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German Pages 144 [152] Year 1960
SOMMERHALDER, JOHANN FISCHARTS WERK
QUELLEN U N D F O R S C H U N G E N Z U R SPRACH- U N D KULTURGESCHICHTE DER G E R M A N I S C H E N V Ö L K E R
BEGRÜNDET VON BERNHARD TEN BRINK UND WILHELM SCHERER
NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH 4 (128)
HUGO SOMMERHALDER JOHANN FISCH ARTS WERK
WALTER DE GRUYTER & Co., BERLIN vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. 1960
JOHANN FISCH ARTS WERK EINE EINFÜHRUNG
VON HUGO SOMMERHALDER
WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. 1960
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Mit 2 Tafeln
Archiv-Nr. 43 30 60/4 © Printed in Germany. — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten Druck: Berliner Budidruckerei Union GmbH, Berlin SW 61
Johann Fischart Holzschnitt, vermutl. von Christoph Maurer
VORWORT Die deutsche Literaturwissenschaft hat in den zwanziger Jahren Hölderlin und Stifter neu entdeckt und Fischart vergessen. 1921 und 1922 erschien das auf einer Lebensarbeit aufgebaute zweibändige Werk „Johann Fischart" des Prager Volkskundlers und Literaturhistorikers Adolf Hauffen. Es ist nicht nur das Forschungsergebnis eines einzelnen, erstaunlich fruchtbaren Gelehrtenlebens, sondern auch das einer ganzen Generation von Forschern, die sich seit 1860 in Hunderten von Publikationen über Fischart geäußert hatte. Nach dem Erscheinen von Hauffens Werk wurde es aber um Fischart still. Da und dort, auch in neuerer Zeit, erschien eine Dissertation, ein bibliophiler Neudruck oder eine schwache Übertragung ins Neuhochdeutsche; aber keine dieser Erscheinungen zeigt die Spuren einer umfassenden Beschäftigung mit Fischarts Werk; selbst gründlich angelegte Epochengeschichten weisen von Fischart kaum mehr als den Namen auf. Johann Fischart — 1546 oder anfangs 1547 in Straßburg geboren und 1590, vermutlich im lothringischen Städtchen Forbach, gestorben — wurde bald nach seinem Tode vergessen, obgleich einzelne seiner Werke weiterlebten. Schon 1623 kannte man seinen richtigen Namen nicht mehr. Erst Bodmer, Gottsched, Lessing und Herder, später auch Goethe und die Romantiker, unter ihnen vor allen Jean Paul, kannten Fischart wieder. Zur Zeit Jean Pauls entstanden auch die FischartStudien des preußischen Freiherrn von Meusebach, dem wir die Identifizierung eines Teils von Fischarts Werk verdanken und der den Anstoß zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Fischart gegeben hat. Der innere Anlaß für die sehr ausgedehnte und intensive Beschäftigung, die Fischart in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuteil geworden ist, lag allerdings in der vorwiegend stoffgeschichtlichen Fragestellung jener Zeit. Man zerlegte, auf den Thesen Wilhelm Scherers fußend, seine Werke, rekonstruierte gewissermaßen seine Kartotheken und reduzierte die so gewonnenen Teile auf ihren Rohstoff, indem man die Mechanik seines Schaffens rückläufig anwandte. Den Rohstoff führte man in die Bibliotheken zurück, aus denen Fischart ihn geholt hatte. So entstanden Meisterstücke stoffgeschichtlicher Quellenforschung, und diese brachten ein weitgespanntes und vielfach überraschend kunstvoll geknüpftes Netz von Beziehungen zur Literatur und zur Geschichte an den Tag. Fischart erstand als ein virtuoser Techniker der Kompilation und der literarischen Komposition, als Polyhistor und als Sprachartist. Allein, sein Werk war aufgelöst und zerfallen. Wir haben es der Kunst Hauffens zu verdanken, daß diese disiecta membra, kritisch gesichtet
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Vorwort
und historisch verbunden, als „Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation" auf uns gekommen sind. Es wäre gänzlich verfehlt, dieses Bild Fischarts übersehen oder korrigieren zu wollen. Denn es ist richtig und wertvoll. Es enthüllt uns die Stofflichkeit von Fischarts W e r k und erschließt uns die eine Struktur seines Geistes, nämlich dessen elementare Verklammerung mit einer bestehenden, geformten historischen W e l t . I n diesem Sinne, aber nur in diesem, kann Fischart als Polyhistor bezeichnet werden. Denn er ist tatsächlich mit den meisten — man ist zu sagen geneigt: mit allen — Bereichen und Aspekten der geschichtlichen W e l t seiner Zeit bekannt. Eine Reihe jener Studien befaßte sich auch mit Fisdharts Sprache. W i r verdanken diesen Arbeiten eine Bestandesaufna'hme von Fischarts idiomatischem W o r t - und Sprachschatz, seiner Versformen und seiner Rhetorik. I h r Anliegen war, Fischarts Sprache von der Gemeinsprache des 16. Jahrhunderts oder von fremden Sprachen abzuheben und nicht selten psychogenetisch zu erklären. Fischart erscheint als charaktervoller Arbeiter an der Sprache, als Sprachkombinator und als Sprachartist ohnegleichen. Auch diesen Forschungen verdanken wir, ähnlich wie den literaturwissenschaftlichen, eine Statistik der Bindungen Fischarts an den geschichtlichen Sprachbestand und eine erste Einsicht in das technische Wirken seines Sprachvermögens. Aber auch diese Untersuchungen hinterlassen uns von Fischarts Sprache nicht mehr als eine Kartothek, und zwar eine von der S t o f f forschung gänzlich gesonderte; denn zwischen den Ergebnissen beider besteht kein innerer Zusammenhang. Fischarts „Sprache" und Fischarts „ S t o f f " sind beide gleicherweise Material; sie beide stehen außerhalb der Stileinheit von Fischarts W e r k , seiner W e l t entfremdet. Das V e r hältnis dieses Materials zum W e r k besteht aus lauter technischen und psychologischen Beziehungen, die von dem wegführen, was Fischart geschaffen h a t ; sie sind Spuren der Auflösung, nicht der Schöpfungseinheit. V o n dieser bleibt bestenfalls das Bild eines menschlichen C h a r a k ters, Fischarts, der auszuwählen, zu ergänzen, zu kombinieren und seinen S t o f f anderem Stoff, seine Sprache der Sprache anderer entgegenzustellen vermag. Fischarts W e r k war aufgelöst in S t o f f und dieser in seine geschichtliche W e l t zurückversetzt und eingeebnet. W e n n in unserem Jahrhundert kein einziges größeres der nur in Originaldrucken vorhandenen W e r k e Fischarts neu herausgegeben worden ist, so ist das nur eine Folge dieser Auflösung und dieses Verlusts. Audi um die von einem bekannten Verlag geplante kritische Gesamtausgabe ist es — zweifellos auch aus andern und legitimeren Gründen — still geblieben. W i r sind gezwungen, vieles von Fischart in den Originaldruoken des 16. Jahrhunderts zu lesen. Unter allen diesen Umständen w a r es geraten, die Ziele einer Beschäftigung mit Fischart nicht zu weit zu stecken. D i e vorliegende Studie versucht denn auch nichts anderes, als einen neuen Zugang zu
Vorwort
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Fischarts Werk zu zeigen, und sie ist beschränkt auf eine chronologisch geordnete Behandlung der repräsentativen Werke. Sie geht so vor, daß sie jedes dieser "Werke als ein Ganzes betrachtet und es als eine spontane Schöpfung voraussetzt. Die Berechtigung dafür ist offensichtlich: Alles, was Fischart an „Stoff" übernommen hat, ist von ihm auch angeeignet worden. Der beste Beweis dafür ist seine Sprache, denn diese zeigt auf den ersten Blick eine derart ausgeprägte Einheitlichkeit und Einmaligkeit, daß sie unverwechselbar ist. Die Frage nach dem, was Fischart seinen vielen Vorlagen verdankt, etwa denen der „Flöh Hätz", des „Glückhaften Schiffs" oder des „Jesuiterhütleins", könnte wohl mit ebensoviel Berechtigung auch umgekehrt gestellt werden, nämlich: Was hat die Vorlage Fischart zu verdanken? Es gibt eine durchaus nicht ungeschichtliche Kausalität, die dem Strom der Zeit entgegengerichtet ist. Ferner versuchten wir den jedem besprochenen Werk innewohnenden Grundzug oder einen für Fischarts Schaffen charakteristischen Wesenszug etwas über Gebühr hervortreten zu lassen. Nur durch dieses Verfahren wurde es möglich, die der werkweisen Darstellung innewohnende Gefahr der Wiederholung einigermaßen zu vermeiden; wir haben also diesem einen Werk einen Teil dessen aufgebürdet, was einer Reihe anderer auch eigen ist. Verzichtet haben wir auf eine Wiedergabe von Fischarts Biographie; denn diese hat seit Hauffens unübertrefflicher Darstellung weder kritische Einwände noch sachliche Erweiterungen erfahren. Verzichtet haben wir auch auf die Zuweisung Fischarts an eine von der Geschichtsforschung vorgeprägte Epoche. Selbstverständlich gehört Fischart schon auf Grund seiner Verklammerung mit der Literatur und mit der Geschichte der frühesten Zeit der Gegenreformation an, die ihrerseits von der Renaissance und vom Barock nur schwerlich abzugrenzen ist. Aber er ist ihr einziger bedeutender Dichter und Schriftsteller, und er hat der beginnenden Gegenreformation mehr gegeben als diese ihm. Es würde für sein Werk einen Substanzverlust bedeuten, wenn es vorwiegend auf die Ebene des Historischen bezöge. Deshalb ging es uns vorerst darum, die Einzigartigkeit dieses Werks mit neuen Mitteln in den Bereich der Verständnismöglichkeiten des heutigen Lesers zu ziehen, damit ein so seltener Geist wie der Fischarts zum Bewußtsein des modernen Menschen Zutritt erhalte.
INHALT Seite Die ersten, konfessionell-polemischen Dichtungen
1
Eulenspiegel
11
Aller Praktik Großmutter
31
Der Flöh Hätz
40
Die Geschichtklitterung
52
Das glückhafte Schiff
80
Das Padagrammische Trostbüchlein
89
Das Philosophische Ehezuchtbüchlein
94
Glaube und Dogma
105
Virtuosität
116
Literaturverzeichnis
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DIE ERSTEN, KONFESSIONELL-POLEMISCHEN D I C H T U N G E N Fischarts Werk beginnt polemisch. Wir kennen keine Versuche anderer Art, sondern nur erste, polemische Versdichtungen, die, bei allen Mängeln der Gestaltung, uns im Sprunge mitten in die konfessionellen Probleme des spätem 16. Jahrhunderts und der Gegenreformation hineintragen. Somit zeigt sich uns Fischart gleich in seinen ersten Werken mit scharfem Profil und in einer durchaus eindeutigen und zum äußersten entschlossenen Haltung. Sein Wissen, daß alle diese Probleme vielfältig materiell zu unterbauen und zu exemplifizieren vermag, ist Zeugnis eines ausgedehnten und tiefreichenden Studiums der beiden konfessionellen Hauptpositionen seiner Zeit, der katholischen und der protestantischen. Doch kann es bei unserer Analyse und Interpretation dieser Werke nicht um den theologischen Aspekt als solchen, sondern vielmehr um die Art und Weise von Fischarts Polemik, um seinen polemischen Stil und um das Phänomen des Polemischen selbst gehen. Der theologische Aspekt stieße zwar zweifellos auf das eine Motiv von Fischarts Dichten der ersten Siebzigerjahre, aber schon die Beschäftigung mit den nächsten Werken dürfte uns zeigen, daß rein dichterische Motive immer mehr und immer kräftiger im Spiele waren. Der dichterische Impetus ist Fischarts stärkster, auch dort, wo er sich als Polemik ausspielt. Am 22. November 1568 starb der Straßburger Bischof Erasmus von Limburg, der durch eine taktvolle Politik sein Bistum über die Reformationszeit hinweg zu erhalten vermocht hatte und der in seinem fast ganz protestantischen Regierungssitz Straßburg den Neugläubigen als wohlgesinnt galt. Die Stadt war nun leidenschaftlich bestrebt, wiederum einen verträglichen Bischof zu erhalten, und der Präsident des Straßburger Kirchenkonvents, der orthodoxe Lutheraner Johannes Marbach, hielt am Tage der Wahl eine leidenschaftliche und herausfordernde Predigt zugunsten eines liberalen Bischofs. Gewählt wurde jedoch der Domherr Graf Johann der Vierte von ManderscheidBlanckenheim, ein schroffer, zielbewußter und herrschsüchtiger Mann, der sich weigerte, die Rechte der Stadt anzuerkennen, und der wenige Jahre später die Jesuiten ins Land rief. 1 Sommerhaider, Fischart
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Die ersten, konfessionell-polemischen Dichtungen
Auf die Predigt Marbachs antwortete der junge Theologe und spätere bayrische Hofprediger Johann Jakob Rabe, der als Sohn eines Münsterpfarrers in Straßburg aufgewachsen war, während seines Theologiestudiums aber zur katholischen Kirche übergetreten und nach weiteren Studien in Jesuitenkollegien schließlich zum Priester geweiht worden war. Dieser ein Jahr vor Fischart geborene Konvertit und Jesuitenzögling forderte mit einer Apologie auf den neuen Bischof und auf die Jesuiten die Straßburger Protestanten heraus. An ihrer Stelle antwortete Fischart im Jahre 1570 mit seinem ersten Werk: „Nacht Rab oder Nebelkräh. Von dem vberauß Jesuwidrischen Geistlosen schreiben vnnd leben des Hans Jakobs Gackeis, der sich nennet Rab? . . , allen Christliebenden, in diser gefährlichen zeit, zur Warnung geschrieben. M. D. L X X . " 1 ) Der ,Nacht Rab' ist ein langes, 3755 Verse zählendes Gedicht in paarig gereimten Vierhebern, in denen das 16. Jahrhundert erzählte und stritt und in denen auch Fischart fast alle seine Versdiditungen schrieb. Das Gedicht erschien, ohne Namen des Verfassers und des Druckorts, vermutlich in Frankfurt am Main. Fischarts Autorschaft ist vielfach gesichert. Auch Fischarts zweites Gedicht ist eine konfessionell-polemische Erwiderung, und auch in ihr wird, wie schon im ,Nacht Rab', der Gegner persönlich angegriffen. Er heißt Johannes Nas und ist ein 1534 bei Würzburg geborener Konvertit und Franziskaner, der später Domprediger zu Brixen, Hofprediger zu Innsbruck und schließlich Weihbischof von Brixen wurde. Zur Zeit von Fischarts erstem Angriff auf ihn war er noch Guardian des Franziskanerklosters von Ingolstadt und stand als erfolgreicher Prediger und Schriftsteller im Mittelpunkt der konfessionellen Polemik der Gegenreformation. Nas brachte in seinem seiner Werke2) eine ,Anatomia Lutheri' in Versen, zu der auf einem besonderen Folioblatt auch ein Bild erschien. Dieses Bild zeigt Luther in einer Kirche nackt auf einem Seziertische liegend, während die rings um ihn stehenden Reformatoren, wie das erläuternde Gedicht sagt, seinen Leib malträtieren, indem sie „ . . . hacken, stechen, segen, reyssen, R a u f f e n , sauffen, küssen, beyssen, Sieden, braten, fressen, spilen, Ein yeder nach seim aignen willen."») *) Neudruck in: Deutsche Bibliothek, Bde. 8—10, hg. von Heinrich Kurz. Leipzig 1866/67. Bd. 8, S. 1—98. 2 ) H a u f f e n , Adolf. Johann Fischart. 2 Bde. Leipzig und Berlin 1921 und 1922. Bd. 1, S. 109 f., 114. s) ebd. S. 113.
D i e ersten, konfessionell-polemischen Dichtungen
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Die Malträtierung Luthers ist als Traum motiviert und soll die Uneinigkeit der Reformatoren darstellen, die sich nach Luthers Tod in den kleinlichen Kämpfen zwischen Lutheranern und Calvinisten, Philippisten und Kryptocalvinisten fortsetzte. 4 ) Fischart kehrt in seiner Erwiderung den Spieß u m : Er setzt an Luthers Stelle den heiligen Franziskus und an die der Reformatoren die Vertreter der vielen Franziskaner- oder, nach damaliger Bezeichnug, Barfüßerorden und einzelne andere Repräsentanten der katholischen Kirche. Sein Gedicht hat die seit der Ordensgründung des heiligen Franziskus von Assisi um seine Ordensregeln gehenden kleinlichsten, oft auf nichtige Einzelheiten der Ordenstracht sich erstreckenden Streitigkeiten zum Gegenstand. Er kann demnach Szene und Szenerie wohl beibehalten, was auch für einen von Tobias Stimmer nach dem Nas'schen Bilde verfertigten Holzschnitt gilt. Der Titel seiner 779 Verse zählenden parodistischen Satire heißt: „Der Barfüßer Secten vnd Kuttenstreit, Sihe wie der arm Sanct Franciscus vnnd sein Regel, oder Euangelium, Von seinen eignen Rottgesellen den Barfüßern vnd Franciscanern, Durch jre secten selber gemarttert, zerrissen, zerbissen, zertrent, geschändt, anatomiert, zerzert, zerstückt, zerketzert, beraubt, geplündert vnd züschanden gemacht w ü r t . . . Dem F. J. N. vnd seiner Anatomy, zü lieb gesteh, Durch J. F. M. G." 5 ). Noch vor der Beendigung des ,Barfüßer Sekten- und Kuttenstreits' hatte Fischart eine großangelegte Satire zu schreiben begonnen, die er ausdrücklich als Antwort auf Nasens polemische ,Centuriae', insbesondere auf die vierte, bezeichnete. Sie erschien 1571 in Frankfurt unter dem Titel „Von S. Dominici, des Predigermünchs, vnd S. Francisci Barfüßers, artlichem Leben vnd großen G r e w e l n . . . Gestelt aus liebe der warheit von J. F. M e n t z e r n . . . A N N O M. D. LXXI."") Der ,Dominicus' hatte als Programm die Legenden des heiligen Dominicus und die des heiligen Franziskus, vor allem aber den Streit zwischen ihren beiden Orden. Mehr als die Hälfte des 5071 Verse zählenden Gedichts nimmt jedoch die Polemik gegen die Hauptdogmen der katholischen Kirche ein. 4) vgl. G o e t z , Walter. Die Gegenreformation in Deutschland. In: Propyläen-Weltgeschichte, Bd. 5, S. 326 ff. Berlin 1930. 5) Von der Ausgabe des Jahres 1571 besteht ein Neudruck in: Johann Fischarts sämtliche Dichtungen, hg. von Heinrich K u r z . Bd. 1, S. 99—120; die Ausgabe von 1577 ist neugedruckt in: Deutsche National-Literatur, Johann Fischarts Werke, hg. von Adolf H a u f f e n . 3 Bde. Stuttgart, o. J. Bd. 1, S. 409—416; K u r z , Bd. 3, S. 3—8. Zum Titel: F. J. N . = Frater Johannes Nasus; J. F. M. G. = Johann Fischart Mentzer Genannt (vgl. Kurz 1. X X , w o Fischarts Pseudonyme zusammengestellt sind). 6 ) Neudrude in: Johann Fischarts sämtliche Dichtungen, hg. von Heinrich Kurz. Bd. 1, S. 121—253. 1'
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Die ersten, konfessionell-polemischen Dichtungen
Wir enthalten uns im folgenden einer umfassenden Analyse und Interpretation der drei konfessionell-polemischen Frühwerke, weil sie stilistisch noch keine ausgeprägt Fischart'schen Züge aufweisen und weil ihr Ideengehalt seit Jahrzehnten Allgemeingut des 16. Jahrhunderts war. Dagegen benutzen wir sie dazu, die stilistischen Eigenheiten des Polemischen soweit anzudeuten, als dieses in dem Zusammenhang mit Fischarts späterem Werk von Bedeutung ist. Daß sich daraus auch ein Beitrag zum Verständnis des Polemischen überhaupt ergibt, ist im Hinblick auf die Literatur des 16. Jahrhunderts nicht völlig nutzlos. In den zwei größeren der drei polemischen Dichtungen spricht Fischart sein Gegenüber als ,Du* an. „H Ieher du Sdieltman Frater Nas" (Dom. Vorrede l) 7 ). Er spricht somit jeweilen auf längere Strecken nicht ü b e r seinen Gegner zu einem Dritten, sondern er spricht zu Rab oder Nas als zu seinem Gegenüber. Das ist die ursprünglichste polemische Situation. Sein Wort ist also unmittelbar, und es schafft dadurch Gegenwart. Selbst dann, wenn Fischart doch einmal über seinen Gegner zum Zuhörer spricht, weist er gleichsam mit ausgestrecktem Arm auf ihn hin: „Seht, also sterckt der Teuffei hie Die Münch in Irthumb je vnd je" (Dom. 3709). Mit beidem, mit dem Du und mit dieser demonstrativen Gebärde, ist Fischart darauf bedacht, ein Gegenüber zu schaffen und sich dieses zugleich vom Leibe zu halten. Es geht ihm durchaus nicht darum, Gleichartiges oder Gemeinsames zu finden, was ihn mit dem Gegenüber einigen könnte, sondern es kommt ihm von Anfang darauf an, das Verschiedenartige und Gegensätzliche festzustellen, festzuhalten und es immer neu zwisdien sich und seinen Gegner zu werfen: Es geht ihm darum, Distanz zu schaffen und sich mit dem Gegner auseinander zu setzen. Der Stil aller drei Werke ist der der Auseinandersetzung. Die Auseinandersetzung verzichtet darauf, den Gegner umzustimmen oder gar zu überzeugen. Dennoch braucht sie nicht ohne weiteres auch schon Polemik mit sich zu ziehen. Bei der reinen Auseinandersetzung halten sich die Gegner auf der gleichen Ebene auf; in der Polemik dagegen ist das Ziel des Kämpfers die Erniedrigung seines Gegners. Schon das Du verweist den Angesprochenen eine Stufe tiefer. Dieser einen Stufe folgt dann eine ganze Reihe weiterer, die alle im Weltbild des Mittelalters und des Humanismus vorgebildet sind. Ihre 7 ) Wir zitieren nach der Ausgabe von Kurz, der häufigen Druckfehler wegen allerdings unter Beizug der Originalausgabe von 1571.
D i e ersten, konfessionell-polemisdien Diditungen
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Reihenfolge und ihr Gefälle sind schon nach der Lektüre weniger Verse offensichtlich erkennbar: „Vnd soldi laug ding, sedit, lieben leut, Wollen die Jesubüblin heut Mit losem gschwetz erst viel auffmutzen, Ein kot gleidi mit dem andern butzen." (Nacht Rab 697) 8 ) „Ir Keswürm aber, Kuttenhengst, Habt Gottes Wort verworffen lengst," (Dom. 1497). „Gleich wie der vnuerschempte Nas, Der nur ein Hosenflicker was Vnd aus verzweifflung erst ist worden Ein Mündi in dem Barfüsser Orden, Gottsiesterlich aus muttwil nur Besdiönen wil die Römisch Hur? Vnd find doch nichts, der lügensdineider Vnd alle lose Wahrheit neider, Darmit er seine Hur vermutz, Als lügen, die des Teuffels butz Aus seiner Nasen heraus grübelt," (Dom. 1559).
Schon der Diminutiv (Jesubüblein*) erniedrigt; auf die nächst tiefere Stufe gehören der .Hosenflicker' und der .Lügensdineider', die daran erinnern sollen, daß der Gegner Johannes Nas einst Schneidergeselle war. Die Reihe der Berufe reicht schließlich bis zum Henker, dem Dieb und der Hure; sie stehen am Ende der mittelalterlichen Sozialordnung, in der überdies jeder Beruf auch seinen eigenen Narren hatte 9 ). Die nächste Stufe ist die des Tieres, das schon in der Nähe des Bösen und des Teufels steht. Auf sie sind, wenigstens zur Hälfte, der ,Kuttenhengst' und die ,Seunas' (Dom. 196,1653) zu verweisen. Andere Mönche sind Schwalben (Dom. 3221) — ein besonders bösartiges Tier! —, Spatzen, Esel, Käuze, Raben, Schweine oder „Keswürm", Schlangen und Maden; der Teufel erscheint häufig in der Gestalt des Tieres, vor allem des Affen (Dom. 3037; vgl. ebd. 3162). Dem Tiere und dem Tierischen nahestehend ist der Teil, meistens ein Körperteil, zu dem ein Ganzes erniedrigt wird: Johannes Nas wird zur Nase. ,Ars' und ,Bauch' übernehmen diese pars-pro-toto-Rolle am häufigsten; was vordem nur apendix, verächtliches Anhängsel war, ist nun ein Ganzes geworden, indem es sidi zum Herren gemacht hat. So schwellen aber auch andere Teile eines Ganzen in ungebührlicher Weise auf, beispielsweise jeder Heilige der Kirdie. Jeder Heilige wird zur Heiligkeit selbst, und da jeder Orden seinen Gründer gegen alle andern Heiligen ausspielt und ihn zum Heiligen schlechthin erhebt, so 8 ) „laug" = lügenhaft; „auffmutzen" = herausputzen. ») vgl. Nacht Rab 2485; Dom. 155; vgl. „Ein Quodlibet von Narrenn" in: W a c k e r n a g e l , Wilhelm. Johann Fischart von Straßburg. Basel 1870.
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Die ersten, konfessionell-polemischen Dichtungen
fürchtet Fischart eine allgemeine und verheerende Theomachia mönachorum, einen Götterkrieg mit unabsehbaren Folgen (Dom. 2343). Wohl unmittelbar auf den Bereich der apendices folgt der Bereich des Grausigen und des Kotigen 1 0 ). Ihm gehören Nas als des Teufels „ b u t z " (Nasenpfropfen) und der viele K o t an, der überall vorkommt und den N a s als „Francisci angstschweiß vnd geruoch" (Barf. 656) und als besonders wertvolle Reliquie auf einem seiner Bücher fortträgt. Die Polemik, haben wir gesagt, trachtet zunächst nach der Auseinandersetzung, dann aber nadi der Erniedrigung: Der Gegner wird zum Narren, zum Tier, zum apendix oder zum K o t gemacht, zu dem, was in der Welt der Streitenden sozial, religiös, moralisch und schließlich physisch dem Menschen untergeordnet ist. Alle diese Dinge, die das Gefälle einer Stufenleiter der Erniedrigung ausmachen, sind Gegenstände des Widerlichen, Gefährlichen, Verdächtigen, Anrüchigen, Schmutzigen und Ekligen, von dem diese Erde voll ist. Zusammengenommen sind sie die Dinge einer eigentlichen Unterwelt, und die polemische Satire Fischarts schafft ein unterweltliches Leben riesigen Ausmaßes. Noch vor wenigen Jahrzehnten rühmte man an Fischarts Stil die „anschauliche poetische Einkleidung" oder seine Kunst, eine „innere Welt in lebendiger Anschaulichkeit" darzustellen 11 ). Diese Urteile, die sich alle auf die beschriebenen polemischen Frühwerke beziehen, meinen ein ganz bestimmtes stilistisches Phänomen, nämlich die massive, unsere Sinne kräftig affizierende Dinghaftigkeit, wie sie die Unterwelt uns darbietet. Doch der Begriff der Anschaulichkeit schloß in jener Literaturwissenschaft nicht nur die Bedeutung des den Sinnen Faßbaren ein, sondern anschaulich nannte sie den Stil nur unter einer bestimmten theoretischen Voraussetzung, unter der Voraussetzung nämlich, daß der Dichter vor allem Sprechen einen Besitz von abstrakten, gänzlich unanschaubaren Begriffen oder Gedanken habe, daß also Dichtung auf einer Vorstufe des Werkseins etwas völlig Abstraktes, Unansdiaubares sei. Die poetische Tätigkeit bestünde demnach darin, diesen Gedankenschatz durch eine Metamorphose in Vorstellungen konkreter Dinge umzusetzen, ihn .anschaulich' zu machen. Der ,nackte' Gedanke würde bei dieser ,Veranschaulichung' in angemessene und schöne Hüllen gesteckt, sodaß der dichterische Vorgang als poeti10) Der Bereich des Obszönen, im Sinne des Schamlosen und Schlüpfrigen, fehlt im großen und ganzen bei Fischart (worauf von der Literaturgesdiichtschreibung immer wieder hingewiesen worden ist); dagegen ist der des Sexuellen keineswegs aus der Welt seiner Dichtung verbannt. 41) H a u f f e n . Johann Fischart. Bd. 1, S. 131; K u r z . Johann Fisdiart» sämtliche Dichtungen. Bd. 1, S. X X X I I .
Die ersten, konfessionell-polemisdien Dichtungen
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sehe ,Einkleidung' bezeichnet werden müßte. Im Falle Fischarts verstand man unter diesen Hüllen die Tausende von Dingen, zum Beispiel der Erniedrigung, in deren Erfindung Fisdiart seine Vorgänger alle übertroffen hätte. Wir zweifeln seit langem an der Richtigkeit dieser ,Einkleidungs'theorie und haben die Auffassung, daß bei den meisten Dichtern eher der gegenteilige Ablauf sich einstelle. Gerade bei Fischarts Schaffen scheint nicht der abstrakte Gedanke das Erste und das Ding das Zweite gewesen zu sein. Sein Werk zeigt nämlich auf jeder Seite die Folgen eines Mangels an Abstraktionsvermögen und gedanklicher Konzentration; sein dichterisches Denken ist von allem Anfang ein intuitives, dingliches, von dem er so sehr bedrängt wird, daß er nur selten zu einem das Geschaffene umfassenden Blick kommen kann. Immer wieder mahnt er sich selbst zur Kürze (z.B. Dom. 746!), doch immer wieder erliegt er dem Andrang des vielen Realen. Vor allem aber werten wir diese realen Dinge anders, als es jene positivistische Literaturwissenschaft getan hat. Wir nehmen sie ernster, weil sie Wort geworden sind, s i e und nicht ein abstrakter Gedanke, den wir gar nicht kennen. Wir betrachten sie als Bausteine einer dichterischen Welt, als Teile der poetischen Substanz und nicht als beliebige, auswechselbare Akzidenzien eines abstrakten Kerns. Diese in ihrer vollen Realität anerkannten Dinge der konfessionellpolemischen Gedichte tragen aber ihren Wert nicht in sich selbst, sondern der Grad ihrer Niedrigkeit ist gegeben durch die wertbestimmenden Mächte ihrer Zeit, durch Glauben und Wissenschaft, Kunst und Empirie, die allerdings in einem völlig abgeblendeten Hintergrunde von Fischarts Welt stehen. Die niedern Dinge erscheinen nicht in ihrer metaphysischen und geschichtlichen Abhängigkeit, sondern in ihrer psychophysischen; denn sie sind immer Gegenstände des Affekts. Alles unterweltliche Leben ist den lasterhaften Affekten unterworfen, und seine Dinge sind Gegenstände der Streit- und Rauflust (Nacht Rab 1497), der Hochstapelei (1527), der Hurerei und des Lasters überhaupt (2333). Fischarts Mönche selbst sind „Ein Grundsupp aller Laster" (Dom. 4045); sie leben in „Faulheit, Sicherheit, In Geilheit vnd Radigirigkeit, In Neid vnd Hass vnd Hurerey, In Vnkeusdiheit vnd Schwelgerey," (Dom. 4035)
und das Porträt Rabes — eine Leonardische Fratze — gibt geradezu eine physiognomische Skizze der niederen Affekte: „Ich wolte, daß dich jederman Einmal nur solt gesehen han,
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D i e ersten, konfessionell-polemischen Dichtungen Sie würden auß deim Andlitz bald Auß deinen gberden vnd gestalt Dein art abnemmen, wie du seyst, Vnd was du habest für ein geist, Dein eingebissen neidig maul Vnd stinckedit wie ein Adeergaul, Dein eingefallen Böckisch backen So hart gleich wie ein Kiselwacken, Dein äugen gar tieff in der stirn, Weichs dann anzeigt kein redlich hirn; Dein spitzig kin ohn allen bart," (Nacht Rab 1663).
Der Hauptvorwurf, den Fischart seinen Gegnern macht, richtet sich gegen ihr wirkliches Verhalten im Vergleich mit ihren Ordensregeln, Dogmen und der Heiligen Schrift. Ihr Leben, sagt er, widerspricht den von ihnen einst aufgestellten Glaubensthesen, und zwar widerspricht es nicht, indem die Mönche diesen Regeln andere gegenüberstellten, Antithesen — daraus entstünde der theologische Streit —, sondern ihr Leben ist aller Regel feind, weil es allein den Affekten hörig ist. Es ist eine affektive Wirklichkeit, die „der Regul ist gar fremd" 1 2 ) und die mächtiger ist als alle Worte der Kirche und der Heiligen Schrift. Dennoch verurteilte Fischart dieses dem Affekt verfallene mönchische Leben noch immer nicht so hart, wenn es nicht den Anspruch auf Repräsentation des Heiligen machte. In der Dominikus-Legende wird Dominikus dem Heiland selbst verglichen und seine Wundertaten über diejenigen Christi gestellt. 13 ). Selbst der geringste Teil der Mönchstracht präsentiert Sakrales und kann deswegen Gegenstand endloser Ordensstreitigkeiten sein (Dom. 165), und jeder Orden trachtet nadi der Papstkrone, damit er in den Besitz der Heiligkeit selbst gelange (Dom. 591). Erst dieser Anspruch auf Besitz oder doch auf Repräsentation des Heiligen gibt dem unterweltlichen Mönchstum das Odium blasphemischer Verruchtheit. Der Mönch ist schließlich des Teufels Knecht (ebd. 3921, 3309), und die Orden sind vom Teufel selbst gestiftet (ebd. 629). Doch eben da, wo Fischart das Mönchische am tiefsten verdammt, schlagen seine Worte zuweilen ins Gegenteil u m : Der polemische Furor springt unerwartet in ein schallendes Gelächter um. Fischart unterschiebt den beiden Ordensgründern Dominikus und Franziskus eine Legende, die den Ursprung des Streites zwischen Dominikanern und Franziskanern erklären soll. Die beiden Patrone ge12 ) „Der Barfüser Secten vnd Kuttenstreit", Ausg. 1577, Vers 50. In: Johann Fischarts Werke. Hg. von Adolf Hauffen. Bd. 1, S. 409—416. 13 ) vgl. H a u f f e n . Johann Fischart. Bd. 1, S. 124, vor allem, was über den liber conformitatum des Bartholomäus von Pisa gesagt ist.
Die ersten, konfessionell-polemischen Dichtungen
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rieten einst auf gemeinsamer Wanderung an einen Fluß, wo sie übereinkamen, Franziskus solle den Dominikus auf seinen Schultern ans andere Ufer tragen. Mitten im Fluß erfährt Franziskus, daß Dominikus Geld mit sich führe. Ihm, dem Gründer des Bettlerordens, ist jedoch das Geldtragen verboten. Flugs läßt er deshalb den weltlichen Dominikus ins Wasser plumpsen und läuft ans Ufer. Mit Mühe vermag sich schließlich auch Dominikus aus dem Flusse zu retten. „ E r schüttelt sich vnd rürt die Lenden Gleich wie ein schwartzer Wasser Hund, Der aus dem Wasser kompt zur stund. E r saß dort wie ein K a t z verjrrt, Die durch den Bach gezogen wird. Doch, das es werd verglichen ehrlich, So saß er dort so vngefehrlich Wie Jonas in der Sonnen saß, Da er ausm Walfisch komen was." (Dom. 382)
Das ist zweifellos ein kleiner Schwank. Während des Anhörens der ,Legende' beginnt die Atmosphäre mehr und mehr sich aufzuheitern, bis ein befreiendes Lachen durchbricht. Es ist das Lachen dessen, dem mitten im Geprassel des Kriegslärms der todernste Gegner und die ebenso ernste Wirklichkeit auf einmal in einer bemitleidenswerten, vielleicht gar liebenswerten Beschränktheit und Einfalt erscheinen. Das mönchische Leben wird seiner Gefährlichkeit beraubt und erweist sich unter diesem Aspekt als harmlos. Einmal, wie Dominikus seine Mönche im Himmel sucht, findet er sie, eng aneinandergepreßt und übereinanderliegend wie junge Hunde, unter dem Mantel der Maria verborgen, wohin sie vor dem Teufel geflüchtet sind. Eine andere, unübersehbar große Schar der verschiedensten Mönche wartet hingegen vor dem Himmel vergeblich auf gute Nachricht. Doch ihre Geduld ist groß: „Etlich die gehn zu Murmeln vmb Vnd thun, als ob sie weren stumb, Vnd plappern mit dem maul vnd murren, Gleich wie die grossen Hummeln schnurren, Vnd reden nichts, das man verstand, Tragen viel Büchlein in der hand, Marialia vnd Rosaria, Missalia vnd Coronaria Darmit sie meinen zu bethören Sanct Peter, das ers müs erhören," (Dom. 923).
Hier tritt zur harmlosen Komik der Situation ein lautliches und rhythmisches Spiel, das dem tödlichen Ernst der konfessionellen Polemik von Grund auf zuwiderläuft. Denn jedes derartige Spiel ist nicht nur um einer Absicht, hier um eines Gegners willen, sondern auch
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Die ersten, konfessionell-polemischen Dichtungen
um seiner selbst willen da. Es verrät eine Lust, die Vielheit von Dingen und Geschehnissen zu ordnen, sie nach besonderen Gesetzen zueinanderzufügen und ihnen Namen zu geben, deren Klang und Rhythmus eigenen Gesetzen folgen. Es ist auffallend, daß im dritten der betrachteten Frühwerke das spielerische Element weit stärker ist als in den beiden ersten. D a und dort tauchen neben seltenen Reimen neue Möglichkeiten von Laut- und Wortwiederholungen auf, und immer deutlicher verrät Fischart eine Neigung, die vielen Dinge der Welt nicht nach Zwecken, sondern nach lautlichen Merkmalen spielerisch zu ordnen: „In jedem Kloster, Kirch, Capell, In jedem winckel, Chor vnd Cell Hencket ein sonder Teflein dort, D a r a u f f ein sonder gbet vnd wort, Weichs ist eim sondern Heilgen gschriben." (Dom. 947)
Angesichts dieser Spiele mit Dingen, Lauten und Rhythmen taucht eine Frage auf, die schon an dieser Stelle erwogen werden darf, auf die jedoch noch keine Antwort zu erhalten ist. Es ist die Frage, ob in Fischarts Frühwerken die konfessionelle Polemik der einzige Zweck sei oder ob nicht die Lust an Klang und Bewegung und die Freude am sprechenden Aufweisen der vielen Dinge und Geschehnisse dieser Erde, ob nicht auch das zwecklose Spiel am Werden dieser Werke beteiligt gewesen sei. Ist es diese Lust, die da und dort die todernste Polemik mildern hilft und einen Schimmer von H u m o r über die Dinge auszubreiten vermag? Fischarts Verhältnis zu den realen Dingen der Erde ist jedenfalls ein ganz anderes als das seiner Mönche. Fischart ist Protestant. Er bekennt sich mehrmals zu der Überzeugung, daß das Heilige sich nur als Gnade (Dom. 1514), nur durch Christum (ebd. 864) und nur im Herzen (ebd. 4246) erfahren lasse. Von der Innerlichkeit seiner Religiosität aus gesehen, muß jedes reale Ding, das den Anspruch erhebt, geheiligt zu sein, muß alles Sichtbare der katholischen Kirche seiner Sichtbarkeit wegen ein verfehltes Ding sein; des Heiligen läßt sich keinerweise im Ding habhaft werden: „Denn wo hat Paulus je veriehen, Was er im Himmel hat gesehen, Dieweil es ist gar vnausspredilidi?" (Dom. 3 0 1 1 ) " )
Die Dinge werden also von der „Mönchsrotte" für falsche Dienste in Anspruch genommen. Andererseits schließen wir auf eine besondere Neigung Fischarts zu einem Spiel mit Dingen und Lauten. Im Lichte 14
) „veriehen" = ausgesprochen, verkündet.
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dieser Neigung verwandelt sich die falschbegriffene Dinglichkeit der Mönche in den Gegenstand eines da und dort aufleuchtenden Humors. E r scheint schon über den beiden ersten Versen des .Dominicus' zu schweben: „ I C H mus ein man mit seinem Kleid Beschreiben sampt der Heiligkeit," (Dom. 1).
EULENSPIEGEL Wir wissen nicht, wann und mit welcher Absicht Fischart die Arbeit an seinem umfänglichsten Verswerk, dem ,Eulenspiegel', begonnen hat. Teile davon dürften zu seinen frühesten dichterischen Versuchen gehören 1 ); abgeschlossen war das Werk jedenfalls Ende 1571, denn es erschien zur Fastenmesse des nächsten Jahres in Frankfurt am Main 2 ). Fischarts Vorlage war eine 1543 in Straßburg erschienene oberdeutsche Fassung des ursprünglich in niederdeutscher Prosa geschriebenen Volksbuches von Dyl Vlenspiegel 3 ). Fischart schrieb dieses Buch mit Ausnahme eines einzigen Schwankes, des siebenundneunzigsten, in Verse um und setzte seinem Werk zuerst einen Versprolog Eulenspiegels an den Leser, dann eine „abred an die Eulenspiegler" und schließlich einen Versprolog des Dichters an Eulenspiegel voran. Erst dann folgen die 98 Kapitel, deren jedes einen Streich Eulenspiegels erzählt. Das Werk wurde von Tobias Stimmer, der seit 1570 in Straßburg arbeitete, mit Holzschnitten illustriert, auf denen wir da und dort eine Ähnlichkeit Eulenspiegels mit Fischart zu erkennen glauben. Im Titel seines Buches macht Fischart den Leser zweimal darauf aufmerksam, daß er als erster den ,Eulenspiegel c in gereimten Versen erzähle, und er zitiert sein Buch in späteren Werken mehrmals als ,Eulenspiegel Reimenweiß". Sein Vers ist der uns aus seinen polemischen Werken bereits vertraute paarweise reimende Vierheber mit acht oder neun Silben, je vgl. E n g 1 e r t , Anton. Die Rhythmik Fischarts. München 1903. S. 69, Anm. 4. 2 ) „Eulenspiegel Reimensweiß. Ein newe Beschreibung vnnd Legendt deß kurtzweiligen Lebens / vnd seltzamen Thaten Thyll Eulenspiegels / mit schönen neuwen Figuren bezieret vnd nu zum ersten in artige Reimen / durch J . F. G. M. gebracht / nutzlich vnd lustig zu lesen. Cum Gratia et Priuilegio. Getruckt zu Franckfurt." Neudruck in: Deutsdie National-Literatur. Johann Fischarts Werke, hg. von Adolf H a u f f e n. II. Teil. Stuttgart o. J . 3 ) vgl. Deutsdie National-Literatur, 25. Bd. Volksbücher des 16. Jahrhunderts, hg. von Felix Bobertag. S. 12, 16 f.
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nachdem er klingend oder stumpf ausgeht. Seit Heusler wird er als ,strenger Knittel' bezeichnet 4 ). In Fischarts frühen Werken zeigt er eine Neigung zu jambischem Tonfall. Fischart scheint mit dieser Neigung zum Jambus einer Tendenz seines Oheims und Lehrmeisters Kaspar Scheidt gefolgt zu sein 5 ). Ihr ist es zu verdanken daß seine Verse streckenweise den Eindruck besonderer Glätte machen. Im allgemeinen aber schreibt Fischart doch Verse mit unregelmäßig verteilten Akzenten, also eigentliche Knittel, die jenes Höckrige aufweisen, das Heusler für sie als charakteristisch bezeichnet hat. Dabei sind diejenigen Verse auffallend häufig, die mit einem Hochton beginnen, und zwar fällt dieser Hochton fast immer auf Konjunktionen, seltener auf relative Anknüpfungen oder auf Präpositionen, im gesamten also auf Wörter, deren Funktion vorwiegend eine logisch, räumlich oder zeitlich ordnende ist: „ E s ist ein mahl a u f f ein zeit D e r Eulenspiegel nicht sehr weit A u f f eine Kirchweih hin gereißt, D i e m a n allzeit a m besten weißt.* D i e Mutter, die w a s aber mit, D a n n sie dem Sohn getrauwet nit. D a hat er sich gehalten wol V n d ist der erst gewesen voll. Doch hette er ein gutte art, D a ß er nicht zu eim B a l g e r w a r d , Sonder verkroch sich an ein endt, D a er den Wein ausschlieff behendt V n d dürmelt hin gleich in den G a r n e n , D a a u f f jhn etlich B i n k ö r b wartten, Deren d a n n viel waren lär, Als obs a u f f jhn bestellet w e r . " (V. 870)
Dadurch, daß auf den die Verse einleitenden Konjunktionen ,denn', ,da', ,und', ,doch', ,daß', ,sondern', und wahrscheinlich sogar auf dem ,als' des letzten Verses ein Hochton liegt, wird der logische Zusammenhang der Verse akzentuiert. Jeder Vers wird in ein genau entschiedenes logisches Verhältnis zu seinem Vorgänger gesetzt. U n d gleichzeitig weist er auch auf den ordnenden Verstand des Erzählers zurück, der sich in die Erzählung gemischt hat, um mit Hilfe des kon4 ) vgl. H e u s l e r , A n d r e a s . Deutsche Versgeschichte. 3 Bde. Berlin u n d L e i p z i g 1925—1929. B d . 3 §§ 899, 908, 914, 915. 5) H a u f f e n , A d o l f . K a s p a r Scheidt, der Lehrer Fischarts. Studien zur Geschichte der grobianischen L i t e r a t u r in Deutschland. Q u e l l e n und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. B d . 66. Strassburg 1889. * „ w e i ß t " = meidet.
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junktionalen Ordnungssystems der Sprache die Dinge nach Prnizipien miteinander zu verbinden, die weder im Geschehen noch in den Sachen selbst liegen. Dieser Verstand meldet sich zum Wort, weil er seine Stimme über die reine Ereignishaftigkeit des Geschehens hinaus erheben will. Fischarts Verstand gibt seinen Versen einen kaum verwechselbaren und scharfen Schnitt. Hätte dieser Verstand nicht mitgesprochen, so wäre es beispielsweise nicht selbstverständlich, daß Eulenspiegel sich auf der Kirchweih wohl verhalten habe, obgleich er als erster betrunken war: „Da hat er sich gehalten wol Vnd ist der erst gewesen voll."
In unseren Augen hat er das Lob des Wohlverhaltens nicht verdient. Wenn es ihm trotzdem zuteil wird, so hat er es einzig diesem kopulativen ,und' zu verdanken, das aus der Betrunkenheit und aus dem Wohlverhalten wider alle öffentliche Meinung ein Paar macht, das überdies durch den Reim noch enger aneinandergeschmiegt erscheint. Unser Lachen legitimiert die Rechtmäßigkeit dieser fragwürdigen Kopulation. Es bestätigt nämlich die uneingestandene Wahrheit, daß eben darum Kirchweih ist, damit nicht Alltag sei, und daß somit eine andere Ordnung gelte als die gewöhnliche. Fischarts Verstand hat die Dinge durchschaut und ihr wahres Verhältnis unzweideutig hergestellt. Der Verstand spricht aber nicht nur in Fischarts Versen eine klare Sprache, sondern er ist auch an Eulenspiegels Streichen beteiligt. Ja, er ist der Hauptübeltäter, wo es darum geht, im bürgerlichen Alltag Verwirrung zu stiften und Schaden zu erzeugen. Im 66. Kapitel wird von einem Bader berichtet, der sein Geschäft nicht mehr ,Badstube', sondern — k la mode — „Hauß der Reynigung" genannt haben will. Eulenspiegel faßt diese Bezeichnung in einem weiteren Sinne auf und reinigt sich in der Badstube, ganz nach der Art der Grobianer, nicht nur von seinem Schweiß. Hernach verteidigt er sein Tun und seinen Begriff der Reinigung so, als ob er auf einem scholastischen Katheder stünde: „Es ist kein H a u ß der Peynigung, Sonder ein Hauß der Reynigung. Ich muß vor sauber sein inwendig, Sonst ist es nit mit mir bestendig, Ich wil nit hüpsdi sein auff den schein, Sonder von grundt auß fegen rein." (9372)
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Doch auch der Bader versteht sich aufs Definieren: „Die reynigkeit wie du sie heißt, Gehört auffs sdieißhauß, wans nit weißt. Diß ist ein Hauß der Reynigkeit Von butzen, schwitzen für die Leut." (9384) Eulenspiegel hinwiederum erklärt Schweiß und Kot als gleichwertige Akzidentien der einen ,Substanz': „Sie seind gleich gut, sie kommen beyd Vom Leib vnd vberflüssigkeyt." (9392) Worauf der ergrimmte Bader in seiner Bedrängnis vom Gebiet der Nominaldefinitionen auf das der Moral und der Konvention hinüberwechselt: „Das scheissen sich hie nit gezimpt," (9399). Doch weder auf diesem noch auf dem Boden einer handgreiflichen Auseinandersetzung will sich der Logiker Eulenspiegel in einen Kampf einlassen: „Es ist nit hie zu fechten gut" (9420). Der Bader aber greift dann doch zur Gewalt und sperrt Eulenspiegel in den Speisesaal. D o r t motiviert der Schalk mit der Inkonsequenz des Baders eine noch größere Unflätigkeit und macht sich lachend davon. Drei gleiche Reime scheinen hier wie am Schlüsse anderer Kapitel, wo sich Reime zuweilen achtfach wiederholen, Fischarts heimliches Gelächter anzudeuten. Es muß hier darauf hingewiesen werden, daß der Dialog zwischen Eulenspiegel und dem Bader zum größeren Teil wörtlich in Fischarts Vorlage gestanden hat. Aber erst durch Fischarts Versifizierung hat er die Neigung zur Begrifflichkeit und die Zuspitzung erhalten, die ihm den Charakter einer (komisch wirkenden) scholastischen Polemik geben.6) Fischarts Verse tragen aber nicht nur die Zeichnung eines scharfen Verstandes, der das Geschehen .schalkhaft' lenkt, sondern sie tragen noch die Spuren eines andern Ordnungssinnes: In seinen Versen wimmelt es von richtungschaffenden, zeigenden und distanzierenden Wörtern und Partikeln. Es sind diejenigen Sprachteile, denen man deiktische Funktionen zuschreibt, vor allem Präpositionen, die Raum-, Richtungs- und relative Ortsverhältnisse schaffen, also ,in', ,oben', ,auf' oder ,nach'; aber auch fast alle Pronomina, ,dieser', ,du', ,mein', .irgendein' haben deiktische Funktionen. N u n ist zwar eine Sprache ohne die Deiktika kaum denkbar. Bei Fischart aber häufen sie sich der®) Fischarts Vorlage ist uns allerdings nur in einer altern Fassung zugänglich, nämlich in der ersten, aus dem Jahre 1515 stammenden Strassburger Ausgabe. Neudruck in: Deutsche National-Literatur, Bd. 25, S. 111 f.
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art, daß sie ein Merkmal, u n d zwar ein unverwechselbares Merkmal seines frühen Stils sind. „Bekam ein Leyter i n dem hauß Vnd brach das Dach recht o b e n a u ß , Gieng a u f f den Latten a u f f dem Dach Vnd nimpt die Leyter allgemach, Setzt sie v o m Dach a b a u f f die Straß
Vnd steig h i n a b mit guter maß Vnd gieng mit guter weil d a r u o n" (5331). Wenn Fischart Füllwörter braucht, greift er nach solchen D e i k t i k a : „ D e r i n dem D o r f f d a w o h n t z u h a u ß " (26); „ Z u Zell recht f ü r d i e s e 1 b i g B u r g " (3210). Alle diese Deiktika schaffen unzählbare Bezüge, Richtungen u n d Grenzen, u n d sie bauen schließlich einen R a u m auf, der fast nur aus Richtungen u n d Dimensionen besteht, mit deren H i l f e die Dinge ihren O r t angewiesen erhalten. 7 ) In der Mitte dieses R a u m e s steht der Erzähler, und wie seinen Verstand, so trägt er auch diesen vielstrahligen R a u m überall mit sich, wohin er Eulenspiegel begleitet. U n d Eulenspiegel k o m m t weit herum. E r ist an keinen O r t gebunden; er ist heimatlos. U n d doch ist er kein Fahrender, der des Abenteuers wegen v o n einem Zuhause fortgezogen wäre. Übertrüge man nämlich seine Reisewege auf die Landkarte, so entstünde durchaus nicht das Bild einer Fahrt, auch nicht dasjenige einer abenteuerlichen, sondern lediglich ein verwirrliches Gespinst v o n Strichen, die eher an das sinnlose H i n u n d H e r eines Insekts als an Wege eines Menschen erinnerten. Z u d e m reist Eulenspiegel mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit, spielt heute einem kranken A r z t in Magdeburg einen Streich, heilt morgen in Hildesheim ein K i n d u n d taucht k u r z nachher in N ü r n b e r g auf, „etwas w e i t " (2246), wie es den E r zähler selbst dünkt. In Prag, Paris und R o m kennt er sich ebenso gut aus wie in Deutschland. Aber noch etwas ist charakteristisch f ü r Eulenspiegels räumliche u n d zeitliche Welt, und es gilt für den Volksbuch-Eulenspiegel wie für den Fischart'schen. Zwischen den Orten, die der Schalk heimsucht, gibt es weder Berge noch Seen; seine Welt ist ohne Landschaft u n d ohne H i m m e l . Ortschaften sind nur N a m e n oder Relikte seiner historischen Aufenthalte. N i e schneit es, u n d die J a h r e werden nicht gezählt; k a u m einmal erinnert er sich eines Ortes oder eines früher schon heimgesuchten Freundes. Er fühlt sich keinem Volke zugehörig, und er trägt überhaupt kein Bild der äußern Welt in sich, weil er Völker und L ä n vgl. B ü h 1 e r , Karl. Sprachtheorie. Jena 1934. S. 81 ff.
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der wie ein großes Insekt überspringt, das nur für seine Opfer Augen und Sinne hat. Diese sucht es heim, wo sie auch seien. Und ebenso unversehen, wie es sie anfällt, macht es sich wieder davon. Eulenspiegel kennt keine Bindungen an Menschen oder an Dinge; wer und was da ist, besteht nur so lange, als es seinen Zwecken dient. So erscheint uns Eulenspiegel als ein Phantom ohne Erinnerung und ohne Innerlichkeit, fast nur als reiner Verstand, der jedes Ding in eine genaue Beziehung zu sich setzt und weder Dinge noch Menschen an sich bindet. Er ist beängstigend frei. Fischart hat das 97. Kapitel seiner Vorlage, wo von der Ehe Eulenspiegels die Rede ist, als einziges — gewiß mit Grund — nicht in sein Buch übernommen. Ganz gegenteilig verhalten sich die Menschen und die Dinge in der bürgerlichen, von Eulenspiegel heimgesuchten Welt. D a hat jedes Ding seinen Ort, wo es zum richtigen Gebrauch bereit liegt. Hammer und Zange des Schmieds sind zum Hämmern und Fassen, die Nägel zum Aufschlagen der Hufeisen da; der H u n d zum Bewachen des Hauses; die Kirche für den Gottesdienst, das Badhaus zum Baden und das Bett zum Schlafen: Ihre Dinglichkeit, ihr Vorhandensein und ihr Gebrauch sind ein und dasselbe, überall und immer das gleiche. Gleicherweise stetig und verläßlich sind auch die Moral, das Recht und das Gesetz des Bürgers. Sie sind so verläßlich, daß sich Eulenspiegel selbst dann noch ihrer bedienen kann, wenn er sich ihrer längst als unwürdig erwiesen hat. Einmal begibt er sich trotz Landesverweisung ins Fürstentum Lüneburg und läßt sich vom Herzog erwischen. Rasch opfert er sein Pferd, weidet es aus und stellt sich in dessen Bauchhöhle, damit er sich „In sein vier Pfosten oder Pfelen" (3166) aufhalte und nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht verhaftet werden könne. Gleich tragfähig ist der Boden der bürgerlichen Moralgesetze; zum mindesten ist er verläßlicher als die Sittlichkeit und die Aufrichtigkeit der Bürger selbst. Denn am H o f e des Landgrafen von Hessen verleugnet die ganze Gesellschaft mit Ausnahme einer Närrin ihre Augen und ihren Verstand, indem sie, aus Scham vor dem Verdacht, unehelich geboren zu sein, Eulenspiegels lügenhafte Beschreibung (imaginärer) Gemälde von einer weißen Wand mit Zustimmung entgegennimmt (Kap. 26), und in einer Kirche, wo Eulenspiegel damit droht, er werde von den ehebrecherischen Weibern keine Almosen entgegennehmen, stürzen sich die Frauen alle mit unerhörten Gaben zum Opferbecken (30. Kap.). U m der Aufrechterhältung ihres moralischen Ansehens willen verleugnen beide, die Hofleute und die Ehefrauen, leichtfertig die Wahrheit.
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Doch nicht nur die Dinge, das Gesetz und die Moral bleiben sich immer gleich, sondern, auch das Begriffs- und Wertgefüge, wie es an den scholastischen Universitäten von Paris und Prag gehandhabt wird. In nichts unterscheidet sich ihr Wissenschaftsbetrieb demnach von den Geschäften der Bürger; selbst das akademische Zeremoniell entspricht dem Gebaren und dem Reden der Bürger. Beider Sprache, die der Professoren und die der Bürger, ist, wenn nicht zeremoniös, so doch im höchsten Grade stereotyp. Jeder gebraucht für die gleichen Dinge und Vorgänge gleiche, längst geprägte Worte. Und so, wie man etwa berufliches Können als selbstverständlich voraussetzt, wenn Eulenspiegel sich um einen Arbeitsplatz bewirbt, so wird im bürgerlichen Leben die Sprache als etwas Bekanntes, Selbstverständliches und Gemeingültiges vorausgesetzt. Diese Sprache ist zwar voller Bilder, und sie spricht somit allzuhäufig ganz anderes aus, als was sie meint; der Bürger braucht sie metaphorisch und also in einem Sinne, der nur Eingeweihten verständlich ist. Aber innerhalb des Standes und des Berufes kennt sich jeder in diesen Uneigentlichkeiten der Sprache aus. Wenn daher der Wollweber der Meinung ist, seine Wolle dürfte etwas höher geschlagen werden, so denkt er nicht daran, daß Eulenspiegel sie anderntags über eine Leiter aufs Dach tragen könnte (49. Kap.), und wenn ihn der Hamburger Barbier dort hineingehen heißt, wo er die großen Fenster sehe, so hält er Eulenspiegel für einen ordentlichen deutschen Bürger, der die gleiche Sprache spricht und nicht durchs Fenster in sein Haus stürzen wird (71. Kap.). Wollweber und Barbier sind ihrer Sprache so sidier, daß f ü r sie kein Zweifel zwischen das Wort und das Gemeinte einzuschleichen vermag; es bedarf keiner besonderen Abmachungen über das Sprechen. Im übrigen vermeidet der Bürger das Sprechen nach Möglichkeit; denn die Dinge sprechen selbst, da sie ja alle längst im täglichen Gebrauche stehen. Was gibt es beim Bäcker noch über die tägliche Arbeit zu reden, wo doch der Hunger aller seit Jahrhunderten im Brot dringlich vor Augen steht: „Was bistu für ein Becken knedit, Daß du erst fragst, was man bedit," (2454). Wo Eulenspiegel hingerät, da findet er lauter Menschen, die das Gegenteil seiner selbst sind, die in Familien, Städten, im Gewerbe oder auf einem Lehrstuhl festsitzen. Ihre Häuser und Städte liegen dort, wo sie seit Jahrhunderten gelegen haben, und der Bürger treibt in ihnen, was er alle Tage betrieben hat. Jeder fügt sich einer Ordnung, die seit jeher die selbe gewesen ist: Sie sichert das Dasein vor dem Uner2 Sommerhaider, Fischart
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warteten und vor dem Unangemessenen; die Alltäglichkeit ist die Mauer, die der Bürger um sidi her errichtet hat, damit bestehen bleibe, was je bestanden hat. Eulenspiegels Mutter hatte immer gehofft, daß ihr Sohn „Gerathen möcht, wie ander leut" (502). Tatsächlich bemüht er sich denn auch überall, wo er hinkommt, im Alltäglichen und Gewohnten scheinbar mitzuhausen. Im Dorfe Budenstett entschließt er sich, Pfarrknecht zu werden, und „Klopfft an bey eines Pfaffen Hauß, Das Pfäfflin, daß kam bald herauß Vnd fraget, was sein begeren wer. D a saget er, daß er beger Ein Herren, dem er dienen möcht. Der P f a f f hett eben gar kein Knecht U n d sprach: „du komst mir eben recht, Ich kan nicht allzeit sein allein, Wir werden für einander sein. Halt dich nur wol, du solst geniesen Zu dienen sol dich nit verdriesen, Die besten tag solst bey mir haben, Mit bestem Bier wirst dich erlaben Vnd essen allezeit das best, D a wirstu dann fein außgemest." (1246)
Eulenspiegel verhält sich demnach genau so, wie es Brauch ist auf der Suche nach Arbeit, und auch des Pfäffleins Art ist die seines Standes. Es ist rasch an der Tür, wo sich das gewohnte Gespräch abspielt, das aus Frage und Antwort, aus Ermahnungen und aus dem gegenseitigen Versprechen besteht, daß alles „allezeit das best" sein solle und daß Eulenspiegel alles gehorsam nach den Wünschen seines Herrn verrichten wolle. Wie jedem seiner andern Meister, so verspricht er auch dem Pfarrherrn, sich dienend in den Alltag einzuordnen und damit an der Bewahrung der Stetigkeit des bürgerlichen Lebens mitzuwirken. „Ist gut, ich weiß nun ewer weiß, Ich wil alls thun, was jr mich heißt." (1269)
Er hat aber keineswegs im Sinne, sein Versprechen zu halten. Jedesmal wenn Eulenspiegel sich in diese Festung der Alltäglichkeit geschlichen hat, geht über kurz oder lang etwas in die Brüche. Denn er ist zütäppisch und wohl abgerichtet „wie ein Hund der Häfen bricht" (6154). So zerschlägt er die Krüge der Marktfrau, verdirbt
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Felle, Stühle und Bänke des Gerbers, schindet das Hündlein der Wirtin und hat es auf die Nasen und Beine der Wächter und Mönche abgesehen. An seiner falschen Beichte zerschellt die Ehre der Pfarrmagd, die von ihrem Herrn überdies noch halb zu Tode geprügelt wird. Aber auch das Durcheinander- und das Auseinanderbringen dessen, was zusammengehört, ist Eulenspiegels Lust: Die Schuhe der Stadtkinder, die Milch der Marktfrauen, die vier Schneidergesellen; schlimmer ist, daß er in der Kirche den Pfarrer, seine Kellnerin und drei Bauern, die das Osterspiel einüben, so arg hintereinanderbringt, daß sie sich fluchend die Köpfe blau schlagen. Sprachliche Metaphern werden aus ihrem Sinnbereich herausgebrochen und als Bruchstücke schalkhaft gedeutet. Schließlich verwirrt Eulenspiegel selbst den Rektor der Prager Hochschule und deren Professoren, indem er ihre Fragen aus dem wissenschaftlichen Ordnungsgefüge herauslöst und sie naiv-realistisch beantwortet: „Das w a r Thomistisch nidit soluiert, Die Herrlein waren all verjirt." (3663)
Eulenspiegel zerbricht und bringt durcheinander oder auseinander, was bisher ganz und ,in der Ordnung' gewesen war. Er hat es auf alles abgesehen, was in der Kirche, an der Hohen Schule, in der Sprache, im Gast- und Bürgerhaus und selbst unter dem Galgen für unantastbar und deswegen unangefochten gegolten hat. Überall, wo der Papst oder der Henker, der Gelehrte oder der Bauer sich ihrer Sache gewiß glauben und ihrer Stellung sicher sind, da fällt sie Eulenspiegel aus einem Hinterhalt an und bringt sie in Verwirrung oder verleitet sie zu Torheiten und bringt sie schließlich, bildlich oder tatsächlich, zum Absturz. Alles, was Eulenspiegel aus der alltäglichen und selbstverständlichen Ordnung bricht, wird in irgendeiner Weise zu Fall gebracht. Am gelindesten ergeht es den vier Schneidern, die zwischen die Säue purzeln (47. Kap.); der Kürschnermeister (51. Kap.) und die Mönche (92. Kap.), vor allem aber die Wächter (31. Kap.) tun fürchterliche Stürze über Treppen oder zwischen den Planken der Brücke hinunter in der Strom. In irgendeiner Weise fallen alle von Eulenspiegel Geprellten hinein. Bevor uns die Frage nach dem Sinn dieses Fallens beschäftigt, ist anzudeuten, wohin die Gestürzten fallen. Denn irgendwo bleiben sie nach ihrem Falle liegen und leben weiter, obzwar Eulenspiegel und der Erzähler sich nicht mehr um sie kümmern. 2*
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Die Hebamme, die den kleinen Tyl vom Tauftrunk nach Hause tragen sollte, fällt, da sie zu tief in den Bierkrug geschaut hat, in einen Graben: „Der doch nit modit viel wasser haben, Sonder war voll von kot vnd schleim Da war die gut fraw nit daheim. Sie hett beschissen jre kleider Vnd das Kind Eulenspiegel leider, Das ward besudelt vnd genetzt" (98).
Die Hüterin und das Kind fallen in Kot und Schleim, und sie sind nicht die einzigen, deren Sturz im Widerlichen endet; vielen widerfährt Ekligeres. Fischart ist es offensichtlich daran gelegen, uns das Kotige, Stinkende und Eklige ausgiebig sehen, tasten, riechen, hören und schmecken zu lassen. Er entschuldigt sich in der ,Abred' deswegen, indem er vorgibt, daß er der Wahrheit halber die „Grobiten" und Brocken der Vorlage habe beibehalten müssen, daß der Krämer sich nach dem Kram richten müsse und daß nicht alle Streiche das Wegschneiden des Häßlichen ertragen hätten, schon deshalb nicht, weil die Menschen nur angesichts des Schimpflichen sich dem Guten zuwendeten. Da habe er aus der Not eine Tugend gemacht und sich bewußt den Anschein gegeben, als ob er einen „schalckhaften Vnflat" habe ans Tageslicht reißen wollen (Abred S. 17) — es ist die alte und bekannte Entschuldigungsformel der Satiriker. Ob sich in Fischarts Werk das Kotige, das einen breiten Raum einnimmt, im Sinne einer derartigen Vorwortthese rechtfertigte, das wird sich später zeigen lassen. Der moralistischen Abschreckungsthese, die Fischart in der ,Abred' vorträgt, bringen wir ohnehin nicht unser ganzes Vertrauen entgegen. Im ,Eulensipegel' steigen die kotigen Dämpfe jedenfalls zu dick aus Betten und selbst von den Tellern auf, als daß wir ihre moralische Wirkung als die einzige beabsichtigte halten könnten. Vorerst fragen wir jedenfalls unbefangen nach der Wirkung, die das Kotige hat, wenn die Gestürzten mit ihm bekannt werden. „Du vnflat freß nun selber alls Mit deinem fleisch vnd Kerbenschmaitz. Ich wil daruon kein bissen fressen, Du solst erleiden eim das essen." (9824) „Fürwar ich schier vmbs leben kumb, Ich werd erst schwach vnd grausam kranck Allein von diesem großen gstanck." (2050)
Das Kotige, vor allem wenn es in der Hülle von Dingen auftritt, die sonst Gegenstände der lustvollen Begierde sind, ist unüberwindlich. An ihm erfahren die Beschmutzten die Wirklichkeit des Niederen
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und die Grenzen ihrer Sinne und Gelüste: Sie erfahren die Bedingtheit ihrer selbst. Ein von Eulenspiegel erbärmlich besudelter Arzt kommt fast um den Rest seiner durch Krankheit ohnehin geschwächten Lebenskräfte (14. Kap.). Nicht weniger drastisch erleiden Eulenspiegels Opfer die Widerständigkeit der Dinge und die Bedingtheit ihrer selbst in jenen Streichen, die mit einer Prügelei, mit geschundenen Beinen und gebrochenen Rippen enden. Und das gleiche widerfährt den vielen geschädigten Bäckern, Schreinern, Brauern, Schneidern und Kürschnern angesichts ihrer verdorbenen Waren und Werkzeuge. Selbst die Professoren der Sorbonne müssen sich als geschlagen oder vernichtet vorkommen, wie Eulenspiegel ihrer scholastischen Spitzfindigkeit die Unabdingbarkeit der Welt des Realen entgegenhält: er will ihnen die Tropfen des Meeres genau zählen, wenn sie alle Ströme, die ins Meer münden, zu verschließen imstande sind. Wir haben die Welt, in der Eulenspiegel seine Opfer findet, als die des Bürgerlichen bezeichnet, weil sie eine alltägliche ist, die nur auf Dauer und Bestand des Lebens gerichtet ist. Über ihr, und somit dem Realen und Niederen gegenüber, beginnt die Sphäre dessen, was Eulenspiegel das Hohe nennt. Er verspricht in seinem ersten Prolog dem Leser, er wolle sich nicht hoch aufschwingen, sondern immer die Weise der Eulen bewahren; er trachte nicht danach, Ikaros zu gleichen, „Der in dem Meer ersauffen muß, Dieweil er ist zu hodi geflogen. Zu hoch wagen hat viel betrogen. Darumb wil ich hie vnden bleiben Mit kleinerm meine kurtzweil treiben Ynd nicht groß weißheit geben für, Die nicht zu finden ist bey mir." (Prol. I, 196)
Denn die Höhe ist voller Gefahren. Selbst die Musen streben nicht hoch hinauf, im Gegenteil, oft sind es die Geringen und die Mindesten (ebd. 227), um die sie sich am meisten bemühen. „Derhalben bleib ich nun hieniden" (ebd. 219).
Nichts ist verächtlicher und schädlicher als das „vbersich gaffen" (Abred S. 15). Das tun beispielsweise die Jesuiten (27. Kap.). Sie greifen auf ihren Gedankengängen durch die scholastische Metaphysik noch höher in den Himmel als der Rektor der Prager Hohen Schule, der von Eulenspiegel immerhin erfahren möchte, wie weit und wie hoch der H i m -
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mel sei. An andern Schulen wird um die Sitzordnung der Engel gestritten. Immer wieder, wenn auch in ganz verschiedenen Schichten des Seienden oder des Intelligiblen, geht es bei Eulenspiegels Streit mit den Gelehrten um das Hohe. Duns Scotus und die nominalistischen Scholastiker geraten alle in den Schußbereich von Fischarts Spott und, ohne Zweifel wegen seiner im 16. Jahrhundert Mißfallen erregenden dunklen ,Höhe' und wegen seiner aristokratischen Ausschließlichkeit, gelegentlich auch Herakleitos. Wenn auch Anaxagoras neben Herakleitos zu stehen kommt, dann ist vermutlich nur jene Anekdote daran schuld, in der Diogenes Laertios erzählt, Anaxagoras habe zum H i m melsgewölbe gewiesen, als ihn jemand nach seinem Vaterlande fragte. Fischart gibt in der ,Abred' eine physiognomische Schilderung des hohen Geistes, die stilistisch schon an Rabelais erinnert: „Es seind doch weder zu sieden noch zu braten, solche Crassische, Agelastische Creaturen, vnnd Anaxagorische Seytropische Menschen, vnd greinende Heracliti, mit jren zerrenden auffsperrenden Stirnen, vnd feuchten kalten nassen Hirnen, die vergaffenden Augen, die an einem Nagel an der W a n d verstarren, die eben wacker seind wie Wacken im Kot, vnnd mundter wie ein Butschär, mit jhren schwartzen vberlauffenden Gallen, die in dem sie wollen ernsthafft gesehen seyn, alle freundtlichkeit vergessen, vnd zu sawr sehen, vnd gehen zorn sich gewehnen, darauß greuwlichkeic oder heucheley vnd Schalcksklügeler, oder verdeckte sauwre Lauren erwachsen, die nimmermehr den Kopff, so im vbersidi gaffen ermüdet, von der höhe sencken, noch das Ingenium erlassen vnd ernidrigen zu Maronischen Fliegen, zu Nasonischen Nüssen, Kräutern, Graß, Bienen, Homerischen Mäusen vnd Fröschen, sonder wie ein Armbrost allzeit gespannen stehen . . ( A b r e d S. 14 f.)*
Ihr Ende sind Verzweiflung, Irrsinn und jäher, unzeitiger T o d (S. 15). Das H o h e steckt hier gespenstisch als Nagel in der Wand und zieht die Augen der von ihm Gebannten auf sich, bis sie an ihm erstarren. Wer ihm verfallen ist, verliert alle Freundlichkeit, versauert, gerät in Zorn, erleidet den Ausbruch kalten Schweißes und versteinert schließlich, als ob er dem Blick der Gorgo Medusa begegnet wäre 8 ). Das Hohe im Bild des Nagels ist nichts anderes als der in der Abstraktion erstarrte Geist. Dieser ,hohe', von allem Realen gelöste Geist ist ein unerbittlicher Widersacher des Lebens, der Basilisk (Abred, S. 19); Erinyen, der Teufel und die Babylonische Hure bedienen sich *) „Grassische" = Anspielung auf die Habgier des Triumvirs M. Lic. Grassus ( f 53 v. Chr.); „Agelastische" = gr. ag&astos, ,einer der nicht lacht'; „Sey-" = Säu-; „Wacken" = Feldstein; „Butschär" = Putzschere, Lichtschere; „gehen zorn" = jähen Zorn; „erlassen" = loslassen, freimachen; „Maronischen Fliegen" = Anspielung auf das (pseudo-) Vergilische kleine Epos ,culex'; „Nasonischen Nüssen" = Anspielung auf ein Werk Ovids (,Nux'?); Homers ,Batrachomyomadiie'. 8) vgl. „Der Gorgonisdi Meduse K o p f " von Fischart, in: Deutsche NationalLiteratur, Fischarts Werke Bd. 1, S. 419, Vers 49 f.
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seiner, vor allem, wenn sie ihm die Macht des kirchlichen Dogmas verleihen, indem sie den Menschen in die gänzliche Isoliertheit führen, so daß er in einer verdüsterten Welt zuletzt einem Kieselstein im Kot gleicht und im Irrsinn einen unzeitigen Tod erleidet. Fischarts gnadenlose Verurteilung des abstrakten Geistes, in dessen ,Höhe' der Mensch versteinert, weist uns erstmals auf einen calvinischen Zug in seiner Dichtung hin. In Calvins Lehre von der Gnadenwahl, wie sie beispielsweise in der .Westminster confession' aus dem Jahre 1647 formuliert ist, zeigt sich der Unterschied zwischen Erwählten und Nichterwählten am Unterschiede ihrer Herzen. Den Bösen vorenthält Gott nicht nur seine Gnade, sondern auch seine Gaben; deshalb ist ihr Herz hart und steinern. Er übergibt sie außerdem ihren eigenen Lüsten, den Versuchungen der Welt und der Macht des Satans, wodurch es geschieht, daß sie noch mehr verhärten, sogar durch die selben Mittel, deren Gott sich zur Erweichung anderer bedient. Zur Verhärtung kommt noch die Verblendung um ihrer Sünden willen, und schließlich enden sie in der völligen Vereinsamung durch Isolierung von der Seite Gottes und von der der Menschen her. Diejenigen dagegen, die zum Leben bestimmt sind, hat Gott, noch bevor er den Grund der Welt gelegt hatte, nach seinem ewigen und unveränderlichen Vorsatz und dem geheimen Ratschluß und der Willkür seines Willens in Christo zu ewiger Herrlichkeit erwählt („predestinated") und ihnen aus reiner freier Gnade und Liebe ein fleischernes Herz geschenkt 9 ). Für die Zeit des ,Eulenspiegel' sind Fischarts Beziehungen zum Calvinismus nicht dokumentarisch nachgewiesen. Doch hatte er sich 1572 schon eingehend mit Rabelais' Werk beschäftigt, und zudem bestand in Straßburg seit den beiden längeren Aufenthalten Calvins unter der protestantischen Bevölkerung eine starke Anhängerschaft calvinischer Glaubensgrundsätze 10 ). Fischart sieht, wie Calvin, in der Isolierung und Versteinerung des Menschen das Wirken der Sünde. Zwar hat der Calvinismus überall dort, wo er rigoros praktiziert wird, an sich schon eine Ernüchterung der Gläubigen und eine Entzauberung der Welt zur Folge, was, religionspsychologisch betrachtet, einen der Unterschiede zwischen dem calvinischen und dem lutherischen Menschen erklärt. Wenn jedoch Fischart unter dem Einfluß Calvins gar ein Bild der von Gott Verworfenen, der dem .Hohen' Verfallenen, und der Verblendeten schafft, dann entsteht ein 9 ) W e b e r , Max. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen 1947. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. S. 88 ff. 10) Vgl. auch H a f f e n , Louis. Johann Fischart, humaniste alsacien. In: ,Europe', 31e Année — N o 95—96, 1953, p. 159—166.
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Gemälde völliger Trostlosigkeit. Die Physiognomik in der ,Eulenspiegel'Abred ist ein erster Entwurf zu diesem Gemälde; die eigentliche Ausführung erscheint in den späteren, konfessionell-polemischen Gedichten. Wir haben das ,Hohe', wie es in der ,Abred' erscheint, als Widersacherin des Lebens bezeichnet, ohne uns darüber zu äußern, was für ein Leben damit gemeint sei. Das alltägliche, bürgerliche kann es nicht sein; denn es selbst ist vom Erstarrungstode bedroht und wird jedenfalls von Eulenspiegel so wenig anerkannt wie das Dasein im ,Hohen*. Eulenspiegel selbst ist uns bisher nur als bösartiger Schalk begegnet, dem daran gelegen ist, Unruhe und Schaden zu stiften, der selbst aber wenig Erbauliches bietet. Dennoch zeichnen sich im ,Eulenspiegel' Spuren eines ganz andern und neuen Lebens ab. Wenn wir diese Spuren vorerst wiederum nur in der ,Abred' entdecken, so erklärt sich das damit, daß die Prosa dem Spiel des Dichterischen und Persönlichen zur Zeit Fischarts mehr Freiheit läßt als der strenge Knittel, dieser Allerweltsvers des 16. Jahrhunderts. Es ist eines der Geheimnisse des Dichterischen, daß zwischen der ausgesagten Sache und der Art, wie diese Aussage geschieht, geradezu ein gegensätzliches Verhältnis bestehen kann. Fischart spricht von der erstarrenden, tödlichen Wirkung des ,Hohen', aber sein Stil zeugt von ganz anderem, nämlich von kräftiger Bewegung und vitaler Lebensfreude. Zudem häuft Fischart, während er vom abstrakten Geist spricht, eine unerhörte Fülle von Realem vor uns auf. „Es seind doch weder zu siden noch zu braten, solche Crassische, Agelastisdie Creaturen, vnnd Anaxagorische Seytropische Menschen, vnd greinende Heracliti, mit jren zerrenden auffsperrenden Stirnen, vnd feuchten kalten, nassen Hirnen, die vergaffenden Augen, die an einem Nagel an der W a n d verstarren, die neben wacker seind wie ein Wacken im K o t . .
Der syntaktische und rhythmische Bau dieser Sätze, die wir schon kennen, ist monstruös. Das Prädikat wird vorweggenommen, dann folgt das Subjekt, und an dieses hängen sich nun über mehr als eine halbe Budiseite weg Relativsätze und wiederum Hauptsätze, die sich so weit vom ersten Subjekt entfernen, daß der Zuhörer den Zusammenhang mit ihm kaum zu bewahren vermag. Schließlich zwingen der mangelnde Atem und die Ermüdung den Erzähler, einen Augenblick innezuhalten und die Reihe der sich überstürzenden Perioden abzubrechen. Aber neue Sätze brechen wie Wellen und Wirbel einer Sturzflut über den Zuhörer herein, heben ihn vom syntaktischen Grunde des Satzes, von Subjekt und Prädikat, weg und reißen ihn mit sich fort. Im zitierten Satz wird das Subjekt durdi die Vorwegnahme der Prädikate („Es seind doch weder zu siden noch zu braten") nicht erst beim Abschluß des Satzes zu einem tätigen Ding, sondern umgekehrt: Zuerst ist das Geschehen da, und erst nachher taudien
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in seinem Strom die vielen, allzuvielen Dinge auf und unter. Was hier am syntaktischen Bau des Satzes so offensichtlich ist, dieses Vorweggehen des Geschehens, das ist, wenn auch in anderer Weise, ein Kennzeichen von Fischarts Stil. In diesem Geschehen strömen dann die Dinge so rasch und so zahlreich herbei, daß sie Fischart kaum in Sprache zu verwandeln vermag und sie deswegen, ohne den Strom zu stauen und zu regeln, gerade dem anhängt, was eben vorübergegangen ist. Fischart ,schweift' nicht ab, wie es häufig gesagt worden ist, sondern sein Sprachgeist saugt eine so mächtige Flut von Dingen herbei, daß er einer eigenen Technik zu deren Bewältigung bedarf. In seiner Prosa wird nur andeutungsweise sichtbar, daß es vor allem die Saugkraft des Gleichklangs ist, welche neue Dinge und damit neue Sätze herbeireißt. Man findet in dieser ,Abred'-Prosa kaum einen Satz, ja, kaum eine Zeile, in der nicht Klänge einer Reihe von Gleichklängen rufen. Sie rufen nach vorn, und aus dem Reich der Dinge antwortet als Echo, was sich reimend zu fügen vermag: „große Trollen vnd Mollenköpff, vnnd Misantropische Geschöpff" (S. 14);,, mit jren zerrenden auffsperrenden Stirnen, vnd feuchten kalten, nassen Hirnen" (S. 15). Der Menge des Andrängenden sucht Fischart durch Rhythmisierung Herr zu werden. Wir erinnern uns, daß er im Titel zweimal betont, er erzähle den ,Eulenspiegel' „Reimensweiß" und er sei der erste, der das getan habe. Er betont also, daß er den alten Stoff in Verse umgeschrieben habe. Seine Anpreisung weist allerdings darauf hin, daß Reim und Vers im 16. Jahrhundert zur Volkstümlichkeit einer Dichtung beitrugen 11 ), doch scheint uns Fischarts rhythmischer Impetus so elementar zu sein, daß er vor aller Rücksicht auf den Leser einhergeht. Wir werden in der P r a k tik' und in der ,Geschichtklitterung' der rhythmischen Meisterung der Dinge unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden. Hier darf nur die Frage aufgeworfen werden, ob wohl Fischarts dichterische Leistung gar nicht in der Erfindung', sondern in der gestaltenden, vor allem in der rhythmischen Meisterung übernommener Stoffe beruhe. Fischarts rhythmisierender und reimender Sprachgeist wirkt im entgegengesetzten Sinne der „groß weißheit", jenes ,hohen' Geistes der Trollen und Mollenköpff. Er bewirkt nicht eine Verdichtung und Erstarrung der Welt, sondern ihr Gegenteil, eine Verflüssigung der Dinge und eine Erlösung des Lebens aus der Sturheit scholastischer Dogmatik. Er ^ e r stellt' nicht das Blut, sondern er trägt Dinge herbei, die der Erlabung des Lebens dienen, wobei Fischart unter diesem Erlaben zunächst nichts anderes als die vitalen Vorgänge des Essens, Trinkens, Verdauens und Ausscheidens versteht, von denen wir im ,Eulenspiegel' so oft zu hören ") Ich verdanke diesen Hinweis einer Notiz von Herrn Prof. Wilhelm A 11 TJ
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bekommen und ohne die „nichts mag bestandt haben", so daß zuzeiten selbst der ernsthafte Ratsherr Scipio ausgeht, Schnecken zu sudien (S. 15). Hernach aber bewirkt dieser Geist auch die Verflüchtigung der Traurigkeit, der Verzweiflung und der Unsinnigkeit (ebd.); denn mit seiner Hilfe gelingt es, diese tödlichen Krankheiten „zuverlachen, zuverachten, zuversingen, verspringen, verdantzen, vertrindken, verpfeiffen, verspielen, vnd auff andere weg zu verkurtzweilen vnd zuverjagen" (S. 15 f.). Alle diese Verben deuten dasselbe an: durch Bewegung, vorwiegend durch rhythmische, vorhandenes Seiendes aufzulösen und zu verflüssigen. Das ganz andere und neue Leben, von dem wir gesprochen haben, zeichnet sich als vitale Sprechfreude Fischarts ab, deren Merkmale das Herrschen des verbalen Geschehens, die spielerische Lust an der Häufung von Gleichklängen und eine Überfülle an herbeigerissenen Dingen sind. Diese Sprachfreude ist so mächtig, daß die Sätze nicht zu enden scheinen, bevor der Erzähler der Atem ausgeht und die momentane Ermüdung ihn zum Absetzen zwingt. In diesen Phänomenen sehen wir eine Parallele zu Fischarts therapeutischer Empfehlung, nach welcher der Gefahr der Erstarrung des Lebens nur durch Bewegung, durch Lachen, Tanzen, Trinken und Singen begegnet werden kann. Fisdiarts Sprache ist das Spiegelbild eines in rhythmischer Bewegung sich vollziehenden Daseins. Nach den Regeln der antiken Poetik gibt es Gegenstände, zu denen der Dichter ekstatisch hingerissen wird, wenn er ihnen begegnet. Es sind die Gegenstände des Hohen, dessen was im Reiche der Götter geplant und gewirkt wird. Diese Dinge sind die Gegenstände der Tragödie und der enthusiastischen Rede12). Fischart ist kein von Dingen Berauschter, Hingerissener; vielmehr gilt das Gegenteil: Er reißt Dinge und Worte herbei und wohnt mitten in der wogenden Flut, die er rhythmisch abteilt und weiterleitet. Sein Gegenstand ist nicht das Hohe, sondern das Niedere, das Gegenständliche und Alltägliche. Doch auch dieses kann — so lehrt es wiederum die antike Poetik — Gegenstand der Diditung sein, dann nämlidi, wenn es lächerlich oder verächtlich ist. „Vita verecunda est, Musa iocosa mihi", heißt es in der ,Abred* (S. 16). Und Eulenspiegel ist das Werkzeug dieser Muse. Denn er ist es, unter dessen Händen sich alles als lächerlich erweist, was andern in der Ordnung zu sein scheint. Eulenspiegel folgt Fischarts Rat, wonach der Unmut zu verlachen, zu verachten und zu vertanzen sei, aufs Wort. Sein ganzes Tun ist nichts 12 ) Vgl. W e h r 1 i, Fritz. Der erhabene und der schlichte Stil. In: Phyllobolia für Peter von der Mühll. Basel 1946.
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anderes als ein Vollzug des Komischen und der Genuß der Komik im Lachen. Man hat immer wieder dargetan, Fischart habe in seinem ,Eulenspiegel' — genau wie es das Volksbuch tut — die Auswüchse und Schattenseiten der Stände lächerlich gemacht13). Das ist nur eine halbe Wahrheit. Es stimmt zwar, daß Eulenspiegel von Stand zu Stand und von Handwerk zu Handwerk springt. Daß er aber Standessiinden enthülle, geschieht nur in einzelnen Fällen und zählt nur insofern, als alle Berufsleute Menschen und somit sündig sind. Was in Eulenspiegels Streichen lächerlich wird, das ist nicht ein bestimmter beruflicher Stand, sondern es ist vielmehr der in der Ruhe und in der Ordnung hausende Mensch schlechthin. Überall wo Eulenspiegel auftaucht, da erweist sich dieses Alltägliche und Stetige keineswegs als beständig und sicher, sondern, ganz im Gegenteil, als brüchig und unverläßlich. Eulenspiegel bringt rasch auseinander und durcheinander, was jahrhundertelang gegolten hat und zuverlässig gewesen ist. Die bürgerliche Welt gerät in Bewegung und der Bürger selbst kommt aus der Fassung; dann stürzt er in die Tiefe, wo er im Bereich des Niedern die gegenständliche Wirklichkeit der Dinge am eigenen Leibe erfährt. So gelangt er unerwartet aus seiner Alltäglichkeit heraus in die Gegenwart des Schmerzes, der Begrenztheit und des Schadens. Er leidet. Wir aber lachen. Denn der Absturz dessen, der seiner Sache hinter den Mauern der Alltäglichkeit allzusicher war, wirkt komisch. Diese selbe Komik wiederholt sich in jedem Streiche Eulenspiegels, wenn auch die Umstände jedesmal wechseln. Oft lacht Eulenspiegel mit, und bisweilen ist er sogar der einzige Lacher. Denn wir heutige Leser finden nicht jeden seiner Streiche gleich lächerlich. Manche halten wir für wenig witzig, einige für maßlos unflätig und andere für ruchlos oder gar verbrecherisch. Die Leser des 16. Jahrhunderts empfanden und urteilten jedoch anders. Sie waren ungemein neugierig auf alle Möglichkeiten des schälkischen Tuns, und sie lachten selbst dort, wo wir zum Mitleid neigen oder nur das Eklige sehen. Denn ihnen bot jede Enthüllung eines sonst verborgenen Grundes ihres Daseins für einen Augenblick dasselbe Schauspiel, das ihnen im Leben sonst nur der Krieg, die Krankheit oder die Not zeigten. Der Schalk war ein der ,vita verecunda' ebenbürtiger Wahrheitsoffenbarer, und sein Ansehen beruhte auf einer durchaus echten Leistung, nämlich auf der Enthüllung der Wirklichkeit und der .nackten' Wahrheit. Er war modern, und er wirkte während mehr als eines Jahrhunderts als Gegenspieler des Heiligen. ") z. B. H a u f f e n , Adolf. Johann Fisdiart. Bd. 1, S. 135, 140; B e s s o n , P. Etüde sur Jean Fisdiart. Paris 1889. S. 30 f.
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Im komischen Absturz macht der Mensch des ,Eulenspiegels' zwei E r fahrungen: Seine in die Brüche gehende Welt ist auf einmal in Bewegung und in Fluß geraten, und er selbst ist aus seiner früheren Steifheit und aus dem Zwang der Ordnung hinausgeworfen worden. Dann aber erfährt er unmittelbar die Wirklichkeit der Dinge in der Gestalt des Schmerzes, des Schadens und des Verlusts. Eulenspiegel rühmt sich mit Recht, sein Schild, der Spiegel des Lädierlichen, habe „ . . . ein sonder art, D a ß er nicht macht Leut steinen h a r t , Wie der Medusae Strobelhirn; Sonder so baldt man N a ß vnd stirn Darin erplickt, so muß man lachen V n d sich vmbkehren zu den Sachen" (Prol. V . 1 1 7 ) .
Wir verstehen, daß Fischart der Schalkheit immer eine therapeutische Wirkung zugesprochen hat. Weder weiser R a t noch Strenge vermögen zu verhüten, daß jemand der Erstarrung verfällt, und zu bewirken, daß jemand die Umkehr zu den Sachen freiwillig vollzieht, sondern nur „durch spott v n d ergetzlidikeit Bringt m a n zur Weißheit offt die leut." (ebd. 1 0 3 )
D a Weisheit soviel als Wissen um die Wahrheit bedeutet und da die Schalkheit die Enthüllerin der Wahrheit ist, so nennt sich Eulenspiegel, der Schalk, mit gutem Grunde der „Minerue Schiltjung" (ebd. 69). Das Motiv seiner Streiche ist also weder sozialer noch moralischer Art. Eulenspiegel hat mit den Leuten, die er schädigt, keine Rechnung zu begleichen; die wenigsten haben ihm etwas zuleide getan oder sich anderweit versündigt. Motiv seiner Streiche ist einfach seine schalkhafte Natur (4180), die im Dienste der Athene am Gehäuse des bürgerlichen Lebens Schädigungen plant und verwirklicht. Und sobald das geschehen ist, ist der Handel zu seinen Gunsten entschieden und für ihn zu Ende. D a ß dabei die Wahrheit in der Wirklichkeit der Dinge zutage tritt, ist zwar in der Auswirkung der Streiche, aber nicht in der Absicht Eulenspiegels enthalten. E r ist weder ein Held noch ein Prophet, sondern ein reiner Schalk. Eulenspiegels eigene Existenz ist nicht die Wahrheit, sondern die Schalkheit. Nie bleibt er dort wohnen, wo er die Wahrheit aus dem Verborgenen ans Licht gebracht hat; ja, er selbst ist sich über das Wesen der Wahrheit nicht im klaren: „Denn schalckheyt er für weißheit helt. V n d hat offt schwartz für weiß geredt."
Entsprechend geht er mit der Wahrheit nach Belieben um; er ist ihr nicht verpflichtet, sondern er bringt sie ans Licht durch sein schalkhaftes Tun. Der Schalk ist kein Erkennender, sondern ein Handelnder, der seine Opfer aus der Gleichgültigkeit des Alltäglichen hinausstößt und sie der Lächerlichkeit preisgibt: E r vollzieht das Komische.
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Wir haben von Eulenspiegel als von einem seelen- und heimatlosen Phantom gesprochen. Tatsächlich ist er nur als reiner Verstand da, der sidi im Vollzug des Komischen verwirklicht. Er versteht es, die ihm begegnenden Dinge genau und rasch in sein deiktisches System einzuordnen und sie logisch zu verbinden, aber er tut es einzig in der Absicht, sie möglichst rasch zum komischen Ablauf zu veranlassen: „Man sagt: wer viel versucht die Landt, Der kriegt verstandt vnd wird bekannt. So war es Eulenspiegel auch, Aber zur schalckheyt ers gebraucht." (10'221)
Und er selbst ist durch nichts bedingt; er ist der unheimliche Gast, der sich auf Erden keinem Zwang unterwirft, sondern unbehaust und unverpflichtet außer aller menschlichen N o t und Freude bleibt. Deshalb umgibt ihn ein gewittriges Licht. Einerseits begegnet ihm der Erzähler mit herzlich väterlicher Liebe und Strenge: „Mein T y l " , „mein Eulenspiegel", „mein Kundt", und nimmt ihn vor der Anklage der Geschädigten in Schutz (vgl. 11'545). Gelegentlich zwar ist er ein arger Knecht (6381), der auf alles Böse bedacht ist (290) und dem Fischart vor einem bösen Ende warnt (660). Andererseits aber scheuen die Leute vor ihm zurück, wo sie ihn erkennen (4012), und den Kindern träumt vom Teufel, wenn sie ihn gesehen haben (411). Sie ahnen etwas dem Menschen Unvertrautes, etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist seine unerhörte Freiheit. Eulenspiegel hat weder soziale noch moralische Bindungen; er kennt weder Dankbarkeit nodi Liebe oder Mitleid. Was ihm unter die Hände kommt, das fügt sich seinem Zugriff. E r versteht jedes Handwerk und durchschaut die Gelehrsamkeit der Professoren. Einige Male heißt es von ihm, er fliege, wo andere fallen (vgl. 106), oder das Glück habe ihm schon in der Jugend Flügel verliehen. Noch angesichts des Todes spielt er mit denen, die sich um ihn bemühen. Und auch nachdem seine Seele „in deß kautzengestalt" (12'946) zur Nyktimenae, zur Athene, aufgestiegen ist, „wil kein end die Vnrhuw haben" (13'071): Der Geist der Freiheit fährt in die Spitalsäue und diese wiederum erlösen Eulenspiegel von den sich um seine Leiche mühenden Pfaffen, Mönchen und Beginen, indem sie ihnen in tollem Aufruhr zwischen die Beine fahren und sie zu Fall bringen. Eine solche Existenz ist virtuos. Selbst im Tode noch vermag er sich der Bedingtheit zu entwinden, in die so viele seiner Opfer im Leben geraten sind. Er, der so manche in die Bedrängnis einer kotigen oder harten Wirklichkeit getrieben hat, hat sich selbst in immer neuem, virtuosem Spiel der Wirklichkeit des Niedern entrissen. Im „narrenthäding" (3033), dem Wettkampf mit dem Narren des polnischen Königshofes, hat Eulenspiegel zweifellos das äußerste geleistet,
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was als Beweis für seine Un-Bedingtheit zu leisten ist. Vor den Augen des Königs und inmitten der Hofgesellschaft verschlingt er seinen eigenen Kot zur Hälfte und verspricht, das gleiche mit dem seines Kampfgesellen zu tun, wenn dieser Gegenrecht halte. Der Hofnarr gibt sich geschlagen. Dieser Schwank hat einen Zusatz Fischarts, der ihn vor den andern, weniger virtuosen Schwänken „herfürher streichen" soll. Eulenspiegel, heißt es, habe den Wettkampf nicht ohne Mühe gewonnen, denn es sei ihm dabei zumute gewesen wie Siegfried im Kampf mit Dietrich von Bern oder wie Odysseus im Streit mit Ajax. Eulenspiegels Tun wird hier, wohl in scherzhafter Übertreibung, dem der hohen Helden der Sage an die Seite gestellt14). Trotzdem braucht der Vergleich weder satirisch noch ironisch zu sein. Denn Eulenspiegel ist als Sdialk wahrhaft eine Erscheinungsform des Ubermenschlichen. Wie jene Helden die Todesfurcht, so überwindet Eulenspiegel den Ekel, und wie sie ihren Gegnern überlegen sind, so ist Eulenspiegel stärker als das Niedere und Eklige. Wir haben von Eulenspiegel als von einer schalkhaften Existenz gesprochen, die nur im Vollzug des Komischen da ist. Dieses Dasein ist unheimlich. Und unheimlich ist auch das Gelächter, mit dem er über seine Opfer triumphiert, wenn sie sich in „ein jämerliche Schlacht" (451) gestürzt haben. Über dem Durcheinander von schreienden, sich schlagenden, weinenden Kindern und fluchenden Alten sitzt der teuflische Artist auf seinem über den Markt gespannten Seil und ladit: „Er lachet recht von voller haut, D a ß es vber viel gassen laut, D a ß jra ersdiüttelt der gantz bauch." (457)
Dieses Lachen, das ihn bis unter die Haut ausfüllt und sich in die Gassen der Stadt hinaus fortpflanzt, ist der Ausdruck seiner krassen und ungebundenen Gegenwärtigkeit. Es macht ihn zum physiognomischen Gegenstück des sauren Lauren, der sich am hohen und unerreichbaren Abstrakten vergafft und dabei zugrunde geht. Eulenspiegel ist der Dämon, der, weder dem Reiche des Guten noch dem des Bösen angehörend, ungestraft, aber auch unbelohnt über das hinwegflieht, was er aus dem Schlafe der Alltäglichkeit geschreckt hat. Trotzdem wird die Schalkheit ausgespielt haben, wenn einmal die letzte Posaune ertönt, „Da weißheit wird die schaldcheit schänden Vnd das hell Liecht die Eulen blenden, D a die recht klug einfältigkeit Strafft die schalckhafft leichtfertigkeit, D a vber den sdialckhafiten Knecht Wird gehn das ewig warhafft recht, D a man Verstössen wird die Eulen, " ) Vgl. Prol. V. 340 ff.
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In ewig finsternuß zu heulen, Da man die schälck wird nach dem leben Dem grösten schalck vnd Lauren geben." (13'461)
Aus dem Zwielicht, in dem wir ihn gesehen haben, stürzt er am Ende der Zeit selber ins Dunkel, wo es weder das Lachen noch die Freiheit gibt, wie sie Eulenspiegel eigen waren. Der unheimliche, einsam und virtuos über dem Dasein der Menschen thronende Verstand mit dem Namen Eulenspiegel wird gestürzt, und über ihn weg treibt machtvoll das Leben, das uns in Fischarts Sprachgeist erschienen ist.
ALLER P R A K T I K
GROSSMUTTER
Unter einer Praktik verstand man seit der Mitte des 15. Jahrhunderts den Anhang eines Jahreskalendariums, der die Anwendung (practica) der damaligen astrologischen Erkenntnisse enthielt. Es waren Voraussagen über Krieg, Seuchen, Wetter und Fruchtbarkeit der Felder, Glück und Unglück, denen dann Ratschläge in der Gestalt von Bauernregeln, Heilrezepten und medizinischen Vorschriften, unter anderem in der Form von Laßtafeln, angeschlossen wurden. Gegen Ende des 15. und im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden diese Praktiken immer häufiger auch ohne Kalender publiziert, und ihre Auflagen erreichten, selbst für heutige Begriffe, große Zahlen. Zugleich geriet diese Praktiken-Wahrsagerei auf die Bahnen des Schwindels, so daß schon Ende des 15. Jahrhunderts die ersten Gegenpraktiken, meistens ironische Verhöhnungen der richtigen Praktiken, auftauchten. Ihre Zahl erhöhte sich mit der Ausbreitung der humanistischen Bildung, und an die Stelle der ersten, lateinischen Gegenpraktiken traten nun mehr und mehr die deutsch geschriebenen. 1572 verfaßte auch Fischart eine deutschsprachige, ironische Gegenpraktik, die, ohne Angabe des Druckorts und nur mit einem Hehlnamen versehen, unter dem Titel „Aller Practick Großmütter" vermutlich in Basel erschien 1 ). Sie wurde, fast unverändert, ein Jahr später wieder *) „Aller Practick Großmütter. E i n dickgeprockte Newe Vnnd trewe / laurhaffte vnnd jmmerdaurhaffte Procdick / auch possierliche / doch nit verführliche Pruchnasticatz: sampt einer geddichen vnd auff alle jar gerechneten Laßtafieln: gestellet durch gut duncken / oder gut truncken des Stirnweisen H . Winhold Wüstblüt vom Nebelsdiiff / des Königs Artsus von Landagrewel höchsten H i m melgaffenden Sterngauckler / Practidcträumer vnd Kalender reimer: Sehr ein räß kurtzweilige geläß, als wann man Haberstro äß ... M. D. L X X I I . " — Abdruck dieser Ausgabe in: Neudrucke deutscher Literaturwerke N r . 2, hg. von Wilhelm Braune. Halle 1891. Diese Ausgabe enthält auch die Abweidlungen der Ausgabe von 1573. — Die stark erweiterte Ausgabe von 1574 ist nidit neugedruckt; sie liegt jedoch als Neudruck der Ausgabe von 1623 (allerdings mit
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gedruckt und dann, von Fischart auf den dreifachen Umfang erweitert, 1574 neu herausgegeben. D a es sich bei Fischarts ,Praktik' um eine ironische Parodie handelt, sind ihre Gegenstände und ihr Aufbau den parodierten Praktiken ähnlich. Fischart hat jedoch nicht nur Gegenstände und Aufbau seiner .Praktik' von anderen übernommen, sondern er hat auch Text aus andern Gegenpraktiken übersetzt oder abgeschrieben. D i e Fischart-Philologen 2 ) haben diese Vorlagen, die Fisdiart in seiner Ausgabe von 1574 offen oder verschleiert nennt, eindeutig nachgewiesen und untersucht. Seine wichtigste Quelle und Vorlage war die „Prognostication Pantagrueline" (1532) von François Rabelais 3 ), die als Anhang zu ,Gargantua et Pantagruel* gedacht war. Aus ihr hat er ein Elftel seiner ersten und wiederum ein Elftel seiner dreimal größeren, dritten Ausgabe geschöpft 4 ). Der Anteil der übrigen Quellen ist uns nicht genau bekannt; er dürfte aber, im ganzen, eher kleiner sein. Angesichts einer so starken Abhängigkeit von Vorlagen ist die Frage berechtigt, inwiefern ein derartiges Werk noch als originales und persönliches, eben Fischart'sches Werk angesprochen werden könne. Eines sei dabei als unzweifelhaft vorweggenommen: Das 16. Jahrhundert erwartete vom Autor keine originale Erfindung, und in gewissen Bereichen, so auch in dem der Kalender, war gewöhnliche Abschreiberei durchwegs üblich 5 ) und keineswegs anrüchig. vielen Fehlern) vor in: Das Kloster, hg. von J. Sdieible. 8. Bd. Stuttgart 1847. S. 545-663. — Die Gedichte der Ausgabe von 1574 sind abgedruckt in: Deutsche Bibliothek. Hg. von Heinrich Kurz. 10. Bd. Johann Fischarts sämtliche Dichtungen. Leipzig 1867. 3. Teil, S. 33-39. — Eine nicht vollständige und ad usum Delphini eingerichtete Übersetzung ins Neuhochdeutsche liegt vor in: Johann Fischarts Ausgewählte Schriften. Neudeutsch von A. Engelbrecht. l.Teil. Naumburg 1879. S. 159-196. 2 ) Vgl. dazu: W a c k e r n a g e l , Wilhelm. Johann Fischart von Strassburg. Basel 1870. S. 59-72; S c h w a r z , Gottlieb. Rabelais und Fischart. Winterthur 1885. S. 79-94; B e s s o n , P. Etude sur Jean Fischart. Paris 1889. S. 114-122; S c h n e e g a n s , Heinrich. Geschichte der grotesken Satire. Strassburg 1894. S. 364 ff.; H a u f f e n , Adolf. Fischart-Studien IV. Euphorion 5. 25-47, 226-256, 726; d e r s e l b e . Johann Fisdiart. Bd. 1, S. 143-153. s ) Wir folgen der Ausgabe von Fr. Juste, 1542, neu herausgegeben in: R a b e l a i s , François. Gargantua — Pantagruel — Pantagrueline Prognostication etc. par Louis Moland. Paris. 4 ) Vgl. S c h w a r z , a. a. O. S. 91. 5 ) So hat Rabelais eine lateinische PROGNOSTICA (1509) des Jacobus Henrichman (abgedruckt bei W a c k e r n a g e l , a . a . O . S. 131-138) und ein P R O G N O S T I C O N (1512) Heinrich Bebels als Vorbilder verwendet. Beide Vorlagen Rabelais' hat Fisdiart seinerseits noch einmal .ausgebeutet'; dazu kamen als weitere Quellen Fischarts die unter einem Pseudonym erschienene .PRACTICA PRACTICARUM' (1566) seines Erzfeindes Johannes Nas (der auch schon bei Henrichman abgeschrieben hatte), eine „Laßtafel vnnd Practica" und ein Wetterbüchlein. Zweifellos brauchte Fisdiart auch seine Wörterbücher und Sprichwörtersammlungen und vieles andere, das er für derartige Werke jeweilen zu Hilfe genommen hat.
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Die positivistische Philologie des 19. Jahrhunderts hat jeden Teil eines Werks, der wort- oder gedankenmäßig mit früheren Werken übereinstimmte, als ererbt oder entlehnt und demgemäß als unoriginal betrachtet. In dieser Tradition standen auch die bereits erwähnten Fischart-Philologen — an ihrer Spitze der beste Kenner Fischarts, Adolf Hauffen — deren Bemühen zu einem großen Teil darauf gerichtet war, alles das wortund zeilenweise herauszuschneiden, was an ,Erlerntem' in Fischarts Werk übergegangen war. Fischart ist vor allem deshalb zum Gegenstand ihrer großen und wertvollen Bemühungen geworden, weil sich an seinem Werk Meisterstücke positivistischer Philologenarbeit leisten ließen. Leider blieb von diesen Leistungen der Eindruck haften, Fisdiarts Werk sei zur Hauptsache nichts anderes als eine virtuose Kompilation, und was darüber hinausgehe, verdanke es allein einer unerhörten Sprachartistik. Wir wissen längst, daß der Begriff der Originalität nicht mit dem Wortlaut der Sprache in Beziehung gebracht werden darf und daß der Beweis, wonach Gestriges, das auf Vorgestriges zurückgehe, der Originalität entbehre, auf einer falschen historischen Perspektive beruhen kann. Vielfach — und gerade dafür böte die Fischart-Philologie zahlreiche Beispiele — wird nämlich Früheres überhaupt erst ans Licht gezogen, weil es auf der Höhe von Fischarts Werk in Erscheinung tritt und erst von hier aus erkennbar und verständlich geworden ist. Somit bleibt durchaus die Möglichkeit offen, daß Gestriges, trotz seiner Abhängigkeit, originaler ist als Vorgestriges. Nicht die geschichtliche Deszendenz entscheidet über die Originalität eines Werks, sondern seine poetische Evidenz"). Wenn wir dennoch eine von Fischarts Vorlagen herbeiziehen, um die Frage der Originalität seiner .Praktik' zu beantworten, so tun wir es nicht, um Fischarts Werk in eine Tradition einzuordnen und einzuebnen, sondern ganz einfach, um es im Vergleich besser fassen zu können. Rabelais erhebt sich als Denkender und Sprechender, als Person und als Vernunft, über das, was er bespricht, nämlich über die Dinge der Erde und über die Meinungen der Menschen; er sagt nicht, was ist, sondern er sagt, was er erkennt und denkt. „La plus grande folie du monde est penser qu'il y ait des astres pour les Roys, Papes et gros seigneurs, plustost que pour les pauvres et souffreteux, comme si nouvelles estoilles avoient estez créées depuis le demps du d e l u g e . . . Tenant doncques pour certain que les astres se soucient aussi peu des Roys comme des gueux, et des ridies comme des maraux, je laisserai os aultres folz Prognosticqueurs à parler des Roys et riches, et parleray des gens de bas estât." (588) 8 ) Vgl. S t a i g e r , Emil. Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Zürich und Leipzig 1939. S. 11 ff.
3 Sommerhaider, Fischart
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In der .Praktik' dagegen spricht nicht Fischart, sondern die Dinge sind Sprache geworden: „DJe König werden eben die Planeten im himmel haben, welche die bettler, dann auff der Königen krönung kein neuwe gestirn geschöpfft seindt worden. Es sey Heintz oder Bentz, Colfactor oder Doctor, groß Hans oder klein Hans, da ist kein glantz." (7)
Fisdiarts Person erscheint in der .Praktik' nicht, und deswegen nimmt er nirgends Stellung zu den Prophezeiungen: Was da ist, ist reine Tatsache, und es bleibt der Vernunft des Lesers überlassen, ob er sie glauben oder nicht glauben wolle, ob es „die Bauren mercken" (31) oder nicht. Eben dieses verschiedene Verhältnis zum Gegenstand und zum Leser weist auf einen sozialen Unterschied zwischen dem Werk Rabelais' und dem Fisdiarts hin. Rabelais schrieb nicht für die Bauern, „mais pour le roi, pour les grands seigneurs, pour les hauts dignitaires de PEglise" 7 ). Er steht auf einer anderen sozialen Ebene, die sich auch als andere Stilebene erweist. Fischart, der Bürger einer Stadt, die im Kampfe gegen Adel und Klerus groß geworden war, bedarf dieser Distanzierung weniger: Ihm geht es nur um die Beziehung der Sache zum Leser, nicht auch um die des Verfassers zum Leser. Mit dieser Verschiedenheit der Leser hängt die starke Verkürzung zusammen, die Fischart mit dem zweiten Satz seiner Übersetzung vorgenommen hat. Der gleiche Unterschied der Stilebenen zeigt sich, wenn Fischart mit Hilfe von Vergleichen die Planeten lachend aus dem Himmel in den Bereich der Erfahrung jedes Fuhrmanns oder Stadtbuben holt und zugleich das Verhalten der Sterne in Geschehen drastischer Art verwandelt. Damit erscheint in Fischarts Stil eine Eigenart Eulenspiegels, der, wo er hingerät, in Bewegung bringt, was seine Aufmerksamkeit erregt. Rabelais prophezeit: „Saturne sera retrograde, Venus directe, Mercure inconstant." (286)
Und Fischart übersetzt: „Saturnus würd [ = wird] hinder sich gehen wie ein stättiger Esel, die Venus für sich, wie ein vorhängig Roß, Mercurius würd schweiffen, wie ein Neapolitanisch pferd dantzt." (7)
Was bei Rabelais seiend ist, das wird bei Fischart zur Bewegung. Schon in den nächsten Werken wird es sich zeigen, daß die Neigung, Seiendes in Geschehen zu verwandeln, diejenige Stileigenheit Fischarts ist, die am gleichmäßigsten sein ganzes Werk durchzieht. Audi ein zweite Stileigenheit scheint sich bei Fischart im Anschluß an Rabelais entwickelt zu haben. Rabelais hat die Neigung, gleichartige ') B e s s o n ,
a. a. O. S. 107.
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Wörter aneinanderzufügen, so daß eigentliche Listen gleicher Dinge, Tätigkeiten oder Eigenschaften entstehen. Wir nennen solche Listen im Hinblick auf Fischart Reihen. Im Anschluß an jene Ankündigung, er werde sich jetzt mit Leuten niederen Standes befassen, zählt Rabelais eine Reihe armer Schlucker auf, die alle dem Saturn unterworfen sind: „preneurs de taulpes, usuriers, rachapteurs de rentes, tyreurs de rivetz, danneurs de cuirs, tuilliers, fondeurs de cloches, composeurs d'empreuns, rataconneurs de bobelins, gens melandiolicques" (588).
Fischart erweitert diese Reihe ungeratener Kinder und wetterlauniger Leute auf das Siebenfache: „Kerchelzieher, Sawbrüer, Kämmetfeger, Mist, Most vnd Holtzträger, Hosenlepper, Sdiüchstepper, Todtengräber, Beltzweber, Würstler, Schuchlümmeltrager, Hundsdilager . . . Kuttelnwäscher, Winckelmesser, Spinnenfresser, Senffmenger vnd andere Melancholische dreckschlindige vnflätter" (8).
Jedem der vier anderen (außer der Erde damals bekannten) Planeten, der Sonne und dem Mond teilt er eine ähnliche Reihe würdiger und fragwürdiger Erdenbürger zu. Fischart zeigte immer schon, also unabhängig von Rabelais, eine Neigung zum Aneinanderreihen gleichartiger Sprachelemente. Doch handelt es sich dort jeweilen eher um Teile eines Ganzen, also um eine begrenzte Zahl von Dingen, während sich in der ,Praktik' Reihen finden, die endlos fortgesetzt werden könnten, weil deren einzelne Elemente weder Teile eines Ganzen noch Glieder eines Organismus sind. In der ,Geschiditklitterung' finden sich geradezu monströse Reihen. Das stilistisdie Phänomen der Reihe bringt uns in einige Verlegenheit, sobald wir nach seiner Funktion und nadi seinem Sinn fragen. Als erste mögliche Antwort drängt sich der Gedanke auf, dieser Sinn möchte in der Einzigartigkeit der in eine Reihe gestellten Dinge verborgen sein. Leimentreter, Unschlittsieder, Kuttelnwäsdier sind jedenfalls recht ausgefallene und damit seltene Berufe. Ist bei dieser Reihenbildung eine Lust im Spiele, jene letzten, nicht mehr reduzierbaren, also individuellen Elemente aneinander zu reihen, um damit die Endlosigkeit der Welt zu erfahren? Wiese nicht auch die .Praktik' als Ganzes auf etwas derartiges hin? Der Sinn der echten Praktiken war die Prophezeiung künftiger Dinge, die außerhalb der Voraussicht gewöhnlicher Menschen liegen. Sie schufen damit zwischen diesen Menschen und jenen Dingen einen Bogen nicht erfüllter Zeit und eine spannungsvolle Erwartung. Die Scheinpraktik dagegen gibt in der Spradie der Erwartung genau das Gegenteil unvorhersehbarer und ereignisvoller Dinge, nämlich längst Erfahrenes und 3*
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Selbstverständliches. So bricht der Bogen der Erwartung immer schon vor Ende des Prophezeiten zusammen: „Es würd diß jhar meh wasser sein dan wein" (5). „Bey den hohen bergen würd man thieffe thäler finden" (19). „Man würd nicht viel Rephüner vmb wenig Danzapffen geben" (21).
Und indem dieser Bogen der Erwartung zusammenbricht, sieht sich der Leser genarrt. Eine an sich ernste, aus dem Bedürfnis nach Prophetie herausgebildete Form wird mit komischer Absicht, d. h. parodistisch verwendet, und wir lachen: Die Evidenz des Selbstverständlichen siegt über die Neugier nach dem Unerhörten. Alle jene Dinge, die Berge und die Täler, die Rebhühner, Tannzapfen, der Wein und das Wasser haben ihre Bedeutung zwar von einem an sich nicht selbstverständlichen Lebenszusammenhange her, innerhalb dessen — beispielsweise — Rebhühner mehr wert sind als Tannzapfen. Trotzdem erkennen wir diese Dinge jeweilen ohne diesen Rückgriff auf die Zusammenhänge, deren Repräsentanten sie immer schon sind. Aber sie sind auch mehr. Gerade insofern sie r e a l e Dinge sind, haben sie einen Schimmer einzigartiger Ereignishaftigkeit: Sie sind eben dann, wenn uns ihre Zusammenhänge selbstverständlich sind, Zeugen der Transzendenz und der Unmittelbarkeit zu Gott. Zugleich aber sind sie auch Bilder unseres Daseins; denn nur im Ding kommt der Mensch wahrhaft zu sich selbst, und das Ding erschließt nur dem Menschen seine eigentliche Realität. Insofern ist die ,Praktik* ein durch unzählige Dinge und Selbstverständlichkeiten bezeugter Hinweis darauf, daß in den Dingen die wahre Ereignishaftigkeit und die Transzendenz erscheinen, und nicht in den Sternen oder im .Hohen'. Die Macht der Sterne, die in den verschiedenen N a i v i täten sich zeigen sollte, wird durch das Reale, zum Beispiel durch den irdischen Tod, völlig eingeebnet. „Im krieg, werden viel gleiches todts umbkommen, die doch vngleich Natiuiteten hatten." (11). Ja, die astrologische Weissagung hindert den Menschen daran, daß er der Transzendenz ansichtig wird; denn sie stellt sich zwischen ihn und Gott, sie ist „ein lastrolugium, Ynd macht die leut mit niditen frumb. Sonder weißt sie von Gott zun Sternen, Das ist, zur schalen von dem kernen." (31)
Wenn wir vermuteten, der Sinn der Dingreihen liege in der Einzigartigkeit des Realen, so wird die Vermutung durch den Sinn der ganzen P r a k tik' gestützt. Statt Voraussage des Künftigen ist sie Rückweis auf das Gegenwärtige und Bekenntnis zu ihm, selbst dann, wenn es niedrig und alltäglich ist. „Gelb vnd weiß Rüben, Rettich, Zwibel vnd kraut würd man genug finden" (24). „Auch werden die flöh den Weibern fast vber die
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knie steigen, vnnd weder schuh noch hosenbendel zuvor vmb erlaubnuß fragen" (5). Wir glauben, daß die Lust an der Unmittelbarkeit und ereignishaften Einzigartigkeit der irdischen Dinge an der Reihenbildung beteiligt ist. Eine zufällig scheinende Bemerkung Fischarts weist auf ein mögliches zweites Motiv der Reihenbildung und damit auf einen andern Sinn der Reihen hin. Fischart macht einmal auf das wortbildende Suffix -in aufmerksam, weil es ihm erlaubt, mit Leichtigkeit eine längere Reihe von weiblichen nomina agentis zu bilden: „Vnnd nomina desinentia in in, namen die auff ein in sich enden, vt Näderin, Köchin, Baudierin, Pfaffenkällerin, Klosterläufferin . . ( 1 3 ) . Damit ist es offensichtlich, daß nicht die Dinge allein, sondern auch die Sprache ihn zur Reihenbildung verlockt hat. So gewiß und so groß auch Fischarts Lust an den vielen realen Dingen der Erde ist, es spielt bei der Reihenbildung wohl ebenso stark die Lust mit, diese Dinge durch die Sprache zu benennen oder überhaupt erst zu erwecken, und das endlose Viele, das die Welt an Dingen aufzuweisen hat, geistig zu bewältigen. Mit Hilfe des einen Suffixes -in lassen sich spielerisch Dutzende von Wörtern bilden und lassen sich ebenso viele Dinge wachrufen und in eine Reihe stellen. Doch auch diese Möglichkeit spielerischer Reihenbildung ist weder Fischarts noch war sie Rabelais' Entdeckung (589); es gab sie schon in der Literatur des 15. Jahrhunderts, und sie ist demnach nichts, was auf Fischarts Originalität hinzuweisen vermöchte. Hätte aber die Sprache nicht andere Möglichkeiten zur Bewältigung der Vielheit der irdischen Dinge? — Die Wissenschaft bedient sich dazu des Begriffs; Fischarts dichterische Bewältigung der Welt drängt aber in entgegengesetzter Richtung: Er flieht die im Begriff, im ,Hohen' versteinerte Welt, weil sie Widersacherin des Lebens ist8), und reiht, wenn er die Erde umfassen will, Ding an Ding, Wort an Wort, in wahrhaft end-loser Reihe. Endlos deswegen, weil die Menge des Besonderen doch wohl unabsehbar ist und es demnach eigentlich keine sachlichen Gründe dafür geben kann, daß eine Reihe gerade so lang ist, länger oder kürzer sein kann. Ist es denn die Ermüdung des Erzählers oder des Zuhörers, die zum Abbrechen der Reihe nötigt? Oder ist es die Folge eines ästhetischen Bedürfnisses, zum Beispiel desjenigen nach einer Art von ,Rundung'? Wir vermögen die Antwort nicht zu geben, wenigstens so lange nicht, als noch ein letztes Motiv der Reihenbildung bei Fischart nicht näher ins Auge gefaßt ist. Und gerade durch dieses letzte Motiv unterscheiden sich seine Reihen von denen Rabelais'. 8
) Vgl. ,Eulenspiegel', S. 14.
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Schon eine kurze Reihe von Namen zeigt auffallende metrische, rhythmische und klangliche Verhältnisse, die einer genaueren Analyse rufen: Kerchelzieher
x v / x x
Sawbrüer
—/ y
Kämmetfäger
x x / x x
Mist, Most vnd Holtzträger
—I *
Hosenlepper
x x ' x x
y
x
Schüchstepper
_l / ^
Todtengräber
_L x / y
Beltzweber
—/ x x
I ~ ' x x
x
Paarige Reime werden im weiteren Lauf der Reihe einzelne Male durch einen reimlosen ,Vers', gelegentlich auch durch Assonanzen oder identische Reime unterbrochen. Ebenso auffallend wie der Reim ist der Wechsel von viersilbigen und dreisilbigen Wörtern, gelegentlich, auch später wieder, durch sechssilbige ,Verse' unterbrochen. Alle sechsundsiebzig Namen dürften mit trochäischem Tonfall gesprochen worden sein. Wenn auch die metrische Regelmäßigkeit beim einen oder andern Vers — dieser Begriff darf bedenkenlos gebraucht werden — nicht eindeutig sein sollte, so ist dies von der rhythmischen Bewegung nicht zu sagen. Die ganze Reihe hört sich an wie einer jener lebendigen Abzählverse in Kinderspielen. Selbst zwei ,nebenaus' gesprochene Verse „Weinrüffer (rüfft den wein auß, vnd trinckt er wasser zu hauß)." (8)
wirken nur wie eine schalkhafte Unterbrechung der sonst vielleicht allzulangen Reihe metrisch ähnlicher Verse. Wo rhythmische Sprache auftaucht, da war der Rhythmus auch beim ersten Sprechen schon am Werk gewesen, und wir gehen kaum fehl, wenn wir annehmen, daß bei der Reihenbildung eine rhythmische Lust produktiv mit im Spiele war. Die Einzigartigkeit der realen Dinge wäre demnach nicht das einzige Motiv der Reihenbildung gewesen, sondern zu ihm käme nun noch die rhythmische Lust, eine Tanzlust und eine Freude an Gleichklängen, die beide immer mehr Namen und Dinge in den Wirbel ihrer Bewegungen hereinrissen, bis sich diese Welt der Dinge in Klang und Rhythmus wiegte. Schließlich aber fände die Reihe der herbeigerissenen Namen in der Müdigkeit des Erzählers oder in der Erschöpfung der rhythmischen und klanglichen Möglichkeiten ein Ende. Wir sind von der Frage nach der Originalität der .Praktik' auf das Verhältnis Fischarts zu Rabelais verwiesen worden, und wir haben an drei stilistischen Eigenheiten der ,Praktik' gezeigt, daß Fischart Tatsäch-
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liches aussagt und auf anderer Stilebene steht; ferner, daß Fischart dort Bewegung schafft und drastisches Geschehen erzeugt, wo Rabelais ein Seiendes vor uns stellt. Drittens sind wir durch den Vergleich der Reihen darauf gestoßen, daß Fischarts Motive zur Reihenbildung jedenfalls nicht nur sachlicher Art und nicht die gleichen sind wie diejenigen Rabelais', sondern daß sich seine Reihen durch ihre rhythmischen und klanglichen Formen von denen Rabelais' unterscheiden. Fischart erscheint neben Rabelais als ein von Rhythmus und Klang gleichsam beschwingter Tänzer, unter dessen Gliedern sich die Dinge der Erde ordnen und zu Figuren reihen; wo sie vorher dem Menschen ihr Gesetz auferlegt haben, da wiegen sie sich nun in Rhythmus und Gleichklang und fügen sich den Gesetzen des Schönen. Die Entdeckung der Realität der irdischen Dinge ist ohne Zweifel die eine der Leistungen der Renaissance. In Hinsicht auf sie ist Rabelais' Dichtung Renaissancediditung, und seine Reihen zeugen f ü r die Freuide am irdischen Ding. Fischart ist Rabelais' Schüler. Und er ist es auch darin, daß er keine neue metaphysische Ordnung kennt, in die sich die entdeckte Realität einfügen ließe. Darüber hinaus aber gehört Fischart schon dem späten Jahrhundert und dem Ende seines Zeitalters an, in dessen ungeheuren Vorrat an neu entdeckten Weltdingen nun Bewegung kommt. Diese unabsehbare Fülle wird in Bewegung versetzt, und die Bewegung selbst wird nun das neue Ordnungsprinzip der Welt. Bei Fischart tanzen die Dinge, in Gruppen gezwungen, nach Klängen geordnet, vorüber. Dabei bleibt ihnen ihre selbstverständliche Dinglichkeit erhalten; sie verlieren sie nicht an einen subsummierenden Begriff ohne Wirklichkeit. Der Universalienstreit ist für Fischart aus der Welt der Renaissance verschwunden, die eingebrochene Zeit hat ihm ein Ende gesetzt. Aus der Freude an der irdischen Selbstverständlichkeit und aus der Unumstößlichkeit der Dinge zieht Fischart die Kraft zur Satire gegen das ,Hohe', das die Astrologen verwalten. Nicht was in den Sternen steht, ist unumstößlich, sondern das Reale ist es. Das Hohe, die Macht der Sterne, die in den Nativitäten sich auswirkt, wird durch den irdischen Tod völlig eingeebnet oder aufgehoben. Zuweilen verliert sich jedoch in der ,Praktik' der ironische und damit auch der satirische Ton; der Stil wird einfach, eindeutig. Fischart weist nur noch von einem Ding auf das andere, gleichsam mit den Worten: Diese Dinge sind deine Welt! In ihnen verbirgt sich dein Schicksal, nicht in den Sternen! Er zeigt in seiner ,Praktik' nicht, was die üblichen Praktiken seines Jahrhunderts zeigen wollten, nämlich den voraussehbaren Einbruch des Unerwarteten in den Alltag der Menschen. Sondern er zeigt, daß der Strom der Zeit im Winter, im Sommer, im Tageslauf und in den
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alltäglichen Dingen wiederkehrt und daß der Horizont des Jahres, und nicht die Sterne, unser Schicksal ist. Eine Stelle der ,Praktik', die durch Rabelais' Sätzchen „Tenez-vous chauldement" (391) veranlaßt worden ist, fällt deswegen auf, weil in ihr von heftigen Affekten die Rede ist, wo doch bisher in Fischarts Werk Seelisches, wenn von ihm je gesprochen wurde, nur in moralischen Worten aufgefangen wurde. Unter den Prophezeiungen für den kommenden Winter stehen die Sätze: „Es würd auch volgen, das die vom Kadieiberg vnd die stat offen mit dem feurigen Aspect vom Dürren holtz dermassen erzürnt werden, daß man sich leichtlich an jnen verbrennen m a g : Derhalben sie billidi in ehren gehalten sein, sonderlich vom weiber volck. Die mägd vnd fr au wen, werden mit solcher einbrünstiger lieb gegen den weissen Moren vom ofenloch entzündt werden, das zübesorgen sie müssen jnen zu dem hindern hinein blasen, so lang biß sie feuwr außspeyen, vnd sich entgegen mit hitziger brunst vernemmen lassen: P f u y was stinckt also? Gredt dir ist der beltz verbrendt, Ey daß dich Bock schänd, wie blast am hindern end?" (6)
Im Innersten des Hauses, das umgeben ist von der Unwirtlichkeit des Winters, werden die Kachelöfen in Glut versetzt, das heißt mit dem Feuerschein des dürren Holzes dermaßen ,erzürnt', daß die Mädchen und Frauen von inbrünstiger Liebe zu ihnen entflammt werden. Sie blasen zum Ofenloch hinein, bis der Ofen Feuer ausspeit und sich ihnen mit hitziger Brunst dafür erkenntlich zeigt. Die Grete ist so tief in ihr Tun versunken, daß ihr der Pelz anbrennt und daß ihr der Fluch entgegengeschleudert wird, der Bock möge sie schänden. Die den Ofen betreuenden Frauen erfahren in komischer Weise drastisch das Entgegenwirken der Dinge, denen sie zu nahe auf den Leib gerückt sind. Die Öfen werden angriffig; das ungestüme Verlangen der Frauen und Mägde hat sie zur Wirklichkeit herausgefordert, und diese Wirklichkeit äußert sich nicht mehr nur als Widerständigkeit und Eigenheit der Dinge, sondern als Zorn, als Affekt. Der Affekt ist die Antwort der Dinge auf das vitale, leidenschaftliche Drängen der Frauen und Mägde. Menschen und Dinge stoßen nicht mehr, wie im ,Eulenspiegel' hart aufeinander, sondern sie begegnen sich in einem Bereich, der zwischen der Person und den Dingen liegt, im Bereich der Affekte. DER FLÖH HÄTZ Unter Eulenspiegels Tun bricht die alltägliche, bürgerliche Ordnung ein, und seine Opfer, die Genarrten, stürzen ab. In ihrem Absturz wird für Augenblicke die ,Tiefe' sichtbar, die unter der bürgerlichen Welt verborgen liegt und die wir für die Herkunft alles Niederen verantwortlich
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gemacht haben. Wir erkannten in ihr eine neue Wirklichkeit, die jedenfalls um vieles härter und erbarmungsloser zu sein scheint als die bürgerliche. Einem solchen abgestürzten und geschundenen Narren begegnen wir in dem 1573 erschienenen kleinen Tierepos, das den Titel „Flö Hätz Weiber Tratz" trägt 1 ). Das Büchlein trägt auf dem Titelblatt keinen Autornamen; nur unter der Überschrift eines Schlußgedichts finden sich Fischarts Initialen J. F. G. M., Johann Fischart, genannt Mentzer (Mainzer) 2 ). Es ist erwiesen, daß der erste Teil des Werkleins, die Flohklage, nicht von Fischart, sondern von Mathias Holtzwart, dem Rappoltsweiler Stadtschreiber und Freunde des Verlegers Jobin, stammt. Fischart fügte der Flohklage Holtzwarts einen zweiten Teil, eine Gerichtsszene, ferner dreizehn Rezepte zur Vertreibung der Flöhe, ein altertümliches Flohlied und einen Epilog hinzu'). Vier Jahre später ließ Fischart jedoch das kleine Werk stark umgearbeitet und auf das doppelte erweitert, diesmal unter einem seiner Decknamen 4 ), wiederum in Straßburg bei seinem Schwager Jobin erscheinen5). Von den ursprünglich 892 Versen Holtzwarts sind in dieser zweiten Ausgabe nur noch 240 zu finden; alle andern, das heißt rund 4000 Verse, erweisen sich als Fischarts Arbeit. Wir folgen deswegen, wo nichts anderes vermerkt ist, dieser eigentlich Fischartschen Ausgabe von 1577. Die Fabel der ,Flöh H ä t z ' ist einfach: Jener junge, schwerverletzte Flohnarr klagt Jupiter und einer teilnahmevollen Stechmücke seine bitteren Erfahrungen mit den Menschen. Nachdem ihm das Leben bei unsauberen Hühner- und Küchenmägden verleidet worden ist, gerät er an ein vornehmes Mädchen und wird von der Sehnsucht nach dessen süßem Blut ergriffen. Sein Vater warnt ihn und ') „Flö H ä t z Weiber Tratz. Der wunder vnriditige vnd spqtwichtige Rechtshandel der Flöh mit den Weibern: Ein N e w geläß auff das vber kurtzweiligest zubelachen, w o anders die Flöh mit stechen einem die kurtzweil nicht lang machen ... Getruckt zu Straßburg durch Bernhard Jobin. Anno M. D . L X X I I I . " N e u herausgegeben von Camillus Wendeler in den Neudrucken deutscher Literaturwerke des X V I . und X V I I . Jahrhunderts, N r . 5. Halle 1877. — Eine Obertragung in neuhochdeutsche Verse erschien 1882 als N r . 1656 in Reclams Universalbibliothek: ,Die Flohhatz', humoristisches Gedicht von Johann Fischart. Erneut und erläutert von Karl Pannier. Leipzig. *) Vgl. K u r z , Bd. 8, S. X X f. ') Vgl. K o c h , Paul. Der Flöhhaz von Fischart und Mathias Holtzwart. Diss. Berlin 1892. W a c k e r n a g e l , Wilhelm. Johann Fischart v o n Strassburg. Basel 1870. S. 200, Anmerkung, w o die über der Widmung Qui dulces risus stehenden Initialen M. H . H . M. als .Mathias Holtzvvartus Harburgensis, Magister' erklärt werden. 4 ) Hultrich ( = Johannes) Elloposcleros ( = eWorco — ,Fisch' +