus.35 In ihrem persönlichen Leben sollen die Priester untadelig sein, denn die Gemeinschaft am Altar erfordert vollkommene Reinheit: Est enim sanctorum communio, non impiorum.36 Doch dürfen sie es nicht bei der Konzentration auf die eigene Reinheit belassen - ihre Vollmacht haben sie wie die Apostel nach Mt 16,18 f., Joh 20,22 und Mt 18,18 empfangen, damit sie den Menschen durch die Lehre Christi den Weg des Heils eröffnen: Nonne tanta charitate ergo homines flagrabant, cum viam eis aperirent salutis, salutiferam Christi doctrinam, quae sola a diabolica fraude liberat.31 Der Weg des Heils, den die Priester in der Nachfolge der Apostel verkünden sollen, befreit vom teuflischen Betrug. Bugenhagen selbst sieht seine 30 Zum Mißstand im Predigtwesen äußert sich Bugenhagen am Ende des ersten Buches anhand einer Erörterung zum Vogel Greif. Vgl. ebd. 4 3 f. und Hauschild, AUSEINANDER-
SETZUNG, 8 9 . 31
Vgl. Heinemann (Hg.), POMERANIA, 60. Vgl. ebd. 97. Bugenhagen leitet diese Forderung von einem Beispiel zum Klostereintritt ab, vgl. ebd. 96. 33 Zum Begriff des Bibelhumanismus vgl. Junghans, LUTHER ALS BIBELHUMANIST, 2 - 4 . 34 Vgl. Förstemann (Hg.), PREDIGT, 230f. 35 Ebd. 240. 36 Ebd. 245. 37 Ebd. 236 f. 32
Einleitung
20
Predigt als Dienst an der Wahrheit, deren Geist in die Zuhörer einziehen soll.38 Er beruft sich auf die Heilige Schrift und sieht ihren Inhalt im Doppelgebot der Liebe zusammengefaßt.39 Misericordia ist der adäquate Ausdruck für die Liebe, die dem Nächsten um Gottes willen zukommt. Sie umfaßt die Mildtätigkeit aller Christen gegen die Armen ebenso wie die Tröstimg der Sünder durch die Priester.40 Für die Priester bedeutet diese Auffassung, daß der karitative Dienst an den Menschen stärker hervorgehoben wird als die Verwaltung der Sakramente.41 Zwar sind ihnen die Konsekration des Leibes und Blutes Christi und die Lossprechung der Menschen in der Beichte anvertraut,42 doch erhalten beide Sakramente ihren Wert erst, wenn die Gläubigen sich um die Neuheit ihres Lebens mühen. So zählt Bugenhagen als Güter, die mit dem Empfang des Altarsakraments verbunden sind, auf: remissio peccatorum, Studium novae conversationis, communio corporis et sanguinis domini nostri Iesu Christi et pabulum vitae aeternae.43 Die wahre Absolution in der Buße hegt nach seiner Darstellung in der Loslösung des Sünders von den früheren Sünden und dem Beginn eines neuen Lebens mit einem guten Willen: Vw ergo vere absolvi, depone pristina peccata, esto homo bonae voluntatis, semel depone malam vitam et incipe in novitate vitae ambulare.44 Wenn die Neuheit des Lebens vom Menschen nicht durchgehalten werden kann, so reicht sein guter Wille aus: Der gute Wille bewirkt die Anrechnung der Heiligkeit Christi.45 Für unsere Untersuchung ist wichtig, daß mit der Absage an das sündige Leben und dem Willen zum neuen Leben auch der FYieden des Gewissens einkehrt: Alioqui nusquam erit animo tuo pax coram deo, id est in tua conscientia.46 Bugenhagen zeigt hier einen Weg auf, der anders als die spätmittelalterlichen Frömmigkeitsübungen dem Menschen einen dauernden Frieden mit Gott verheißt. Nach Bugenhagens Auffassung gibt es einen klaren Ubergang vom Leben in der Sünde zu einem Leben im guten Willen. Zu diesem Übergang ruft er zuerst die Priester auf. Doch haben die Priester keine andere Stellung vor Gott als die Laien, denen sie die Beichte abnehmen. Eine Veränderung im Leben und Lehren der Priester wird freilich Konsequenzen für ihren Umgang mit allen Gläubigen haben: Die Predigt und das Erteilen 3 8 Vgl.
ebd. 231. ebd. 246 und 243. 4 0 Vgl. ebd. 236 und 245. 41 Vgl. hierzu Hauschild, AUSEINANDERSETZUNG, 93. " V g l . Förstemann (Hg.), PREDIGT, 238. 4 3 Ebd. 239. 4 4 Ebd. 241 f. 4 5 Vgl. hierzu Holfelder, BUGENHAGENS THEOLOGIE, 69; Hauschild, AUSEINANDERSET39 Vgl.
ZUNG, 9 4 . 46 Förstemann
(Hg.), PREDIGT, 242.
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Bugenhagens Annäherung an Luther
der Ssikramente müssen nach Bugenhagens Belbucker Predigt dazu führen, daß auch die Laien ihr Leben in Heiligkeit und Barmherzigkeit führen. * *
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Die POMERANIA und die Klosterpredigt lassen erkennen, daß Bugenhagen vom biblischen Wort her denkt. Biblische Lehre soll auf die Kirche so einwirken, daß es nicht mehr um die äußeren Formen des Gottesdienstes, sondern um die moralische Integrität des Gläubigen geht. Alle diese Elemente eines humanistischen Reformprogramms sind im vorliegenden Matthäuskommentar wiederzufinden: Zitate der Kirchenväter und des Erasmus werden in reichlichem Umfang herangezogen; es geht um ein ernstes Schriftstudium und eine Vertiefung der Frömmigkeit. Der Matthäuskommentar wäre ein Dokument des Bibelhumanismus, wenn nicht an einigen Stellen erkennbar würde, daß Bugenhagen die Auffassungen seines Lehrmeisters Erasmus von Rotterdam hinter sich läßt. Bugenhagen ist offenbar zu sehr von der Frage nach der Erlösimg des Menschen bewegt, um bei der Christozentrik des Erasmus stehen zu bleiben, und Bugenhagen beschäftigt die Frage nach der Wahrheit der Heiligen Schrift zu sehr, als daß er sich mit den philologischen Hilfen, die ihm Erasmus aufzeigt, begnügen könnte. Schließlich teilt Bugenhagen nicht den Optimismus der Humanisten in Hinsicht auf die Verbesserungsmöglichkeiten der Kirche: im Matthäuskommentar wird ein Drängen nach Veränderung sichtbar, mit dem die philosophia Christi des Erasmus, die am Anfang des Buches steht, nicht mehr Schritt halten kann. Die Spannung, die Bugenhagens Matthäuskommentar durch die Differenz zwischen erasmischen Ansätzen und über den Humanismus hinausführenden Textpassagen enthält, verstärkt sich im zweiten Teil der Handschrift, der Passions- und Auferstehungsharmonie. Schon die Anfertigimg einer Harmonie wäre Bugenhagens Lehrmeister nicht in den Sinn gekommen, denn Erasmus hatte kein harmonistisches Interesse. Darüber hinaus entfernen sich Themenwahl und Ausführung der Erläuterungen zum harmonisierten Bibeltext immer häufiger vom erasmischen Bild Christi als des himmlischen Lehrers, das die Auslegung des Matthäuskommentars überwiegend bestimmt. Die längste zusammenhängende Kommentierung auf den 60 Blättern der Passions- und Auferstehungsharmonie betrifft das letzte Mahl Jesu ([171 v -175 r ; 177 v -182 v ]). Hier zitiert Bugenhagen weder Erasmus noch die Kirchenväter namentlich, sondern legt eine Ausarbeitung vor, die verschiedene Einflüsse erkennen läßt, im wesentlichen jedoch das Ergebnis einer eigenen, intensiven Auseinandersetzung mit dem Altarsakrament darstellt. Kein herausgehobenes Zitat, sondern die unauffällige Einführung Ergo verissime scripsit ille qui dixit in hunc modum [181v] läßt schließlich erkennen, daß Bugenhagen der Schrift eines Theologen begegnet ist, dessen Namen
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Einleitung
er im gesamten vorliegenden Kommentar nicht erwähnt: Martin Luther. Bugenhagen zitiert in seiner Kommentierung des Altarsakraments den letzten Absatz vom Ende des ersten Kapitels in Luthers Kampfschrift D E CAPTI47 VITATE BABYLONICA ECCLESIAE PRAELUDIUM vom Herbst 1520. Diesen Nachweis erbrachten in einem Seminarreferat im Wintersemester 1987/88 die Studenten Achim Heidt und Wolfgang Huber. Für die Bugenhagenforschung war das eine ungemein wichtige Entdeckung, denn auf die Frage, wie Pomeranus zur Reformation gekommen sei, konnte man bisher nur mit einer Überlieferung vom Ende des 16. Jahrhunderts antworten. Sie besagte, daß Bugenhagen im Oktober 1520 im Hause des TVeptower Pfarrers Otto Slutow D E CAPTIVITATE kennengelernt und zunächst für Ketzerei gehalten habe. Nach einigen Tagen sei Bugenhagen wieder zu Slutow gekommen und habe ausgerufen: „Was sol ich euch viel sagen? Die gantze Welt ist verblendet / vnd in die eusserste Finsternüfi verstrikket. Dieser einige Man sihet allein die rechte Wahrheit". 48 H.G. Leder überprüfte diesen Bericht vor einigen Jahren und befand ihn für zuverlässig, aber es war keine Äußerung aus der Lebenszeit Bugenhagens belegt, aus der mein hätte schließen können, daß er zuerst Luthers D E CAPTIVITATE begegnete. Für die Datierung der vorliegenden Handschrift besagt das Zitat, daß der gesamte Kommentar frühestens im Oktober 152049 beendet wurde. Einen Hinweis auf den spätestmöglichen Zeitpunkt der Beendigung gibt eine nachträgliche Bemerkung, die sich ebenfalls im Zusammenhang der Abendmahlskommentierung befindet: Io. Bu. anno domini Mdxxij feria sexta ante laetare Wittenbergae (es folgt eine Änderung der dargebotenen Harmonisierung) [164v]. Zwischen Oktober 1520 und März 1522 muß Bugenhagen Matthäuskommentar und Passionsharmonie abgeschlossen haben, der deutliche Charakter eines Nachtrags im Jahre 1522 läßt vermuten, daß der terminus ad quem näher beim ersten Datum liegt. Schwerer als der Abschluß des Kommentars ist der Anfang zu bestimmen. Wir wissen, daß Bugenhagen seit 1517 im neu eingerichteten biblischen Lektorat des Klosters Vorlesungen über biblische Bücher hielt. 50 Aus einer 47
Vgl. Luther, D E CAPTIVITATE (WA 6 , 526,32f.; StA 2, 209,1 f.). Zitiert nach Leder, REFORMATORISCHE W E N D E , 6 4 . Leder gibt die Texte aus der N E W E [ N ] SACHSSEN CHRONICA des David Chyträue von 1 5 9 7 / 9 8 und der POMMERISCHE[N] CHRONICA von 1 6 0 2 synoptisch wieder. Hier ist der Wortlaut von Chyträus zitiert. 49 Luther kündigte das Erscheinen von D E CAPTIVITATE für den 6. Oktober an. Vgl. hierzu die Einleitung zu dieser Schrift in StA 2, 169. 50 Zu biographischen Fragen s. Leder, LEBEN, hier 1 1 - 1 3 . - Die Geschichte des Prämonstratenserordens bietet über Bugenhagens eigene Angaben hinaus keine weiteren Zeugnisse zur Einrichtung des Lektorats. Vgl. Backmund, MONASTICON I, 2 5 5 : „ultimus abbas Joannes Boldewin seu Boldewan anno 1517 in canonia fundavit seminarium, cuius rector fuit famosus ille assecla Lutheri, Bugenhagen, qui vero non fuit membrum ordinis, ut quidam falso asserunt. Abbas ac maior pars conventus Lutheranismo statim adhaeserunt, qua de 48
Die Aufgabe der vorliegenden Dissertation
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sehr viel späteren Äußerung Bugenhagens, der Widmungsvorrede zur (ab 1524 veränderten) Druckfassung der Passions- und Auferstehungsharmonie, ist uns auch bekannt, daß er ungefähr 1518 das Matthäusevangelium lesen mußte. 51 Ein Zitat aus der RATIO des Erasmus von 1519 auf Bl. [18r, 18v] begrenzt den Zeitraum für die Abfassimg der vorliegenden Handschrift nach vorn. Es ergibt sich zumindest für die Reinschrift des Matthäuskommentars, daß sie ab 1519 entstand und wahrscheinlich nicht allzulange nach dem Herbst 1520 beendet wurde. Einleuchtend ist die Annahme, daß Bugenhagen das Manuskript vor seinem Weggang nach Wittenberg im Frühjahr 1521 abgeschlossen hat. 52 Als Aufgabe für die vorliegende Dissertation ergibt sich, daß der Weg nachzuzeichnen ist, den Bugenhagen theologisch während der Abfassimg des Matthäuskommentars und der Passions- und Auferstehungsharmonie ging. Auf Personen bezogen war das ein Weg von Erasmus zu Luther. Es wäre jedoch zu einfach, diesen Weg als lineares Fortschreiten von einem Anfangspunkt im Humanismus zu einem Endpunkt in der Reformation verstehen zu wollen. Entsprechend zu Bugenhagens Vorbildung als Philologe und Schriftausleger sind in seinem Werk eine eher philologische und eine eher theologische Ebene zu untersuchen, wobei zu zeigen ist, daß die philologische Arbeit jeweils einem theologischen Zweck dient. Die Untersuchung der theologischen Ebene wird Schwerpunkte an den Stellen bilden, die für Bugenhagens Kommentar zentral sind: die Bergpredigt im Matthäuskommentar, die Kommentierung des letzten Mahls Jesu in der Passionsharmonie. Daneben ist nach Motiven zu fragen, die - im Kommentar verstreut - entweder eine Kontinuität im Denken Bugenhagens anzeigen oder Hinweise darauf geben, wie es schließlich doch zu einer Entwicklung seiner theologischen Auffassungen gekommen ist. Methodisch sollen die gesteckten Ziele in erster Linie durch eine genaue Textanalyse erreicht werden. Zitate und Anspielungen aus früheren Kommentierungen des jeweiligen Bibeltextes werden in ihrer Funktion für Bucausa canonia iam anno 1521 a Duce Pomeraniae, tunc adhuc catholico, fuit suppressa." Ähnlich der deutsche Text in ders., GESCHICHTE, 1 0 2 . Aus dem deutschen Text geht klar hervor, dafi Backmund der Meinung ist, Bugenhagen sei schon 1517 ein Anhänger Luthers gewesen: „In Belbuck gründete der letzte Abt ein Seminar, dessen Leitung er dem großen Freunde Luthers, Bugenhagen übertrug. Die Folge war, dafi Abt und Konvent alsbald eifrige Anhänger Luthers waren, weshalb der damals noch katholische Herzog von Pommern das Kloster 1521 aufhob." 51 Vgl. die Ausgaben der hochdeutschen Passionsharmonie von 1544 und der lateinischen Passionsharmonie von 1546 (Geisenhof, BIBLIOTHECA BUGENHAGIANA Nr. 8 7 und 69). In beiden Widmungsvorreden wird von einer Zeit „vor 26 Jahren" gesprochen (hochdeutsche Ausgabe: [A3 b ], lateinische Ausgabe: [A4 a ]). - Zur Geschichte der gedruckten Passionsund Auferstehungsharmonien Bugenhagens s. Bieber, G O T T E S W O R T . 52 So Hauschild, AUSEINANDERSETZUNG, 97.
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Einleitung
genhagens eigene Auslegung sorgfaltig abgewogen, um dann zu einer Darstellung seiner Argumentationsgänge und des Zusammenhangs zwischen der Kommentierung einzelner Bibelstellen mit den thematischen Schwerpunkten des Kommentars zu gelangen.
Teil I
Der Weg zur Reform: Orientierung an der Heiligen Schrift und Verinnerlichung der Frömmigkeit
Kapitel 1
Schriftprinzip und historische Wahrheit Erasmus von Rotterdam ist, wie R. Stupperich festgestellt hat, unter den spätmittelalterlichen Theologen „der erste, der ein Schriftprinzip in gewissen Grenzen kennt" 1 . In seinem bibelhumanistischen Programm wird der Erforschung der Heiligen Schrift auch gegenüber dem Studium der Kirchenväter ein Vorrang eingeräumt. 2 Für Johannes Bugenhagen ist die Philosophie Christi, wie Erasmus sie in den Einleitungsschriften zu seiner Ausgabe des Neuen Testaments von 1516 darlegt, Grundlage der Beschäftigung mit dem Matthäusevangelium. Zitate aus PARACLESIS und RATIO stehen am Beginn des Matthäuskommentars, und die humanistische Devise „ad fontes" verwirklicht Bugenhagen in der erasmischen Abstufung: Er erschließt den biblischen Text mit allen verfügbaren philologischen Hilfsmitteln und verwendet bei der Kommentierung vorwiegend die Auslegungen der Kirchenväter. Anders als Erasmus von Rotterdam versucht Bugenhagen die Zuverlässigkeit der Bibeltexte jedoch nicht nur philologisch zu sichern. Während Erasmus eine Unfehlbarkeit der Schrift nur für Hauptstücke des Glaubens und der Sitten ids notwendig ereichtet (und dafür Kritik erntet 3 ), ist Bugenhagen das Problem der Verschiedenheit der Evangelien bewußt. Er geht es auf harmonistischem Wege an. Seiner Harmonisierung verschiedener Evangelientexte, vor allem jedoch der Passions- und Auferstehungsberichte, hegt die Frage nach der historischen Zuverlässigkeit zugrunde. Bugenhagens Beschäftigimg mit dieser Frage läßt heutige Leser des Kommentars an die Zeit nach dem Reformationsjahrhundert denken, in der die historische Problematik der Bi1
Stupperich, NEUORIENTIERUNG, 153.
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Vgl. ebd. die Fortsetzung des vorangehenden Zitats: „Dieses ist fur ihn absolut, während die Kirchenväter durchaus irren konnten und geirrt haben." 3 Vgl. A N N O T . IN M T 2, Nr. 6 (LB VI, 13D). - Zu den Reaktionen auf diese Annotatio vgl. Greitemann, EXEGEET, 367.
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Kapitel 1. Schriftprinzip und historische Wahrheit
beitexte voll gesehen wird. Der Lösungsversuch im Kommentar weist dagegen in die Zeit vor der Reformation zurück: Die Harmonistik ist von der Alten Kirche in apologetischer Absicht begonnen und im Mittelalter zu erbaulichen Zwecken weitergeführt worden. Bugenhagens heftige Kritik gilt den mittelalterlichen Passionsharmonien, die zur Unterstützung der Predigt in der Karwoche herausgegeben worden sind. Doch steht er selber in dieser Tradition. Er beschäftigt sich mit Predigthilfen, da er ein fundamentales Interesse an der Verbesserung der Predigt hat. Auch hier unterscheidet er sich von seinem Lehrmeister Erasmus: Anders als Erasmus, der seine Philosophie Christi für die geistliche Bildung des einzelnen Christen entwirft, ist Bugenhagen nicht nur an den individuellen Kenntnissen und Erkenntnissen interessiert, sondern es geht ihm besonders um die Weitergabe des Erkannten in der Predigt. Am Beginn dieses Kapitels soll deswegen die These stehen, daß die philologische Arbeit im Gefolge des Erasmus und die harmonistische Arbeit nach traditionellen Vorbildern einer Erneuerung der Predigt dienen. Bugenhagen ist davon überzeugt, daß eine wahre Predigt auf der Grundlage der Heiligen Schrift und ihrer historischen Wahrheit die Kirche verändern wird.
A) Die erasmischen Grundsätze zum Verständnis der Evangelien Bugenhagen bekennt sich ausdrücklich zum Bibelhumanismus des Erasmus, wenn er seinem Matthäuskommentar eine zweifache Sammlung von Zitaten vorausgehen läßt. Unter der Überschrift EXHORTATIO AD CHRISTI PHILOr v SOPHIAM kommt zunächst Erasmus selbst zu Wort [l , l ]; in D E EVANGELIIS arbeitet der Verfasser des Kommentars Grundsätze zum Verständnis der Evangelien anhand von Zitaten aus Werken der Kirchenväter und der Bibel aus [1V-4V], Am Ende der Kommentierung von Mt 2 steht die erasmische Auffassung vom Kommen und Lehren Christi zusammengefaßt in einem wörtlichen Zitat [19r]. Diese drei Abschnitte kommen wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung im folgenden so zur Darstellung, daß jedes einzelne Zitat auf seinen Stellenwert in Bugenhagens Verständnis der Evangelien hin untersucht wird.
1. Die Philosophie Christi als Grundlage der Bibelauslegung Am Beginn von Johannes Bugenhagens Matthäuskommentars steht eine EXHORTATIO. Hier wird der erweiterte Titel der erasmische PARACLESIS aufge-
A) Die erasmischen Grundsätze zum Verständnis der Evangelien
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