Johann Salomo Semler: Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen [Reprint 2013 ed.] 9783110966626, 3484810025, 9783484810020

The life and work of Johann Salomo Semler (1725-1791) mirror the problems of Protestant Enlightenment theology in the 18

257 81 10MB

German Pages 355 [356] Year 1996

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Siglenverzeichnis
I. Johann Salomo Semler. Eine biographische Skizze
II. Die Lehre von der Heilsordnung. Semlers Rezeption und Kritik des Halleschen Pietismus
IIΙ. Dogmengeschichtsschreibung und Traditionskritik. Zur Analyse der Argumente und Kriterien
IV. Grundzüge der Christologie und Soteriologie
V. Zur Begründung der Unterscheidung von Religion und Theologie
VI. Die Freiheit der christlichen Privatreligion. Semlers Begründung des religiösen Individualismus in der protestantischen Aufklärungstheologie
VII. Der Perfektibilitätsgedanke
VIII. Orthodoxie und Textkritik. Die Kontroverse zwischen Johann Melchior Goeze und Johann Salomo Semler
IX. Hermeneutik und Bibelkritik
X. Grundzüge der theologischen Hermeneutik
XI. Wahrheit und Historisierung in Semlers kritischer Theologie
ΧII. Die Stellung zu Glaubensfreiheit und Toleranz
Literaturverzeichnis
Bibliographie Johann Salomo Semlers
Personenregister
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Johann Salomo Semler: Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen [Reprint 2013 ed.]
 9783110966626, 3484810025, 9783484810020

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung

2

Gottfried Hornig

Johann Salomo Semler Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen

Max Niemeyer Verlag Tübingen

Wissenschaftlicher Beirat: Karol Bai, Manfred Beetz, U d o Bermbach, Jörn Garber, Notker Hammerstein, Hans-Hermann Hartwich, Klaus Luig, François Moureau, Monika NeugebauerWölk, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Richard Saage, Gerhard Sauder, Jochen Schlobach, Pia Schmid, U d o Sträter, Heinz Thoma Redaktion: Hans-Joachim Kertscher, Fabienne Molin

Für Verena

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hornig, Gottfried: Johann Salomo Semler : Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen/ Gottfried Hornig. - Tübingen : Niemeyer 1996 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung ; 2) NE: GT

ISBN 3-484-81002-5

ISSN 0948-6070

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch

Inhalt

Vorwort

IX

Siglenverzeichnis

XII

I.

Π.

Johann Salomo Semler. Eine biographische Skizze 1. Elternhaus und Schulzeit in Saalfeld 2. Universitätsstudium in Halle und der Einfluß Siegmund Jacob Baumgartens 3. Die Coburger und Altdorfer Zeit 4. Berufung nach Halle und Lehrtätigkeit 5. Semlers Selbstverständnis 6. Das Programm für eine Reform des Theologiestudiums 7. Bewahrung und Weiterbildung der lutherischen Lehrtradition 8. Das Verhältnis zur Theologie Baumgartens 9. Semlers Freundschaft mit Johann August Ernesti 10. Das Magdeburger Neologentreffen 11. Ascetische Vorlesungen und Frömmigkeit 12. Kanonskritik und Bibelauszüge 13. Der Briefwechsel mit Lavater und die Swedenborg-Kritik 14. Die Stellung im Fragmentenstreit 15. Die zeitgenössischen Pläne zur Vereinigung mit dem Katholizismus 16. Die Amtsenthebung als Seminardirektor und die Stellung zur Bücherzensur 17. Der Kommentar zur Cusanusschrift De pace fidei 18. Die Verteidigung des Wöllnerschen Religionsedikts 19. Der letzte Lebensabschnitt und die These von den zwei Epochen in Semlers Leben Die Lehre von der Heilsordnung. Semlers Rezeption und Kritik des Halleschen Pietismus 1. Die zentrale Stellung der Lehre von der Heilsordnung 2. Die Wirklichkeit und Problematik der religiösen Erfahrung 3. Das Reformprogramm und die Weiterfuhrung der lutherischen Lehrtradition

1 2 4 6 8 11 15 23 32 37 41 45 50 53 59 63 68 76 78 81

86 87 92 95 V

4. 5. 6. 7. 8. 9.

Das Verständnis der Erleuchtung Das Verständnis der Bekehrung Das Verständnis der Wiedergeburt Die Lehre von der Rechtfertigung und Heiligung Zur geistlichen Vereinigung mit Gott Denkentwicklungen

III. Dogmengeschichtsschreibung und Traditionskritik. Zur Analyse der Argumente und Kriterien 1. 2. 3. 4. 5.

Gründe für eine kritische Dogmengeschichtsschreibung Die Frage nach der Schriftgemäßheit der kirchlichen Dogmen Die Unterscheidung von Kerygma und Dogma Die Kritik an der theologischen Metaphysik Der Gedanke der Perfektibilität des Christentums

IV. Grundzüge der Christologie und Soteriologie 1. 2. 3. 4. 5.

Logoschristologie und die Deutung der „Gottheit Christi" Die Lehre von der „geistlichen" Versöhnung und Erlösung Das Christentum als Erlösungsreligion Die Kritik an der Beibehaltung der Teufelslehre Die Deutung des Heilswerkes Christi durch den Satisfaktionsgedanken 6. Die Auferstehung Christi als Heilsgrund 7. Unendlichkeitsgedanke und Lichtmetapher 8. Bekenntnis zur Trinität und Vorbehalte gegenüber der Trinitätslehre

V.

Zur Begründung der Unterscheidung von Religion und Theologie 1. 2. 3. 4.

Die Kritik an der Vermengung beider Größen Die Unterscheidung von Heilsordnung und Theologie Freie Gelehrsamkeit und liberale Theologie Christliche und natürliche Religion. Zu den Differenzierungen im Religionsbegriff 5. Die Privatreligion als Individualisierung der christlichen Religion . . 6. Religionslehren und Lehren der Theologie 7. Heilsglaube und Theologie

VI

100 104 109 111 116 119

123 123 126 129 132 134

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VI. Die Freiheit der christlichen Privatreligion. Semlers Begründung des religiösen Individualismus in der protestantischen Aufklärungstheologie 1. Zur Begriffsbestimmung von „Privatreligion" und „Privattheologie" 2. Die Freiheit und Unterdrückung der Privatreligion 3. Die Berufung auf das Neue Testament und die Reformation 4. Aspekte der Wirkungsgeschichte VE. Der Perfektibilitätsgedanke 1. Der anthropologische und geschichtstheologische Aspekt des Perfektibilitätsgedankens 2. Die Unvollkommenheit der Anfangsgestalt des Christentums 3. Der Unendlichkeitsgedanke und das dynamische Offenbarungsverständnis 4. Die Entwicklung zur Liebesreligion und die Auflösung der Konfessionskirchen 5. Beobachtungen zur Wirkungsgeschichte des Perfektibilitätsgedankens

180 181 184 188 193 195 195 197 200 203 204

VIEL Orthodoxie und Textkritik. Die Kontroverse zwischen Johann Melchior Goeze und Johann Salomo Semler 210 1. Thematik und theologiegeschichtliche Bedeutung der Kontroverse . 210 2. Zur Vorgeschichte der Kontroverse 211 3. Bisherige Berichterstattung und Forschungslage 216 4. Gegensätze in der Beurteilung historischer und textkritischer Fragen 217 5. Die Ausweitung der Kontroverse auf dogmatische Fragen 224 6. Die Endphase der Kontroverse 226 IX. Hermeneutik und Bibelkritik 1. Bibelautorität und Bibelkritik 2. Wurzeln und Faktoren der Bibelkritik 3. Der Weg zur Anerkennung der Textkritik 4. Die Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift 5. Kanonkritik als Kritik der orthodoxen Lehre vom Kanon 6. Zur Charakterisierung von Semlers Bibelkritik

229 229 230 233 237 239 242

VII

X.

Grundzüge der theologischen Hermeneutik

246

1. 2. 3. 4. 5. 6.

248 253 255 258 261

Die Forderung nach historischer Schriftauslegung Die Zurückdrängung des Deutungsprinzips der Glaubensanalogie . . Die Vernunft als Vermögen zu sachgemäßer Interpretation Die Kritik an der Theorie vom vielfachen Schriftsinn Die Forderung nach Anerkennung und Anwendung der Textkritik . Besonderheiten und Gemeinsamkeiten theologischer und philosophischer Hermeneutik - Der Billigkeitsgrundsatz 7. Die Feststellung der hermeneutischen Wahrheit und die Eindeutigkeit der Textaussagen 8. Veränderungen in der Signifikationshermeneutik 9. Argumente für eine begrenzte Sachkritik 10. Rangstufen im Schriftverständnis und Applikation der Heilswahrheiten

264 267 268 270 272

XI. Wahrheit und Historisierung in Semlers kritischer Theologie . 279 1. Die Historisierung der Theologie 279 2. Wahrheitsverständnis und Gewißheitsstreben 281 3. Bleibende Glaubenswahrheiten und die Grenzen der Historisierung . 288

XII. Die Stellung zu Glaubensfreiheit und Toleranz 1. 2. 3. 4. 5.

292

Die Forderung nach Denkfreiheit und Gewissensfreiheit 294 Die Kritik an den Ketzer- und Judenverfolgungen 296 Die Unterstützung der friderizianischen Religionspolitik 297 Die Freiheit der Privatreligion und das Wöllnersche Religionsedikt . 299 Die Gefährdung der Glaubensfreiheit durch die Schaffung einer Großkirche 300

Literaturverzeichnis

302

Bibliographie Johann Salomo Semlers

313

1. Verzeichnis der im Druck erschienenen Schriften Semlers 313 2. Verzeichnis der unter Semlers Vorsitz verteidigten Dissertationen . 336

Personenregister

VIII

339

Vorwort

Die Konfrontation mit der wissenschaftlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts führte im Protestantismus zur Ausbildung neuer Formen der Theologie, von denen Johann Salomo Semlers historisch-kritische Theologie besondere Beachtung verdient. Mit ihren Methoden und Forschungsresultaten hat sie zunächst mehr Widerspruch als Anerkennung gefunden, langfristig aber erhebliche Wirkungen erzielt, die bis auf unsere Gegenwart reichen. Die zeitgenössische Kritik hat ihr „Skeptizismus", „Indifferentismus" und „Sozinianismus" zum Vorwurf gemacht Spätere Generationen haben andere Schlagworte verwendet. Wie problematisch und letztlich ungeeignet die Begriffe „Rationalismus" und „Moralismus" zur Charakterisierung der historisch-kritischen Theologie Semlers sind, hat die neuere Forschung zu Recht dargelegt. Auch der Begriff der „Subjektivität" scheint wegen seiner Vagheit und seiner Nähe zum „Subjektivismus" wenig geeignet, obwohl zuzugeben ist, daß Semlers Denken mit seinen Präferenzen und Wertungen zweifellos auch im wissenschaftlichen Bereich subjektive Elemente aufweist. Der Hallenser wollte gemäß den zeitgeschichtlichen Erfordernissen das Niveau der akademischen Theologie anheben und zu allgemeinverbindlichen intersubjektiven Erkenntnissen gelangen. Aus diesem Grunde orientierte sich seine Forschung am Tatsachengehalt historischer Aussagen sowie an bestimmten Kriterien und nachprüfbaren Argumentationen. Semler hat ein umfangreiches und kaum überschaubares Schriftenkoipus historischen, biblisch-exegetischen, zeitgeschichtlichen und dogmatischen Inhalts hinterlassen, das ihn als vielseitig interessierten und gelehrten Theologen ausweist. Unter biographischem wie theologiegeschichtHchem Aspekt ist die Feststellung wichtig, daß Semler mit seiner lutherischen Herkunft und den reformatorischen Wurzeln seiner Hermeneutik und historisch-kritischen Theologie zugleich in der Tradition von Aufklärung, Geschichtswissenschaft, prüfender Vernunft und Humanität des 18. Jahrhunderts steht und sich mit Überzeugung und Mut bis an sein Lebensende zu dieser Tradition bekannt hat. Diese Haltung kritisch-prüfenden Denkens läßt ihn auch heute noch beachtenswert erscheinen. Sie regt zur Auseinandersetzung mit diesem forschenden und wegweisenden, streitbaren und umstrittenen Theologen an, für den die Toleranz gegenüber Andersglaubenden sowie die Bewahrung des Religionsfriedens in einem mehrkonfessionellen Staat ein wichtiges Anliegen gewesen ist. Man unterschätzt den Anspruch und das Problembewußtsein der protestantischen Aufklärungstheologie, wenn man in ihr lediglich eine praktische ReformbeIX

wegung zur Neugestaltung des religiösen und kirchlichen Lebens sieht. Sie hat von der zeitgenössischen wissenschaftlichen Entwicklung, vor allem der Geschichtswissenschaft, wichtige Impulse empfangen und stellt als Universitätstheologie mit ihren historischen Forschungen und Bemühungen um eine verbesserte Hermeneutik selbst einen Teil der damaligen Wissenschaftstheorie dar. Dies läßt sich am Lebenswerk des Siegmund Jacob Baumgarten (1706-1757) verdeutlichen, der mit seinem Arbeitsethos und mit seiner Hinwendung zur Geschichte auf Semler einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat. Semler hat sich nicht nur um ein angemessenes Wissenschaftsverständnis der Theologie bemüht, sondern fast gleichzeitig mit dem Göttinger Johann Lorenz von Mosheim auch ein beachtliches Programm zur Reform der akademischen Theologenausbildung entworfen. Die vorliegende Sammlung von Semler-Studien enthält Erstveröffendichungen, überwiegend aber Aufsätze und Untersuchungen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten (1975-1994) bereits an verschiedenen Orten, in Zeitschriften und Festschriften, publiziert worden sind. Letztere weiden hier in überarbeiteter und teilweise auch ergänzter Form vorgelegt. Neu geschrieben wurden die einleitende „Biographische Skizze" über Johann Salomo Semler sowie das Kapitel „Zur Begründung der Unterscheidung von Religion und Theologie". Denn ein Grundmotiv Semlers sind die Bestrebungen zur historischen Relativierung und aktuellen Verwissenschaftlichung der Theologie gewesen, welche die Zuwendung zur christlichen Religion in ihrer biblischen Einfachheit, Glaubensbezogenheit und Lebendigkeit nicht erschweren, sondern erleichtern sollen. Eine Gesamtdarstellung der historisch-kritischen Theologie Semlers ist nicht beabsichtigt gewesen. Der zukünftigen Forschung bleiben noch zahlreiche Aufgaben, wobei die Klärung von Semlers Stellung im Rahmen der zeitgenössischen protestantischen Aufklärungstheologie, aber auch die Analyse seiner exegetischen Schriften, Kommentare und Bibelparaphrasen sowie der Vergleich mit Baumgartens Exegetica als vordringlich gelten dürfen. Die Zitierung von Semler-Texten, die eine in sich uneinheitliche Schreibweise aufweisen, ist unter Beachtung des Wortlautes der modernen Orthographie moderat angeglichen worden. Auch bei der Zeichensetzung ergeben sich Schwierigkeiten, weil Semler in seinem Gebrauch von Komma, Semikolon und Gedankenstrich sehr großzügig und abweichend von unseren heutigen Regeln verfahren ist. Ein solcher Gebrauch läßt sich auch bei anderen Autoren des 18. Jahrhunderts beobachten. Der schwierige Zugang zu den Schriften Semlers und ihre große Zahl erlauben es nicht, einen Anspruch auf Vollständigkeit für die genannten Quellenbelege zu erheben. Die vorliegenden Ausführungen beruhen oft auf breiterem Quellenmaterial, als jeweils genannt oder zitiert werden konnte. Bei den Quellenangaben werden Kurztitel verwendet. Die vollständigen Angaben sind aus dem Literaturverzeichnis und dem Verzeichnis der Semlerschen Schriften ersichtlich.

X

Ohne die Vorschläge, Anregungen und Wünsche, die an mich herangetragen wurden, und ohne die vielfältige Unterstützung, die mir in den vergangenen Jahren zuteil geworden ist, hätte dieser Band kaum publiziert werden können. Zu danken habe ich für die anregenden Gespräche mit fachkundigen Historikern, Theologen und Philosophen während eines dreimonatigen Stipendiatenaufenthalts an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und für die Einladung zu einer mehrtägigen Tagung „Staat - Kirche - Theologie am Ende des Alten Reiches" im Dezember 1991 am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Wertvolle Anregungen für eine genauere Analyse von Semlers theologischer Hermeneutik habe ich durch eine internationale Tagung über Aufklärungshermeneutik empfangen, die Ende Juni 1992 in Mannheim stattgefunden hat und deren Vorträge 1994 unter dem Titel Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, hg. von Axel Bühler, publiziert worden sind. Nicht zuletzt möchte ich danken für stetige Hilfe, Unterstützung und Ermutigung, die ich durch meine Frau und meinen Freund Dr. Hartmut H. R. Schulz erfahren habe. Bei der Herstellung des Manuskripts für diesen Band hat mich Herr Uwe Rimbach ganz wesentlich unterstützt. Dafür gebührt ihm ein besonderer Dank. Dem Max Niemeyer Verlag und dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle danke ich für die Veröffentlichung meiner Studien. Bochum, im Frühjahr 1995

Gottfried Hornig

XI

Siglenverzeichnis1

AGP BHTh BSLK FKDG FSÖTh FSThR NZSTh = TAB TBT TEH/N.F. = ThW TRE WA WATR ZRGG ZThK

Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Beiträge zur historischen Theologie Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Forschungen zur systematischen Theologie und Religionsphilosophie Neue Zeitschrift für systematische Theologie Texte und Arbeiten, hg. durch die Erzabtei Beuron Theologische Bibliothek Töpelmann Theologische Existenz heute: Neue Folge Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. v. Gerhard Friedrich Theologische Realenzyklopädie Martin Luther, Werke. Weimarer Ausgabe Martin Luther, Werke. Tischreden. Weimarer Ausgabe Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte Zeitschrift für Theologie und Kirche

Die Abkürzungen erfolgen in der Regel nach: Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner. Berlin/New York 2 1994.

XII

I. Johann Salomo Semler. Eine biographische Skizze

Neben Siegmund Jacob Baumgarten und Johann August Ernesti darf Johann Salomo Semler zu den bedeutendsten deutschen Theologen des 18. Jahrhunderts gerechnet werden. Aus seiner Feder besitzen wir neben zahlreichen gelehrten Werken auch eine zweibändige Lebensbeschreibung (1781/82), in der er uns über Ereignisse aus seinem privaten und beruflichen Leben, über Elternhaus und Schulzeit, Universitätsstudium und Heirat, akademische Laufbahn, theologische Kontroversen und Forschungstätigkeiten berichtet. Auch wenn dieser Autobiographie keine Tagebuchaufzeichnungen zugrunde liegen, gibt sie uns doch manchen Aufschluß über zeitgeschichtliche Umstände und äußere Bedingungen, die ein Gelehrtenleben im Einflußbereich von Pietismus, Aufklärung und preußischer Religionspolitik geprägt haben. Der zweite Band der Autobiographie ist insofern ungewöhnlich, als er sich zu einer nach einzelnen Disziplinen gegliederten Darstellung der wissenschaftlichen Studien gestaltet, die Semler als Hallenser Professor betrieben hat. Der zweibändigen Autobiographie ist eine andere, kürzere Darstellung vorausgegangen, die Semler im Frühjahr 1772 als Gedenken an seine verstorbene erste Ehefrau publiziert hatte. Für den ersten größeren Lebensabschnitt, der auch Semlers Tätigkeit als Historiker in Altdorf und nahezu zwei Jahrzehnte seiner Tätigkeit als Theologieprofessor in Halle umfaßt, besitzen wir also zwei Darstellungen, die sich in manchem überschneiden, aber auch ergänzen. Dagegen fehlt uns ein autobiographischer Bericht über das so wichtige letzte Lebensjahrzehnt, also die Zeit von 1781 bis 1791. Für die biographische Darstellung dieser Alterszeit sind wir auf die Berücksichtigung und Heranziehung anderer zeitgenössischer Quellen und noch stärker als für die vorangehenden Lebensabschnitte auf eine Rekonstruktion angewiesen. Die heutige Interpretation verfügt über die erforderliche zeitliche Distanz zu den damals agierenden Personen und geschilderten historischen Ereignissen. Selbst bei Anerkennung der subjektiven Aufrichtigkeit des Autorenwillens, eine wahrheitsgetreue Berichterstattung über das eigene Leben zu geben, kann nicht ausgeschlossen werden, daß Semlers Autobiographie eine bewußte oder unbewußte apologia pro vita sua gewesen ist.

1

1. Elternhaus und Schulzeit in Saalfeld Johann Salomo Semler wurde am 18. Dezember 1725 in Saalfeld in Thüringen als Sohn des damaligen Archidiakonus und späteren Superintendenten Matthias Nicolaus Semler geboren. Auch die Mutter entstammte einem lutherischen Pfarrhaus. „Ich habe sehr rechtschaffene Eltern gehabt", erklärt der Sohn im ersten Satz seiner Autobiographie,1 und deren vorbildliche Lebensführung und Frömmigkeit ist offenbar ein Leitbild und eine bleibende Verpflichtung für ihn gewesen. Geistig rege, sprachbegabt und mit einem vorzüglichen Gedächtnis ausgestattet, las Semler schon während seiner Saalfelder Schulzeit als Privatlektüre eine Reihe von Erbauungsbüchem. Vom Vater, der ihn auf das Theologiestudium vorbereiten wollte, erhielt er Johann Gerhards Meditationes sacrae zur Lektüre und wurde so mit dem Verständnis der Theologie als geistlicher Heilkunst und Einübung im Glauben vertraut.2 Bekannt wurde er aber auch mit weit verbreiteten englischen Erbauungsbüchern, die in deutscher Übersetzung zugänglich waren. Erwähnt werden John Bunyans Reise nach der Ewigkeit und Emanuel Sonthoms Güldenes Kleinod? Um seinen Wissensdurst und seine historischen Interessen befriedigen zu können, unterwarf sich der Schüler ganz bewußt einer strengen Zeiteinteilung. Er begann den Tag früh um vier Uhr mit dem Singen alter Morgenhymnen, danach folgte die hebräische und griechische Bibellektüre und schließlich das Studium der neuerworbenen Bücher (Melanchthons Declamationes, Plato, Theokrit, Lipsius' Kritische Schriften usw.), aus denen Exzerpte angefertigt wurden. Dieses Studium wurde auch nach den Schulstunden fortgesetzt. „Oft vergaß ich die Zeit, wo meine Kameraden mich auf dem Spielplatz erwarteten".4 In dieser Aneignung historischen Wissens zeigt sich eine Neigung, die sein gesamtes späteres Gelehrtenleben begleitet hat. Er ist stets ein eifriger, ja nahezu unersättlicher Konsument von Büchern und Texten gewesen, die neue Erkenntnisse und geistige Anregungen versprachen. Während der Schulzeit Semlers vollzog sich in Saalfeld der vom herzoglichen Hofe begünstigte Übergang von der Orthodoxie zu einem Pietismus, der von jedem Christen das persönliche Bekehrungserlebnis forderte. Diese Frömmigkeitsrichtung gewann rasch einen größeren Anhang, zumal man sich durch die Beteiligung an den pietistischen Kreisen und Veranstaltungen auch gesellschaftliches Ansehen verschaffen und zu dem eigenen beruflichen Fortkommen beitragen konnte. Vom Vater zur Teilnahme an den pietistischen Erbauungsstunden gedrängt, vermochte 1 2

3

4

2

Johann Salomo Semler, Lebensbeschreibung. Theil 1. Halle 1781, S. 1. Vgl. hierzu den instruktiven Aufsatz von Ernst Koch, Therapeutische Theologie. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard (1606), in: Pietismus und Neuzeit. Bd. 13. Göttingen 1987, S. 25-46. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 42 u. 44. Zur Bedeutung und Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland vgl. jetzt Udo Sträter, Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Tübingen 1987, insb. S. 60ff. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 44.

sich der junge Semler mit den extravaganten und das Christsein einengenden Formen der neuen Richtung nicht zu befreunden. Er hat sie als Zwang empfunden und wurde von einer Frömmelei abgestoßen, die er vielfach als gekünstelt, unecht, ja heuchlerisch ansah.5 Hinzu kam, daß die Beschäftigung mit historischer Wissenschaft und theologischer Gelehrsamkeit vom Saalfelder Pietismus als seelengefährdende Angelegenheit betrachtet wurde.6 Obwohl Vater und Bruder sich dem Pietismus angeschlossen hatten, ist Semler als Schüler dem erheblichen Konformitätsdruck seiner pietistischen Umgebung in den äußeren Verhaltensweisen nur innerlich widerstrebend gefolgt. Er berichtet von einer „frommen Audienz" beim Herzog, zu der er zusammen mit einigen Mitschülern bestellt worden war: „Der Herzog war ganz allein; ließ uns setzen, redete mit uns über den Zustand des Herzens; und hieß uns endlich nach der Reihe niederknieen und in seiner Gegenwart beten. Über eine ganze Stunde dauerte diese fromme Audienz."7 Die eigenartigen Frömmigkeitsformen und Verhaltensweisen, die sich in den letzten Jahren der Regierungszeit des Herzogs Christian Ernst (1729-1745) im Saalfelder Pietismus herausgebildet hatten und die vorübergehend das Gemeindeleben prägten, hat Semler nicht nur in seiner Autobiographie skizziert, sondern ein Jahrzehnt zuvor schon in seinen Ascetischen Vorlesungen (1772) beschrieben. Er erwähnt die Praxis ständiger Selbstbeobachtung, das Führen von geistlichen Tagebüchern und ein Verständnis der „Versiegelung", die als geistig-seelische Veränderung und erlebbarer Vorgang zugleich als Kennzeichen wahren Christseins angesehen wurde. An dem Saalfelder Pietismus kritisiert er, daß Kinder und Schüler zum öffentlichen Gebet genötigt wurden und daß die Pietisten sich durch äußerliche Gebärden und „stolze Einbildungen" ganz bewußt von anderen Gemeindegliedem absonderten. Dies führte zur „Trennung und Zerrüttung der übrigen gottesdienstlichen Gesellschaft" und war begleitet von einer Verächtlichmachung des öffentlichen Gottesdienstes, die in und mit den pietistischen Erbauungsstunden erfolgte.8 Als der Herzog Christian Ernst 1745 starb und die Regierung von seinem lutherisch denkenden Bruder Franz Josias übernommen wurde, verschwanden nach Semlers Berichterstattung schlagartig die Frömmigkeitsformen des Saalfelder Pietismus:

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6

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Vgl. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 15f.: „Ich weiß die Fälle aus eigener Erfahrung, wo Schüler und andere Leute in eine Menge Betstunden und Beschäftigungen sind gezwungen worden, wodurch lauter Heuchelei und ein schneller Wachstum in Bosheiten unter einem so großen Schein entstanden ist." Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 27f.: „aber damalen vermehrte sich in Saalfeld die Partei der sogenannten Kinder Gottes und Wiedergeborenen, unter welcher freilich die am wenigsten fortkommen konnten, welche sogenannte menschliche Gelehrsamkeit ernsüich liebten." Ebd., S. 60. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 18-26.

3

Gleich mit dieser öffentlichen Veränderung des Hofes und seines bisherigen Zustandes, war alle jene Andacht, Frömmigkeit, Kopfhängen, Augendrehen, leise reden - auf einmal vorbei; es konnte nun niemand äußerliche Vorteile sich damit schaffen.9

Mit radikalpietistischen Auffassungen ist Semler jedoch auch während seiner Studienzeit in Halle in unmittelbare Berührung gekommen. Er berichtet von einem älteren Kommilitonen namens Woltersdorf, der aus pietistischer Überzeugung keine Vorlesungen mehr besuchte und Semler eines Tages aufforderte, „das unselige studieren" endlich aufzugeben, denn „der Heiland könne besser lehren als Menschen".10 Auch von dem Saalfelder Superintendenten Benjamin Lindner wurde Semler „ernsdich" ermahnt, er solle ja nicht „über den Herrn Christus hinaus studieren".11 Aus der Kritik an Eigenarten und Erscheinungsformen des zeitgenössischen Saalfelder, Hallenser und Herrnhuter Pietismus darf jedoch keine prinzipielle Ablehnung des gesamten Pietismus gefolgert werden. Zwar hat Semler auch später in den gesetzlichen und wissenschaftsfeindlichen Tendenzen stets eine unzulässige Einengung des freien Christseins erblickt, aber den von Spener ausgehenden lutherischen Pietismus und dessen wichtigste Reformbestrebungen als berechtigtes Anliegen anerkannt. Mit ausgesprochener Wertschätzung hat er stets von Spener und dem von Spener ausgehenden lutherischen Pietismus, ja sogar von den „ersten hallischen theologischen Lehrern" gesprochen.12 Eine kritische Einschätzung erfährt jedoch der Hallenser Pietismus, weil dessen Verfolgungskampagne zur Vertreibung des Philosophen Christian Wolff aus Halle geführt hatte. An einem lebendigen Christsein, das auf eigener Erfahrung und Überzeugung beruht, war auch Semler gelegen, aber es sollte sich in Freiheit entfalten können.

2. Universitätsstudium in Halle und der Einfluß Siegmund Jacob Baumgartens Gründlich, intensiv und etwas länger, als es damals allgemein üblich war, hat Semler von 1743 bis 1750 in Halle studiert: zunächst klassische Sprachen und Geschichte, Philosophie, Logik und Mathematik, dann aber hauptsächlich Theologie. Die Finanzierung dieses Studiums ist den Eltern schwer gefallen und zwang sie zur Schuldenaufnahme. Diese Belastung suchte der Sohn zu verringern, indem er sich durch besonderen Fleiß hervortat und seinem Lehrer Baumgarten bei Editionen und der Rezensionstätigkeit half, wofür er auch entlohnt wurde.13 9 10 11 12 13

4

Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 101. Ebd., S. 79. Ebd., S. 90. Semler, Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik und Dogmatik. Halle 1788, S. 90. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 104f.

Andere Lehrer der theologischen Fakultät haben ihn offenbar weit weniger beeindruckt. Eher beiläufig erwähnt er die echte Frömmigkeit des Johann Georg Knapp und den Alttestamentier Christian Benedikt Michaelis. Unter den Lehrern der Philosophie wird nur Georg Friedrich Meier genannt, der ebenfalls ein Baumgartenschüler war und mit dem ihn später - auch aufgrund der gemeinsamen Interessen an der Hermeneutik - eine engere Freundschaft verband, als beide nebeneinander in Halle als akademische Lehrer tätig waren. Zu Semlers Studienzeit hat jedoch keiner der Hallenser Professoren den jungen Studenten so nachhaltig geprägt wie Siegmund Jacob Baumgarten, der allgemein als ein hervorragender Gelehrter galt und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gewesen ist. Baumgarten, der bald Semlers wissenschaftliche Begabung erkannte und ihn in sein Haus aufnahm, ist zum Förderer und väterlichen Freund des jungen Studenten geworden und hat auch wesentlich dazu beigetragen, daß Semler, der zunächst den Lehrerberuf ergreifen wollte, eine akademische Laufbahn einschlug. Schon während des Universitätsstudiums begann Semler mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und veröffentlichte eine Reihe kleinerer Arbeiten über historische Fragen. Er unterstützte Baumgarten bei der Neuausgabe und Kommentierung des Concordienbuches, welches die geltenden lutherischen Bekenntnisschriften enthielt, und schrieb Rezensionen wissenschaftlicher Werke englischer und französischer Autoren für die von Baumgarten herausgegebenen Nachrichten von einer hallischen Bibliothek. Das Vertrauensverhältnis wurde bald so eng, daß Baumgarten auch die Unterrichtung der eigenen Kinder an Semler übertrug. Durch die Aufnahme in das Haus Baumgartens hatte der lesehungrige Semler ständigen Zugang zu einer der damals größten Bibliotheken Halles: der reichhaltigen, mehr als zehntausend Bände umfassenden Privatbibliothek seines Lehrers. In ihr fand er neben älteren theologischen und philosophischen Werken auch neuere Monographien englischer, französischer, niederländischer und italienischer Autoren. Zu den noch vor der Magisterarbeit gedruckten Erstlingsschriften Semlers gehören seine Gedanken von Uebereinkommung der Romane mit den Legenden (1749). Man könnte sie als eine geschichtstheoretische Schrift bezeichnen, die zugleich das Ziel verfolgt, bestehende Lesegewohnheiten zu ändern. Als legendär gelten zahlreiche der uns überlieferten Heiligengeschichten, die nur so lange Beifall und Interesse finden konnten, als man noch in Unkenntnis der „wahren Geschichte" lebte. Ihnen vergleichbar seien die Romane, die sich gegenwärtig zunehmender Beliebtheit erfreuten, aber keinen Anspruch auf historische Wahrheit erheben könnten. Angesichts dieser Tendenz plädiert Semler dafür, die Romanschriftstellerei und das Lesen von Romanen so lange zurückzustellen, bis man sich eine gewisse Kenntnis „der wahren älteren oder neueren Geschichte" verschafft habe.14

14

Semler, Gedanken von Uebereinkommung der Romane mit den Legenden. Halle 1749, S. 20.

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Die vom Elternhaus her vorhandene Aufgeschlossenheit für die reformatorisch geprägte Frömmigkeit und Lehrtradition wurde schon während des Universitätsstudiums zur eigenständigen Quellenkenntnis vertieft. Dies geschah auch durch die Mitarbeit an der kommentierten Neuausgabe des Concordienbuches, die Baumgarten 1747 veranstaltet hat. Dieses Werk hat Semler 1761, wenige Jahre nach dem Tode seines Lehrers und Freundes, mit einer eigenen Vorrede versehen in einer zweiten Auflage erneut publiziert15 und als Hallenser Professor dann regelmäßig Vorlesungen über die Symbolischen Bücher der Lutherischen Kirche gehalten. Das vielseitige Theologiestudium und die wissenschaftlichen Aufgaben, die ihm Baumgarten übertrug, fesselten den jungen Studenten bald so stark, daß darüber seine ursprünglichen Neigungen für die rein humanistischen Fächer in den Hintergrund traten. Als Hallenser Student ist Semler auch Zeuge eines wissenschaftlichen Disputs zwischen Voltaire, Christian Wolff und Baumgarten gewesen, wobei Baumgarten zugleich als Dolmetscher fungierte. Wenn Semlers Erinnerung zutrifft, dann ist er durch Baumgartens Äußerungen in der Überzeugung gestärkt worden, daß die jeweils herrschende Theologie durchaus kritisiert werden könne, ohne daß dadurch die christliche Religion Schaden nehmen müsse. Zur Einsicht in die sachliche Verschiedenheit von Religion und Theologie und einer ihr entsprechenden begrifflichen Distinktion ist Semler jedoch erst viel später gelangt.

3. Die Coburger und Altdorfer Zeit Nachdem er 1750 mit einer gegen den englischen Textkritiker William Whiston gerichteten Dissertation sein Magisterexamen bestanden hatte, verließ Semler Halle, um die Stelle eines Redakteurs der Koburger Staats- und Gelehrten-Zeitung anzunehmen. Zugleich gab er am akademischen Gymnasium der Stadt Privatunterricht zur Erlernung der arabischen Sprache. Die Coburger Tätigkeit war jedoch nur von kurzer Dauer, weil Semler bereits 1751 als Nachfolger des verstorbenen Prof. Christian Gottlieb Schwarz an die bei Nürnberg gelegene Universität Altdorf berufen wurde, wo er eine Professur für deutsche Reichsgeschichte und lateinische Poesie übernehmen sollte. Noch vor Antritt dieser Professur heiratete er im August 1751 in Coburg Christiane Magdalena Döbner. Die gemeinsame Reise zur Übersiedlung nach Altdorf unterbrach das junge Ehepaar mit einem fünftägigen Aufenthalt in der Universitätsstadt Erlangen. Dort kam es zur persönlichen Bekanntschaft mit dem Theologieprofessor Caspar Jacob Huth und einem erneuten Zusammentreffen mit dem Philosophen Christian Emst von Windheim, dem Schwiegersohn des Göttinger

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Siegmund Jacob Baumgarten, Erleuterungen der im christlichen Concordienbuch symbolischen Schriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Halle 2 1761.

enthaltenen

Kirchenhistorikers Johann Lorenz von Mosheim.16 Für Semlers hermeneutische Neigungen und sein historisches Forschungsgebiet ist sicherlich auch der Besuch bei Johann Martin Chladenius von Bedeutung gewesen. Denn Chladenius, der in Erlangen als Professor für Theologie, Beredsamkeit und Dichtkunst tätig war, hatte aus der Kirchengeschichte, die er zuvor in Leipzig gelehrt hatte, Anstöße und Anregungen für seine methodischen Überlegungen zur Gewinnung historischer Erkenntnis empfangen. Er war zu dem Zeitpunkt, als Semler ihn besuchte, mit den Arbeiten zur Allgemeine[n] Geschichtswissenschaft beschäftigt, die im folgenden Jahr in Leipzig erscheinen sollte. Das Zusammentreffen und die Unterredungen mit Chladenius werfen die Frage auf, ob im wissenschaftstheoretischen und methodischen Bereich eine Beeinflussung Semlers durch Chladenius vorliegen könnte. Dies ist neuerdings von Reinhart Koselleck und John Stroup behauptet worden, aber auf der Basis eines Strukturvergleichs und offensichtlich ohne Kenntnis der autobiographisch bezeugten Begegnung der beiden Gelehrten im Jahre 1751.17 Bereits 1742 hatte Chladenius in seiner Allgemeine[n] Auslegungskunst mit der Theorie des Sehepunktes die Einsicht von der Standortbedingtheit der perspektivischen Betrachtung des vergangenen Geschehens formuliert und damit eine erkenntnistheoretische Begründung für das Geschichtswissen geliefert. Mit der Lehre vom Sehepunkt bzw. der Perspektive, ohne welche historische Erkenntnis nicht zu gewinnen ist, gelangt die Einsicht zum Durchbruch, daß verschiedene Perspektiven möglich sind, aber die Relativität solcher perspektivischen Betrachtungsweise nicht als Einwand gegen die historische Wahrheitsforschung geltend gemacht werden darf, weil sie vielmehr deren unumgängliche Voraussetzung ist. Gemäß der primär für das Gebiet der Reichsgeschichte erfolgten Berufung hat Semler während der Altdorfer Zeit geschichtswissenschaftliche Vorlesungen gehalten und dabei Johann David Köhlers „Reichshistorie" zugrundegelegt.18 Mit dieser knappen Titelangabe ist höchstwahrscheinlich Köhlers Kurtzgefasste gründliche Teutsche Reichshistorie gemeint, die in erster Auflage 1736 und in einer zweiten Auflage 1751 erschienen war und demzufolge damals als ein aktuelles Lehrbuch gelten konnte. Freundschaftlichen Umgang pflegte Semler nicht nur mit den Altdorfer Historikern und Juristen, sondern auch mit den drei Vertretern der dortigen

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Semler, Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 41; ders., Lebensbeschreibung. Theil 1. Halle 1781, S. 151f. Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 193: „Semler stand erkenntnistheoretisch fest auf dem Boden der Wissenschaftslehre von Chladenius, nur daß er die historische Perspektivität konsequent verzeitlicht hat." - Vgl. John Stroup, Protestant Church Historians in the German Enlightenment, in: Hans Erich Bödeker u.a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen 1986, S. 175: ,3uilding on Chladenius, Mosheim and S. J. Baumgarten (1706-1757), Semler sought a new way of meeting the challenges of modem thought." Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 164.

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Theologischen Fakultät. Namentlich erwähnt werden Johann Wilhelm Baier sowie Johann Balthasar Bemhold und Johann August Dietelmaier.19

4. Berufung nach Halle und Lehrtätigkeit In der ländlichen Ruhe und Abgeschiedenheit der kleinen Universität Altdorf und im Kreise der dort lehrenden Juristen, Mediziner und Theologen, unter denen er rasch anregende Gesprächspartner und Freunde gewann, hat Semler sich sehr wohl gefühlt. Nach eigenen Bekundungen ist die so kurz bemessene Altdorfer Zeit die glücklichste in seinem Leben gewesen. Wäre es nach seinen eigenen Wünschen und Neigungen gegangen, so hätte er die dortige Professur und Universität nicht verlassen. Aber der durch Baumgarten veranlaßte Ruf auf eine freigewordene ordentliche Professur der Theologischen Fakultät der Universität Halle, der ihn im Frühjahr 1752 erreichte, zwang zu einer schwierigen Entscheidung. Die Nürnberger Ratsherren drängten ihn, in Altdorf zu bleiben, und erhöhten sein Gehalt. Semler selbst verspürte wenig Neigung, die soeben erst errungene Position aufzugeben und sich durch die Rückkehr an die Heimatuniversität in die theologischen Auseinandersetzungen einander befehdender Schulrichtungen verstricken zu lassen. Wenn er nach langem Zögern und trotz erheblicher Bedenken im April 1753 schließlich doch dem Ruf nach Halle gefolgt ist, so dürfte dies vor allem dem Drängen des Vaters und dem Einfluß seines hochverehrten Lehrers Baumgarten zuzuschreiben sein. Beide wünschten dringlich seine Rückkehr nach Halle, und er wollte beide nicht enttäuschen. Auf Anraten Baumgartens hatte Semler sich in einem ordentlichen Verfahren von der Altdorfer Theologischen Fakultät zum Doktor der Theologie promovieren lassen. Dieser Akt wurde aber erst im Februar 1753, also zu einem Zeitpunkt vollzogen, als die Entscheidung zur Annahme des Rufes nach Halle bereits gefallen war und die offizielle Verabschiedung von der Universität Altdorf schon stattgefunden hatte. Die Theologische Fakultät zu Halle war größer und einflußreicher als diejenige Altdorfs und bestand, als Semler in sie eintrat, aus sechs Professoren. Neben Siegmund Jacob Baumgarten (1706-1757), der zusammen mit Semler zur .gelehrten Partei' gerechnet wurde, gab es eine zahlenmäßig doppelt so starke Gruppe von Pietisten, wozu der schon über siebzigjährige Senior Christian Benedikt Michaelis (1680-1764), Johann Georg Knapp (1705-1771), Gottlieb Anastasius Freylinghausen (1719-1785) und Gotthilf August Francke (1696-1769), der Sohn von August Hermann Francke, gehörten. Zwischen Baumgarten und den Pietisten bestand seit langem eine fakultätspolitische Rivalität um den maßgeblichen Einfluß bei Stellenbesetzungen, den Umfang der zu fordernden wissenschaftlichen Gelehr19

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Ebd., S. 157.

samkeit und die Art der Theologenausbildung. Seniler wurde in diese Auseinandersetzungen hineingezogen, noch bevor er Mitglied der Hallenser Fakultät geworden war. Das Außergewöhnliche seiner Berufung nach Halle bestand darin, daß sie gegen den erklärten Willen der Fakultätsmehrheit allein auf Baumgartens Empfehlung hin erfolgt war. Die Pietisten ließen den Baumgartenschüler ihre Ablehnung spüren und denunzierten ihren neuernannten Kollegen mit einem Schreiben an das Berliner Ministerium. Die erhobenen Vorwürfe - mangelnde Eignung für den akademischen Beruf - waren wohl eher Ausdruck tiefer Verärgerung über eine fakultätspolitische Niederlage. Sie erschienen angesichts des Eifers, mit dem Semler seine Hallenser Vorlesungstätigkeit unter lebhaftem studentischem Zulauf aufgenommen hatte, in der Sache unberechtigt. Semler reagierte, als er davon erfuhr, mit großer Betroffenheit. Da er ebenso wie Baumgarten vom zuständigen Minister von Danckelmann zu einer Stellungnahme aufgefordert worden war, hat er die pietistischen Vorwürfe schriftlich zurückgewiesen.20 Mit 28 Jahren auf eine ordentliche Professur einer Theologischen Fakultät berufen zu werden, galt für damalige Zeiten als eine ungewöhnliche Karriere und bedeutete zweifellos auch einen gesellschafdichen Aufstieg. Die Besoldung der preußischen Professoren war jedoch eher bescheiden, auch wenn sie im Einzelfall extreme Unterschiede aufweisen konnte. Während der nach Halle zurückberufene Christian Wolff ein fürstliches Gehalt von 2400 Talern bezog, mußte sich Semler wie die Mehrzahl seiner Hallenser Kollegen mit 400 Talern Jahresgehalt zufriedengeben, die an der Fakultät tätigen außerordenüichen Professoren bekamen nur die Hälfte. Als Direktor des Theologischen Seminars, zu dem Semler nach dem Tode Baumgartens (1757) ernannt wurde, erhielt er zusätzlich 50 Taler. Seine akademische Lehrtätigkeit in Halle begann Semler mit Vorlesungen über Kirchengeschichte und Hermeneutik, wobei er zunächst nach Manuskripten las, die ihm sein Lehrer und Fakultätskollege Baumgarten zur Verfügung stellte. Die Ausarbeitung der verschiedenen Collegia, zu denen auch eine Vorlesung über die Confessio Augustana gehörte, erforderte gleichwohl einen erheblichen Zeitaufwand. Seniler berichtet, daß er regelmäßig auch die Nachtstunden bis 2 Uhr benötigte, um sich angemessen vorbereiten zu können.21 Aus den intensiven Quellenstudien und historischen Forschungen, die er zur Kollegvorbereitung und zur Begründung eines eigenständigen Urteils betrieben hat und von denen bald auch Publikationen zeugen, darf nicht gefolgert werden, Semler sei vor allem Kirchen- und Dogmengeschichtler gewesen. Die erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts üblich gewordene Spezialisierung und Zuständigkeit für einzelne Disziplinen der Theologie kannte man um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht. Die 20

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Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 215f., sowie ders., Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 95f. - Der geschilderte Vorgang ist in Semlers Autobiographie nicht genau datiert. Er dürfte sich im Winter 1753/54 zugetragen haben. Semler, Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 88.

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Theologischen Fakultäten an den protestantischen Universitäten bestanden damals oft nur aus drei oder vier Lehrstühlen. Von den Professoren erwartete man daher eine möglichst umfassende Qualifikation und die Bereitschaft, mehrere theologische Fächer in Forschung und Lehre zu vertreten. Infolgedessen hat Semler sich nicht auf Hermeneutik und Kirchengeschichte beschränkt, sondern, wie zuvor schon Baumgarten, regelmäßig über Exegese biblischer Schriften, Dogmatik, Kontroverstheologie (Polemik) und Symbolik gelesen und in den Vorlesungen über die Bücherkenntnis auch auf wichtige Publikationen und Neuerscheinungen des Auslands hingewiesen. Die exegetischen Vorlesungen Semlers hatten ihr Schwergewicht im Neuen Testament und galten vor allem den paulinischen Briefen und dem Johannesevangelium. Sie erstreckten sich aber auch auf einzelne Bücher des Alten Testaments, nämlich die Sprüche Salomonis und die Psalmenauslegung. Darin folgte Semler der Hallenser Lehrtradition, die stets eine gründliche philologische Ausbildung und das Bibelstudium als besonders dringlich angesehen hatte. In Lehre und Forschung wollte Semler die schon beim älteren Baumgarten zu beobachtende Hinwendung zur Geschichte der Theologie, die Berücksichtigung des Wandels in Sprache, Begrifflichkeit und Methode weiterführen. Aus diesem Grund glaubte er auch, sich weder der an der Hallenser Fakultät dominierenden Schule eines kirchlich legitimierten Pietismus noch der von Christian Wolff beeinflußten Richtung einer „scientifischen Theologie" anschließen zu können. Mit Semlers Forschungen wird so der Prozeß einer Historisierung der Theologie in allen ihren Disziplinen wesentlich verstärkt. Es ist ein Prozeß, der die Aufmerksamkeit auf die Geschichte der Hermeneutik und Schriftauslegung lenkt, gleichzeitig aber auch die geschichtlichen Veränderungen in der Dogmatik, Kontroverstheologie und Moraltheologie zu erfassen sucht und auf diese Weise die Dogmen- und Theologiegeschichte als eigenständige Disziplin begründet. Von der durch Semler mitbewirkten .Historisierung der Theologie' kann also in einem doppelten Sinne gesprochen werden. Denn einerseits wird die akademische Theologie um den Gegenstand der Geschichte bereichert, der ihrer Erforschung gilt; und dies rückt sie in die Nähe der Geschichtswissenschaft; andererseits bedingt die Kenntnis der Geschichte der theologischen Gelehrsamkeit die Einsicht in deren prinzipielle Veränderlichkeit; und dies setzt die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Theologie frei.

Ein wichtiges und bis dahin kaum bearbeitetes Aufgabengebiet entdeckte Semler in der kritischen Interpretation der Dogmen- und Theologiegeschichte. Für die nachweisbaren Veränderungen, welche die theologischen Lehrmethoden und Lehrinhalte im Laufe der Jahrhunderte erfahren haben, mußte eine Erklärung gefunden werden. Semler suchte diese Veränderungen von ihren „geographischen" Bedingungen her zu interpretieren. Auf diese Weise sollte der Einfluß philosophischer 22

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Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler (Diss. Kirchliche Hochschule Berlin). Augsburg o.J. [1974], S. 138.

Strömungen, aber auch die Bedeutung politischer und soziologischer Faktoren für die Entwicklung der Dogmen- und Theologiegeschichte erfaßt werden. Die „freiere Denkungsart", für deren Verwirklichung innerhalb der Theologie Semler unermüdlich argumentiert und geworben hat, ist als Einsicht in die historische Relativität aller Lehrbildungen von konfessionalistischer Rechthaberei wie von subjektivistischer Willkür gleichweit entfernt. Semler ist nicht nur ein Mann von seltener Belesenheit und einem vorzüglichen Gedächtnis, sondern auch ein erstaunlich fleißiger und produktiver Autor gewesen. Was die Intensität der Forschung und den Publikationseifer anbelangt, so könnte man von einer über Jahrzehnte anhaltenden ungewöhnlichen Hyperaktivität sprechen, wenn nicht schon der als Vorbild bewunderte Baumgarten ein so überaus fleißiger und fruchtbarer Wissenschaftler gewesen wäre. Wie die Bibliographie Semlers erkennen läßt, besitzt sein Œuvre den Umfang von mehr als zweihundertfünfzig Titeln, zugleich aber auch eine breitgefächerte inhaltliche Vielfalt. Unter der Schnelligkeit, mit der geschrieben und publiziert wurde, litten bisweilen Stil und Lesbarkeit der Schriften. Ihre Konzeption war nicht immer sorgfaltig durchdacht, Gedankengänge wiederholten sich, und die Ausführungen wirkten mitunter umständlich und schwerfällig. Die exemplarische Ordnung und genaue Stoffeinteilung, die Semler an seinem Lehrer Baumgarten bewundert hat, machten sich in den eigenen Werken kaum bemerkbar. Doch gelang es Semler meistens, sein wissenschaftliches Anliegen zur Geltung zu bringen. Wiederholt lösten seine Publikationen länger andauernde wissenschaftliche Auseinandersetzungen aus.

5. Semlers Selbstverständnis Gelegentlich finden wir in Semlers Vorworten und Werken Passagen, aus denen wir einen gewissen Aufschluß über Grundgedanken, Anliegen und Motive seines Forschens und Handelns gewinnen. Sie enthalten bisweilen auch Elemente einer Selbstbeurteilung, die Züge zu einem Selbstporträt bieten. Wir wollen im folgenden einige dieser Aussagen betrachten, deren Gewicht nicht dadurch verringert wird, daß sie dem Verdacht der Idealisierung ausgesetzt bleiben. Semler spricht von seiner Wahrheitsliebe und seinem Streben nach Gelehrsamkeit, seinem Ernst und Fleiß in den selbständigen Forschungen sowie der Treue, Redlichkeit und Rechtschaffenheit in der Ausübung des akademischen Amtes: „Gott hat mir ein gerades redliches Herz gegeben."23 „Ich bin also der ganzen Ge-

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Semler, Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. S. 70.

Halle 1758,

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mütsfassung nach stets ein gerader so aufrichtig handelnder Mann gewesen, der bloß nach dem Grundsatz gehandelt: fürchte Gott, thue Recht, scheue niemand."24 Als Wissenschaftler weiß sich Semler dem Ethos der Gewissenhaftigkeit, Wahrheitsliebe und Selbständigkeit des Urteils verpflichtet. Er will sich nicht den gängigen Meinungen und Vorurteilen anpassen, sondern für das Erkannte auch dann eintreten, wenn dies zu Auseinandersetzungen, Konflikten und persönlichen Nachteilen führt. 25 Wissenschaftliche Erkenntnis ist nach Semlers Verständnis Wahrheitserkenntnis und demzufolge stets auch Vorurteilskritik.26 Unter den genannten Aspekten und Kriterien will Semler auch die von ihm vertretene historisch-kritische Theologie verstanden wissen, die als wissenschaftliches Forschen und sorgfältiges Interpretieren von Quellen den Gefahren der subjektivistischen Willkür und Beliebigkeit zu entgehen sucht. Dieses Pathos intellektueller Aufrichtigkeit und Gewissenhaftigkeit bestimmt dann auch die Apologie der von verschiedenen Seiten angegriffenen eigenen Position: „Nicht eine einzige gottlose oder leichtsinnige Meinung behaupte ich, sondern ich widerspreche den alten Vorurteilen und irrigen Meinungen."27 Bezüglich der eigenen Religion und Frömmigkeit gesteht Semler seine Zuversicht auf Gottes unsichtbare Regierung und Lebensführung, zugleich aber auch den eigenen Hang zu mystischen und theosophischen Schriften. Die geistlichen und mystischen Erfahrungen sind bei ihm mit Reflexionen über die ständige Wirksamkeit Gottes und die Anerkennung der „göttlichen Unendlichkeit" verbunden.28 Als Beispiel für eine „gesunde Mystik" hat Semler auf Nicolaus von Cusa verwiesen.29 24

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Semler, Aufrichtige Antwort, auf Herrn Basedows Urkunde. Halle 1780, S. 27; vgl. auch ebd., Vorrede, S. 44. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Ausßhrlicher Vortrag der Theologischen Moral. Halle 1767, S. 4: „Denn es gehört zu dem eigenen Gewissen eines Lehrers, daß er nicht bloß einförmig alles wiederholet und nachsagt, was andere nach ihrer Erkenntnis schon so vielmal sagten und urteilten, sondern daß er [...] selbst eigene Treue im Gebrauch aller Gelegenheiten und Fähigkeiten beweise." Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 379: „Es ist eines Professors wahrer Beruf, mehr zu wissen und freie Grundsätze ehrlich anzuwenden; und dahin gehen meine Bemühungen. Bei der schlechten Art zu studieren, blieb eine Menge von Vorurteilen, wenn ich nicht wenigstens das Meine täte, sie zu unterscheiden von der wahren nützlichen Erkenntnis"; vgl. ebd., S. 384. „Wahrheit macht immer erst Anstoß, dies sollten Gelehrte wissen und, um Gottes willen, gerade handeln." Semler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 21 lf. - Rechtschaffenheit, Wahrheitsliebe und aufrichtige Frömmigkeit ist Semler von seinen Fakultätskollegen Johann August Nösselt und August Hermann Niemeyer zuerkannt worden. Das Urteil eines ungenannten Zeitgenossen lautet: „Semler war ein durchaus rechtschaffener Mann, wie jeder bezeugen wird, der ihn näher zu kennen Gelegenheit gehabt hat; ein rechter warmer Freund alles dessen, was er als wahr und gut erkannte; ein herzlicher Verehrer der Religion und des Christentums." Vgl. Ueber den verewigten D. Johann Salomo Semler, in: Journal fiir Prediger. Bd. 26. Halle 1793, S. 408. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, Vorrede. Semler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 193.

In der theologia mystica sieht er den Ausdruck der unmittelbaren Sorge für die eigene Seele und ihr rechtes Gottesverhältnis. An Semler läßt sich zeigen, daß es auf lutherischem Boden und eng verbunden mit der Sünden- und Gnadenerfahrung eine legitime Gestalt christlicher Mystik gegeben hat, die keineswegs die Tendenz hat, das Gegenüber von Gott und Mensch, Erlöser und Erlöstem aufzuheben. Die mystische Erfahrung, die ihm offenbar zuteil geworden ist, mag als innerer Ruhepunkt auch ein Gegenpol gewesen sein zur rastlosen Forschung und angespannten Arbeitsleistung im akademischen Beruf. Sie ist völlig frei von weltflüchtigen Tendenzen. Die Mystik gilt als unentbehrlich, denn sie ist „die sicherste Festung der inneren Religion".30 Die Innerlichkeit einer solchen mystischen Frömmigkeit bedeutet aber auch, daß der Mensch von der Anerkennung der erbrachten Berufsleistungen unabhängig ist, weil er im Glauben ein eigenständiges persönliches Gottesverhältnis besitzt. In der Bevorzugung des mystischen Schrifttums äußert sich Semlers .Privatfrömmigkeit', die eigenständige Züge aufweist, weil sie aus einem intensiven Bibelstudium, religiösen Erfahrungen und der ständigen Beschäftigung mit den theologischen Problemen des akademischen Amtes erwachsen ist. Als solche war sie weder ein konstant ruhiger Gemütszustand noch ohne innere Konflikte und Spannungen. Semler charakterisiert sie gelegentlich in einer Weise, die erkennen läßt, daß sie den Normen und Kriterien des pietistischen Frömmigkeitsideals der Saalfelder und Hallenser Umgebung wohl kaum entsprochen hat: Meine Frömmigkeit war daher oft ängstlich, mit innerer Unlust über mich verbunden, ohne jenen sanften Lichtglanz so oft zu sehen oder die Versiegelung so zu fühlen. Über alle Worte und Redensarten war ich hinaus, habe sie aber einem jeden auch für sich freigelassen.31

Dem Vorbild Baumgartens folgend, hat Semler im Leben und Lehramt die enge Verbindung der persönlichen Frömmigkeit mit einer historischen bzw. theologischen Gelehrsamkeit als erstrebenswert angesehen. Historische Forschung, die sich den Quellen der Vergangenheit um der eigenen Gegenwart willen zuwendet, zielt auf die Gewinnung der Wahrheitserkenntnis und bemüht sich um die Überwindung der eingewurzelten Irrtümer und Vorurteile. „In dieser reinen Hochachtung des Wahren kann mich wohl niemand übertreffen, in der richtigen Beobachtung aber will ich es gerne zugeben."32 Die Prüfung des Traditionellen und Althergebrachten ebenso wie der neueren Auffassungen und Lehren soll unter dem Hauptaspekt der Wahrheitsfrage erfolgen.

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Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 176. Ebd., S. 119. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, Vorrede.

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Bei mir gilt weder Ansehen noch Person, weder Altes noch Neues, sondern die pflichtmäßige Bemühung, stets das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, es mag nun mein Wahres neu oder das Neue, das andere aufstellen, falsch sein und heißen müssen.

Die Sorge für eine gründliche Ausbildung der Theologiestudenten und das Bewußtsein, daß die Theologie noch weite, bisher kaum bearbeitete Gebiete umfaßt, führen den jungen Theologieprofessor auch zu selbstkritischen Eingeständnissen: Ich schäme mich, wie Luther und Melanchthon, mancher Aufsätze, die noch gar zuwenig Gründlichkeit und eigene Untersuchung enthalten. Erst seit der Ausgabe von Baumgartens Dogmatik und Polemik habe ich angefangen, einige Früchte meines Privatfleißes unseren Zeitgenossen anzubieten.34

Die aufgeklärte lutherisch-pietistische Subjektivität hat bei Semler ein starkes Gegengewicht in dem Bestreben des Wissenschaftlers nach einer intersubjektiv gültigen Textinterpretation und nachprüfbaren Argumentation. Die positiven Selbstbeurteilungen und die Hinweise auf eigene Grundsätze und Absichten treten nur sporadisch auf und sind nicht selten durch Vorwürfe und Beschuldigungen der theologischen Gegner provoziert. Geistliche Tagebücher, wie sie in seiner pietistischen Umgebung damals noch geführt wurden, hat Semler nicht verfaßt. Zur ständigen Selbstbeobachtung hinsichtlich religiöser Regungen und Empfindungen fehlten ihm Neigung und Zeit, die er vordringlich für seine wissenschaftliche Forschung und die Ausarbeitung gelehrter Werke verwandte. Aber die angeführten Äußerungen zeigen doch Semlers Selbstbewußtsein und seine Selbsteinschätzung als Wissenschaftler und Theologe. War der ältere Semler der späten 80er Jahre von der Richtigkeit der eigenen Forschungsergebnisse und der Begriindbarkeit der eigenen kritischen Theologie überzeugt, so war er in seiner Betrachtungsweise doch Historiker genug, um auch die Relativität und Revidierbarkeit der eigenen Position durch den weiteren Fortgang der Forschung zu erkennen und abweichende Meinungen zuzulassen: Aber ich erwarte nicht, ich wünsche es nicht einmal, daß alle meine Vorstellungen und Meinungen (die ja auch ihr eigenes haben müssen) allen Zeitgenossen gleichsam schon willkommen sein sollen. Ich wünsche vielmehr recht viel emstliche, bedächtige Untersuchungen.35

Bestimmte Züge der Selbstcharakterisierung erfahren, wie wir bereits gesehen haben, eine Bestätigung durch das Urteil von Semler nahestehenden Zeitgenossen. August Hermann Niemeyer, Schüler Semlers und seit 1777 dessen Fakultätskollege, hat in seiner Charakterisierung des verstorbenen Lehrers dessen Wahrheitsliebe und geistige Selbständigkeit als Wissenschaftler hervorgehoben:

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Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 103. Semler, Ausfürliche Erklärung über einige theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 148. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, Vorrede, S. XVI.

Semler besaß in der Tat das in einem hohen Grade, was er gewöhnlich liberale Denkungsart zu nennen pflegte. Er liebte Wahrheit, suchte und faßte sie, wo er sie zu finden glaubte, begierig auf, ohne sich daran zu kehren, ob Andere und ob Wenige oder Viele, das Nämliche auch für wahr hielten, ob es alt oder neu, verhaßt oder gebilligt war. Er schätzte alles, was ihm groß und edel schien und besaß Mut genug, auch das, was er dafür und für wahr erkannte, zu bekennen.36

6. Das Programm für eine Reform des Theologiestudiums Die pädagogischen und reformfreudigen Bestrebungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben auch Programme zur Reform und Neuorganisation des akademischen Theologiestudiums hervorgebracht. Ein solches Programm, das den zeitgeschichtlichen Anforderungen besser entsprechen sollte und auch Vorschläge für neue Formen der Wissensvermittlung enthielt, hatte Semler 1757 mit seinem Werk Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit entworfen. Neben dem Erlemen der biblischen Sprachen und einer gründlichen Ausbildung in den theologischen Hauptdisziplinen (Exegese, Hermeneutik, Dogmatik, Kirchengeschichte, Moraltheologie und Polemik) sollten auch Methoden und Erkenntnisse nicht-theologischer Fächer wie Logik, Mathematik, Physik, Psychologie, Metaphysik, Philosophische Moral und Naturrecht Berücksichtigung finden. Die genannten Wissenschaftsgebiete sollten so aufeinander bezogen werden, daß die biblische Exegese zusammen mit Textkritik und Hermeneutik, die Kirchengeschichte in Verbindung mit Chronologie, Geographie, Reichsund Weltgeschichte, die systematisch-theologischen Fächer in Verbindung mit Logik, Metaphysik, Naturrecht und Psychologie betrieben werden konnten. Davon versprach Semler sich eine Befreiung aus der drohenden Isolierung der Theologie, eine Anhebung ihres wissenschaftlichen Niveaus und insgesamt eine Verbesserung der theologischen Urteilsfähigkeit der auszubildenden Studenten. Daß dem Metaphysikstudium ein Studium der Logik vorausgehen sollte,37 entsprach älteren Gepflogenheiten. Denn bei den akademischen Disputationen mußte man sich der Methode logischer Beweisführung bedienen, welche die Kenntnis und korrekte Anwendung der Syllogismen voraussetzte. Wer wissenschaftlich argumentieren wollte, mußte mit der Begriffsbildung, den Definitionen und den Regeln des logischen Schlußverfahrens vertraut sein, um beurteilen zu können, ob aus den angegebenen Prämissen auch die Schlußsätze korrekt gefolgert werden konnten. Die Logik, welche im 18. Jahrhundert nicht nur die aus korrekten Schlußfolgerungen gewonnene Gewißheit, sondern auch die Thematik des Wahrscheinlichen in

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31

August Hermann Niemeyer, Leben, Charakter und Verdienste Johann August Halle/Berlin 1809, S. 216. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 186.

Nösselts.

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eigenen Theorien zu behandeln begann, galt daher als ein unerläßlicher Bestandteil der akademischen Ausbildung.38 Das Metaphysikstudium, für das sich in Halle schon Siegmund Jacob Baumgarten eingesetzt hatte, galt Bereichen, die mit der Theologie eng verbunden waren. Es umfaßte bei Christian Wolff und den Wolffianern nicht nur Ontologie, Kosmologie und Anthropologie in Form der Seelenlehre, sondern auch das Gebiet der natürlichen Theologie. Nach dem Tode Christian Wolffs (1754) wurde diese Disziplin in Halle durch den Philosophen Georg Friedrich Meier vertreten, dessen deutschsprachige Metaphysik 1755 in Halle erschienen war und genau ein Jahrzehnt später eine zweite Auflage erlebte. Von einer allgemeinen Geringschätzung der Metaphysik und ihrem Ansehensverlust als wissenschaftlicher Disziplin konnte um die Mitte des 18. Jahrhunderts an den Universitäten des Deutschen Reiches noch nicht gesprochen werden. Für das Metaphysikstudium war auch der mit Semler befreundete Erlanger Christian Ernst von Windheim eingetreten, indem er 1763 einen entsprechenden Hinweis aus Meiers Metaphysik in die vielgelesene Studienanweisung seines verstorbenen Schwiegervaters Johann Lorenz von Mosheim einfügte. Auf diese Weise sollte offenbar die Kurze Anweisung, die Gottesgelahrtheit vernünftig zu erlernen9 aktualisiert werden. Von einer tiefgreifenden Krise des Wissenschaftscharakters der Metaphysik, die zwei Jahrzehnte später durch Kants Kritik offenkundig wurde, war während der 50er und 60er Jahre kaum etwas zu spüren. Metaphysik galt damals als eine wissenschaftlich anerkannte philosophische Disziplin. Die Empfehlung zur Aneignung profaner Wissenschaften galt der Philosophie, die im damaligen Sprachgebrauch oft „Weltweisheit" genannt wurde, sowie den Bereichen der Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaft. Zur Begründung wurde dabei auch auf das Vorbild der Reformatoren verwiesen, bei denen „ein gesunder Gebrauch der damaligen Philosophie" heiTschte.40 Im Unterschied zur pietistischen Haltung zeigt sich hier bei Semler eine keineswegs unkritische, im ganzen aber überwiegend positive Einschätzung der philosophischen Entwicklung, die sich von Descartes bis hin zu Christian Wolff vollzogen hat. In dieser Haltung gegenüber der zeitgenössischen Philosophie folgt er seinem Lehrer Baumgarten. Die Philosophie gilt ihm weder als Torheit noch als Glaubensgefährdung, sondern eher als eine Bereicherung für die Theologie und jede Art wissenschaftlicher Gelehrsamkeit. Die in Halle lange Zeit heftig umstrittene Wolffsche Philosophie wird von

38

Zur Bedeutung der Logik für die wissenschaftliche Theologie vgl. Semler, ebd., S. 167f., 186ff. u. 195.

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Vgl. Johann Lorenz Mosheim, Kurze Anweisung die Gottesgelahrtheit vernünftig zu erlernen, neu hg. u. eingel. v. Dirk Fleischer. Waltrop 1990 [Reprint der Ausg. Helmstädt 2 1763], S. 58. Semler, Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 186.

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Semler gelobt, weil sie „in ganz Europa eine unendliche Reihe von Gott ehrenden Folgen veranlasset hat".41 Schwieriger, als für Logik und Metaphysik einzutreten, war es offensichtlich, die Relevanz und Unentbehrlichkeit eines Mathematikstudiums und Physikstudiums für die Theologie zu begründen. Denn Theologie und Mathematik sowie Theologie und Physik schienen doch von ihren Gegenstandsbereichen her recht unterschiedliche Disziplinen zu sein. Wer jedoch wie Semler der Physik und den Naturwissenschaften eine entscheidende Bedeutung für das rechte Naturverständnis beimaß und durch das Lesen im ,Buch der Natur' Gottes Schöpfung verstehen wollte, mußte auch die Kenntnis mathematischer Methoden und Begriffsbildungen für wünschenswert erachten. Bei Christian Wolff und im Wolffianismus wurde die Mathematik als methodisches Vorbild aller anderen Wissenschaften betrachtet, und dieses hohe Ansehen hat Semler offenbar veranlaßt, ihr auch im Rahmen der akademischen Theologenausbildung einen Platz einzuräumen. Was Semler aus einer Verbindung der Mathematik mit Naturwissenschaften wie Astronomie und Physik erwartete, hat er in seiner Dogmatik formuliert: „bessere Naturerkenntnisse [...] als die biblischen Beschreibungen und mosaische Schöpfungsberichte uns bieten".42 Wenn von den Theologiestudenten schließlich auch die Kenntnis des „Naturrechts" gefordert wurde, so war damit ein weltliches Naturrecht gemeint, das durch vernünftiges Nachdenken auffindbar war und dem eine grundlegende Bedeutung für die Staatstheorie, Gesetzgebung und das menschliche Zusammenleben zugeschrieben wurde. Aus dem Naturrecht konnten für jedermann verbindliche Pflichten abgeleitet werden. Es bot Maßstäbe für die sittliche Entscheidung und Verhaltensweise der Individuen. Aus diesem Grunde mußte es auch von der Moraltheologie berücksichtigt und gewürdigt werden. Dabei ging es um den Nachweis, daß jeder Mensch - und zwar ganz unabhängig von seiner religiösen oder konfessionellen Glaubensüberzeugung - immer schon ein zu sittlichem Verhalten verpflichteter Mensch ist. Semler hat die damals vorherrschende Naturrechtsauffassung vorausgesetzt, diese aber nicht näher begründet und entfaltet. Seine Erwähnung des Naturrechts beschränkt sich auf wenige Sätze. Vermutlich war er mit Melanchthon der Auffassung, daß das Naturrecht letztlich im ius divinum wurzele.43 Daß der Naturrechtsgedanke in der philosophischen und theologischen Lehrtradition Halles fest verankert war, kann man sowohl bei Christian Wolff als auch bei Siegmund Jacob Baumgarten studieren.44 Baumgarten hatte „die Übereinstim41 42 43

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Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Zweite Samlung. Halle 1762, S. 230. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 312. Zur Forderung der Berücksichtigung des „Naturrechts" vgl. neben Semlers Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 166 u. 192 („das natürliche Recht") auch Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 375 u. 377. Vgl. hierzu Hans-Martin Bachmann, Zur Wölfischen Naturrechtslehre, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679-1754. Hamburg 1983, S. 161-170.

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mung" hervorgehoben, die „zwischen der geoffenbarten christlichen Moral und dem Natuirecht oder der natürlichen Bestimmung unseres rechtmäßigen Verhaltens" besteht, zugleich aber geltend gemacht, daß in bezug auf Inhalt und Beweggründe für das rechtmäßige Verhalten die theologische Moral über die philosophisch begründbare Moral hinausgehe und einen „Vorzug" vor ihr verdiene.45 Von erheblicher Bedeutung für Semlers Programm einer Neugestaltung des Theologiestudiums sind seine Empfehlungen zur Intensivierung und Ausweitung der historischen Studien gewesen. Semler hatte nicht nur einen scharfen Blick für das Veränderliche und historisch Bedingte besessen, sondern auch zur historischen Kritik aufgefordert, wo immer der Verdacht bestand, daß es in der Theologie und Kirche zu Legendenbildungen und Behauptungen gekommen ist, welche den tatsächlichen Verlauf des Geschehens verfälscht haben. Erst durch gründliche Quellenstudien erlangt man historische Gewißheit. Mit Hilfe solcher Studien soll die Kirchengeschichte genauer erfaßt werden, als dies mit der bisher üblichen Orientierung an völlig unzureichenden und teilweise fehlerhaften Kompendien möglich gewesen ist.46 Semler hat die Kirchengeschichte als eine theologische Disziplin betrachtet, die aufs engste mit der Reichsgeschichte und allgemeinen Weltgeschichte verbunden ist. Aber er hat auch bestimmte historiographische Grundsätze aufgestellt und zur Beobachtung empfohlen. Dazu gehört die Differenz zwischen der Faktizität von historischen Ereignissen und deren Deutung in den Geschichtsdarstellungen der Historiker. Mögen Deutungen aus der Perspektive des Historikers auch unvermeidlich sein, so besitzen sie doch nicht den gleichen Grad an wissenschaftlicher Verbindlichkeit, die der Rekonstruktion eines Ereignisverlaufs aus zuverlässigen Quellen zukommt. Infolgedessen muß man „das, was eigentlich historisch ist, wirklich auf tauglichen Zeugnissen beruhet, unterscheiden lernen, von Mutmaßungen, Erläuterungen und Meinungen".47 Sofern die Erforschung der Kirchengeschichte von der Wahrheitsliebe bestimmt ist, dient sie auch der Vorurteilskritik und der Überwindung noch bestehender Irrtümer. Daher lautet die Anweisung, daß man in der Darstellung der allgemeinen Geschichte wie auch in der Kirchengeschichte „nie Vorurteile weiter verbreite, sondern eine gründliche Einsicht befördere".48 Das Hauptgewicht des Theologiestudiums soll nach Semlers Urteil weiterhin auf der Schriftauslegung und Hermeneutik liegen, weil die Schriftauslegung ganz unmittelbar zur größeren Zuverlässigkeit in der Dogmatik und Ethik („theologischen Moral") beiträgt. 45

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Siegmund Jacob Baumgarten, Ausßhrlicher Vortrag der Theologischen Moral. Halle 1767, S. 22. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 215. Ebd., S. 191. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 124.

Der hermeneutische Grundsatz, der bei jeder Texterklärung zu beachten ist, zielt auf die Erfassung der intentio auctoris und soll durch eine historische Auslegung des Wortverstandes der Bibeltexte erreicht werden: Die heiligen Schriftsteller müssen allein Herren und Meister davon sein, was sie wirklich gemeint haben. Es gilt eben dieses von der hebräischen Bibel; insbesondere von den Psalmen, deren eigentlicher buchstäblicher Verstand noch viele Aufklärungen erhalten muß und wird, so auch von den Propheten.49

Bei allen vorgeschlagenen Veränderungen und Ausweitungen des Studiums sowie den Empfehlungen zur Berücksichtigung neuer Methoden und Erkenntnisse darf also nicht übersehen werden, daß für Semler die evangelische Theologie in ihrem entscheidenden Anliegen Schriftauslegung und Schrifttheologie bleibt. Die tradierten Glaubenslehren sind nur dann und nur soweit anerkennenswert und verbindlich, wenn sich bei der Überprüfung der angeführten Beweisstellen ihre inhaltliche Übereinstimmung mit dem Schriftzeugnis erweisen läßt. Den Grundsätzen und Regeln, die für eine sachgemäße Schriftauslegung zu gelten haben, kommt daher ein besonderes Gewicht zu. Auf die Bedeutung der Hermeneutik hat Semler seine Studenten eindringlich hingewiesen, ihr nicht nur eine umfangreiche Monographie gewidmet, sondern eine Schlüsselstellung im Ganzen der evangelischen Theologie zuerkannt: „Die Hermeneutik ist eine der allerwichtigsten und unentbehrlichsten Wissenschaften. Sie muß den ganzen Grund gewähren, worauf alle übrigen theologischen Beschäftigungen beruhen".50 Auf dem Felde der Hermeneutik wird sogleich die aktuelle Frontstellung sichtbar, in der Semler sich mit seiner als maßgeblich angesehenen Orientierung an dem Wortsinn (sensus litteralis) der Heiligen Schrift und einer ihr entsprechenden historischen Schriftauslegung gegenüber der im Halleschen Pietismus damals dominierenden „erbaulichen" Schriftauslegung befindet. Gilt die Feststellung des Wortsinnes als unabdingbare Voraussetzung jeder korrekten Auslegung, dann ist ein Verfahren abzulehnen, das auf eine subjektive Uminterpretation der Texte nach dem Geschmack oder den religiösen Interessen des jeweiligen Interpreten hinausläuft. Von erheblichem Umfang sind die historischen Studien, zu denen Semlers Reformprogramm aufgerufen hat. Sie gingen weit über das hinaus, was im Rahmen der Theologenausbildung bis dahin üblich war. Denn sie galten nicht nur einer mit Reichs- und Weltgeschichte verbundenen Kirchengeschichte, sondern ebenso der Wissenschaftsgeschichte („Geschichte der Gelehrsamkeit"), zu der als Teilbereiche Philosophie- und Theologiegeschichte gerechnet wurden.51 In einer Differenzierung des Bereichs der Theologiegeschichte, für die Semler in seinen umfangreichen historischen Einleitungen zu Baumgartens dogmatischen Werken wichtige Beiträge 49 50

51

Ebd., S. 205f. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 126. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 201.

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geschrieben hat, wird auch von der „Geschichte des Lehrbegriffs" gesprochen, womit die für die Dogmatik relevanten Entwicklungen und Veränderungen vor allem in den lutherischen und reformierten Lehrtraditionen gemeint waren.52 Gemäß dem Primat der Bibelexegese hat Semler erkannt, daß auch eine Beschäftigung mit der Geschichte der Schriftauslegung und Hermeneutik wünschenswert ist.53 Man wird allerdings sagen müssen, daß es um die Mitte des 18. Jahrhunderts kaum nennenswerte Vorarbeiten zu einer solchen Geschichte, geschweige denn wissenschaftliche Darstellungen derselben gab. Zur Ergänzung und Vervollständigung dieser alle theologischen Disziplinen betreffenden Reformvorschläge forderte Semler schließlich „eine genauere und ausgebreitete Bücherkenntnis".54 Gedacht war dabei an ältere und neuere, in- und ausländische Literatur von wissenschaftlichem Rang, wie sie in den von Siegmund Jacob Baumgarten herausgegebenen Bänden der Nachrichten von einer hallischen Bibliothek (1749-1750) und der Nachrichten von merkwürdigen Büchern (17521758) angezeigt und rezensiert worden war. Als Vorläufer der theologischen Enzyklopädie ist die geforderte „Bücherkenntnis" durch Semler auch in Form von kursorischen Vorlesungen behandelt worden. Semlers Reformvorschläge haben in der zeitgenössischen Theologie ein unterschiedliches Echo gefunden. Während sie an den lutherischen Universitäten von Erlangen, Leipzig, Rostock und Göttingen weithin zustimmend aufgenommen wurden,55 stießen sie bei den Hallenser Pietisten auf Ablehnung. Hier befürchtete man einen Bruch mit dem pietistischen Theologieverständnis und sah die Gefahr, daß die von Semler vorgeschlagenen Reformen für eine stärker wissenschaftlich orientierte Ausbildung mit ihren zahlreichen neuen Anforderungen zu einer erheblichen Beeinträchtigung jener Frömmigkeitspflege führen könnte, die bisher als ein wichtiger Bestandteil des Hallenser Theologiestudiums gegolten hatte. Diese Befürchtungen waren keineswegs unbegründet. Im Kreise der Hallenser Pietisten hegte man sogar den Verdacht, Semlers Werk sei einem in Halle bekannten Buch „ähnlichen Inhalts ausdrücklich entgegengesetzt".56 Semler bestritt zwar, eine solche „Widerlegung" beabsichtigt zu haben, aber wenn man seine Reformvorschläge mit den entsprechenden Auffassungen August Hermann Franckes vergleicht, stößt man auf erhebliche Sachdifferenzen, ι f r a g e , welches das Buch „ähnlichen Inhalts" war, gegen das sich nach pietistischer Auffassung Semlers Reformvorschläge richteten, läßt sich klären. Es war offensichtlich Franckes 1712 erstmals erschienene Programmschrift Idea studiosi theologiae, die aus dessen 52 53 54 55

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Vgl. ebd., S. 116 u. 217. Ebd., S. 217. Zur Begründung dieser Forderung vgl. ebd., S. 1 1 7 , 1 9 2 u. 221f. Vgl. hierzu die bei Semler abgedruckten Rezensionen im Ersten Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgeiersamkeit. Halle 1758, S. 139-158. Ebd., S. 5.

paränetischen Vorlesungen erwachsen war.57 Diese Schrift Franckes war in mehreren Auflagen erschienen und wurde 1758 unmittelbar nach dem Erscheinen der Semlerschen Vorschläge für die Reform des Theologiestudiums von den Hallenser Pietisten in einer 5. Auflage erneut herausgegeben. Die Sachdifferenzen zwischen Semler und Francke betrafen nicht die Vordringlichkeit eines gründlichen Bibelstudiums und das Erlernen der biblischen Sprachen, auch nicht die Beschäftigung mit den Symbolischen Büchern der Lutherischen Kirche, zweifellos aber betrafen sie Semlers Forderung nach einer stärkeren Orientierung an den Ergebnissen und Methoden profaner Wissenschaften sowie den erheblichen Umfang der geforderten historischen Studien und Kenntnisse. Ein „Quentlein des lebendigen Glaubens" war nach Francke höher einzuschätzen als ein „Centner des blossen historischen Wissens".58 Mit der Öffnung des Theologiestudiums für allgemeine wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen und der Einbeziehung der Bereiche von Logik, Mathematik, Metaphysik, Philosophie, Physik und Naturrecht in das Theologiestudium hatte Semler etwas empfohlen, wovor Francke nachdrücklich gewarnt hatte. Insofern brachten Semlers Vorschläge für eine Neugestaltung des Theologiestudiums nicht nur quantitative Veränderungen, sondern widersprachen der in Halle lange Zeit dominierenden Ausrichtung des Studiums auf individuelle Glaubensstärkung und Frömmigkeitspflege. Letzteres mußte nun zwangsläufig schon aus Gründen der Zeitdisposition in den Hintergrund treten. Eine Realisierung der Semlerschen Reformvorschläge war freilich nur unter der Bedingung denkbar, daß die Professoren mit einem veränderten Vorlesungsangebot die inhaltliche und methodische Wissensvermittlung bewerkstelligen konnten. Den Schwierigkeiten einer solchen Neuorientierung verweigerten sich aber die pietistisch geprägten Fakultätskollegen. Es gab also mehrere Gründe, weshalb Semlers Reformvorschläge in Halle auf Widerstand stießen. Auch hinsichtlich der besonderen Qualifikation und Befähigung, die für das Amt des Theologieprofessors als erforderlich angesehen wurde, hatte Semler der pietistischen Auffassung widersprochen. Denn die möglichst umfassende wissenschaftliche Gelehrsamkeit und nicht etwa die Art der persönlichen Frömmigkeit sollte nun das entscheidende Kriterium für die Eignung zum Beruf des akademischen Lehrers sein. Dieser Qualifikationsnachweis, der nach Semlers Auffassung bei der Wiederbesetzung vakanter Professuren und den entsprechenden Vorschlägen der Fakultät an das Ministerium zu beachten war, ergab sich als Konsequenz aus seinen Reformforderungen. Nur wenn solche Eignung des zu berufenden akademischen Lehrers vorlag, bestand eine Chance, die für das Theologiestudium geplanten Reformen zu verwirklichen. In kaum zu überbietender Schroffheit 57

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Friedrich de Boor, Α. Η. Franckes paränetische Vorlesungen und seine Schriften zur Methode des theologischen Studiums, in: ZRGG 20. Köln 1968, S. 300ff. August Hermann Francke, Werke in Auswahl, hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, § 27, S. 183.

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und Schärfe hat Semler in dieser Frage seinen Standpunkt formuliert, weil er den in Halle noch immer einflußreichen pietistischen Auffassungen wirkungsvoll entgegentreten wollte: Ich kann nichts dafür, daß ich so gerade herausgehen muß: diese Lehre von Unentbehrlichkeit der Frömmigkeit zum fruchtbaren Dienst des Lehrers ist ein giftiges Unkraut in dem Acker Gottes oder in der Kirche. Dafür habe ichs auch stets gehalten.

Nach einer vieijährigen Erprobungsphase hat Semler 1761 sein Reformprogramm als „brauchbar" bezeichnet und wie schon zuvor von dem „großen Beifall" und der Zustimmung von Professoren anderer lutherischer Universitäten gesprochen.60 Doch der Widerstand bei der Mehrheit der pietistisch eingestellten Fakultätskollegen war zu diesem Zeitpunkt sicherlich noch nicht endgültig gebrochen, auch wenn man die öffentliche Auseinandersetzung scheute. Semler erklärt, daß er „keinen öffendichen Gegner" seiner Reformvorschläge einschließlich der in den beiden , Anhängen" geäußerten Auffassungen gefunden habe.61 Daß in Halle der Widerstand derer andauerte, die meinten, das von August Hermann Francke geprägte Theologieverständnis und die traditionellen Formen pietistischer Theologenausbildung verteidigen und daher Semlers Reformprogramm ablehnen zu müssen, wird man aus mehreren Gründen anzunehmen haben. Denn der starke Einfluß der Hallenser Pietisten war noch immer spürbar, und personelle Veränderungen in der Zusammensetzung der Theologischen Fakultät traten erst nach dem Tode von Christian Benedikt Michaelis (1764) und Gotthilf August Francke (1769) durch die von Semler befürwortete Berufung von Johann Friedrich Gruner und Johann August Nösselt ein. Erst ab Mitte der 60er Jahre besaß Semler auch in der Fakultät eine ihn unterstützende Mehrheit. Altprotestantisch-orthodoxe und pietistische Kritiker unter zeitgenössischen Theologieprofessoren außerhalb Halles blieben freilich auf dem Plan und haben Semler in späteren Jahren vor allem wegen seiner Schriftlehre und Textkritik, seiner Untersuchung zum Kanonverständnis und seiner moderaten Umgestaltung der Dogmatik angegriffen und in Auseinandersetzungen verwickelt. Für die Berechtigung einer forschenden und Quellenstudien treibenden historisch-kritischen Theologie, die sich vor allem an den Methoden und Erkenntnissen der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft orientiert und von dort Anregungen aufnimmt, ist Semler auch in der Folgezeit eingetreten.

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Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 102. Vgl. auch Semler, Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 179: „[...] daß mein Versuch nicht allein von dem seligen D. Baumgarten, sondern von den berühmtesten Gelehrten auf lutherischen Universitäten großen Beifall gefunden hat". Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 23f.

7. Bewahrung und Weiterbildung der lutherischen Lehrtradition Es würde freilich ein einseitiges und schiefes Bild des Semlerschen Reformprogramms von 1757 entstehen, wenn der deutlich artikulierte Wille zur Traditionsbewahrung und die entsprechenden Maßnahmen zur Gestaltung der akademischen Ausbildung unerwähnt blieben. Denn gleichzeitig mit den vorgeschlagenen Reformen hat Semler seine Absicht bekundet, die von Baumgarten vertretene und für Halle maßgebende theologische Lehrtradition zu bewahren, wenn nötig zu verteidigen und im eigenen akademischen Unterricht weiterzuführen. Diese Erklärung bezog sich allerdings nicht auf die spezifischen Auffassungen des Hallenser Pietismus und die pietistische Theologie, sondern auf die in Gottes Wort gegründete Lehre der Lutherischen Kirche. Semler besaß seit seiner Studienzeit als Mitarbeiter an dem 1747 von Baumgarten herausgegebenen Concordienbuch eine gründliche Vertrautheit mit der Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften und suchte diese Kenntnis schon in den Anfangsjahren seiner Lehrtätigkeit in Halle durch ein Studium der Werke Luthers und Melanchthons zu erweitern. Davon zeugen die häufigen Bezugnahmen auf Luthers Werke und der Auszug aus den Briefen Melanchthons in dem 1758 veröffentlichten Ersten Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Er weiß sich dem Erbe der lutherischen Reformation verpflichtet und erklärt öffentlich, er wolle „der alten wahren Lehre unserer Kirche, die in Gottes Wort gegründet ist, die jetzt nötige Unterstützung" geben.62 Für den Bereich der Dogmatik empfiehlt Semler das Studium der Confessio Augustana, weil ihr Inhalt „das Vornehmste der Dogmatik [...] nach bloßer Erweislichkeit aus heiliger Schrift" enthält und weil sie mehreren Lehrbüchern der Lutherischen Kirche zugrundeliegt.63 Eine Reduktion im materialen Gehalt der Kirchenlehre ist nicht beabsichtigt. Vielmehr soll, wie Semler ausdrücklich hervorhebt, „die ganze Lehre der [lutherischen] Kirche" behauptet und verteidigt werden, für welche das Prädikat der „wahren Lehre" in Anspruch genommen wird.64 Den preußischen Landeskindern wie den nach Halle gereisten auswärtigen Studenten verspricht Semler, „die erweisliche[n] echte[n] lutherischefn] Lehren vorzutragen".65 Gewiß sollte diese Erklärung keine Rückkehr zur Theologie der lutherischen Orthodoxie ankündigen, wohl aber war die Orientierung an den Grundgedanken Luthers und Melanchthons beabsichtigt, d.h. die Weiterführung des schon von Baumgarten vertretenen gelehrten Luthertums, das bei Sender ein melanchthonisches Gepräge aufweist. 62

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Semler, S. 171. Semler, Semler, S. 100. Semler, S. 68.

Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit.

Halle 1758,

Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 162. Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit.

Halle 1758,

Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit.

Halle 1758,

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Daß die Beschäftigung mit den Quellen und Grundgedanken der lutherischen Reformation für Semler ein in der theologischen Überzeugung begründetes und nachdrücklich vertretenes Anliegen war, erhellt auch aus den Veränderungen, die er unmittelbar nach seiner Ernennung zum Direktor des Theologischen Seminars (1757) durch seine Anweisungen für den Studienbetrieb bewirkt hat. Das „Theologische Seminar" war damals eine besondere Institution, die keineswegs allen der circa fünfhundert Hallenser Theologiestudenten offen stand, sondern nur eine kleine Zahl von maximal 20 besonders ausgewählten begabten und tüchtigen Studenten aufnahm. Die Auswahl erfolgte durch den Direktor, der auch über die Art der Studien und Prüfungen zu entscheiden hatte. Ihm standen ein Inspektor und vier Senioren bei der intensiven Ausbildung der Seminaristen zur Seite, die regelmäßig schriftliche Arbeiten über Kritik, Hermeneutik, Kirchengeschichte und Dogmatik vorzulegen hatten. Das Ziel dieser Ausbildung und Eliteförderung war, geeignete Kandidaten für die wichtigen Predigerstellen und zur Besetzung der Rektorate der Lateinschulen heranzubilden. Statt wie bisher Erbauungsbücher und Predigtbücher vorzulesen und darüber meditieren zu lassen, was offenbar pietistischen Gepflogenheiten entsprach, verlangte Semler als neuernannter Direktor das Studium ausgewählter dogmatischer Werke der Reformationszeit. Zur Pflichtlektüre gehörte nun Melanchthons Examen ordinandorum, ein Werk, das lange Zeit als dogmatisches Prüfungsbuch für die einzustellenden Pfarrer gegolten hatte, seit 1552 in mehreren lateinischen und deutschen Fassungen erschienen war und nun für die Hallenser Seminaristen erneute Aktualität gewann. Daneben sollten sie sich auch mit Melanchthons Disputationen vertraut machen.66 Diese Anweisung, die ein bezeichnendes Licht auf den theologiegeschichtlichen Zusammenhang von lutherischer Reformation und historisch-kritischer Aufklärungstheologie wirft, läßt ein wenig bekanntes Stück der Wirkungsgeschichte von Melanchthons Theologie und Gelehrsamkeit erkennen. Mit genaueren Inhaltsangaben, die sich vor allem auf die Bereiche der Christologie, Soteriologie und Pneumatologie, aber auch auf die Gesetzeslehre, Sündenlehre und Rechtfertigungslehre bezogen, hat Semler Melanchthons Examen ordinandorum zusammen mit den verschiedenen Ausgaben der Loci auch in der Einleitung zu Baumgartens Glaubenslehre ausführlicher gewürdigt.67 Ein erneutes Melanchthonstudium hat offenbar im unmittelbaren Anschluß an die Ausarbeitung des Reformprogramms stattgefunden. Denn Semler erklärt, daß er bei der Niederschrift des dritten Kapitels noch nicht gewußt habe, daß er „auf

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Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 232: „Gleich nachher führte ich Melanchthons locos theol. examen ordinandorum und die argumenta disputationem ein, welche Pezelius in 6 Bänden herausgegeben hat." Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 2. Halle 1760, S. 148ff„ insb. S. 149, Anm. 97.

Melanchthons großen Beifall und Ansehen Rechnung machen könne".68 Auch in der Folgezeit stößt man in Semlers Werken wiederholt auf Äußerungen der Hochachtung gegenüber Luthers und Melanchthons Theologie, wobei die besonderen Verdienste der beiden Reformatoren in der lateinischen und deutschen Dogmatik durch eigene Paragraphen gewürdigt werden. Melanchthons Briefe und dogmatische Werke haben aktuelle Bedeutung und gelten als „noch jetzt lesenswert".69 Daß Semlers Melanchthonstudium über dessen Briefe, exegetische und dogmatische Werke, die Confessio Augustana und Apologie hinausgegangen ist und auch den philosophischen Werken gegolten hat, ist aus dem autobiographischen Bericht ersichtlich, der besagt, daß er Melanchthons Deklamationen und Vorreden, dessen Dialektik und Rhetorik sowie den Kommentar zu Aristoteles gelesen habe.70 Wie wir bereits dargelegt haben, wird man die Anfänge einer intensiveren Beschäftigung mit der reformatorischen Theologie auf die Studienzeit, d.h. auf die zweite Hälfte der 40er Jahre datieren müssen, als der junge Semler von seinem Lehrer Baumgarten zur Mitarbeit an der Herausgabe der Symbolischen Bücher der evangelisch-lutherischen Kirche aufgefordert wurde und genaue Textvergleiche vorgenommen hat. Das Interesse an der reformatorischen Theologie und lutherischen Lehrtradition ist auch in der Folgezeit erhalten geblieben. Als Theologieprofessor hat er später Luthers „ehrliche Vernunft und Gewissenhaftigkeit" gelobt, weil der Reformator sich „um den wahren Inhalt und die Natur der Heilsordnung" bekümmert habe.71 Ausdrücklich wird Luthers „gute dogmatische Abhandlungsart" anerkannt, weil sie die scholastischen Lehrtraditionen überwunden hat, indem sie darauf achtete, daß alle Glaubenslehren im biblischen Schriftzeugnis begründet werden müssen. Zu den exegetischen Werken, die mit viel Fleiß geschrieben wurden und „in Wert bleiben", gehört Luthers erster Galaterbriefkommentar (1519), der in der zweiten Bearbeitung (Straßburg 1523) eine Vorrede Melanchthons erhalten hat. Auf diesen Kommentar hat Semler in seiner eigenen Galaterbriefauslegung Bezug genommen.72 Als vorbildlich gelten ferner der Große und Kleine Katechismus, weil in ihnen die Hauptlehren des christlichen Glaubens in einer auch dem Laien verständlichen Art vorgetragen worden sind.73 Auf zwei Schriften Luthers hat Semler sich in seinen Werken besonders häufig berufen, so daß sie geradezu als Schlüssel zu seinem Verständnis von Luthers 68

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Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 167. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 36. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 28 u. 36. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 49 u. S. 402ff. Vgl. Semler, Beiträge zum genauem Verstände des Briefes an die Galater, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe Pauli an die Galater, Epheser, Philipper [...], hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1767, S. 887. Vgl. Semler in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 2. Halle 1760, S. 144.

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Theologie gelten können. Dies sind die in den lutherischen Bekenntnisschriften zugänglichen Schmalkaldischen Artikel (1537) und die Schrift Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg (1530). Die letztgenannte Schrift ist über ihren zeitgeschichtlichen Anlaß hinaus von Bedeutung, weil der Reformator in ihnen die „praktischen" und „rechten christlichen Artikel" (Gesetz, Evangelium, Buße, Vergebung der Sünden, christliche Freiheit usw.) aufgeführt hat.74 Melanchthon hat mit seinen erstmals 1521 erschienenen Loci communes, die später in mehreren überarbeiteten und verbesserten Auflagen erschienen sind, das erste Kompendium der evangelischen Lehre verfaßt. Mit diesen Loci communes fängt nach Semlers Urteil „unsere lutherische Theologie oder Kirchenlehre" an,75 und sie haben zu Recht die Anerkennung und hohe Wertschätzung Luthers gefunden, der sie den kanonischen Schriften gleichgeachtet wissen wollte.76 Weil Melanchthon zu einer ,,gute[n] wissenschaftliche^ Art" der Darstellung evangelischer Lehre fähig war, hat Luther ihm die Abfassung der Confessio Augustana übertragen.77 Solche Feststellungen und Werturteile bestätigen die Beobachtung, daß Semler Melanchthons Theologie in weitgehender sachlicher Übereinstimmung mit deijenigen Luthers sieht, dort, wo Differenzen auftauchen, wie etwa in der Abendmahlslehre, aber eher der Auffassung Melanchthons zuneigt. Während sich gegenüber Luther gelegentlich eine deutlich artikulierte Kritik bemerkbar macht, fällt das Urteil über Melanchthons Theologie fast immer uneingeschränkt zustimmend und positiv aus. Melanchthon gilt als ein „unsterblich verdientet" Mann, dessen Gaben „selbst Lutheri übertroffen [haben] wie Paulus Petrum, der uns allein ein Muster bleiben wird eines reinen Lebens und gehöriger Lehrgeschicklichkeit".78

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Vgl. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 72: „Im Ganzen hat also Luther die Überschrift des 3ten Theils der Schmalkaldischen Artikel sehr treffend richtig abgefasset; wozu man jene berühmte Schrift an die Geisüichkeit auf dem Reichstage 1530 nehmen muß, darin er ebenfalls die bisherigen [politischen] Kirchenartikel und die rechten christlichen oder praktischen Artikel, in denen die Privatreligion geübt wird, einander entgegen gestellt hat"; vgl. auch ebd., S. 24 u. 112; ferner ders., Ausßhrliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 197; ders., Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 206; ders., Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1774, S. 387; ders., Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, Vorrede; ders., Vorläufige Antwort auf eines Naturalisten unbillige Prüfung der vertrauten Briefe über die Religion. Halle 1786, Vorrede, S. XI; ders., Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 55. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 232; vgl. auch S. 251. Semler, Zweiter Anhang zu dem Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 36, sowie ders., Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. 97. Semler, Einleitung in die Dogmatische Gottesgelehrsamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 3. Halle 1760, S. 35, Anm. 12. Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1774, S. 518.

Auch auf dem Weg, der ihn in die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Pietismus und der Spätorthodoxie führt, sucht Semler am lutherischen Charakter der eigenen Theologie festzuhalten. Denn für die Grundfragen der Hermeneutik, Schriftauslegung und Dogmatik ist die reformatorische Theologie noch immer der maßgebliche Orientierungspunkt. Wir sollen, so erklärt Semler, „in die Fußtapfen Lutheri, Melanchthons und anderer guten griechischen Sprachkenner" wieder eintreten, denn auf diese Weise werden wir nicht nur eine größere hermeneutische Genauigkeit in der Auslegung der neutestamentlichen Schriften gewinnen, sondern auch „der Vorteil für die viel leichtere Dogmatik, Polemik und Moral wird alsdenn ausnehmend groß sein".79 Mit dieser inhaltlichen Begründung für die Orientierung an den Grundgedanken der reformatorischen Theologie und für die Beachtung ihrer Anweisungen argumentiert Semler auch in der Folgezeit.80 Besondere Wichtigkeit für die Theologenausbildung mißt Semler neben der Exegese des Neuen Testaments einer gründlichen Beschäftigung mit den lutherischen Bekenntnisschriften zu, weil sie ihrem Lehrgehalt nach zusammenfassende Schriftauslegung sind. Es entspricht dieser Überzeugung, daß Semler vom ersten Jahr seiner Ernennung zum Hallenser Theologieprofessor bis ins hohe Alter regelmäßig Vorlesungen über die Symbolischen Bücher der Lutherischen Kirche, insbesondere über die Erklärung der Confessio Augustana abgehalten81 und als Leitfaden 1775 den Apparatus ad libros symbolicos ecclesiae lutheranae publiziert hat. Wenn die Lehren der lutherischen Bekenntnisschriften hinsichtlich ihrer Schriftbegründung als korrigierbar und verbesserungsfähig angesehen werden, so zeigt sich bei Semler insgesamt doch eine konservativ-pietätvolle Haltung gegenüber dem Lehrbegriff der Lutherischen Kirche.82 Dieser Lehrbegriff gilt als erhaltungswürdig, denn er erleichtert den Zugang zur Christusbotschaft, die Semler als „Hauptsache" und „Kern" der ganzen Bibel bezeichnet hat.83 Wie ein roter Faden zieht sich vom Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit in Halle bis in die späten Werke der 80er Jahre diese Art einer Bekenntnistreue und das Bewußtsein, „ein akademischer lutherischer Lehrer auf einer lutherischen Universität" zu sein.84 79

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Erklärung des Briefes an die Hebräer. Halle 1763, S 7. Vgl. Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 125: „Immer wieder machte Semler sich zum Anwalt der lutherischen Lehre und Kirche." Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 194: „Über die augspurgische Confeßion hatte ich auch gleich im ersten Jahr zu lesen angefangen". Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Tübingen 1989, S. 13, hat zutreffend von der „wissenschaftlich-kritischen", zugleich aber auch „konservativ-pietätvollen" Haltung Semlers gegenüber den lutherischen Bekenntnisschriften gesprochen. Semler, Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 242. Magazinßr die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1781, S. 385.

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Seine Zugehörigkeit zur Lutherischen Kirche und Theologie hat Seniler in mehreren Auseinandersetzungen bekräftigt und mit der Zusicherung verbunden, bei aller Betonung der Gemeinsamkeit des wesentlichen Christusglaubens doch konfessionelle Lehrdifferenzen und Lehrgegensätze nicht zu vergleichgültigen: „Mein Lehrbegriff ist also an sich gewiß der Lehrbegriff der lutherischen und protestantischen Kirche, ich werde nie arianisch, socinianisch, papistisch etc. lehren".85 Dieses Versprechen wird abgegeben zu einem Zeitpunkt, als Semler längst eine eigenständige Position in Forschung und theologischer Lehre errungen hat. Später finden sich Äußerungen, in denen er das Recht zu einer Weiterbildung und Umbildung der lutherischen Lehrtradition für sich in Anspruch nimmt. Bezeichnend dafür ist die scharfe Auseinandersetzung mit dem Kasseler Gymnasialprofessor Johann Rudolf Anton Piderit im Jahre 1777. Gegenüber seinem Kontrahenten, der ihn in Regensburg vor dem Corpus Evangelicorum verklagt hatte, betont Semler, „daß Luther seinen Nachfolgern in Absicht der Professorengelehrsamkeit keine Vorschrift hat geben wollen". Auch bestehe keine Verpflichtung zu fragen, ob Luther die textkritischen und kanonskritischen Einsichten des 18. Jahrhunderts schon besessen habe.86 Semlers historisch-kritische Theologie steht mindestens seit Beginn der 70er Jahre in einer von ihm selbst empfundenen Spannung zwischen den beiden Polen der Traditionsbewahrung und der dynamischen Erneuerung der Theologie im Sinne ihrer Verbesserung und Weiterentwicklung. Die von Johann Melchior Goeze geäußerte Befürchtung, daß mit der beabsichtigten Erneuerung und Weiterentwicklung die bisherige lutherische Theologie ihren reformatorischen Charakter verlieren werde, teilt Semler nicht. Für ihn ist die Orientierung an reformatorischen Grundpositionen keine rückwärtsgewandte Haltung, gleichsam als sei die Reformation eine abgeschlossene Epoche von unüberbietbaren theologischen Einsichten. Eher dient sie ihm zur Überwindung altprotestantischer Lehrgesetzlichkeit und zur Freisetzung verschütteter reformatorischer Impulse. Die Weiterführung der lutherischen Lehrtradition soll weder die Freiheit im Denken und die Aufnahme neuer Erkenntnisse verhindern noch die wissenschaftliche Forschung einschränken. Seine Haltung, die Traditionsbewahrung und Erneuerung, Festigkeit in den Grundpositionen und Beweglichkeit in der Aufnahme neuer Erkenntnisse miteinander zu vereinen sucht, hat Semler 1777 in drei Thesen begründet und präzisiert und dabei zugleich die andersartige orthodox-konservative Auffassung Piderits zurückgewiesen: 1) Habe ich gelehrte Beobachtungen gemacht, welche zu Luthers Zeiten noch gar nicht gemacht werden konnten; also gab es auch hierüber keine praeceptiones Lutheri et aliorum. 85

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Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 120. Seniler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 79.

2) Sind die lutherischen Lehrer gar nicht dazu verpflichtet, Lutheri et aliorum praeceptiones zu verewigen und sich darin einzuschränken. Alle praeceptiones, wodurch Luther des Papstes Jurisdiction, jene beschwerliche Lehrart [...] umgeworfen hat, die müssen wir Lutheraner ferner behalten; alle Mittel, wodurch Luther zu dieser besseren Lehre und Lehrart sich erhoben hat, müssen wir fleißig fortsetzen, erweitern, ausbreiten. 3) Lutheri besondere, ihm als Gelehrten geläufige und eigene Meinungen, Lehren und Beweisarten prüfen wir, weil wir nicht weniger das Recht der Gelehrten auch haben als er; und da mögen wir seine Meinungen verlassen und sogar als unrichtig widerlegen.87

Zu untersuchen wäre die Frage, inwieweit die These von der beabsichtigten Weiterführung der lutherischen Lehrtradition modifiziert werden muß durch Semlers Bevorzugung der melanchthonischen Synthese von Reformation und Humanismus, deren Differenz zu Luther wir deutlicher wahrnehmen, als der Hallenser es im 18. Jahrhundert vermochte. In den Umkreis dieser Fragestellung gehört auch Semlers Beurteilung der kirchengeschichtlichen und theologischen Bedeutung des Erasmus von Rotterdam. Dem lobend erwähnten reformatorischen Zweigespann „Luther und Melanchthon" hat Semler gelegentlich noch einen dritten Namen zugeordnet, ja vorgeordnet: den des Erasmus. „Erasmus, Melanchthon und Luther haben mich gleichsam an sich gehängt",88 bekennt er in der Vonede zum zweiten Teil der Autobiographie. Doch aus der Reihenfolge der Namensnennungen kann an dieser Stelle, wie auch sonst, keine Rangfolge in der Wertschätzung gefolgert werden. Weit häufiger werden nur Luther und Melanchthon genannt und dabei die alphabetische Reihenfolge gewählt, obwohl sich Melanchthon im Urteil Semlers zweifellos einer höheren Wertschätzung erfreut. Auch wenn man berücksichtigt, daß Semler sich stets anerkennend über die bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen des Erasmus, dessen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments und dessen Kirchenkritik geäußert hat, bleibt doch die durch zahlreiche Argumente begründete Orientierung an der Theologie Melanchthons und Luthers erhalten. Der große Humanist wird wiederholt gelobt, weil er mit seinen Versuchen zur Reinigung der Theologie ein Wegbereiter der Reformation gewesen ist, der er sich dann doch nicht angeschlossen hat.89 Weil Semler eine Verpflichtung für die Erhaltung und Weiterführung der lutherischen Lehrtradition empfindet, hat er sich in Exegese und Dogmatik erst nach reiflichen Überlegungen zu Modifikationen und Neuerungen durchgerungen. Zu dieser prüfenden und bedächtigen Haltung bekennt sich Semler auf dem Höhepunkt seines Angriffs gegen das traditionelle Kanonsverständnis, gegen die Ver-

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Ebd., S. 237f. - Genauere Analysen zu Semlers Luthemachfolge und Lutherkritik finden sich in meiner Habilitationsschrift Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther. Göttingen 1961. Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, Vorrede, S. 26. Ebd., S. 180f., sowie Magazin für die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Theil 2. Halle 1780, Vorrede a5.

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balinspiraüonslehre und gegen die Tendenz zur Harmonisierung des Alten und Neuen Testaments.90 Aus der Bindung an die Grundgedanken der reformatorischen Lehre und der Überzeugung von ihrem Wahrheitsgehalt erklärt sich auch, warum Semler bei allem Willen zur erforderlichen Neugestaltung der Dogmatik den zeitgenössischen Strömungen zum Indifferentismus, Sozinianismus und Deismus nicht gefolgt ist und sich ihnen sogar entschieden widersetzt hat. Die evangelische Dogmatik soll ihr Zentrum in der Christologie und Soteriologie behalten, welches die Wirklichkeit der göttlichen Heilsordnung beschreibt. Zugleich aber soll der Hang zu Spekulationen, wie er etwa in Bengels Blutlehre oder in der Verbindung der Erlösungslehre mit einer Dämonologie zutage tritt, zurückgedrängt werden. Skeptisch zeigt sich Semler auch gegenüber der altprotestantischen Tendenz zur Ausweitung der heilsnotwendigen Glaubenslehren durch neue Theoriebildungen, denen eine zureichende Schriftbegründung fehlt. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Semlers deutlich erklärte Zustimmung zu einer Aussage Luthers, in der das soteriologische Zentrum der reformatorischen Lehre angegeben wird: Es haben mehr ernstliche Lehrer, welche übrigens selbst Christi Gottheit und die Dreieinigkeit von Herzen glaubten, es gestanden, daß der vornehmste Artikel der ganzen christlichen Lehre dieser sei, wie wir selig werden (ohne jüdisches Gesetz durch eigenen Glauben an Christum). Ich will selbst Luthers deutliches Urteil abschreiben aus den Tischreden noch dazu nach dem Lindnerischen Auszuge, Th. I, S. 467: Dies ist der vornehmste Artikel der ganzen christlichen Lehre, nämlich wie wir selig werden. Auf diesen sollen alle theologischen Disputaciones sehen und gerichtet werden; den haben alle Propheten am meisten getrieben und sich damit gebläuet. Denn wenn dieser Artikel von unserer Seelen Seligkeit mit gewissem und festem Glauben gefasset und behalten wird, so kommen und folgen die andern Artikel alle gemächlich nach als von der Dreifaltigkeit. Auch hat uns Gott keinen Artikel so öffentlich und deutlich erkläret als diesen, nämlich daß wir allein durch Christum selig werden.91

Als eine schriftgemäße und daher verpflichtende Erkenntnis betrachtet der historisch-kritische Aufklärungstheologe insbesondere den reformatorischen .Artikel von der Rechtfertigung", der in Luther und Melanchthon seine vornehmsten Verteidiger gefunden hat.92 Positionen, denen diese Rechtfertigungslehre als überflüs90

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Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, Vorrede: „Man kann mich am wenigsten einer jähen Übereilung beschuldigen; ich bin, wie es allen Anfängern zu gehen pflegt, eine Zeitlang den gemeinsten Weg gegangen, und habe, wenn ich gleich der wirklichen theologischen Gelehrsamkeit aufrichtig ergeben gewesen bin, dennoch so gewiß mich von der sogenannten Orthodoxie nicht entfernet, daß ich vielmehr sehr viel Fleiß angewendet habe, die eingeführten Beweise und gewönliche Lehrordnung zu verteidigen. Es kann also wohl nicht einem unedlen Vorsatz oder einem stolzen Entschluß beigelegt werden, wenn ich nach und nach wirklichen neuen Erkenntnissen, oder Gelegenheit zu neuen Untersuchungen, so weit Platz gebe, daß ich öffentlich es anzeige, es seie mir wahrhaftig um die Vermehrung der Gewißheit oder Deutlichkeit großer theologischer Gegenstände zu thun." Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 83f. - Das Lutherzitat ist im Wortlaut korrekt wiedergegeben und findet sich in WATR 6, Nr. 6732, S. 155. Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Bd. 3. Halle 1778, S. 295.

sig erscheint und die sie preisgeben wollen, vermag sich Semler nicht anzuschließen, ja er kritisiert in scharfen Worten solche sozinianischen und naturalistischen Tendenzen: Wenn also jemand verlangte, es gehöre ein für allemal zum neuesten Vorzug der Dogmatik, über den und jenen Satz, Begriff des Ν. T. geradehin so wegzuschleichen, daß er nicht mehr zum Vorschein kommt oder ihn bedächtig auszulöschen, auszurotten [...], sei es aus Absicht, den Socinianem oder den Naturalisten öffentlich näher zu kommen, nichts mehr von Gottheit Christi, des heiligen Geistes, nichts mehr von Versöhnung, von Rechtfertigung nach dem lutherischen öffentlichen Lehrbegriff zu erklären und zu beschreiben: so würde ich dies nach aller meiner Einsicht für Untreue eines christlichen Lehrers halten müssen.93

Daß mit der Bejahung der reformatorischen Lehrtradition und der Absicht, sie in Verbindung mit den neugewonnenen historisch-kritischen Erkenntnissen im akademischen Lehrbetrieb und in der Theologenausbildung weiterzuführen, mehr als nur ein formales Luthertum gemeint ist, dürfte aufgrund der bisherigen Analyse der Aussagen Semlers deudich geworden sein. Ein nur formales Luthertum wäre die Beschränkung auf die Befugnis zur religiösen Selbständigkeit des Individuums ohne Bindung desselben an das im Neuen Testament bezeugte Heilsgeschehen. Bezeichnend und aufschlußreich für die inhaltliche Orientierung ist dagegen die Zentralstellung der Christologie und Soteriologie und damit die Betonung der Erkenntnis, daß die Heilsvermittlung „allein durch Christum" erfolgt. Nach Luthers Äußerung in den Tischreden ist diese Erkenntnis „der vornehmste Artikel der ganzen chrisüichen Lehre", dem alle anderen Artikel einschließlich der Trinitätslehre nachgeordnet werden müssen. Denn Gott hat uns „keinen Artikel so öffentlich und deudich erkläret als diesen, nämlich, daß wir allein durch Christum selig werden". Semler, der diesen Passus der Tischreden in voller Länge korrekt zitiert, bekennt sich in seinem Kommentar zu Luthers Auffassung: „[...] ich sehe die Sache ihrer Genesis nach oder wie ein Mensch zur heilsamen Erkenntnis Christi und eigener Wohlfahrt kommt, ebenso an wie Luther".94 Semler verbindet allerdings seine Zustimmung zu Luthers These im folgenden mit der eigenen Auffassung, daß die mit dem Glauben gewonnene Seligkeit der Christen unabhängig davon sei, ob zugleich auch eine volle Übernahme des kirchlichen Sprachgebrauchs und der theologischen Terminologie vollzogen werde. Da Luther am Homousios der Trinitätslehre Kritik geübt hatte, ohne die Trinitätslehre zu leugnen, konnte sich Semler auch in dieser Hinsicht in weitgehender Übereinstimmung mit Luther wissen. Die Verankerung des Rechtfertigungsgeschehens in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi läßt eine Nähe zu Luthers Evangeliumsverständnis erkennen, auf die Semler selbst großen Wert gelegt und die er ausdrücklich bestätigt hat, indem er

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Semler, Zusätze zu Herrn 0. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 52. Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 83.

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Luthers Erklärung in den Schmalkaldischen Artikeln als „ganz vortrefflich" herausstellt, kommentiert und seinen Zeitgenossen zur Beachtung empfiehlt: Luther hat in den Schmalkaldischen Artikeln ganz vortrefflich geschrieben (patre 3. artic. 4 de Evangelio): Das Evangelium (dies ist doch der christliche Inhalt und Umfang der neuen geistlichen Lehre) gibt nicht einerleiweise Rat und Hilfe wider die Sünde; denn Gott ist iiberschwenglich in seiner Gnade (behalten sie ja diesen Grundsatz vor Augen!). Erstlich durchs mündliche Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sünde, welches ist das eigentliche Amt des Evangelii etc. Hier ist beides vortrefflich, praktisch wahr, beschrieben; Gott ist überschwänglich in seiner Gnade.95

Als Ergebnis unserer Analyse, für die noch weitere Quellenbelege angeführt werden könnten, läßt sich also feststellen, daß Semler nicht nur Absichtserklärungen bezüglich der Bewahrung und Weiterführung der lutherischen Lehrtradition abgegeben, sondern entscheidende Grundgedanken dieser Lehrtradition in der akademischen Theologenausbildung und in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit andersartigen Positionen auch tatsächlich zur Geltung gebracht und so das lutherische Erbe als Bestandteil einer historisch-kritisch arbeitenden Theologie weitergegeben hat. Eine Bestätigung erfährt unser Analyseergebnis durch die Ausführung von Christian Gottfried Schütz, der 1792 als Herausgeber der letzten im Manuskript vorliegenden Schrift Semlers von seinem verstorbenen Freund als von einem Jutherischen Theologen" gesprochen hat, der bei aller eigenständigen Forschung doch seinen Grundsätzen und Prinzipien treu geblieben ist. Semler war „unleugbar der erste lutherische Theologe unseres Jahrhunderts, welcher von der langen Anhänglichkeit an ein festes dogmatisches System abzugehen wagte und der freien Untersuchung des Lehrbegriffs eine neue Bahn eröffnete". 96

8. Das Verhältnis zur Theologie Baumgartens Daß Siegmund Jacob Baumgarten einen tiefgreifenden Einfluß auf Semler ausgeübt hat, ist unbestritten. Schwieriger ist festzustellen, wieweit sich dieser Einfluß in Grundsätzen erstreckt und von welchem Zeitpunkt an davon gesprochen werden kann, daß Semler gegenüber seinem einstigen Lehrer, Freund und Fakultätskollegen eine eigenständige wissenschaftliche und theologische Position eingenommen hat. Ganz offensichtlich hat es in Semlers Entwicklung zunächst eine relativ konservative Phase gegeben. Sie ist während der ersten Jahre der Lehrtätigkeit in Halle deutlich spürbar und besteht in einer weitgehenden sachlichen Übereinstimmung mit den exegetischen und dogmatischen Auffassungen Baumgartens. Lediglich in Fragen der neutestamentlichen Textkritik und in Einzelheiten der Quelleninterpre95

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Ebd., S. 184. - Das von Semler aus den Schmalkaldischen Artikeln entnommene Lutherzitat findet sich in BSLK, S. 449. Vgl. Christian Gottfried Schütz' Vorrede zu: Semler, Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. IV.

tation zeigten sich damals offen ausgesprochene Differenzen.97 Noch im Reformprogramm der Jahre 1757/58 wird die Vorbildlichkeit der Bibelexegese und Dogmatik Baumgartens betont und den Hallenser Studenten zum fleißigen Studium und zur Nachahmung empfohlen.98 Erst mit größerer wissenschaftlicher Selbständigkeit und als Folge der eigenen historisch-kritischen Forschungen lockert sich diese frühe Bindung. Vielleicht kann man sagen, daß diese relativ konservative Phase Semlers etwa mit dem Tode Baumgartens endet. Doch wäre es falsch anzunehmen, zu diesem Zeitpunkt habe ein Bruch in Semlers wissenschaftlicher Entwicklung oder eine radikale Neuorientierung stattgefunden. Davon kann keine Rede sein. Den für die Theologie relevanten historischen Fragestellungen war Semler schon zu Baumgartens Lebzeiten nachgegangen, und eine stärkere Berücksichtigung derselben war von diesem ausdrücklich gutgeheißen worden. Das ausgeprägte Interesse für die geschichtlichen Veränderungen, die in Exegese, Hermeneutik und Dogmatik stattgefunden haben, führt bei Semler zu einer Historisierung der gesamten Theologie. Damit ist auch die entscheidende Differenz bezeichnet, durch die sich seine Argumentation und wissenschaftliche Verfahrensweise zunehmend deutlicher von deijenigen Baumgartens unterscheidet. Zutreffend hat Hans-Eberhard Heß auf diese Differenz hingewiesen: Die historische Erkenntnis, die zwar von Baumgarten als notwendige Voraussetzung der vernünftigen Erkenntnis anerkannt worden war, erfährt bei Semler nicht nur eine spürbare Aufwertung, sondern tritt in Konkurrenz zur demonstrierenden, scientifischen Theologie Baumgartens [...] Während Baumgarten vor allem der Fertigkeit des regelmäßigen, ordentlichen und scharfsinnigen Nachdenkens einen deutlichen Vorzug vor anderen Hilfsmitteln für die Wissenschaft von der Theologie beimißt, konzentriert Semler sein Interesse auf die Kenntnis der Historie, die bei ihm eine universale Bedeutung für alle Gebiete der Theologie bekommt."

Die Modifikationen und Korrekturen an der Position Baumgartens vollzog Semler, der sich durch die Herausgabe des wissenschaftlichen Baumgarten-Nachlasses so verdient gemacht hat, in einem gleitenden Prozeß, ohne daß irgendwann ein zeitlich markierbarer Einschnitt erkennbar wäre. Mit der Ausbildung der eigenen historisch-kritischen Theologie löst er sich aus den früheren Bindungen und Sichtweisen. Spätestens gegen Mitte der 60er Jahre war dieser Prozeß so weit vorangeschritten, daß Semler sich deutlich des Unterschieds zu seinen früheren Positionen und Stellungnahmen bewußt war. Er begründet seine Überzeugung, daß die bloße 97

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Vgl. Semler, Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 27: „Ich hatte das Herz, in allergeziemenden Ehrerbietung, in kritischen Kleinigkeiten ganz anders bisweilen zu urteilen als er selbst [Baumgarten] tat." Vgl. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 206: „Es ist wohl niemand in Abrede, daß die Auslegungen unseres höchstverdienten Herrn D. Baumgarten ein Muster einer eigentlich gründlichen und genauen, erweislichen Erklärung und Nutzung der biblischen Bücher bisher enthalten, welche also sehr fleißig zu brauchen und möglichst nachzuahmen sind." Zur Vorbildlichkeit der Glaubenslehre Baumgartens vgl. ders., Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 116. Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 74f.

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Wiederholung der in den maßgebenden Lehrbüchern vertretenen Auffassungen nicht die primäre Aufgabe des akademischen Unterrichts und der Vorlesungen sein könne, weil neuere Forschungen manche der tradierten Lehren als falsch oder zumindest als korrekturbedürftig erscheinen lassen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang eine Passage in der Vorrede zu Baumgartens Theologischer Moral·. Denn es gehört zu dem eigenen Gewissen eines Lehrers, zumal eines akademischen Lehrers, daß er nicht bloß einförmig alles wiederholet und nachsagt, was andere [...] schon so vielemal sagten und urteilten, sondern daß er seinem wichtigsten Beweis gemäß selbst eigene Treue im Gebrauch aller Gelegenheiten und Fähigkeiten beweise. Meine eigene Beurteilung, die ich äußere, kann also mit wirklichem gutem Grunde und in rechtschaffener zarter Gemütsfassung sich von dem herrschenden Urteil der meisten Gottesgelehrten mehr oder weniger entfernen.100

Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des eigenen theologischen Urteils akzentuiert Seniler, indem er seit den 70er Jahren schon in den Titeln seiner Publikationen hervorhebt, daß sie „freie" Untersuchungen darstellen oder sich einer „freien" oder „freieren" Lehrart bedienen. Gelegentlich spricht er auch von der „liberalen Theologie" als einem Begriff, mit dem Zeitgenossen seine Theologie gekennzeichnet hätten.101 „Frei" oder „liberal" bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie ungebunden durch die bisher vorherrschenden theologischen Auffassungen und bereit zur kritischen Überprüfung der exegetischen und dogmatischen Lehrtraditionen auf ihre Geltung. In den eigenen Dogmatikvorlesungen hat Semler zunächst einen engen Anschluß an Baumgartens Glaubenslehre vollzogen und die bevorstehende Edition dieses dreibändigen Werkes den Studenten 1758 mit den Worten angekündigt, daß sie mit Baumgartens vollständiger Erklärung der Glaubenslehren nun bald „eine reiche ergiebige Quelle" erhalten werden, „woraus sie immerfort die richtigste und genaueste Belehrung schöpfen können".102 Während eines längeren Zeitraums dient Baumgartens Glaubenslehre als das Lehrbuch, das Semler den eigenen Vorlesungen zugrundelegt und kommentiert. Doch das hohe Lob der Anfangsjahre und die Aussage über die Richtigkeit und Genauigkeit der Baumgartenschen Dogmatik wird später nicht mehr wiederholt. Es heißt 1771 lediglich, daß er „so viele Jahre Dogmatik und Polemik hier über Baumgartens Compendia" gelesen habe.103 Mit dem Prozeß der Verwissenschaftlichung der Theologie kommt es bei Semler zu Vorbehalten und Einschränkungen in der Anerkennung der hohen dogmatischen Leistungen seines einstigen Lehrers und Freundes. Gerade weil die Sachdif100

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral. Halle 1767, S. 4. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 81. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 116. Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 56.

ferenzen in theologischen Fragen nun deutlicher ausgesprochen werden, betont er gleichzeitig die bleibende Hochachtung und Dankbarkeit. Niemand hat größere und echtere Verehrung gegen den sei. Baumgarten als seine Schüler und niemand ist weniger sclavischer Gesinnung als sie; man kann folglich [...] wahre Verehrung haben, ohne ein von blindem Ansehen abhängiger Nachsager sein zu wollen.104

Das neue Element, das zur Ausbildung einer relativ liberalen Theologie geführt hat, bestand bei Semler im Geltendmachen einer historischen Betrachtungsweise und einer historisch-kritischen Interpretation der Quellen, die nicht nur bei der Exegese biblischer Schriften, sondern auch in der Kirchen- und Dogmengeschichte sowie in der Dogmatik und Polemik erfolgte. Damit ist auch die entscheidende Differenz zu Baumgartens Argumentation und Darstellungsweise genannt, von denen Semler in seiner Autobiographie sagt, daß sie in der Dogmatik und Polemik „mehr wissenschaftlich als historisch waren."105 Gemeint ist mit diesem Urteil die Ubereinstimmung Baumgartens mit dem Wissenschaftsstandard der Wolffschen Philosophie bei gleichzeitigem Defizit in der theologiegeschichtlichen Betrachtung und in der Berücksichtigung der erforderlichen historischen Bedingtheit der Kirchenlehren. Dieses Defizit bezieht sich dann auch auf die sachliche Unzulänglichkeit der gegebenen Schriftbegründung und der im Einzelfall angeführten dogmatischen Beweisstellen. „Weder in Dogmatik noch Polemik konnte ich mit den gewöhnlichen dictis classicis, ihren Erklärungen und Verteidigungen geradehin zufrieden sein."106 Semler entdeckt, daß mit der dogmatischen Tradition, der innerhalb der lutherischen Theologie ein großes Gewicht zukommt, neben wertvollen Einsichten über die Heilsordnung, die Gnaden- und Rechtfertigungslehre auch Fehler und Irrtümer tradiert worden sind. Sobald man strengere Anforderungen an die theologische Argumentation und die Begründung von dogmatischen Lehrsätzen richtet, muß die Schriftgemäßheit mancher tradierter Lehren bezweifelt werden. Textkritik, Exegese und Theologiegeschichte werden so zum Motor für den Prozeß einer Neugestaltung der Dogmatik, die noch nicht dadurch erfaßt wird, daß man Begriffe wie .Reduktion' oder ,Subjektivierung' auf sie anwendet. Nicht erst von der eigenen Dogmatik, die 1777 unter dem Titel Versuch einer freiem theologischen Lehrart publiziert wurde, sondern schon von den 1768 erschienenen Historische[n] Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik urteilt Semler, daß er in ihnen „sehr viele Beweise von freier eigener Denkungsart" gegeben habe.107 Die sachlichen Veränderungen, die mit Semlers historisch-kritischer Theologie und der raschen Publikation entsprechender Werke eingetreten waren, sind von 104

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 47. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 256. Ebd., S. 256. Semler, Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. XXVI.

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lutherischen Theologen Preußens und ehemaligen Baumgartenschülem bemerkt und kritisiert worden. Als Semler im Jahre 1761 sein erstes Prorektorat zu versehen hatte, erreichte ihn vom Berliner Ministerium her die Aufforderung, zu einer Klage Stellung zu nehmen, die einige Prediger in Pommern und Berlin erhoben hatten. Inhalt der Klage war der Vorwurf der Begünstigung des Sozinianismus und Arianismus.108 Beunruhigung und Bedenken über das Neue und Andersartige in Semlers Lehre empfanden auch Thüringer Pfarrer, die ehemalige Baumgartenschüler gewesen waren und Semler deswegen in Halle aufsuchten. Sie waren besorgt, „daß ja in der Kirchenhistorie und Exegese jetzt alles ganz anders würde, als sie in ihrer academischen Zeit es gehöret und gelernt hätten." Der Vorwurf, den sie gegen Semlers Theologie erhoben, deckte sich zwar nicht mit dem zuvor geltend gemachten Einwand der Pommerschen Prediger, war aber im Grunde nicht weniger gravierend: denn es werde „auf solche Art eine Ungewißheit und Sceptizismus" eingeführt.109 Hier taucht erstmals jener Vorwurf auf, den Jahrzehnte später auch die Hallenser Professoren Johann August Nösselt (1734-1807) und August Hermann Niemeyer (1754-1828) sowie Friedrich Schleiermacher (1768-1834) erhoben haben.110 Von sachlichem Interesse, aber schwieriger zu beantworten, ist die Frage, wann Semlers Unterredung mit den Thüringer Pfarrern stattgefunden hat. Für eine relativ frühe Datierung etwa in den Jahren zwischen 1765 und 1768 könnte als Argument angeführt werden, daß Semler den Vorgang in seiner Autobiographie erwähnt, bevor er auf die 1768 erfolgte Reise nach Coburg zu sprechen kommt. Diese Annahme bleibt jedoch unsicher, weil zu berücksichtigen ist, daß Semler keineswegs immer in streng chronologischer Reihenfolge berichtet. Wegen anderer Angaben in dem Bericht wird man die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Datierung des Besuchs ernsthaft erwägen müssen. Denn Semler beantwortet die Anfragen der Thüringer Pfarrer mit dem Hinweis auf die neuen Erkenntnisse in der Textkritik, Exegese und historischen Gelehrsamkeit, die „vor 40 bis 50 Jahren" noch nicht vorlagen. Wenn es aber zutrifft, daß das Theologiestudium der Thüringer Pfarrer zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Semler bereits vier bis fünf Jahrzehnte zurücklag, 108 109 110

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Semler, Lebensbeschreibung, Theil 1. Halle 1781, S. 250. Ebd., S. 301. August Hermann Niemeyer, Leben, Charakter und Verdienste Johann August Nösselts. Halle/Berlin 1809, S. 175; vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Geschichte der christlichen Kirche, hg. v. Eduard Bonneil. Berlin 1840, S. 51 [= Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 11], ,Am besten hat diese Sache [die Anwendung der historischen Kriük auf die Geschichte des Urchristentums] zuerst Semler angegriffen; aber teils ist er in Skeptizismus hier und da zu weit gegangen." - Man wird bei dem gegen Semler gerichteten Skeptizismusvorwurf von einem diffusen, jedenfalls sehr unpräzisen Skepüzismusbegriff sprechen müssen. Gemeint war offensichtlich kein erkenntnistheoretischer Skeptizismus, der bezweifelt, daß man zu historischen Erkenntnissen und zuverlässigen Tatsachenfeststellungen gelangen könne. Intendiert war von Nösselt, Niemeyer und Schleiermacher eher jenes Phänomen, das man heutzutage treffender als „Relativismus" im Sinne des Nachweises zeitgeschichtlicher Bedingtheit und als „Historisierung" bezeichnen würde.

dann fiel ihr Studium in die Frühzeit von Baumgartens Lehrtätigkeit, der 1734 zum Professor ernannt wurde. Der Besuch bei Semler könnte demzufolge kaum vor dem Jahre 1774 stattgefunden haben. Er wäre wahrscheinlich erst für die zweite Hälfte der 70er Jahre anzusetzen.

9. Semlers Freundschaft mit Johann August Ernesti Mit dem Tode Baumgartens hatte Semler nicht nur den vertrauten Freund und Fakultätskollegen verloren, es fehlte ihm nun auch der Gesprächspartner, mit dem er wissenschaftliche Probleme und eigene Forschungsvorhaben erörtern konnte. Diese Stelle nahm schon bald ein anderer lutherischer Theologe ein, der ebenso alt wie der verstorbene Baumgarten und ihm fast ebenbürtig an klassischer Bildung und Gelehrsamkeit war: Johann August Ernesti (1707-1781). Ernesti hatte ursprünglich eine Professur für klassische Philologie in Leipzig innegehabt, war aber 1759 in die dortige Theologische Fakultät hinübergewechselt. Als Herausgeber des angesehenen Rezensionsorgans, das den Titel Neue Theologische Bibliothek (1760ff.; ab 1771: Neueste Theologische Bibliothek) trug, besaß er eine einflußreiche Position und hatte einen guten Überblick über den Forschungsstand in den Bereichen der biblischen Exegese, der Kirchengeschichte und Dogmatik. Semler hat die Publikationen seines Leipziger Kollegen seit 1759 aufmerksam gelesen und bekennt 1772 von sich: „ich lerne auch von einem Ernesti alle Tage".111 Aus der gegenseitigen Wertschätzung, den Briefen und Gesprächen ergab sich allmählich eine freundschaftliche Beziehung, die unterschiedliche Auffassungen und Positionen in einzelnen Sachfragen nicht ausschloß. Semlers Publikationen, seine Vorreden und umfangreiche historische Einleitungen zu den zahlreichen Bänden des Baumgarten-Nachlasses erhielten durch Ernesti sachkundige, bisweilen vorsichtig-kritische, aber stets wohlwollende Rezensionen. Semler kam diese Anerkennung als Unterstützung für seine umstrittene Position sehr gelegen, und er schätzte die Gelehrsamkeit dieses sonst so schwer zugänglichen Mannes. Die Freundschaft wurde vertieft durch Semlers wiederholte Besuche in Leipzig. Nach Beendigung des Sommersemesters reiste Semler nach eigenen Angaben jährlich für einige Tage nach Leipzig, um mit Ernesti über aktuelle Fragen und Probleme der Theologie zu sprechen.112 In diesen Gesprächen ist Semler jedoch nicht nur der Empfangende gewesen, sondern hat aus seinen eigenen Quellenstudien und Forschungen auch Ernesti manche Anregungen geben können.

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Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, Vorrede. Semler, Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 10.

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Es ist offenbar Semler zu verdanken, daß Ernesti zunächst anonym ein Programma de officio Christi triplici (1769) verfaßte" 3 und dabei an der willkürlichen Konstruktion des überkommenen Schemas vom dreifachen Amt Christi eine exegetische Kritik geübt hat. Semler berichtet in einer Veröffentlichung des Jahres 1777 - also noch zu Lebzeiten seines Leipziger Freundes - , daß er den eigentlichen Anlaß zu Ernestis Abhandlung gegeben habe: Vor 6 bis 8 Jahren war ich einmal in Leipzig und trug diesem gelehrten Mann [Emesti] meine geringen Gedanken vor, über das gezwungene in der bisherigen Abteilung, officii triplicis, um dreierlei Worte willen. Er sagte, daß er dies lange so beurteile und ermahnete mich, darüber zu schreiben. Ich verbat es aber, indem man mich vollend[s] zum Socinianer machen würde, und ersuchte ihn, der theologischen Lehiait diesen Dienst zu leisten. Und er tat's.114

Einig waren sich die beiden Gelehrten in dem hermeneutischen Grundsatz, daß bei der Schriftauslegung nur die Ermittlung des Wortsinns maßgebend sein dürfe und die Lehre vom vierfachen Schriftsinn zurückgewiesen werden müsse. Während hinsichtlich der Forderung nach einer philologisch-grammatischen Schriftauslegung Übereinstimmung bestand, scheint es hinsichtlich der von Semler so dringlich geforderten historischen Interpretation und ihres Umfanges über einen längeren Zeitraum hinweg zwischen beiden Theologen Differenzen gegeben zu haben, ohne daß diese ihrer gegenseitigen Wertschätzung und freundschaftlichen Verbundenheit Abbruch taten. Die 1769 erschienene Paraphrasis Epistolae ad Romanos hat Semler seinem Leipziger Freund, dem „viro summe venerando Jo. Aug. Emesti" gewidmet und diesen dabei zugleich mit dem Ehrentitel „praeceptor Germaniae" bezeichnet. Als er zwei Jahre später die Anfragen des Jenaer Professors Danov zu beantworten suchte, hat er dessen kritische Einschätzung der Gegenwartstheologie und auch der Rede von den auf mangelnder Forschung beruhenden „Unterlassungssünden mancher unserer Gottesgelehrten" zugestimmt. Doch einen evangelischen Theologen wollte er von diesem Urteil ausgenommen wissen: [...] indes denke ich, Sie werden den großen und hochverdienten Emesti ausgenommen haben; denn dieser würdige Mann tut zur Erweiterung theologischer Einsichten gewiß alles, was er tun kann; seine theologische Bibliothek bereitet in Teutschland gesunde Urteile, edle Grundsätze und eine große Menge neuer Bemerkungen, überall aber eine wahrhafte Billigkeit und Unparteilichkeit aus.115

Wie Semler den Leipziger Freund geschätzt und verteidigt hat, so sind umgekehrt Semlers theologische Forschungen und Anliegen von Ernesti gefördert und unterstützt worden. Semler erwähnt, „daß Ernesti des großen Melanchthon bedächtige sanfte Lehrart, vornemlich für die Theologie und Religion für viel heilsamer gehal113

114

115

38

Emeut abgedruckt in: Johann August Emesü, Opuscula theologica. Leipzig 1763, S. 371396. Semler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 334f. Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 184.

ten hat als aufbrausende große Anmaßungen".116 Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil Semler sich als junger akademischer Lehrer schon frühzeitig einem gelehrten melanchthonischen Luthertum verpflichtet fühlte. Aber auch in dem Urteil über die Reformbedürftigkeit der Theologie und ihre dringlichsten exegetischen und dogmatischen Forschungsaufgaben bestand offenbar weitgehende Übereinstimmung. Über die sich dem Ende zuneigende Epoche der Orthodoxie und die zeitgenössische spätorthodoxe Theologie hat Ernesti offenbar ebenso kritisch geurteilt wie Semler, der das starre Festhalten an den überlieferten dogmatischen Lehren und den Verzicht auf weiterführende textkritische und exegetische Forschungen beklagte. „Ernesti hat es mehr als einmal mit eben denselben Worten mir und anderen gesagt, in 150 Jahren hat die Theologie nicht um einen Schritt zugenommen."117 Das entscheidende Motiv und der Impuls für die Zusammenarbeit der beiden Gelehrten, die eigenständige Positionen und Überzeugungen besaßen, war ihre gemeinsame Absicht, der evangelischen Theologie einen dem neueren Forschungsund Erkenntnisstand angemessenen wissenschaftlichen Charakter zu geben. Liest man die ausführlichen Rezensionen, die wichtige exegetische, kirchengeschichtliche und dogmatische Werke Semlers in Ernestis Zeitschrift erhalten haben, so überrascht die Offenheit und Freimütigkeit, mit der Ernesti an einzelnen Auffassungen Semlers Korrekturen angebracht und Kritik geübt hat. Aber durchgängig findet sich gleichzeitig die Anerkennung der wissenschaftlichen Forschungen des Hallensers. Ernesti lobt die umfangreichen theologiegeschichtlichen Einleitungen, die Semler der dreibändigen Dogmatik Baumgartens vorangestellt hat, als „sehr nützliche und gelehrte Einleitung [...] in die dogmatische Theologie".118 Ähnlich lautet das Gesamturteil über Semlers dogmatisches Kompendium Institutio brevior ad liberalem doctrinam theologicam (1765-1766). Ernesti empfiehlt es, weil es vieles lehrt, was weniger bekannt ist, und weil durch dasselbe „eine bessere Einsicht in die theologische Gelehrsamkeit befördert wird".119 Sachkundige Anerkennung und hohes Lob findet Semler auch für seine Paraphrasen zu neutestamentlichen Schriften, insbesondere für die 1770 veröffentlichte Auslegung des Johannesevangeliums. Ernesti schreibt in seiner ausführlichen Rezension:

116

Semler, Zusätze zu Herrn 0. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. 1783, S. 17.

117

Ebd., S. 60. Vgl. auch ders., Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 113: „Ich habe es schon sonst erzählet, daß der gelehrte Mann, Emesti es gegen mich geradehin gestanden hat, in wohl ISO Jahren seie bei uns kein Schritt geschehen, der Religionslehre immer mehr Erleichterung zu schaffen; es sei ein ewiger Kreis [ge]worden, worin Theologie sich selbst herumtrieben." Gemeint sind offenbar Theologen.

118

Johann August Ernesti, Neue Theologische 598 u. 771-790. Ebd., Bd. 7. Leipzig 1766, S. 639f.

119

Bibliothek.

Halle

Bd. 2. Leipzig 1761, S. 387^419, 5 7 9 -

39

Wenn wir überhaupt unser Urteil über diese Paraphrase sagen wollen, so müßen wir in Ansehung der Sachen und auf der exegetischen Seite von ihr sagen, daß sie einem jeden Theologo von Profeßion Ehre machen könne und daß wir nicht viele wissen, von denen wir sie so gut oder gar besser zu erwarten uns getrauten: so oft hat der Hr. Verf. nach unserer Einsicht unter den verschiedenen Auslegungen die beste gewählt. 120

Aber auch mit jener kanonskritischen Untersuchung, die Semler rasch in den Brennpunkt einer heftigen Auseinandersetzung rückte und seinen Ruf als kritischer Aufklärungstheologe begründete, fand er die Unterstützung seines Leipziger Freundes.121 Die Zeitgenossen haben die sachliche Übereinstimmung und Allianz von Semler und Ernesti in wichtigen exegetischen, hermeneutischen, kanonskritischen und dogmatischen Fragen registriert. So erklärt es sich, daß schon in der folgenden Generation, etwa bei Johann Gottfried Eichhorn und Friedrich Lücke, die These vertreten wurde, mit Ernesti und Semler habe eine „neue Epoche" in der Exegese und Hermeneutik begonnen.122 Was über die gegenseitige Wertschätzung der theologischen Auffassungen und Forschungsleistungen auf den Gebieten der Exegese, Hermeneutik und Dogmatik aus den Quellen dargelegt werden konnte, bestätigt als zeitgenössischer Gesprächspartner auch der Helmstedter Professor und Generalsuperintendent Wilhelm Abraham Teller (1734-1804), der in seiner Geburtsstadt Leipzig den theologischen Doktor erworben hatte. Teller berichtet, daß Semlers Werke durch Ernesti „mit stets gesteigerten Hochachtungsbezeugungen" rezensiert worden sind. Er beruft sich dabei auch auf ein persönliches Gespräch mit seinem einstigen Lehrer. Mir selbst versicherte Ernesti im Jahre 1765, da ich einige Wochen in Leipzig war und ihm meine Bewunderung der Semlerischen Gelehrsamkeit äußerte: Ja, da haben Sie Recht; ich denke, ich habe auch gelesen und geprüft, aber der ist größer denn ich. 123

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121 122

123

40

Johann August Ernesti, Neueste Theologische Bibliothek. Bd. 1, 3. Stück. Leipzig 1771, S. 211. Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, Vorrede. Vgl. Johann Gottfried Eichhorn, Johann Salomo Semler, in: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur. Bd. 5. Leipzig 1793, S. 44: „So wie sich Semler seine eigene Bahn in der Exegese brach, so brach er sie sich auch in der Kritik des Neuen Testaments. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts war dieselbe, die niedere und höhere, die Wort- und Sachkritik bei deutschen Theologen eine völlig unbekannte Wissenschaft"; vgl. ders., Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neuesten Zeiten. Bd. 6, Abt. 2. Göttingen 1811, S. 389: ,Joh. Aug. Ernesti zu Leipzig und Joh. Sal. Semler zu Halle haben allerdings eine neue Epoche in der biblischen Hermeneutik eröffnet". - Friedrich Lücke läßt mit Semler und Ernesti die vierte, gegenwärtig noch andauernde Epoche der historischen und grammatischen Auslegung in der bisherigen Geschichte der Hermeneutik beginnen, vgl. Friedrich Lücke, Über den richtigen Begriff und Gebrauch der exegetischen Tradition in der Evangelischen Kirche. Ein Beitrag zur theologischen Hermeneutik und deren Geschichte, in: Theologische Zeitschrift, hg. v. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Wilhelm Martin L. de Wette u. Friedrich Lücke. Heft 3. Berlin 1822, S. 141 u. 160. Wilhelm Abraham Teller, August Hermann Francke, Siegmund Jacob Baumgarten, Johann Salomo Semler, in: Berlinische Monatsschrift. Juli 1794, S. 30.

10. Das Magdeburger Neologentreffen Daß Semler zu einer Gruppe von zeitgenössischen Theologen und bedeutenden Kirchenmännem in einer engeren Beziehung gestanden hat, zeigt eindrücklich seine Teilnahme an dem Magdeburger Neologentreffen, das im Sommer 1770 stattfand. Semler traf sich in Magdeburg mit den aus Berlin angereisten einflußreichen preußischen Oberkonsistorialräten August Friedrich Wilhelm Sack und Johann Joachim Spalding, von denen die Einladung ausgegangen war. Zu den Genannten gesellte sich wenig später der Braunschweiger Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem und eine Reihe anderer Personen wie der Professor Ebert, der Bürgermeister Schwarz und der Braunschweiger Prediger Christian Günter Rautenberg. Dieses dreitägige Zusammentreffen, auf dem über den Zustand und die Entwicklung der theologischen Wissenschaft gesprochen worden ist, hat großes Aufsehen erregt. Die zeitgenössische Berichterstattung, die eine Sensation witterte, konnte sich den Grund des Zusammentreffens nicht recht erklären und streute deshalb Gerüchte und Vermutungen aus. Man argwöhnte, während der Magdeburger Zusammenkunft sei der „Plan zu einer neuen Religion" bzw. ein „förmlicher Plan zur Umstürzung des bisherigen Lehrbegriffs und Kirchensystems" entworfen und verabredet worden. Man suchte der Öffentlichkeit einzureden, es habe „eine förmliche Verschwörung" zwischen Jerusalem, Sack, Spalding und Semler zum Umsturz der Orthodoxie und womöglich der kirchlichen Verfassung stattgefunden, und das Magdeburger Treffen der Genannten habe geradezu die Absicht gehabt, „diese gefährliche Sache näher abzureden".124 Für die preußischen Oberkonsistorialräte Sack und Spalding ist der eigentliche Anlaß ihrer Magdeburgreise jedoch der königliche Befehl zur Visitation des Pädagogicums im Kloster Bergen gewesen, das unter der Leitung des Abtes Hähne stand, aber wegen einer „pietistischen Frömmelei" in Erziehung und Unterricht nicht die Leistungen erbrachte, die man im Berliner Ministerium und bei Hofe erwartete. Spalding und Sack sollten in dieser Angelegenheit Bericht erstatten.125 Da nun Spalding kurz zuvor Vorschläge für die Einrichtung von Vorlesungen an den Theologischen Fakultäten Preußens gemacht hatte, die sich thematisch mit „theologischer Enzyklopädie" und der „Wahrheit der Religion" beschäftigen sollten, lag es nahe, Semler, der eine dieser Vorlesungen übernommen hatte und zum Senior seiner Fakultät aufgerückt war, nach Magdeburg einzuladen.126 Ungeachtet der tatsächlichen Gründe, welche die Theologen und leitenden Kirchenmänner in Magdeburg zusammengeführt hatten, wurde ihre Zusammenkunft von einzelnen nichtbeteiligten sächsischen Theologen, die offenbar der Spätortho124 125

126

Journal für Prediger. Bd. 6, 3. Stück. Halle 1776, S. 229. Johann Joachim Spalding, Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt, hg. v. Georg Ludewig Spalding. Halle 1804, S. 88f. Ebd., S. 83.

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doxie nahestanden, mit größtem Argwohn betrachtet und als „Socinianersynode" abqualifiziert. Bezeichnend für die Reaktion ist der Bericht, den Johann Heinrich Friedrich Ulrich, der Autor des Bandes Ueber den Religionszustand in den preußischen Staaten, von seinen Leipziger Gesprächen im Jahre 1770 gegeben hat. Er wurde von einem „berühmten Theologen" in Leipzig, womit offenbar Christian Friedrich Schmid gemeint war, gefragt, ob er „von der merkwürdigen Socinianersynode", die in Magdeburg abgehalten worden sei, gehört hätte. Johann August Ernesti habe indes über die Magdeburger Zusammenkunft ganz anders geurteilt. Allerdings seien in Sachsen die brandenburgischen Theologen bei vielen „ungemein verschrien".127 Mit der Unterstellung revolutionärer und kirchenfeindlicher Umsturzpläne waren die in Magdeburg zusammengetroffenen Theologen auch persönlichen Angriffen ausgesetzt. Die Verdächtigungen wurden viele Jahre hindurch aufrechterhalten und durch neue Gerüchte belebt und angereichert. Sie gingen schließlich so weit, daß man sogar den anonymen Verfasser der von Lessing herausgegebenen Wolfenbütteler Fragmente im Kreise der genannten Magdeburger Theologen und Kirchenmänner vermutete und diese Vermutung auch mit Namensnennung kundtat. Der inzwischen verstorbene Prediger Rautenberg, der sich selbst gegen solche Verdächtigungen nicht mehr zur Wehr setzen konnte, sollte der Autor gewesen • 128 sein. Sowohl Semler als auch Spalding sind in ihren Werken und autobiographischen Schriften den in Umlauf gesetzten Gerüchten über die angeblich in Magdeburg erfolgte „Verschwörung wider die Religion" entschieden entgegengetreten.129 Auch ein anderer Teilnehmer an der Magdeburger Zusammenkunft wies die erhobene Beschuldigung, es habe eine „Verschwörung" stattgefunden, in einer 1776

127

128

129

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[Johann Heinrich Friedrich Ulrich], Ueber den Religionszustand in den preußischen Staaten. Bd. 1. Leipzig 1778, S. 143f. Vgl. Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1779. Jg. 2. Gießen 1779,1. Stück, S. 15f.: „Man hat vorgegeben, daß einige Gottesgelehrten in dem Jahr 1770 zu Magdeburg zusammengekommen und daselbst über die Einführung einer neuen Reformation Abrede gepflogen hätten. Wir haben dieses in verschiedenen Schriften gelesen. Es waren die Herren Sack, Rautenberg, Spalding und Semler." Rautenberg hat nun „nach seinem Tode noch gar eine härtere Nachrede in der Welt auszustehen. Man trägt sich mit der ganz unglaublichen Anekdote, daß er der Verfasser der vom Herrn Lessing bekannt gemachten Fragmente wider die christliche Religion sei. Demnach wäre er kein Reformator, sondern ein offenbarer Naturalist und verachtungswürdiger Heuchler gewesen, der eine Religion gelehrt hätte, die er im Herzen gänzlich verachtete. Da es scheint, daß Herr Lessing den wahren Verfasser der Fragmente weiß, so wird er ohne Zweifel, wenn er dieses Gerücht erfährt, die Ehre des rechtschaffenen Mannes retten." Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, S. 92; ders., Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 70; Johann Joachim Spalding, Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt, hg. v. Georg Ludewig Spalding. Halle 1804, S. 91.

abgegebenen Erklärung entschieden zurück und zeichnete ein ganz anderes Bild über die Gesprächsgegenstände und den Verlauf der Unterredungen: Ich rechne diese Stunden unter die glücklichsten meines Lebens; sie gehören zu denen, in welchen wir das intellektuelle Vergnügen an Wahrheit und Erweiterung der Erkenntnis mit allen seinen Reizen genießen [...] Da hörte man Reden wie sie unter weisen und guten Männern gewöhnlich sind; da gab es allerdings auch einen freimütigen Tausch von Einsichten, Bemerkungen und Erfahrungen und manches edle Urteil über den jetzigen Zustand der theologischen Literatur. Die Verschiedenheit von Meinungen [...] machte[n] diese Unterredungen so viel lehrreicher und angenehmer. Rautenberg und Ebert waren auch da und verschiedene würdige Männer weltlichen Standes nahmen Anteil an den Gesprächen.130

Semler hat die von Spalding und Sack ausgesprochene Einladung zum Magdeburger Treffen als Auszeichnung empfunden und sich später gem an die persönliche Begegnung und den Gedankenaustausch erinnert. Offenbar herrschte unter den Beteiligten weitgehende Übereinstimmung in der Beurteilung der schwieriger gewordenen theologischen und kirchlichen Lage. Die gegenseitige Wertschätzung und freundschaftliche Verbundenheit, die zwischen Semler und Sack schon seit der Berliner Begegnung im Jahre 1757 bestanden hatte, ist durch das Magdeburger Treffen vertieft worden und auch in der Folgezeit erhalten geblieben. Als August Friedrich Wilhelm Sack sich 1767 in einem Gutachten über die Einrichtung und Organisation des Theologischen Seminars zu Halle zu äußern hatte, kam er auch auf die Besetzung der Seminardirektion zu sprechen und erklärte, daß Semler sich „gewiß am vorzüglichsten" dazu eigne und ihm diese wichtige Aufgabe übertragen werden müßte, wenn er sie nicht schon innehätte.131 Für Semler waren der namentlich genannte Spalding und andere in Magdeburg anwesende Theologen „große würdige Männer, welche von Geist und Wahrheit der chrisdichen Lehre unerschrocken zeugen".132 Ein Indiz dafür, daß bereits einige Jahre vor dem Magdeburger Treffen eine gegenseitige Wertschätzung und Verbundenheit auch zwischen Spalding und Semler bestanden haben muß, ist die Widmung, die Semler dem 1765 veröffentlichten dritten Teil seiner Hermeneutik vorangestellt hat. Sie ist an Johann Joachim Spalding, den „hochverehrtesten Gönner" gerichtet. In der Auseinandersetzung mit Piderit über dessen an das Corpus Evangelicorum eingereichte Klageschrift hat Semler nicht nur seine eigenen Forschungsergebnisse über die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, sondern auch Auffassungen Spaldings verteidigt.133 Ebenso tritt Semler einige Jahre später

130

Journal fur Prediger. Bd. 6, 3. Stück. Halle 1776, S. 301f.

131

August Friedrich Wilhelm Sack, Lebensbeschreibung, hg. v. Friedrich Samuel Gottfried Sack. Bd. 1. Berlin 1789, S. 291. Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, S. 92; vgl. auch S. 144.

132

133

Semler, Ausführliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 5 , 1 6 , 2 2 , 25f„ 35 u. 81.

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für Spaldings Vertraute Briefe, die Religion betreffend (1784) ein und verteidigt sie in ihrem Anliegen gegen herabsetzende Rezensionen.134 In den theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre um die Berechtigung neologischer Positionen ist das als „Verschwörung" gebrandmarkte Magdeburger Treffen häufig erwähnt und auch in der an das Corpus Evangelicorum gerichteten Klageschrift Piderits zum Zwecke der Polemik benutzt worden. Mehrfach hat Semler die gegen ihn und andere Beteiligte erhobenen Vorwürfe und Beschuldigungen als abwegig und unzutreffend zurückgewiesen. Eine solche Stellungnahme findet sich in seiner Streitschrift Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen (1777), eine andere und etwas ausführlichere im ersten Band der Autobiographie,135 und eine dritte, die weniger leicht auffindbar ist, ist im ersten Band des von Semler herausgegebenen Magazin[s] für die Religion (1780) enthalten. Weil letztgenannte Stellungnahme für Semlers Beurteilung des Magdeburger Treffens und sein persönliches Verhältnis zu den namentlich genannten Kirchenmännern besonders aufschlußreich ist, soll sie hier im Wortlaut zitiert werden: Als ich vor nun wohl 10 Jahren das erstemal in Magdeburg war, wo ich die würdigsten Männer, den venerablen Sack, und den redlichen offenen Spalding antraf, die mich gütigst hatten einladen lassen, und den so sehr verdienten Abt Jerusalem auch hier zum ersten mal kennen lernte: wurde freilich von diesen Mannern stets über wichtige Sachen gesprochen, u n t e herzlicher Verehrung Gottes; wie ich nie diese mir so nützliche, so wichtige Unterhaltung vergessen werde. Seltsam genug, daß in dem Schoos der protestantischen Kirche sogleich nachteilige Gerüchte und gehäßige Anzeigen, sogar im Druck ausgebreitet wurden, es hätte da sollen eine neue Religion verabredet werden.136

134

Semler, Vorläufige Antwort auf eines Naturalisten unbillige Prüfung der vertrauten Briefe über die Religion. Halle 1786, insb. Vorrede, S. XXIV u. S. 90; ders., Verteidigung des Königl. Edikts vom 9"" Jul. 1788. Halle 1788, S. 94. - Schollmeier hat unter dem Aspekt von Schrift und Bekenntnis einen systematischen Strukturvergleich zwischen den theologischen Positionen von Spalding und Semler angestellt; vgl. Joseph Schollmeier, Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung. Gütersloh 1967, S. 220ff. Er gelangt dabei zu der Auffassung, daß Semler eine weit konservativere Haltung als Spalding in theologischen Grundfragen eingenommen habe: „Semler, der einerseits mit ihm [Spalding] zusammen gegen die Orthodoxie, andererseits aber auch mit den Bekenntnisschriften in der Hand gegen ihn kämpfte, konnte ihn selbstverständlich von seinem Wege nicht zurückbringen" (ebd., S. 227). Daß Semler einen solchen Kampf gegen Spalding geführt habe, ist jedoch aus den Quellen nicht zu belegen und kann m. E. auch aus der unterschiedlichen Einschätzung des Wöllnerischen Religionsediktes (1788) nicht abgeleitet werden.

135

Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 309-313. Vgl. Magazin für die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Theil 1. Halle 1780, Vorrede. Ein Datierungsproblem stellt sich insofern, als Semler in seiner Autobiographie den „Sommer 1771" als den Zeitpunkt nennt, an dem das Magdeburger Treffen stattgefunden haben soll (vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 309). Mehrere gewichtige Gründe sprechen jedoch gegen diese späte Datierung und lassen sie als einen Irrtum oder Gedächtnisfehler erscheinen. Ein solcher Irrtum wäre begreiflich, denn Semler berichtet ohne Tagebuchaufzeichnungen aus dem Gedächtnis über ein Ereignis, das zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Autobiographie bereits mehr als ein Jahrzehnt zurücklag. Das früheste Zeugnis, nur ein Dreivierteljahr nach dem Magdeburger Treffen niedergeschrieben, findet sich in der Vorrede zum ersten Band der Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Diesen Band hat

136

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11. Ascetische Vorlesungen und Frömmigkeit Im Sommer 1770 hat Semler sich entschlossen, neben den regelmäßig abgehaltenen exegetischen, kirchengeschichtlichen, dogmatischen und symbolischen Vorlesungen zusätzlich sonntags auch Ascetische Vorlesungen für die Hallenser Theologiestudenten anzubieten. Zur Übernahme von solchen erbaulichen Bibelmeditationen bestand keine dienstliche Verpflichtung. Bei aller Eigenständigkeit in der Textauswahl und in den Schriftauslegungen waren sie eine freiwillige Einordnung in die von Pietisten besonders geschätzte Hallenser Tradition, welche der Vertiefung und Festigung des Glaubens dienen und zur christlichen Frömmigkeit anleiten sollten. Den Ascetischen Vorlesungen Semlers lagen ausgewählte Psalmen und wichtige paulinische Texte zugrunde. Diese Bibelmeditationen, die mit Gebeten eingeleitet wurden, gewähren uns einen Einblick in die Eigenart von Semlers Frömmigkeit und dessen Auffassung von der Unvertretbarkeit des persönlichen Heilsglaubens. Sie bestätigen keineswegs die in der neueren Theologiegeschichte vertretene Diskontinuitätsthese, wonach Neologie und protestantische Aufklärungstheologie ein Abfall vom biblisch-reformatorischen Christentum gewesen sein sollen. Eher gewinnt man aufgrund der Quellen den Eindruck, daß bei aller Besonderheit zeitbedingter Auffassungen und Ausdrucksweisen in Bibelauslegung und Frömmigkeit doch wichtige Grundgedanken des reformatorischen Christentums fortwirken, die aktualisiert und lebendig erhalten worden sind. Semler hat, wie er selbst erklärt, zunächst keine Veranlassung gesehen, sich an der Abhaltung solcher Erbauungsstunden zu beteiligen, weil diesbezüglich durch die Aktivitäten von Fakultätskollegen bereits ein ausreichendes Angebot bestand. Für diese Zurückhaltung mag es außer der erheblichen Arbeitsbelastung durch ForSemler dem Braunschweiger Abt Jerusalem, also einem an der Magdeburger Zusammenkunft Beteiligten, gewidmet. Die Vorrede trägt das Datum vom 18. Mai 1771. Wenn Semler sich zu diesem Zeitpunkt bereits dankbar des Zusammentreffens und Gedankenaustausche mit Sack, Spalding und Jerusalem erinnert, kann das Magdeburger Zusammentreffen wohl kaum im Sommer 1771 stattgefunden haben. Erhebliche Zweifel an der späten Datierung weckt auch die Erwähnung der Magdeburger Zusammenkunft in der Vorrede zu den 1772 veröffentlichten Ascetischen Vorlesungen Semlers. Er berichtet, daß er in Magdeburg gebeten worden sei, für seine Hallenser Studenten Erbauungsstunden abzuhalten und dies zugesagt habe. „Kurz darauf," so fährt Semler fort, habe er „das Prorectorat" übernehmen müssen (vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, Vorrede). Da Semler dieses Prorektorat - es war sein zweites - nachweislich im Oktober 1770 angetreten hat (vgl. Wöchentliche Hallische Anzeigen. Num. XLm vom 22. October 1770, Sp. 684), ist zu folgern, daß das Magdeburger Treffen entgegen der Angabe in der Autobiographie schon im Sommer 1770 stattgefunden haben muß. - Daß die Datierung des Magdeburger Treffens auf den Sommer 1770 die besseren Gründe für sich hat, ergibt sich auch aus anderen zeitgenössischen Quellen. Johann Joachim Spalding nennt in seinen Erinnerungen das Jahr 1770 (vgl. Johann Joachim Spalding, Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt, hg. v. Georg Ludewig Spalding. Halle 1804, S. 88). Die gleiche Jahresangabe findet sich auch in einem anonymen Bericht, der zwar erst einige Jahre nach der Magdeburger Zusammenkunft, aber noch vor Semlers und Spaldings Autobiographie erschienen ist: Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1779. Jg. 2. Gießen 1779,1. Stück, S. 15. 45

schungen, Vorlesungsverpflichtungen, die Herausgabe des Baumgarten-Nachlasses und die Fortführung des großen Projektes der Algemeinen Welthistorie (17581766; Bde. 17-30) noch andere theologische Gründe gegeben haben. Denn in seinem Reformprogramm für das Theologiestudium (1757/58) und in der folgenden Ausarbeitung der vierteiligen Theologischen Hermeneutik (1760-1769) hatte Semler betont, daß man unter Anwendung der Textkritik der Ermittlung des historischen Wortsinns und der Aussageabsicht der biblischen Autoren den Vorrang vor jeder erbaulichen Applikation der Bibeltexte einzuräumen habe. Allegorische Umdeutungen und sinnwidrige „Vergeistlichungen der Bibel" sollten vermieden werden.137 Semler hatte offensichtlich erhebliche Bedenken gegenüber der Art, wie die in Halle vorherrschende Tendenz zur Erbaulichkeit den historischen Sinn der Bibeltexte oftmals überlagerte, ignorierte und verfälschte. Die historische Schriftauslegung, zu der die Studenten durch ein methodisches Erlemen von Textkritik, Exegese und Hermeneutik angeleitet wurden, sollte zu einem sorgfältigen Umgang mit den biblischen Texten erziehen. Diese Ausrichtung ließ die Frage nach einer meditativen und erbaulichen Anwendung der Texte zunächst als sekundär erscheinen. Ascetische Vorträge oder Vorlesungen waren zwischen biblischer Exegese, Meditation und Predigt angesiedelt und konnten je nach ihrer Gestaltung das eine oder andere Element betonen. Semler hatte ascetische Vorlesungen zu keinem Zeitpunkt grundsätzlich abgelehnt. Er nannte sogar das Bemühen der Ausleger, dogmatische Wahrheiten „erbaulich anwenden zu helfen", an sich „edel und gut".138 Zu der Gruppe der besonders geschätzten „ascetischen Schriftsteller" rechnete er pietistische Autoren von Erbauungsbüchern, unter denen auch einige Hallenser Theologen waren: Arndt, Scriver, Müller, Spener, Francke, Anton, von Bogatzky sowie den Engländer John Bunyan.139 Es gab also Vorbilder, an denen man sich für die Abhaltung von ascetischen Vorlesungen orientieren konnte. Die anerkennend erwähnten erbaulichen Bibelauslegungen und ascetischen Schriften seines Lehrers Baumgarten zählt Semler ebenfalls dazu.140 Für die Auswahl der Bibeltexte, die zum Zwecke der Erbauung ausgelegt werden sollten, gab es keine Regeln oder Vorschriften, wohl aber seit der Reformation die weitverbreitete Überzeugung, daß dafür die Psalmen besonders gut geeignet seien. Dieser Auffassung hatte sich Semler 1759 im Vorwort zu Baumgartens Er-

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Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 175ff.; insb. auch ders., Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 134. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe Pauli an die Galater, Epheser, Philipper [...], hg. Johann Salomo Semler. Halle 1767, S. 7. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 302. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Erbauliche Erklärung der Psalmen. Erster Theil. Halle 1759, S. 15: „Auch Baumgartens ascetische und zur Erbauung vornemlich bestimmte Schriften bedürfen keines Anpreisens."

bauliche[r] Erklärung der Psalmen angeschlossen,141 und er war ihr auch in der Praxis gefolgt, als er im Juni 1771 mit seinen eigenen Ascetischen Vorlesungen begann, an denen als Zuhörer außer den Studenten auch seine damals bereits schwer erkrankte Frau zusammen mit den Kindern teilgenommen haben. Von den insgesamt 26 Stunden der erbaulichen Bibelauslegungen, die uns überliefert sind, haben sich 19 - also mehr als zwei Drittel - mit ausgewählten Psalmen beschäftigt. Die hohe Wertschätzung dieser alttestamentlichen Texte begründet Semler mit ihrer Bedeutung für die persönliche Frömmigkeit und die „Übung der innerlichen Religion". „Geist und Kraft Gottes ist in sehr vielen dieser Lieder, sie mögen Gott preisen oder loben oder Gott in eigener innerlicher oder äußerlicher Not um Hilfe und Beistand anrufen oder die wahre Erkenntnis Gottes wider Laster und Unglauben retten".142 Mit seinen erbaulichen Psalmenauslegungen ist Semler einer alten Hallenser Tradition gefolgt, die über Baumgarten bis auf August Hermann Francke zurückreicht. Da er die christlichen Glaubenslehren aber vor allem durch neutestamentliche Texte begründet wissen wollte, hat er der Psalmenauslegung mit der Erklärung von Gal. 4,4f. und 1. Kor. 1,31 zwei christologisch und soteriologisch besonders gewichtige paulinische Texte hinzugefügt. Semlers Frömmigkeit ist eine Bibelfrömmigkeit, die in ihrer Ausrichtung auf die „Heilsordnung", auf den Empfang der von Gott geschenkten Versöhnung und Erlösung lutherisch-pietistisch geprägt ist. Sie bejaht Bibelstudium, geistliche Erfahrungen, Gebet und Meditation, lehnt jedoch die ständige Selbstbeobachtung (geistliche Tagebücher) ab und verwirft auch den Rückzug in die Fluchtburgen der Innerlichkeit. Stattdessen fordert sie vom Christen ein hohes Arbeitsethos, treue Erfüllung der Berufspflichten zugunsten der Gemeinschaft sowie die Bereitschaft zur Übernahme öffentlicher Ämter in Gesellschaft und Staat. Das Zentrum dieser Frömmigkeit ist die von Christus bewirkte Heilsordnung, weil anstelle der früheren Gesetzesgerechtigkeit nun die Glaubensgerechtigkeit gilt. Der persönliche Christusglaube ist von Gewicht, weil erst mit der Zustimmung zur Heilsordnung und dem Ergreifen der uns angebotenen „Wohltaten Gottes" (beneficia Dei) die verwandelnde Kraft der geistlichen Versöhnung und Erlösung in den Herzen wirksam wird. Diese Wirkung Gottes in der Erschaffung des neuen Menschen vollzieht sich nicht als plötzliche Verwandlung, sondern als ein zeitlicher Prozeß des Wachsens im Glauben und in der Nächstenliebe. Sobald wir einwilligen, von ganzem Herzen einwilligen in die Grundsätze, welche die Heilsordnung für alle Menschen ausmachen, so ist dies schon der Anfang von unserer wahren

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Vgl. ebd., S. 8: „Wenn aber je ein biblisch Buch dergleichen unmittelbare Anwendung zur Erbaulichkeit verstattet oder gar erfordert, so sind es gewiß die Psalmen." Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 114.

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Wohlfahrt; wir lernen auch glauben und hoffen, Gott wird ferner durch seine Wirkung das in uns nach und nach zustande bringen, was wir nun von ihm aufrichtig für uns wünschen. 143

Der Prozeß der Glaubensaneignung und des Christwerdens ist nach Semler aufs engste mit geistlichen Erfahrungen innerer Art verbunden. Die Lehre von der Heilsordnung impliziert demzufolge eine Erfahrungstheologie. Die geistlichen Erfahrungen, die von der Zusage der Sündenvergebung und dem Bewußtsein der „Versöhnung" und „Erlösung" geprägt sind, geben dem Glaubenden Halt und Zuversicht in den wechselvollen Geschicken des irdischen Lebens. Sie stärken sein Vertrauen auf Gottes gnädige Führung durch alle Anfechtung und Traurigkeit hindurch. Der christliche Glaube bewährt sich als Kraft einer Weltüberwindung, die nicht Eroberung oder Unterwerfung der Welt, wohl aber Überwindung der von der Welt ausgehenden Anfechtungen ist. An solchen Bibelmeditationen wird deutlich, daß der Glaube für Semler keine bleibende und unverlierbare Eigenschaft, sondern ein Geschenk Gottes ist, das in den Glaubenden seine Kraft entfaltet. Gott gilt als das erstrebenswerte „höchste Gut", das zugleich die Quelle alles Guten ist. Die Wirklichkeit des „neuen Menschen" äußert sich in Erfahrungen und inneren Regungen: „Wir kennen den neuen Menschen, wie er nach Gott geschaffen wird, in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit; wir bekommen nun Lust und ernstliche Neigung zu diesem neuen geistlichen vollkommenem Menschen".144 Die geistlichen Erfahrungen werden so durch die paulinischen und johanneischen Aussagen gedeutet. Das Gewicht, das diesen geistlichen Erfahrungen zukommt, steigert sich in Semlers Reflexion sogar zum ,.Erfahrungsbeweis von der Wahrheit und Göttlichkeit der chrisdichen Religion".145 Gemeint ist damit allerdings kein „ B e w e i s " wissenschaftlicher Art und von genereller Gültigkeit, der gleichsam die bisherigen Gottesbeweise ersetzen und der den Agnostikern und Atheisten in der Auseinandersetzung entgegengehalten werden könnte. Denn seine Evidenz und Überzeugungskraft hat dieser Erfahrungsbeweis nur für diejenigen, die in der Übung des Glaubens stehen und selbst Empfänger geistlicher Erfahrungen sind. Auf Grund der starken Betonung, die auf die Heilsgegenwart der durch Christus bewirkten Versöhnung und Erlösung fällt, rückt die Eschatologie in den Hintergrund. Sie wird vor allem in Gestalt einer individuellen Jenseitseschatologie vertreten. Der leibliche Tod ist nicht das Ende des Individuums, sondern nur der Durchgangspunkt zu einem Leben in ewiger Gottesgemeinschaft, das den Menschen nach der mühsamen Wanderschaft durch das irdische Leben erwartet. Semler teilt die im 18. Jahrhundert in Theologie und Philosophie (Wolff, Lessing) weitverbreitete Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele, die den biblischen Gerichtsgedan143 144 145

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Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 188; vgl. auch S. 258. Ebd., S. 281. Ebd., S. 319. - Ein Zeugnis von seiner persönlichen Frömmigkeit und Heilserfahrung gibt Semler in: Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 142.

ken und Auferstehungsglauben nicht ausschließt, aber vor allem betont, daß jedes Individuum gemäß dem Schöpferwillen und der Liebe Gottes zur ewigen Gemeinschaft mit Gott berufen ist. Neben dieser individuellen Jenseitseschatologie, von der auch Semlers seelsorgerliche Gespräche mit seiner sterbenden Ehefrau und der ihr zugesprochene Trost bestimmt sind, klingt ein futurischer und heilsgeschichtlicher Aspekt an. Das Reich Gottes oder Reich Christi, das zunächst nur als ein geistliches Reich in den Herzen der Gläubigen lebt, enthält das Hoffnungselement auf eine weitere Ausbreitung des Evangeliums unter den Menschen und Völkern. Ausdrückliche Zustimmung findet Speners Gedanke von der „ H o f f n u n g auf bessere Zeiten", obwohl dessen Schriftbegründung Semler zweifelhaft erscheint.146 Die von Semler vertretene Frömmigkeit hat gesellschaftliche und politische Implikationen. Denn die christliche Botschaft zielt nicht nur auf Erkenntnisgewinn, Affekte und Empfindungen, sondern auch auf das Handeln im Alltagsleben. In der quietistischen und weltflüchtigen Haltung hat Semler schon frühzeitig ein Mißverständnis des Christentums erblickt und stattdessen die fleißige und gewissenhafte Berufsausübung zum Wohle des Nächsten und der Gesellschaft empfohlen. Das Verhalten, das mit einer rechten Gottesverehrung unlösbar verbunden ist, besteht in der Nächstenliebe, von der Paulus 1. Kor. 13,4 gesprochen hat. Diese Nächstenliebe soll nicht nur den Glaubensbrüdern, sondern gerade auch den andersgläubigen Mitbürgern zuteil werden. Schon in den Ascetischen Vorlesungen erweist sich Semler als ein entschiedener Vertreter einer aufgeklärten christlich motivierten Toleranz, der in Theorie und Praxis für die Duldung der Juden und das friedliche Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen eingetreten ist. Intoleranz, Haß und Verfolgung von Andersglaubenden dürfen kein Kennzeichen christlichen Verhaltens sein, sondern Friedfertigkeit, Achtung und Respekt vor einer aufrichtigen Frömmigkeit, die aus bestimmten Gründen nicht die unsere ist.

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Vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 46: „Ein anderes aber ist, ob diese Hoffnung besserer Zeiten gerade aus der oder jenen Stellen eines Propheten alten Testaments oder aus der Apokalypsi oder aus mystischer Deutung des Hohenliedes zu erweisen seie." - Vgl. ders., Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, Vorrede b3: „Ganz und gar gab ich dem unsterblichen Spener und seinen so vielen frommen Freunden recht in der Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche oder die ganze christliche Religion; aber ich finde sie nicht in jenen Schriftstellen, welche man dazu anwendete." - Vgl. auch ders., Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 691.

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Vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 137: „Furcht Gottes muß uns bei einem redlichen Papisten, Juden, Quäker, Socinianer etc. allemal schätzbar und verehrungswürdig sein. Die Mängel oder Fehler in ihrer Erkenntnis gehören nicht ihrem Herzen und Willen. Diese Ermahnung und Lehre unseres Verfassers [des Autors von Psalm 15] würde die ganze Welt, das ganze menschliche Geschlecht leichter zur Frömmigkeit, zur wahren Religion und zur gemeinschaftlichen heilsamen Erkenntnis und Verehrung Gottes vereinigen als jene kalte Orthodoxie, so aus den schlechtesten Zeiten ihre Grundsätze entlehnet hat."

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12. Kanonskritik und Bibelauszüge In den Brennpunkt einer heftigen und mehrere Jahre währenden Auseinandersetzung rückte Semler durch seine vierbändige Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771-1776). Mit dieser historischen Untersuchung über die Entstehungsgeschichte und gegenwärtige Bedeutung des Kanons hat Semler die traditionelle, aus der altprotestantischen Orthodoxie stammende Lehre von der Verbalinspiriertheit, Göttlichkeit, Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit der kanonisierten Schriften erschüttert und problematisiert. Der abgelehnte dogmatische Kanonbegriff der altprotestantischen Orthodoxie, der eine Gleichsetzung des im Gebrauch befindlichen Kanons mit dem universal gültigen Worte Gottes vornimmt, wird von Semler durch einen historischen bzw. kirchengeschichtlichen Kanonbegriff ersetzt. Damit verändert sich die Sicht und Einschätzung des Kanons, weil nun der gesetzlich verpflichtende Charakter und der Anspruch auf Anerkennung aller Schriften und Aussagen des Alten und Neuen Testaments entfällt. Ist der Kanon das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses und einer Übereinkunft verschiedener Kirchenprovinzen, wobei die Zugehörigkeit einzelner neutestamentlicher Schriften zum Kanon lange Zeit umstritten blieb, dann besitzt er weder göttlichen noch unmittelbar apostolischen Charakter, sondern lediglich die Autorität einer kirchlichen Schriftensammlung. Eine solche Schriftensammlung von maßgeblichen Verkündigungstexten mag in der werdenden Christenheit aus sachlichen Gründen erforderlich gewesen sein, darf jedoch niemals zu einem alle Christen verpflichtenden Glaubens- und Denkgesetz erhoben werden. Denn auf diese Weise wurden eine falsche Art der Schriftautorität aufgerichtet und die Christen zugleich in eine Abhängigkeit von der Kirche als der maßgebenden Auslegungsinstanz gebracht. „Meine Beobachtung ist neu, wie ich glaube [...] Man verwechselte sehr bald den Begriff Canon mit regula, als wäre allefr] und jeder Inhalt der im Canone und catalogo befindlichen Bücher eine regula cognoscendi et agendi".148 Jene Schlußfolgerung, wonach der alt- und neutestamentliche Kanon eine regula fidei et vitae omnium hominum sei, stellt nach Semlers Urteil einen „unrichtigen" Kanonsbegriff dar.149 Unmittelbar nach der aufsehenerregenden Publikation des ersten Teils der Kanonsabhandlung (1771) hatte Semler zwar bestritten, bereits eine eigene Kanonstheorie aufgestellt zu haben. Aber eine neue, historisch und dogmatisch besser fundierte Kanonslehre war durchaus sein Ziel. Allerdings hatte er erkannt, daß er zur Ausarbeitung einer „Theorie" noch etwas Zeit benötigte.150 Zunächst wollte er sich die Möglichkeit zur Modifikation eigener Erkenntnisse noch offenhalten. Aber eigentlich war schon zu diesem Zeitpunkt (Mai 1772) seine Erklärung ein Under148 149 150

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Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 574. Ebd. Halle 1775, S. 305. Ebd. Halle 1772, S. 238.

Statement. Denn die wichtigsten Ergebnisse seiner historisch-dogmatischen Untersuchung hatte er bereits in 18 Thesen zusammengefaßt und im Vorwort zum zweiten Teil seiner Kanonsabhandlung zur weiteren Diskussion gestellt, die nicht ausblieb. Das Zugeständnis der Vorläufigkeit und Revidierbarkeit der eigenen Thesen und die Bereitwilligkeit, von den Sachargumenten der Kritiker zu lernen, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß Semler in der Folgezeit seine wichtigsten Forschungsergebnisse verteidigt hat und von ihnen kaum mehr abgewichen ist. Um das gesetzliche Kanonsverständnis zu überwinden, empfiehlt er seinen Zeitgenossen, sich an denjenigen kanonischen Schriften und Bibelstellen zu orientieren, die für den christlichen Heilsglauben von grundlegender und wesentlicher Bedeutung sind. Er bezeichnet diesen wesentlichen neutestamentlichen Verkündigungsgehalt mit dem Begriff „Glaubensgrund". Gemeint ist damit die neutestamentliche Christusbotschaft mit ihren Aussagen über die „Sendung Christi und Ausgießung des h[eiligen] Geistes."151 Weil nicht alle Teile und Schriften des Kanons diesem Glaubensgrund Ausdruck geben, darf eine wertende „Auswahl" getroffen werden. Sie führt bei Semler zu lobenden Urteilen über die paulinischen Briefe, insbesondere über den Römer- und Galaterbrief, die beiden Korintherbriefe sowie über das Johannesevangelium, und sie führt zu kritischen Urteilen über die Apokalypse, den Philemonbrief und andere deuterokanonische Schriften. Nicht Willkür soll bei solcher Auswahl am Werk sein, sondern das christozentrische und soteriologische Kriterium, das auch mit dem Begriff der „Heilsordnung" umschrieben wird. Gesetzt, daß der Brief an Philemon, Offenbarung Johannis, Esther, Cronik etc. von mehreren Lesern nicht für göttliche Schriften gehalten werden, so tun es diese Leser aus der Anwendung des ihnen ganz ungezweifelten Glaubensgrundes oder weil sie den göttlichen Wert der von Gott eingegebenen Wahrheiten in mehreren anderen Büchern schon haben und behalten. Sie behalten also den Glaubensgrund intensive, wenn sie auch extensive einen viel kleineren Canon haben.152

Semler hat das Recht zur innerbiblischen Sachkritik und zur Erstellung von Bibelauszügen für den Privatgebrauch behauptet. Er hat damit zugleich deutlich gemacht, daß die Bibelautorität anders als bisher verstanden werden soll: nicht formal-gesetzlich und gleichermaßen bezogen auf alle Schriftaussagen, sondern in einem inhaltlich bestimmten Sinn als Christuszeugnis und als Zeugnis von dem soteriologischen Glaubensgrund. Zur weiteren Begründung seiner Position hat er wiederholt auf das reformatorische Vorbild verwiesen, insbesondere auf Luthers Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift und dessen unterschiedliche Wertung neutestamentlicher Schriften. Wir wissen es als historisch ganz ausgemacht, daß Luther selbst manche einzelnen Schriften des Ν. T. nicht für gleiche Teile eines von Gott oder von den Aposteln herrührenden Ganzen angesehen hat, wie er eine solche Inspiraüon, als im vorigen Jahrhundert vornehmlich auf 151 152

Ebd., S. 607. Ebd., S. 585.

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Academien gelehrt worden [ist], noch gar nicht gekannt oder bejaht hat. Er behielt Geist und Kraft der Religion und war über solche Mikrologien sehr weit erhaben.153

Semler hat sowohl historisch-wissenschaftliche als auch religiös-praktische Gründe zugunsten seiner Kanonsauffassung geltend gemacht, die von dem Grundgedanken eines christozentrischen Schriftverständnisses und einer inhaltlichen Bibelautorität geprägt ist. Gelegentlich treten bei ihm diese praktisch-religiösen Gründe, welche den Zugang zur Heiligen Schrift und die Aneignung ihrer Heilsbotschaft erleichtem sollen, etwas einseitig hervor: Die ganze Absicht meiner Untersuchung vom Canon gehet darauf, daß Menschen, Leser einzelner Schriften, die in der Bibel gesammelt sind, sich von der Göttlichkeit des Inhalts und der Lehre, welche hie und da in diesen Schriften vorkomt, überzeugen sollen und können.154

Weil Semlers historische Untersuchung über die Entstehung und Bedeutung des Kanons als Relativierung der Bibelautorität und als eine Infragestellung der sachlichen Einheit von Altem und Neuem Testament empfunden wurde und darin von vorherrschenden dogmatischen Auffassungen erheblich abwich, hat sie Aufsehen erregt und zunächst mehr Widerspruch als Zustimmung gefunden. Mit Streitschriften haben sich Exegeten und Dogmatiker sowie Inhaber kirchlicher Ämter gegen Semlers Kanonsabhandlung gewandt: der Leipziger Theologieprofessor Christian Friedrich Schmid, der Greifswalder Theologieprofessor Johann Ernst Schubert, der Tübinger Kanzler Jeremias Friedrich Reuß und der Tübinger Theologieprofessor Christoph Friedrich Sartorius, der Württemberger Superintendent Magnus Friedrich Roos und der ebenfalls aus Württemberg stammende Konsistorialpräsident Johann Christian Kommereil. Der Kasseler Gymnasialprofessor Johann Rudolf Anton Piderit hat sogar eine ausführlich begründete Klage gegen Semler beim Corpus Evangelicorum eingereicht. Andere Autoren blieben anonym. Differenzierter und teilweise zustimmend äußerten sich in ausführlichen Rezensionen der Göttinger Johann David Michaelis und Semlers Leipziger Freund Johann August Erne-

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Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 36f. - Vgl. auch ders., Theologische Briefe. Erste Samlung. Leipzig 1781, S. 144, sowie ders., Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 213. Semler, Ausßhrliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 63. Eine Übersicht über diese zeitgenössischen Stellungnahmen bietet der Göttinger Christian Wilhelm Franz Walch, Neueste Streitigkeiten über den Kanon, in: ders., Neueste Religions=Geschichte. Theil 7. Lemgo 1779, S. 291-344.

13. Der Briefwechsel mit Lavater und die Swedenborg-Kritik Zu den wenigen Briefen Semlers, die uns erhalten sind, gehört der von ihm selbst publizierte Briefwechsel mit dem Züricher Prediger und Schriftsteller Johann Caspar Lavater (1741-1801). 156 Es mag überraschen, daß es zwischen Lavater und Semler zu einem Briefwechsel gekommen ist, denn beide vertraten ganz unterschiedliche theologische Auffassungen und Grundsätze. Auch in der Art ihrer Frömmigkeit waren sie recht verschieden. Für Lavaters empfindsamen Pietismus und seine ständige Suche nach handgreiflichen Beweisen für Gottes Güte in dieser Welt war Semlers historisch-kritische Theologie offenbar eine fremde Position, zu der er keinen Zugang gewinnen konnte. Gleichwohl begann der Briefwechsel im März 1775 mit einem Schreiben Lavaters an Semler, der aufgefordert wurde, den „Gaßnerschen Exorcismus" zu untersuchen, ein aufsehenerregendes zeitgeschichtliches Phänomen, das sogleich Lavaters lebhaftes Interesse gefunden hatte. Was Lavater vortrug, war mehr als eine Bitte. Es war eine dringliche Aufforderung zur Stellungnahme. „Wer diese [die Tatsachen des Exorzismus] nicht untersuchen will, ist kein Freund der Wahrheit. Wer diese Untersuchung lächerlich macht, hält Wahrheit durch Ungerechtigkeit auf'. 157 Da Semler öffentlich erklärt hatte, daß er sich der Wahrheitsforschung verpflichtet wisse, konnte er sich einer Antwort an Lavater kaum entziehen. Das in seiner Deutung und sprachlichen Bezeichnung umstrittene Phänomen waren die Teufelsbeschwörungen, mit denen der katholische Priester Johann Joseph Gaßner, ursprünglich in der Gemeinde Klösterle im Bistum Chur, später an verschiedenen Orten im Bistum Regensburg tätig, durch Handauflegung und Exorzismen von der Teufelsbesessenheit zu heilen versprach. Wie aber konnte ein Teufel ausgetrieben werden, den es gar nicht gab? Für Gaßner freilich war der Teufelsglaube kein Aberglaube, sondern Existenzbehauptung über die Realität und Macht eines Wesens, das auf das seelische und leibliche Befinden des Menschen einwirken und Krankheiten verursachen konnte.158 Zur Begründung für seine Tätigkeit als Exorzist hatte Gaßner eine in mehreren Auflagen erschienene Schrift unter dem Titel Nützlicher Unterricht wider den Teufel zu streiten159 herausgegeben, in welcher er darzulegen suchte, daß es vom Teufel geplagte und besessene 156

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Zur Bedeutung Lavaters vgl. die neueren Untersuchungen von Horst Weigelt, Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert. Göttingen 1988 sowie Gerhard Ebeling, Genie des Herzens unter dem genius saeculi. Johann Caspar Lavater als Theologe, in: ZThK 89 (1992), S. 59-77. Herrn Lavaters erstes Schreiben vom 26. März (1775), in: Sandlingen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, S. 4. Vgl. hierzu Josef Hanauer, Der Teufelsbanner und Wunderheiler Johann Joseph Gaßner (1727-1779), in: Georg Schwaiger/Paul Mai (Hg.), Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg. Bd. 19. Regensburg 1985, S. 303-546. Johann Joseph Gaßner, Nützlicher Unterricht wider den Teufel zu streiten. Augsburg 6 1775.

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Menschen, aber auch Heilmittel gegen die vom Satan verursachten Krankheiten gebe. Der zum Obskur-Wunderhaften neigende Lavater war von der Heilkraft des katholischen Priesters beeindruckt, sprach von „Wunderheilungen" und erklärte sich bereit, dieselben auf Grund der vorliegenden Nachrichten für echt und tatsächlich geschehen anzuerkennen. Offenbar um eine mögliche Absage des Hallensers von vornherein zu verhindern, betonte Lavater in seinem Schreiben, daß es sich bei der geforderten Untersuchung um eine Angelegenheit „von unendlicher Wichtigkeit" handle und bat gleichzeitig Semler, auch seinen Fakultätskollegen Johann August Nösselt vom Inhalt des Briefes in Kenntnis zu setzen. So kam es im folgenden zu einem Briefwechsel über das aktuelle Thema des Teufelsglaubens und der durch Exorzismen bewirkten Wunderheilungen. Für den kritisch denkenden Semler war es keineswegs evident, sondern eher unwahrscheinlich, daß die von Gaßner vollzogenen Exorzismen und angeblichen Wunderheilungen so zu deuten seien, wie Lavater dies als glaubhaft annahm. In seiner Antwort erörtert Semler zunächst den neutestamentlichen Wunderbegriff, wobei er auf die Schwierigkeit hinweist, den Bedeutungsgehalt des entsprechenden griechischen Σημεία-Begriffs genauer festzustellen. Zur Wundergläubigkeit habe Jesus seine Zeitgenossen gerade nicht aufgefordert, und aus der Berufung auf ehemals geschehene oder gegenwärtig geschehende Wunderheilungen könne kein Beweis für die Wahrheit der christlichen Lehre hergeleitet werden. In den von Gaßner und anderen Theologen behaupteten Teufelseinwirkungen auf die Menschen sieht Semler nicht nur eine „ungesunde Lehrart", sondern „Aberglaube und Unsinn."160 Abgelehnt wird von Semler auch die Vorstellung, daß ein Exorzismus oder eine Teufelsaustreibung durch das bloße Aussprechen des Namens Jesu Christi bewirkt werden könne. Bibelstellen, die zur Stützung des Teufelsglaubens und der Beschwörungskraft des Namens Jesu Christi herangezogen werden, stellen nach Semlers Urteil eine „Mißdeutung" dar. Dies gelte auch für die Aussage von Phil. 2,10, daß „sich im Namen Jesu beugen sollen alle Knie im Himmel und auf Erden."161 Da nach der Aussage von 1. Joh. 3,8 Christus gekommen sei, daß er die Werke des Teufels zerstöre, müsse man es als eine Gotteslästerung betrachten, wenn der Glaube an die bleibende Macht und ständige Wirksamkeit des Teufels theologische Zustimmung erfahre und als Bestandteil des christlichen Glaubens ausgegeben werde. Semler empfindet es, wie er ein Jahr später erklärt, als einen „seltsamen" Sachverhalt, daß die meisten christlichen Schriftsteller „in dem aller-

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Hugo Farmer, Versuch über die Dämonischen des Neuen Testamentes. Bremen/Leipzig 1776, S. 31. Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geislerbeschwörungen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, S. 31 f.

größten Ernst von ferneren unaufhörlichen Besitzungen und leiblichen Wirkungen des Teufels" reden, obwohl Christus dem Teufel alle Gewalt genommen hat.162 Semler kommt also zu einem ganz anderen Urteil als Lavater. Denn er will weder zugestehen, daß es Teufelsbesitzungen oder durch den Teufel verursachte Krankheiten gebe noch magische Beschwörungsformeln, mit deren Hilfe ein Teufel ausgetrieben und die Erkrankten von ihren Krankheiten geheilt werden könnten.163 Daß eine Krankheit verschwindet und ein Patient sich als geheilt empfindet, kann andere, natürliche Ursachen haben,164 wofür Semler in den beigefügten Akten auch Urteile von katholischen Würdenträgem anführt, die bei Gaßners Tätigkeit zugegen waren, aber dauerhafte Heilungen von schwer Erkrankten nicht konstatieren konnten.165 In seinem zweiten Brief an Semler vom 12. und 19. Mai 1775 macht Lavater in der Sache gewisse Zugeständnisse. Er räumt ein, daß Gaßner keineswegs bei allen vorgenommenen Exorzismen Erfolg gehabt habe. Auch seien die meisten der von ihm angeblich geheilten Kranken später wieder rückfällig geworden. Dennoch sei Gaßner nicht als „Betrüger" zu bezeichnen, auch wenn seine Heilerfolge, wie einige kritische Beobachter meinen, möglicherweise auf „Magnetismus" beruhen sollten.166 Semler verschärft seine Kritik an Gaßners Aktivitäten als Teufelsaustreiber und angeblicher Wunderheiler. Sie erscheinen ihm, wenn nicht als direkter Betrug, so doch als Irreführung der Betroffenen, in denen falsche Hoffnung auf dauerhafte Heilung erweckt werde. Er äußert brieflich die Ansicht, daß derartige Aktivitäten eines Geistlichen „in einem christlichen Staat und ordentlicher Gesellschaft der Christen" nicht geduldet werden sollten.167 Ein ganz anderes Thema wurde in dem Briefwechsel behandelt, der ein Jahr später im September 1776 stattgefunden hat, uns aber nur teilweise erhalten ist. Lavater beklagt darin den durch die Aufklärung verursachten Verfall des christlichen Glaubens und deutet an, daß Semlers kritische Theologie daran mitschuldig sein könnte, eine Ansicht, die er dann als Redner auf der Züricher Frühjahrssynode des Jahres 1779 unter Namensnennung von Lessing, Semler und Steinbart auch öffentlich vertreten hat.168 162

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Hugo Farmer, Versuch über die Dämonischen des Neuen Testamentes. Bremen/Leipzig 1776, S. 12. Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, hg v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, S. 35ff. Ebd., S. 68. Ebd., S. 202ff. In gekürzter Fassung ist dieser Brief Lavaters an Semler abgedruckt in: Johann Caspar Lavater, Ausgewählte Werke, hg. v. Ernst Stähelin. Bd. 2 (1772-1779). Zürich 1943, S. lOlff. Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, S. 247. Vgl. hierzu Horst Weigelt, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991, S. 38f.

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Semler hat diese Angriffe Lavaters zum Anlaß einer ausführlichen Erwiderung genommen, die in seinem Buch Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenanten Urtheile über Hrn. C. R. Steinbarts System des reinen Christentums (Halle 1780) vorliegt. Darin weist er die erhobenen Beschuldigungen, einen „Deismus, Naturalismus und Indifferentismus" zu vertreten, als grundlos zurück und rügt, daß Lavater die als Abqualifizierung gedachte Zuordnung zu diesen Richtungen ohne „kenntliche Beweise" vorgetragen habe.169 Mit der eudämonistischen Philosophie des Gotthilf Samuel Steinbart (1738— 1809) hat Semler sich nicht identifiziert, beurteilt dessen System der reinen Philosophie oder der Glückseligkeitslehre des Christenthums110 aber freundlicher und günstiger als der Züricher. Wenn Lavater bemängelt, daß Steinbart die christologischen Aussagen und Vorstellungen des Neuen Testaments nicht vollständig wiedergegeben habe, so sei zu berücksichtigen, daß solche Vollständigkeit bei dem besonderen Zweck, den Steinbarts Buch verfolge, auch nicht erforderlich gewesen sei. Semler verteidigt die Freiheit der Bibelauslegung und zwar auch deijenigen neutestamentlichen Stellen, die Christum eine „Versöhnung" und ein „Opfer" nennen, wobei er offensichtlich auf die hermeneutische Möglichkeit anspielt, diese Aussagen im eigentlichen oder aber übertragenen Sinne zu verstehen.171 Zu einer persönlichen Begegnung zwischen Semler und Lavater ist es erst im Juli 1786 gekommen, als Lavater in Begleitung des Predigers Zollikofer auf seiner Deutschlandreise auch Halle besuchte. Die früher ausführlicher erörterten Themen der Dämonologie, des Exorzismus und der Wunderheilungen sowie der Christologie und Soteriologie sind dabei offenbar nicht erneut verhandelt worden. Gegenstand des Gesprächs waren andere Fragen, welche die individuelle Frömmigkeit, Publikationen in der Berlinischen Monatsschrift, Semlers Naturforschungen sowie Lavaters Interesse für Physiognomik und einen Semlers Profil darstellenden Kupferstich betrafen. Nach dem kurzen Besuch verabschiedete sich Semler mit einer von Lavater erbetenen Eintragung in dessen Tagebuch. Er wählte dazu den Vers von 1. Kor. 13,5: „die Liebe rechnet das Böse nicht zu."172 Die scharfen Angriffe, die Lavater von Zürich aus gegen den Hallenser gerichtet hatte, und die Differenzen, die in wichtigen theologischen Fragen fortbestanden, sollten nach Semlers Willen das persönliche Verhältnis möglichst nicht trüben und belasten. Die rasch niedergeschriebene und schon im folgenden Jahr publizierte umfangreiche Schrift Unterhaltungen mit Herrn Lavater, über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie (Leipzig 1787) sollte of169

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Semler, Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. R. Steinbarts System des reinen Christentums. Halle 1780, Vorrede, 1 S. vorb3. Gotthilf Samuel Steinbart, System der reinen Philosophie oder der Glückseligkeitslehre des Christenthums. Züllichau 1778, 2 1789. Semler, Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. R. Steinbarts System des reinen Christentums. Halle 1780, S. 164f. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 5.

fenbar dazu dienen, dem Züricher Erbauungsschriftsteller und um die Erhaltung des Christentums besorgten Seelsorger Semlers kritische Theologie verständlich zu machen. Sie wiederholt und variiert dogmatische Auffassungen und kirchenkritische Thesen, die Semler schon in früheren Werken vertreten hatte. Semler beruft sich auf Luther, um seine praktische Glaubensweise und liberale Theologie zu begründen. Seine Schrift ist aber auch deshalb von Bedeutung, weil sie ein eigenes dreigliedriges Glaubensbekenntnis enthält (S. 99-100), das freilich die in der Lutherischen Kirche geltenden Bekenntnisse nicht ersetzen oder verdrängen sollte.173 Semler sucht darzulegen, daß er unbeschadet der textkritischen Erkenntisse und einer unterschiedlichen Wertung neutestamentlicher Schriften, also der Bevorzugung der paulinischen Briefe und des Johannesevangeliums, an einer recht verstandenen Bibelautorität sowie an der reformatorischen These von der wesentlichen Klarheit der Heiligen Schrift festhalten wolle. Dies impliziere freilich die Zurückweisung der These, daß für die Hermeneutik und Schriftauslegung eine kirchliche Lehrinstanz allein zuständig sei und bestimmte Traditionen berücksichtigt werden müßten: Wie schön hatten unsere Vorfahren behauptet, die heil. Schrift ist deutlich, leicht in den elementaribus; sie ist daher die göttliche Regel des Glaubens und Lebens eines jeden gewissenhaften Christen! Daher hatten wir freilich keinen Papst, kein richterliches Ansehen der Kirche oder den besonderen Beistand der [...] ehedem aus lauter christlicher Freiheit aufgekommenen Traditionen, durch deren Sammlung man aber dieser Freiheit eine Ende machen wollte. Dürfen wir nicht den so kenntlichen Fußtapfen unserer Vorfahren folgen und immer weiter fortgehen?174

Es muß die Frage gestellt werden, ob das hier behandelte Semlerwerk seinen Titel zu Recht trägt. Denn streng genommen findet ein Dialog mit Lavater darin kaum statt. Mehr als die Hälfte der Ausführungen ist gar nicht dem Züricher, sondern der Auseinandersetzung mit einem anderen Autor gewidmet, nämlich dem schwedischen Visionär, Naturforscher und Theologen Emanuel Swedenborg (1688-1772), dessen Schrift Revision der bisherigen Theologie sowohl der Protestanten als Römischkatholischen ein Jahr zuvor (1786) in deutscher Übersetzung in einem Breslauer Verlag erschienen, aber in Halle gedruckt worden war. Der Übersetzer hatte sich nicht namendich zu erkennen gegeben. Die genannte Swedenborg-Schrift hatte Semler als dem amtierenden Dekan zur Zensur vorgelegen, der sie trotz erheblicher Bedenken passieren ließ.175

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Zur Interpretation dieses persönlichen Bekenntnisses vgl. jetzt Christofer Frey, Semlers Glaubensbekenntnis, in: Wolfgang E. Müller/Hartmut H. R. Schulz (Hg.), Theologie und Aufklärung. Würzburg 1992, S. 165-178. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 125. Ebd., S. 204. - Zu der umstrittenen Stellung Swedenborgs in der Aufklärung und Aufklärungstheologie vgl. vor allem die beiden Monographien von Ernst Benz, Swedenborg in Deutschland. Frankfurt/M. 1947 und Emanuel Swedenborg. Naturforscher und Seher. München 1948 sowie den neuerdings erstellten Überblick über die neuere Swedenborg-Forschung

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Es ist verständlich, daß Semler, dessen Anliegen die Bewahrung und Weiterführung der reformatorischen Lehrtradition gewesen ist, sich durch die genannte Swedenborg-Schrift herausgefordert fühlte und sie in ihren Hauptthesen zu widerlegen suchte. Denn sie bestand, wie Semler in seiner Vorrede erklärte, in einer „ganz vorsätzlichen Bestreitung der protestantischen ersten und größten Grundsätze von Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch ihren eigenen Glauben".176 Mit Hinweis auf die Confessio Augustana und Luthers Schmalkaldische Artikel betont Semler, daß die Reformatoren eine ,/echte geistliche Buße" und eine Verbindung von Glauben und Werken der Nächstenliebe gelehrt hätten und ihre Rechtfertigungslehre kein ,Arcanum", sondern eine öffentlich vertretene Lehre gewesen sei.177 Infolgedessen werden die gegen die reformatorische Rechtfertigungslehre gerichteten Behauptungen Swedenborgs als „grob unhistorisch" und als „beleidigend für unsere protestantischen Vorfahren" zurückgewiesen.178 Als sehr problematisch erscheinen aber auch Swedenborgs „Unterredungen mit Geistern" und „Engeln", seine willkürlichen Bibelerklärungen und seine eschatologischen Vorstellungen über „das neue Jerusalem". Da Semler offenbar keine Möglichkeit besaß, die vorliegende Übersetzung mit dem lateinischen Original zu vergleichen, sind ihm schließlich doch Bedenken gekommen, ob die unter Swedenborgs Namen vorgetragene Kritik an der protestantischen Rechtfertigungslehre, welche den unzutreffenden Vorwurf beinhaltet, daß in ihr weder Liebe noch gute Werke noch Sinnesänderung und ein Leben nach göttlichen Gesetzen gelehrt werde, tatsächlich von Swedenborg stammt. Denn abgesehen von Flacius habe unter den lutherischen Lehrern doch niemand von der Rechtfertigung so abgeschmackt geredet, sie widerfahre dem Menschen ohne sein Wollen und Denken; indem das ernstliche Verlangen und das geheimste unaufhörliche fortgehende Wünschen des Menschen selbst eingeschlossen wird, wenn die Rechtfertigung durch den Glauben gelehrt wurde. Es ist auch bei allen verständigen Christen eine ausgemachte Sache, daß die eigene Erfahrung und Praxis geradehin einem jeden Christen selbst gehört; daB es nicht Gott ist, der seine Sünden erkennt und moralisch widerruft [...] Ich muß auch dabei sein, sagte schon Luther. 179

Semler suchte also bei seiner Interpretation der reformatorischen Rechtfertigungslehre dem Drängen auf eigene Erfahrung und praktische Bewährung des Glaubens Rechnung zu tragen, wobei er zur Stützung seiner Argumentation auch auf Luthers Personalismus verweist.

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bei Harry Lenhammar, Swedenborgsbilden, in: Kyrkohistorisk ársskrift 1988. Uppsala 1988, S. 13-23. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. Vllf. Ebd., S. 416f. u. 426ff. Ebd., S. 263. Ebd., S. 338f.

14. Die Stellung im Fragmentenstreit Der Fragmentenstreit war entbrannt durch Lessings Herausgabe der angeblich in der Wolfenbütteler Bibliothek aufgefundenen und anonym publizierten Fragmente des Wolfenbütteischen Ungenannten. Ihr Autor war der Hamburger Gymnasialprofessor Hermann Samuel Reimarus (1694-1768).180 Insbesondere das 1778 herausgegebene Fragment Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger hatte großes Aufsehen erregt und eine Flut von Streitschriften und Entgegnungen ausgelöst. Die leidenschaftliche Erregung war verständlich. Denn der anonyme Autor hatte in seinen Fragmenten die These vertreten, daß Jesus nur ein Lehrer der jüdischen Religion gewesen sei und als politischer Messias die Absicht gehabt habe, das jüdische Volk von der römischen Fremdherrschaft zu befreien. Die apostolische Christusbotschaft von der Heilsbedeutung des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu Christi sei eine Erfindung und Verfälschung. Das kirchliche Christentum beruhe auf einem Betrug der Jünger und der Apostel. Die Zustimmung zu den radikalen Thesen des Ungenannten und seiner Betrugstheorie war im deutschsprachigen Protestantismus äußerst selten. Wo sie erfolgte, geschah dies wegen der staatlichen Zensurbestimmungen unter dem Deckmantel der Anonymität oder Pseudonymität und bisweilen mit erheblichen sachlichen Vorbehalten und Einschränkungen. In den ersten Stellungnahmen überwog bei weitem die scharfe Kritik, die deutliche Ablehnung und Zurückweisung. Daß die zeitgenössischen Reaktionen hauptsächlich in diese Richtung laufen würden, konnte Semler zwar vermuten, aber nicht wissen, als er an die Ausarbeitung seiner mehr als vierhundert Druckseiten umfassenden „Beantwortung" und „Widerlegung" des Wolfenbütteischen Ungenannten ging. Wie es seine Gewohnheit war, hat er auch diese Streitschrift innerhalb weniger Monate niedergeschrieben und sogleich veröffentlicht Die von Semler mit dem Verfasser der Fragmente geführte Auseinandersetzung ist auf weiten Strecken eine exegetische Kontroverse über die sachgemäße Interpretation alt- und neutestamentlicher Texte und die Frage, welche Folgerungen aus dem Wortlaut der Textaussagen für das Verhältnis der Predigt Jesu zur apostolischen Christusbotschaft zu ziehen sind. Die Betrugstheorie hat Semler entschieden zurückgewiesen und stattdessen die Kontinuität und sachliche Übereinstimmung der Reichgottespredigt Jesu mit der apostolischen Christusverkündigung behauptet. Das Christentum ist nach Semler seinem „Wesen" und „Hauptinhalt" nach keine Fortsetzung des Judentums, sondern eine neue, von Gott offenbarte, für alle Menschen geltende universale Religion, die als solche eine Überwindung von Judentum und Heidentum darstellt. 180

Zum Denken des Hermann Samuel Reimarus vgl. die sorgfältigen Analysen von Günter Gawlick, Reimarus und der englische Deismus, in: Karlfried Gründer/Karl Heinrich Rengstorf (Hg.), Religionskritik und Religiosität. Heidelberg 1989, S. 43-54.

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In seiner ausführlichen Beantwortung der Fragmente181 hat er nicht nur ein differenziertes Bild der urchristlichen Entwicklung gegeben, sondern auch seine schon früher vertretene These von der Glaubwürdigkeit der apostolischen Christusbotschaft verteidigt.182 Diese These wird modifiziert durch das Eingeständnis, daß in Einzelheiten der neutestamentlichen Berichterstattung Gedächtnisfehler und Irrtümer über die Chronologie und den historischen Ablauf von Ereignissen im Leben Jesu vorliegen können. Die Glaubwürdigkeitsthese wird durch dieses Zugeständnis aber weder aufgehoben noch entscheidend eingeschränkt. Denn die auf einer göttlichen Offenbarung beruhende christliche Religion und Wahrheit sind von den Fragen nach der historischen Korrektheit von Einzelheiten der neutestamentlichen Überlieferung und Berichterstattung relativ unabhängig. Für diesen Sachverhalt hat Semler konkrete Beispiele angeführt: Ob beide Schacher anfänglich Christum mit gespottet haben oder eigentlich und hartnäckiger Weise nur der Eine; ist für die wahre christliche Religion so unerheblich, als wenn es in dem einen Evangelio wäre verwechselt worden, welche Person von ihnen zur Rechten und Linken Jesu gekreuzigt worden. Viele hunderte solche Gedächtnis=Fehler kann man sich denken.183

Das gleiche gelte für die Berichte über den Ablauf der Osterereignisse. Auch hier komme es entscheidend allein auf die mehrfach bezeugte Heilswirklichkeit der Auferstehung Jesu an, während man in der neutestamendichen Berichterstattung über historische Einzelheiten und Umstände dieses Ereignisses eine große Freiheit bei den Jüngem und biblischen Autoren beobachten könne. Solche Freiheit sei auch deshalb verständlich, weil Evangelien und paulinische Briefe an unterschiedlich geprägte Gemeinden gerichtet seien. Mit dieser Argumentation weist Seniler die negativen Folgerungen zurück, die der ungenannte „Deist" aus den Differenzen und Widersprüchen der Osterberichte gezogen hatte: Die Auferstehung Jesu an ihr selbst gehört freilich mit zu den vornehmsten Hauptartikeln der christlichen Religion im Zusammenhange mit den Lehren Jesu; nicht aber die besonderen Umstände davon, die in den drei, vier Beschreibungen der Evangelien angetroffen werden. So hat Paulus 1. Kor. 15 zwar Zeugen der Auferstehung angeführt, aber keine einzige von den Frauenspersonen genannt, welche in den Evangelienbüchern geführt worden [sind], weil nämlich diese Weibspersonen jenen Lesern bekannt waren, zu Korinth aber sie niemand kannte.184

Die Differenzen und Widersprüche in den neutestamentlichen Berichten wecken bei Semler keinerlei Irritation oder Besorgnis, weil in den Quellen die Heilswirklichkeit 181 182

183 184

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Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, 2 1780. Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 90: „Der Umgang und die Lehrart Jesu unter den Juden ist historisch ganz gewiß; die Apostel waren die Zeugen, deren Glaubwürdigkeit außer allem ehrlichen Zweifel ist." Ebd., S. 57. Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 356. In der 2. Auflage ist der Text an dieser Stelle (S. 339) geändert, folgt aber der gleichen Argumentation: „Wir wollen aber diese einzelnen Umstände [...] ganz weglassen; wir behalten die Hauptsache; sie bezeugen alle, Jesus der diese geistliche Religion lehrete, ist auferstanden."

der Auferweckung Jesu einhellig bezeugt wird. Gegenüber den Fragen nach Reihenfolge, Ablauf und Einzelheiten der Ereignisse nimmt Semler mitunter eine Haltung ein, die bis an eine Vergleichgiiltigung des Historischen grenzt. An einer Biographie oder genauen Schilderung des Lebens Jesu ist er jedenfalls nicht interessiert. Daß Jesus in Bethlehem geboren, in Ägypten und Nazareth gewesen ist: das wissen alle Juden, Muhammedaner und damalige viele tausend Menschen, glauben es auch; aber es gehört nicht zum Christentum; es gehört zur äußerlichen Historie Jesu.18S

Die Konzentration der apostolischen Botschaft auf die durch Christus geschaffene Heilswirklichkeit bedingt schon im Neuen Testament ein auffälliges Desinteresse an biographischen Fragen: Die Apostel übergehen recht mit Fleiß die Geburt, Kindheit und häusliche Erziehung dieses Kindes; sie wissen gar nichts von Maria uns zu erzählen, weil dies alles uns eine äußerliche sinnliche [...] Denkungsart und Gemütsfassung beibringen würde.186

Semler hat seinen Widerspruch gegen die Position des Ungenannten bis in die letzten Lebensjahre aufrechterhalten. So 1786 mit einer knapp gehaltenen Erklärung, die den Eindruck erweckt, als habe es sich bei der Auseinandersetzung primär um Gegensätze in einem historischen Streit über das rechte Verständnis von Leben und Lehre Jesu gehandelt.187 In der Tat hatte Seniler dem Ungenannten eine „wissentliche Verfälschung der erweislichen Historie" Jesu Christi zum Vorwurf gemacht, dabei aber in Übereinstimmung mit dem neutestamentlichen Glaubenszeugnis vorausgesetzt, daß „Gott [...] diese Historie Jesu selbst veranstaltet hat",188 so daß Historie und Heilsgeschichte (Metahistorie) aufs engste miteinander verbunden sind. Infolgedessen bejaht Semler auch die seinshaften Aussagen der johanneischen Präexistenzchristologie sowie die Aussagen über die Sendung und Menschwerdung des Gottessohnes, der als „geistlicher Messias" ein Versöhner und Erlöser aller an ihn glaubenden Menschen ist. Der Ungenannte dagegen konnte in dieser historischen Gestalt Jesu von Nazareth nur einen „politischen Messias" erkennen, der im Kreuzestod mit seinen revolutionären Absichten gescheitert war, weswegen die Apostel die Auferstehungsbotschaft erdichteten. Die politische Deutung der Person Jesu von Nazareth, als habe sich dieser zum weltlichen König aufwerfen wollen, und die Umdeutung seiner Reichgottesbotschaft, als sei damit 185 186 187

188

Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten. Halle 21780, S. 365. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 246. Vgl. Semler, Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 229: „Viel zu weit verlief sich der Wolfenbütteische Ungenannte, um ja Original zu heißen; er schließt und vermutet; das können wir auch und bekommen von ihm keine Historie, so uns reizen könnte, unser Urteil von der Historie Jesu nun wegzuwerfen." Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 175f. [= Halle 2 1780, S. 166f.].

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ein irdisches Reich jüdischer Herrschaft über die Römer und Heiden gemeint gewesen, lehnt Semler als den Quellen widersprechend ab. Semlers Streitschrift gehört zu den sachlich bedeutsamen Entgegnungen, und was den Zeitpunkt anbelangt, zu den ersten Publikationen, mit der ein Vertreter der lutherischen Universitätstheologie auf das von Lessing herausgegebene Fragment Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger reagierte. Man wird weder, wie Wolfgang Kröger es getan hat, Semler unter die „kleineren Respondenten" einordnen können,189 denn dagegen spricht das sachliche Gewicht seiner „Beantwortung" und die Beachtung, welche dieselbe damals gefunden hat, noch mit William Boehart behaupten dürfen, daß „bis zum Ende der achtziger Jahre [...] jeder namhafte protestantische Theologe öffentlich Stellung zu dem Fragmentenstreit bezogen" habe.190 Denn diese Behauptung ist falsifizierbar. Von so prominenten Theologen wie dem Berliner Propst und Oberkonsistorialrat Johann Joachim Spalding (1714-1804) und dem Braunschweiger Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789) sowie einer Reihe von damals an den Universitäten lehrenden Theologieprofessoren liegen keine Stellungnahmen zum Fragmentenstreit vor. Richtig ist allerdings, daß dieser Streit über Lessings Tod hinaus bis zum Ende der 80er Jahre angedauert und zahlreiche Stellungnahmen provoziert hat. Im Vergleich mit der Position, die Semler vor dem Fragmentenstreit eingenommen hatte, ist seine Verteidigung der neutestamentlichen Berichte weder eine neuartige Apologie noch ein Rückfall in die Orthodoxie gewesen. Die These, daß die Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi nicht schon dadurch an Glaubwürdigkeit verliere, daß man in historischen Einzelheiten auch Fehler, Unstimmigkeiten und Widersprüche nachweisen könne, wäre auf der Grundlage der Verbalinspirationslehre und Diktattheorie unmöglich gewesen. In der Zurückweisung der Betrugstheorie des Wolfenbütteischen Ungenannten folgt Semler den Einsichten und Argumenten, derer er sich bereits in seiner lateinischen und deutschen Dogmatik (1774 bzw. 1777) bedient hatte und die in ihrer Einschätzung der neutestamentlichen Überlieferung stellenweise wie eine vorweggenommene Auseinandersetzung mit der Position des Reimarus anmuten: Es ist wohl kein Zweifel daran, daß von der neuen Lehre dieses Jesus, dem seine Anhänger den Namen Messias oder Christus nun beilegten, und von seinem ganzen öffentlichen Leben sehr viele mündliche Erzählungen sich sehr bald ausgebreitet haben; ehe es noch schriftliche Aufsätze davon gegeben hat. Auch der Inhalt dieser Erzählungen ist wohl nicht stets gleich gewesen, ohne daß deswegen alle Verschiedenheit sogleich zu Lügen und Erdichtungen gehören müsse.191

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Wolfgang Kröger, Das Publikum als Richter. Lessing und die „kleineren Respondenten" im Fragmentenstreit. Nendeln 1979. William Boehart, Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing). Schwarzenbek 1988, S. 392. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 130.

Entscheidende Differenzpunkte zur Position des Wolfenbütteischen Ungenannten liegen nicht erst und nicht nur in der unterschiedlichen Beurteilung historischer und dogmatischer Sachverhalte, sondern schon im Methodischen und in der Art der Interpretation der neutestamentlichen Quellen. Semler sucht die Grundsätze einer historischen Textinterpretation zu befolgen. Demzufolge ist dann bei jeder zu interpretierenden Schrift nicht nur nach der Authentizität, der Entstehungszeit und dem Entstehungsort zu fragen, sondern auch die Absicht festzustellen, die ein bestimmer Autor mit seiner Schrift verfolgt, sowie die Adressaten, an die sie gerichtet ist. Es kann nicht gleichgültig sein, ob judenchristliche oder heidenchristliche Gemeinden die Adressaten einer Schrift oder eines Briefes gewesen sind. An seinem Kontrahenten, dem Ungenannten, kritisiert Semler, daß er die Grundsätze einer historischen Textinterpretation nicht beachtet hat, sondern noch immer einer durch die Verbalinspirationslehre bestimmten Auffassung anhängt, welche die völlige Gleichartigkeit der neutestamentlichen Quellen voraussetzt und demzufolge auch annimmt, daß die Beschreibung und Berichterstattung des einen Evangeliums ebenso „wahr" sein müsse wie die des anderen Evangeliums.192 Auch bei diesen Grundsätzen und Methoden einer historischen Textinterpretation handelte es sich nicht um ad hoc aufgestellte Grundsätze, welche speziell für die Auseinandersetzung mit dem Ungenannten konzipiert waren, sondern um Überzeugungen, die Semler bei seiner kritischen Überprüfung der exegetischen und hermeneutischen Tradition schon früher gewonnen hatte.193

15. Die zeitgenössischen Pläne zur Vereinigung mit dem Katholizismus Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts gab es vereinzelt theologische Bestrebungen, welche eine Vereinigung der Lutherischen und Reformierten Kirche zum Ziele hatten. Der Tübinger Kanzler Christoph Matthäus Pfaff ist 1723 mit seinen Gesammelten Schriften zur Vereinigung der Protestanten in diesem Sinne hervorgetreten. Die lutherische und reformierte Orthodoxie, der es um die Bewahrung der ,/einen seligmachenden Lehre" ging, reagierte mit deutlicher Ablehnung. Nach ihrer Auffassung war die Zeit für eine Kirchenvereinigung bei weitem noch nicht reif. Aber auch Theologen, die sich den Strömungen der Aufklärung vorsichtig geöffnet hatten, zeigten Zurückhaltung. So erklärte der Göttinger Kanzler und Kirchenhistoriker Johann Lorenz von Mosheim auf Anfrage, daß an eine Union zwischen Lutheranern und Reformierten so lange nicht zu denken sei, als die Reformierten an den Beschlüssen der Dordrechter Synode festhielten.194 Der Streit 192

193 1M

Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 280 [= Halle 2 1780, S. 267], Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 175. Karl Heussi, Johann Lorenz Mosheim. Tübingen 1906, S. 97.

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über diese Frage dauerte an, weitete sich aus und verschärfte sich durch Stellungnahmen, zu denen sich auch schweizerische und niederländische Theologen herausgefordert fühlten. Eine veränderte Situation finden wir im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die Lehrunterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten waren zwar nicht überwunden, hatten aber im öffentlichen Bewußtsein an Bedeutung verloren und waren in den Hintergrund getreten. Im Zeichen einer gemeinsamen Verteidigung des Christentums gegenüber radikalen Angriffen hatte die Frage nach der Wünschbarkeit und Realisierbarkeit einer auch die römisch-katholische Kirche umfassenden Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen an Aktualität gewonnen. Zu diesen zeitgenössischen Plänen und Bestrebungen hat Semler sich in seinen Werken wiederholt geäußert. Am ausführlichsten ist dies in seinen 1783 erschienenen Freimütigen Briefen über die Religionsvereinigung der dreien streitigen Theile im römischen Reiche geschehen. Vorausgegangen war ein Ereignis, das in den neueren kirchengeschichtlichen Darstellungen kaum noch erwähnt wird, für die damalige Situation jedoch bezeichnend ist. Obwohl die zu Beginn des Jahrhunderts geführten Gespräche zwischen Leibniz und Bossuet erfolglos geblieben und gescheitert waren, wurde um 1770 erneut der Versuch zur Aufnahme von offiziellen Religionsgesprächen unternommen, die dem Zweck der Kirchenvereinigung dienen sollten. Die Initiative und Einladung ging von dem Turiner Kardinal de la Lance aus. Dieser wünschte sich einen kompetenten protestantischen Verhandlungspartner, hatte sich mit seiner Bitte aber nicht etwa an das Corpus Evangelicorum in Regensburg als der offiziellen Vertretung der evangelischen Stände gewandt, sondern auf dem Wege privater Vermittlung den Braunschweiger Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem für diese Aufgabe zu gewinnen versucht. Jerusalem lehnte aus verschiedenen Gründen ab, nicht zuletzt deshalb, weil er sich zur Aufnahme und Führung von offiziellen Religionsgesprächen durch die eigene Kirche gar nicht legitimiert wußte.195 Falls dem Kardinal an ernsthaften Verhandlungen über eine Kirchenvereinigung gelegen war, kann man ihm den Vorwurf kaum ersparen, bei seinen Unionsbemühungen etwas ungeschickt zu Werke gegangen zu sein, als er die entscheidenden Instanzen der Gegenseite überging und auf die Benennung offizieller Vertreter der Lutherischen und Reformierten Kirche verzichtete. Den Abt Jerusalem aber auf Grund eines privaten Vorschlags als Verhandlungspartner zu akzeptieren, mußte diesen in den Verdacht bringen, als besonders kompromißbereit zu gelten.

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Die näheren Umstände dieses gescheiterten Versuchs der Aufnahme offizieller Religionsgespräche zwischen der römisch-katholischen und der protestantischen Kirche sind rekonstruiert und dargestellt worden bei Gottfried Hornig, Hindemisse auf dem Wege zur Kirchen Vereinigung. Jerusalems Beitrag zum ökumenischen Gespräch der Aufklärungszeit, in: Wilfried Theilemann (Hg.), 300 Jahre Predigerseminar 1690-1990. Riddagshausen, Wolfenbüttel, Braunschweig. Wolfenbüttel 1990, S. 161-166.

Die Startschwierigkeiten führten jedoch bald zu weiteren Verwicklungen, die den eingeladenen Braunschweiger Abt Jerusalem betrafen. Dieser hatte in einer handschriftlichen Aufzeichnung die Chancen solcher Religionsgespräche sowie die Bedingungen wirklicher Kirchenvereinigung erörtert und zugleich zu begründen versucht, warum er der Bitte, sich als Gesprächspartner zur Verfügung zu stellen, nicht Folge leisten könne. Diese handschriftliche Ausarbeitung, von der es mehrere Abschriften gab, hatte Jerusalem Mitgliedern der Braunschweiger Regierung und einigen Freunden zugesandt. Durch die Unvorsichtigkeit oder Indiskretion eines Empfängers blieb der vertrauliche und private Charakter der Ausarbeitung jedoch nicht gewahrt, sondern gelangte als Raubdruck im Jahre 1772 unter dem Titel Von der Kirchenvereinigung ganz gegen Jerusalems Absicht an die Öffentlichkeit. Semler hat also spätestens seit 1772 - wenn nicht schon früher, seit dem Magdeburger Treffen im Sommer 1770 - Jerusalems Gedanken und Vorbehalte gegenüber den Plänen einer organisatorischen und rechtlichen Kirchenvereinigung mit dem Katholizismus gekannt. Er hat diese Bedenken seines Freundes in der Folgezeit eher verstärkt als abgeschwächt. Bezeichnend und aufschlußreich ist in dieser Hinsicht seine persönliche Stellungnahme, die aus dem Jahre 1774 stammt: Ich bin am wenigsten auf der Seite derjenigen Gelehrten oder eifrigen Christen, welche sich so leicht eine Kirchenvereinigung nicht nur einbilden, sondern sie auch als etwas Vorzügliches, als eine große Beförderung des wahren Christentums betrachten wollen. Das ganze Gegenteil halte ich vielmehr dafür.

Weil das Thema der Kirchenvereinigung von Protestantismus und Katholizismus in der zeitgenössischen Literatur eine gewisse Aktualität behielt und unter theologisch-dogmatischen, kirchenrechtlichen und religionspolitischen Aspekten erörtert wurde, hat Semler sich ihm 1783 in einer Monographie zugewandt. Wichtig ist dabei für ihn die Frage, ob die kirchengeschichtliche Entwicklung, die zur Ausbildung verschiedener christlicher Konfessionen geführt hat, als Fehlentwicklung zu verstehen oder nicht vielmehr als unterschiedliche Aneignung der christlichen Grundlehren zu begrüßen ist. Der gegenwärtig bestehende Zustand unterschiedlicher Konfessionen erleichtert die Gewissensentscheidung und fördert die Freiheit der inneren Religion, also der christlichen Privatreligion, weil die mündigen und selbständig denkenden Christen keinem Druck durch eine mächtige Einheitskirche ausgesetzt werden sollen. Der Gedanke einer unausweichlichen Individualisierung des Christentums durch persönliche Aneignung steht dabei im Zentrum von Semlers Überlegungen. Mit der vorgeschlagenen „NichtVereinigung" der christlichen Kirchen empfiehlt Semler die Beibehaltung ihrer organisatorischen, rechtlichen und bekenntnishaften Eigenständigkeit. Er bejaht und begrüßt ausdrücklich die neuzeit-

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Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1774, Vorrede b5.

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liehe Entwicklung zur „immer größeren Verschiedenheit der wirklichen wahren Christen".197 Konkrete Hinderungsgründe für den Vollzug der mancherorts erstrebten Kirchenvereinigung mit dem römischen Katholizismus sind nach Semlers Einschätzung die noch nicht überwundenen Differenzen und Gegensätze in der kirchlichen Lehre. Die katholische Seite huldige ihrem Traditionsprinzip und lehne es ab, dem protestantischen Grundsatz zuzustimmen, daß allein klare Schriftgründe für die Formulierung und Legitimität von Glaubenslehren maßgebend seien. Von daher ergebe sich aber eine ganz unterschiedliche Bewertung der Lehre von der Opfermesse, den Seelenmessen für Verstorbene, der Siebenzahl der Sakramente, der Anrufung der Heiligen, dem Ablaß und der Herrschaft des Papstes in der Kirche und über die Kirche. Für alle diese Lehren, Gebräuche und Ordnungen könnten aber keine überzeugenden Schriftgründe beigebracht werden. In der Tendenz der Religionsgespräche, die bestehenden Lehrdifferenzen durch Uminterpretation einzuebnen und zu verwischen, sieht Semler ein Täuschungsmanöver, welches den Eindruck erwecken soll, als könnten die Protestanten den „vielen groben Unrichtigkeiten in der [römisch-katholischen] Lehre" zustimmen.198 Wenn mancherorts in den damaligen Gesprächen und Verhandlungen die Ansicht bestanden haben sollte, man könne zur geplanten Kirchenvereinigung „unter Umgehung der Glaubensfragen" gelangen, so ist dies jedenfalls nicht die Ansicht gewesen, die Jerusalem und Semler damals vertreten haben.199 Weil Semler von der Schriftgemäßheit der reformatorischen Lehre überzeugt ist, auf römisch-katholischer Seite aber vorerst noch kein grundlegender Wandel in Lehre und kirchlich praktizierter Frömmigkeit erkennbar ist, verstärkt sich seine Skepsis im Blick auf die zeitgenössischen Pläne und Projekte zur Kirchenvereinigung. Dabei wird von ihm vorausgesetzt, daß einem rechtlichen oder organisatorischen Zusammenschluß der bisher getrennten Kirchen die Einigung über einen ge197 198

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Semler, Freimütige Briefe über die Religionsvereinigung. Leipzig 1783, S. lOlf. Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1778, S. 223 u. 324. Der katholische Historiker Karl Otmar Freiherr von Aretin hat die These vertreten, man habe damals den Versuch unternommen, „die Konfessionen unter Umgehung der Glaubensfragen zu einen"; vgl. ders., Die Unionsbewegungen des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß von katholischer Aufklärung, deutschem Protestantismus und Jansenismus, in: Elisabeth Kovács (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. München 1979, S. 206. Die These müßte m. E. korrigiert werden. Freiherr von Aretin argumentiert, ohne auf die für die protestantische Stellungnahme so wichtigen Schriften von Jerusalem und Semler einzugehen. Daß Jerusalems Schrift über die „Kirchenvereinigung" schon 1774 auf den Index der für die Katholische Kirche verbotenen Bücher gesetzt wurde, sollte heute aber kein Hinderungsgrund sein, ihr für die Darstellung der Unionsbemühungen des 18. Jahrhunderts die gebührende Beachtung zu schenken. Vielleicht darf man sagen, die Unionsbemühungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts scheiterten u.a. daran, daß die protestantische Seite die Klärung der Glaubensfragen und Lehrdifferenzen für unerläßlich ansah, die römisch-katholische Seite aber zu einer Änderung ihrer dogmatischen und kirchenrechtlichen Positionen in den umstrittenen Lehrfragen gar nicht bereit war.

meinsamen „Lehrbegriff' vorausgehen müsse. Solche Einigungsbemühungen scheitern immer wieder daran, daß die beiderseitigen Grundsätze über die normativen Erkenntnisquellen unvereinbar sind. Während die Protestanten das Schriftprinzip zur Geltung bringen und der Überzeugung sind, daß alle Glaubenslehren aus der Heiligen Schrift hergeleitet werden müssen und an dieser Quelle zu prüfen sind, lehrt der Katholizismus, daß neben der Heiligen Schrift auch den Konzilsbeschlüssen und kirchlichen Traditionen Verbindlichkeit zukomme. Dem reformatorischen Schriftprinzip läßt sich aber ein kirchliches Traditionsprinzip nicht hinzuaddieren.200 Infolgedessen hat auch nach Semlers Urteil die Kirchenvereinigung mit dem Katholizismus keine Aussicht auf Erfolg. Wollte man sie durchführen, obwohl die vorhandenen Lehrunterschiede, ja Lehrgegensätze weiterhin fortbestehen, müßte eine solche Vereinigung den Religionsfrieden und die Gewissensfreiheit gefährden. Sie ließe sich in einem mehrkonfessionellen Staat wie Preußen nur durch „Tyrannei" und „Intoleranz" bewerkstelligen.201 Es gibt nach Semlers Einschätzung und theologischer Überzeugung keinen Grund, an der Lehrgrundlage und Bekenntnisgebundenheit der Lutherischen Kirche irgendeine Veränderung vorzunehmen. Dies betont der Hallenser, obwohl er als historisch-kritischer Theologe jede Lehrgesetzlichkeit ablehnt und mit Nachdruck für die Freiheit einer allein an Gottes Wort gebundenen Privatreligion eintritt. In der Vorrede zu dem 1781 veröffentlichten dritten Band des Magazins für die Religion erklärt er in sachlicher Übereinstimmung mit früheren Äußerungen, aber doch mit überraschender Schärfe und Schroffheit: „Aber unser ganzes Kirchensystem als Inhalt der augspurgischen Confession und symbolischen Bücher im Unterschied von täglichen Betrachtungen und Anwendungen, kann gar nicht geändert oder aufgehoben werden".202 Es sind im wesentlichen drei Gründe oder Motive gewesen, welche Semler zu seiner entschiedenen Ablehnung der zeitgenössischen Kirchenvereinigungspläne veranlaßt haben: Erstens ist es die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, eine für den römischen Katholizismus und das Luthertum (bzw. den Protestantismus) gemeinsame Lehrgrundlage zu gewinnen, und zweitens ist es das religiöse Motiv, daß die 200

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In dieser Grundüberzeugung sümmt Semler mit seinem Lehrer und Freund Baumgarten überein, der für das Verfahren zur Erörterung der Streitigkeiten mit der römischen Kirche zwei Forderungen formuliert hatte: „1) daß von unserer Seite die Hinlänglichkeit des Gebrauchs der heil. Schrift und der richtigen Auslegung derselben zur Entscheidung der Glaubenslehren dargetan werde; 2) daß nicht nur die Unnötigkeit, sondern auch die erweisliche Unrichtigkeit aller anderweitigen Bestimmungsgründe oder Erkenntnisquellen göttlicher Wahrheiten von menschlichem Ansehen, der Überlieferung der Kirche [...] dargetan werde"; vgl. Siegmund Jacob Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1766, S. 745. Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 263: „Es ist Tyrannei, wenn man diese Gesellschaften durchaus vereinigen will und einen einigen Lehrbegriff für alle zu recht machen will. Diese Intoleranz ist jetzt sehr geschäftig unter der Gestalt der äußerlichen Vereinigung der Christen". Magazin für die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1781, Vorrede.

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Bestrebungen zur Kirchenvereinigung von dem ablenken, was für alle Christen ganz unabhängig von ihrer unterschiedlichen Konfessionszugehörigkeit die „Hauptsache" sein und bleiben müsse: die geistliche „Vereinigung mit Gott aus christlicher Erkenntnis und Neigung".203 Drittens schließlich gibt es noch ein gewichtiges kirchenrechtliches und zugleich politisches Motiv. Semler erkennt die Gefahr, die von der geplanten großen machtvollen Einheitskirche für die religiöse Toleranz und die Freiheit der christlichen Privatreligion ausgehen würde. Die Einheitskirche wäre ein „übergroßer kirchlicher Staat", und es sei nicht vorstellbar, „wie die bisherige unschätzbare Freiheit der inneren Religion alsdenn noch gewisser oder besser stattfinden und fortdauern könnte".204 Anders, kürzer und schärfer formuliert, lautet diese These: „Gerade diese äußerliche Einheit ist der Feind der inneren Religionsfreiheit und raubt ihr die beste Kraft".205 Was immer zugunsten der Kirchenvereinigungspläne angeführt werden mag, so überwiegen die Nachteile bei weitem die möglichen Vorteile eines rechtlichen und organisatorischen Zusammenschlusses der christlichen Konfessionskirchen zu einem einzigen „Religionskörper". Solche Vereinheitlichung ist weder notwendig noch wünschenswert. „Es braucht keine Einheit eines Religionskörpers; es braucht aber noch immer mehr eigene Freiheit der Leser der heiligen Schrift und der Liebhaber der christlichen geisüichen Religion".206

16. Die Amtsenthebung als Seminardirektor und die Stellung zur Bücherzensur An Semlers staatsloyaler Grundhaltung und preußisch-patriotischer Gesinnung besteht kaum ein Zweifel. Sein Universitätsstudium und fast seine gesamte akademische Lehrtätigkeit als Theologieprofessor in Halle fallen in die Jahrzehnte der Regierungszeit Friedrichs des Großen (1740-1786). Von daher liegt es nahe, Stellungnahmen zu wichtigen zeitgeschichtlichen Ereignissen zu erwarten, etwa zum zweiten Schlesischen Krieg, der Preußens Gebietszuwachs bestätigte, oder zu dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763), bei dem es um nicht weniger als um die Existenz Preußens ging. Aber weder findet sich nach den verlorenen und verlustreichen Schlachten ein Wort der Niedergeschlagenheit noch nach glänzenden Siegen des Königs und dem glücklichen Frieden von Hubertusburg (1763) eine Äußerung der Freude oder gar des patriotischen Überschwangs. Man könnte solche Zurückhaltung verstehen, wenn sie Folge einer gänzlich unpolitischen Haltung oder gar

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Semler, Freimütige Briefe über die Religionsvereinigung. Leipzig 1783, S. 183. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 210. Semler, Freimütige Briefe über die Religionsvereinigung. Leipzig 1783, S. 251. Ebd., S. XVI.

eines gegenüber Preußen kritisch eingestellten Reichspatriotismus gewesen wäre. Doch Neigungen, die in solche Richtung gehen, sind bei Semler nicht feststellbar. Der Aufstieg Preußens zu einer europäischen Großmacht hatte auch die Position des Protestantismus gestärkt, Österreich und die politischen Institutionen des Reiches aber geschwächt. Man darf mit gutem Grund vermuten, daß Semler diese Entwicklung, die sich in den beiden Jahrzehnten nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges deutlicher abzeichnete, begrüßt hat. Im Todesjahr des großen Königs (1786) fällt das Urteil über dessen Regierung uneingeschränkt positiv aus: „In den nächsten hundert Jahren wird kein Monarch in Europa sich so hoch erheben, daß er die Regierungskunst besser verstehen möge als König Friedrich von Preußen".207 Ausdrückliche Zustimmung findet die liberale und tolerante Religionspolitik des Königs, obwohl Semler dessen Skepsis und religiöse Indifferenz keineswegs teilte: ,»König Friedrich der zweite beschützte, wie jedermann weiß, alle seine christlichen Untertanen im freien Gebrauche ihrer Religionsrechte".208 Das ausgesprochene Lob und die uneingeschränkte Zustimmung zu den Grundsätzen der Regierungspolitik Friedrichs II. ruft eine gewisse Verwunderung hervor angesichts der Ereignisse, von denen Semler einige Jahre zuvor persönlich betroffen war. Denn in dem schweren Konflikt mit seiner vorgesetzten Behörde, dem Minister des geistlichen Departements, Freiherrn von Zedlitz, hatte Semler 1779 die Erfahrung machen müssen, daß die absolutistische Ausübung der preußischen Regierungsgewalt auch mit einer gewissen Willkür und Ungerechtigkeit verbunden sein konnte. Äußerer Anlaß des Konfliktes war die Absicht des Ministers, dem durch einen Beschluß des kaiserlichen Reichshofrates 1778 wegen seiner Bibelübersetzung aus dem Amt entlassenen und nach Preußen geflohenen Carl Friedrich Bahrdt die Stelle eines Privatdozenten an der Theologischen Fakultät der Universität Halle zu verschaffen. Die preußische Regierung handelte in dieser Angelegenheit wahrscheinlich in dem Bewußtsein, einer Kompetenzüberschreitung kaiserlicher Institutionen und Beschlüsse entgegentreten, und sich als Zufluchtsstätte für einen zu Unrecht Verfolgten bewähren zu müssen. Die Frage der Rechtmäßigkeit des kaiserlichen Vorgehens gegen Carl Friedrich Bahrdt ist in der Forschung noch nicht hinreichend geklärt. Gert Röwenstrunk schreibt in seinem Artikel über Bahrdt: „Eine Klage des Wormser Weihbischofs Victor von Scheben erreichte 1778 beim Reichshofrat Bahrdts Verurteilung wegen Ketzerei. Während Papst Pius VI. den Weihbischof lobte, warfen Juristen dem Reichshofrat Kompetenzüberschreitung vor."209 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß von den zwei angeforderten Universitätsgutachten über Bahrdts Lehre nur das der Katholischen 207

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Semler, Vorläufige Antwort auf eines Naturalisten unbillige Prüfung der vertrauten Briefe über die Religion. Halle 1786, S. 44f. Semler, Verteidigung des Königl. Edikts vom V" Jul. 1788. Halle 1788, S. 143. Gert Röwenstrunk, Art. .Bahrdt, Carl Friedrich', in: TRE. Bd. 5. Berlin/New York 1980, S. 132.

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Theologischen Fakultät in Würzburg (!), nicht aber das Gutachten der Lutherischen Theologischen Fakultät in Göttingen, den kaiserlichen Reichshofratsbeschluß in der Sache stützte. Beiden Fakultäten war die gleiche Frage zur Beantwortung vorgelegt worden: „Ob und wie weit die in dem Dr. Bahrdtischen Werk [Die neuesten Offenbarungen Gottes] aufgestellten Sätze eine von den dreyen im Römischen Reiche bestehenden Religionen abweichende Lehre enthalten?" Während das Würzburger Gutachten vom August 1778 solche Abweichungen bejahte, erklärte das gleichzeitig veröffentlichte und von D. Johann Peter Miller unterzeichnete Göttinger Gutachten, daß sich trotz einiger Fehler sowie unvorsichtiger und unanständiger Redensarten „aus der Bahrdtschen Übersetzung des Neuen Testaments noch immer die Hauptlehren des Christentums und von den drey im Römischen Reiche bestehenden Religionen angenommenen Glaubens herleiten lassen". Die beiden Gutachten stimmten also in ihrem Ergebnis nicht überein und gemäß dem Göttinger Gutachten wäre der gegen Bahrdt erhobene Ketzereivorwurf und das am 27. März 1779 ergangene kaiserliche Verbot zukünftigen Bücherschreibens in Religionssachen nicht berechtigt gewesen.210 Als die Aufforderung an die Theologische Fakultät in Halle erging, Carl Friedrich Bahrdt in ihren Reihen als Kollegen aufzunehmen und ihn als theologischen Lehrer wirken zu lassen, widersetzten sich Semler und seine Fakultät unter Berufung auf die Statuten der Universität dem Begehren des Freiherrn von Zedlitz. In dem ausführlichen Schreiben, das die Fakultät am 31. Juli 1779 an den Minister richtete, hat sie sich zu Freimütigkeit und Toleranz bekannt, aber auch betont, daß solche Haltung nicht in Leichtsinn und Gleichgültigkeit gegenüber den biblischen Wahrheiten und Normen evangelischer Theologie umschlagen dürfe. Das entscheidende Argument, das gegen die Aufnahme Bahrdts in die Reihen der Theologischen Fakultät vorgebracht wurde, war die Bindung dieser Fakultät an die Heilige Schrift und das Lutherische Bekenntnis: Dieser unser Beruf bringt es mit sich, nicht etwa nur die Verbreitung unmittelbar irreligiöser Grundsätze auf hiesiger Universität zu verhüten, sondern auch, wie es uns die allergnädigst erteilten Statuten der Friedrichsuniversität zur Pflicht machen, über die Lehren zu halten, die in der heiligen Schrift und nach ihr in der augspurgischen Confession begriffen sind.211

Der Minister erlitt mit seinem Vorhaben eine Niederlage. Er erreichte zwar, daß Carl Friedrich Bahrdt die venia legendi an der Universität Halle erhielt, aber wegen der erhobenen Einwände nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, innerhalb der Theologischen Fakultät. Bahrdt mußte seine Vorlesungstätigkeit auf den Bereich der Philosophie beschränken. Über den Widerstand der Theologischen Fakultät verärgert, entzog der Minister im Dezember 1779 Semler die Direktion des Theologi210

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Gutachten zweyer theologischen Facultäten der Wiirzburgschen und Göttingschen, auf allerhöchsten Befehl Sr. Kayserlichen Majestät über die Übereinstimmung Herrn D. Bahrdts zu Heidesheim, mit den reichsgesetzmäßigen Lehrsystemen ausgefertiget. Wien [?] 1779. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, Vorrede, 1 S. vorb.

sehen Seminars. Semler wurde so bestraft und persönlich für den Fakultätsbeschluß verantwortlich gemacht, der die Pläne des Ministers durchkreuzt hatte. Er verlor ein Amt, das ihm nach Baumgartens Tod (1757) übertragen worden war, das er mehr als zwanzig Jahre mit allgemeiner Anerkennung verwaltet und die Leitung eines Seminars, das er „aus einer kläglichen Verfassung zu einem sehr achtungswürdigen gelehrten Institut" für besonders begabte Studenten erhoben hatte.212 Die Amtsenthebung und ihre Begründung war zweifellos äußerst problematisch. Sie ist, wie Wilhelm Abraham Teller berichtet, von allen damaligen Mitgliedern des Berliner Oberkonsistoriums „mit lebhaftem Unwillen" registriert worden213 und wurde auch von einer Mehrheit der Hallenser Professoren als Unrecht empfunden.214 Die öffentliche Maßregelung durch die Amtsenthebung hat Semler und seine Familie schwer getroffen. „Mein gutes stilles Haus war einige Wochen lang in tiefster Betrübnis", so bekennt er in seiner Autobiographie.215 Aber er hat mit Zurückhaltung reagiert und sich auch in späteren Jahren zu keiner direkten Kritik an den Maßnahmen der Regierung hinreißen lassen.216 Wenn Semler schon ein halbes Jahr später, im Sommer 1780, zum drittenmal zum Prorektor der Universität gewählt wurde217 - und dies war das höchste Amt, das die Universität damals eigenständig zu vergeben hatte - , so darf man dies als Indiz dafür werten, daß er nach wie vor das Vertrauen seiner Hallenser Kollegen besaß, ja man kann darin sogar eine Solidaritätsbekundung der Universität mit dem Senior der Theologischen Fakultät erblicken.218 Um das gespannte Verhältnis zum 212

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So urteilt Semlers Fakultätskollege August Hermann Niemeyer, Leben, Charakter und Verdienste Johann August Nösselts. Halle/Berlin 1809, S. 37f. Wilhelm Abraham Teller, August Hermann Franke, Siegmund Jacob Baumgarten, Johann Salomo Semler, in: Berlinische Monatsschrift (Juli 1794), S. 34. Dies ergibt sich aus der Darstellung, die August Hermann Niemeyer, Leben, Charakter und Verdienste Johann August Nösselts. Halle/Berlin 1809, S. 36ff., aus eigener Erinnerung von diesem Vorgang gegeben hat. Der Minister von Zedlitz hatte sich, wie er später zugab, in der Person Carl Friedrich Bahrdts getäuscht, und Niemeyer tadelt dessen Fehleinschätzung im Jahre 1779: .Aber warum nahm es denn der Minister so übel, wenn die hiesigen Lehrer, nur etwas früher, eben so über Bahrdt urteilten? Warum muß dies nun durchaus odium theologicum heißen? Und warum denn Semler das Opfer werden?" Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, Vorrede. In einer knapp gehaltenen Erklärung, die vier Jahre nach dem Ereignis abgegeben wurde, heißt es: „Freilich ist sie bekannt diese Epoche seit dem Ende des Jahres 1779, da ich, wie gesagt, die Direktion des Seminarii verloren habe; das ist die Epoche, die bekannt ist, in der gelehrten Welt. Der ganze Zusammenhang der Dinge aber, ist mehr oder weniger bekannt; und es gehört zur Bescheidenheit, daß ich es nicht selbst bekannter zu machen mir zutraue"; vgl. Semler, Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 49. Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 256. Sowohl Ernst Bamikol als auch der Marburger Alttestamentier Otto Kaiser sprechen in ihren lesenswerten Beiträgen davon, daß Semler „dreimal"- nämlich 1762, 1771 und 1789 - zum „Rektor" der Universität Halle gewählt wurde; vgl. Ernst Barnikol, Johann Salomo Semler 1725-1791, in: 250 Jahre Universität Halle - Streifzüge durch ihre Geschichte in Forschung und Lehre. Halle 1944, S. 72; Otto Kaiser, Johann Salomo Semler als Bahnbrecher der modernen Bibelwissenschaft, in: Antonius H. Gunneweg/Otto Kaiser (Hg.), Textgemäß. Aufsätze

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Berliner Ministerium nicht zusätzlich zu belasten, hat Semler diese Wahl nicht angenommen. Daß er insgesamt viermal zum Prorektor gewählt wurde und dieses Amt dreimal ausgeübt hat, zeigt, daß er auch innerhalb der Universität eine geachtete und angesehene Stellung enrungen hat. Weder der Konflikt mit dem Berliner Ministerium noch das Unrecht, das man ihm angetan hatte, vermochten Semlers Wertschätzung der Regierung Friedrichs des Großen zu beeinträchtigen. Er blieb staatstreu und unterschied sich in dieser Haltung wohl kaum von der großen Mehrzahl der damals in Halle tätigen Professoren. Von geringfügigen Einschränkungen abgesehen, gilt dies auch für seine Stellung zur staatlich angeordneten Bücherzensur, deren Bestimmungen er als Hallenser Professor zu befolgen hatte. Die heutzutage in demokratischen Ländern anerkannte Meinungs- und Pressefreiheit bestand im Zeitalter des Absolutismus noch nicht. Vielmehr galt damals die Bücherzensur als ein legitimes Mittel, die Bevölkerung vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Sie war eine fest verankerte staatliche Institution, deren Grundbestimmungen für alle Territorien des Deutschen Reiches, und damit für alle Autoren, Verleger und Buchhändler, verbindliche Geltung besaßen.219 Aus dem übergeordneten Reichsrecht erklärt es sich, daß selbst im aufgeklärten Preußen Friedrichs des Großen am 11. Mai 1749 und am 1. Juni 1772 Zensur-Edikte erlassen und eine Bücherzensur praktiziert wurden. Durch den Nachfolger Friedrichs des Großen, König Friedrich Wilhelm II., kam es noch während der Amtszeit Semlers zu einem dritten Zensur-Edikt für die preußischen Staaten, das am 19. Dezember 1788 mit seiner Veröffentlichung in Kraft trat. In ihm wurde auch „die Absicht der Censur" näher erläutert: Die Absicht der Censur ist keineswegs, eine anständige, ernsthafte und bescheidene Untersuchung der Wahrheit zu hindern oder sonst den Schriftstellern irgendeinen unnützen und lästigen Zwang aufzulegen, sondern nur vornehmlich demjenigen zu steuern, was wider die allgemeinen Grundsätze der Religion, wider den Staat und sowohl moralischer und bürgerlicher Ordnung entgegen ist oder zur Kränkung der persönlichen Ehre und des guten Namens anderer abzielt.

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und Beiträge zur Hermeneutik des Alten Testaments. Göttingen 1979, S. 59-74 [= ders., Von der Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments. Göttingen 1984, S. 79-94], Diese Angabe ist jedoch, was die Anzahl der erfolgten Wahlen und die Amtsbezeichnung anbelangt, nicht ganz korrekt. Denn gewählt wurde Semler in dieses höchste Amt auch 1780, also insgesamt viermal. Die offizielle Amtsbezeichnung war während der Regierungszeit Friedrichs des Großen (1740-1786) und auch seines Nachfolgers die eines „Prorektors", weil in dieser Phase des Absolutismus der Preußische König „Rektor" aller Universitäten seines Landes war. Zu korrigieren ist daher auch meine eigene Angabe: vgl. Johann Salomo Semler, in: Martin Greschat (Hg.), Die Aufldärung. Stuttgart 1983, S. 277. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496-1806). Karlsruhe 1970. Erneutes Censur-Edikt für die Preußischen Staaten, exclusive Schlesien. Zit. nach: Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1789. 12. Jg. Gießen 1789, S. 454.

Absichten und Zweck, die mit der Bücherzensur verfolgt wurden, hatten sich im Laufe der Zeit verändert. Denn die ursprüngliche Hauptabsicht lag in der Erhaltung der Glaubenseinheit des Reiches und in der Abwehr aller Einflüsse, welche die „wahre" und allein seligmachende katholische Religion gefährden konnten. Seit dem Westfälischen Frieden mußte jedoch die Parität der , Augsburgischen Konfessionsverwandten", der Lutheraner und Reformierten, beachtet werden. Daher trat nun die Begrenzung der konfessionellen Polemik und die Erhaltung des Religionsfriedens als staatspolitisches Ziel stärker in Erscheinung. Die Bücherzensur galt ferner dem Schutz der Herrscherhäuser vor Schmähschriften und herabsetzender Kritik sowie der Erhaltung der sittlichen Ordnung. Während in den katholischen Reichsländern zusätzlich noch eine Kirchenzensur bestand, die mit dem index librorum prohibitorum ein effektives Instrument besaß, trat in den protestantischen Territorien die Kirche nur indirekt durch Konsistorien und in Einzelfällen durch das Corpus Evangelicorum in Regensburg als Bücherzensor auf. Die staatlich angeordnete Bücherzensur galt für alle Druckerzeugnisse und war als Vorzensur die Prüfung von Manuskripten vor ihrer Drucklegung und als Nachzensur die Kontrolle der bereits gedruckten und im Handel befindlichen Bücher. Auch die Kontrolle von Buchimporten aus dem Ausland war vorgesehen. Die Zensur-Edikte und Buchdruckordnungen sollten sicherstellen, daß der für jede Druckschrift Verantwortliche ermittelt und festgestellt werden konnte, daß das Buch ordnungsgemäß der Zensur vorgelegen hatte. Von den für Preußen geltenden Zensurbestimmungen hatte Friedrich der Große in seinem Edikt vom 11. Mai 1749 nur die Bücher und Schriften der Berliner Akademie der Wissenschaften ausgenommen, die Universitäten dagegen für ihre Publikationen zur Selbstzensur verpflichtet.221 Für die geplanten Veröffentlichungen der Universitätsprofessoren galt also keine Ausnahmeregelung, sondern diese mußten ihre Manuskripte dem amtierenden Dekan zur Zensur vorlegen. Ähnlich wie in anderen protestantischen Territorien waren auch in Preußen die Theologischen Fakultäten für die Druckgenehmigung von Manuskripten zuständig, die religiöse oder theologische Themen behandelten. Eine Beanstandung von bereits gedruckten Büchern war damit nicht ausgeschlossen.222 Die Praxis der Selbstzensur Theologischer Fakultäten für ihre eigenen Publikationen war solange problemlos, wie in dogmatischen Fragen unter ihren Mitglie-

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Zum Wortlaut des Zensuredikts Friedrichs des Großen vom 11. Mai 1749 vgl. Heinrich Hubert Houben, Der ewige Zensor. Kronberg/Ts. 1978, S. 148f. Ein literaturwissenschaftlich interessanter Fall wird aus den Akten der Leipziger Theologischen Fakultät berichtet. Demzufolge beantragte am 28. Januar 1775 der amtierende Dekan G. Wustmann bei der kurfürstlichen Bücherkommission das Verbot von Goethes Leiden des jungen Werthers mit der Begründung, daß diese Schrift eine .Apologie und Empfehlung des Selbstmordes" enthalte und damit als Gefährdung der sittlichen Ordnung zu betrachten sei. Vgl. Otto Kirn, Die Leipziger Theologische Fakultät in fünf Jahrhunderten. Leipzig 1909, S. 172.

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dem Einigkeit bestand. Gerade dies war aber in Halle seit den 30er Jahren nicht mehr der Fall. Die geltenden Zensurbestimmungen wurden 1736 von pietistischen Fakultätsmitgliedern - vor allem von Johann Joachim Lange und Gotthilf August Francke - als Mittel benutzt, um Siegmund Jacob Baumgarten, der sich dem Wolffianismus genähert hatte, zu maßregeln und wieder auf die pietistische Generallinie zu zwingen. In den entstandenen Konflikt hat der preußische König Friedrich Wilhelm I. persönlich eingegriffen, indem er den Hallenser Theologieprofessoren befahl, „für ihre Schriften die Zensur der Fakultät nachzusuchen und jedefn] öffentliche[n] Angriff untereinander" zu unterlassen.223 Vergleicht man die zustimmende Haltung, die Semler zu Beginn seiner Hallenser Lehrtätigkeit gegenüber der staatlich angeordneten Bücherzensur eingenommen hat, mit seinen Äußerungen aus den 80er Jahren, so scheint eine Änderung eingetreten zu sein. Das positive Urteil von 1760, wonach die Bücherzensur ganz generell als eine „gute Ordnung" zu betrachten sei,224 wird in späterer Zeit, nachdem Semler als Dekan wiederholt mit Entscheidungen in Zensurfragen befaßt war, nicht mehr wiederholt. Stattdessen werden nun Bedenken geäußert, ohne daß klar ersichtlich wäre, was diese Änderung in der Beurteilung veranlaßt hat. Vielleicht trifft die Vermutung zu, daß die Umgehung der Zensurbestimmungen durch anonyme Veröffentlichungen nun häufiger als früher auftrat und in dem relativ liberalen Preußen ohne entsprechende Nachforschungen und Sanktionen stillschweigend geduldet wurde. Wenn aber auf die Einhaltung der Zensurbestimmungen nicht mehr geachtet wurde, dann war auch die Mühe der Zensoren vergeblich. In der Tat zeigten sich gegen Ende der friderizianischen Herrschaft hinsichtlich der Bücherzensur solche Auflösungserscheinungen.225 An mehreren Einzelfällen läßt sich belegen, daß sich in Preußen, aber auch in Freien Reichsstädten wie Frankfurt am Main, um 1780 die Tendenz zur Umgehung und Nichtbeachtung der geltenden Zensurbestimmung verstärkt hatte. Anonyme Veröffentlichungen, die heterodoxe Ansichten verbreiteten, nahmen zu. Ein solcher Fall betraf den berüchtigten Fragmentenstreit, der nach Lessings Tod (1781) dadurch weiter angefacht wurde, daß ungeachtet des Verbots durch die Braunschweiger Regierung die Fragmente des Ungenannten vom Zwecke Jesu und seiner Jünger von einem Berliner Verlag nachgedruckt wurden. Ein zweiter Fall war der anonym und mit einer fiktiven Ortsangabe ( „ H ä r e s i o p e l , i m Verlag der Ekklesia pressa") erschienene Kirchen- und Ketzeralmanach aufs Jahr 1781, eine Schmähschrift, die zahlreiche herabsetzende Urteile und ironische Bemerkungen über da223

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Zit. nach: Wilhelm Schräder, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Teil 2. Berlin 1894, S. 293 u. 462f.; vgl. auch Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. Göttingen 1974, S. 48f. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 247. Hans-Jürgen Schräder spricht davon, daß „gegen Ende des 18. Jahrhunderts die theologische Zensur auf breiter Front immer mehr versagte." Vgl. ders., Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Göttingen 1989, S. 123.

mais noch lebende Theologen und Kirchenmänner (z.B. Ernesti, Goeze, Herder, Johann Nicolaus von Hontheim, Lavater, Piderit und Semler) enthielt. Ihr Autor war Carl Friedrich Bahrdt. Ein dritter Fall betraf ganz unmittelbar die Theologische Fakultät in Halle, welche einem zur Zensur eingereichten Manuskript die Druckgenehmigung versagt hatte, was den Autor aber nicht hinderte, das Buch anonym unter dem Titel Freymiithige Betrachtungen über das Christentum 1780 in einem Berliner Verlag erscheinen zu lassen.226 Ein vierter Fall ist die Klage seiner Kaiserlichen Majestät an den Magistrat der Reichsstadt Frankfurt am Main darüber, daß das vom Dr. Bahrdt verfaßte sehr gefährliche und anstößige Buch unter dem Titel: die Lehre von der Person und dem Amte unsers Erlösers in Predigten, bereits im Jahre 1775 zu Frankfurt bey den Eigenbergischen Erben ohne Zensur und obrigkeitlicher Begnehmigung verlegt

und „solches strafbare Vergehen" vom Magistrat bisher nicht geahndet worden 227

sei. Mit dieser Aufzählung einiger signifikanter Einzelfälle soll es sein Bewenden haben. Sie wurden erwähnt, weil sie eine Tendenz verdeutlichen und zu erklären vermögen, warum der ältere Semler Mitte der 80er Jahre im Unterschied zu seiner früheren Haltung die Praxis der staatlich angeordneten Bücherzensur kritischer betrachtet. Durch die relativ liberale Religionspolitik des friderizianischen Preußen, die Verhältnisse in den freien Reichsstädten und anderen protestantischen Territorien war die Bücherzensur ineffektiv geworden. Semler erklärt 1784, daß er in der Bücherzensur „keinen Vorzug oder würdige Erleichterung der christlichen Religion" erblicken könne. Nun mag man gegen Semler einwenden, daß solche „Erleichterung" von den staatlichen Zensurbestimmungen gar nicht beabsichtigt war, weil diese lediglich die öffentliche Herabsetzung und Verunglimpfung der christlichen Religion verhindern, die konfessionelle Polemik begrenzen und den Religionsfrieden unter den christlichen Konfessionen bewahren sollten. Die zum Dekanat gehörende Aufgabe des Zensors hat Semler pflichtgemäß weiterhin ausgeübt, aber die Prüfung der eingereichten Manuskripte offenbar als zeitraubende und beschwerliche Angelegenheit empfunden. Er verweist auf die Möglichkeit, daß man sich der schwierigen Entscheidung, ob die Druckerlaubnis zu erteilen oder zu verweigern sei, auch entziehen könne. „Es steht mir auch noch frey, eine Schrift lieber gar nicht zu censieren und sie anderen Censoren zu überlassen".228 Prinzipielle Einwände gegen die Bücherzensur hat Semler jedoch nicht erhoben und trotz 226

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Eine Rezension dieses Buches findet sich im Journal für Prediger. Bd. 11. Halle 1780, S. 353ff. Unterzeichnet ist dieses Kaiserliche Schreiben vom 26. März 1779 durch den Wiener Reichshofrat Ignaz von Hofmann. Es ist abgedruckt im Anhang zu den vom Kaiserlichen Reichshofrat in Auftrag gegebenen Gutachten zweyer theologischen Facultäten der Würzburgschen und Göttingschen [...] über die Übereinstimmung Herrn D. Bahrdts zu Heidesheim, mit den reichsgesetzmäßigen Lehrsystemen ausgefertiget. Wien [?] 1779, S. 55. Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 8f.

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seines energischen Eintretens für „die Freiheit im Denken" nirgends ihre Abschaffung gefordert.

17. Der Kommentar zur Cusanusschrift De pace fidei Ein Interesse für die theologisch-philosophischen Schriften des Cusaners ist bei Semler schon zu Beginn der 70er Jahre feststellbar. Denn im zweiten Band seiner Kirchengeschichte bietet der Hallenser ein relativ ausführliches Referat von Grundgedanken und bemerkenswerten Einsichten des Kardinals, auf welche die Leser hingewiesen werden. Schon hier lenkt Semler die Aufmerksamkeit auf die Schrift De pace fidei, weil sie „unleugbar viel Wahres" enthält.229 Das Empfinden, daß diese Cusanusschrift eine Bedeutung für die zeitgenössische politische und theologische Debatte über die Bestrebungen zur Ausweitung der bestehenden Toleranz und zur Vereinigung der getrennten christlichen Konfessionen gewinnen könnte, hat Semler dann dreizehn Jahre später bewogen, eine deutsche Übersetzung dieser Cusanusschrift in Auftrag zu geben. Sie erschien 1787 in Leipzig unter dem Titel Des Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogus von der Uebereinstimmung oder Einheit des Glaubens und ist von Semler mit einer Einleitung und kritischen Anmerkungen versehen worden. Cusanus hatte seine Friedensschrift einst unter dem unmittelbaren Eindruck der Kunde von der Eroberung Konstantinopels durch die Türken niedergeschrieben und im September 1453 veröffentlicht. Für Semler tritt dieser historische Anlaß in den Hintergrund. Um so wichtiger erscheint ihm die mit dem Gottesgedanken verbundene Vorstellung von der Unendlichkeit der Wahrheit und die Möglichkeit einer Religionsvereinigung bei gleichzeitigem Fortbestehen unterschiedlicher Riten und Gebräuche. Mit dem letztgenannten Gedanken greift Semler das zentrale Anliegen des Cusaners und dessen Formel von der una religio in rituum varietate auf, auch wenn er gegen die Tendenz des Kardinals, die erstrebte una religio ganz im Sinne päpstlicher und römisch-katholischer Vorstellungen zu deuten, Bedenken und Einwände anmeldet. Aber schon der Umstand, daß die Cusanusschrift mit ihren Anliegen, Argumenten und Vorschlägen den Theologen und Gelehrten des 18. Jahrhunderts weitgehend unbekannt war, ist offenbar der entscheidende Anlaß gewesen, sie mit einem Kommentar versehen neu herauszugeben. Die Schrift des Cardinal Cusanus muß sehr unbekannt sein, da niemand in unserer Zeit sich darauf berufen hat, da man doch soviel von Einer Religion schreibt und redet. Vielleicht lasse ich sie deutsch drucken. Es ist immer eine nützliche Lektüre, wenn man dazunimmt, daß dieses in dem 15. Jahrhunderte, hundert Jahre wohl vor der Reformation geschrieben wurde.230

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Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1774, S. 172. Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 206.

Seniler hat den Cusaner nicht zu einem Vorläufer des Protestantismus oder der philosophischen Aufklärung stilisiert, aber er sieht in dem Kardinal doch einen Vertreter der Toleranz, der mit seiner Vision einer Religionskonferenz, die aus Vertretern von siebzehn Nationen besteht, den Frieden unter den Religionen herbeiführen will. Die Cusanusschrift verdient Lob und Anerkennung, weil in ihr die „Einheit aller Religionen" so begründet wird, „daß Gott selbst, wie in einem himmlischen Concilio, den Persern, Scythen, Arabern, Griechen etc. es ganz umständlich erklären und dartun ließ, sie kämen alle in der Hauptsache, in innerer Religion, in Gesinnung gegen Gott überein".231 Wenn es um die Mitte des 15. Jahrhunderts schon die Konfessionen der Lutheraner, der Calvinisten, der Sozinianer und Arminianer gegeben hätte, so hätte sie der Cusaner - dies ist Semlers Überzeugung - „an dieser so brüderlichen und freundschaftlichen Unterredung" sicher teilnehmen lassen. Denn die Lehrdifferenzen zu den Protestanten sind sehr viel geringer als zu den Vertretern nicht-christlicher Religionen. Daher hätte auch das Urteil über den Glauben der Protestanten „viel gelinder" ausfallen müssen.232 Eine ungeteilte Zustimmung findet die Cusanusschrift freilich nicht. Unbeschadet der Wertschätzung, die Semler der toleranten Haltung des Kardinals zuteil werden läßt, hebt er doch deutlich die konfessionellen Bedingtheiten und Begrenzungen in dessen Denken hervor. Wenn große Anstrengungen unternommen werden, eine Vereinigung der verschiedenen Relgionen zustande zu bringen oder zumindest als möglich erscheinen zu lassen, so geschieht dies doch stets unter der unausgesprochenen Prämisse, daß der Führungs- und Herrschaftsanspruch der bestehenden Katholischen Kirche gewahrt bleibt und schließlich auch dort zur Anerkennung gelangt, wo dies bisher noch nicht der Fall war. Daher stellt sich die Frage, ob die fremden, nicht-christlichen Religionen und Glaubensüberzeugungen in ihrer Besonderheit und Eigenart wirklich ernst genommen werden. Der Cardinal scheint übrigens bei seinem Vorhaben, ein einziges unveränderliches Religionssystem zu empfehlen, seiner eigenen Kirche mehr ergeben zu sein, welche mit allerlei Arten der Anschließung an diese katholische Kirche zufrieden ist, damit sie nur den Singularis gewiß behält, sie ist die Kirche.233

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Ebd., S. 208. Vgl. Semlers Vorrede zu: Des Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogus von der Uebereinstimmung oder Einheit des Glaubens. Leipzig 1787. - Einen sachkundigen Überblick über die neuzeitliche Rezeptionsgeschichte, der auch auf Semlers Kommentiening der Cusanusschrift De pace fidei eingeht, bietet Günter Gawlick, Zur Nachwirkung cusanischer Ideen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, in: Nicolò Cusano agli inizi del mondo moderno. Facoltà di Magistero dell'Università di Padova XII. Firenze 1970, insb. S. 239. - Vgl. femer Wolfgang Heinemann, Einheit in Verschiedenheit. Das Konzept eines intellektuellen Religionenfriedens in der Schrift „De pace fidei" des Nicolaus von Kues. Altenberge 1987, insb. S. 97ff. Vgl. Semlers Vorrede zu: Des Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogus von der Uebereinstimmung oder Einheit des Glaubens. Leipzig 1787, S. 46.

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Das Eintreten für religiöse Toleranz wäre nach Semlers Urteil wirkungsvoller und überzeugender gewesen, wenn der Kardinal sich von der dunklen Vergangenheit seiner eigenen Kirche eindeutig distanziert hätte, wenn er den „so unchristlichen Geist der Verfolgung" und „das abscheuliche Inquisitionsgericht" angegriffen hätte.234 Ebenso wie der Cusaner vom Toleranzgedanken geleitet, plädiert Semler für die rückhaltlose Anerkennung der auch unter Christen bestehenden Verschiedenheit der Glaubensüberzeugungen. Sie zu eliminieren könne nicht das Ziel der geplanten und erwünschten Religionsvereinigung sein. Das mit der inneren Religion verbundene Wachstum in der Gottes- und Heilserkenntnis darf nicht durch das starre Festhalten an den Lehren einer Kirchenreligion begrenzt oder behindert werden. Widersprochen werden muß daher der Behauptung, daß die Kirchenreligion unveränderlich sei und bleiben müsse. Semler sieht in einer solchen Behauptung „eine Quelle der Intoleranz" und „den Samen einer ganz falschen Religion", welche den großen Begriff von der Unendlichkeit Gottes, welcher der Gott aller Menschen ist, und auch die unumgängliche Ungleichheit der Menschen und Christen verkannte. Die Forderung, hinsichtlich der Glaubensvorstellungen und hinsichtlich der Bibellektüre Freiheit zu gewähren, muß allerdings nicht nur an die Adresse der mächtigen Papstkirche, sondern auch an die von der Orthodoxie geprägten protestantischen Lehrer und Theologen gerichtet werden. Der vorhandene religiöse und theologische Pluralismus darf nicht zugunsten einer erzwungenen Lehreinheit und Kircheneinheit beseitigt werden. Vielmehr muß die Kircheneinheit so verstanden und bestimmt werden, daß ihr Charakter als „geistliche Einheit", spiritualis unitas, erhalten bleibt. Für dieses Verständnis der Kircheneinheit hat sich Semler auf Melanchthons Apologie der Confessio Augustana berufen.

18. Die Verteidigung des Wöllnerschen Religionsedikts Schon bald nach seinem Amtsantritt hatte der preußische König Friedrich Wilhelm II. durch seinen Minister Johann Christoph von Wöllner (1732-1800) ein neues Religionsedikt ausarbeiten lassen und am 9. Juli 1788 in Kraft gesetzt.235 Die in den preußischen Staaten geltende Toleranz und Gewissensfreiheit sollte erhalten bleiben. Die Angehörigen der verschiedenen christlichen Konfessionen wurden zu einem friedlichen und brüderlichen Umgang miteinander aufgerufen, und aus diesem Grunde wurde auch „das Proselytenmachen", d.h. das Abwerben von Angehörigen 234

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Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 206. Der Text des Religionsedikts findet sich in einer photomechanischen Wiedergabe der Erstveröffentlichung bei Walter Elliger (Hg.), Die Evangelische Kirche der Union. Ihre Vorgeschichte und Geschichte. Witten 1967, Dokumente: S. 188-192.

anderer Konfessionen, verboten. Die protestantischen Geistlichen wurden ermahnt, sich bei ihrer öffentlichen Verkündigung in Predigt und Unterricht nach den Bekenntnisschriften ihrer Konfession zu richten und „nicht die elenden, längst widerlegten Irrtümer der Socinianer, Deisten, Naturalisten und anderer Sekten mehr wiederum aufzuwärmen" (§ 7). Die Bibelautorität, d.h. das Ansehen der Bibel als des geoffenbarten Wortes Gottes, sollte nicht herabgewürdigt werden. Dies waren einige der wesentlichsten Bestimmungen des Religionsedikts, mit denen die konfessionsauflösenden Tendenzen einer radikalen Aufklärung eingedämmt werden sollten. Das neue preußische Religionsedikt von 1788 wollte diesen Tendenzen durch Bindung der Religionsparteien an die geltenden Bekenntnisse entgegenwirken. Es hat, wie aus zahlreichen zeitgenössischen Publikationen zu entnehmen ist, ein lebhaftes Echo in Zustimmung und Kritik gefunden.236 Seine Aufnahme ist bei Lutheranern und Reformierten ursprünglich keineswegs so ungünstig gewesen, wie man aufgrund späterer kirchengeschichtlicher Darstellungen und Einschätzungen des 19. Jahrhunderts vermuten könnte.237 Es wurde ursprünglich auch nicht mit jenem Ministernamen bezeichnet, der sich später eingebürgert hat, sondern gemäß der Instanz, die es erlassen und in Kraft gesetzt hatte, „Königlich Preußisches Religions-Edict" genannt. Es war vom König und drei Mitgliedern seiner Regierung unterzeichnet: dem Großkanzler von Carmer, dem Minister von Dörnberg und dem Minister von Wöllner. Semler hat dieses Religionsedikt begrüßt und in seinem Anliegen verteidigt. Er bejaht die mit der Amtsübertragung vollzogene Bekenntnisbindung der Geistlichen und sieht in dem neuen Edikt keine Einschränkung der „Freiheit im Denken und in Religionssachen".238 Die Legitimität der Lehrverpflichtung als Verpflichtung der Geistlichen auf die Symbolischen Bücher will Semler schon wegen des Primats der Schriftnorm nicht lehrgesetzlich verstanden wissen. Sie beinhaltet keine strikte Bindung an den Wortlaut der einzelnen Artikel, sondern an den „Sinn" und „Lehrbegriff' der geltenden lutherischen Bekenntnisschriften, die ebenso wie die Heilige Schrift der Interpretation bedürfen. 239

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Einen ersten Überblick bieten die umfangreichen Sammelrezensionen, die unter den Titeln „Schriften über das Königl. Preußische Religions-Edict" bzw. „Schriften für und wider das K. Preußische Religions-Edict" enthalten sind, in: Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1789. 12. Jg. Gießen 1789, S. 1-115, S. 281-309, S. 405-453, S. 700ff.; Die neuesten Religionsbegebenheiten [...] ßr das Jahr 1790. 13. Jg. Gießen 1790, S. 48-72, S. 79-95. Von enthusiastischer Zustimmung ist der einzige Beitrag, den das Journal für Prediger. Bd. 22. Halle 1789, S. 57ff. unter dem Titel Eines Ausländers Bemerkungen über den Ton in dem Preußischen Religionsedict (Brief vom 20. Juli 1789) zum Abdruck gebracht hat. Semler, Vertheidigung des Königl. Edikts vom 9"" Jul. 1788. Halle 1788, S. 7. Ebd., S. 89: „Der Inhalt der symbolischen Bücher ist der immer fortdauernde Grund einer jeden Partei wider alle anderen Religionsparteien oder Gesellschaften. Dieser Inhalt ist nicht das Symbolum selbst, nicht die Augsburgische Confession, Apologie, nicht Catechismi, wie

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Die Frage, ob neben den drei reichsrechtlich offiziell anerkannten Religionsparteien (dem Katholizismus, dem Luthertum und dem Reformiertentum) auch der Sozinianismus und Deismus als eigene Religionsparteien in Preußen Anerkennung finden sollten, ist nach Semlers Auffassung keine Angelegenheit, über welche die Anhänger dieser Richtungen zu befinden hätten. Gemäß dem geltenden Reichsrecht fallt diese Entscheidung vielmehr allein in die Kompetenz des Regenten und obersten Landesherrn. Und dieser beurteilt die Frage möglicher Anerkennung unter dem Aspekt, ob es „zum öffentlichen Wohl des ganzen Staates" notwendig sei, den genannten Parteien auch den Status von öffentlich anerkannten Religionsparteien zu geben.240 Semlers Verteidigung des Religionsedikts konnte den nicht überraschen, der seine Theologie und seine Bemühungen um eine Verbindung von individueller Gewissensfreiheit und kirchenrechtlicher Ordnung kannte. Sie berechtigt keineswegs zum Vorwurf der Unaufrichtigkeit und opportunistischen Inkonsequenz, den Karl Aner gegen Semler erhoben hat.241 Vielmehr befand sich Semlers Stellungnahme in voller Übereinstimmung mit seinen Bemühungen um die Erhaltung und Weiterführung einer biblisch-reformatorischen Lehrtradition, seiner Zustimmung zu den Grundsätzen des Territorialismus und seiner Überzeugung, daß schon aus staatsrechtlichen Gründen der Fortbestand der drei christlichen Religionsparteien garantiert werden müsse, weil diese die friedensschließenden Parteien gewesen sind.242 Für seine Verteidigungsschrift und die Anmerkungen zu dem Schreiben an Se. Excell. von Wöllner in Herrn D. Erhards „Amalthea" (1788) ist Semler vom Rezensenten der Neuesten Religionsbegebenheiten gelobt worden: So viel können wir im Allgemeinen sagen, daß die Antworten des H. D. Semlers fast durchaus gründlich sind, daß er sich deutlicher und bestimmter ausdrückt als in seinen vorhergehenden Schriften, und daß, ob er gleich die Rechte der Obrigkeit verteidigt, er dennoch keineswegs die Religion selbst der Willkür der Regenten preisgibt.243

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sie wörtlich abgefasset sind, sondern ihr Sinn, ihr Lehrbegriff wird vom Prediger jetzt erkläret und zur Überzeugung, zum eigenen Gebrauch der Zuhörer aufs Beste anempfohlen." Ebd., S. 105f. Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, S. 107-111. Zustimmung verdient daher das Urteil von Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Tübingen 1989, S. 18, der die Kritik Karl Aners an Semler als sachlich unberechtigt zurückweist und betont, daß eine Ablehnung des Religionsedikts durch Semler „einer Ableugnung seiner eigenen schon lange Jahre zuvor niedergelegten, vom Territorialismus geprägten Grundsätze gleichgekommen" wäre. Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen fíir das Jahr 1789. 12. Jg. Gießen 1789, S. 293.

19. Der letzte Lebensabschnitt und die These von den zwei Epochen in Semlers Leben Wie aus seiner Bibliographie ersichtlich ist, fallen in die letzten zwölf Lebensjahre Semlers (1779-1791) noch zahlreiche Untersuchungen, Kontroversen und Publikationen. Weder Verbitterung noch Resignation sind ihm anzumerken. Sein wissenschaftliches Interesse blieb rege, und ein Nachlassen der Schaffenskraft ist kaum festzustellen. Zeitgeschichtliche Ereignisse, neue Thesen und Sachgebiete reizten ihn zu engagierten Stellungnahmen: der Fragmentenstreit, die Bestrebungen zur Kirchenvereinigung mit dem Katholizismus, die Historie der Rosenkreuzer, der Kommentar zur Cusanusschrift De pace fldei, die durch das Göttinger Preisausschreiben angeregten Untersuchungen zur Christologie und Soteriologie und schließlich die Verteidigung des Wöllnerschen Religionsedikts von 1788. Auch die exegetische Arbeit ruhte nicht. Paraphrasen zum ersten und zweiten Petrusbrief wurden verfaßt, ein Kommentar zum Jacobusbrief in lateinischer und erweiterter deutscher Fassung herausgegeben, und ein Kommentar zum ersten Johannesbrief konnte noch abgeschlossen, aber erst posthum von Johann August Nösselt zum Druck gebracht werden. Trotz seines Alters beteiligte sich Semler auch weiterhin an den akademischen Verwaltungsaufgaben. Am 12. Juli 1789 wurde er erneut für ein Jahr zum Prorektor der Hallenser Universität gewählt, und im folgenden Jahr mußte er erneut das Dekanat der Theologischen Fakultät übernehmen. Die nüchterne Bestandsaufnahme dieser vielfältigen wissenschaftlichen Forschungen, Publikationen und Verwaltungsaufgaben, denen sich der ältere Semler gewidmet hat, erfordert eine erhebliche Korrektur des Bildes, das Wilhelm Dilthey entworfen hat, und das in der Schleiermacher-Forschung zu beherrschendem Einfluß gelangt ist. Aus Gründen der Gerechtigkeit und des Verlaufs der Theologiegeschichte wird man jene Behauptungen ins Reich der Legende verweisen müssen, wonach sich der ältere Semler in fruchtlosen Auseinandersetzungen mit Carl Friedrich Bahrdt verzettelt habe und „in alchemistische Träumereien ganz versunken" gewesen sein soll.244 Die von späteren Interpreten nicht selten mit einem gewissen Befremden zur Kenntnis genommenen alchemistischen Experimente des älteren Semler haben seit dem 19. Jahrhundert wiederholt zu dem Fehlurteil geführt, als sei mit solcher Beschäftigung das Interesse an der Theologie erlahmt oder als habe sich eine direkte 244

Gegen Wilhelm Dilthey, Üben Schleiermachers, hg. v. Martin Redeker. Bd. 1/1 (1768-1802). Berlin 3 1970, S. 40, gegen Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hamburg 1967, S. 25f„ und gegen die in vieler Hinsicht gründliche Monographie von Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik. Göttingen 1986, S. 66. Zur Kritik an Diltheys abfälligen und sachlich unzutreffenden Äußerungen über Semler vgl. Gottfried Hornig, Schleiermacher und Semler. Beobachtungen zur Erforschung ihres Beziehungsverhältnisses, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Berlin/New York 1985 (Schleiermacher-Archiv. Bd. 1), insb. S. 877f.

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Abwendung von der Theologie vollzogen. Semlers vergebliche Experimente zur Golderzeugung waren ernsthafter Art und entsprachen seinen naturwissenschaftlichen Neigungen. Doch blieben sie eine Nebenbeschäftigung und vermochten die stetige und intensive Arbeit an exegetischen, kirchengeschichtlichen und dogmatischen Themen und Werken nicht zu beeinträchtigen.245 Wegen der unterschiedlichen Interpretationen, die Semlers Theologie schon kurz nach dessen Tod, vor allem aber im 19. und 20. Jahrhundert gefunden hat, stellt sich die Frage, ob Werke und Überzeugungen des letzten Lebensjahrzehnts in Übereinstimmung mit der früher vertretenen Theologie des Hallensers stehen. Auf diese Frage sind gegensätzliche Antworten gegeben worden. Eine Kontinuitätsthese haben Johann August Nösselt, August Hermann Niemeyer, Christian Gottfried Schütz und Wilhelm Abraham Teller insofern vertreten, als sie in ihren Darstellungen und Interpretationen Semlers Theologie als eine in ihren Grundgedanken einheitliche und selbständige wissenschaftliche Leistung bezeichnen, von der das letzte Lebensjahrzehnt (1779-1791) nicht abweicht. Ganz anders dagegen urteilt schon 1781 der in einen Streit mit Semler verwickelte Carl Friedrich Bahrdt und 1793 auch der Semlers Verdienste lobende Johann Gottfried Eichhorn. Beide erwecken den Eindruck, als habe es eine Preisgabe früher vertretener Überzeugungen und somit einen Bruch in Semlers Entwicklung gegeben, so daß man „zwei Epochen" in seinem Leben unterscheiden müsse. Beide datieren den Bruch oder die radikale Wende auf das Jahr 1779, und für beide bedeutet dieser Bruch, daß Semler sich aus einem kühnen und kritischen Aufklärungstheologen in einen ängstlichen konservativ-orthodoxen Theologen verwandelt habe, der um den Erhalt des kirchlichen Lehrsystems besorgt gewesen sei. Nach Bahrdt beginnt diese „unglückliche Epoche" mit Semlers Widerlegung der Wolfenbütteischen Fragmente,246 nach Eichhorn mit Semlers Beantwortung des Bahrdtischen Glaubensbekenntnisses, das niemand billigen werde. Eichhorns Urteil, das nicht durch eine persönliche Aversion geprägt ist, erfolgt im Ton des Bedauerns und der Enttäuschung: [...] mit großer Freimütigkeit und Unbefangenheit hatte Semler 30 Jahre über geschrieben und gelehrt, als er plötzlich, wie in einem Augenblick in seinem ganzen theologischen Wesen umgeändert, a[nno] 1779 auftrat. In seiner Beantwortung des Bahrdtischen Glaubensbekenntnisses (das niemand billigen wird) gab er eine Schutzschrift für das kirchliche System heraus, in welcher man den kühnen Theologen nicht mehr findet, der in so vielen Schriften auf Beförderung der freien Denkungsart in der Theologie durch historische und exegetische

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Vergleiche zu diesem Problemkomplex die vorzügliche Untersuchung von Hartmut H. R. Schulz, Johann Salomo Semler als er dreizehn Grane Luftgold untertänigst einschickte, in: Wolfgang E. Müller/Hartmut H. R. Schulz (Hg.), Theologie und Aufklärung. Wiirzburg 1992, S. 179-204. [Carl Friedrich Bahrdt], Kirchen= und Ketzer=Almanach aufs Jahr 1781. Häresiopel im Verlag der Ekklesia pressa, S. 162.

Schriften hingearbeitet, die theologische Lehr=Art in manchen Stücken abgeändert und für Toleranz und Gewissensfreiheit mit männlicher Standhaftigkeit gefochten hatte.247

Was bei der behaupteten Gegensätzlichkeit der zwei Epochen leicht übersehen wird, ist die Komplexität und Entwicklung der Aufklärung sowie der Umstand, daß die Kritik an bestimmten Lehren spätorthodoxer und pietistischer Theologie die Zustimmung zu fundamentalen Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens und der lutherischen Lehrtradition nicht ausschließt. Solange diese Grundüberzeugungen von Semlers Gegnern geteilt wurden, war ihre Verteidigung nicht erforderlich. Dies änderte sich, als radikalere Strömungen der Aufklärung publizistisch stärker in Erscheinung traten. Das Verlangen nach einer intellektuellen Rechtfertigung des ursprünglichen und gegenwärtigen Christentums führte zu einer Intensivierung der Apologetik, an der sich Semler mit seiner Beantwortung der Fragmente beteiligt hat. Aber eine Änderung seiner Grundauffassung tritt damit nicht ein. Er bejaht auch in den Jahren nach 1779 die Textkritik und die historisch-kritische Schriftauslegung sowie die Aufgabe einer Überprüfung aller kirchlichen und dogmatischen Lehrtraditionen. Wenn sich die Theologie in ihrer Lehrart und ihren Methoden ändern muß, so soll doch das Christentum als die von Gott geoffenbarte „unendliche" Religion erhalten bleiben. Als Theologe, der sich dem neutestamentlichen Christusglauben und dem Lehrbegriff der Lutherischen Kirche verpflichtet weiß, kritisiert er, daß im Namen der Aufklärung für die radikaleren Richtungen des Deismus, Naturalismus und Atheismus geworben wird.248 Man darf bezweifeln, daß in Semlers Haltung eine plötzlich einsetzende Rückkehr des kritisch denkenden Aufklärungstheologen zur früher bekämpften lehrgesetzlichen Orthodoxie stattgefunden hat. ,Aufklärung" galt als ein Weg, auf dem das vernünftige Individuum durch eigenes Denken zur Überwindung seiner Vorurteile und zur größeren Wahrheitserkenntnis gelangen konnte. In diesem Sinne, welcher der Kantischen Definition dieses Begriffs nahe kam, hat der ältere Semler auch in seinem letzten Lebensjahrzehnt .Aufklärung" bejaht und durch eigene Forschungen und Publikationen zu ihr beigetragen. Wo aber .Aufklärung" primär als Propagierung religionskritischer oder christentumsfeindlicher Auffassungen verstanden wurde, hat er sie abgelehnt und wie im Falle der Betrugstheorie des Reimarus bekämpft 249 In dieser Haltung lag keine Inkonsequenz. Wenn bei einigen Zeitgenos247

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Johann Gottfried Eichhorn, Johann Salomo Semler, in: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur. Bd. 5. Leipzig 1793, S. 160. - Niemeyer hat sich von Eichhorns Urteil über Semlers letzte Lebensperiode deutlich distanziert; August Hermann Niemeyer, Akademische Predigten und Reden. Halle/Berlin 1819, S. XCIV. Vgl. Semler, Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 52. Der Begriff der .Aufklärung" war im Sprachgebrauch der Semler-Zeit und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland kein eindeutig definierter Begriff. Seine recht unterschiedliche Verwendung bezeugt ein Artikel Ueber Aufldärung in: Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1789. 12. Jg. Gießen 1789, S. 523-546. Dort (S. 523) heißt es: „Aufklärung ist ein unschuldiges, ja sogar ein edles Wort,

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sen und späteren Interpreten der Eindruck entstanden ist, als habe eine tiefgreifende Veränderung in Semlers Haltung stattgefunden, so deshalb, weil Semler während der 60er und 70er Jahre wissenschaftliche Kontroversen mit orthodoxen Theologen und Kirchenmännern wie dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, dem Kasseler Gymnasialprofessor Johann Rudolf Anton Piderit, dem Tübinger Kanzler Jeremias Friedrich Reuß und dem Greifswalder Theologen Johann Ernst Schubert ausgetragen hatte, während er seit 1779 gegen eine ganz andere Front zu Felde zog, nämlich gegen Vertreter einer radikalen und deistisch beeinflußten Aufklärungstheologie. Die Behauptung, daß es zwei ganz unterschiedliche Epochen in Semlers Leben gebe, hat Nachwirkungen gehabt. Sie verschärft sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts zur These, daß Semler sich „am Ende seines Lebens verärgert durch jene Kämpfe gegen seine neologischen Genossen, ganz von der Theologie abgewandt" habe. Es ist Karl Barth, der diese These aufgestellt hat.250 Sie entspricht seiner äußerst distanzierten und kritischen Haltung gegenüber der Neologie und Aufklärungstheologie. Wenn am Ende seines wissenschaftlichen Weges jener Mann gescheitert sein soll, der nach Barths eigenen Worten „der bedeutendste unter den Neologen" war, 251 so wirkt solche Feststellung wie eine Verstärkung der Negativurteile, mit denen jene Periode der Theologiegeschichte so reichlich bedacht worden ist. Aber einen historischen Wahrheitsgehalt hat die Behauptung über Semlers Abwendung von der Theologie nicht. Sie ist vielmehr eine reine Legende und bloße Erfindung.252 Sie kann anhand der Quellen eindeutig widerlegt werden. In den Gesprächen mit August Hermann Niemeyer, dem er wegen der eigenen schweren Erkrankung die Fortführung der Dekanatsgeschäfte übertragen hatte, bestätigt Semler zwei Tage vor seinem Tode nochmals seine Vorliebe für „die schönen Briefe Pauli" und beklagt, daß sie bei den Kirchenvätern und in der lateinischen Kirche keine gebührende Beachtung gefunden hätten. Zugleich betont er aber gemäß den eigenen Erkenntnissen über die Kanonsgeschichte und ganz ähn-

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das aber nachgrade verhaßt und verächtlich wird, da jetzt teils ein jeder Stümper dieses Wort mißbraucht, um seine elenden Arbeiten anzubringen, teils Leute ihre feindseligen Angriffe auf das Christentum oder gar auf die natürliche Religion und die ersten Grundsätze der menschlichen Erkenntnis und Glückseligkeit unter dieses Wort zu verstecken suchen." - Zum Bedeutungswandel, der seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts im Verständnis und in der Bewertung des Begriffs der .Aufklärung" eingetreten ist, vgl. auch Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Karlfried Gründer/Nathan Rotenstreich (Hg.), Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht. Heidelberg 1990, S. 72ff. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Berlin 3 1961, S. 150. Ebd., S. 148. Zur Legendenbildung wird man auch die These von Oswald Bayer rechnen müssen, wonach Semler in seinem Anliegen gescheitert und bei ihm ,.historische Gelehrsamkeit einerseits und private Frömmigkeit andererseits" auseinandergebrochen sei; vgl. Oswald Bayer, Oraüo, Meditatio, Tentatio. Eine Besinnung auf Luthers Theologieverständnis, in: Lutherjahrbuch 55. Göttingen 1988, S. 9.

lieh wie Lessing, daß die christliche Religion mit der Bibel und einer formalen Bibelautorität nicht verwechselt werden dürfe. In der gegenwärtigen Christenheit herrsche „immer noch zu viel Buchstabe" und „zu wenig Geist des Christenturns".253

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August Hermann Niemeyer, Johann Salomo Semlers letzte Worte über das wahre Wesen der Religion und über die wahre Würde des christlichen Lehramts, in: ders., Akademische Predigten und Reden. Halle/Berlin 1819, S. 444f. Niemeyer erwähnt, daß er die Äußerungen Semlers sogleich zu Hause aufgezeichnet habe. Er hatte sie schon im Todesjahr Semlers unter dem Titel D. Joh. Sal. Semlers letzte Aeusserungen über religiöse Gegenstände, zwey Tage vor seinem Tode (Halle 1791) publiziert. Mit seinen letzten, aber auch früheren Äußerungen befand Semler sich insofern in sachlicher Übereinstimmung mit Gotthold Ephraim Lessing, als dieser im Anschluß an 2. Kor. 3,6 die hermeneutische Distinktion von „Geist" und „Buchstabe" betont, den Biblizismus bzw. die ,3ibliolatrie" entschieden ablehnt und für ein Geistchristentum eingetreten ist. Lessing vertrat in den Axiomata (1778) und der Auseinandersetzung mit Goeze die These: Der Buchstabe ist nicht der Geist und die Bibel nicht die christliche Religion.

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II. Die Lehre von der Heilsordnung. Semlers Rezeption und Kritik des Halleschen Pietismus1

Wer das Vordringen der Aufklärungstheologie in dem pietistisch geprägten Halle studieren will, wird in dem Frühwerk Johann Salomo Semlers ein reichhaltiges und bisher kaum beachtetes Quellenmaterial finden. Semler hatte seine Jugend in einem vom Saalfelder Pietismus beeinflußten Elternhaus verbracht. Schon als Schüler wurden von ihm die Teilnahme an pietistischen Erbauungsstunden und der Anschluß an die neue und bald vorherrschende Frömmigkeitsrichtung verlangt, der sich zuvor schon sein Vater und Bruder angeschlossen hatten. Obwohl er durch sein Elternhaus und seine unmittelbare Umgebung einem erheblichen Konformitätsdruck ausgesetzt war, blieb der junge Semler, nachdem der emsthafte Versuch einer persönlichen Beteiligung gescheitert war, bei der Haltung einer inneren Distanz. Dies änderte sich auch nicht, als der siebzehnjährige Semler 1743 zum Theologiestudium in das pietistisch geprägte Halle übersiedelte, wo er seinen Neigungen entsprechend bald eigene historische und wissenschaftliche Studien betreiben konnte.2 Doch darf aus seiner deutlich artikulierten Kritik an der Frömmigkeitspraxis und Theologie eines verengten und teilweise wissenschaftsfeindlichen Pietismus nicht sogleich auf eine prinzipielle Ablehnung des gesamten Pietismus geschlossen werden. Unübersehbar sind die Elemente der Rezeption. Denn bei Semler finden wir nicht nur ein lebhaftes Interesse an allen Fragen der persönlichen Glaubensaneignung, sondern auch eine wiederholt bezeugte Zustimmung zu den von Spener ausgehenden Reformbestrebungen des lutherischen Pietismus.3 1

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Vgl. bereits: Gottfried Homig, Semlers Lehre von der Heilsordnung. Eine Studie zur Rezeption und Kritik des halleschen Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 10. Göttingen 1984, S. 152-189. Zu Semlers Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Saalfelder und Halleschen Pietismus vgl. die ersten Abschnitte unserer „Biographischen Skizze" sowie Hans-Eberhard Heß, Theologie undReligion bei Johann Salomo Semler. Augsburg oJ. [1974], S. 1 Iff. Heß urteilt zu Recht, daß „die Geringschätzung jeglicher Gelehrsamkeit und die damit verbundene mangelhafte Kultivierung des Verstandes" Semlers .Abneigung" gegenüber den genannten zeitgenössischen Gestalten des Pietismus provozierten; vgl. ebd., S. 17. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 47: „Da ist es ein für allemal ausgemacht: was Spener oder ein anderer deutscher Schriftsteller für gemeine Christen geschrieben, das muß immer wieder ebenso für alle gesagt und geschrieben werden." An der positiven Einschätzung des von Spener ausgehenden lutherischen Pietismus hat auch der ältere Semler festgehalten. Er verteidigt neben Spener, der für die freie praktische Religion eintrat, auch „die ersten hallischen theologischen Lehrer" gegen die Kritik und „angemaßte Generalcensur" der lutherischen Orthodoxie; vgl. Semler, Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik und DogmatiL Halle 1788, S. 90. - Zur Wertschätzung der Spenerschen Schriften und der biblischen Arbeiten August Hermann Franckes vgl. auch Semler, Vorberei-

Die Auseinandersetzung mit der überlieferten Glaubenslehre und den auf die Frömmigkeitspraxis gerichteten Forderungen des Hallenser Pietismus ist einer der Faktoren gewesen, die zur Herausbildung neuer und andersartiger Gestalten der Theologie beigetragen haben. Zur zentralen Thematik dieser Auseinandersetzung gehörten seit der Mitte des Jahrhunderts nicht nur die Schriftlehre und Hermeneutik, sondern auch die Frage, ob das spezifisch pietistische Verständnis der Heilsordnung, wie es in Lehrbüchern, Dissertationen, Predigten und seelsorgerlichen Anweisungen vertreten wurde, zureichend begründet ist. Wenn wir trotz einiger wertvoller Untersuchungen, die sich in jüngster Zeit den Repräsentanten der Übergangstheologie und Neologie zugewandt haben (Joseph Schollmeier, Martin Schloemann u.a.), immer noch viel zu wenig über die Gründe und Motive wissen, die in Halle den Übergang vom Pietismus zur historisch-kritischen Aufklärungstheologie herbeigeführt haben, so ist dieser Sachverhalt vor allem durch Forschungsdefizite bedingt.

1. Die zentrale Stellung der Lehre von der Heilsordnung Semlers Verständnis der Lehre von der Heilsordnung ist zwar von einigen Autoren beiläufig erwähnt, aber bisher nirgends genauer analysiert und untersucht worden.4 Dies muß um so mehr überraschen, als der ordo salutìs, der aus der Spätorthodoxie in den Pietismus eingedrungen war, während mehrerer Generationen in der theologischen Tradition des Halleschen Pietismus und dessen Frömmigkeitspraxis einen zentralen Stellenwert besaß. Die Lehre vom ordo salutis hatte die Funktion, die einzelnen Stadien des Christwerdens vom Anfang der Berufung bis hin zur Vollendung, der Vereinigung mit Gott, genau darzustellen. Welches Gewicht ihr zugemessen wurde, ersieht man aus der in Halle erschienenen einflußreichen Grundlegung der Theologie von Johann Anastasius Freylinghausen, die in dem Zeitraum von 1703 bis 1770 nicht weniger als 14 Auflagen erlebt hat. Sie hat seit 1734 auch den Dogmatikvorlesungen von Siegmund Jacob Baumgarten zugrunde gelegen. Freylinghausen hatte die „göttlichen Wohltaten" des ordo salutis in folgende Glaubensartikel gegliedert: Gnadenberuf, Gnadenerleuchtung, Wiedergeburt, Rechtfertigung, geistliche Vereinigung mit Gott sowie Erneuerung und Heiligung.5

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tung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. 108. Die ältere und neuere Semlerforschung ist für unsere Thematik sehr wenig ergiebig. Auch Baur ist in seiner knapp gehaltenen und kritischen Bewertung Semlers, die noch weitgehend der aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammenden Sichtweise von Wilhelm Gass verhaftet bleibt, auf Semlers Lehre von der Heilsordnung nicht eingegangen; vgl. Jörg Baur, Salus Christiana. Die Rechtfertigungslehre in der Geschichte des christlichen Heilsverständnisses. Gütersloh 1968, S. 127-132. Wir entnehmen diese Angaben der 10. Auflage des Werkes von 1741.

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Baumgarten hat als maßgebender Repräsentant der Übergangstheologie zwar manche Veränderungen in der theologischen Lehrart und Argumentation bewirkt, aber an der von der pietistischen Tradition ausgebildeten Wertschätzung der Lehre von der Heilsordnung festgehalten. Ja, er hat in seiner eigenen Darstellung der Dogmatik sogar ausdrücklich hervorgehoben, daß die ganze Heilsordnung „am weitläufigsten und ausführlichsten" abgehandelt werden muß.6 Für Semler, der im Frühjahr 1753 seine Lehrtätigkeit in Halle aufnahm und neben exegetischen und kirchengeschichtlichen Kollegs seit 1756 auch die Dogmatik zu lesen hatte, war damit eine zentrale Thematik vorgegeben. Er bejaht die in der lutherischen Lehrtradition vorliegende Auffassung von der Heilsordnung und will auch durch seine für die Studenten abgehaltenen Erbauungsstunden dazu beitragen, daß man „den wirklichen Vorzug der christlichen Heilsordnung" besser einsehe.7 Von dem Antritt seiner Professur in Halle bis zur Herausgabe der deutschen Fassung der Dogmatik im Jahre 1777 hat Semler sich wiederholt mit der exegetischen Begründung, der theologiegeschichtlichen Überlieferung und der sachgemäßen dogmatischen Gestalt der Lehre von der Heilsordnung beschäftigt. Er entdeckt die Eigenart pietistischen Verständnisses dieser Lehre und die unmittelbaren Auswirkungen, welche dasselbe auf die Frömmigkeitspraxis und die Einstellung zu Beruf und Gesellschaft hat. Weil die Behandlung der Thematik der Heilsordnung unter verschiedenen Aspekten immer erneut erfolgt, ist eine genauere Interpretation und Analyse erforderlich, um die Veränderungen in Semlers Einschätzung dieser Lehre zu erfassen. Seine Kritik an bestimmten pietistischen Auffassungen und der ihnen entsprechenden Frömmigkeitspraxis ist einerseits durch exegetische und theologiegeschichtliche Erkenntnisse, andererseits durch die Überzeugung bedingt, daß das Wachstum im Glauben und der individuelle Weg des Christwerdens von allen äußeren Reglementierungsversuchen frei bleiben sollte. Für den Sprachgebrauch des jungen Semler ist es bezeichnend, daß er „die Heilsordnung" als eine mit göttlicher Autorität vorgegebene Größe betrachtet. Sie gilt ihm als Ereignis des gnädigen Handelns Gottes, der in Jesus Christus sein Heil allen Menschen anbietet. Sie ist Ausdruck der Weisheit, Güte und Offenbarung Gottes und wird dem für die Verkündigung entscheidenden Inhalt des Wortes Gottes zugewiesen. Es wird von daher verständlich, daß Semler den Begriff der Heilsordnung auch in seinen exegetischen Schriften wiederholt zur Interpretation neutestamentlicher, vor allem paulinischer Gedankengänge herangezogen hat. Die Klarheit der Schrift besteht für Semler in erster Linie in der Klarheit ihrer Heilsordnung. Wenn mystische Schriftauslegungen überflüssig sind und weder zum Er6

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Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 2. Halle 1760, S. 675. - Zur dominierenden Rolle der Lehre von der Heilsordnung bei Baumgarten vgl. Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974, insb. S. 62 u. 88f. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, Vorrede.

kenntnisgrund noch Beweis irgendeiner Wahrheit dienen können, so wird diese These mit der Feststellung begründet, daß „das neue Testament in völliger Deutlichkeit uns die Heilsordnung vollständig entdeckt hat".8 Demgemäß wird auch der entscheidende Verkündigungsauftrag und Predigtgegenstand bestimmt. Denn es kommt nun „alles" darauf an, „daß man den historischen Inhalt der Bibel, zumal von der Heilsordnung, erweislich gewiß einsehe und an andere mitteile".9 Ähnlich wie seine pietistischen Zeitgenossen ist auch Semler der Auffassung, daß der persönliche Christusglaube und die Aneignung der Heilsordnung das eigentliche Kennzeichen des wahren Christseins darstellen. Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß Semler das vorherrschende Verständnis dieser Lehre und die ihr entsprechende Frömmigkeitspraxis kritiklos übernommen hätte. Vielmehr vollzieht sich seine eigene Interpretation in einer ständigen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen pietistischen Auffassungen, in denen Semler Mißdeutungen und Mißverständnisse der Lehre von der Heilsordnung oder zumindest eine sachlich nicht gerechtfertigte Verselbständigung, Überbewertung und Vergesetzlichung einzelner ihrer Elemente und Stufen erblickt Gemäß seiner Unterscheidung zwischen der christlichen Glaubenserkenntnis und den Ergebnissen wissenschaftlicher Theologie hat Semler schon frühzeitig die „Kenntnis" und persönliche Aneignung der in der Heiligen Schrift geoffenbarten Heilsordnung der christlichen Religion und Frömmigkeit zugeordnet. Damit erhält die Heilsordnung ein weit größeres Gewicht und einen erheblich höheren Grad an Verbindlichkeit als irgendeine theologisch-wissenschaftliche Erkenntnis. Unausgesprochene Voraussetzung ist dabei, daß jeder Christ durch die gehörte Verkündigung und das eigene Bibelstudium zur Kenntnis der Heilsordnung gelangen kann. In seiner Einleitung zum ersten Band der posthum herausgegebenen Evangelischen Glaubenslehre Baumgartens erklärt Semler 1759: „Die Kenntnis der Theologie ist folglich sehr zu unterscheiden von der gemeinen Kenntnis der Heilsordnung; jeder Christ muß diese nach seinen Umständen haben, aber kein Christ ist zur Theologie an und für sich verpflichtet."10 Die von Semler bekämpfte Vermischung von christlicher Religion und wissenschaftlicher Theologie besteht darin, daß die irrtumsfähigen und durchaus wandelbaren theologischen Erkenntnisse in den Rang von religiösen Wahrheiten erhoben werden. Semler sieht solche Vermischung nicht nur in den dogmatischen Systemen der Orthodoxie, sondern grundsätzlich überall dort gegeben, wo Theologie als Inbegriff geoffenbarter Lehre verstanden wird. Abzulehnen ist aber wegen unzulässi8 9

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Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Halle 1760, Vorrede. Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 312. Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1759, S. 121.

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ger Vermischung auch die Beschränkung und Dienstbarmachung der Theologie zum Zweck einer pietistischen Frömmigkeitspflege. Nach Semlers Intention soll die akademische Theologie als wissenschaftliche Fachangelegenheit eine relativ eigenständige, durch neue Erkenntnis und Selbstkritik wandelbare Größe sein. Die Kenntnis der Theologie, ihrer Sprachen, Methoden und hemieneutischen Grundsätze ist daher nur von dem akademisch auszubildenden zukünftigen Lehrer und Geistlichen, nicht aber von jedem einzelnen Christen zu fordern. Durch diese Unterscheidung sollen sowohl die .Religion' im Sinne der fundamentalen christlichen Glaubensüberzeugung und Frömmigkeitspraxis als auch die .Theologie' zur Wahrnehmung ihrer eigenständigen Aufgaben und Funktionen befähigt werden. Für die Theologie bedeutet dies, daß sie sich unbeschwert ihren wissenschaftlichen und traditionskritischen Aufgaben zuwenden kann, gerade weil sie von fragwürdigen Ansprüchen auf religiöse Dignität ihrer Ergebnisse entlastet ist Mit dieser begrifflichen Unterscheidung und dem neuen Verständnis einer wissenschaftlich arbeitenden Theologie wird von Semler gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung sowohl von der Orthodoxie als auch von bestimmten Tendenzen im Pietismus vollzogen, und zwar nicht nur von einem radikalen, enthusiastischen und schwärmerischen Pietismus, sondern auch von dem in Semlers Umgebung dominierenden kirchlichen Pietismus Hallescher Prägung. Eine Abgrenzung gegenüber der Orthodoxie mußte erfolgen, weil sie die „reine Lehre" und damit große Teile ihrer konfessionell bestimmten Dogmatik für das individuelle Christsein verbindlich gemacht hatte. In der gegen Ende der 60er Jahre geführten Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze hat Semler den Begriff der christlichen Heilsordnung mit der ,,seligmachende[n] Wahrheit des Evangelii" identifiziert, es aber abgelehnt, zu dieser Wahrheit auch die altkirchlichen Dogmen zu rechnen.11 Der Begriff der Heilsordnung dient also zur Kennzeichnung des Evangeliums als der uns unmittelbar angehenden Heilsbotschaft, die unser Christsein begründet. Demzufolge darf sie keineswegs nur als Bericht über ein vergangenes historisches Geschehen verstanden werden. Sie ist das durch Schrift und Verkündigung gegenwärtige, den Glauben hervorrufende wirksame Gotteswort. In diesem Sinne kann Semler erklären, daß es „das Wort Gottes" ist, welches „unsere Heilsordnung beschreibt und in uns dieselbe zustande bringt".12 Gerade weil die gottgegebene und biblisch bezeugte Heilsordnung den Rang und die Dignität einer alle Menschen 11

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Semler, Historische Samiungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1768, Vorrede b2. - Den Evangeliumsbegriff erläutert Semler in der gleichen Schrift im Anschluß an Röm. 1,16 als „Kraft Gottes [...] zur Seligkeit derjenigen, welche glauben" (S. 341) und definiert ihn 1777 in seiner deutschsprachigen Dogmatik im unmittelbaren Bezug auf die „Heilsordnung" und den Christusglauben als „die neue Versicherung der Gnade und Liebe Gottes gegen alle Menschen"; vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 593f. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 117 (erste Zählung).

angehenden Heilsbotschaft hat, muß allen Versuchen ihrer Abänderung oder willkürlichen Erweiterung entschieden entgegengetreten werden. Semlers Kritik richtet sich in diesem Zusammenhang auch gegen orthodoxe Bestrebungen, die jeweils geltende, aber historisch bedingte „Kirchendogmatik" hinsichtlich der Veibindlichkeit ihrer umfangreichen Lehren mit der Heilsordnung oder den Lehren von der Heilsordnung gleichzustellen.13 Man mag beklagen, daß Semler, ähnlich wie der zeitgenössischen Theologie, die Prägnanz einer genaueren Begriffsbestimmung fehlt. Eine Analyse seines Sprachgebrauchs zeigt, daß er den Begriff der „Heilsordnung" für mindestens drei verschiedene Sachverhalte verwendet: erstens für das durch Christi Kreuz und Auferstehung geschehene Heilshandeln Gottes, wie es im Evangelium des Neuen Testaments klar bezeugt wird, zweitens als Bezeichnung für die individuelle Aneignung dieser Botschaft und die Veränderungen, die durch sie an und mit dem Glaubenden geschehen, und drittens als Bezeichnung für ein metasprachliches Phänomen, nämlich für die unterschiedlichen theologischen Auffassungen von der Heilsordnung, wie sie in dogmatischen Lehrbüchern, Erbauungsschriften, Katechismen und Predigten vorliegen. Bisweilen läßt sich auch bei genauer Beachtung des Kontextes nur schwer ermitteln, welche der genannten unterschiedlichen Sachverhalte und sprachlichen Ebenen mit der Rede von der „ H e i l s o r d n u n g " jeweils gemeint ist. Eine normative Stellung besitzt für Semler die götdiche Heilsveranstaltung und damit das neutestamentliche Zeugnis von der Heilsordnung. Denn die vor allem von Paulus bezeugte Heilsordnung ist eine Wegweisung zur Gewinnung des Christusglaubens und der Erkenntnis, daß Gott die alleinige Quelle unseres Heils ist Wenn man an Gott und Christum so glaubet, daß man seine wahre Wohlfahrt jetzt und künftig von Gott durch Christum in der Heilsordnung erwartet, deswegen alle christliche Pflichten als Christ in einem neuen Geiste stets besser zu leisten sich bestrebt: so ist dieses hinlänglich, diesem Endzweck, der Seelen Errettung aus dem geistlichen Tode, ihre stete Ausbesserung und endlich ewige Seligkeit zu erlangen.14

Daß Gott das Subjekt der universalen, für alle Menschen geltenden Heilsordnung und Jesus Christus der Urheber und Garant von Heilsgegenwart und Heilszukunft ist, hat Semler auch in seinen Ascetischen Vorlesungen (1772) mehrfach zum Ausdruck gebracht. In seiner Auslegung zu 1. Kor. l,30f. hebt er hervor, daß die Heilsordnung begründet sei in dem Beschluß Gottes, der Jesus Christus durch das Leiden und den Kreuzestod zu unserem Heiland, Erretter und Erlöser gemacht hat. Im Christusglauben vollzieht sich die Aneignung der Heilsordnung als Prozeß, der 13

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Semler erklärt im Jahre 1771, daß er „sehr oft von dem ungöttlichen schädlichen Mißbrauche der Kirchendogmatik geredet habe, daß sie gar zu Teilen der seligmachenden Heilsordnung aller Christen gemacht wird; so nicht wahr sein kann, weil die Bibel dies nicht getan hat"; vgl. ders., Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 128f. Semler, Historische Sandlingen über die Beweisstellen der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1768, S. 308.

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das gesamte irdische Leben umfaßt. Aus der aufrichtigen Einwilligung in die Grundsätze der Heilsordnung gewinnen wir die Hoffnung, „Gott wird ferner durch seine Wirkung das in uns nach und nach zu Stande bringen, was wir nun von ihm aufrichtig für uns wünschen".15

2. Die Wirklichkeit und Problematik der religiösen Erfahrung In seiner Evangelischen Glaubenslehre hatte Baumgarten auf die Bedeutung der geistlichen Erfahrungen sowohl für das Christsein als auch für die Dogmatik und theologische Wissenschaft hingewiesen. Die geistlichen Erfahrungen sind ein Mittel der Vergewisserung. Sie liefern eine nachträgliche Bestätigung der Wahrheiten und Glaubenslehren, die aus der Heiligen Schrift gewonnen wurden. Allerdings müssen zu solchen Erfahrungen, die Wirkungen der geoffenbarten Wahrheiten darstellen, das Nachdenken und die Reflexion treten, damit es zu „richtigen Erfahrungen" und einer entsprechenden „Beurteilung" derselben kommt.16 Auch Semler legt großen Nachdruck auf die rechte Einschätzung der Erfahrung. Er zweifelt nicht an der Wirklichkeit geistlicher Erfahrungen. Denn die persönliche Aneignung des Rechtfertigungsglaubens wie überhaupt der Prozeß des Christwerdens sind immer mit geistlichen Erfahrungen verbunden. Es ist daher nicht zu leugnen, daß ein Christ sich auf seine Erfahrung, wenn er richtige Erkenntnis zugleich sich schafft, berufen könne; es ist dies vielmehr ein Teil seiner jetzigen Seligkeit und ist der Grund zum Lob und Preis Gottes wie auch diese Erfahrung überhaupt ein Motiv ist zur unermiideten Treue in allen Pflichten.17

Deutlich ist jedoch, daß Semler der geistlichen Erfahrung nur insofern eine theologische Bedeutung beimißt, als sie sich der Schrifterkenntnis unterordnet und sich an ihr messen läßt. Niemals darf die individuelle Erfahrung die gleiche Dignität und Verbindlichkeit beanspruchen wie das Schriftzeugnis oder die Predigt des göttlichen Wortes. „Die Erkenntnis von Wahrheiten aus der Bibel muß alle Erfahrung stets regieren und ich lasse nimmermehr es umkehren."18 Von dieser Grundposition wird Semlers Warnung an den Prediger und Lehrer verständlich, die eigene Erfahrung zur Quelle des Vortrags zu machen. Wenn es nicht auf die Predigt des in der Heiligen Schrift bezeugten göttlichen Wortes, sondern auf die geistlichen Erfahrungen des Predigers ankäme, würden alle Gemeinden „mit Recht verlangen können, 15 16

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Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 188; vgl. auch S. 31 lf. u. 373. Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1759, S. 57. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 33. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 365.

es solle ein Lehrer erst in langer geistlicher Erfahrung stehen, um ihnen die rechten Vorteile in der Heilsordnung zu sagen".19 In der Auseinandersetzung mit Auffassungen des zeitgenössischen Pietismus ging es Semler weniger um die Frage der Wirklichkeit der geistlichen Erfahrung und ihrer Bedeutung für die Glaubensgewißheit und das individuelle Christsein, als vielmehr um den Vorrang des Schriftwortes vor aller Berufung auf persönliche Erfahrungen. Von dieser Position her glaubte er auch die pietistische Kritik, die an seiner persönlichen Frömmigkeit und theologischen Überzeugung geübt worden war, zurückweisen zu können. Wer Prediger oder akademischer Lehrer werden will, muß sich die notwendigen exegetischen und hermeneutischen Kenntnisse in der Schriftauslegung verschaffen. Damit wird aber der Satz, daß für jeden Christen persönliche Glaubenserfahrungen unentbehrlich sind, keineswegs aufgehoben oder eingeschränkt: Ich muss es um böser Mäuler willen nur nochmals bezeugen, dass ich es für notwendig und unentbehrlich halte, dass einer, der ein Lehrer sein will, die innere Wahrheit und Wirklichkeit des Gegenstandes der Heilsordnung als des Hauptteils der Dogmatik selbst erfahre: aber dies ist nicht deshalb notwendig, weil sonst sein Lehramt keinen Nutzen und Frucht schaffen würde, sondern weil es aller Menschen Pflicht ist, das, was sie von Gottes Ordnung und Willen erkennen, wirklich in ihrem Verhalten nun zu gebrauchen und einfließen zu lassen.20

Wenn es in jedem Christenleben zu geistlichen Erfahrungen kommt, so dürfen dieselben doch niemals in den normativen Rang des Gotteswortes erhoben werden. An dieser Auffassung hat Semler auch dort festgehalten, wo er später in seinen Ascetischen Vorlesungen davon spricht, daß es einen „Erfahrungsbeweis von der Wahrheit und Göttlichkeit der christlichen Religion" gebe.21 Den Übergang zu einer reinen Erfahrungstheologie, in der subjektive Erlebniszustände über die Richtigkeit von Glaubenslehren entscheiden können, hat er nicht vollzogen, ja ausdrücklich abgelehnt. Auch zeugt es von seiner nüchternen und kritischen Betrachtungsweise, daß er bei den vielfaltigen Zeugnissen von geistlichen Erfahrungen mit der Möglichkeit der Selbsttäuschung rechnet. Die Auffassung, daß man zur Gottesunmittelbarkeit gelangen und die eigene Erfahrung zur Basis der Glaubenslehren machen dürfe, stellt nach seinem Urteil eine Abwertung der Schriftautorität und des „Wortes Gottes" als des eigentlichen Erkenntnisgrundes der Heilsordnung dar. Die geistlichen Erfahrungen können schriftgemäße theologische Erkenntnisse bestätigen, dürfen aber als solche weder zur Quelle von Glaubenslehren noch zum Kriterium ihrer Beurteilung gemacht werden.

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 35. Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 3. Halle 1760, S. 131f. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 319.

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Es ist und bleibt also wahr, durch Erfahrung bekommt der Lehrer nichts neues in der Erkenntnis von der Beschaffenheit und Richtigkeit der Glaubenslehren und wegen der Trüglichkeit der Erfahrung ist es auch ohnehin nicht erlaubt, vornehmlich aus Erfahrung die Heilsordnung zu lehren.22

Bei seiner Abwehr von Tendenzen und Bestrebungen, welche den geistlichen Erfahrungen das Übergewicht über die Schriftaussagen geben sollen, argumentiert Semler in dem Bewußtsein, für „die Reinigkeit und Tauglichkeit des göttlichen Wortes" einzutreten und somit ein wichtiges Anliegen der lutherischen Theologie und Kirche zu verteidigen.23 Da sich das wissenschaftliche Theologiestudium, das methodische Erlemen von Exegese und Hermeneutik darum bemühten, eine sachgemäße Interpretation der biblischen Texte zu erreichen, muß nach Semlers Auffassung ein akademischer Lehrer auch denen entgegentreten, die unter Berufung auf ihre Bekehrung und ihre geistlichen Erfahrungen das Theologiestudium vernachlässigen oder als etwas Uberflüssiges erklären. Aus konkretem Anlaß warnt Semler seine pietistisch erzogenen Studenten vor der Praxis ständiger Selbst- und Fremdbeobachtung, die auf die Feststellung innerer religiöser Vorgänge und Veränderungen fixiert ist. Wenn solche geistliche Überwachung seiner selbst und anderer durch den Gebrauch bestimmter, nicht näher genannter „geistlicher Tagebücher" angeregt oder verstärkt worden ist, so streitet sie nach Semlers Urteil doch wider die „wahre Ehre Gottes". Überdies kann solche Selbstbeobachtung in die Irre führen, weil man bei dem, was man als inneren Vorgang festzustellen meint, leicht zu bloßen Einbildungen und „Phantastereien" gelangt24 Semler scheint in solchen und ähnlichen Äußerungen einen Unterschied zu machen zwischen dem, was tatsächlich erfahren oder erlebt wird, und dessen nachträglicher Interpretation als „Erleuchtung", ,3ekehrung", „Wiedergeburt" oder „Versiegelung". Er kritisiert nicht nur die Übertreibungen im ,3ußkampf ' und die Nötigung zur Teilnahme an bestimmten Frömmigkeitsübungen, sondern auch die Neigung einiger Zeitgenossen, möglichst rasch bei sich selbst den „Glauben" und die „Versiegelung" konstatieren zu können, obwohl man sich eigentlich eingestehen müßte, daß „man beides so bei sich nicht findet".25 Das Problem der Interpretation bzw. der Selbstinterpretation der religiösen Erfahrung und ihres Wirklichkeitsgehaltes hat Semler deutlich empfunden. Gelegentlich beklagt er das Fehlen eines eindeutigen Kriteriums, aufgrund dessen wir die wirklich stattgefundene „ E r l e u c h t u n g " oder „Wiedergeburt" von einer bloß behaupteten oder vorgetäusch22

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 32. Vgl. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamheit. Halle 1758, S. 105: „Da es in der lutherischen Kirche gar sehr wichtig ist, daß wir die Reinigkeit und Tauglichkeit des göttlichen Wortes nicht an die angebliche Bekehrung eigentlich binden lassen und hierin eine neue menschliche, obgleich der Absicht nach gut scheinende Satzung machen." Vgl. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 135f. Ebd., S. 144.

ten unterscheiden könnten. Denn unter dem Einfluß und dem Konformitätsausdruck des Halleschen Pietismus habe es neben echter und aufrichtiger Frömmigkeit auch Selbstbetrug und „Heuchelei" gegeben.26 Auf diesen Sachverhalt kommt Seniler nicht nur wiederholt in seinen Frühschriften, sondern auch in der erst zwei Jahrzehnte später veröffentlichten Autobiographie zu sprechen: Ich gestehe es, daß ich oft es gewünscht habe, es möchten doch einige solche fromme Personen wirklich diese Gabe haben, ihre wahre Frömmigkeit, Erleuchtung, Wiedergeburt, diesen Lichtglanz, wie man auch die Sache, die neue Gemütsfassung oder Fertigkeit nennen möchte, wirklich, unausbleiblich an andere mitzuteilen, damit der Heuchelei desto gewisser abgeholfen würde.27

Bei der Art, wie in pietistischen Kreisen über innerseelische Vorgänge und Erlebnisse öffentlich Zeugnis abgelegt werden soll, ist stets die Gefahr der Selbsttäuschung und Überinterpretation gegeben. Bedenklich findet Semler die Konzentration auf die Innerlichkeit, die er als „fromme Quietisterei oder Seelenmuße" charakterisiert, auch wegen ihrer negativen Auswirkungen auf das Arbeitsethos und die für das Gemeinwohl erforderliche Erfüllung der Berufspflichten. Er befürchtet, die Haltung ständiger Selbstbeobachtung könne leicht dazu führen, daß man „in Ansehung äußerlichen Berufs sich weniger zu tun geben müßte, um das, was in uns vorginge [...] desto gewisser beobachten zu können".28 In der Auseinandersetzung um das rechte Verständnis und die persönliche Aneignung der Heilsordnung, wie sie gegen Ende der 50er Jahre in Halle öffentlich ausgetragen wurde, ging es für Semler und seine theologischen Gegner letztlich um die rechte Gestalt des gelebten Christentums. Soll das Christentum in einem bewußten Rückzug von der Welt und in einer Konzentration auf das eigene Seelenleben, die innere Muße und Beschaulichkeit oder aber aus dem Glauben heraus in bewußter Aktivität und bereitwilliger Erfüllung aller Berufspflichten gelebt werden? Senders Entscheidung, die er argumentativ zu begründen sucht, fallt eindeutig zugunsten der letztgenannten Möglichkeit aus, die er als allein sachgemäße ansieht.

3. Das Reformprogramm und die Weiterführung der lutherischen Lehrtradition Mit seiner Schrift Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit, die 1756 ausgearbeitet (die Vorrede datiert vom Oktober 1756) und im folgenden Jahr veröffentlicht wurde, hatte Semler ein Reformprogramm vorgelegt, in welchem für alle Disziplinen der Theologie ein eindeutiger Vorrang der wissenschaftlichen Ausbildung unter Einbeziehung neuer Erkenntnisse 26 27 28

Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 15f. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 98. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 136.

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und Methoden verlangt wurde. Die biblische Exegese sollte zusammen mit Textkritik und Hermeneutik, die Kirchengeschichte in Verbindung mit Chronologie, Geographie und allgemeiner Weltgeschichte, die systematischen Fächer in Verbindung mit Logik, Psychologie, Naturrecht und philosophischer Moral betrieben werden. Als unentbehrliches Hilfsmittel für das Theologiestudium forderte Semler femer „eine genauere und ausgebreitete Bücherkenntnis".29 Die Reformforderungen hatte Semler nicht nur thetisch vorgetragen, sondern sie mit einer scharfen Kritik an den zeitgenössischen Bildungsverächtern und deren Thesen verbunden. In den pietistischen Klagen „über die zu sehr überhand nehmende menschliche Gelehrsamkeit, Arbeitsamkeit und derselben Nachtheiligkeit für das innere Christentum" vermochte er keine Berechtigung zu erblicken. Vielmehr erhob er seinerseits den Vorwurf, daß man mit solcher Selbstbeschränkung „die wahre Kraft und das Göttliche, Große und Allgemeine des Christentums", das als solches auch die Seele der äußeren Berufsarbeit ist, gar nicht erfahre.30 Für den Bereich der akademischen Ausbildung zog Semler die Konsequenz, daß nicht die religiöse Erbauung und Frömmigkeitspflege im Vordergrund stehen dürfe, sondern Lehrer und Studenten durch Fleiß und harte Arbeit Leistungen zu erbringen hätten, wie dies in anderen Arbeitsbereichen auf ihre Weise ja auch die Bauern und Handwerker täten. Das Erscheinen der Semlerschen Reformschrift und die in ihr erhobenen Forderungen sind von maßgebenden Vertretern des Hallenser Pietismus, zu denen auch Fakultätskollegen zählten, als Affront betrachtet und bekämpft worden. Man sah offenbar in Semlers Reformschrift einen direkten Angriff auf August Hermann Franckes Werk Idea studiosi theologiae, das seit 1712 in mehreren Auflagen erschienen war.31 Zum historischen Gang der weiteren Auseinandersetzungen gehört, daß die Pietisten, um ihren Widerstand zu dokumentieren und ein Gegengewicht zu Semlers Reformbestrebungen zu schaffen, Franckes Werk in einer fünften und letzten Auflage 1758 nochmals nachdrucken ließen. Obwohl Semler versichert, mit seinen Ausführungen die „Widerlegung" eines anderen Autors - Franckes Name 29 30 31

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Ebd., S. 117. Ebd., S. 137. Die aus dem Jahre 1712 stammende Erstfassung der Idea studiosi theologiae ist abgedruckt in: August Hermann Francke, Werke in Auswahl, hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 172201. - Ein Hinweis darauf, daß die genannte Reformschrift Semlers schon unmittelbar nach ihrem Erscheinen (1757) von maßgebenden Hallenser Pietisten als Angriff auf Franckes Buch Idea studiosi theologiae und die darin ausgesprochenen Anweisungen für das Theologiestudium gedeutet worden ist, findet sich meines Wissens bisher weder in der Francke-Forschung noch in der Semler-Forschung. Sie beruht auf einer Hypothese, da bei Semler Autor und Titel des Werkes, gegen das sich seine Reformschrift nach pietistischer Auffassung richten soll, nicht genannt werden. Unsere Deutung darf jedoch als wahrscheinlich gelten, weil das angesehene Göttinger Rezensionsorgan in seiner Besprechung von Semlers Erstem Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit zu der Feststellung gelangt: Semler habe „in seinem Buche eine andere Methode zu studieren vorgeschrieben als der seel. Francke in seiner idea studiosi theologiae, ja wohl dies Buch widerlegen wollen" (vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen. 62. Stück vom 25. Mai 1758, S. 586f.).

wird nicht genannt - gar nicht beabsichtigt zu haben,32 sind die sachlichen Differenzen zwischen Francke und Semler unübersehbar. Denn Francke hatte zwar ebenfalls eine gründliche exegetisch-philosophische Ausbildung, das Erlernen des Griechischen und Hebräischen sowie das Studium der Symbolischen Bücher empfohlen, wollte aber durch das Theologiestudium zum „wahren Christsein", zur Erweckung, Erbauung und Bekehrung anleiten und hatte deshalb vor einem die Frömmigkeit gefährdenden Studium gelehrter Werke nachdrücklich gewarnt. Mit der Forderung, die akademische Ausbildung der Theologen solle in stärkerem Maße allgemeine methodische und profanwissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen, setzte Semler einen Weg fort, den schon Baumgarten vorsichtig eingeschlagen hatte, der aber zwangsläufig zu einer gewissen Zurückdrängung der Frömmigkeitspflege führen mußte und den Intentionen Franckes eindeutig zuwiderlief." Es mag überraschen, daß Semler, der gegen den Widerstand zeitgenössischer Kräfte das akademische Theologiestudium in seinem wissenschaftlichen Niveau anzuheben versucht, sich zugleich auch als Bewahrer und Fortsetzer der lutherischen Lehrtradition versteht und als solcher verstanden wissen will, letzteres gewiß nicht im Sinne lutherischer Orthodoxie, wohl aber im Sinne eines gelehrten melanchthonischen Luthertums. Unmittelbar nach dem Tode seines Lehrers, Freundes und Fakultätskollegen Baumgarten erklärt Semler, daß er sich aufgerufen fühle, „der alten wahren Lehre unserer Kirche, die in Gottes Wort gegründet ist, die jetzt nötige Unterstützung zu geben".34 Er will dies tun, indem er Baumgartens Theologie weiterführt, „die erweislichefn] echte[n] lutherische[n] Lehren" vorträgt und 32

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Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S.5f. Im § 20 seiner Idea studiosi theologiae hatte August Hermann Francke den Theologiestudenten eindringlich ermahnt, sich derjenigen „theologischen Studien zu enthalten, wodurch er trachte gelehrter und nicht eigentlich besser oder frömmer zu werden" (vgl. ders., Werke in Auswahl, hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 179). Hier liegt die Wurzel für den in Halle jahrzehntelang bestehenden Gegensatz der „frommen" und der „gelehrten" Partei, wobei Baumgarten und Semler zur „gelehrten" Partei gerechnet wurden. - Wenn Martin Schmidt behauptet, Francke habe „die Wissenschaft [...] letztlich positiv bewertet und damit den Pietismus an die Moderne angeschlossen" (vgl. ders., Wiedergeburt und neuer Mensch. Witten 1969, S. 210), so scheint mir dies ein Urteil zu sein, das ganz erheblicher Einschränkung bedarf. Es muß in diesem Zusammenhang doch daran erinnert werden, daß der Hallesche Pietismus die Bedeutung der Historie und der Philosophie für die theologische Ausbildung und Wissenschaft als sehr gering veranschlagt hat, der Philosophie Christian Wolffs ausgesprochen feindlich gegenüberstand und durch eine gezielte Kampagne 1723 dessen Vertreibung aus Halle erreichte. Nicht sehr viel anders verhielt sich die zweite Generation der maßgebenden Halleschen Pietisten, zu denen auch Franckes Sohn Gotthilf August gehörte, indem sie die gelehrten Bestrebungen Siegmund Jacob Baumgartens und die von Semler vorgeschlagenen Reformen des Theologiestudiums bekämpfte. Zum Konflikt Baumgartens und Semlers mit Vertretern des Halleschen Pietismus vgl. auch die sorgfältige Untersuchung von Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974, S. 23ff. u. 42ff. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 171; vgl. auch S. 100.

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sich dadurch als „ein Schüler des bei allen echten Lutheranern so hoch geliebten Baumgarten" erweist.35 Diese doppelte Loyalitätserklärung, den Spuren der Theologie Baumgartens und der lutherischen Lehrtradition zu folgen, wirft freilich auch ein Problem auf, dessen sich Semler zu diesem Zeitpunkt offenbar noch gar nicht bewußt gewesen ist. Denn die lutherische Theologie der Reformationszeit und der Frühorthodoxie kannte den auch für Baumgarten so wichtigen Begriff der Heilsordnung und eine ausgebildete dogmatische Lehre vom ordo salutis noch gar nicht. Erst relativ später, nämlich in der Spätorthodoxie und im Übergang zum Retismus, hat sich dieser Topos herausgebildet und ist allmählich zu einem zentralen Thema der lutherischen Lehrtradition geworden. Wie selbstverständlich der junge Semler davon noch ausgeht, daß sich die dogmatische Lehrtradition hallescher Prägung in voller Übereinstimmung mit der lutherischen Reformation befindet, zeigt sich an seiner Rückübertragung des Begriffs der Heilsordnung auf Luthers Theologie und wichtige lutherische Bekenntnisschriften, wie etwa die Katechismen. Er lobt die „ehrliche Vernunft und Gewissenhaftigkeit Lutheri und anderer Männer, welche sich um den wahren Inhalt und die Natur der Heilsordnung bekümmert haben".36 Der radikalpietistischen Forderung nach Aufhebung des Religionseides und Abschaffung der Symbolischen Bücher begegnet er mit der Feststellung, daß an Luthers Katechismen festgehalten werden müsse, weil in ihnen „die Heilsordnung" gemäß den Schriftaussagen korrekt vorgetragen werde. In der Hochschätzung der Katechismen Luthers ist Semler seinem Lehrer Baumgarten gefolgt,37 aber die sachliche Begründung für solche Hochschätzung liegt bei Semler in der Feststellung, daß sie gleichsam einen Extrakt aus dem Lehrgehalt der Heiligen Schrift darbieten. „Der vorzüglich erweisliche Inhalt der Bibel, die Heilsordnung und Heilsmittel betreffend ist also von Luther treulich in einen Auszug gebracht worden und dies sind die Catechismi."38 Ebensowenig wie sein Lehrer Baumgarten hat der junge Semler erkannt, daß die pietistische Psychologisierung und Aufgliederung des ordo salutis in selbständige Elemente eine erhebliche Abweichung von Luthers reformatorischer Theologie darstellt. Für die Auffassung, daß die Heilsordnung in einem zeitlichen Nacheinander verschiedener Stadien besteht, glaubte man einen gewissen Anhalt an Luthers Erklärung zum dritten Glaubensartikel im Kleinen Katechismus zu haben: der Heilige Geist hat mich „durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten 35

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Semler, Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 68 u. 70. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 49. Vgl. Siegmund Jacob Baumgarten, Erläuterung des ¡deinen Catechismi D. Martin Luthers. Halle 21753, Vorrede. Baumgarten erklärt, daß er Luthers Kleinen Katechismus „nicht ohne erweislichen Grund als ein wahres Kleinod unserer Kirche und ein wirkliches Meisterstück des Vortrags in seiner Art ansehe". Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 362.

Glauben geheiligt und erhalten". So konnte Semler gegenüber zeitgenössischer Kritik mit Nachdruck die Auffassung zurückweisen, „daß Luther in Annahme der wesentlichen Stücke der Heilsordnung sich wirklich geirrt habe und wir also andere wesentliche Stücke derselben in einen Catechismus bringen könnten".39 Erst allmählich ist Semler deutlicher bewußt geworden, daß es sich bei jener grundlegenden Veränderung, die man mit den Begriffen Berufung, Erleuchtung, Bekehrung, Wiedergeburt, Rechtfertigung und Heiligung zu beschreiben pflegt, nicht um verschiedene Stadien handelt, die jeder Christ in einem zeiüichen Nacheinander zu durchlaufen habe, sondern lediglich um verschiedene biblische Worte und Begriffe, die „einerlei Sache und Veränderung" kennzeichnen.40 Diese exegetische Einsicht fand Semler dann auch bestätigt durch den theologiegeschichtlichen Tatbestand, daß sich in der älteren lutherischen Lehrtradition eine so weitgehende Aufgliederung der Lehre von der Heilsordnung, wie sie in der pietistischen Theologie stattgefunden hat, gar nicht nachweisen läßt. Auf diesen Sachverhalt hat Semler 1777 in der deutschen Fassung seiner Dogmatik ausdrücklich hingewiesen: Nicht alle Lehrbücher haben dergleichen besondere Artikel gemacht; manche haben bloß conversionem beschrieben und dahin nicht unrecht alles gerechnet, was sonst vocatio, illuminatio und regeneratio genannt wird [...] Dies ist unleugbar an sich richtiger, wenn man diese verschiedenen Beschreibungen einer und derselben Sache zusammen nimmt, als wenn man sie unter andern Namen mehrmalen wiederholte oder eigenmächtig Unterscheidungen der Sachen erfindet.41

Ohne dies ausdrücklich hervorzuheben, hat Semler damit auch von Baumgartens Gliederung und Darstellung der Lehre von der Heilsordnung Abstand genommen. Beim jungen Semler ist freilich solche Distanz noch nicht festzustellen. Hier beschränkt sich die Differenz im wesentlichen auf einige inhaltliche Akzentverschiebungen, die teilweise daraus resultieren, daß Semler gegenüber zeitgenössischen pietistischen Interpretationen der Heilsordnung Vorbehalte und deutlich artikulierte Kritik anmeldet und so zu Präzisierungen seines eigenen Verständnisses veranlaßt wird. Was jedoch die dogmatische Wichtigkeit und christologische Verankerung der Lehre von der Heilsordnung anbelangt, ist der junge Semler der Auffassung Baumgartens gefolgt. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, worin Semler in seinen Hallenser Vorlesungen der Jahre 1756/57 die vornehmsten Lehren und 39

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Ebd., S. 367. - Erst mehr als 25 Jahre später hat Semler auch eine gewisse Relativierung der Katechismen Luthers vollzogen, die sich allerdings nicht auf ihren Lehrgehalt, sondern auf die historische Distanz zu ihren „immer mehr unverständlichen Redensarten" bezieht; vgl. Semler, Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, Vorrede. Vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 364: „Dieser Inbegriff [der gesamten Historie Jesu Christi einschließlich der Heilsbedeutung seines Kreuzestodes] wird von Menschen durch das Evangelium [...] eingesehen und erkannt; diese lebendige Erkenntnis ist das Mittel dieser neuen Schöpfung Gottes, die Menschen werden neu geschaffen, wiedergeboren, erleuchtet, bekehret, alle diese Worte beschreiben einerlei Sache und Veränderung durch verschiedene Tropos und Vergleichungen." Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 539.

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„Hauptartikel" der Lutherischen Kirche erblickt. Es sind dies in der von Semler aufgeführten Reihenfolge: die Lehre von der Dreieinigkeit und der Person Christi, von der Heiligen Schrift und von der Gnade, von der Bekehrung und Rechtfertigung sowie von dem heiligen Abendmahl.42 Wer diese Aussage an dem engeren Begriff der Heilsordnung überprüft, wird feststellen können, daß hier nur die Artikel von der „Bekehrung" und von der „Rechtfertigung", nicht aber die Artikel von der Berufung, Erleuchtung, Wiedergeburt, Vereinigung mit Gott, Heiligung und Erneuerung genannt sind, die nach traditioneller Auffassung und Baumgartens Einteilung ebenfalls zur Lehre von der Heilsordnung zu rechnen sind. Nicht ganz auszuschließen ist die Möglichkeit, daß sich mit dieser restriktiven Aufzählung der hauptartikel" schon etwas von jener Kritik ankündigt, die genau 20 Jahre später in der deutschen Fassung der Dogmatik ihren Ausdruck findet.

4. Das Verständnis der Erleuchtung Im folgenden wollen wir Semlers Verständnis der einzelnen Elemente der Lehre von der Heilsordnung etwas genauer analysieren. Die im Rahmen der theologischen Anthropologie abgehandelte Heilsordnung beginnt bei Siegmund Jacob Baumgarten mit den Artikeln über die Berufung und Erleuchtung. Die Lehre von der Erleuchtung soll vor die von der Wiedergeburt gestellt werden, weil im Ablauf der Heilsordnung die gottgewirkte Erleuchtung der Wiedergeburt vorangeht. Als wichtigste neutestamentliche Belegstellen für die Lehre von der Erleuchtung werden Eph. l,17f. und Apg. 26,18 genannt. Die Erleuchtung bewirkt die „lebendige Erkenntnis" der in der Heiligen Schrift geoffenbarten Lehre und gilt als eine notwendige Bedingung für die Bekehrung.43 Die Möglichkeit einer illuminatio immediata, einer unmittelbaren Erleuchtung durch den Heiligen Geist, hat Baumgarten zwar eingeräumt, betont jedoch, daß die gottgewirkte Erleuchtung in der Regel eine durch das Schriftwort vermittelte Erleuchtung, also eine illuminatio mediata ist. Solche Erleuchtung besteht sowohl in einer „heilsamen Erkenntnis der göttlichen Wahrheiten" als auch in „der Fertigkeit sie recht einzusehen und alle vorkommende[n] Dinge darnach zu beurteilen".44 Folgende sechs Kennzeichen „der übernatürlichen Erleuchtung" werden von Baumgarten angeführt: 1) der Gehorsam gegen den göttlichen Willen; 2) die aufrichtige Liebe Gottes und des Nächsten; 3) die Verleugnung der Welt um Christi willen; 4) die wahre Ähnlichkeit mit Christo in

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Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 208. Siegmund Jacob Baumgarten, Theologische Lehrsätze von den Grundwahrheiten der christlichen Lehre nach Ordnung der Freylinghausischen Grundlegung. Halle 1747, S. 249. Ebd., S. 251.

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Absicht des Sinnes und Wandels; 5) die göttliche Einfalt und 6) die lebendige Erkenntnis unserer niedrigen Beschaffenheit 45

In Aufnahme der Baumgartenschen Terminologie und in sachlicher Übereinstimmung mit dessen Lehre spricht Semler von der durch die göttliche Erleuchtung bewirkten „lebendigen" und „heilsamen Erkenntnis", die in der persönlichen Zustimmung des Willens und Herzens zu den aus der Heiligen Schrift erkannten Wahrheiten besteht. Weil solche Erleuchtung stets von der zuvor erfolgten Erkenntnis des Wortes Gottes abhängt, darf sie nicht als einmaliger und abgeschlossener Vorgang gedacht werden. Sie ist vielmehr ein mit dem Glaubenswachstum und dem tieferen Eindringen in die Heilige Schrift verbundener Prozeß, der zwar das „natürliche Verderben" im Menschen zurückdrängt, als solcher aber im irdischen Leben des Christen niemals vollständig zum Abschluß gelangt.46 Durch die Auseinandersetzung mit der von Christian Albrecht Döderlein entwickelten Illuminationstheorie ist Semler zu Beginn der 60er Jahre zu Präzisierungen seines Verständnisses der Erleuchtung veranlaßt worden. Dabei weist er die Auffassung zurück, daß der menschliche Verstand durch die Sünde in seinem Erkenntnisvermögen erheblich beeinträchtigt sei, so daß mittels der göttlichen Erleuchtung zunächst die menschlichen Verstandeskräfte gestärkt und verbessert werden müßten, damit das Wort Gottes vom Menschen überhaupt erkannt und verstanden werden kann. Die Erleuchtung geht nicht eigentlich darauf, daß wir einen Gegenstand für das, was er nach Gottes Wort ist, eben nun erkennen, als wenn dieses nicht könne von und durch natürliche Kräfte, die der vernünftige Mensch hat, erkannt und verstanden werden, sondern sie geht eigentlich allein auf das Verhältnis dieser so beschaffenen Gegenstände gegen uns und unseren Zustand, betrifft also unsere Urteile, Beifall und Geneigtheit dagegen.

Der Heilige Geist bewirkt durch die Erleuchtung keine Veränderung oder Vergrößerung der vorhandenen menschlichen Erkenntnis, wohl aber eine Veränderung des Willens gegenüber den aus der Heiligen Schrift erkannten Wahrheiten. Verstand und Wille werden gebessert „in Absicht des Urteils von den Sachen und Dingen, welche zur Heilsordnung gehören".48 Es trifft Semlers Intention, wenn Hans-Eberhard Heß erklärt, daß es sich bei der lebendigen Erkenntnis nicht um einen eigent-

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Ebd., S. 252f. Vgl. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 264: „Erleuchtung enthält den Grund zur Verknüpfung unseres Willens oder Herzens mit dem, was wir im Verstände aus der heiligen Schrift haben historisch kennen lernen; zu dieser Verknüpfung gehört Gottes Wirkung; denn in ihrer Abwesenheit besteht unser natürlich Verderben; und weil diese Verknüpfung nur stufenweise im Verhältnis des Wachstums unserer einzelnen Erkenntnisse im Verstände stattfindet: so gibts auch in diesem Leben keine völlige Aufhebung und Ausrottung des natürlichen Verderbens." Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 75. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 248.

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lieh „cognitiven Akt" handelt, sondern um „den Modus der Repräsentation des erkannten Inhalts im erkennenden Subjekt".49 Die Wirkung der Erleuchtung überwindet die Abneigung des Menschen gegenüber den „geistigen Dingen" und führt zu einer Geneigtheit des Willens, die göttlichen Wahrheiten umfassender zu erkennen, sie sich anzueignen und sich ihnen gemäß zu verhalten. Daß dies der wesentliche Aussagegehalt der bisherigen lutherischen Lehre von der Erleuchtung sei, hat Semler in der Auseinandersetzung mit Döderlein nachdrücklich betont. „Alle alten lutherischen Theologi redeten sonst so, die Erleuchtung gehe zunächst auf den Willen und folglich auf die Richtung desselben zur Neigung des Verstandes [...] durch den Willen."50 Es liegt Semler daran, den Übergang zum neuen, geistlichen Leben nicht als plötzliche Wende, sondern als einen allmählichen Prozeß zu verstehen, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Demgemäß gibt es auch bei der gottgewirkten Erleuchtung „verschiedene Stufen und Grade", durch die uns Gott „geistliche Augen gibt, den rechten Gebrauch unserer erlangten Erkenntnis zu bewerkstelligen, welche sonst tot und bloß historisch ist".51 Semler steht in der Auseinandersetzung mit einem pietistisch-schwärmerischen Verständnis, demzufolge die Erleuchtung eine notwendige Vorbedingung für das rechte Schriftverständnis ist, weil man von der Annahme ausgeht, daß die Gabe der Erleuchtung eine Erweiterung der menschlichen Verstandeskräfte zur Folge hat. Der Satz, „ohne Erleuchtung könne man die Schrift nicht recht verstehen", war Semler von einem zeitgenössischen Pietisten aus den Werken Gottfried Arnolds entgegengehalten worden.52 Semler hat nicht bestritten, daß grundsätzlich alle Christen einer gottgewirkten Erleuchtung teilhaftig werden, wohl aber hat er bestritten, daß solche Erleuchtung zur Vorbedingung für die Gewinnung eines sachgemäßen Schriftverständnisses erhoben werden dürfe. Dim geht es darum, daß die Heilige Schrift als Wort Gottes und als die allein entscheidende Norm und Quelle der Heilsordnung nicht subjektiven Größen wie der individuellen Frömmigkeit und Erleuchtung untergeordnet wird. Denn aller Glaube der Menschen beruhet auf der Schrift und ihrem richtig eingesehenen Inhalt, nicht aber auf der Frömmigkeit oder Erleuchtung, welche auch bei sehr unfähigen und irrigen Leuten sein kann.53

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Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 81. Semler, Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 128. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 17. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 272. Ebd., S. 363.

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Während die schwärmerische Position entschieden zurückgewiesen wird, gilt Luther als vorbildlich, weil er sich stets um eine Schriftbegründung der Glaubenslehren mühte und „aus innerer Erleuchtung keine theologischen oder christlichen Sätze und Wahrheiten lemen wollte". Fehlte ihm eine begründete oder gewisse Erkenntnis, so hat er sich weder auf eine innere Erleuchtung noch auf die kirchliche Lehrtradition verlassen, sondern den Rat Melanchthons und anderer gelehrter Männer gesucht und die überlieferten theologischen Lehren mit Hilfe der Logik und Grammatik an der Bibel überprüft.54 Die entschiedene Zurückweisung der These, daß man vor der Kenntnisnahme des Wortes Gottes und unabhängig von ihr eine Erleuchtung gewinnen könne, hat Semler auch in Vorreden zu exegetischen Schriften deudich formuliert: Denn aller Zuwachs der richtigen Erkenntnis muß aus dem Worte Gottes, insofern es richtig verstanden wird, allein herkommen, kann also durch Erleuchtung [. . .] solange nicht mitgeteilt werden, als lange diese Erkenntnis nicht berichtigt wird. Denn ante verbum gradatim cognitum, et sine verbo, non est illuminatio, folglich auch keine effectue von ihr.55

Was sich durch die göttliche Erleuchtung tatsächlich verändert, ist nicht das menschliche Erkenntnisvermögen, sondern jene innere willentliche Einstellung, die aus einer bereits vorhandenen Erkenntnis die uns unmittelbar betreffende „lebendige" und „heilsame" Erkenntnis werden läßt. Weil die natürliche Erkenntnisausstattung des Menschen zur kritischen Prüfung der Lehrtradition und theologischen Wahrheitserkenntnis durchaus fähig ist, wäre es nach Semlers Auffassung falsch, „alles, was zur Tauglichkeit zum Lehramt gehört, von [der] Erleuchtung [zu] erwarten".56 Mit der von Christian Albrecht Döderlein in einer Hallenser Disputation vom 16. Februar 1758 zunächst mündlich, bald danach aber auch im Druck vertretenen Dluminationstheorie57 sieht Semler nicht nur eine schwerwiegende Abweichung von der lutherischen Lehrtradition, sondern vor allem die akute Gefahr heraufziehen, daß in der Hoffnung auf den Empfang einer Erleuchtung, welche eine Vergrößerung der vorhandenen menschlichen Verstandes- und Erkenntniskräfte bringen soll, das jederzeit mögliche und notwendige Bemühen um das Erlernen der alten Sprachen und die Hermeneutik unterbleibt. Wenn sich jedoch die Auffassung durchsetzen sollte, daß zum richtigen Verständnis der biblischen Aussagen die eigenen Erkenntnisbemühungen stets unzureichend seien, weil es entscheidend allein 54 55

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Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 340. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 35. Semler, Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zw Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 104. Die Auseinandersetzungen zwischen Semler, Christian Albrecht Döderlein und Johann Georg Knapp aufgrund der Quellen erstmals genauer analysiert und dargestellt zu haben ist ein Verdienst der Arbeit von Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 53ff. u. 76ff.

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auf die besondere Gnade einer göttlichen Erleuchtung ankomme, dann ist der Sinn eines akademischen Theologiestudiums und der wissenschaftlichen Ausbildung in Frage gestellt. Daß es im Einflußbereich des Halleschen Pietismus Prediger und Studenten gegeben hat, welche die Auffassung vertraten, für einen Wiedergeborenen oder Bekehrten sei das Theologiestudium im Grunde entbehrlich, darf man aus Semlers Erinnerungen an seine eigene Studienzeit in Halle entnehmen.58 Um diesen offenbar noch immer wirksamen Tendenzen gegenzusteuern, hat Semler mit Nachdruck der Auffassung widersprochen, daß die gottgewirkte Erleuchtung eine Art Vermittlung oder Erweiterung der erforderlichen theologischen Erkenntnisse bewirken könne: „Ich rede deutlich von Studiosis, die ja nicht sich möchten einbilden, daß Gott ihre natürlichen vires ingenii, um die Richtigkeit eines Lehrbegriffs oder der Auslegung zu fassen und zu bekommen, in der Erleuchtung vergrößere."59 Auch die besondere Eignung des akademischen Lehrers zur Schriftexegese ist nach Semlers Urteil nicht von dem Widerfahmis einer Erleuchtung, wohl aber von einer gründlichen Kenntnis der biblischen Sprachen, also des Hebräischen und Griechischen abhängig. Eine Kenntnis dieser Sprachen und Bedeutung ihrer Worte und Begriffe wird aber durch die Erleuchtung nicht vermittelt. Weil das Verständnis der biblischen Sätze und Reden „kein Mensch durch Erleuchtung aus der hebräischen und griechischen Bibel lernen kann: so lehre ich, daß die Erleuchtung niemanden zu einem Lehrer der biblischen Wahrheiten geschickt mache".60

5. Das Verständnis der Bekehrung Während die reformatorische Theologie die biographische Gestalt der Bekehrung ganz frei ließ, hielt August Hermann Francke es für erforderlich, daß jeder Christ über Zeit, Ort und Umstände seiner Bekehrung konkrete Angaben machen könne.61 Bei Siegmund Jacob Baumgarten sind insofern deudiche Anzeichen einer Abweichung von Franckes Position zu beobachten, als die Bekehrung nicht auf die Gestalt eines zeitlich genau datierbaren und beschreibbaren Ereignisses beschränkt wird. Es wird damit gerechnet, daß sie ein länger währender Prozeß ist, weil sie „sowohl den Anfang der Rückkehr zu Gott oder die erste Ausbesserung des Herzens als die Fortsetzung derselben anzeigt"62 58

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Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. I („Eine biographische Skizze") der vorliegenden Monographie, S. 4. Semler, Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 111. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 248f.; vgl. auch S. 259. Vgl. dazu Erhard Peschke, Bekehrung und Reform. Ansatz und Wurzeln der Theologie August Hermann Franckes. Bielefeld 1977, S. 143. Siegmund Jacob Baumgarten, Theologische Lehrsätze von den Grundwahrheiten der christlichen Lehre nach Ordnung der Freylinghausischen Grundlegung. Halle 1747, S. 347.

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Obwohl Semler, bedingt durch seine Auseinandersetzung mit pietistischen Gegnern, die Akzente im einzelnen etwas anders setzt, ist er doch in seinem Grundverständnis der Baumgartenschen Auffassung von der Bekehrung gefolgt. Wie sein Lehrer betont er die Notwendigkeit der Bekehrung für jeden Christen, weil nur auf diesem Wege „Heil und Wohlergehen" für Zeit und Ewigkeit zu gewinnen sind.63 Die Bekehrung ist nicht das Ergebnis menschlicher Bemühungen und Anstrengungen, sondern muß als „Gottes Werk" am Menschen und als Zeichen der göttlichen Gnade verstanden werden.64 Um ihr teilhaftig zu werden, bedarf es der Zustimmung des Glaubens, daß Gott der Urheber alles wahren Heils sei. Ist die Bekehrung Gottes Werk am Menschen, so entsteht die Bekehrungsgewißheit im Menschen durch die gottgewirkten Heilserfahrungen: „Dies ist die Bekehrung, Zukehrung zu Gott, welche unaufhörlich stattfindet und immer gewiß und unveränderlich wird, je mehr wir die Sache immer erfahren, welche unser Heil ausmacht."65 An dem sachlichen Primat und der zeitlichen Priorität des „Wortes Gottes" hat Semler auch bei seinem Verständnis der Bekehrung festgehalten. Der Umstand, daß die Bekehrung zu dem allmählichen Wachstum der Glaubenserkenntnis in Beziehung gesetzt wird, verdeutlicht, daß Semler die Bekehrung nicht als ein einmaliges oder punktuelles Ereignis, sondern eher als einen länger andauernden Prozeß versteht. Sie ist eine Folge davon, daß der Mensch zunächst Gottes Wort zur Kenntnis nimmt und danach bestrebt ist, es „ausgebreitet und vollständig zu erkennen". „Die Bekehrung und der Glaube" erfolgen „nur nach und in dem Grade seiner Erkenntnis. Und wenn er diese nicht weiter vermehrt, so wächst sein Glaube, insofern Erkenntnis dazu gehört, auch nicht, weil Gott nicht ohne dieses Mittel wirkt" 66 Entschieden wendet sich Semler gegen jede Gesetzlichkeit, die für den Ablauf des Bekehrungsvorganges einen bestimmten Grad an Sündenbewußtsein und die Beachtung bestimmter Regeln oder Zeiten vorschreiben möchte. Die Vorbereitungen auf die Bekehrung durch intensive Bußübungen und selbstauferlegte Strafen stellen .Atenschenerfindungen" dar,67 welche das Wirken Gottes nicht herbeizwingen können. Aus solchen Worten wird man unschwer eine Kritik an der durch Francke in den Halleschen Pietismus eingeführten Forderung nach einem ,3ußkampf" entnehmen können, dessen behauptete Notwendigkeit Semler anderenorts energisch bestritten hatte. Durch Gottes Gnade Sündenvergebung erlangen und ein wahrer Christ sein kann auch deijenige, der „sein Lebtag nichts von Bußkampf und Versiegelung gehört hat". 63

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 25. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 125f. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 295. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 89. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 126.

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Wenn die Forderung erhoben wird, ein Christ müsse sich erst „so und so sehr verderbt und elend fühlen und erkennen" und diesen Zustand durch bestimmte „Redensarten und Gebärden" anderen zur Kenntnis bringen, so sind dies nach Semlers Urteil nicht göttliche Gebote, sondern „menschliche unleidliche Forderungen".68 In sehr viel vorsichtigerer Form hatte auch Baumgarten schon die pietistische Begründung für den Bußkampf angezweifelt, indem er es als Streitfrage bezeichnete, „ob allezeit zur Bekehrung und Begnadigung eines Menschen eine empfindliche, merkliche, anhaltende Traurigkeit über die Sünde" und ein „Bußkampf' stattfinden 69

musse. Ist die Bekehrung ein Werk Gottes am Menschen, so besteht das menschliche Bemühen allein in dem täglichen Gebet um Gottes Gnade. Haben wir uns emsthaft um die rechte Erkenntnis des Wortes Gottes bemüht, so erlangen wir durch das Gebet die uns persönlich geltende „heilsame" Erkenntnis dieses Wortes. Das Gebet ist das einzige Mittel zum heilsamen Verstände der Bibel oder Heilsordnung auf unserer Seite, aber ist kein Mittel zum richtigen Verstände derselben. Wir müssen täglich beten, daB Gott das, was wir erkennen, möge unserer Seele so vorhalten, daß wir darin wirklich unseren wahren Vorteil uns angeboten sehen und dadurch also wirklich bekehrt und gebessert werden.70

Dem lebendigen Verlangen nach Gottes Gnade entspricht die Erkenntnis der eigenen Sünde. Und je lebendiger die Sündenerkenntnis, desto eifriger wird das Verlangen sein, sowohl von Gott begnadigt zu sein als auch nicht mehr von der Sünde beherrscht zu werden. Die Versöhnung Jesu bietet dies allen täglich, stündlich und frei an, ohne alle weitere Bedingung und Erfordernis: als diese zuversichtlich auf sich zu ziehen.71

Daß es in Kreisen des Halleschen Pietismus auch einen gewissen geistlichen Hochmut und ein herablassendes Verhalten gegenüber den vermeintlich „Unbekehrten" gegeben hat, darf man Semlers diesbezüglichen Warnungen entnehmen. Er verweist darauf, daß wir über kein eindeutiges Kriterium verfügen, aufgrund dessen das Vorliegen oder Fehlen einer Bekehrung festgestellt werden könnten. Demzufolge ist jede Zuweisung einzelner zur Gruppe der „Unbekehrten" fragwürdig. Vor allem aber muß das verletzende Verhalten gegenüber den so Bezeichneten als unchristlich gelten. Nur der Herr kennt die Seinen. Niemand ist deswegen für unbekehrt erkannt und anzunehmen, noch weniger öffentlich durch unterscheidendes Betragen gegen ihn dafür zu erklären oder wirklich außer allem EinfluB göttlicher segnender Gnade gesetzt, weil er von diesem

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Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 380; vgl. auch ders., Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 144. Siegmund Jacob Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen. Halle 1766, S. 1271. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 307. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 126.

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oder jenem, der es gewohnt worden ist, sich für treuer und dem Reiche Gottes nützlicher zu achten, dafür gehalten wird.72

Hans-Eberhard Heß ist in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis gelangt, daß Semler „die übernatürliche Kraft der Gnadenwirkung Gottes an dessen Wort und nicht an den Wahmehmungsakt dieses Wortes oder gar an das Erkenntnisvermögen des Menschen" bindet.73 Unbeschadet dieses Sachverhaltes rechnet Semler jedoch damit, daß der Bekehrung auf Seiten des Menschen ein bestimmter Wahrnehmungsakt vorausgeht, nämlich die Erkenntnis und Anerkennung des Wortes Gottes als der Botschaft von dem Versöhnungswerk Jesu Christi. Durch den zeitgenössischen Halleschen Pietismus war femer die Frage aufgeworfen worden, ob die gottgewirkte Bekehrung eine Berichtigung, Verdeutlichung und Erweiterung bestehender Erkenntnis mit sich bringe oder sogar den Zugang zu ganz neuen Erkenntnissen eröffne. Solche Kenntniserweiterung und solcher Erkenntnisgewinn als Folge der Bekehrung wurde mancherorts behauptet. In seiner Stellungnahme zu dieser Streitfrage hat Semler zwischen der lebendigen und heilsamen Erkenntnis der Gnade Gottes und der eigenen Sündenerkenntnis einerseits und der für Studenten und akademische Lehrer erforderlichen theologischen Sachkenntnis andererseits unterschieden. Nach Semlers Urteil wäre es eine Fehleinschätzung der Bekehrung, wollte man meinen, sie könne uns theologische oder wissenschaftliche Sachkenntnisse vermitteln, für deren Erwerb ansonsten Fleiß, Studium und Verstandeskräfte erforderlich sind. In sachlicher Übereinstimmung mit der Argumentation, welche das Verständnis der Erleuchtung bestimmte, wird eine Verdeutlichung, Berichtigung oder Erweiterung der Erkenntnis in Abrede gestellt. „Wer also vor der Bekehrung gar keine gewisse und deutliche und richtige Erkenntnis aus dem richtigen Lehrbegriff gehabt hat, bekommt sie durch die Bekehrung auch nicht."74 Die eigenständige Bemühung um die Kenntnisnahme und Aneignung theologischer Sachverhalte, wie sie das Studium von jedem fordert, kann also durch die Bekehrung nicht ersetzt werden: „Ein Bekehrter bekommt keine ausgebreitetere, deutlichere, richtigere Erkenntnis durch die göttliche Wirkung in der Bekehrung von den Dingen, die er kennt, noch weniger von anderen, die er nicht gelernt hat." Was an geistlichen Erkenntnissen mit der Bekehrung verbunden ist, bezieht sich nach Semler weder auf die durch ein wissenschaftliches Studium zu erwerbende theologische Sachkenntnis noch auf den gesamten Umfang des kirchlichen Lehrbegriffs, sondern nur auf „die eigentlich praktischen Wahrheiten", welche unser Verhältnis zu Gott betreffen.75

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Ebd., S. 94f. Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 83. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zw Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 51. Ebd., S. 55.

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Für die Eignung zum Beruf eines akademischen Lehrers kann und darf nach Semlers Auffassung nicht die Frage ausschlaggebend sein, ob dieser Lehrer in einem bestimmten Sinne als „Bekehrter" anzusehen ist. Denn die Bekehrung als solche vermittelt weder theologische Sachkenntnisse noch eine besondere pädagogische Eignung oder ein Geschick in der Unterweisung der Studenten. Die sachliche Richtigkeit einer theologischen Lehre ergibt sich nicht aus dem Anspruch, ein „bekehrter" Lehrer zu sein, vielmehr müssen zu diesem Zweck nachprüfbare Argumente beigebracht werden. Wenn es Lehrern freisteht, sich auf Erleuchtung und Bekehrung zu berufen, so oft von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer christlichen Lehre die Frage ist, so ist's mit der christlichen wahren Religion getan und es entstehen menschliche unstete, flatterhafte Lehren.76

So gewiß jeder Christ sich um die persönliche Aneignung der Heilsordnung mühen soll, ist doch die Wirkung des Wortes Gottes vom geistlichen Zustand des jeweiligen Predigers unabhängig. Ausdrücklich hat Semler hervorgehoben, „daß Gottes Wort seine Kraft zur Bekehrung nicht durch den unbekehrten Lehrer verliert".77 In der Tradition des Halleschen Pietismus waren die Bekehrung und das geistliche Wachstum zugleich als eine Abkehr von der Welt und der Beschäftigung mit weltlichen Dingen verstanden worden. Man sah in solcher Beschäftigung eine Gefährdung des geistlichen Lebens. Wurde diese Haltung schärfer ausgeprägt oder radikalisiert, so konnte sie leicht zu einer Zurückdrängung des Schöpfungsglaubens und zu einer negativen Einschätzung von Natur, Gesellschaft und Berufsarbeit führen. Offenbar hatten zu Semlers Zeiten diese Tendenzen in pietistischen Kreisen erheblich an Einfluß gewonnen. „Gar häufig", so erklärt er, werde eingeprägt, das wahre Christentum werde durch fleißige Beobachtung äußern Berufs, durch Genuß und Gebrauch äußerer Dinge und Umstände, die zum jetzigen gemeinen Wesen gehören oder in dem Reiche der Natur von Gott angeboten werden, sehr gehindert; man müße sich dieses und jenes enthalten.78

Den weltflüchtigen Neigungen und dem Quietismus suchte Semler durch die Betonung eines tätigen Christentums zu wehren. Während der Mensch im Empfang der „Gnadenwirkung Gottes zur Erleuchtung und Buße" passiv bleibt, „bloß subjectum recipiens, nicht aber agens ist", sucht er danach, in der Verwirklichung des geistlichen Lebens eine gesteigerte Aktivität zu entfalten.79 Doch darf sich diese Aktivität nicht in einer Pflege der eigenen Erbauung und Innerlichkeit erschöpfen. Gegenüber zeitgenössischen Tendenzen, die Bekehrung nicht nur als Abkehr von der Sünde, sondern auch als Abkehr von den gesellschaftlichen Ordnungen und Be-

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Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 309. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 262f. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 56. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 56.

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rufspflichten aufzufassen, hat er mit Nachdruck die Vereinbarkeit von geistlicher Bekehrung zu Gott und treuer Berufserfüllung betont. Die Bekehrung ist nicht unser, sondern Gottes Werk; er befördert dieselbe ohne die übrigen von ihm gemachten Ordnungen äußeren Berufs auf kurze oder längere Zeit daneben durchaus aufgehoben wissen zu wollen. Wo rechte göttliche Gnade sich äußert: findet das Gemüt in allen, auch äußerlichen Beschäftigungen stete Nahrung des einmal angezündeten redlichen Verlangens, in jenem seligen Zustand zu sein, wo dies alles Gott zu gnädigem Gefallen gereichen könne.80

6. Das Verständnis der Wiedergeburt Daß sich im theologischen Denken des Pietismus das Interesse so stark auf die „Wiedergeburt" als den entscheidenden Vorgang im christlichen Leben richtet, hat man aus einer Reaktion auf ein einseitig forensisches Verständnis der Rechtfertigung als bloßer Gerechterklärung zu deuten versucht. Die Rede von der Wiedergeburt empfahl sich, weil durch sie die entscheidende geistliche Neuwerdung des Menschen durch den Glauben und die mit ihr verbundene sittliche Erneuerung zum Ausdruck gebracht werden konnten. Aufgrund der Erfahrung, daß viele Christen aus der ihnen verliehenen Taufgnade herausgefallen sind, rechnete man seit Spener in pietistischen Kreisen mit der Möglichkeit der Wiederholbarkeit der Wiedergeburt im Leben der Erwachsenen. Auf diese zweite, eigentliche Wiedergeburt richtete sich nun die Aufmerksamkeit. Allerdings wurde der Begriff der Wiedergeburt zu Semlers Zeiten keineswegs einheitlich verwandt. Es gab, worauf Baumgarten hinweist, eine weitgefaßte Bedeutung, derzufolge der Begriff der Wiedergeburt auch die Rechtfertigung und Gotteskindschaft einschließt, und eine engere Bedeutung, wonach der Begriff lediglich „die innere Ausbesserung des Menschen" bezeichnet und mit dem Bekehrungsbegriff nahezu gleichbedeutend ist. Auf diese Weise wurde jene geistliche Veränderung akzentuiert, die aus dem Glauben heraus ein Leben in Heiligkeit und Nächstenliebe entstehen läßt. Was den zeitlichen Ablauf der Wiedergeburt anbelangt, so erklärt Baumgarten, daß sie „nicht im Augenblick, sondern nach und nach geschieht, obgleich in manchen Fällen sehr schnell".81 In ähnlicher Weise wie Baumgarten hat auch der junge Semler die Wiedergeburt verstanden. Allerdings betont er in seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischen pietistischen Auffassungen, daß die Erkenntnis der im Neuen Testament enthaltenen Heilsordnung stets der Wiedergeburt vorausgehe, und infolgedessen nicht etwa das Widerfahmis der Erleuchtung und Wiedergeburt zur Bedingung für das Verständnis der Heiligen Schrift erhoben werden dürfe. „Die Erleuchtung und Wieder80 81

Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 125. Siegmund Jacob Baumgarten, Theologische Lehrsätze nach Ordnung der Freylinghausischen Grundlegung. Halle 1747, S. 257. 109

geburt wird von Gott durch den erkannten Inhalt der Schrift in uns bewerkstelligt und eben dadurch auch, als durch das einzige Mittel bei einem vernünftigen, denkenden Geiste fortgesetzt."82 Ebenso wie der Glaube an die allgemeine Liebe und Gnade Gottes ist für Semler die Wiedergeburt aus Gott als sittliche Erneuerung ein Kennzeichen jedes ernsthaften Christseins. Wenn uns die Aufgabe der Bruderliebe als „eine sehr leichte Pflicht" erscheint, dann ist dies „die Folge davon, daß alle wahre Christen gleich gut aus Gott geboren sind".83 Es ist behauptet worden, daß Semler sich hinsichtlich der Soteriologie enger an den gewöhnlichen Lehrbegriff angeschlossen habe und daß ihm „Bekehrung und Wiedergeburt" wichtigere Artikel seien als die Trinitätslehre und die Zweinaturenlehre.84 Diese Feststellung trifft zu. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß Semler, obwohl er an dem Widerfahmischarakter der von Gott bewirkten Wiedergeburt festhält, dieselbe doch nicht als ein einmaliges oder biographisch genau datierbares Ereignis versteht. Auch ist er nicht geneigt, bloßen Berichten oder Versicherungen über diesbezügliche persönliche Erlebnisse oder Erfahrungen ohne weiteres Glauben zu schenken.85 Mit einer gewissen Skepsis stellt er fest, daß es kein eindeutiges Wahrheitskriterium gibt, das es erlauben würde, das tatsächliche Vorhandensein einer „Wiedergeburt" zweifelsfrei festzustellen und von bloßen Behauptungen und Einbildungen zu unterscheiden.86 Ebensowenig wie die Erleuchtung darf die Wiedergeburt als eine gottgeschenkte Vermittlung besonderer geistlicher Erkenntnisse verstanden werden. Bei der exegetischen und dogmatischen Überprüfung der Lehre von der Heilsordnung, die Semler 1777 in seiner eigenen Glaubenslehre vorgenommen hat, sind ihm Zweifel gekommen, ob die im Rahmen des ordo salutis abgehandelten Hauptbegriffe und Artikel (Bekehrung, Erleuchtung und Wiedergeburt) sich tatsächlich auf deutlich zu unterscheidende Sachverhalte beziehen. Er äußert vielmehr die zutreffende Vermutung, ja Überzeugung, daß mit der geläufig gewordenen Einteilung ein und derselbe Sachverhalt nur unter verschiedenen Aspekten betrachtet werde. In sachlicher und zeitlicher Hinsicht seien Erleuchtung, Wiedergeburt und Lebendigmachung des Menschen gar nicht voneinander zu unterscheiden.87 Wesentlich schärfer ist die Beurteilung dieses Sachverhalts in der Sicht des älteren Semler, denn im Jahre 1786 spricht er von „einem kenntlichen Fehler" der Theologen, wel-

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Semler, Vorbereitung zw theologischen Hermeneutik. Halle 1760, Vorrede.

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Semler, Auch über den vorgeblichen Calvinismus in Göttingen. Halle 1788, S. 68. Wilhelm Gass, Geschichte der protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammenhange mit der Theologie überhaupt. Bd. 4. Berlin 1867, S. 58. Unzutreffend scheint mir die von Hans-Eberhard Heß aufgestellte Behauptung zu sein, der Hallesche Pietismus habe die Wiedergeburt lediglich als „eine ethische Einübung und nicht als ein Widerfahrnis" verstanden; vgl. ders., Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg O.J. [1974], S. 268, Anm. 71. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 98. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 533.

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che „die Anzahl der locorum oder articulorum fidei nach der Anzahl und Abwechslung der Redensarten sammelten von vocatio, illuminatio, regeneratio, conversio

7. Die Lehre von der Rechtfertigung und Heiligung Hinsichtlich der Rechtfertigungslehre hat Semler den Akzent auf den christologischen Grund der Rechtfertigung gelegt und in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Kritikern hervorgehoben, daß sich die Rechtfertigung als Gerechtsprechung des Sünders aus Gottes Versöhnungs- und Erlösungshandeln in Jesus Christus ergibt. Wenn nach einer weitverbreiteten, aber wohl kaum generell zutreffenden These in der protestantischen Aufklärungstheologie die Christologie durch eine „Jesulogie" ersetzt worden sei, so kann als Beleg für die Richtigkeit dieser These auf Semler nicht verwiesen werden. Für ihn ist Jesus Christus weder ein tugendhafter Mensch oder Vorbild edelster Humanität noch ein bloßer Lehrer oder Verkünder einer neuen Gotteserkenntnis, sondern der Gekreuzigte, der uns durch seinen Tod von der Herrschaft der Sünde losgekauft hat. Semler hat sein Verständnis von der Lehre der Heilsordnung aufs engste mit der paulinischen Kreuzestheologie und Soteriologie verbunden. Die Predigt von Christus, dem Gekreuzigten, impliziert nach seiner Auffassung, daß „die wahre göttliche, Gott allein rühmliche Heilsordnung" erklärt wird. Mit dem Kreuzestod Jesu Christi erhalten wir Gottes Gnade und Liebe zugesprochen. Daher Paulus mit größtem Recht sagte, Jesus Christus, welcher nach Gottes eigener Verordnung und Einrichtung damalen dieses öffentlichen feierlichen Todes sterben mußte: ist hiermit geworden Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung.89

Die im Christusglauben empfangene Rechtfertigung hat Semler primär als Gerechtsprechung verstanden, weil durch sie eine Zurechnung der Gerechtigkeit Christi erfolgt. Damit beginnt ein Prozeß, der im Glaubenden die Verwandlung seiner Gesinnung und seines Handelns zur Folge hat. Diese forensische Deutung der Rechtfertigung steht bei Semler in weitgehender sachlicher Ubereinstimmung mit der Auffassung seines Lehrers Baumgarten. Die von einer radikalpietistischen, aber anonym veröffentlichten Schrift mit dem Titel Lutherus ante Lutheranismwn aufgeworfene Frage, „ob der rechte Glaube bloß eine Eingreifung und zuversichtliche

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Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 75. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 359 u. 362; vgl. S. 367f. - Vgl. ders., Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schatz. Königsberg 1792, S. 166f.: „Es gibtauch deutlichere Stellen; Christus hat uns erlöset von aller vorigen Ungerechtigkeit oder von allem vorigen eitlen Wandel, von der unwürdigen Herrschaft der sinnlichen Begierden; er ist gestorben um unserer Sünden willen."

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Zueignung des Verdienstes Christi sei, als welchen Glauben ein jeder Sklave des Teufels haben könne?", beantwortet Semler 1760 mit der lapidaren Feststellung: „Der Glaube, den wir mit Luthern aus der heiligen Schrift gelernt haben, ist eben diese Zueignung, es ist aber falsch, daß ein Sklave des Teufels sich das Verdienst Christi zueigne."90 Will man Semlers Lehre von der Rechtfertigung und Heiligung genauer erfassen, so ist eine Analyse seines Sündenverständnisses erforderlich; denn die Gerechtsprechung um Christi willen ist in erster Linie Sündenvergebung. Sünde ist für Semler ein korrelativer Begriff, weil Sünde immer nur im Verhältnis zu Gott und seinem Willen gedacht werden kann. Sie wird vorwiegend als Übertretung göttlicher Gebote verstanden und ist in diesem Sinne an einzelnen konkreten Handlungen orientiert. Gemäß der pietistischen Tradition unterscheidet Semler zwischen vorsätzlichen und absichdichen Sünden einerseits und unbeabsichtigten Sünden andererseits.91 Während die ersteren willentlich getan werden, ergeben sich die letzteren aus den Schwächen der menschlichen Natur. Doch hat Semler die Sünde nirgends mit der Sinnlichkeit gleichgesetzt oder ausschließlich aus der sinnlichen Natur des Menschen zu erklären versucht. Dies zeigt sich auch daran, daß die Botschaft von Christi Person und Werk als Maßstab der Sündenerkenntnis gilt. Protestantische Christen „erkennen", wie der ältere Semler formuliert, „aus der geistlichen Lehre Christi innere Sünde".92 Die Wirkung des Zuspruchs der Rechtfertigung besteht darin, daß die Glaubenden „neue Motive" bekommen und „von häufiger Wiederholung der Sünde soweit zurückgehalten" werden, wie „moralische Veränderungen" in ihnen stattfinden.93 Semler hat die Rechtfertigung nicht nur als Gerechtsprechung und Zurechnung des Verdienstes Jesu Christi, sondern auch als Gerechtmachung und als eine den Menschen erneuernde Tat Gottes verstanden. Er betont jedoch, daß zum Empfang der Sündenvergebung auch der ernste Wille zur Heiligung des eigenen Lebens in der Zurückdrängung willentlicher Sünden gehört. Das unaufhebbaie Zugleich von Ge-

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Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 405. - Die von Semler zitierte anonyme Schrift Lutherus ante Lutheranismum war in Köln 1701 erstmals erschienen und 1717 sowie 1725 in neuen Auflagen herausgegeben worden. Als Autoren derselben wurden der Osnabrücker Prediger Bernhard Peter Karl und Gottfried Arnold vermutet. Vgl. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 163: „Die geschäftige Lust und Neigung, insofern sie auch ohne unsern vorhergehenden Vorsatz sich regt, nennen wir auch Sünde, weil es eine Veränderung in uns ist, die nicht mit der Absicht Gottes, wozu er das Vermögen zu begehren uns gab, übereinstimmt; wir beschreiben sie aber als Sünde, die da in uns stets ist, und nennen es die auf uns ohne unsere jetzige eigene Tätigkeit, geerbte, fortgepflanzte Sünde. Daher geben wir uns vor Gott stets Sünde schuldig, daß wir täglich viel sündigen, ob wir gleich nicht täglich Bosheits- und wissentliche Sünden begehen und ausüben." Semler, Vorläufige Antwort auf eines Naturalisten unbillige Prüfung der vertrauten Briefe über die Religion. Halle 1786, S. 42. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 34.

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rechtgesprochensein und Sündersein im Christenleben darf also nicht zu einer bequemen Duldung der Sünde führen: Wenn es aber gleichwohl trifft, daß ein Christ in Sünde fällt, so hört er deshalb nicht gleich auf ein Christ zu sein, wenn er die Abtuung seiner Sünde durch Christi Versöhnung sucht und glaubt, sie revociert und ungetan haben will, folglich aber auch freilich sich immer mehr bestrebet, von wirklichen wissentlichen Sünden sich rein zu halten.®4

Die Sündenvergebung und Gerechtsprechung des Sünders sind ein universales Gnadenhandeln Gottes, das um Christi Willen geschieht und von allen Menschen im Glauben angeeignet werden kann. Dieser im paulinischen Verständnis des Evangeliums begründeten Gnaden- und Rechtfertigungslehre hat Seniler eine Zentralstellung innerhalb der gesamten christlichen Glaubenslehre zuerkannt. Belege dafür finden sich nicht nur in seinen Frühschriften, sondern auch in seinen späteren Werken. In einer prägnanten Formulierung aus dem Jahre 1768, die in ihrem Verständnis des Evangeliums Rom. 1,16 aufnimmt und diese Aussage mit der von Tit. 2,11 f. verbindet, hat Semler die Evangeliumsverkündigung von der Gnade Gottes und das sich aus dem Glauben ergebende Bestreben, gerecht und gottselig in dieser Welt zu leben, als „die Hauptsache aller christlichen Lehre, die wir am meisten treiben müßen", bezeichnet.95 Man kann sagen, daß der in vieler Hinsicht durchaus traditionskritisch eingestellte Semler in Abgrenzung von andersgerichteten zeitgenössischen Bestrebungen doch um die Erhaltung und Fortführung wesentlicher Grundgedanken der lutherischen Lehrtradition bemüht ist.96 Dabei hebt er jedoch hervor, daß solches nicht aus konfessionalistischer Rechthaberei oder wegen eines starren Beharrens auf überlieferten Lehrsätzen geschieht, sondern um den neutestamentlichen Gnadengedanken und Heilsuniversalismus zur Geltung zu bringen: Es bleibt also Pauli Lehre von der Rechtfertigung der Menschen, die nun die christliche Sinnesänderung annehmen, immerfort nötig, aber nicht um Papisten, Arminianer, Socinianer, Separatisten willen, um sie zur Annahme der strengsten lutherischen Beschreibung zu bewegen [...], sondern um den Hauptsatz der christlichen Religion von allgemeiner Gnade Gottes, immerfort den Menschen vorzuhalten.97

Da die Gerechtsprechung eine von Gott bewirkte Wiederherstellung des rechten Gottesverhältnisses ist, betrifft sie die Geltung vor Gott, bewirkt aber keine unmit-

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Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 181. Semler, Historische Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1786, S. 341; vgl. auch ders., Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 184. Außer den bereits gegebenen Belegen für den Anschluß an die lutherische Lehrtradition und der besonderen Wertschätzung der Katechismen Luthers ist hier Semlers positive Bezugnahme auf Luthers Rechtfeitigungslehre in den Schmalkaldischen Artikeln („Wie man für Gott gerecht wird und von guten Werken") zu erwähnen; vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 211. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 389f.

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telbare qualitative Veränderung im Zustand des Menschen. Auch der von Gott Gerechtfertigte bleibt weiterhin ein Sünder, der auf die Gnade und die Vergebung seiner Sünden durch Gott angewiesen ist. Semler hat mehrfach betont, daß der Vorgang der göttlichen Rechtfertigung nur aus dem Schriftzeugnis erkannt und begründet werden kann. Von dieser These aus hat er sich kritisch mit der Theorie von der Erfahrbarkeit der Rechtfertigung auseinandergesetzt. Zwar gibt es eine Gewissenserfahrung hinsichtlich des eigenen sündhaften Zustandes und ein Wissen von der Nichtübereinstimmung des eigenen Handelns mit dem Willen Gottes, aber die durch Gottes Zusage erfolgte und im Glauben angenommene Rechtfertigung kann, weil sie „nicht in einer subjektivischen Veränderung" besteht, auch „niemalen ein Gegenstand der Erfahrung" sein.98 Der relationale Sachverhalt der im Glauben empfangenen Rechtfertigung begründet keinen Habitus oder bleibenden Besitz substantieller Gerechtigkeit. Zur Folge der von Semler streng im forensischen Sinne verstandenen Rechtfertigung gehört die Heiligung. Letztere besteht in dem unablässigen Kampf gegen die Sünde und in dem Bestreben des Christen, sein Leben in Übereinstimmung mit Gottes Willen zu führen. Der in der protestantischen Aufklärungstheologie vereinzelt zu beobachtenden Tendenz, die Heiligung zur Bedingung für den göttlichen Akt der Rechtfertigung zu erheben, hat Semler sich nicht angeschlossen. Die Heiligung gilt ihm nicht als Bedingung, sondern als Folge der Rechtfertigung, die sich auf das ganze Christenleben erstrecken soll. Während die im Glauben empfangene Rechtfertigung als Urteilsspruch Gottes sofort und uneingeschränkt gilt, ist die Heiligung ein zeitlicher Prozeß, der verschiedene Stufen eines Zu- und Abnehmens durchläuft. Das Tun der guten Werke entspringt nach Semlers Interpretation der paulinischen Aussagen nicht „unserer eigenen und inhaesiven Gerechtigkeit, Vollständigkeit und moralischen Güte", wohl aber dürfen die guten Werke als „Früchte und Beweise" des lebendigen Christusglaubens verstanden werden.99 Diese Formulierung erinnert an die Aussage von Confessio Augustana VI. In einer Erwiderung auf eine zeitgenössische pietistische Kritik, die der Lutherischen Kirche und Theologie mangelnde Beachtung der erforderlichen Heiligung zum Vorwurf macht, erklärt Semler: Daß das Christentum nicht in Kirchengehen, Beichten, Abendmahl, Getauftsein bestehe: lehren unsere Prediger alle Tage; daß der Glaube ein gar lebendiges, kräftiges Ding sei, das im-

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 31f. - Von der durch den Heiligen Geist gewirkten „Erleuchtung" und „Heiligung" hat der ältere Semler allerdings behauptet, daß der Mensch sie „selbst erfährt", weil sie als Glaubenserfahrungen zu einer ,4nnerliche[n] gewisse[n] Historie" im Menschen werden; vgl. Semlers Zusätze zu Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. R. Steinbarts System des reinen Christentums. Halle 1780, S. 156. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 378.

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merfort in allen Handlungen zum Grunde liegt und zu täglichem Ernst treibt in der Heiligung, lehren wir auch.100

Ist Semlers Front in der Heiligungslehre einerseits gegen den Quietismus und die Beliebigkeit des Handetos gerichtet, welche die Aufgabe des Tuns „der guten Werke" vernachlässigt, so andererseits gegen die Gefahr einer asketischen Weltentsagung und die Verachtung der Berufspflichten. Denn vor allem in der täglichen Erfüllung der Berufspflichten soll der Christ zum Wohle seiner Mitmenschen tätig sein. Die durch Christus bewirkte Erlösung von der Herrschaft und Gewalt der Sünde gehört nach Semler zur Wirklichkeit der Heilsgegenwait. Doch auch bei einem ernsthaften Heiligungsstreben vermag im irdischen Leben niemand den Zustand völliger Sündlosigkeit zu erreichen. Die perfektionistische Annahme, derzufolge für den Christen eine vollständige Heiligkeit, Reinheit und sittliche Vollkommenheit schon zu Lebzeiten erreichbar sei, hat Semler aus einem doppelten Grund entschieden abgelehnt: einmal, weil sie die durch Christi Kreuzestod bewirkte Versöhnung überflüssig machen würde, und zum anderen, weil sie bei den Personen, die sich im Besitz solcher Heiligkeit und Vollkommenheit wähnen, eine falsche Sicherheit hervorruft. In seiner Zurückweisung des Perfektionismus beruft er sich sowohl auf die Heilige Schrift als auch auf „die gewissenhafte strenge Lehre unseres Katechismus" und die Aussagen des Art. 12 der Confessio Augustana.101 Die Auffassung, daß die Christen immer mehr der Sünde absterben und der Gerechtigkeit leben sollen, lehret unser Catechismus schon lange; allein wenn man sagt, ein Christ solle so vollkommen werden, daß er von sich sage, er sündige weder viel noch wenig, er sei täglich durch sich selbst gerecht, so ist dieses eine liederliche fanatische Perfektisterei.102

Aufgrund seiner Beschäftigung mit den Quellen der Reformationszeit und seiner Kenntnis der Theologiegeschichte wußte Semler um die zentrale Stellung und hohe Wertschätzung der Rechtfertigungslehre innerhalb der lutherischen Lehrtradition. Von der Schriftgemäßheit der reformatorischen Rechtfertigungslehre und ihrer Gnadengedanken ist er fest überzeugt: „die Lehre der protestantischen Kirchen von der Rechtfertigung der noch eben in Sünden passiv sich findenden Menschen, die aber vor Gott gern Gnade haben und der Sünden los sein wollen, ist himmelfest in der Bibel gegründet".103 Auch die Frage, ob die Trennung von der römisch-katholischen Kirche hinsichtlich der Lehre von der Gerechtsprechung durch Gott zu Recht erfolgt sei, hat ihn wiederholt beschäftigt. Zwar ist Semler bereit zuzugeben, daß mit der römisch-katholischen Rechtfertigungslehre und Kirchensprache ebenfalls eine aufrichtige Frömmigkeit und Erbauung erreicht werden können, aber die lu100 101

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Ebd., S. 300. Ebd., S. 220ff.; vgl. auch ders., Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 280f. Ebd., S. 253. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 202.

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therische Lehre verdient mit ihrem „sola fide" doch den eindeutigen Vorzug.104 Sie hat sich als schriftgemäße Lehre und als Grund einer „heilsamen Schriftauslegung" erwiesen. Daher sind der Anschluß an die lutherische Lehrtradition und die Verteidigung ihrer Grundeinsichten nach wie vor geboten: Den Artikel von der Rechtfertigung haben unsere Lehrer seit dem 16ten Jahrhundert als den Augapfel, das größte Kleinod und als den wirklichen Grund aller gesunden heilsamen Schriftauslegung angesehen. Sie hatten gewiß nicht unrecht, zumal sie damalen auf die vielen beschwerlichen ungewissen Lehrsätze und Vorschriften zurück sahen, welche durch sehr ungeistliche Menschen eingeführt worden waren als Teile der christlichen Heilsordnung.105

Semler bestätigt ausdrücklich die Richtigkeit des theologischen Urteils, demzufolge der Artikel von der Rechtfertigung „der wichtigste Grundartikel [ist], woran die Reinigkeit der ganzen Lehre hängt", und fügt hinzu, daß dieser Artikel „articulus purus" genannt werden muß, „weil er unmittelbar aus der heiligen Schrift genommen ist".106

8. Zur geistlichen Vereinigung mit Gott Im Rahmen der dogmatischen Darstellung der Heilsordnung hatte der Hallesche Pietismus nach Wiedergeburt und Rechtfertigung ,die geistliche Vereinigung mit Gott' behandelt. Gemäß der genaueren Begriffsbestimmung, die Johann Anastasius Freylinghausen gegeben hatte, bezeichnet die Wiedergeburt keineswegs nur die allgemeine Gegenwart Gottes oder die Gaben und Wirkungen Gottes in den Gläubigen, sondern auch den Sachverhalt, daß „Christus und um deswillen auch der Vater und Heilige Geist nach ihrem Wesen auf eine geheime, kräftige und gnadenreiche Art" in den Gläubigen „wohnen und daher mit ihnen viel genauer als mit anderen Kreaturen vereinigt sind".107 Baumgarten hatte den Begriff der Vereinigung des Menschen mit Gott in seine Definition des Theologiebegriffs aufgenommen und auf diese Weise Dogmatik, Polemik und Moraltheologie miteinander verklammert. Der Vereinigungsgedanke hat für sein Verständnis der Heilsordnung

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Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 264f.: „Die Beschreibung von Justificatio, zumal sola fide, ist unleugbar im Selneccer recht ernsthaft, aufrichtig, mit eigener Teilnemung des Gemüts; und dieses hat mich, in Absicht unserer lutherischen neuen oder verschiedenen Lehrart, freilich allezeit beruhigt. Aber ich konnte doch nicht einsehen, daß die katholische Kirchensprache, von fide formata, diese eigene christliche Erbauung durchaus schon ausschlösse; zur erbaulichen Anwendung hatten beide Lehrarten den Weg offen gelassen; freilich hatte ich nie einen Grund entdecken können, warum wir durchaus die alte Lehrart wieder vorziehen sollten." Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 556. Ebd., S. 557f. Johann Anastasius Freylinghausen, Grundlegung der Theologie. Halle 131763, S. 200.

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sowie der gesamten Glaubenslehre und Theologie eine entscheidende Bedeutung.108 Nach Baumgartens Urteil gehört die Lehre von der Vereinigung des Menschen mit Gott oder mit Christus zu den „unentbehrlichen Grundwahrheiten der Heilsordnung".109 Es gibt eine „allgemeine Vereinigung mit Gott", die aus Gottes Regierung über das Naturreich erwächst und in allen Geschöpfen stattfindet (Apg. 17,28), und „die nähere Vereinigung mit Gott", die als geistige Vereinigung der Christen mit Gott „eigentlich allein rechtmäßig und vorteilhaft" ist. Als Beleg für diese heilsnotwendige Vereinigung wird auf 1. Kor. 6,17 verwiesen.110 Obwohl Baumgarten hervorhebt, daß die Vereinigung oder Gemeinschaft mit Christus „das wesentlichste und notwendigste Stück der Heilsordnung" sind,111 hat er doch keinen Zweifel daran gelassen, daß sie sowohl sachlich als auch zeitlich mit der Rechtfertigung und Wiedergeburt zusammengehörten.112 Semler spricht zwar ebenfalls von der Vereinigung der Gläubigen mit Gott, aber bei ihm verliert der Vereinigungsgedanke die zentrale Stellung, die er bei Baumgarten besessen hatte. Auch will ihn Semler gemäß der eigenen Distinktion nicht der wissenschaftlichen Theologie, sondern der Religion zugewiesen wissen: „Daß die Religion den Weg zeige zur Vereinigung mit Gott war richtiger als wenn es andere von der Theologie sagten."113 Auch wenn diese Äußerung zunächst gegen Franz Burmann gerichtet ist, hat der ältere Semler doch keinen Zweifel daran gelassen, daß er sich gerade wegen der Aufnahme des Vereinigungsgedankens in den Theologiebegriff von Baumgarten distanzieren müsse. Er gesteht freimütig, daß er hinsichtlich der Definition des Theologiebegriffs von seinem geschätzten Lehrer abgewichen sei, weil „die christliche Anweisung, wie Menschen zur Vereinigung mit Gott kommen sollen", nicht zur Aufgabe der Theologie gehört, welche im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung den Studenten auf der Universität vorgetragen werden soll.114 Gegenüber der pietistischen Deutung der Rede von der .Vereinigung mit Gott' und dem Bestreben, individuelle Erfahrungen solcher Vereinigung für das Christsein allgemein verbindlich zu machen, hat schon der junge Semler nachdrücklich

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Vgl. hierzu Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974, S. 84ff. Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 2. Halle 1760, S. 843. Siegmund Jacob Baumgarten, Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral. Halle 1767, S. 148f. Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1759, S. 874. Siegmund Jacob Baumgarten, Theologische Lehrsätze von den Grundwahrheiten der christlichen Lehre nach der Ordnung der Freylinghausischen Grundlegung. Halle 1747, S. 269. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 355. Ebd., S. 240.

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Einspruch erhoben.115 Für ihn stellt sich die Frage, in welchem Sinne überhaupt von einer solchen geistlichen Vereinigung bei einem irdischen und sündhaften Menschen gesprochen werden kann. Die Folge der mystischen Vereinigung oder des Eingehens in Gott kann jedenfalls nicht sein, daß der Mensch seine menschliche Natur verliert. Auch kann der Mensch niemals jenen Grad an Vollkommenheit oder Übereinstimmung mit Gott erreichen, der allein die Person Jesu Christi auszeichnete. Vielmehr bleibt auch bei emsten Christen stets eine durch die Sünde bedingte Differenz. Wenn es zur Bekehrung und Vereinigung mit Gott kommt, dann ist dies nach Semlers Überzeugung eine Wirkung des Wortes Gottes, keinesfalls aber, wie mancherorts angenommen wurde, Folge der besonderen geistlichen Qualität des Lehrers oder Predigers.116 Semler übernimmt weder die pietistische Deutung und Bewertung der geistlichen Vereinigung mit Gott noch Baumgartens Zentralstellung dieses Lehrartikels, sondern plädiert vielmehr für seine Preisgabe als selbständige Lehre. Er begründet seinen Vorschlag mit dem Hinweis auf die ältere lutherische Lehrtradition, die eine gesonderte Lehre für diese Thematik auch nicht besaß. Freilich war es nicht nötig, einen besonderen Lehrartikel zu machen, de unione mystica, es haben auch nicht alle Lehrbücher einen besonderen Artikel davon; indem alle Christen, welche ein geistliches heiliges Leben nun angefangen haben, durch diese neue Ordnung im Gebrauche des Verstandes und Willens, durch Einheit der Absichten und Handlungen, auch mit Gott schon vereiniget heißen.117

Nicht nur an der besonderen Akzentuierung und Verselbständigung der Lehre von der Vereinigung mit Gott, sondern auch an den Bildern und Metaphern, die zu ihrer Veranschaulichung in der pietistischen Theologie und Predigtsprache benutzt wurden, hat Semler Kritik geübt. Keineswegs dürfe die geistliche Vereinigung mit Gott als eine Art „Vergottung" (deificatio) des Menschen beschrieben oder ausgegeben werden. Die Abgrenzung gegenüber diesem Mißverständnis hatte auch Baumgarten schon vollzogen.118 Als dem bezeichneten Sachverhalt unangemessen bezeichnet Semler aber auch einen Sprachgebrauch, der unter Verwendung von Metaphern die geisdiche Vereinigung als „Hochzeit" oder „Vermählung" der Seele mit Christus und als „Einpfropfung in den geistigen Weinstock" beschreibt.119

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Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, Vorrede. Vgl. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 261: J c h lehre: daß die Heilsamlichkeit und Frucht des Vortrags gar nicht an der inneren Beschaffenheit des Lehrers hängt; daß der beste Zustand des Lehrers keine Influenz, eigene causalitatem, hat in den größeren und leichtern Erfolg und das Entstehen der Bekehrung bei andern." Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 567f. Siegmund Jacob Baumgarten, Ausßhrlicher Vortrag der Theologischen Moral. Halle 1767, S. 1497. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 568.

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9. Denkentwicklungen Da Semlers Denken sich mit seinen Forschungen und Studien fortentwickelt, läßt sich auch sein Verständnis der Lehre von der Heilsordnung nur genetisch darstellen. Die hier interpretierten Quellen stammen größtenteils aus dem ersten Jahrzehnt seiner akademischen Lehrtätigkeit in Halle (1753-1763). Sie gehören also zu jener Frühperiode seines Schaffens, die durch Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen pietistischen Auffassungen geprägt ist und in der Semler sein von August Hermann Francke deutlich abweichendes Programm für ein wissenschaftliches Theologiestudium zu verwirklichen suchte. In den folgenden Jahren wendet sich Semler stärker historischen Forschungsaufgaben wie der Frage nach der Entstehung und Bedeutung des neutestamentlichen Kanons zu. Dennoch erlischt keineswegs Semlers Interesse an der exegetischen Begründung und dogmatischen Gestalt der Lehre von der Heilsordnung. Ohne die Kritik an der orthodoxen Schrifdehre und dem gesetzlichen Kanonsverständnis einzuschränken, hat Semler die Elemente hervorgehoben, die eine inhaltlich bestimmte Schriftautorität konstituieren und als solche eine fortdauernde Gültigkeit beanspruchen können. Es sind dies das „Evangelium" als Zeugnis von der durch Christus geschehenden Offenbarung Gottes, das „Wort Gottes" und die Wahrheiten der neutestamentlichen Heilsordnung. Man wird diese Terminologie als unterschiedliche Ausdrucksweise für den gleichen Sachverhalt verstehen dürfen. Die von orthodoxer Seite erhobenen Vorwürfe des „Indifferentismus" und „Naturalismus" hat Semler mit der Feststellung zurückgewiesen, daß er am „Inhalt der Wahrheiten, so die christliche Heilsordnung ausmachen" und an „allen Teilen" der Heilsordnung festhalte und dafür auch bei seinen Hallenser Studenten bekannt sei.120 Im deutlichen Unterschied zum religiösen Subjektivismus privater „Erleuchtungen" und einem theologischen Rationalismus betont Semler, daß der menschliche Geist und die menschliche Vernunft keine Erkenntnisquelle für die christlichen Heilswahrheiten sein können. Die Christen bleiben daher auf das „Wort Gottes", die von Gott gegebene Heilsordnung, angewiesen. Sie sollen ihre Erkenntnisse aus der durch Christus erfolgten „Offenbarung Gottes" herleiten.121 Um die Entwicklungen zu erfassen, die wir in Semlers Denken über die Lehre von der Heilsordnung konstatieren können, wird man auch die Reflexionen seiner Spätschriften über die Probleme der historischen Wahrheit und Erkenntnis sowie über die religiöse Gewißheit und Erfahrung zu beachten haben. Gegen Ende seines Schaffens ist Semler zu der Einsicht gelangt, daß die christlichen Heilswahrheiten im menschlichen Subjekt kaum noch zur Gewißheit gelangen können, wenn sie völlig unabhängig und losgelöst von dessen Erfahrung behauptet werden. Daher

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Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 425. Ebd., S. 304.

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betont er, daß zu einem lebendigen Christusglauben und zur inneren Aneignung der biblischen Heilswahrheiten von der Versöhnung und Erlösung immer der „eigene" Verstand, das „eigene" Gewissen, die „eigene" Erkenntnis und der „eigene" Wille gehören. Einer Verabsolutierung religiöser Individualität oder Subjektivität, die sich selbst zur Norm setzt, hat er freilich nicht das Wort geredet. Die religiöse Erfahrung ist für ihn keine Quelle zur Gewinnung von christlichen Glaubensinhalten, wohl aber ein Weg zu ihrer Vergewisserung. Die eigene Erfahrung ergibt in religiösen wie in allen anderen Dingen „die zuverlässigste eigene Überzeugung". Doch wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß aus ihr nur Bestätigungen des individuellen Glaubens erwachsen. Vielmehr muß gesagt werden, daß die zum „inneren Christentum" gehörende Erfahrung bestimmten Anfechtungen und Prüfungen ausgesetzt und daher eine „beschwerliche Erfahrung" ist 122 Eng verbunden mit der Frage nach dem Stellenwert der Erfahrung ist für Semler das Problem der überlieferten biblischen und kirchlichen Sprache, weil sie aus der Vergangenheit Vorstellungen transportiert, die von einem gegenwärtig zu verantwortenden Glauben nicht ungeprüft und gänzlich unverändert übernommen werden können. Als Historiker weiß Semler um die geschichtliche Bedingtheit und Relativität aller Erkenntnis und ihrer sprachlichen Formulierung in Uberlieferungen, Dogmen, Liedern und Lehren. Er rechnet damit, daß alle menschlichen Erkenntnisse einschließlich ihrer Sprachgestalt den zeitgeschichtlichen und geographischen Bedingungen ihrer Entstehung unterliegen. Aber er verharrt keineswegs auf einem relativistischen, historischen oder subjektivistischen Standpunkt, sondern ist bereit, in Glaubensdingen auch eine Art „objektive Wahrheit" anzuerkennen, der man sich im subjektiven Erkenntnisprozeß annähern kann: Ich meines Theils bin selbst ebenfalls davon gewiß, daß es überhaupt freilich objektivische Wahrheit gibt; daß die verschiedenen christlichen Meinungen sich dem objektivischen Wahren entweder mehr nähern oder sich mehr davon entfernen, indem sie nun die subjektivische Wahrheit ergreifen und annehmen.123

Semler ist also nicht der Ansicht, daß es hinsichtlich der christlichen Glaubensvorstellungen und Glaubenslehren nur mit dem Zeitverlauf wechselnde, unterschiedliche subjektive Auffassungen gebe, die als mehr oder weniger gleichberechtigt anzusehen wären, weil das objektiv Wahre letztlich doch unerkennbar sei. Er verlegt die Wahrheit einer Auffassung oder Lehre auch nicht in den Prozeß der individuellen Aneignung und Zustimmung zu ihr, so als sei eine religiöse Auffassung erst dann wahr, wenn sie subjektiv angeeignet und im Leben bewährt würde. Die subjektive Wahrheitserkenntnis des Individuums ist in religiöser Hinsicht keine einma122

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Semler, Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. 135 u. 140. - Vgl. ders., Cristologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Homig und Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 236 u. 240. Semler, Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. 59.

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lige und abgeschlossene Erkenntnis, sondern sie erscheint eher als ein über einen längeren Zeitraum verlaufender Annäherungsprozeß. Sie vermag sich zu entwikkeln, allmählich zu vergrößern und kann sich auf diese Weise der objektiven Wahrheit annähern. Skeptisch urteilt Seniler jedoch hinsichtlich der Möglichkeit, geistliche Einsichten und Erkenntnisse als „reine Lehre" endgültig und allgemein verbindlich zu fixieren. Er zeigt ein Gespür dafür, daß theologische Erkenntnisse in ihren Begriffen und Ausdrucksweisen zeitlichen und örtlichen Bedingungen unterliegen. Aus der Gemeinsamkeit des christlichen Heilsglaubens folgt daher noch keineswegs, daß es auch eine vollständige Übereinstimmung im Denken und in der theologischen Lehre geben müsse. Die Lehrdifferenzen, die schon während der urchristlichen Zeit im Widereinander von gesetzesstrengem Judenchristentum und freiheitlichem Paulinismus sichtbar werden, sowie die Ausprägung unterschiedlicher christlicher Konfessionen äußern sich im Denken, im Sprachgebrauch, in der Frömmigkeit und Kirchenlehre. In den Spätschriften seines letzten Lebensjahrzehnts ist Semler bestrebt, den Bereich der unmittelbar verpflichtenden Glaubenslehren einzuschränken und die Bedeutung der dogmatischen Lehren gegenüber dem praktisch gelebten Christentum zurücktreten zu lassen. Zusammen mit den exegetischen und theologiegeschichtlichen Erkenntnissen wirkt sich diese Tendenz auch auf die dogmatische Lehre von der Heilsordnung aus. Zwar finden sich noch fast alle Einzelelemente dieser Lehre (Bekehrung, Erleuchtung, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Erneuerung und Heiligung), aber sie werden beim älteren Semler nicht mehr unter dem dogmatischen Oberbegriff einer „Lehre von der Heilsordnung" zusammengefaßt. Diese Veränderung ergibt sich aus der Erkenntnis, daß fast jedes der verschiedenen Elemente geeignet ist, das Ganze des im Neuen Testament bezeugten Heils auszusagen. Waren einerseits die sachlichen Gründe entfallen, an einer pietistischen Lehrtradition festzuhalten, die in ihrer Aufgliederung, Reihenfolge und Zuordnung der einzelnen Elemente der Heilsordnung nicht mehr zu überzeugen vermochte, so verstärkte sich andererseits die Überzeugung, daß man den Prozeß der individuellen Heilsaneignung von allen Reglementierungsversuchen freihalten sollte. Weil Semler aus eigener Erfahrung, aber auch aus dem Zeugnis anderer wußte, daß der geistgeleitete Prozeß der Heilszueignung gemäß dem jeweiligen Erkenntnisstand und Glaubenswachstum, der persönlichen Frömmigkeit und konfessionellen Zugehörigkeit unterschiedlich verläuft, ist er auch auf diesem Gebiet nachdrücklich für die Respektierung von Gewissen und Erfahrung eingetreten. Es läßt sich feststellen, daß in dem umfangreichen Alterswerk aus dem letzten Lebensjahrzehnt Semlers der Begriff der Heilsordnung nur noch verschwindend selten vorkommt. Doch darf aus diesem Sachverhalt nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, nun sei das Interesse an den Fragen der Gewinnung eines lebendigen Glaubens und eines persönlichen Christseins erlahmt Wie stark eine lutherisch-pietistische Frömmigkeit und Lehrtradition nachwirken, zeigt sich eindrück121

lieh an der Kritik, die gegen ein bloßes Gewohnheitschristentum gerichtet ist, und an der Bedeutung, die nach wie vor dem „inneren Christentum" und einem lebendigen Glauben zugemessen wird. In sachlicher Übereinstimmung mit seinen früheren Auffassungen betont der ältere Semler, „daß der Anfang des eigenen Christentums eine geistliche innere Ordnung in den Christen ist".124 Unverändert festgehalten und nachdrücklich hervorgehoben wird auch der Gedanke der Universalität des göttlichen Heils, der durch Jesus Christus für alle Menschen bewirkten Gerechtigkeit, Versöhnung und Erlösung. Doch liegt der Akzent nicht auf dem Heilsobjektivismus, sondern stets auf dem Vorgang der persönlichen Heilsaneignung, dem Wachstum im Glauben und der Bewährung des Glaubens. Das verflachte Namensund Gewohnheitschristentum soll überwunden werden, indem ein bewußtes, in Geduld und brüderlicher Liebe sich bewährendes und von einem lebendigen Christusglauben getragenes Christsein erstrebt wird. Mit Hilfe von paulinischen Gedanken und Metaphern hat der ältere Semler wiederholt den Sachgehalt eines Textes erklärt, der im unmittelbaren Anschluß an die vom Pietismus so hochgeschätzte Aussage von der „Teilnahme an der göttlichen Natur" (2. Petr. 1,4) steht: Der ist übrigens der beste Christ, der nicht nur weiß, wie es bei ihm zugegangen ist, daß er angezogen hat den Herrn Jesum Christum, sondern auch in ihm wandelt und in seinem christlichen so wahren Glauben darreicht, was 2. Petr. 1,5 kurz gemeldet wird und was Paulus Früchte des Geistes, das ist, der christlichen Religion genannt hat. Da ist es auch noch jetzt wahr, dieser Glaube überwindet die Welt 125

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Ebd., S. 142. Semler, Theologische Briefe. Zweite Samlung. Leipzig 1781, S. 57; vgl. ders., Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 284.

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ΠΙ. Dogmengeschichtsschreibung und Traditionskritik. Zur Analyse der Argumente und Kriterien1

Die Anfänge der protestantischen Dogmengeschichtsschreibung liegen in der Aufklärungstheologie, welche die Verselbständigung der Dogmengeschichte zu einer eigenständigen theologischen Disziplin vollzogen hat. Einen präzisen und genau abgegrenzten Dogmenbegriff besitzt man in diesem Anfangsstadium der Forschung freilich noch nicht. Zur Dogmengeschichte wird die Gesamtheit der christlichen Glaubenslehren gerechnet, so daß Dogmengeschichte und Theologiegeschichte praktisch identisch sind Es sind weder apologetische Absichten einer Rechtfertigung der geltenden Kirchenlehre noch rein historische Interessen gewesen, welche die dogmengeschichtliche Forschung voran getrieben haben. Vielmehr ist von Anfang an ein emanzipativer Impuls wirksam, der sich aus dem Absolutheitsanspruch und der fortdauernden Geltung von Dogmen, Lehrbekenntnissen und theologischen Systemen zu lösen sucht Sowohl die Dogmenkritik der Arminianer und Sozinianer als auch der Verfallsgedanke der pietistischen Kirchenkritik haben auf die kritische Dogmengeschichtsschreibung der Aufklärungstheologie eingewirkt. In einem Brief des Abtes Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem aus dem Jahre 1747 taucht zum ersten Mal im deutschen Protestantismus die Idee einer Dogmengeschichte auf. Doch der Plan, den Jerusalem für eine kritische Darstellung entworfen hatte, ist durch ihn selbst nicht verwirklicht worden.2

1. Gründe für eine kritische Dogmengeschichtsschreibung Die folgenden Ausführungen wollen weder ein Gesamtbild von Semlers Dogmengeschichtsschreibung zeichnen noch auf seine teilweise sehr differenzierte Beurteilung einzelner Epochen und Theologen näher eingehen. Wir beschränken uns vielmehr auf eine Analyse der wesentlichen Argumente und Kriterien, die in der Dogmengeschichtsschreibung Semlers zur Anwendung gelangt sind. Zu den Untersuchungen, die eine maßgebende Bedeutung für die kritische Erforschung der Dogmengeschichte gewonnen haben, gehört Semlers Historische Einleitung in die 1

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Erweiterte Fassung von: Gottfried Hornig, Semlers Dogmengeschichtsschreibung und Traditionskritik. Zur Analyse der Argumente und Kriterien, in: Otto Kaiser (Hg.), Denkender Glaube. Berlin/New York 1976, S. 101-113. Karl Aner, Die historia dogmatum des Abtes Jerusalem, in: ZKG. Bd. 47/N.F. X. Gotha 1928, S. 76-103.

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Dogmatische Gottesgelersamkeit von ihrem Ursprung und ihrer Beschaffenheit bis auf unsere Zeiten (1759-1769), die als Einleitung zu der posthum herausgegebenen dreibändigen Glaubenslehre von Siegmund Jacob Baumgarten veröffentlicht wurde. Noch wichtiger aber wurde Semlers Geschichte der christlichen Glaubenslehren (1762-1764), die insgesamt über 800 Druckseiten umfaßt und als Einleitung zu Baumgartens dreibändiger Untersuchung Theologischer Streitigkeiten erschienen ist. Von Anfang an zeigt sich Semlers Bestreben zur Verselbständigung und Aufwertung der Dogmengeschichte, indem er sie aus ihrer bisherigen Funktion als einer bloßen Hilfswissenschaft zur Legitimierung gegenwärtiger Dogmatik zu befreien sucht. Er bemüht sich, die Befürchtungen zu zerstreuen, die kritische Erforschung der Dogmengeschichte könnte zu negativen Resultaten führen, die geeignet wären, das Ansehen gegenwärtiger Dogmatik und die Geltung ihrer Lehren zu schädigen. Sofern die gegenwärtige Dogmatik auf einer eigenständigen exegetischen Basis und theologischen Reflexion ruht, braucht sie die Ergebnisse dogmengeschichtlicher Forschung nicht zu fürchten. Die unumgängliche Anerkennung einer ständigen Veränderung theologischer und kirchlicher Lehren erfordert allerdings, daß jene irrige Voraussetzung preisgegeben wird, „es müsse zu aller Zeit jeder Lehrer extensive und intensive, in Bejahung und Verneinung, das gedacht haben, was jetzt in unserem Systemate enthalten ist".3 Die gleichen Grundsätze, die Semler in seiner historisch-kritischen Theologie befolgt, sollen auch bei der Erforschung der Dogmengeschichte zur Anwendung gelangen. Die unbestreitbare Macht der Tradition darf nicht dazu fuhren, daß Dogmen und Konzilsbeschlüsse auf bloße Autorität hin angenommen werden. Alle Kirchenlehrer unterliegen einem Nachprüfungsverfahren. Dabei gilt als wichtigstes Kriterium das Schriftprinzip oder, genauer gesagt, die historisch-kritische Schriftauslegung. Die traditionskritische Einstellung Semlers ist bedingt durch die Erkenntnis, daß auch fragwürdige Lehren tradiert worden sind. Die historische Distanz, die zwischen der eigenen Gegenwart und der dogmengeschichtlichen Vergangenheit liegt, darf jedoch nicht dadurch überwunden werden, daß der Theologe seine eigene Glaubensüberzeugung oder die Lehren seiner Kirche in die Zeugnisse aus vergangenen Epochen einträgt.4 Dogmen und theologische Lehren dürfen nicht einfach rezipiert oder als kirchliche Lehrüberlieferung zum entscheidenden Argument für Inhalt und Umfang der gegenwärtig zu vertretenden Lehre erhoben werden. Aus diesem Grunde meldet Semler auch Bedenken dagegen an, daß der in allen christlichen Konfessionen ge3

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 3. Halle 1764, S. 13. - Zu Semlers Bedeutung für die Begründung und Entwicklung einer eigenständigen Dogmengeschichte vgl. auch Michael A. Lipps, Dogmengeschichte als Dogmenkritik. Die Anfänge der Dogmengeschichtsschreibung in der Zeit der Spätaufklärung. Bem/Frankfurt a.M. 1983, insb. S. 12f. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 157.

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übte Traditionsbeweis aus den Lehren der Kirchenväter als eine Art Legitimationsprinzip betrachtet wird. Das hohe Alter verbürgt weder die Legitimität noch die Richtigkeit einer Lehre. Typisch für die traditionskritische Haltung und den Willen zur selbständigen Nachprüfung ist Semlers programmatische Erklärung aus dem Jahre 1764: Unsere Lehre ist nicht gebaut auf auctoritatem patrum, auf Consilia oecumenica oder particularia; sondern auf den Inhalt der heiligen Schrift und ihre richtige Auslegung; was davon Consilia und patres richtig haben, das behalten wir also auch, aber nicht darum, weil sie es haben.s

Um Semlers Kriterium der Schriftgemäßheit recht zu verstehen, bedarf es einer genaueren Analyse seines Schriftverständnisses. Er hat die mystische, bloß erbauliche und allegorisierende Schriftauslegung des Pietismus ebenso scharf kritisiert wie die Verbalinspirationslehre, das gesetzliche Kanonsverständnis und die dogmatisch gebundene Schriftauslegung der Orthodoxie. Allein sachgemäß erschien ihm aus religiösen wie aus wissenschaftlichen Gründen die Erneuerung der reformatorischen Unterscheidung von ,Wort Gottes' und .Heiliger Schrift*. Denn mit ihr konnte die Freiheit in dem persönlichen Verhältnis zur biblischen Offenbarung zurückgewonnen werden. Zugleich wurde aber auch eine historisch-kritische Interpretation und eine wissenschaftlich begründete Sachkritik an einzelnen Schriftaussagen möglich, ohne daß dadurch die Heilsbotschaft und der verpflichtende Charakter des .Wortes Gottes' eingeschränkt werden mußten.6 Der Umfang dessen, was für Semler als ,Wort Gottes' unmittelbare und fortdauernde Geltung besitzt, deckt sich freilich nicht mehr mit der reformatorischen Auffassung. Vor allem in seiner Stellung zum Alten Testament zeigen sich Differenzen zu den entsprechenden Auffassungen Luthers und der altprotestantischen Orthodoxie. Der Versuch einer rein christusbezogenen Interpretation alttestamentlicher Texte kollidiert mit den historisch-kritischen Erkenntnissen. Obwohl Semler mit seiner Wertschätzung der Psalmen und Propheten von einer radikalen Verwerfung des Alten Testaments weit entfernt ist, werden von ihm Altes und Neues Testament doch als Urkunden zweier verschiedener Religionen betrachtet. Demzufolge werden weniger die Einheit oder sachliche Zusammengehörigkeit als vielmehr die inhaltliche Verschiedenheit der beiden Testamente hervorgehoben. Letztlich reduziert sich das für die Prüfung der Lehitradition anzuwendende Kriterium der Schriftgemäßheit auf die Forderung, die entscheidenden Heilslehren des Neuen Testaments zu beachten. Denn für die gegenwärtige Dogmatik und ihre Darstellung der christlichen Lehren sollen nur die „Urkunden des neuen Bundes" in ihren 5

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob tigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. Quellenbelege und genauere Analysen der und „Heiliger Schrift" in: Gottfried Homig, Göttingen 1961, S. 84fT.

Baumgarten, Untersuchung Theologischer Strei3. Halle 1764, S. 13. Semlerschen Unterscheidung von „Wort Gottes" Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie.

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fruchtbarsten und deutlichsten Stellen zugrunde gelegt werden.7 Das Zentrum des Neuen Testaments liegt in der apostolischen Christusveikündigung, d.h. in der Botschaft von der durch Jesus Christus bewirkten Versöhnung und Erlösung. Semler vollzieht eine Rangordnung und Wertung der einzelnen neutestamentlichen Schriften. Während er der Johannesapokalypse kritisch, ja ablehnend gegenübersteht, ohne sie jedoch aus dem Kanon ausscheiden zu wollen, zeigt er eine ausgesprochene Hochschätzung gegenüber den paulinischen Schriften und dem Johannesevangelium. Er begründet diese Hochschätzung damit, daß in dieser Gruppe von neutestamentlichen Schriften die wesentlichen „Grundwahrheiten des Christentums" oder der eigentliche „Hauptinhalt des Christentums" formuliert worden ist 8 Wenn also von ihm die Frage nach der Schriftgemäßheit der Dogmen und Kirchenlehren als ein Kriterium gehandhabt wird, so ist dies kein formal biblizistisches, sondern ein inhaltlich bestimmtes Kriterium, das den soteriologischen Gehalt der Christusbotschaft zur Geltung zu bringen sucht

2. Die Frage nach der Schriftgemäßheit der kirchlichen Dogmen Semler will zwar den Prozeß der Dogmenbildung keineswegs diskreditieren. Aber seine kritische Dogmengeschichtsschreibung zielt doch auf eine Relativierung der Dogmenautorität, indem sie die Vielgestaltigkeit der Lehrtraditionen hervorhebt und nach den Motiven und Bedingungen fragt, die zu dem unterschiedlichen Aussagegehalt der Kirchenlehren geführt haben. Dogmen und Lehrbekenntnisse gelten ihm als das Ergebnis theologischer Reflexionen und Schulbildungen. Sie dienen der Abwehr andersgearteter Auffassungen, besitzen daher weithin nur eine zeitbedingte Geltung und lokale Bedeutung. Bei ihrer Entstehung und Inkraftsetzung haben neben den theologischen Überlegungen auch philosophische, politische und soziologische Faktoren eine Rolle gespielt, die zusammen eine „geographische" Bedingtheit ergeben. Wer die Geschichte der christlichen Lehren schreibt, muß daher auf die unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Provinzen und Ländern Rücksicht nehmen. Er hat zu beachten, „daß es gleichsam eine Geographie für die

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Semler, Ausßrliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, Vorrede b4. Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 70f. (Prolog des Johannesevangeliums), S. 84 (Der Römerbrief enthält „eine sehr zusammenhängende Abhandlung von dem eigentlichen Grunde der christlichen Religion"). - Vgl. Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten. Halle 21780, S. 398f.: .Paulus lehrt das reine Evangelium ohne Mischung des Gesetzes Mose, er lehrt geistliche Erkenntnis und Übung des Glaubens - das ist der Hauptinhalt des Christentums." Vgl. ders., Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 420.

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Moral oder Theologie und überhaupt für die christliche Sprache gibt".9 Unter den philosophischen Faktoren, die auf die christliche Lehrbildung der ersten Jahrhunderte einen Einfluß ausgeübt haben, ist neben stoischen und aristotelischen Elementen die „platonische Denkungsart" zu nennen. Letztere ist insbesondere in Ägypten auf die christlichen Lehrsätze angewandt worden.10 Mit dem Hinweis auf das Gewicht und die Einwirkung solcher zeit- und ortsbedingter Faktoren gewinnt Semler eine plausible Erklärung dafür, wie sich Lehrdifferenzen und unterschiedliche dogmatische Traditionen herausbilden konnten. Zwangsläufig wird mit dieser Erkenntnis die Vorstellung von der Einheitlichkeit der dogmengeschichtlichen Überlieferung problematisiert. Jedenfalls erscheint es nun unmöglich, den dogmengeschichtlichen Entwicklungsprozeß ausschließlich als eine fortschreitende Explikation von Schriftaussagen zu begreifen. Zwar gehören nach Semler die militärischen Grundbegriffe Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist zum unaufgebbaren Fundament der christlichen Religion, aber die begriffliche Ausformung der altkirchlichen Trinitätslehre und die dogmatischen Bestimmungen der Zweinaturenlehre haben nur einen begrenzten Anhalt am Neuen Testament11 Eine Analyse von Semlers Dogmengeschichtsschreibung wird ihre Aufmerksamkeit auf die Kriterien zu richten haben, die bei der Beurteilung der Dogmen zur Anwendung gelangen. Dabei ist festzustellen, daß Semler verschiedene Kriterien verwendet. Im Vordergrund steht zunächst das Kriterium der Schriftgemäßheit von Kirchenlehren.12 Aufgrund dieses Kriteriums ergibt sich die Möglichkeit, verschiedene Grade der sachlichen Übereinstimmung oder Abweichung von zentralen Schriftaussagen festzustellen. Wo die angeführten Beweisstellen unzureichend sind oder kein Anhalt am Neuen Testament vorliegt, ergibt sich die Aufgabe, nach den 9

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Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 33. - Auch zwanzig Jahre später hält Semler eine Dogmengeschichtsschreibung unter dem Aspekt der „theologischen Geographie" noch immer für eine vordringliche Aufgabe; vgl. Semler, Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. R. Steinbarts System des reinen Christentums. Halle 1780, Vorrede: „Die richtige historische Kenntnis, die theologische Geographie, welche in die vorigen Jahrhunderte wirklich gehört, fehlt uns noch gar sehr, um den gewissen Grund und Zusammenhang der kirchlichen vielerlei Systeme richtig einzusehen, ihn also richtig zu beurteilen." Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1773, S. 31. Vgl. Semler, Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788, S. 60: „Die Lehre der katholischen Kirche von trinitas, von der Person und 2 Naturen Christi und die besondern Beschreibungen der Vereinigung dieser Naturen läßt sich freilich im Neuen Testament nicht so leicht und überzeugend mit der späteren Bestimmung finden." Vgl. Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, Vorrede: „Wir wissen schon genug aus der Historie der kirchlichen Lehre, wenn wir gleich noch lange nicht mit dieser Historie fertig sind, um es ganz gewiß einzusehen, daß die griechische und lateinische Kirche keineswegs die gewissesten und richtigsten Schrifterklärungen angenommen hat; da£ die meisten kirchlichen Zusätze und Bestimmungen nicht sowohl aus dem wahren damaligen Inhalte solcher Schriftstellen, als vielmehr durch das äußerliche Dekret und durch Verordnung der Bischöfe [...] eingefiihret" wurden. 127

Gründen und Motiven zu forschen, die zur Ausbildung der betreffenden Dogmen oder Kirchenlehren gefuhrt haben. Schriftwidrige Lehren können als mehr oder weniger gravierende „Lehrirrtümer" gekennzeichnet werden. Betrachtet man Semlers Urteile über den Prozeß der altkirchlichen Dogmenbildung, so ist festzustellen, daß er die Lehrentwicklung seit dem 5. Jahrhundert weit kritischer einschätzt als die der vorangegangenen Zeit. Er spricht von „groben Irrtümern in der christlichen Lehre, die sich seit dem 6ten, 7ten Jahrhundert finden".13 Allerdings wird in diesem Zusammenhang nicht gesagt, worin diese Lehrirrtümer bestehen. In seiner Darstellung der Kirchengeschichte, aber auch in anderen Schriften, hat Semler die Erbsünden- und Prädestinationslehre Augustins kritisiert, weil sie „zu neuen ganz falschen Begriffen und Lehrsätzen" Anlaß gegeben haben.14 Das Kriterium der Schriftgemäßheit spielt auch bei der Beurteilung der mittelalterlichen Scholastik eine wichtige Rolle. Semler lobt die Scholastiker wegen ihrer scharfsinnigen Logik, tadelt sie aber, weil sie „wider klare Zeugnisse der Schrift spät erfundene unerweisliche Einschiebungen, Glossen und Klammem" gemacht haben.15 Ihre dogmatischen Lehren sind weniger von der Schriftexegese her bestimmt als durch den Einfluß der Philosophie und die Bindung an die Theologie der Kirchenväter. Semlers Hauptvorwurf richtet sich gegen den Traditionalismus, d.h. dagegen, daß die Scholastiker nachbiblische Traditionen zum Erkenntnisgrund ihrer Glaubenslehren erhoben haben.16 Es ist bekannt, daß Semler in seinen Werken oftmals mit hoher Wertschätzung von Luthers Schrifttheologie gesprochen hat. Seine eigene historisch-kritische Schriftauslegung, die streng am Wortsinn der Aussagen orientiert ist und ihren Aussagegehalt zu erfassen sucht, hat Semler als eine legitime Konsequenz der reformatorischen Grundentscheidung empfunden. Bei allen kritischen Vorbehalten, die er an einzelnen Punkten auch gegenüber Luthers Theologie geltend machen 13

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Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1759, S. 135. - Schon 1764 hat Semler in der 2. Auflage des zitierten Werkes seine Kritik auf das 5. und 6. Jahrhundert vordatiert. Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1773, S. 115. Zur Kritik an Augustins Erbsünden- und Prädestinationslehre vgl. auch Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 283 u. 362, sowie ders., Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 167. Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 2. Halle 1760, S. 145. Vgl. ebd., S. 47: „Dies ist also der wahre Fehler in den Scholastikern: daß sie die Aue tori tät aller Zeiten und Menschen mußten gelten lassen; und nicht sagen durften, diese moralische Bestimmung ist falsch; dieses Dogma hat keinen Grund, weder in der Vernunft noch in dem Buchstaben der Bibel [...] Die Tradition ist in dieser Zeit der ganze Erkenntnisgrund der Glaubenslehren. Wenn jemand, der die Scholastiker selbst gelesen hat, mir einen anderen Fehler oder Mangel sagen kann, der nicht aus dieser einzigen Quelle entsteht: so will ich öffentlich widerrufen."

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kann, hat er doch dem von Luther vertretenen Schriftprinzip seine uneingeschränkte Zustimmung erteilt. In allen Streitigkeiten mit der römischen Kirche zumal über Rechtfertigung, Verdienst, Glauben, Gnade; mit Zwinglio und anderen über die Lehre vom h. Abendmahl, mit Carlstadt, Wiedertäufern, Schwenkfeld und anderen fanatischen Leuten [...] hat Luther diesen Grundsatz von Unentbehrlichkeit des deutlichen Inhalts in der Bibel zu einer Glaubenslehre unwidersprechlich genug behauptet.17

Die traditionskritische Funktion des Schriftprinzips hat Semler in prinzipiellen Äußerungen, aber auch in der Kritik einzelner Lehren nachdrücklich betont. Unvereinbar mit diesem Schriftprinzip erscheint ihm das römisch-katholische Traditionsdenken und die Auffassung des Tridentinums, daß die Heilige Schrift als regula fidei unzureichend sei und durch die sogenannten „apostolischen Traditionen" ergänzt werden müsse. Nach Semlers Urteil gibt es auch keinen Grund, den Lehrsätzen von der Transsubstantiation, von dem Fegefeuer und von dem Priesterstand Beifall zu geben, „dieweil wir diese Begriffe und Sachen in der heiligen Schrift nicht finden".18 Während die biblischen Heilslehren, die Semler auch als dogmata Christiana bezeichnen kann, eine bleibende Geltung für den christlichen Glauben besitzen, kann den altkirchlichen Dogmen, wie etwa der Trinitäts- und Zweinaturenlehre, die gleiche Dignität und Verbindlichkeit nicht zuerkannt werden. Der Glaube der Christen bejaht und ergreift alle Wohltaten, welche die Christen von dem Vater, von dem Sohn und von dem heiligen Geist mit inniger Dankbarkeit sich täglich vorstellen; was aber gedacht, räsoniert oder gesammelt wird über Personen, Wesen, Dreieinigkeit, gehört nicht zum Glauben aller Christen, sondern in die verschiedenen Schulen ihrer Gottesgelehrten.1®

3. Die Unterscheidung von Kerygma und Dogma Die Anwendung der historisch-kritischen Denkweise bewirkt eine entscheidende Veränderung in der Stellung zu der Lehrtradition, die in Dogmen und kirchlichen Lehrbekenntnissen vorliegt. Denn für die Frage der gegenwärtigen Anerkennung von überlieferten Lehren sind nun nicht mehr theologische oder institutionelle Autoritäten zuständig, sondern allein die gegenwärtige religiöse Erfahrung und die kritisch prüfende Vernunft. Man wird beachten müssen, daß Semler den Verlauf der Dogmengeschichte und ihre einzelnen Epochen unter einem doppelten Aspekt 17

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Ebd., S. 144, Anm. 92. - Vgl. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 362: ,JDer vorzüglich erweisliche Inhalt der Bibel, die Heilsordnung und Heilsmittel betreffend, ist also von Luthern treulich in einen Auszug gebracht worden, und dies sind die Catechismi". Magazin für die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Erster Theil. Halle 1780, Vorrede. Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 100; vgl. S. 151.

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betrachtet. Die Dogmengeschichte ist einerseits das Ringen um schriftgemäße Glaubenslehren in Auseinandersetzung mit einem autoritätsgebundenen Traditionalismus, der Schriftgemäßes und Schriftwidriges in sich vereint. Die Dogmengeschichte ist aber andererseits auch die Auseinandersetzung zwischen dem Recht des Christen auf freie Privatreligion, die sich nur der eigenen Erkenntnis und Überzeugung verpflichtet weiß, und den Versuchen einer von Staat und Kirche verfügten Einschränkung und Begrenzung dieser Privatreligion durch eine öffentliche und gesellschaftliche Religion. Für die Dogmengeschichtsschreibung des älteren Semler gewinnt der letztgenannte Aspekt eine zunehmende Bedeutung, weil er unausweichlich die Frage nach der kirchlich konfessionellen Gestalt des Christentums aufwirft. Wenn Semler auch die Berechtigung der öffentlichen Religionsordnung mit ihren verschiedenen christlichen Konfessionen anerkennt, so ist sein eigentliches Anliegen doch die Gewährung der Privatreligion, die sich mit dem kirchlichen Christentum lutherischer oder reformierter Prägung identifizieren, von ihm aber auch mehr oder weniger deutlich distanzieren kann.20 In die dogmengeschichtliche Betrachtungsweise und in die aktuelle Auseinandersetzung um das Recht einer freien christlichen Privatreligion hat Semler die Unterscheidung von Kerygma und Dogma (bzw. Dogmen) eingeführt, die eine Parallele zu seiner Unterscheidung von Religion und Theologie darstellt. Semler beansprucht nicht, Urheber der Distinktion von Kerygma und Dogma zu sein, vielmehr bekennt er, daß sie sich ihm als ein Ergebnis seiner patristischen Studien aufgedrängt habe. Er verwendet sie fast durchweg unter Beibehaltung der griechischen Schreibweise und nicht selten unter ausdrücklichem Hinweis auf Basilius, Orígenes und Eulogius.21 Mit der genannten Unterscheidung, die sich bei Semler seit 1764 nachweisen läßt, kommt es zur Ausbildung eines Dogmenbegriffes, der besagt, daß es sich bei den Dogmen sowohl um theologische Lehren oder Lehrsätze als auch um „bischöfliche Befehle" handelt, die eine Lehrverpflichtung für die Kleriker beinhalten. Der Kerygmabegriff dagegen bezeichnet den Umfang der in der christlichen Verkündigung enthaltenen neutestamentlichen Glaubenslehren, die zur Gewinnung und Bewahrung der christlichen Religion unerläßlich sind. Der 20

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Vgl. Semler, Neuer Versuch die gemeinnäzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 50: „Es muß und kann deutlich gesagt werden: eines Christen Seligkeit beruht nicht auf der öffentlichen kirchlichen Religion, sondern auf ihrem Inhalt, der nun seine Privatreligion ausmacht: die kann mit der kirchlichen einerlei sein, sie kann aber auch den Privatvorstellungen nach davon verschieden sein". Es gibt in den Werken Semlers zahlreiche Belege für die Unterscheidung von Kerygma und Dogma. Der früheste Beleg, den ich habe ausfindig machen können, stammt aus dem Jahre 1764. Vgl. Semler, Geschichte der christlichen Glaubenslehre, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1764, S. 149, Anm. 257. - Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 163: „Mit großer Begierde sammelte ich mir Stellen der Kirchenväter, welche das κήρυγμα und δο^μα so deutlich unterschieden, daß jenes für alle Christen, dieses aber für die Clericos gehöre." Vgl. auch ebd., S. 249.

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Keiygmabegriff ist bezogen auf das neutestamentliche Zeugnis von der Lehre, dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi, also auf bestimmte Heilsereignisse, welche die bleibende Wahrheit des Christentums ausmachen und als öffentliche Lehre der Kirche in leicht faßlicher und allgemeinverständlicher Form verkündet werden sollen. Mit dem Dogmenbegriff sind also theologische Lehren gemeint, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kirchen die öffentlich geltende Religion bestimmt haben, aber von dem Christen, der sich an das Kerygma hält, keineswegs übernommen und angeeignet werden müssen. Weil der christliche Glaube als persönliche Überzeugung der Freiheit bedarf, kritisiert Semler den Umstand, daß seit dem 4. Jahrhundert mit der Herrschaft des Episkopats und der Anwendung von Zwang und Strafen „gewalttätige schändliche Mittel zur Behauptung der wahren Lehre" verwandt worden sind.22 Der ältere Semler hat dann auch die ersten vier Jahrhunderte in dieses kritische Urteil einbezogen: „Die ganze Kirchenhistorie, zumal der vier ersten Jahrhunderte [...] lehret uns diese neue, falsche, Unrechte Gesetzgebung der Bischöfe; alle ihre Verordnungen und Anstalten gehen auf einen unveränderlichen Inhalt der Religionslehre".23 Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß Semlers Leidenschaft „gegen das Hierarchisch-Politische der herkömmlichen Dogmenverbindlichkeit" gerichtet ist.24 Ein aufgenötigter und ungezwungener Dogmenglaube ist abzulehnen, weil mit ihm die Zustimmung zu theologischen Lehren verlangt wird, die über die im Kerygma bejahten biblischen Heilswahrheiten hinausgehen. Die Unterscheidung von Kerygma und Dogma sowie die Einführung des Kerygmabegriffs in die theologische Begrifflichkeit sind bei Semler von der Absicht geleitet, den Zugang zum christlichen Glauben zu erleichtern, die „Privatreligion" zu legitimieren und die Emanzipation aus dem Geltungsanspruch der überlieferten Dogmen und konfessionellen Unterscheidungslehren zu befördern. Christlicher Glaube ist kein Dogmenglaube, sondern ausschließlich Glaube an das neutestamentliche Kerygma. Zwar kommt den Dogmen und kirchlichen Bekenntnissen in ihrer öffentlich-rechtlichen Verbindlichkeit eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt und Fortbestand der Kirche als einer konfessionellen Gemeinschaft zu, aber eine uneingeschränkte Geltung und bleibende Verbindlichkeit können sie nicht für sich beanspruchen. Die Kenntnis der Dogmen, die den fundamentalen Glauben explizieren und ihn gegen Irrlehren abgrenzen, ist nicht allen Christen, sondern nur den Klerikern abzuverlangen. 22

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Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 23; vgl. auch ebd., Bd. 3. Halle 1764, S. 302, Anm. 499. Semler, Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788, S. 75. Karl Gerhard Steck, Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in: Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Das Erbe des 19. Jahrhunderts. Berlin 1960, S. 26.

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4. Die Kritik an der theologischen Metaphysik Zur Traditionskritik des älteren Semler gehört auch seine Metaphysikkritik, die in ihrem Anliegen gesehen und in ihrer Begrenzung erfaßt werden muß. Sie darf weder mit einer prinzipiellen Negation von Metaphysik noch mit einem Programm zur Ausscheidung der Metaphysik aus der Theologie gleichgesetzt werden. Semler hält an einem Wirklichkeitsbegriff fest, der Gottes Wirklichkeit impliziert und es erlaubt, nicht nur von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus, sondern auch von seinem unablässigen, gegenwärtigen und zukünftigen Welt- und Geschichtshandeln zu reden. Solches Geschichtshandeln geschieht, indem Gott durch das menschliche Handeln hindurch wirkt und dasselbe allen widerstrebenden Absichten zum Trotz doch zu dem vorausbestimmten Ziele lenkt. Die Ontotogie Semlers beschränkt sich also nicht auf die Bereiche des unmittelbar Empirischen und der reinen Immanenz, sondern kennt auch die geistige Realität des Ewigen, Göttlichen und Unendlichen, das alle menschliche Erfahrung davon bei weitem übersteigt In der Anfangsphase seiner akademischen Lehrtätigkeit in Halle scheint Semler noch ganz uneingeschränkt von dem wissenschaftlichen Charakter und der Relevanz der Metaphysik für die Theologie überzeugt gewesen zu sein. Er empfiehlt den Theologiestudenten das Studium der Metaphysik. Offensichtlich denkt er dabei vor allem an die Gestalt der Metaphysik, wie sie der Hallenser Philosoph Christian Wolff und dessen Schule vertreten hatten. Der junge Semler rezipiert die traditionelle Metaphysik so, wie sie von Siegmund Jacob Baumgarten in der systematischen Theologie zur Anwendung gebracht worden war. Aber in Übereinstimmung mit den Veränderungen und Entwicklungen in der zeitgenössischen Philosophie und dem Aufstieg einer selbständig gewordenen Geschichtswissenschaft läßt sich bei Semler seit Mitte der 60er Jahre eine kritische Haltung gegenüber der Metaphysik, insbesondere gegenüber der „theologischen Metaphysik" diagnostizieren. Zur Charakterisierung dieser Entwicklung, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vollzieht, läßt sich, knapp formuliert, etwa folgendes sagen: In dem Maße wie das Ansehen des kritischen Denkens, der historischen Forschung und Geschichtswissenschaft steigt, sinkt das Ansehen der traditionellen Metaphysik. Auch dort, wo im Bereich der Theologie historische Fragen von dogmatischer Relevanz sind, können nach Semlers Überzeugung keine zureichenden Antworten durch metaphysische Behauptungen oder durch bloße Deduktionen aus metaphysischen Prämissen gegeben werden. Solche Fragen, die nur durch historische Forschungen zu beantworten sind, betreffen die Zuverlässigkeit der biblischen Textüberlieferung, die Prüfung der verschiedenartigen Lesarten, die Konjekturen und Texteinschübe, den Wert einzelner Codices sowie den gesamten Prozeß der kirchlichen Kanonsbildung. Die dogmatische Schriftlehre sollte daher so umgestaltet werden, daß ihre Aussagen nicht im Widerspruch zu den Ergebnissen der historischen und kirchengeschichtlichen Forschung stehen. 132

Die ersten kritischen Äußerungen zur theologischen Metaphysik finden sich bei Semler im Zusammenhang seiner Beurteilung von Johann Albrecht Bengels „Blutlehre". Im Anschluß an Hebräer 12,24 hatte Bengel die Auffassung vertreten, daß das unvergängliche Blut Jesu Christi eine versöhnende Wirkungsmacht besitze und getrennt vom Leibe im Himmel existiere. Diese Vorstellung lehnt Semler ab und bezeichnet sie als eine „theologische Metaphysik, die ebenso unnütz ist als manche philosophisch ganz neue Entdeckungen".25 Semlers Kritik an Bengels ,31utlehre" war zweifellos berechtigt, denn diese war eine exegetisch völlig unhaltbare Spekulation. Wichtig für unsere Fragestellung ist jedoch nicht der exegetische Einwand, sondern die semantische Beobachtung, daß die Begriffsbildung „theologische Metaphysik" bei Semler seit dieser Zeit einen negativen Wertakzent trägt. Sie gilt als Kennzeichnung für Behauptungen und mehr oder weniger willkürliche Spekulationen, mit denen schwierige theologische Fragen ohne nähere Untersuchung entschieden werden sollen. Insofern ist die Metaphysikkritik aufs engste mit einer Kritik der altprotestantischen Orthodoxie, ihres Denkens und Argumentierens verbunden, dem nun eine andere wissenschaftliche Haltung entgegengesetzt wird. Diese besteht nicht nur in der Erforschung der für Exegese, Theologiegeschichte und Dogmatik relevanten historischen Sachverhalte, sondern auch in dem bewußten Verzicht auf Spekulationen und metaphysische Behauptungen, die durch Schriftaussagen nicht begründet werden können. Bezeichnend hierfür ist die Einschätzung der altkirchlichen Trinitätslehre und ihrer Distinktionen, aber auch die kritische Beurteilung der altprotestantisch-orthodoxen Schriftlehre, welche die Verbalinspiriertheit, Vollkommenheit, Intumsfreiheit und Authentizität des überlieferten Bibeltextes behauptet hatte. Gemäß diesen Kriterien wird die dogmengeschichtliche Entwicklung seit dem 4. Jahrhundert mit jenen Tendenzen, die man später als .Hellenisierung' bezeichnet hat, als problematisch eingeschätzt: „Vom 4ten Jahrhunderte fängt man an, metaphysische Ungewißheiten in Glaubensformeln zu bestimmen".26 Die Mängel einer metaphysischen Argumentation, die von bestimmten Prämissen ausgehend zu gültigen dogmatischen Schlußfolgerungen zu gelangen sucht, sind für Semler offenkundig. „Aber die theologische Metaphysik schließt immer a priori", und zwar auch dann, wenn historische Untersuchungen erforderlich wären, um zu einigermaßen gesicherten Ergebnissen zu gelangen.27 Mit der stärkeren Hinwendung zu den historisch-kritischen Forschungen werden hinsichtlich der Beweisführung und Argumentation „Historie" und „Metaphysik" für Semler zu einem Gegensatz, d.h. die aus der Historie gewonnenen Erkenntnisse 25

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Semler, Beiträge zu genauerer Einsicht des Briefes an die Hebräer, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Erklärung des Briefes an die Hebräer. Halle 1763, S. 145. Vgl. Semlers Vorrede zu: Samuel Clarke, Die Schrift-Lehre von der Dreyeinigkeit. Frankfurt/Leipzig 1774, S. 40. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 433.

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lösen die früheren metaphysischen Behauptungen ab, sofern diese aus bloßen Folgerungen oder Deduktionen aus dogmatischen Prämissen bestanden haben. Im Blick auf seine eigene sehr umstrittene Kanonsabhandlung urteilt Semler daher selbstbewußt: „Widerlegen kann mich niemand, weil ich Historie habe; Metaphysik lasse ich ihren Liebhabern".28

5. Der Gedanke der Perfektibilität des Christentums Mitgeprägt durch den allgemeinen Fortschrittsglauben hat auch der Gedanke der Perfektibilität des Christentums auf die protestantische Aufklärungstheologie und ihr Verständnis der Dogmengeschichte Einfluß gewonnen. Semler hat den Perfektibilitätsgedanken seit Beginn der 70er Jahre mit der These vertreten, daß es nicht nur ein individuelles Wachstum im Glauben gibt, sondern daß das Christentum selbst eine dynamische, entwicklungsfähige Größe ist, die ihr Wesen und ihren soteriologischen Lehrgehalt erst in einem unendlichen Geschichtsprozeß immer vollkommener entfalten wird.29 Die Vollkommenheit des Christentums liegt demzufolge nicht in seiner urchristlichen Anfangsgestalt, sondern in seiner Zukunft. Mit dem Perfektibilitätsgedanken konnte einerseits der historisch-kritischen Erkenntnis von der Zeitbedingtheit und Relativität des Urchristentums und aller späteren Epochen der Kirchen- und Dogmengeschichte Rechnung getragen und andererseits das zukunftsgerichtete Hoffnungselement aufgenommen werden, das seit Spener im Pietismus fortgelebt hatte: die Hoffnung aufbessere Zeiten für die Kirche. Der Perfektibilitätsgedanke ist primär eine geschichtstheologische These, deren kritische Spitze gegen die vorherrschende Tendenz zur Idealisierung des Urchristentums und gegen ein bloßes Beharren bei der reformatorischen Erkenntnis gerichtet ist. So gewiß die Kirchen- und Dogmengeschichte erforscht und ihre wertvollen Erkenntnisse bewahrt werden sollen, so darf es in Lehre und Theologie doch keine Rückkehr zu irgendeiner der vergangenen Epochen geben. Die Aufmerksamkeit muß sich vielmehr auf den Entwicklungsprozeß richten, welcher erkennen läßt, worin die zukünftige Vollkommenheit bestehen wird. Nach Semlers Erwartungen wird sich dieser Vervollkomnlnungsprozeß in dem Fortgang von der bildhaften und anthropomorphen zu einer geistigen Gottesvorstellung und Gottesverehrung vollziehen, die Gott im Geist und in der Wahrheit anbetet (Joh. 4,24). Sie wird femer darin bestehen, daß an die Stelle der judenchristlichen Gesetzlichkeit die durch Christus bewirkte Freiheit vom Gesetz tritt, die mit der Verwirklichung der Näch28

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Semler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 177. Zur Begründung und Wirkungsgeschichte des von Semler vertretenen Perfektibilitätsgedankens vgl. die Ausführungen in Kap. VI sowie Gottfried Hornig, Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 24, Heft 2. Bonn 1980, S. 221-257, insb. S. 230ff.

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stenliebe unlösbar verbunden ist. Ein besonderes Gewicht aber liegt darauf, daß die durch Jesus Christus bewirkte Versöhnung und Erlösung in zunehmendem Maße das Bewußtsein und Verhalten der Christen prägen werden. Die Deutung des Geschichtsprozesses durch den Perfektibilitätsgedanken besagt also, daß bestimmte Elemente des neutestamentlichen Christentums unter gleichzeitiger Zurückdrängung anderer im Laufe der unendlichen Entwicklung zu immer größerer Klarheit und Reinheit durchgebildet und zu einer zunehmenden Wirksamkeit gebracht werden. Mit dem Perfektibilitätsgedanken erfährt auch das Offenbarungsverständnis eine Ausweitung und Dynamisierung. Zwar bleibt der Bezug auf die biblische Offenbarung erhalten, aber sie gilt nur als der Anfang eines unendlichen Geschichtsprozesses, durch den der Heilige Geist eine Erweiterung und Vertiefung der christlichen Glaubenserkenntnis bewirkt. Wenn dieser geschichtliche Prozeß zu einer Vervollkommnung des Christentums führt, so darf er nach Semlers Erwartungen doch nicht als eine fortschreitende Fixierung oder gar Dogmatisierung der kirchlichen Lehre verstanden werden. Keine der gegenwärtigen christlichen Konfessionskirchen erfahrt durch ihn eine Bestätigung oder Legitimierung. Vielmehr ist zu erwarten, daß sich die konfessionellen Lehrgegensätze auflösen werden und sich das Christentum zu einer alle Menschen umfassenden universalen Menschheitsreligion fortbilden wird. Der Vervollkommnungsprozeß zielt auf die Verwirklichung einer Liebesreligion, die aus den Quellen der empfangenen Liebe Gottes und Gnade Christi lebt, das gegenseitige Verhalten bestimmen soll und so alle Christen zur Gemeinschaft des Heiligen Geistes zusammenschließt. „Nun wird das Gebot der Liebe, zum Vorteil aller Menschen, die Hauptsache der Christen wieder werden, mit Ausrottung alter Vorurteile, als seie die Kirchenlehre die Hauptsache".30

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Semler, Neuer Versuch die gemeinnüzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 283. 135

IV. Grundzüge der Christologie und Soteriologie

Eine genauere genetische und systematische Untersuchung zur Christologie und Soteriologie Senders liegt bisher noch nicht vor. Sie hätte ein umfangreiches exegetisches und dogmatisches Quellenmaterial zu berücksichtigen, das von den Frühschriften der 50er Jahre bis zu jener späten Monographie reicht, die Semler 1787 aus Anlaß des Göttinger Preisausschreibens unter dem Titel Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi (Neudruck 1990) veröffentlicht hat. Die folgenden Ausführungen stellen eine Erweiterung jener Einleitung dar, die zu dem Neudruck der genannten Monographie gegeben worden ist.1 Auch in ihrer quellenmäßig besser begründeten und erweiterten Gestalt können sie jedoch lediglich als Prolegomena einer künftigen Darstellung des Themas betrachtet werden. Was vorerst noch fehlt, ist der Strukturvergleich mit der Christologie und Soteriologie Siegmund Jacob Baumgartens, dessen Dogmatik Semler als Student gehört und nach dem Tode des Freundes und Fakultätskollegen herausgegeben hat.2 Ein solcher Strukturvergleich der Position von Lehrer und Schüler, der die Entwicklungen und Veränderungen in dem Zeitraum von ca. 1740 bis 1787 zu registrieren hätte, wäre für die Erfassung der Eigenart von Semlers Konzeption von großem Vorteil, würde aber eine eigene umfangreiche Untersuchung erforderlich machen. Eng verbunden mit dem Beziehungsverhältnis Baumgartens zu Semler, die sich beide als lutherische Theologen verstanden haben, ist die Frage, welche Elemente der lutherischen Lehrtradition bis in die Christologie und Soteriologie der historisch-kritischen Aufklärungstheologie Semlers hinein nachgewirkt haben und welche Modifikationen dabei zu beobachten sind. Die Beantwortung dieser Frage, die von erheblichem theologiegeschichtlichem Interesse ist, muß der zukünftigen Forschung überlassen bleiben. Die negative Einschätzung von Neologie und protestantischer Aufklärungstheologie, die lange Zeit dominierte, hat auch auf die Darstellung der von ihr vertretenen Christologie und Soteriologie abgefärbt. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts galt weithin das Urteil, daß für die Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts der deistische und sozinianische Einfluß maßgebend gewesen sei und man sich unter Ablehnung der reformatorischen Lehrüberlieferung auf einen Gott-Vater-Glauben 1

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Semler, Christologie und Soteriologie. Mit Einleitung, Kommentar und Register hg. v. Gottfried Homig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 23-52. Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bde. 1-3. Halle 1759-1760.

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beschränkt habe. Demzufolge sei auch Jesus von Nazareth nicht mehr als der menschgewordene Gottessohn oder als zweite Person der Trinität, sondern weithin nur noch als Tugendlehrer, als Vorbild edelster Humanität und Sittlichkeit, als Verkünder der Unsterblichkeit und einer vernünftigen Gottesverehrung verstanden worden. So erkläre sich das dogmatische Defizit. Im Grunde habe man die in den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen enthaltene kirchliche Christologie preisgegeben und auf eine schlichte, aber sachlich unzureichende Jesulogie reduziert. Ob so weitgehende Reduktionen tatsächlich stattgefunden haben und ein Kennzeichen von Neologie und protestantischer Aufklärungstheologie gewesen sind, wird man nur durch eine Überprüfung an den Quellen feststellen können. Soweit die Semlerforschung bisher auf die Christologie und Soteriologie des Hallensers eingegangen ist, liefert sie keine Bestätigung der genannten Urteile. Weder Siegmund Jacob Baumgarten noch dessen Schüler und Fakultätskollege Semler haben in ihrer Dogmatik und in ihren systematischen Werken eine Reduktion auf die Jesulogie vollzogen. Bei allen Modifikationen und Veränderungen, die in der Christologie und Soteriologie der beiden Theologen zu konstatieren sind, bleibt doch mit der Zentralstellung der Versöhnungs- und Erlösungslehre das reformatorische Erbe stärker wirksam, als man in der Theologiegeschichtsschreibung lange Zeit anzunehmen bereit war. Mit der Thematik der Christologie und Soteriologie hatte sich Semler seit Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit in Halle beschäftigt. Er war bei seinen dogmen- und theologiegeschichtlichen Studien auf eine Vielfalt unterschiedlicher Christologien und Soteriologien gestoßen, die er bis auf die divergierenden Konzeptionen der Gegenwartstheologie verfolgt und in ihrer Eigenart charakterisiert hat. Die stichwortartige Aufzählung der Semlerschen Dogmatik nennt einige dieser Konzeptionen: „Manchem gefiel daher eine Bluttheologie, andern gleichsam ein juristischer Prozeß Gottes wider Christum; andern eine Opfertheologie, eine Bräutigamstheologie etc. Dies sind zufällige Vorstellungen f...]".3 Aus Semlers Worten spricht die Erkenntnis der Zeitbedingtheit und historischen Relativität der genannten Lehrgebilde, wiederholt klingt bei ihm aber auch der Gedanke an, daß die feststellbare Verschiedenheit der Christologien und Soteriologien der Ungleichheit der Christen und ihrem jeweiligen Erkenntnisstand entspricht, also keineswegs aus Böswilligkeit, ketzerischen oder häretischen Absichten zu erklären ist. Für die wissenschaftliche Erkenntnis der Aufklärungszeit hat Semler den genannten Lehren jedoch keineswegs Gleichrangigkeit zuerkannt, sondern sie hinsichtlich ihrer Schriftgemäßheit, theologisch-spekulativen Begründung und gegenwärtigen dogmatischen Vertretbarkeit zu unterscheiden gesucht. Dabei wird deutlich, daß er die juristische Gestalt der altprotestantischen orthodoxen Christologie und Soteriolo3

Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 397.

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gie ebenso ablehnt wie die Vorstellung vom „Zorne Gottes", der durch den Opfertod des unschuldigen Sohnes habe besänftigt werden müssen. Der Herrnhuter Gestalt einer sinnlich-emotionalen Blut- und Wundentheologie steht er ebenfalls kritisch gegenüber, auch wenn er sich dem scharfen Urteil eines Zeitgenossen nicht anschließen will, der erklärte, daß „ ,das Getändel von Jesu Blut und Wunden [...] Jesum zu einem Spielball der entflammten Einbildungskraft' " und „ ,zu einem Gegenstand sinnlicher Liebe erniedrigt' " habe.4 Bei genauerer Analyse zeigen sich in Semlers Christologie und Soteriologie verschiedene Aspekte. In beiden Bereichen finden sich sowohl traditionelle als auch ungewöhnliche und traditionskritische Elemente. An der Lehre von der ewigen Gottheit, Präexistenz und Menschwerdung Jesu Christi hat Semler festgehalten und gelegentlich sogar die Terminologie der Zweinaturenlehre verwandt. Die christologischen Bestimmungen ,wahrer Gott' und .wahrer Mensch' vereinigt er im Begriff des „Gottmenschen".5 Die Verwendung des Begriffs des „Gottmenschen" sowie die Rede von der „göttlichen" und „menschlichen" Natur Jesu Christi erwecken den Eindruck, daß Semler das metaphysische Schema der Zweinaturenchristologie ganz unbedenklich übernommen hat, obwohl dasselbe mit doketischen Tendenzen behaftet war. Zwar sei der zur Bezeichnung Jesu Christi gewählte Ausdruck „Gottmensch" in den apostolischen Schriften nicht enthalten, aber er dürfe gebraucht werden, weil er sachlich im apostolischen Zeugnis begründet sei. In diesem Zusammenhang wird mit Anklängen an den Johannesprolog von Christi Präexistenz und von ihm als dem „Subjectum divinum" gesprochen, das „von Anfang bei Gott, dem Vater und Hervorbringer aller Dinge dieses Eingeborenen, vor aller Zeit und Welt, gewesen ist".6 Semler hat jedoch Bedenken getragen, die auf der Zweinaturenlehre aufbauende Lehrbildung von der communicatio idiomatum zu rezipieren und in die eigene Christologie zu übernehmen. Wenn er 1772 erklärt, das Leiden und Sterben habe Jesus Christus nur betroffen, sofern er ein Mensch gewesen ist,7 so scheint nicht der Gedanke der gegenseitigen Anteilgabe an den Eigenschaften der beiden Naturen, sondern der Gedanke der Leidensunfahigkeit der göttlichen Natur des Heilands und Erlösers maßgeblich zu sein. Eine direkte Kritik der Lehre von der communicatio idiomatum hat Semler nicht geliefert. Wogegen er sich wendet, ist eher

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Semler, Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Hornig u. Haitmut H. R. Schulz. Wiirzburg 1990, S. 157 [= Semler, Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. 64], Vgl. ders., Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 218: „und es ist selbst in den protestantischen Kirchen mit dem Blute und Wunden Christi eine sehr sinnliche Andacht geraume Zeit auszubreiten gesucht worden, welche ein verständiger Lehrer umso weniger lieben oder selbst empfehlen kann". Semler, Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 160; vgl. auch ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 301. Vgl. ebd., S. 302. Semler, Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 160.

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die theoretische Überfrachtung und Intellektualisierung des einfachen und heilsbezogenen Christusglaubens: Viel tausend fromme Christen haben die seligen Folgen des Lebens und Todes Jesu erfahren und haben keine einzige Silbe von diesen theologischen Regeln über communicationem idiomatum gehört oder gedacht. Folglich muß man diese theologischen Fragen und Antworten nicht in die gemeine Lehre von Christo und seiner Erlösung übertragen.8

1. Logoschristologie und die Deutung der „Gottheit Christi" Semlers Christologie trägt schon in ihrer Frühgestalt Züge einer Logoschristologie, die mit ihren Aussagen über die Präexistenz und seinshafte Gottheit Jesu Christi im johanneischen und paulinischen Schrifttum verankert ist. Die Gottessohnschaft deutet Semler nicht im Sinne der adoptianischen Christologie als einen Akt Gottes, der zu einem bestimmten Zeitpunkt (Taufe, Auferweckung) den irdischen Menschen Jesus von Nazareth als Sohn angenommen hätte, sondern als eine seinsmäßige und wesenhafte Verbundenheit von Vater und Sohn, die von Ewigkeit her bestanden hat. Der Logos, der schon vor aller Schöpfung beim Vater war, „ist ein Bild Gottes für uns, da Gott sonst unsichtbar ist. Gott hat ihn eher hervorgebracht als alles Geschöpf, das durch diese andere göttliche Person erst wirklich [ge] worden ist".9 Seine Logoschristologie vertritt Semler mit der scharf zugespitzten These „Logos ist Gott oder ein Subjekt, das zu Gott und nicht zu den Geschöpfen gehört", auch einige Jahre später in der Auseinandersetzung mit Carl Friedrich Bahrdt.10 Die „Gottheit" Christi ist demzufolge kein bloßes Würdeprädikat, das die christliche Gemeinde als Ausdruck ihrer besonderen Wertschätzung der irdischen Person Jesu von Nazareth verliehen hätte, sondern sie ist die sachgemäße und durchaus zutreffende Bezeichnung für die besondere ontische Beschaffenheit der Person Jesu Christi und ihre Herkunft vom himmlischen Vater. Infolgedessen weist Semler - und zwar schon mehrere Jahre vor den Auseinandersetzungen mit Carl Friedrich Bahrdt und dem Verfasser der Fragmente (Hermann Samuel Reimarus) eine zeitgenössische Theorie zurück, welche die christliche Rede von der Gottheit Christi als Vorgang einer „Apotheose" und als willkürliche Vergottung eines Menschen gedeutet hatte.11 Als Exeget gesteht Semler allerdings zu, daß den neutestamentlichen Texten die Aussage von der Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater nicht direkt zu ent8 9

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Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 432. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 242. - Die Aufnahme des Gedankens, daß Christus der Mitüer der Schöpfung sei, kann als Anspielung auf die paulinischen Aussagen von 1. Kor. 8,6 und Kol. 1,16 verstanden werden. Semler, Antwort auf das Bahrdische Glaubensbekenntnis. Halle 1779, S. 94. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 299f.

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nehmen sei, weil auch Jesus Christus diesbezüglich bei seinen Reden an die Jünger eine auffallige Zurückhaltung beachtet habe. Daher müsse man sich wohl der Hypothese anschließen, „daß die Zeitgenossen Christi es nicht genau und bestimmt gewußt haben, daß er eines und desselben Wesens mit Gott dem Vater seie".12 Auch einige Belegstellen, die bisher in der Dogmatik für die Lehre von der Gottheit Christi angeführt worden sind (z.B. 1. Joh. 5,7 und Rom. 9,5), können aus textkritischen und exegetischen Gründen nicht mehr zugunsten der traditionellen Lehre geltend gemacht werden.13 An der sachlichen Richtigkeit der Lehre von der Gottheit Christi, wie sie in den altkirchlichen Bekenntnissen und ihrer Zweinaturenlehre zum Ausdruck gebracht worden ist, ändert der Fortfall dieser Beweisstellen aber nichts. Die dogmatische Christologie darf auch bei reduzierter exegetischer Basis ihre Lehre von der „göttlichen Natur" Christi vertreten.14 Die Autorität, welche die Person Jesu Christi und die neutestamentliche Christusbotschaft für den Glauben besitzt, erfordert nach Semlers Überzeugung nicht, daß der Exeget die Lehre von der Gottheit Jesu Christi in paulinische Stellen einträgt, die sie nicht enthalten.15 Mit der Orientierung an den johanneischen und paulinischen Präexistenzaussagen und der Betonung, daß der Gottessohn vom Vater zur himmlischen Vollbringung des Heilswerkes in die Welt gesandt worden ist, hat Semler den Ansatz seiner Christologie so gewählt, daß er seine sachliche Übereinstimmung mit der lutherischen Lehrtradition und mit der Glaubenslehre seines Lehrers Baumgarten hervorheben konnte: „Ich bejahe selbst, glaube und lehre diesen allgemeinen Lehrsatz [...]: Christus ist ewiger wesentlicher Gott".16 Die ewige Gottheit Jesu Christi wird dabei als ewige Gottessohnschaft interpretiert, wie die Verwendung der johanneischen Bezeichnungen „Logos" und „eingeborener Sohn" erkennen läßt. Semler vertritt die Ansicht, daß das Johannesevangelium den synoptischen Evangelien nicht nur ebenbürtig, sondern als „geistliches Evangelium" inhaltlich überlegen sei.17 Diese Einschätzung und positive Wertung des vierten Evangeliums, für 12

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Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 83. Hinsichtlich der Auslegung von Röm. 9,5 schreibt Semler (vgl. ebd., S. 221): Jch habe also doch recht: die älteren patres graeci haben diesen Satz nicht von Christi Gottheit erkläret, sondern auf den Vater gezogen." Vgl. auch ebd., S. 249f. Ebd., S. 191: „Unsere Dogmatik verliert zwar wieder eine sogenannte Beweisstelle [Röm 9,5], die man in neueren Zeiten angefangen hat unter die Hauptstellen zu rechnen; aber die ungekünstelte Lehre selbst von Christi göttlicher Natur bleibt deswegen das alles, was sie vorhin war." Ebd., S. 264: „Wenn ich nun darauf dringe, daß wir Christi auctoritatem gehörig stattfinden lassen sollen; mußte ich denn annoch insbesondere divinitatem Christi hier behaupten? Ich dachte es wäre lange unter uns ausgemacht, für mich wenigstens war keine Veranlassung, wie ich in der paraphrasi an einem Orte sollte Christi Gottheit behaupten, wo sie Paulus, nach meiner Einsicht, nicht beschrieben hat". Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 38f. Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 517: Johannis Evangelium hat dem Inhalt nach sehr merklichen Vorzug vor den anderen, es hieß schon

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die sich Semler vor allem auf Luther berufen hat, findet sich schon 1762, wird aber in späteren Werken erneut bekräftigt.18 Mit der lutherischen Lehrtradition wird die Rede von der wahren bzw. wirklichen Menschheit Jesu Christi beibehalten, aber ein biographisches Interesse an Einzelereignissen oder am historischen Ablauf des Lebens Jesu von Nazareth ist bei Seniler nicht feststellbar. Der Grund für diese Haltung liegt in einer Reflexion über die maßgebenden neutestamentlichen Quellen, deren apostolisches Christuszeugnis kein biographisches Interesse erkennen läßt: „Die Apostel übergehen recht mit Fleiß die Geburt, Kindheit und häusliche Erziehung dieses Kindes; sie wissen gar nichts von Maria uns zu erzählen".19 Wenn Semler gleichwohl von der Bedeutung der „Historie" oder „Geschichte" Jesu Christi spricht, so meint er dies nicht als Zusammenstellung oder Inbegriff aller verfügbaren Berichte und Nachrichten über das Leben Jesu von Nazareth, sondern als Hinweis auf die Heilsabsicht, die Gott durch die Sendung und Menschwerdung seines Sohnes, dessen Lehre, Kreuzestod und Auferstehung verwirklicht hat. Der Sohn ist stets der Sohn seines himmlischen Vaters. Demzufolge sollen die Christen sich an der Lehre und Verkündigung des Gottessohnes orientieren. Es wäre unsachgemäß, wollte man Semlers Begriff der „Lehre Christi" so deuten, als sei damit eine Beschränkung auf die synoptischen Evangelien, auf die Bergpredigt und Reichgottesverkündigung des vorösterlichen Jesus von Nazareth intendiert. Denn in diesem Begriff ist, wie die Orientierung an der Ausdrucksweise des Johannesevangeliums zeigt, stets die Verkündigung des Auferstandenen eingeschlossen, der die Glaubenden zum ewigen Leben führen will. Die soteriologische Funktion der Lehre Christi wird akzentuiert. Als Paraphrase von Joh. 6,63 heißt es in einer für Theologiestudenten gehaltenen sonntäglichen Bibelauslegung Semlers: „Für uns kommt alles auf die Lehre Christi an; meine Worte, meine Lehre, muß Geist und Leben in euch bringen; ihr müßt selbst eine neue innerliche Geschichte von euch erfahren und erleben".20 Daß „Lehre Christi" in einem weiteren Sinne zu verstehen ist und als solche auch die apostolische Christusbotschaft, also eine Gotteslehre, Christologie und Heilslehre umfaßt, hat Semler in seiner Auseinandersetzung mit dem Glaubensbekenntnis von Carl Friedrich Bahrdt besonders nachdrücklich hervorgehoben und sich dabei gegen die Tendenzen zur Beschränkung des Christusglaubens auf seine ethischen Implikationen gewandt:

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ehedem pneumatikon und Luther hat in der Vorrede über das neue Testament ganz ohne Zurückhaltung ein gleiches behauptet". Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, insb. S. 60ff. - Vgl. auch Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Göttingen 1961, S. 196, Anm. 72, wo weitere Quellenbelege zur theologischen Bedeutung des Johannes-Evangeliums aufgeführt sind. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 246. Ebd.

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Christus lehrt nicht bloß, was wir in unserem Leben tun und beobachten sollen, als Pflichten gegen andere Menschen, sondern er lehrt auch von sich selbst, wofür wir ihn halten und annehmen sollen, wozu Gott den Christus gemacht und bestimmt hat.

Diese unmittelbare Verbindung von Christologie und Soteriologie wird in den folgenden Sätzen durch eine Applikation erläutert, die eine freie Wiedergabe der paulinischen Aussage von 1. Kor. 1,30 darstellt: Gott hat „Christum für mich gemacht zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung, daß ich gerecht, weise und erlöst würde".21 Die Frage, in welcher Beziehung die Lehre Christi zur apostolischen Christusbotschaft stehe, wird in der Auseinandersetzung mit dem von Lessing herausgegebenen Fragment Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger thematisiert. Sie bildet den eigentlichen Streitpunkt. Dabei fällt auf, daß Semler ebenso wie sein Kontrahent (Reimarus) begrifflich zwischen „Lehre Christi" und „der Apostel Lehre von Christo" zu differenzieren sucht. Doch im Unterschied zum „Ungenannten" betont er stets die sachliche Übereinstimmung zwischen der Reichgottesbotschaft Jesu und der apostolischen Heilsbotschaft von Kreuz und Auferstehung Christi. Er rechnet sie beide zu „Grund und Inhalt des Christentums". Zurückgewiesen werden von ihm sowohl die Behauptung eines inhaltlichen Gegensatzes beider Lehren als auch die Betrugstheorie, wonach die apostolische Lehre eine bewußte Verfälschung der Lehre Jesu darstelle und die Auferstehungsbotschaft eine bloße Erfindung der Jünger sei. Mit exegetischen und historischen Argumenten ist er bemüht, eine Sachkontinuität aufzuzeigen, die von der Verkündigung und Messianität Jesu zur apostolischen Christusbotschaft führt. Gemäß der so begründeten Zusammengehörigkeit wird auf die Frage nach dem Lehrgehalt des Christentums eine doppelte Antwort gegeben: „das Christentum beruhet ganz und gar auf der Lehre Christi und der Apostel Lehre von Christo; dieses ist der Grund und Inhalt des Christentums".22 Dies bedeutet, daß die Aussagen über die Heilsbedeutung von Inkarnation, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi zum integrierenden Bestandteil des Christentums zu rechnen sind. In der Betrachtung der Person Jesu dominiert der Aspekt der göttlichen Herkunft und der Zugehörigkeit zum himmlischen Vater. Infolgedessen wird der Mensch Jesus in seiner Einzigartigkeit und aufgrund seiner Sündlosigkeit auch in seiner grundsätzlichen Verschiedenheit von allen anderen Menschen gesehen.23 In der Tat wird man sagen müssen, daß Semler sich für die historische Persönüchkeit Jesus von Nazareth und den genauen Verlauf von Ereignissen seines Lebens kaum interessiert hat. Für ihn ist Jesus Christus der von Ewigkeit her mit dem 21 22

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Semler, Antwort auf das Bahrdische Glaubensbekenntnis. Halle 1779, S. 98. Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle '1779, S. 384 [= Halle 2 1780, S. 365], Vgl. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 178: „Weil es ein Vorzug Christi ist, daß gar keine Sünde in ihm ist; so kann folglich kein einziger anderer Mensch sagen, ich habe keine Sünde."

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himmlischen Vater verbundene Gottessohn, der als solcher an der Leidensunfahigkeit Gottes Anteil hat. So erklärt sich die doketisch klingende Aussage, daß das Leiden und Sterben den „Gottmenschen" nur betroffen habe, „sofern er ein Mensch war".24 Wenn selbst eine subordinatianische Auffassung zurückgewiesen wird, wird man bedenken müssen, daß in der zeitgenössischen protestantischen Theologie gerade das rechte Verständnis der Gottheit Christi umstritten war und Semler wegen seiner textkritischen Studien zu 1. Joh. 5,7 sowie seiner exegetischen Feststellungen zu Rom. 9,5 heftig angegriffen worden war und bei der Orthodoxie in Verdacht stand, sozinianischen Auffassungen zuzuneigen.

2. Die Lehre von der „geistlichen" Versöhnung und Erlösung Hans-Eberhard Heß hat in seiner beachtenswerten Berliner Dissertation die These vertreten, daß „Semler nur das Faktum der Erlösung durch Christus, nur das Faktum einer allgemeinen Gnade Gottes behauptet und sich eine äußerste Zurückhaltung in einer eigenen dogmatischen Fixierung dieser Begriffe auferlegt" habe.25 Diese These erscheint mir korrekturbedürftig, weil sie das besondere Anliegen unberücksichtigt läßt, das Semler mit seiner Christologie und Soteriologie verfolgt. Er wollte die durch Christi Kreuzestod geschehene und im Christusglauben gegenwärtig wirksame Erlösung als „geistliche" Erlösung verstanden wissen. Als solche ist sie ein durch den Heiligen Geist vermittelter Vorgang im Bewußtsein des Glaubenden, der sowohl das Gottesverhältnis verändert als auch ein neues Verhältnis zum Mitmenschen eröffnet. Dieses „geistliche" Verständnis der gegenwärtigen Heilswirklichkeit der Erlösung hat Semler sowohl in den Bibelmeditationen seiner Ascetischen Vorlesungen (1772) als auch mehrfach in seinen dogmatischen Lehrbüchern und Streitschriften abgehandelt. Wie die Gefangenschaft unter der Sünde nach Semlers Interpretation nicht im eigentlichen Sinne als physische Gefangenschaft, sondern als „geistliche" Gefangenschaft zu verstehen ist, so muß auch die im Christusglauben geschehende „Erlösung" als Befreiung des Menschen aus der inneren Gebundenheit an die Macht und Herrschaft der Sünde verstanden werden. Daher gilt es als unangemessen, wenn die Erlösung, welche Christus mit seinem Opfertod gebracht hat, als einmaliger Akt „physischer" Befreiung aus einer Gefangenschaft vorgestellt wird, wie dies durch die Metapher vom Teufel als Kerkermeister nahegelegt wird, dem mit dem Tod des unschuldigen Gottessohnes ein Lösegeld zur Freigabe der Menschen gezahlt worden sei. Diese Metaphern eines mythischen oder dramatisch-metaphysischen Erlösungsgeschehens sollen überwunden werden, indem man gemäß 24 25

Semler, Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 160. Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 195.

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dem neutestamentlichen Zeugnis den „Gegenstand" der Erlösung als geistliche Erfahrung der Befreiung aus dem früheren Siindenzustand genauer bestimmt.26 Die im Glauben ergriffene Erlösung ist zugleich Sündenvergebung. Daher hat Semler bestritten, daß die durch Christus bewirkte Erlösung schon sachgemäß erfaßt sei, wenn man sie lediglich als eine Befreiung aus „Dummheit" und .Aberglauben" deutet. Sie hat einen „größeren Gegenstand": Denn „Christus hat uns losgekauft und erlöset von der vorigen Gewohnheit zu sündigen und von der Herrschaft der Sünde, deren Gewalt ein nachdenkender Mensch in sich sehr leicht gewahr wird".27 Die individuelle Teilnahme an der durch Christus bewirkten Erlösung und ihre glaubende Aneignung hat Semler in seinen Auslegungen paulinischer Texte als eine geistliche Erfahrung beschrieben. Am Anfang steht dabei das Bewußtsein einer „ganz unüberwindlichefn] Gewalt der Sünde", das den Wunsch nach einer Errettung aus der Sündenverfallenheit wachruft. Mit der Gerechtsprechung erfahren die Glaubenden bestimmte innere Veränderungen, die in der spätorthodoxen und pietistischen Lehre vom ordo salutis mit verschiedenen Begriffen wie Erleuchtung, Bekehrung, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Heiligung und Vereinigung mit Gott bezeichnet worden sind.28 Es ist für Semlers lutherisch geprägte Theologie und seine Betonung des Gnadencharakters der Versöhnung und Erlösung wichtig, daß der Mensch an der Konstitution seines Heils nicht mitbeteiligt ist. Zwar soll der Gerechtfertigte gute Werke tun, aber die guten Werke und das Bemühen um eine persönliche Heiligung sind keine Vorbedingung für den Zuspruch der Sündenvergebung und die Erlangung des Heils, das allein durch Gottes gnädiges Handeln bewirkt und als göttliche Gabe keiner Ergänzung durch menschliche Aktivitäten bedarf.29

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Vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 373: „Der Gegenstand also, worauf sich hier Erlösung bezieht, ist die vorige ganze Gewohnheit zu sündigen, jener eitle Wandel der Menschen [...] folglich auch alle Strafen und nachteiligen Folgen der herrschenden Sünde hat Christus durch sich aufgehoben und weggeschafft oder sie [die Menschen] mit Gott versöhnet. Diese Erlösung erfahren nun alle Christen, alle wahre[n] Christen in dieser gar großen merklichen Veränderung ihres vorigen elenden Zustandes." Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 303. Vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 364: „Christus heißt oft der ganze Inbegriff seiner Historie, aller von Gott selbst zu dieser besonderen Absicht eingerichteten und verordneten Veränderungen. Dieser Inbegriff wird von Menschen durch das Evangelium oder durch den christlichen Unterricht eingesehen und erkannt; diese lebendige Erkenntnis ist das Mittel dieser neuen Schöpfung Gottes. Die Menschen werden nun neu geschaffen, wiedergeboren, erleuchtet, bekehret; alle diese Worte beschreiben einerlei Sache und Veränderung." Vgl. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 377: „Wer die Ordnung und den Grund unserer Seligkeit in unsere eigne Heiligkeit und gute Werke setzt und den Glauben an Jesum [...] verächtlich macht und für untauglich zu einer Ordnung des Heils erklärt, der predigt ein anderes Evangelium als Paulus."

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3. Das Christentum als Erlösungsreligion In Übereinstimmung mit der nachdrücklichen Akzentuierung des geistlichen Charakters der Heilswirklichkeit und der sie beschreibenden „geistlichen Wahrheiten" hat Semler den durch Christus gestifteten neuen Bund und die durch Christi Kreuzestod geprägte neue Religion als Erlösungsreligion verstanden. Nicht alle im Neuen Testament vorhandenen christologischen Hoheitsnamen und Würdetitel werden von ihm rezipiert. Aufnahme finden mit deutlicher Präferenz Titel wie Heiland, Erretter, Versöhner, Erlöser und Messias. Aber es wird stets in deudicher Abgrenzung vom jüdischen Verständnis betont, daß Jesus Christus kein politischer, sondern ein „geistlicher" Messias gewesen sei, wie auch sein Reich kein äußerliches, sichtbares Reich staatlicher Ordnung und Herrschaft, sondern ein unsichtbares Reich in den Herzen der Gläubigen sei.30 Die Verbundenheit des himmlischen Vaters mit dem präexistenten Sohne und die vom Vater ausgehende Sendung des Sohnes in die Menschenwelt zur Verrichtung des Heilswerkes bestimmen bei Semler die mit dem Begriff der Messianität Jesu bezeichneten Vorstellungen. Dagegen wird die Frage, ob der irdische Jesus von Nazareth ein messianisches Selbstbewußtsein besessen habe, nicht erörtert. Betont und häufig erwähnt wird die Differenz im christlichen und jüdischen Messiasverständnis. Denn Jesus Christus hat als „wahrer" und „geistlicher" Messias einen universalen Auftrag, der allen Menschen gilt. Er soll nicht einer Gruppe oder einem bestimmten Volk irdische Macht bringen oder zur nationalen Herrschaft über andere Völker verhelfen, sondern der Erlöser aller Menschen aus ihrer Sünde und Schuld sein. Diesen Gedanken hält Semler auch dem damals noch unbekannten Verfasser der Fragmente (Hermann Samuel Reimarus) entgegen: „Daß Gott keineswegs einen Messias bestimmt habe zum Untergang der Welt oder der Heiden; daß vielmehr alle, wenn sie an ihn glauben, das ewige Leben haben sollen".31 Diese über nationale Grenzen und Beschränkungen hinausreichende universale Heilsabsicht Gottes sowie die Art ihrer Verwirklichung durch den freiwilligen Gehorsam, das Leiden und Sterben des Gottessohnes sind für Semler der entscheidende Grund, den „geistlichen" Charakter der Messianität Christi hervorzuheben. Sowohl die Versöhnung als auch die Erlösung beziehen sich nach Semler auf die Heilsgegenwart. Diese beiden soteriologischen Begriffe werden von ihm oftmals nahezu synonym verwandt. Als solche bezeichnen sie nicht nur eine Erkenntnis und 30

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Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 472: „Es wird eingestanden, daß dieses Reich Christi größtenteils in den Menschen, also unsichtbar ist [...] Es wird sich dies[es] Reich Christi wirklich noch immer mehr und besser ausbreiten [...] In den älteren Jahrhunderten haben freilich sehr viele Christen dies[es] Reich Christi sehr unrichtig nach der äußerlichen Ausdehnung der sogenannten Kirche berechnet und gar ein tausendjähriges äußerliches politisches Reich Christi auf Erden [...] erwartet." Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 184 [= Halle 21780, S. 175], 145

ein Wissen um Gottes entscheidende Heilstat in Jesus Christus, sondern bewirken als Versöhnungstat und Erlösungshandeln Gottes auch eine lebendige Erfahrung in dem Bewußtsein und Herzen der Gläubigen. Dabei gilt die „ E r l ö s u n g " aj s Befreiung und Errettung von der verdammenden Macht der Sünde und als Befreiung von Schuld und Strafe, die uns als die dem Gericht verfallenen Sünder eigentlich hätten treffen müssen, die jedoch Christus für uns getragen hat. Der Gegenstand also, worauf sich hier Erlösung beziehet, ist die vorige Gewohnheit zu sündigen, jener eitle Wandel der Menschen, wodurch sie in Irrtum sich immer mehr verderbeten; folglich auch alle Strafen und nachteilige Folgen der herrschenden Sünde hat Christus durch sich aufgehoben und weggeschafft; oder sie mit Gott versöhnt. Diese Erlösung erfahren nun alle Christen in dieser gar großen merklichen Veränderung ihres vorigen elenden Zustandes. 32

Für das zentrale Thema der Christologie und Soteriologie, die durch Jesus Christus bewirkte Versöhnung und Erlösung, hat Semler lange Zeit den in der Hallenser Lehrtradition üblichen Begriff der „ H e i l s o r d n u n g " verwandt, bevorzugt aber in der späteren Zeit den melanchthonischen Begriff der geistlichen „Wohltaten" (beneficia). Diese Wohltaten Christi sind gemäß ihrem geschichtlichen Ereignischarakter ein von Gott her bewirktes Heilsgeschehen, das gänzlich unabhängig von den Menschen, denen es zugute kommen soll, erfolgt ist. Wird einerseits das Perfectum des in Jesus Christus bewirkten Heils betont, so andererseits der persönliche Glaube, durch den das Einbezogenwerden in das Versöhnungs- und Erlösungsgeschehen stattfindet. Denn wirksam werden Versöhnung und Erlösung für den einzelnen nur, wenn sie von ihm angeeignet, d.h. im Glauben bejaht und ergriffen werden.33 Insofern besitzt die christliche Religion als Erlösungsreligion einen bestimmten Verkündigungsgehalt, einen dogmatischen lehrbaren und in Sätzen formulierbaren Inhalt.

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Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 373. Vgl. Semler, Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. 50: „Denn ohne ihren eigenen Glauben, ohne ihre einzelne Teilnehmung und Aneignung, hilft ihnen das gar nichts, was Christus zu ihrer Erlösung in moralischer Ordnung, um es selbst zu glauben, getan hat." Vgl. ders., Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Hornig u. Haitmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 144. - Schon zuvor (1780) hat Semler in seiner Auseinandersetzung mit Johannes Bernhard Basedow hervorgehoben, daß die im Kreuzestod Christi allen Menschen angebotene Erlösung durch den persönlichen Glauben angeeignet werden soll und erst im Vollzug solcher Aneignung zur gegenwärtigen „Wirklichkeit" für den glaubenden, aber noch immer sündigenden Menschen wird; vgl. dazu Semler, Aufrichtige Antwort, auf Herrn Basedows Urkunde. Halle 1780, S. 91f.

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4. Die Kritik an der Beibehaltung der Teufelslehre Wie bereits an der Hervorhebung des „geistlichen" Charakters der Erlösung deutlich geworden ist, hat Semler sich wiederholt gegen eine mythische Deutung des Kreuzestodes Jesu Christi gewandt, die in das Erlösungsgeschehen die Teufelsvorstellung einführt und mit einem Agieren des Teufels rechnet, wie dies Tertullian, Orígenes, Augustin sowie andere griechische und lateinische Kirchenväter getan haben. Folgt man diesen altkirchlichen Gedankengängen, dann verwandelt sich das Erlösungsgeschehen in ein metaphysisches Drama, in dem die für ihre Sünde verantwortlichen Menschen bloße Objekte eines Handels sind. Zwar bleibt die Erlösung auch im Rahmen dieser Vorstellungen die freiwillige Gottestat, weil der unschuldige Gottessohn durch seinen Kreuzestod sich selbst dem Teufel als Lösegeld darbietet und so die Menschen aus der physischen Gefangenschaft im Kerker des Teufels befreit. In einer weiteren Ausgestaltung dieser dramatischen Szenerie wird angenommen, daß eine Überlistung oder Täuschung des Teufels stattgefunden habe, weil dieser gar nicht bemerkte, daß der Gekreuzigte der von der Jungfrau geborene sündlose und unschuldige Gottessohn war, auf dessen Opfer gar kein Anrecht bestand.34 Der über die Jahrhunderte fortwirkende Teufelsglaube hat nach Semlers Urteil die neutestamentliche Erlösungsvorstellung verfremdet und in ihrer befreienden Kraft beeinträchtigt, weil er mit dem Wirken einer widergöttlichen Macht rechnet, die längst überwunden und entmachtet ist. Der Teufelsglaube soll daher weder in die aktuelle Verkündigung noch in die dogmatische Christologie und Soteriologie übernommen werden. Denn die Teufelsvorstellungen stellen „abergläubische", „schlechte", „mangelhafte" und „ganz falsche" Vorstellungen dar, die preisgegeben werden müssen. Die Kritik an solchen altkirchlichen Erlösungsvorstellungen schließt nicht aus, daß in der gegenwärtigen Theologie und Verkündigung bei der Hervorhebung der Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi die biblischen Aussagen von „Opfer", „Sühne", „Lösegeld" und dem Akt der „Loskaufung" weiterhin Verwendung finden. Doch soll dies so geschehen, daß der geistliche Charakter des Erlösungsvorganges deutlich wird und die paulinische Kreuzestheologie erhalten bleibt. Denn die Menschen befinden sich tatsächlich in einer Gefangenschaft, nämlich in der Gefangenschaft der Sünde und Schuld, aus der sie nur Gottes Gnade und Christi Erlösungstat erretten kann. Das „Lösegeld", das Christus für uns gezahlt hat, das hat er Gott gezahlt, wie er auch das „Opfer", das er durch seinen Tod dargebracht hat, Gott dargebracht hat.35 34

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Semler, Ascelische Vorlesungen. Halle 1772, S. 265ff.; ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 274; ders., Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 451 u. 508f.; ders., Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 54. Vgl. ebd., S. 54: „Die ganze Allegorie bei der Erlösung - der Teufel war der Kerkermeister [...] gefällt mir nicht; sie ist nicht moralisch, ganz falsch; aber sie muß nicht das einzige alte

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Semlers Überzeugung von der Entbehrlichkeit der Teufelsvorstellung bei der Verkündigung des christlichen Heilsglaubens und bei einer schriftgemäßen Darstellung der Christologie und Soteriologie geht über die dogmatischen Fragen hinaus und betrifft auch die aktuellen Auseinandersetzungen über die Möglichkeit von dauerhaften Krankenheilungen durch Exorzismen und Teufelsbeschwörungen.36 Semler fordert die Preisgabe der Teufelslehre und ihre Eliminierung aus der christlichen Dogmatik, damit der Irrglaube aufhöre, der Teufel könne physische Wirkungen auf Menschen ausüben und von ihnen Besitz ergreifen. Freilich ist es mein Emst; ich fordere, es soll in dem Artikel des theologischen Compendii von Engeln und bösen Geistern [...] alles ausgestrichen werden, was von leiblichen Handlungen und Taten des Teufels sonst ist bejaht, geglaubt und gelehrt worden. Es ist alter heidnischer Irrtum und es verfälscht die wahre rechte christliche Religion."

So erklärt sich auch, daß Semler Bedenken äußert gegenüber der weiteren Verwendung von alten Kirchenliedern, die sich in evangelischen Gesangbüchern finden, sofern sie durch ihre Texte den Teufelsglauben zu festigen und zu beleben vermögen, wie es etwa durch die sechste Strophe des Lutherliedes Nun freut euch liebe Christengemein geschieht: „Gar heimlich trug er seine Gewalt, er ging in einer armen Gestalt, den Teufel wollt er fangen".38

5. Die Deutung des Heils Werkes Christi durch den Satisfaktionsgedanken Die Freiheit zur Entfaltung der Christologie und Soteriologie will Semler nicht von vornherein begrenzen. Er erhebt auch keine prinzipiellen Einwände gegenüber einer Begrifflichkeit und Ausdrucksweise, die über den biblischen Sprachgebrauch hin-

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Pferd des Predigers sein. Er muß jetzt, in jetziger Zeit dieselbe Sache erklären für jetzige Zuhörer, denen der Teufel als Kerkermeister nicht unentbehrlich ist, um die geistliche Erlösung, die Gott durch Jesum Christum für alle nach ihr verlangenden Menschen hat darstellen lassen, selbst sich wirklich geistlich anzueignen. Ebenso ist es mit der Versöhnung, mit dem rechten ewig gültigen Hohenpriester, einzigen ewigen Opfer für unsere Sünden als unsere[n] Sünden, die wir geistlich, chrisüich beurteilen". Vgl. auch ders., Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 247ff. und ders., Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 507f. - Unrichtig und irreführend ist die 1988 von Sparn aufgestellte Behauptung, daß Semler eine „Auflösung der biblischen Begründung der dogmatischen Christologie" vollzogen habe; vgl. Walter Sparn, Art. Jesus Christus V' (Vom Tridentinum bis zur Aufklärung), in: TRE. Bd. 17. Berlin/New York 1988, S. 10. Vgl. hierzu den Abschnitt 13 („Der Briefwechsel mit Lavater und die Swedenborg-Kritik") unserer „Biographischen Skizze", wo Semlers Kritik an den Exorzismen und Teufelsbeschwörungen des katholischen Geistlichen Johann Joseph Gaßner dargestellt worden ist, insb. S. 53-55. Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, Vorrede b. Semler, lieber historische, geselschafiliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 196.

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ausgeht. Wohl aber äußert er sich kritisch gegenüber der in Vergangenheit und Gegenwart zu beobachtenden Tendenz einer Intellektualisierung des christlichen Glaubens, die darin besteht, den Christusglauben durch Einbeziehung theologischer Theorien ständig zu erweitern und so den christlichen Glauben zu einem Lehr- und Dogmenglauben zu machen. In solchen Bestrebungen sieht er eine verhängnisvolle Vermischung von Theologie und Religion. ,J)ie Wohltaten Christi werden uns ja geradehin mitgeteilt, ohne daß die Christen erst die unbekannte innere Geschichte Christi einstimmig [...] bestimmen müßten".39 Es gibt dogmatische Lehrdifferenzen und eine Verschiedenheit theologischer Vorstellungen, welche die Geltung des grundlegenden Heilsgeschehens und „den Gebrauch der Wohltaten Christi" gar nicht angehen.40 Für die Hervorhebung der Heilsbedeutung der Christusbotschaft ist es bemerkenswert, daß wir Semler im damaligen Streit um die Berechtigung der Satisfaktionslehre auf Seiten der Verteidiger dieser Lehre finden.41 Mit dem Begriff der satisfactio ist dabei gemeint, daß Jesus Christus als der sündlose Gottessohn freiwillig an die Stelle der Menschen getreten ist, indem er sowohl ihre Schuld und Strafe als auch ihre Verbindlichkeit zur vollständigen Gesetzeserfüllung übernommen hat.42 Das Festhalten an der Vorstellung vom satisfaktorischen Wert des Leidens und Sterbens Christi und an der Deutung des Heilswerkes Christi durch den Satisfaktionsgedanken sieht Semler, auch wenn er die ewige Seligkeit nicht an den Gebrauch dieses Begriffes binden will, für sachgemäß an, zumal sich die protestantische Lehre dadurch vorteilhaft von der römisch-katholischen und der sozinianischen Lehre unterscheidet.43 Der Grundgedanke der stellvertretenden Genugtuung präzisiert das solus Christus, weil der Gottessohn das alleinige und zureichende Opfer für unsere Sünde und Schuld ist. Gott vergibt, statt uns zu strafen, weil sein Sohn die Sünden der Menschen im Kreuzestod auf sich genommen hat. Ist aber der Kreuzestod Jesu Christi „das allergrößte, das allervollkommenste Opfer", so be39 40 41

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Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 419f. Ebd., S. 25. Vgl. Semler, Historische Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1768, Vorrede: „Daß wir versöhnt sind mit Gott, kann auf verschiedene Weise, was die besondere Art und den Grund der Zuversicht und Gewißheit betrifft, von dem und jenem Menschen, der diese Wahrheit sich anzuwenden wünscht, geglaubt werden; aber wenn wir eine eigentliche Aussöhnung und Satisfaction wider manche gröbere Socinianer zum Grunde setzen, so folgt nicht, daß alle andere[n] Menschen, die diese besondere Bestimmung nicht in ihren Glauben einwickeln, mit Gott nicht versöhnt seien und sich davon nicht überzeugen könnten; wenn gleich wir diesen Grund aus der heiligen Schrift mit Recht angenommen haben". Semler, Institutio ad doctrinara Christianam liberaliter discendam. Halae 1774, S. 462ff. Vgl. Semler, Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 197: „Die Protestanten haben die einzige Genugtuung Christi, und zwar nicht bloß für die Erbsünde, wider die alte lateinische Lehrform bejaht [...] Daher wird auch diese Wohltat Christi, seine Genugtuung, in den protestantischen öffentlichen Lehrformen noch fortgesetzt; sie ist ein Grundsatz wider die päpstliche und pfäffische Tyrannei und eine stete Unterscheidung unserer Kirche von der sozinianischen Gesellschaft". 149

deutet dies das Ende des von Menschen Gott dargebrachten Opferkultes. Es gilt also zu erkennen, daß Gott keine Versöhnung von außen erwartet; daß er vielmehr, umgekehrt, die Menschen durch diese Historie Christi, seines Sohnes, dahin bringen will, ihn als ihren allergrößten Wohltäter, als Beförderer zu einer ewigen Seligkeit durch Christum, von nun an zu kennen und geistlich, würdiger, von nun an, einem so herrlichen Gott zu dienen, in immer besserer Nachahmung Christi, der die allervollkommenste Einwilligung in allen unendlichen guten Willen Gottes in seinem Beispiel gezeigt hat.44

Wenn uns im Glauben an Christi Kreuzestod Sündenvergebung und Versöhnung geschenkt ist, so ist mit der „Nachahmung Christi" die Aufgabe der Heiligung gestellt. Als unverdientes Gnadengeschenk Gottes wird Christus für uns zugleich zum Vorbild, dem wir nachfolgen sollen. Liebe, Demut, Gehorsam und Gottvertrauen werden so zu Kennzeichen des Christseins, was aber für Semler keineswegs ausschließt, daß auch der Staat und die Ordnung des weltlichen Regiments als gottgewollt Anerkennung finden und das Amt der Obrigkeit zu den Berufen gerechnet wird, die ein Christ bereitwillig übernehmen und ausüben soll. „Es hatte[n] Christus und die Apostel keinen neuen Staat anfangen wollen; sie lassen Kaiser, Könige, Fürsten und Obrigkeiten, die dem Staat gehören, das ferner sein, was sie zu der politischen Wohlfahrt der Länder sein müssen".45

6. Die Auferstehung Christi als Heilsgrund Seit seinen Frühschriften aus dem Beginn der 60er Jahre hat Semler den Glauben an die Wirklichkeit der Auferweckung Christi durch Gott, den Vater, als unverzichtbaren Heilsgrund der Evangeliumsverkündigung betrachtet.46 In Konsequenz dieses paulinischen Verständnisses der Heilsordnung hat er die neutestamentlichen Berichte von der Auferweckung Christi auch im Fragmentenstreit gegen die Betrugstheorie des Reimarus verteidigt und zu einem unverzichtbaren Bestandteil des christlichen Glaubens gerechnet.47 Wenn der Glaube an die durch Gott geschehene 44

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Semler, Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Hornig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 164. - Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 350f.: „Nun ist freilich der wahre Christus ein geistlicher König, der vollkommenste Hohepriester; das unendlich vollkommene Opfer und die allergrößte Aussöhnung des Menschen mit Gott, die sie nun geistlich chrisüich kennen". Semler, Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Hornig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 165. Vgl. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 337: „Ich will noch kürzlich darauf antworten, wer ein ander Evangelium predige? Wer die Ordnung auf den Grund unser[er] Seligkeit in unsre Heiligkeit und gute[n] Werke setzt und den Glauben an Jesum, der für unsere Sünden gestorben und zur Gewißheit des Wohlgefallen an uns auferwecket worden [ist], verächtlich macht und für untauglich zu einer Ordnung des Heils erkläret". Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 348f. u. 356 [= Halle 21780, S. 332f. u. 339],

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Auferweckung des Gekreuzigten „zu den vornehmsten Artikeln der christlichen Religion" gehört, so impliziert dies freilich nicht die generelle Zustimmung zu allen Einzelheiten, die über den Ablauf der Osterereignisse in den vier Evangelien in unterschiedlicher Weise berichtet werden. Die Differenzen in der neutestamentlichen Berichterstattung finden ihre historischen Erklärungen und sind nach Semlers Auffassung kein Grund, das Faktum der Auferweckung Jesu Christi ungewiß zu machen oder in Zweifel zu ziehen.48 Der Gekreuzigte ist für Semler stets der Auferstandene, zu dem der himmlische Vater sich durch die Auferweckung seines Sohnes bekannt hat. Zur herrschenden Mitte seiner Christologie und Soteriologie hat er die Auferstehungsbotschaft allerdings nicht gemacht. Dieses Zentrum bietet vielmehr die Heilsbedeutung des Kreuzestodes, genauer gesagt, das Verständnis des Todes Christi als freiwilliges Opfer des Gottessohnes, der dadurch Sündenvergebung, Versöhnung und Erlösung für alle Glaubenden bewirkt hat. Die Messianität Jesu Christi wird so bestimmt, daß der Gottessohn als „geistlicher" Messias erscheint, der uns von den gottfeindlichen Mächten des Gesetzes, der Sünde und Schuld befreit hat. Diesen Grundgedanken hat Semler nicht erst im Fragmentenstreit gegen die von Reimarus vorgetragene politische Deutung der Messianität Christi geltend gemacht. Es stellt ein Motiv der lutherischen Lehrtradition dar, das sich schon in seinen Kommentaren zu paulinischen Briefen und seinen Ascetischen Vorlesungen (1772) nachweisen läßt. Es darf also nicht übersehen werden, daß Semler mit seinem Anliegen einer an der Heiligen Schrift orientierten historisch-kritischen Theologie sich stets in einer doppelten Frontstellung befindet Diese ist einerseits gegen die noch immer einflußreiche zeitgenössische lutherische und reformierte Orthodoxie (Goeze, Piderit, Schubert u.a.) gerichtet, die für ihre eigene Theologie und Dogmatik gläubige Anerkennung fordert, und andererseits gegen eine stärker werdende radikalere Richtung der Aufklärungstheologie (Reimarus, Bahrdt, Basedow), die bereit ist, auch wesentliche und zentrale Gehalte des Christusglaubens preiszugeben. Sprachanalytisch modern wirkt Semler mit seinen christologisch relevanten Überlegungen zur Qualifizierung des Subjektes, das Jesus Christus als Gottessohn ist, durch die ihm beigelegten Prädikate und durch die Beziehungen der Prädikate zum Subjekt. Aus der zutreffenden Erkenntnis über den Vorgang solcher wechselseitigen Qualifizierung gewinnt er auch eine Erklärung für die Verschiedenartigkeit christologischer Vorstellungen: „Je kleiner hier die Predicata sind [...] desto geringer ist auch alsdenn der Begriff Sohn Gottes".49

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Ebd., Halle 1779, S. 354ff. [= Halle 2 1780, S. 337ff.]. Semler, Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Hornig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 112.

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7. Unendlichkeitsgedanke und Lichtmetapher Zu den auffallenden Besonderheiten im Sprachgebrauch des älteren Semler, wodurch seine Theologie sich deutlich von der anderer Zeitgenossen unterscheidet, gehört die häufige und herausgehobene Verwendung des Unendlichkeitsbegriffs. Man könnte darin die Weiterbildung eines Elements altprotestantischer Dogmatik erblicken, welche in ihrer Gotteslehre von Gott als der essentia spiritualis infinita gesprochen hatte. In der Bestimmung der Vollkommenheiten Gottes hatte auch Siegmund Jacob Baumgarten hervorgehoben, daß Gott „einen unendlichen Verstand und Willen habe, also der unendliche und allervollkommenste Gott sei".50 Solche Gottesprädikationen finden sich ebenfalls bei Semler. Doch öffnet er das Tor zu einer erweiterten Anwendung der Unendlichkeitsprädikation, indem er diese Prädikation nicht auf Gott und die Gottheit Jesu Christi beschränkt, sondern auch auf eine semantische Ebene der religiösen „Wahrheiten" bezieht, die Aussagen über Gottes Absichten, sein gegenwärtiges und zukünftiges Handeln zum Inhalt haben.51 Demzufolge wird diese Prädikation bald auch auf die Aussagen über das aus Gnaden geschenkte Heil und die Botschaft der von Christus bewirkten Versöhnung und Erlösung bezogen. Sie erfaßt also die Bereiche der Christologie und Soteriologie, Pneumatologie, Ekklesiologie und Eschatologie. Es entspricht diesem weitgespannten Anwendungsbereich des theologischen Unendlichkeitsbegriffs, der die räumliche wie zeitliche Grenzenlosigkeit bezeichnet, daß er schließlich von Semler auf den Gesamtinhalt des christlichen Glaubens und die christliche Religion übertragen wird: „Der Inhalt aller christlichen Wahrheiten ist nach meiner Einsicht ein unendlicher Inhalt, weil er Gottes unendliche Weisheit und Gnade begreift".52 Knapper und prägnanter lautet die ein Jahr zuvor formulierte These, für die Semler Originalität beansprucht hat: „Ich habe wohl zuerst mich erkühnet, die Unendlichkeit der christlichen Religion zu behaupten".53 Die besondere Bedeutung des Wortes ,/noralisch" im Sprachgebrauch Semlers ist auch bei der Interpretation seiner Christologie und Soteriologie zu beachten. Es ist oftmals gleichbedeutend mit „geistlich" und steht als solches im Gegensatz zu „physisch". Es unterscheidet sich also vom heute üblichen Sprachgebrauch. Die Nichtbeachtung dieser Bedeutungsdifferenz hat wiederholt zu Fehlinterpretationen geführt. Bei Semler findet sich die für uns so ungewöhnlich klingende Formulierung, daß Jesus Christus als Gottessohn zugleich „Urheber und Herr der unendli-

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Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1759, S. 204. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 314. Semler, Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Hornig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 246. Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 216.

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chen moralischen Welt" sei.54 Mit dem Phänomen der „unendlichen moralischen Welt" ist die geistliche Welt des durch Christus bewirkten Heils der Versöhnung und Erlösung gemeint, die sich als solche von der „physischen Welt", der von Gott geschaffenen Natur und Lebenswelt unterscheidet. Dies bedeutet zugleich, daß der Mensch berufen ist, Bürger beider Welten zu werden, d.h. im Glauben auch an der geistlichen, unendlichen und unvergänglichen Welt Anteil zu gewinnen. Den ersten Blick in diese „moralische geistliche Welt" hat der Mensch dem Gottessohn zu danken.55 Der so verstandene Unendlichkeitsbegriff ist ein Zeitbegriff, der eine bestimmte Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsrelation bezeichnet Zugleich ist er aber auch ein normativer Begriff, der einen Beurteilungsmaßstab impliziert. Denn alles, was als „unendlich" gilt, hat Anteil an der Unendlichkeit Gottes, gehört zum Bereich des Ewigen und Unvergänglichen. Wie die Gottheit Jesu Christi, so ist auch das von ihm ausgehende Heilswerk unendlich. Denn als der Eingeborene und höchste Sohn Gottes hat Jesus Christus „unendliche Macht" erhalten, die an ihn glaubenden Menschen zu erlösen.56 Demzufolge dürfen die Christusbotschaft und die von ihr ausgehenden Wirkungen in den Gläubigen als eine „unendliche" Wirklichkeit angesehen werden. Den Unendlichkeitsgedanken hat Semler ausdrücklich auch auf die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi bezogen, weil zu diesem einmaligen Ereignis als Folge auch die ständig fortgehende Glaubenserkenntnis und immer erneute individuelle Aneignung gehören. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch der Bedeutungsgehalt der von Semler häufiger verwandten Lichtmetapher, die zur Bezeichnung der Person des Gottessohnes dient, der durch seine Menschwerdung und Lehre ewige Wahrheit und Gnadenerkenntnis in die Welt der Finsternis gebracht hat. Die Vertreter der philosophisch und politisch motivierten Aufklärung, welche die Lichtmetapher gleichfalls benutzten, hofften mittels Wissenschaft, Bildung und Erziehung, der Überwindung von Unwissenheit, Vorurteilen und Aberglauben allmählich zu größerer Einsicht, Freiheit und Wahrheitseikenntnis voranschreiten zu können. Bei Semler erfährt die Lichtmetapher in Aufnahme des johanneischen Sprachgebrauchs jedoch eine theozentrische bzw. christozentrische Begründung und Verankerung. Denn Gott ist es, von dem „das Licht" ausgeht, „das alle jene Finsterniß und Unwissenheit" vertreiben soll, und die Menschen sind es, welche die ,3lindheit oder Bosheit mehr lieben als das Licht".57 Daß Jesus Christus als Quelle der Wahrheit und Bringer des Heils „das ewige Licht" ist, wird in sachlicher Übereinstimmung

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Semler, Chrislologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Homig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 127; vgl. S. 110.

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Ebd., S. 170. Ebd., S. 110.

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Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 238.

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mit der reformatorischen Tradition mehrfach hervorgehoben.58 Daher lautet die Aufforderung und der Appell: „Immer muß es von uns wiederholt werden, [...] das ewige unendliche Licht ist von Gott durch Christum angezündet worden". Christus hat „die ins Unendliche fortgehende Bewegung des Lichts" ausgelöst, er ist und bleibt das Licht der Welt.59 Aus dieser Erkenntnis folgt für Seniler, daß die Christusbotschaft eine konfessionsübergreifende Größe ist und daß alle, ganz gleich welcher Kirche oder Konfession sie angehören, Zugang zu diesem göttlichen Lichte haben. Es gilt dann aber auch, daß im Verhältnis zur Unendlichkeit Gottes und dem von Christus bewirkten Heil die menschliche Heilserkenntnis und die individuelle Heilsaneignung immer unabgeschlossen bleiben und im Glauben stets erweitert und vertieft werden können. Der Unendlichkeitsgedanke hat bei Semler auch geschichtstheologische Auswirkungen. Im Unterschied zu der Endzeitstimmung, welche die Christenheit im 17. Jahrhundert erfaßt hatte, lebt Semler nicht mehr in der Überzeugung, daß die Welt- und Menschheitsgeschichte sich nun bald ihrem Ende zuneigen werde. Trotz der Erschütterungen, die durch die Erdbebenkatastrophe von Lissabon (1755) und den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) ausgelöst wurden, ist er überzeugt, daß sowohl die Menschheits- als auch die Christentumsgeschichte ins Unendliche weiterlaufen werden. Daher kann er auch den Perfektibilitätsgedanken aufnehmen und ihn im Sinne einer Vervollkommnung des Christentums hin zu einer aufrichtigen geistigen Gottesverehrung und einer kontinuierlichen Ausbreitung des geistlichen Reichs Christi deuten. Allen utopischen Erwartungen und chiliastischen Wunschbildern steht Semler äußerst kritisch gegenüber. Dies bedeutet für ihn jedoch keinen Verzicht auf eine Eschatologie und die ihr entsprechende Zukunftshoffnung. Vorherrschend ist der johanneische Typ einer präsentischen Eschatologie mit der Gewißheit, im lebendigen Christusglauben schon jetzt „das ewige Leben" zu besitzen. Verbunden damit ist eine individuelle Jenseitseschatologie, die von der Überzeugung getragen ist, daß unmittelbar nach dem leiblichen Tod die Seele zu Gott aufsteigt und bei Gott ihr Dasein hat. Beide Glaubensgedanken standen in Kontinuität mit der damaligen lutherischen Frömmigkeit. Die individuelle Jenseitseschatologie wurde aber auch gestützt durch die zeitgenössische Anthropologie und die Seelenlehre der Wolffschen Metaphysik. Was auf diese Weise erheblich abgeschwächt und zurückgedrängt wird, ist die fu58

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Vgl. Semler, ebd., S. 340: „So heißt Christus das Licht der Welt, weil er die unglückselige geistliche Finsternis aufgehoben und die Menschen von ihrer Wohlfahrt nun gewiß gemacht hat. So wird das Reich der Finsterniß unterschieden, aus welchem uns Gott errettet und in das Reich seines lieben Sohnes versetzt und zu Kindern des Lichts gemacht hat, welche nun im Licht wandeln können und lauter Wohlergehen und wahre Glückseligkeit in dem Bewußtsein aller Gnade Gottes genießen". In den von Luther gedichteten Versen des alten Weihnachtsliedes Gelobet seist du, Jesu Christ heißt es: „Das ewige Licht geht da herein, gibt der Welt ein neuen Schein; es leucht' wohl mitten in der Nacht und uns des Lichts Kinder macht. Kyrieleis". Semler, Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Hornig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 235.

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turische Eschatologie, obgleich sie als Fernerwartung nirgends direkt verworfen wird. Man könnte sagen, daß sie bei Semler noch die Funktion einer Grenzvorstellung für die geschichtliche Entwicklung besitzt und zur Aufrechterhaltung der Vorstellung vom Jüngsten Gericht dient.

8. Bekenntnis zur Trinität und Vorbehalte gegenüber der Trinitätslehre Wie in der Christologie, so will Semler auch hinsichtlich der Trinitätslehre den Anliegen und Intentionen der reformatorischen Theologie Luthers und Melanchthons folgen. Er bejaht den Grundgedanken, daß der christliche Gottesglaube die trinitarische Struktur des Glaubens an die drei göttlichen Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist besitzt und in der fröhlichen Aneignung der „Wohltaten" besteht, die uns durch sie zuteil geworden sind.60 Der Satz, Jesus Christus ist der Gottessohn, wird von Semler nicht als Identitätsaussage, sondern als Prädikation verstanden. Als solcher ist er mehrdeutig und kann daher in verschiedener Weise präzisiert werden. Eine mögliche Präzisierung ist die Homousieaussage des Nicaenums. Doch grundsätzlich gilt: „Alle Christen haben ein gleiches Recht, den Sinn der Bibel, was Sohn Gottes ist, nach ihrem Gewissen aufzusuchen und nun für sich zu bestimmen".61 Wie der Schöpfergott und der den Sohn sendende Vater durch den Gedanken der ihm eignenden Liebe, Gnade und Barmherzigkeit qualifiziert wird, so der Sohn durch seine Tätigkeit als Versöhner und Erlöser.62 Mit wiederholten Bezugnahmen, Paraphrasierungen und Kommentierungen hat Semler die Bedeutung der paulinischen Aussage von 1. Kor. 1,30 hervorgehoben, die eine zentrale Bedeutung für sein Verständnis der Christologie und Soteriologie gewonnen hat: Jesus Christus ist uns durch Gott gemacht worden zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung 60

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Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, Vorrede, S. 26: „Von der Dreieinigkeit, sagt er [der katholische Dogmatiker Engeibm Kliipfel, Rezensent der lateinischen Dogmatik Semlers], drücke ich mich sehr unbestimmt aus und überließe einem jeden, sich eine eigene Vorstellung zu machen. Ich habe es aber mit treuen Lehrern zu tun, die leite ich an, wie Luther, Melanchthon, Hunnius etc. die Wohltaten des Vaters, Sohnes und Geistes fröhlich und richtig zu gebrauchen." - Vgl. ders., Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 254f.: „Dagegen war ich sehr aufmerksam, daß nicht viel lieber die großen Wohltaten des Vaters, Sohnes und heil. Geistes umständlich beschrieben und recht mit Zuversicht empfohlen würden; das gehörte für alle Christen, ist ihnen stets unentbehrlich; und ist auch der geistliche und moralische Sprachgebrauch verschieden, so ist es doch immer der Hauptgrund und Hauptinhalt des Glaubens aller wahren Christen." Vgl. Semler, Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Homig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 174. Vgl. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 104: „Der Name Jesu ist das, was die Bibel ihm nach unserer gewissenhaften Erkenntnis als Prädicata beilegt; durch sein Blut haben wir die Erlösung; sein Blut macht uns rein; er hat uns versöhnet; er macht sein Volk, und die Sünder selig von ihren Sünden; er trägt die Sünde der Welt; Gott hat uns unsre Sünden nicht zugerechnet, sondern Jesum uns zur Gerechtigkeit gemacht". 155

und zur Erlösung. Diese Aussage ist die mit Abstand meistzitierte Bibelstelle in den zahlreichen Werken Semlers.63 Die beiden soteriologischen Hauptbegriffe, die Versöhnung und Erlösung, werden ganz und gar auf die Heilsgegenwart bezogen, weil sie im Glauben schon jetzt wirksam werden, schon jetzt Sündenvergebung, Frieden mit Gott, Erlösungsbewußtsein, Gottesgemeinschaft und ewiges Leben gewähren. Dem entspricht, daß gelegentlich auch der johanneische Gedanke der präsentischen Eschatologie anklingt. Wer zum Christusglauben gelangt ist und in diesem Glauben bleibt, der hat das ewige Leben und lebt in dem Licht, das von der Christusbotschaft ausgeht. Doch ist Semler der Vorstellung eines Heilsobjektivismus entgegengetreten, der das von Gott im Kreuzestod Christi bewirkte Heil als einen Sachverhalt ansieht, der ganz automatisch und unabhängig von der persönlichen Zustimmung des Glaubenden wirksam werden könnte. Heil ist vielmehr nur durch den Christusglauben und die glaubende Heilsaneignung zu gewinnen. Zwar lehnt Semler die theologischen Reflexionen, die zur Ausbildung der Lehre von der immanenten Wesenstrinität geführt haben, nicht ab, neigt aber dazu, die Trinitätslehre auf die neutestamentlichen Aussagen einer Offenbarungstrinität zu beschränken. Demzufolge offenbart Gott seine Werke und Wohltaten in drei Personen, wobei dem Vater die Schöpfung und gegenwärtige providentielle Weltregierung, dem Sohne das Heilswerk der Versöhnung und Erlösung, und dem Heiligen Geist die Heiligung und ständige Erneuerung des geistlichen Lebens in den Gläubigen zukommt. Wenn die einfache, durch neutestamentliche Aussagen begründete Trinitätslehre bei allen Christen Zustimmung verdient, so erstreckt sich solche Zustimmung jedoch keineswegs auf jene später gebildeten Begriffe, Distinktionen und Lehrformulierungen, mit denen die Kirchenväter ihre „katholische und homousianische Lehre von der Dreieinigkeit" erweitert und verteidigt haben. Die Unerzeugtheit des Vaters, die Zeugung des Sohnes durch den Vater und das Ausgehen des Heiligen Geistes von Vater und Sohn sind theologische Distinktionen und philosophische Begriffe, deren Angemessenheit zu prüfen ist. Mit seiner Kommentierung bleibt Semler im Rahmen der altkirchlichen Trinitätslehre, und mit seiner entschiedenen Zurückweisung des Sabellianismus und Tritheismus erweckt er sogar den Eindruck, als ginge es ihm um eine Apologie dogmatischer Rechtgläubigkeit. Doch darf nicht übersehen werden, daß er die 63

Ohne Anspruch auf vollständige Aufzählung seien hier folgende Belegstellen genannt: Semler, Paraphrasis in primam Pauli ad Corinthios Epistolam. Halae 1770, S. 36; ders., Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 121; ders., Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 251, 262 u. 362; ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 278; ders., Institutio ad doctrinam liberalster Christianam discendam. Halae 1774, S. 515; ders., Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 431 u. 510; ders., Antwort auf das Bahrdische Glaubensbekenntnis. Halle 1779, S. 98; ders., Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 292; ders., Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 71; ders., Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 245.

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altkirchliche Trinitätslehre nicht dem Heilsglauben und der christlichen Religion, sondern der gelehrten Theologie und ihren Reflexionen zugeordnet hat. Über die Begrifflichkeit und die Disünktionen der altkirchlichen Trinitätslehre darf mit unterschiedlichen Auffassungen diskutiert werden, sofern die trinitarische Grundstruktur des christlichen Gottesglaubens unangetastet bleibt. Wie die innertrinitarischen Relationen zwischen den drei göttlichen Personen beschaffen sind, bleibt ein Geheimnis, und es ist nach Semlers Auffassung müßig, darüber zu spekulieren. Aus der Zuordnung zur veränderlichen Theologie und der Unmöglichkeit, jene Spekulationen zu verifizieren, die in der Lehre von der ewigen Wesenstrinität ihren Ausdruck gefunden haben, ergibt sich für Semler eine deutliche Relativierung der altkirchlichen Trinitätslehre.64 Bei Beachtung des Schriftprinzips ist für die protestantische Theologie nur eine begrenzte und eingeschränkte Zustimmung zur altkirchlichen Trinitätslehre möglich. Daher kann Semler schon frühzeitig sein Verständnis für die stark reduzierte Behandlung der Trinitätslehre in Melanchthons frühen Loci und für Luthers Kritik an der Homousieaussage formulieren.65 Anders verhält es sich auf Seiten der römisch-katholischen Kirche und Theologie, weil von ihr die kirchliche Lehrtradition als zureichende Legitimierung anerkannt wird. Infolgedessen bleibt nach Semlers Urteil in der Stellung zur Trinitätslehre auch eine konfessionelle Lehrdifferenz: „Die römische Kirche lehret ihre Trinitatem bloß ex traditione ecclesiastica; die Protestanten haben keine traditionem dogmaticam, die der Bibel mit gleichem Rechte an die Seite gesetzt würde".66 An seiner differenzierten Beurteilung der altkirchlichen Trinitätslehre und der von ihr geprägten dogmatischen Begrifflichkeit hat Semler auch in seinen Spätschriften aus den achtziger Jahren unverändert festgehalten: Der Glaube der Christen bejaht und ergreift alle Wohltaten, welche Christen von dem Vater, von dem Sohn und von dem Heiligen Geiste mit inniger Dankbarkeit sich täglich vorstellen: was aber gedacht, räsoniert oder gesammelt wird über Personen, Wesen, Dreieinigkeit, gehört nicht zum Glauben aller Christen, sondern in die verschiedenen Schulen ihrer Gottesgelehrten.67

64

Vgl. Semler, Ausfiirliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 212: „Meine Lehre von der Dreieinigkeit habe ich ganz deutlich von mir gegeben; man solle ja nicht die términos Vater, Sohn, Geist allein nehmen und eine Geschichte Gottes in seinem Wesen ergriibeln wollen, sondern die Wohltaten Gottes, des Vaters, Sohnes und heiligen Geistes stets dazunehmen [...] So gehört die ganze Abhandlung de trinitate nicht in die christliche Religion, sondern in die Theologie." Vgl. ders., Lebensbeschreibung. Theil 2. Halle 1782, S. 253: „Die ganze Abhandlung über de trinitate ist so sichtbar bloß für gelehrte und zum Denken und Schließen geübte Leser, daß ich immer gewisser davon wurde, ihr Inhalt gehöre nicht zum christlichen Glauben aller Christen, sondern zur Wissenschaft der Gelehrten und Theologen."

65

Vgl. Semler, Abhandlung über die rechtmiißige Freiheit der akademischen Uhrart. Halle 1771, S. 162f. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 269. Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten. Halle 2 1780, S. 95.

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theologischen

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In Semlers Stellung zur Trinitätslehre verbinden sich also Anerkennung und Kritik. An den Grundaussagen und dem soteriologischen Gehalt der Trinitätslehre wollte er aus exegetischen Gründen unbedingt festhalten. Die christliche Religion und ihre Gotteslehre hat eine trinitarische Struktur, denn sie ist der Glaube an den dreieinigen Gott. Semlers Beurteilung läßt sich in fünf Thesen zusammenfassen: Erstens: In Übereinstimmung mit seinem Bekenntnis zur Trinität hat Semler eine trinitarische Wesensbestimmung des Christentums gegeben. Denn der Glaube an Gott den Vater, welcher der Schöpfer und Erhalter der Welt und aller Menschen ist, an Jesus Christus, welcher der von Gott gesandte Erlöser und Versöhner ist, an den Heiligen Geist, der das christliche Leben ständig erneuert, gehört zum bleibenden „Wesen des Christentums" und zu den unverzichtbaren Grundartikeln des christlichen Glaubens. Zweitens: Mit den Begriffen und Relationsbestimmungen über das Verhältnis der drei göttlichen Personen zueinander (Homousie, ewige Zeugung des Sohnes durch den Vater, Ausgehen des Heiligen Geistes von Vater und Sohn) erfolgt die Weiterbildung der triadischen Glaubensaussagen des Neuen Testaments zur Gestalt der altkirchlichen Trinitätslehre, die Semler als „Katholische und Homousianische Lehre von der Dreieinigkeit" bezeichnet hat.68 Diese Weiterbildung ist das Ergebnis theologischer Reflexionen mit Hilfe einer philosophischen Begrifflichkeit. Sie enthält christliche Vorstellungen, darf aber als theologische Lehre nicht zum bleibenden Wesen des christlichen Glaubens gerechnet weiden. Drittens: Der altkirchlichen Trinitätslehre wird zugestanden, daß sie in Abwehr des Arianismus und Sabellianismus ein berechtigtes Anliegen verfolgt. Aber ihre Lehre von der immanenten Wesenstrinität stellt eine über die neutestamentlichen Aussagen hinausgehende Weiterbildung dar. Legitim ist daher jene ganz unmittelbar an den Schriftaussagen orientierte Gestalt der Trinitätslehre, wie sie beim jungen Luther und in der bewußt knapp gehaltenen Erwähnung der Erstfassung von Melanchthons Loci (1521) vorliegt. Doch ist Semler zu der Einsicht gelangt, daß die Reformatoren trotz mancher terminologischen Vorbehalte und ihrer Kritik an der Homousieaussage die altkirchliche Trinitätslehre insgesamt rezipiert haben. Schon zu Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit hat er auf die ausführliche und sachgemäße Darstellung der Trinitätslehre in Melanchthons Loci von 1543 verwiesen.69 Viertens: Wenn Einvernehmen darüber besteht, daß die altkirchliche Trinitätslehre in den Bereich der historisch bedingten und grundsätzlich veränderlichen Theologie gehört, können ihre Begriffe, Ausdrucksweisen und Relationsbestim68

69

Vgl. Semlers Vorrede zu: Samuel Clarke, Die Schrift-Lehre von der Dreyeinigkeit. Frankfurt/Leipzig 1774, 1 Seite nach a3. Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 2. Halle 1760, S. 148f.

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mungen weiterhin Verwendung finden. Es muß jedoch Einspruch dagegen erhoben werden, daß über das Bekenntnis zur Trinität hinaus auch unterschiedliche Gestalten einer theologisch-philosophischen Trinitätslehre mitsamt ihrer Begrifflichkeit zum Kerygma, zur christlichen Religion und zum unverzichtbaren Bestandteil des Heilsglaubens gerechnet werden. Mit dieser Auffassung meint Semler auch dem reformatorischen Anliegen gerecht zu werden: Die an der Universität auszubildenden Lehrer leite ich an, wie Luther, Melanchthon, Hunnius etc. die Wohltaten des Vaters, Sohnes und Geistes fröhlich und richtig zu gebrauchen; und alle gelehrte unzählige Abwechslung der Theorie rechne ich zur gelehrten Übung der Kandidaten. Ich weiß nicht, ob irgendjemand dies tadeln kann, der die christliche Religion von der oft armseligen Theologie zu unterscheiden imstande ist Kerygma und Dogma ist doch stets unterschieden worden.

Fünftens: Die kirchliche Trinitätslehre und die an sie anknüpfende dogmatische Lehrtradition werden bei Semler relativiert durch eine kritische Überprüfung ihrer Schriftbegründung. Entgegen dem in den orthodoxen Lehrbüchern und Dogmatiken angeführten Legitimierungsverfahren können nach Semlers Überzeugung Beweisstellen aus dem Alten Testament zugunsten der kirchlichen Trinitätslehre nicht angeführt werden. Auch darf das Prinzip der analogia fidei nicht dazu mißbraucht werden, die kirchliche Trinitätslehre in das Neue Testament einzutragen. Mit den paulinischen Präexistenzaussagen und dem Prolog des Johannesevangeliums bleibt jedoch der Schriftgrund für die Lehre von der ewigen Gottheit Jesu Christi für das Bekenntnis zur Trinität erhalten.

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Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, Vorrede.

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V. Zur Begründung der Unterscheidung von Religion und Theologie

1. Die Kritik an der Vermengung beider Größen Die unvermeidliche Auseinandersetzung, in die Semler durch die Ergebnisse seiner historischen Forschungen mit maßgebenden Vertretern des Halleschen Pietismus und der immer noch einflußreichen zeitgenössischen Spätorthodoxie geraten war, bestärkte ihn in der Überzeugung, daß man sich gegen jene Tendenzen und Bestrebungen wenden müsse, die zur Vermengung von „Religion" und „Theologie" beigetragen haben und dies auch gegenwärtig noch tun. Solche Vermengung zeigt sich darin, daß Dogmatiker für ihre eigene Theologie religiöse Dignität, Offenbarungsqualität und entsprechende Verbindlichkeit beanspruchen. Im Interesse der Bezogenheit des Glaubens auf die biblischen Heilswahrheiten, aber auch im Interesse der Wissenschaftlichkeit der Theologie, die oft nur zu vorläufigen Ergebnissen gelangt und ihre Hypothesen nicht in den Rang von ewig gültigen Wahrheiten erheben darf, fordert Semler eine Klärung der Lage durch eine genauere Unterscheidung der beiden Größen. Zwar kann von der christlichen Religion und der christlichen Theologie gesagt werden, daß sie einander zugeordnet und aufeinander bezogen sind, aber die Besonderheit ihrer unterschiedlichen Funktionen erlaubt es nicht, beide Größen miteinander inhaltlich zu identifizieren oder ihnen die gleiche Bedeutung und Verbindlichkeit zuzusprechen.1 Die Betonung der Verschiedenheit von Religion und Theologie will beide in ihrer Eigenart zur Entfaltung kommen lassen. Sie will den Respekt vor der göttlichen Offenbarung und den neutestamentlichen Grundwahrheiten erhalten, zugleich aber der akademischen, methodisch verfahrenden und wissenschaftlich argumentierenden Theologie eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit sichern. Die akademische Theologie muß allerdings darauf verzichten, ihre stets revidierbaren Auffassungen und Erkenntnisse unmittelbar für das faktisch gelebte Christentum und die Gemeindefrömmigkeit verbindlich zu machen. Nicht jede Theologiekritik ist zu1

Vgl. Semler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 253: „Denn die reine wahre christliche Religion wird von mir mit allem Fleiß und Eifer gelehret; aber die Theologie lasse ich nicht für die christliche Religion vertauschen; so stolz müssen Theologi nicht werden, daß sie ihre abwechselnden Versuche und Bemühungen in lauter neue Offenbarungen Gottes verwandeln wollen." - Vgl. auch ders., Theologische Briefe. Zweite Samlung. Leipzig 1781, S. 92: „Gerade unsere Theologi verfehleten darin, daß sie ihre Theologie, ihr Eigentum, ihren einzelnen Beruf mit der christlichen Religion verwechselten und nun alle ihre theologischen neuen Eroberungen zu lauter Teilen der allgemeinen öffentlichen Religion machten."

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gleich auch Religionskritik und Christentumskritik, auch wenn orthodoxe Dogmatiker dies oftmals so dargestellt haben. Eine unzulässige Vermengung von Theologie und Religion ist zeitlich erst nach Melanchthons Tod bei Dogmatikeni der lutherischen und reformierten Orthodoxie festzustellen.2 Die Vermengung bestand darin, daß theologische Erkenntnisse und Theorien zu Glaubensartikeln erhoben wurden, die dann für alle Christen verbindlich sein sollten. Auf diese Weise ist die uneingeschränkte Anerkennung der konfessionellen Theologie und ihrer dogmatischen Lehren gefordert worden.3 Diese Entwicklung hat nach Semlers Einschätzung nicht nur die Feindschaft zwischen den christlichen Religionsparteien (Lutheranern, Reformierten und Katholiken) immer wieder aufs neue entfacht, sondern langfristig auch insofern negative Auswirkungen gehabt, als sie in weiten Kreisen eine wachsende „Abneigung wider die Religion" hervorgerufen hat.4 Aus den genannten Gründen bemüht sich Semler um eine inhaltliche Neubestimmung der beiden Begriffe, die für die Folgezeit zu einer wegweisenden Unterscheidung geworden ist. Dabei wurde der Theologiebegriff als Bezeichnung für die stets unabgeschlossene, veränderliche und entwicklungsfähige Fachangelegenheit verstanden, die als solche nicht dem einzelnen Christen, sondern nur dem zukünftigen Lehrer und Geistlichen zur Aufgabe gemacht werden kann, während der Religionsbegriff in seiner Hauptbedeutung die von allen Christen im praktischen Leben zu bewährende Glaubensüberzeugung, Frömmigkeit und Nächstenliebe bezeichnet. Semler hat dann allerdings innerhalb des Religionsbegriffes noch weitere Differenzierungen vorgenommen, die verdeutlichen, daß er zwischen subjektiver und objektiver Religion, zwischen privater und gesellschaftlicher bzw. öffentlicher Religion, und demzufolge auch zwischen lebendiger Religiosität und bloß traditioneller Übernahme religiöser Gebräuche und Verhaltensweisen zu unterscheiden weiß. Mit der Hervorhebung, daß die Theologie eine methodisch zu erlernende und durch neue Erkenntnis zu verbessernde wissenschaftliche Angelegenheit sei, wurde gleichzeitig eine deutliche Abwendung von einem früher gebräuchlichen Theologiebegriff vollzogen, der Theologie mit Glaubenserkenntnis gleichgesetzt und als „Gottesgelehrsamkeit" verstanden hatte. Diesen letztgenannten Begriff hatte auch Semler noch verwandt, als er 1757 sein Programm zur Reform des akademischen 2

3

4

Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 13: „Erst hinter Melanchthons Tod hat sich die Vermengung der Theologie und Religion unter Protestanten hie und da eingeschlichen." Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 250: „Freilich ist also Hutterus mit Schuld daran, daß so lange Zeit theologische Artikel in allen unseren Kirchen mit den Artikeln des Glaubens, der alle Menschen zu Christen macht, immer vermischt worden [sind]." Vgl. auch ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, Vorrede c3: „Es ist aber auch die seligmachende Erkenntnis und die gottgefällige Religion nicht an Compendia der Gottesgelehrten und an hergebrachte Lehrtheorie ein für allemal so gebunden, daß sie wegfiele, wenn man nicht immerfort Quenstedts, Calovs, Baiers theologische abwechselnde Meinungen und ähnliche Sammlungen ohne alle Veränderungen wiederholen hört" Magazin für die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Erster Theil. Halle 1780, Vorrede.

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Theologiestudiums veröffentlichte. Aber mit dem Begriff der „Gottesgelehrsamkeit" konnten die neuen Anliegen und Bestrebungen zur Veränderung der Theologie nicht mehr angemessen zum Ausdruck gebracht werden. Er wird deshalb schon bald preisgegeben. Wenn „Gottesgelehrtheit" oder „Gottesgelehrsamkeit" auf eine von Gott geschenkte und im Glauben begründete Erkenntnis abzielt, so besagt Semlers Theologiebegriff, daß Theologie eine durch Übung, Reiß, Sprachkenntnisse und methodische Fertigkeiten zu erlernende Wissenschaft darstellt, die jedoch als solche keine konstante Größe ist, sondern in allen ihren Disziplinen geschichtlichen Veränderungen unterliegt und stets verbesserungsfähig ist. Aus diesen Eigenschaften folgt noch nicht, daß die überlieferte Gestalt der Theologie auch verbessert werden soll, wohl aber folgt solcher Imperativ nach Semlers Überzeugung aus „allen Grundsätzen der Protestanten", ihrer Hermeneutik und Schriftauslegung.5 Semler verwendet einen Theologiebegriff, der dem stärker werdenden Prozeß der Verwissenschaftlichung der akademischen Theologie Rechnung trägt und in der Nachfolge von Georg Calixt die Verschiedenheit von wissenschaftlicher Theologie und christlicher Religion, Dogmatik und Zusage der Gnade hervorhebt. Er schließt an solche Distinktion die Feststellung, daß es „unrecht" sei, wenn Theologen ihre theologische Berufsarbeit und den Inhalt ihrer Kompendien als „Inhalt der christlichen Religion" ausgeben und jede Abweichung davon zur Ketzerei erklä6

ren. Mit seinem Theologiebegriff hatte Semler allerdings auch eine Abwendung vom Halleschen Pietismus vollzogen. Denn bis auf Johann Anastasius Freylinghausen, Johann Georg Knapp und Siegmund Jacob Baumgarten hatte man die Lehre von der Heilsordnung und ihr Ziel, die Vereinigung der Menschen mit Gott, als das entscheidende Thema der Theologie betrachtet. Theologie hatte unter diesem Aspekt eine unmittelbar praktische Aufgabe und religiöse Funktion. Sie war eine Art Frömmigkeitstheologie, die auch als Dogmatik auf den Glauben und die christliche Lebensgestaltung ausgerichtet war. Semler, welcher der Hallenser Tradition zunächst folgt, mißt dem rechten Verständnis der Heilsordnung und dem von ihr bestimmten Glaubensleben ebenfalls eine hohe Bedeutung zu. Aber die entscheidende Aufgabe der akademischen Theologie sieht er nicht in der religiösen Erbauung oder Erziehung zur Frömmigkeit, sondern in einer gründlichen wissenschaftlichen Ausbildung der Studenten, die später als Pfarrer oder Lehrer in den Gemein-

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Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 436. — Vgl. dcrs., Versuch einer biblischen Dämonologie. Halle 1776, Vorrede a5: „Daß die Auslegung der heiligen Schrift von Zeit zu Zeit sowohl besserer Regeln und Bemerkungen fähig sei, als auch niemalen in Absicht der Anwendung derselben einerlei Inhalt und Umfang [...] behalte und fortsetze: ist wohl eine historische ganz ausgemachte Wahrheit" Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 241f. Zur Entwicklung und zum Verständnis des Theologiebegriffs im Protestantismus vgl. die sorgfältige Untersuchung von Johannes Wallmann, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt. Tübingen 1961.

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den tätig werden sollen. Dieses veränderte Theologieverständnis prägt schon sein Reformprogramm von 1757/58.

2. Die Unterscheidung von Heilsordnung und Theologie Unter theologiegeschichtlichem und systematischem Aspekt wird man den Sachverhalt zu berücksichtigen haben, daß der erwähnten Unterscheidung von christlicher „Religion" und wissenschaftlicher „Theologie" bei Semler die Unterscheidung von „Heilsordnung" und „Theologie" vorausgegangen ist und ihr eine längere Zeit parallel läuft. Schon im Jahre 1759 erklärt Semler: „Die Kenntnis der Theologie ist folglich sehr zu unterscheiden von der gemeinen Kenntnis der Heilsordnung: jeder Christ muß diese nach seinen Umständen haben, aber kein Christ ist zur Theologie an und für sich verpflichtet".7 Mit dem Begriff der Heilsordnung ist für Semler in erster Linie die Botschaft von der durch Jesus Christus bewirkten Versöhnung und Erlösung gemeint, die uns im Glauben aus Gnaden von Gott her zuteil wird und die mit dem Zuspruch der Freiheit vom Gesetz verbunden ist. Deudich distanziert hat er sich von der auch in Halle vertretenen spezifisch pietistischen Auffassung, wonach das wahre Christsein und die Befolgung der Heilsordnung im Durchlaufen ganz bestimmter Erlebniszustände bestehen, die von Bußkampf und Bekehrung über Wiedergeburt, Rechtfertigung, Erneuerung und Heiligung bis zur Versiegelung und mystischen Vereinigung führen müssen. Gegen seine Kritiker gewandt erklärt er 1777, daß bei ihm „doch keine einzige erwiesene Abweichung von der christlichen wahren Heilsordnung" zu finden sei, „deren Kraft und göttliche Wahrheit ich vielmehr heraussuche und von der ehemaligen Vermischung mit der Theologie absondere."8 Die Wichtigkeit der Unterscheidung von evangelischer Heilsordnung und gelehrter menschlicher Theologie, die schließlich in die allgemeine Unterscheidung von christlicher Religion und wissenschaftlicher Theologie einmündet, hat Semler dann auch in der lateinischen und deutschen Fassung seiner Dogmatik sowie in der damaligen Auseinandersetzung mit Johann Rudolf Anton Piderit hervorgehoben.9 1

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Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1759, S. 121. Semler, Ausfürliche Erklärung über einige theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, Vorrede, 2 Seiten nach c5. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, Vorrede u. S. 194. - Vgl. ders., Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 33: „Diese so grobe Verwirrung der Theologie, welche nur für den Stand des Gelehrten, des Lehrers, gehört, und der christlichen Religion, des Christentums, der evangelischen Heilsordnung, welche allen Christen, nach ihrem Unterschied, mit allen Lehrern und Gelehrten, in Ansehung des innerlichen christlichen Zustandes, und christlicher Vollkommenheit, stets gemein ist und gemein bleibet: ist desto unverantwortlicher, als Hr. Piderit selbst ein Professor und Gelehrter heißt, diesen Unterschied also selbst schon lange kennen sollte; [...]".

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Es ist für die Begründung der begrifflichen Unterscheidung wichtig, daß die beiden Größen „Religion" und „Theologie" ihrem Lehrgehalt und ihrer Herkunft nach durch die Prädikationen „göttlich" und „menschlich", aber auch durch die Attribute „unveränderlich" und „veränderlich" deutlich als wesensverschieden gegenübergestellt werden. Nicht die Theologie, sondern die christliche Religion bewirkt, daß aus unwürdigen Menschen gute Christen werden, und es erleichtert diesen Vorgang, wenn die „durch alle Jahrhunderte veränderliche Theologie von der stets unveränderlichen Religion der Christen" deutlich unterschieden und abgegrenzt wird.10 Da für eine geschichtliche Betrachtung offenkundig ist, daß die konfessionell so unterschiedlich geprägte Theologie nach ihren Methoden und Lehrinhalten ständigen Wandlungen unterliegt und neue Gestalten hervorbringt, meinte Semler diese Erkenntnis zeitgeschichtlicher Bedingtheit der Theologie auch terminologisch hervorheben zu sollen. In dem gesamten Zeitraum ihrer bisherigen Geschichte ist die christliche Theologie stets nur eine zeit- und ortsbedingte „Localtheologie" gewesen. Dieses Urteil wird begründet mit dem Hinweis auf die Abhängigkeit der jeweils vertretenen Theologie von den Absichten und Erkenntnissen der „kirchlichen Gelehrten".11 Trotz solcher zeitgeschichtlichen Relativierung vergangener Gestalten und Konzeptionen liegt Semler eine Geringschätzung der akademischen Theologie gänzlich fem. Letztere wollte er vielmehr durch strengere Anforderungen an Exegese und Hermeneutik sowie durch Einbeziehung neuer Forschungsbereiche wie Dogmengeschichte und Textkritik in ihrem Niveau angehoben wissen. In diese Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Theologie gehört auch die Empfehlung, einer drohenden Isolierung der Theologie entgegenzuwirken und in ihrem Rahmen auch Logik, Metaphysik, Naturrecht, Philosophie (Weltweisheit) und allgemeine Weltgeschichte zu berücksichtigen. Mit solcher Ausweitung der Forschungs- und Arbeitsgebiete wurde der Weg zu einer „gelehrten" wissenschaftlichen Theologie fortgesetzt, den schon Siegmund Jacob Baumgarten vorsichtig beschritten hatte. Selbstbewußt und nachdrücklich ist Semler im Rahmen seines Reformprogrammes fur die Berechtigung der so konzipierten „gelehrten" Theologie eingetreten, weil sie zeitgenössischen Erfordernissen eher zu entsprechen vermochte. Dabei war ihm durchaus bewußt, daß damit neue und schwierige Anforderungen an die Tätigkeit und den Beruf des akademischen Lehrers gerichtet wurden. Selbst wegen seiner historischen Gelehrsamkeit der Kritik ausgesetzt, hat er sich in teilweise überscharfen Formulierungen gegen die in pietistischen Kreisen immer noch vorherrschende Auffassung gewandt, als Qualifikation für das akademische Lehramt an einer 10

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Semler, Ausfiirliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 19f. Ausdrücklich betont Semler, daß es „keine solche unveränderliche Theologie gibt, als man voraussetzt, wenn man über Neuerungen so ernsthafte Klagen und schreckhafte Warnungen ausbreitet." Vgl. ders., Versuch einer biblischen Dämonologie. Halle 1776, Vorrede. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 224.

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Theologischen Fakultät genüge das traditionelle Muster einer ausgeprägten persönlichen Frömmigkeit und Glaubensüberzeugung gepaart mit einem erbaulichen Biblizismus und der Publikation von Schriften praktisch-theologischer Art. Provozierend scharf klingt seine 1758 formulierte These: „Wer eine ungelehrte Theologie in die Kirche einführen will, verdienet mit Recht Haß und Unwillen, denn er schadet der Religion".12 Begründet wird diese These nicht nur mit der allgemein einsichtigen Feststellung, daß ein gelehrter Lehrer auch besser lehren könne, sondern insbesondere mit dem Argument, daß nur Gelehrte imstande seien, eine sachgemäße Schriftauslegung und einen guten Vortrag über biblische Bücher zu bieten. Gelehrte Theologie, so darf man folgern, nützt der christlichen Religion, weil letztere ihren Erkenntnisgrund in der Heiligen Schrift findet. Es ist die gelehrte Theologie, welche durch Exegese und Hermeneutik zum rechten Schriftverständnis anleiten kann. Das Lob der gelehrten wissenschaftlichen Theologie impliziert für Semler die Freiheit der Theologie zur Korrektur ihrer eigenen Methoden, Lehren und Einsichten. Dabei ist stets vorausgesetzt, daß der für die chrisdiche Religion entscheidende biblische Glaubensgrund und die Lehren und Hypothesen der wissenschaftlichen Theologie nicht auf der gleichen Ebene liegen. Infolgedessen dürfen auch Feststellungen über die Zeitbedingtheit und Mangelhaftigkeit dogmatischer Kompendien und traditioneller Lehren nicht sogleich als Kritik an der christlichen Religion und ihrem Glaubensgrund ausgegeben werden. Semler bestreitet nicht nur in der Auseinandersetzung um ein sachgemäßes Kanons- und Schriftverständnis, sondern ganz prinzipiell die Berechtigung der altprotestantisch-orthodoxen Gleichsetzung von Theologiekritik mit einer Religionskritik, von der das Christentum in seinem Glaubensgrund betroffen wäre. Er insistiert auf der Differenz von (wissenschaftlicher) Theologie und (christlicher) Religion und macht seinen zeitgenössischen Gegnern den Vorwurf, beides miteinander zu vermengen. „Diese meine freie Abweichung von theologischen Meinungen sieht man nun häufiger geradehin an als Abweichung von der Religion selbst, von ihrem wesentlichen Inhalte und ganz gewissen Grunde."13

3. Freie Gelehrsamkeit und liberale Theologie In den Gesprächen mit Siegmund Jacob Baumgarten, die um die Mitte der 50er Jahre stattgefunden haben und von denen er in seiner Autobiographie berichtet, hat Semler „die Freiheit im Denken" für sich in Anspruch genommen und damit gegen12

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Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 167. Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, S. 13.

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über seinem zum Freund gewordenen Lehrer die Absicht geäußert, der evangelischen Theologie eine neue Richtung zu geben.14 Zur Bezeichnung dieser neuen Ausrichtung der Theologie wählt Semler auf Grund der geforderten Einbeziehung von Textkritik und historischer Kritik die Prädikate „historisch" und „kritisch", bedient sich aber auch der Rede von der „liberalen Theologie". Letztgenannte Bezeichnung kommt bei ihm sowohl in deutscher wie in lateinischer Fassung (theologia liberalis) vor und hat zahlreiche Entsprechungen in einer Reihe ähnlicher Ausdrucksweisen, wie schon die von Semler gewählten Buchtitel zeigen: die vierbändige aufsehenerregende Kanonsuntersuchung ist eine Abhandlung von „freier" Untersuchung des Kanon (1771-1775), und die Dogmatik trägt den Titel Institutio ad doctrinam Christianam liberaliter discenderti (1774) bzw. Versuch einer freiem theologischen Lehrart (1777). Im Blick auf den damaligen Sprachgebrauch wird man sagen können, daß der Begriff der „liberalen Theologie" sowohl Selbstbezeichnung zur Charakterisierung der Position eigener freier Urteilsbildung als auch Vorwurf und Fremdbezeichnung im Munde zeitgenössischer Gegner ist, die Semlers historisch-kritische Forschungen ablehnen. Schon Mitte der 70er Jahre wird ihm vorgeworfen, er habe sich „von der Lust, liberius sentiendi et scribendi" hinreißen lassen.15 Was hier als „Lust" und Neigung bezeichnet wird, versteht Semler als unabweisbare Aufgabe. Sie besteht nicht in dem inhaltlichen Programm einer Beschränkung oder Reduktion von Theologie und Dogmatik, sondern der Intention nach eher in der Berücksichtigung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden wie der Textkritik und der historischen Kritik, d.h. der Überprüfung der Authentizität der auszulegenden Texte und der Erforschung der „historischen Wahrheit", die mehr und etwas anderes ist als die bloße Wiederholung von Mythen, Fabeln, Legenden und traditionellen Lehrmeinungen. Von der freien wissenschaftlichen und akademischen Theologie gilt, daß sie stets und überall das Recht hat, traditionelle Lehren und Überzeugungen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Daher ist sie weder eine systembedingte und streng geschlossene noch eine bloß apologetische Theologie, welche an der kirchlichen Lehrüberlieferung und ihren Ausdrucksweisen unbedingt festhalten müßte. Sie vermag das Gespräch mit der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft, Naturwissenschaft und Philosophie zu fuhren und deren Methoden und Einsichten zu rezipieren. Die „liberale Theologie" bleibt nach Semlers Konzeption eine an der Bibelexegese orientierte Theologie, deren Wissenschaftscharakter aber mit ihrer kritisch prüfenden Funktion nun deutlicher hervor14 15

Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 222. Semler, Ausfiirliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 142. - Ein Jahrzehnt später berichtet Semler, daß „viele über liberalem theologiam wider mich spotteten"; vgl. ders., Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 8. Auf Semlers eigene Verwendung des Begriffs „liberale Theologie" und ähnlicher Bezeichnungen hat Hans-Eberhard Heß zutreffend hingewiesen. Vgl. ders., Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 214.

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tritt und damit zugleich den allgemeinen wissenschaftlichen Anforderungen besser entspricht. Die Analyse des Sprachgebrauchs zeigt, daß Semler den Begriff der „Kritik" anfangs hauptsächlich im Sinne von Textkritik verstanden hat, welche nach Authentizität der zu interpretierenden Texte fragt. Sie ist insofern ein wichtiger Bereich der Bibelkritik. Später wird sie ergänzt durch die historische Kritik, welche nachweisbar oder wahrscheinlich geschehene Ereignisse von bloßen Legenden, Fabeln und Mythen zu unterscheiden sucht. Zum Bereich der von Semler vertretenen wissenschaftlichen Kritik gehört aber auch eine Dogmenkritik, welche metaphysische Lehrbildungen und Theorien kritisiert, sofem diese über den Aussagegehalt der neutestamentlichen Botschaft hinausgehen. Solche metaphysischen Lehren dürfen, auch wenn sie als Folgerungen aus biblischen Aussagen erscheinen können, nicht zum verpflichtenden Bestandteil des christlichen Glaubens gemacht werden.

4. Christliche und natürliche Religion. Zu den Differenzierungen im Religionsbegriff Mit dem Begriff der Religion ist in Semlers Sprachgebrauch in der Regel die christliche Religion gemeint, die ihren anthropologischen Ort im Verstand und Willen, aber auch in Herz, Gemüt und Gewissen des Menschen hat. Diese vielfältigen Bezugnahmen deuten an, daß der Mensch als Ganzer mit seinem Bewußtsein, Denken, Fühlen und Handeln von der Religion betroffen und in Anspruch genommen ist. Aber die Religion stellt gleichwohl keine rein anthropologische Größe dar. Sie ist vielmehr menschliche Antwort und Reaktion auf göttliches Offenbarungshandeln. Über die Entstehung, Herkunft und den wesendichen Inhalt der christlichen Religion hat Semler keinen Zweifel gelassen. Von „der wahren christlichen Religion" gilt, daß sie „in dem Verstand und Willen der Menschen ihren Sitz und in den Erkenntnissen und Wirkungen der göttlichen Wahrheiten ihren Grund" hat.16 Fragt man nach den Quellen, in denen die göttlichen Heilswahrheiten zu finden sind, so wird von Semler in erster Linie auf die Heilige Schrift, genauer gesagt, auf das in der Heiligen Schrift enthaltene „Wort Gottes" verwiesen. „Die chrisdiche Religion beruhet auf dem Worte Gottes oder auf dem Zeugnis Gottes in der heiligen Schrift, daß dieses und dieses die wirklichen Sätze seien, welche den Weg zur Vereinigung mit Gott [...] für uns bahnen und ausmachen."17 Solche Schriftbindung der christlichen Religion ist nach Semlers Überzeugung unaufgebbar, wobei betont wird, daß die Hauptsache christlicher Lehre und Verkündigung sich auf das Evangelium von der in Jesus Christus offenbar gewordenen Gnade Gottes konzentrieren 16 17

Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 33. Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, Vorrede; vgl. auch ders., Historische Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1768, S. 343.

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soll. „Christus soll in und durch uns immer fort leben und immer besser bekannt gemacht und anderen Menschen anempfohlen werden."18 Die für die christliche Religion geltende Schriftbindung darf also nicht im Sinne eines Biblizismus und der These von der Gleichrangigkeit aller biblischen Schriften und Aussagen verstanden werden, sondern gemäß der These, daß Jesus Christus der „Kern" und die „Hauptsache" der biblischen Botschaft sei, an der man sich zu orientieren habe. Zu beachten ist also, daß nicht die Gesamtheit urchristlicher Vorstellungen, zu denen ja auch zahlreiche Akkommodationen an die jüdische und heidnische Umwelt gehören, in die gegenwärtig vertretene christliche Religion Eingang finden sollen, sondern nur jene „geistliche Religion", die in den alttestamentlichen Weissagungen und Hinweisen auf den neuen Bund und in dem neutestamentlichen Christusglauben besteht.19 Es entspricht diesem christozentrischen Schriftverständnis, daß Semler das im Glauben zu ergreifende Heilsangebot der „Versöhnung" und „Erlösung" in den Mittelpunkt seiner theologischen Reflexionen gerückt und mit dem Topos von der „Heilsordnung" besonders akzentuiert hat. Die christliche Religion besteht also inhaltlich in dem Glauben an die Heilsbedeutung von Sendung, Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Doch die Güte Gottes ist schon in seinem Schöpfungshandeln und in seiner Erhaltung der Welt erkennbar und infolgedessen führen bereits die Naturbeobachtung und Geschichtsbetrachtung zu einer begrenzten Gotteserkenntnis. In Übernahme einer von vielen Autoren gebrauchten Metapher verweist auch Semler auf das unerschöpfliche „Buch der Natur", dessen Urheber Gott ist und das er uns durch seine Schöpfung gegeben hat. Gemäß den eigenen historischen Interessen und der zu seiner Zeit wachsenden Bedeutung der Geschichtswissenschaft erweitert er gelegentlich diese Metapher und behauptet, daß wir durch das „Buch der Natur und Geschichte" Kenntnisse über „große und unbegreifliche Taten Gottes" erlangen können.20 Die für die christliche Religion maßgebliche Orientierung an der Christusoffenbarung wie sie im Neuen Testament bezeugt wird, umfaßt demzufolge auch eine „natürliche Religion", schließt aber eine Beschränkung auf letztere aus. Dabei ist es von sekundärer Bedeutung, ob die natürliche Religion ihre Gotteserkenntnis aus der Naturbetrachtung, also dem Staunen über die Schöpfungswunder und die zweckmäßige Gestaltung der Natur gewonnen hat, oder sich für ihre Vorstellung 18 19

20

Ebd., S. 340. Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 425: „Wir nehmen also nicht die Schrift geradehin und ohne Einschränkung dieses Namens zur Erkenntnisquelle der christlichen Religion an, denn die christliche Religion war noch nicht in allen und jeden Büchern gelehret oder geschrieben worden; indem die Weissagungen oder auch Bilder [...] von einem neuen Bunde und geistlicher Religion ein Zeugnis geben; die nächste unmittelbare Erkenntnisquelle ist für Christen das Neue Testament." Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 258 u. 340; ders., in: Hugh Farmer, Briefe an D. Worthington. Halle 1783, S. 225; Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 4 u. 14.

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auf das schlußfolgemde Denken des menschlichen Vernunftvermögens oder auf angeborene Ideen beruft. Aus der zeitgenössischen Theologie und besonders aus der Auseinandersetzung mit dem Deismus kennt Semler den Begriff und das Phänomen einer „natürlichen Religion", die keineswegs nur in ein frühes, längst überwundenes Stadium der Religionsentwicklung gehört, sondern eine aktuelle Gestalt von Frömmigkeit und Gottesverehrung darstellt. Eine begrenzte Anerkennung darf ihr nicht versagt werden, weil Gott sich nicht unbezeugt gelassen (Apg. 14,17; 17,27) und seinen Willen allen Menschen ins Herz geschrieben hat (Rom. 2,15).21 Aber die These von der Suffizienz der „natürlichen Religion" hat Semler bestritten, weil erst die christliche Religion mit der Christusbotschaft die Heilserkenntnis von der für alle Menschen geschehenen Versöhnung und Erlösung bringt. Das so charakterisierte Christentum bezeichnet Semler als .innere geistliche Religion" und grenzt es in seiner Erkenntnis und Heilsgewißheit sehr deutlich von einer bloß „natürlichen Religion" ab. Aus diesem Grunde besteht „ein großer Unterschied" zwischen den praktischen Christen und den Naturalisten, der sich nicht aufheben läßt. Denn unsere eigene christliche Religion ist abhängig von den Sachen, die wir in dem ewigen unaussprechlichen Lichte des allerheirlichsten Gottes durch Christum nun selbst, selbst kennen und unwiderstehlich lieben. Von dieser christlichen Erfahrung, von diesem ganz unendlichen Geiste Gottes will und kann also ein Naturalist gar nichts verstehen und wissen. 22

Schließlich kennt Semler auch eine religionsgeschichtliche und religionssoziologische Verwendung des Religionsbegriffs. Demzufolge spricht er von der „heidnischen", Jüdischen", „christlichen" und „mohammedanischen" Religion. Nicht nur von ihrer Herkunft, Entstehungszeit und Verbreitung sind diese Religionen unterschieden, sondern auch hinsichtlich ihrer Lehren und Frömmigkeitsformen, der besonderen Art ihres Gottesglaubens und ihrer Heilsvorstellungen.23 21

22

23

Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 150 u. 332; Magazin für die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1780, S. 40. Semler, Vorläufige Antwort auf eines Naturalisten unbillige Prüfung der vertrauten Briefe über die Religion. Halle 1786, S. 88. Die Anerkennung einer „natürlichen Religion" und „natürlichen Theologie", aus der eine Gotteserkenntnis, aber keine Heilserkenntnis zu gewinnen ist, überschreitet bei Semler weder den Umfang noch den Stellenwert, den entsprechende Lehraussagen in der Dogmatik der Spätorthodoxie und bei Siegmund Jacob Baumgarten besitzen. Der theologische Akzent liegt auf der Christusoffenbarung und ihrer Heilsordnung und dementsprechend in der Dogmatik auf der Christologie und Soteriologie. Daher ist es gänzlich verfehlt, Semlers Verständnis der christlichen Privatreligion und seine Unterscheidung von „privater" und „öffentlicher" Religion einer Entwicklungslinie zuzuordnen, die vom Deismus und der „natürlich-moralischen Religion der Aufklärung" bestimmt ist. Gegen Falk Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart. Gütersloh 1986, S. 48ff. Zutreffend urteilt Hartmut H. R. Schulz: „Ein Zuneigen Semlers zur natürlichen Theologie und Gotteserkenntnis ist nicht feststellbar." Vgl. ders., Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums. Würzburg 1988, S. 114. Diese Sichtweise und Terminologie Semlers entspricht weitgehend Siegmund Jacob Baumgartens Geschichte der Religionspartheyen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1766, insb. § 32, § 34 u. §§ 50-54.

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Trotz solcher Ansätze zu einer religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise vermeidet es Semler jedoch, das Christentum in die-allgemeine Religionsgeschichte oder Kulturentwicklung einzuordnen.

5. Die Privatreligion als Individualisierung der christlichen Religion Innerhalb des Begriffs der christlichen Religion hat Semler weitere Differenzierungen und Unterscheidungen vorgenommen. Ist die „innere geistliche Religion" die persönliche Glaubensüberzeugung des einzelnen Christen, so ist die „äußere", „äußerliche" oder „öffentliche Religion" die in Symbolischen Büchern und Bekenntnisschriften lehrhaft fixierte Religion. Zur Bezeichnung der vom Staat teils geduldeten, teils rechtlich offiziell anerkannten Konfessionen verwendet Semler gemäß dem zeitgenössischen Sprachgebrauch den Begriff der , .Religionsparteien". Während die konfessionell bestimmte „äußerliche", „öffentliche" oder „gesellschaftliche" Religion von dem Individuum einfach übernommen werden kann und so zu einem innerlich kaum beteiligten Gewohnheitschristentum führt, gilt von der „inneren" oder „innerlichen" Religion, daß sie vom Gewissen her das ganze Leben durchdringt und sich bemüht, Gott im Geist und in der Wirklichkeit anzubeten. Für diesen letzteren Religionsbegriff, der auf die eigene Glaubenserfahrung verweist, verwendet Semler auch häufig den mit einem positiven Wertakzent versehenen Begriff der „ P r i v a t r e l i g i o n " oder des „Privatchristentums".24 Die Privatreligion wird von Semler deshalb als „freie" Religion charakterisiert, weil sie nicht an bestimmte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen, an bestimmte Lehren und Frömmigkeitsformen gebunden ist. Sie existiert als Gewissensreligion, deren Glaube und Überzeugung aus der Bibellektüre, ausgewählten Erbauungsschriften sowie der eigenen Erfahrung und dem eigenen Nachdenken erwächst.25 Die lebendige christliche Privatreligion berechtigt zur Konversion, erlaubt aber auch das Verbleiben in der Zugehörigkeit zur angestammten Konfession, solange noch eine wesentliche Übereinstimmung mit den geltenden Kirchenlehren besteht. Semlers Argumentation ist ein durchgängiges Plädoyer für die Existenzberechtigung, Legitimität und Freiheit solcher christlicher Privatreligion. Und dieses Plädoyer entspricht der damals vielfach erhobenen Forderung nach der „Freiheit im Denken". Nur eine Einschränkung hat Semler um des gesellschaftlichen Friedens willen vorgenommen: die Privatreligion, der sich das Individuum verpflichtet weiß, 24 25

Vgl. dazu die Ausführungen des Kap. VI („Die Freiheit der christlichen Privatreligion"). Vgl. Semler, Theologische Briefe. Erste Samlung. Leipzig 1781, S. 157f.: „Nun kommt jetzt die privat Religion, die ist frei; sie wird nicht weiter durch das obrigkeitliche Ansehen und durch symbolische Bücher bestimmt, wenn ein Christ selbst seines Gewissens wegen, Anwendungen davon auf seine eigene privat Religion macht. Die privat Religion ist also nicht an die symbolischen Bücher gebunden. Der Christ kann privaüm allerlei ihm erbauliche Schriften lesen."

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darf sich nicht selbst absolut setzen. Sie darf sich nicht anderen Individuen aufdringen wollen oder gar den Versuch unternehmen, verändernd in die Lehren und Ordnungen der rechtlich anerkannten Religionsparteien einzugreifen. Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, daß nach Semlers Verständnis das mit dem Begriff der .Privatreligion" bezeichnete Phänomen schon wegen seiner kognitiven Gehalte keine Beschränkung der Religion auf den Bereich des Gefühls oder der Innerlichkeit zuläßt. Es akzentuiert vielmehr die Unvertretbarkeit des Individuums hinsichtlich seiner Erfahrungen und Glaubensüberzeugungen, die als solche auch Auswirkungen auf das Handeln, Verhalten und Berufsethos haben. Die Privatreligion ist diejenige Überzeugung, die sich der einzelne nach Maßgabe seiner religiösen Erfahrung, seiner Bildung und kritischen Einsichten erworben hat. Ein wesentliches Motiv für die Rede von der .Privatreligion" und dem .Privatchristentum" ist die zeitgeschichtliche Beobachtung gewesen, daß die „öffentliche Religion" der Konfessionen von einer wachsenden Zahl mündiger Bürger nur noch partiell rezipiert wird. Es gibt auf seiten der frommen, aufrichtigen und ernsthaften Christen Vorbehalte gegenüber den kirchlich konfessionellen Glaubenslehren. Bestimmte Vorstellungen, die in der Heiligen Schrift, teilweise aber auch in den geltenden Bekenntnisschriften enthalten sind, werden nicht mehr angeeignet, weil sie in der öffentlichen Predigt fehlen oder durch deutlich artikulierte Kritik an mythischen Elementen, der vieldeutigen Bildersprache sowie der zeitbedingten Teufels- und Dämonenvorstellung fragwürdig geworden sind. Mit der Aufklärung vollzieht sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Prozeß der Vergeistlichung religiöser Vorstellungen, der ihre früheren sinnlichen Gehalte, bildhaften und anthropomorphen Elemente zwar nicht vollständig eliminiert, aber doch zurückdrängt. Semler hat diesen Spiritualisierungsprozeß befürwortet und unterstützt, war sich aber durchaus bewußt, daß das von den kritisch Denkenden als fragwürdig Empfundene und Abgelehnte von anderen, eher konservativ eingestellten Christen, als unaufgebbarer Bestandteil des christlichen Glaubens betrachtet und festgehalten wird. Die Freiheit der Privatreligion impliziert die Freiheit des Christen, sich gemäß der eigenen Erkenntnis und Erfahrung auch einer eigenen Glaubenssprache zu bedienen, deren Ausdrucksweisen mit der öffentlichen Kirchensprache, mit ihren Dogmen und Lehrbekenntnissen nicht in jeder Hinsicht übereinstimmen müssen. Die Möglichkeit solcher Eigenständigkeit in der Glaubenssprache ist nicht nur durch den Reichtum an neueren Liedern und Erbauungsschriften eröffnet worden, sondern bereits dadurch gegeben, daß die Heilige Schrift selbst von Gott, dem Sohne Gottes und dem Heilsgeschehen der Versöhnung und Erlösung in verschiedenen Metaphern und mit unterschiedlichen Ausdrucksweisen und Begriffen spricht. Es gibt also nicht nur sprachliche Differenzen zwischen Katholiken und Protestanten in den Aussagen über ein und dieselben Gegenstände der chrisdichen

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Lehre,26 sondern es gibt eine weitgehende Individualisierung in der Aneignung der christlichen Sprache: „Der Privatchrist hat also seine ihm allein gehörige Sprache zu seiner ihm freien eigentümlich gewissen Erbauung".27 Daß die Privatreligion frei bleiben und keinem Zwang unterworfen werden dürfe, hat Semler auch unter Berufung auf Luthers Schrift Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes (1526) gefordert.28 Der Prozeß einer Differenzierung und Individualisierung der Religion ist unaufhaltsam, weil der christliche Glaube kein autoritativ vorgeschriebener Glaube, sondern eine Gewissensreligion ist. Für eine große Mehrzahl der Bevölkerung bleibt die öffentliche und gesellschaftliche Kirchenreligion die maßgebende Gestalt des christlichen Glaubens und damit ihre eigene Privatreligion. Seniler hat das Phänomen eines traditionellen Kirchenchristentums beschrieben, das vom Individuum ohne innere Anteilnahme übernommen wird und so leicht zu einem bloßen Gewohnheitschristentum absinkt: Alle Christen, die ohne Anwendung eigener moralischer Fähigkeiten und Übungen bloß die öffentliche, schon gemeinschaftliche Lehrform behalten und als ihnen genug bloß wiederholen: machen hiermit die öffentliche Lehrform zu ihrer Privatreligion, welches ihnen freisteht, aber hiermit nicht ein Vorzug wird.29

Es muß also zwischen zwei Gruppen von Christen unterschieden werden: solchen, die sich mit dem überlieferten Kirchenchristentum begnügen und daran festhalten, und solchen, die ihre Erkenntnisse erweitern, zu neuen Einsichten und Frömmigkeitsformen gelangen. Die entscheidenden Gründe für die Anerkennung der ,Privatreligion" liegen bei Semler in dem geschichtlichen Prozeß stärker werdender Individualisierung der christlichen Religion, ein Prozeß, der zugleich die Differenz zwischen „privater" und kirchlich-konfessionell bestimmter „öffentlicher" Religion bewußt macht. Die christliche Privatreligion vereinigt in sich ein subjektives und ein vorgegebenes objektives Moment, weil in ihr die neutestamentlichen Heilswahrheiten persönlich in einem unterschiedlichen Umfang angeeignet werden. In diesem Sinne kann Semler davon sprechen, daß die christliche Religion „in der Annahme der biblischen Wahrheiten" besteht. Wo immer solche Annahme erfolgt und das Verhalten des Christen bestimmt, existiert „die wirkliche Religion in jedem Subjecto."30 „Das Christentum im Subjecto" bewirkt ein neues Bewußtsein, ein Freiheits- und Erlösungsbewußtsein, das Semler als eine Wirkung Gottes beschrieben 26 27

28 29

30

Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 203. Semler, Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 45. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 30f. Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 235. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 19.

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hat, wobei er die durch Christus wirksam gewordene Gnade Gottes als den entscheidenden Grund der Veränderung und Entstehung des neuen geistlichen Bewußtseins ansieht.31

6. Religionslehren und Lehren der Theologie Im Blick auf die Glaubensüberzeugungen, die mit der christlichen Religion verbunden sind, stellt sich für Semler das Problem der Abgrenzung der Religionslehren von den Lehren der Theologie. Denn die christliche Religion ist kein atheoretisches Phänomen, das lediglich in subjektiven Gefühlen, Stimmungen und Empfindungen beheimatet wäre. Sie besitzt als christliche Religion vielmehr einen bestimmten, durch Predigt und Unterricht mitteilbaren Lehrgehalt. Da Semler die christliche Religion als .Annahme der biblischen Wahrheiten" definiert und darunter vor allem die soteriologischen Aussagen über die göttliche Sendung, Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi sowie das durch Christus bewirkte Heilsangebot der „Versöhnung" und „Erlösung" verstanden hat, muß dieser Lehrgehalt als unverzichtbarer Bestandteil des christlichen Glaubens angesehen werden. Mit der militärischen Wesensbestimmung des Christentums und der Rede von den wesentlichen Lehren der christlichen Religion wird von Semler in zahlreichen Werken hervorgehoben, daß die wesentlichen Religionslehren keineswegs den Umfang und die terminologische Fixierung der jeweils geltenden Kirchenlehren oder Dogmen besitzen. Schon aus diesen Gründen dürfen Symbole, Lehrbekenntnisse und dogmatische Lehraussagen mit den neutestamentlich bezeugten Religionslehren nicht gleichgesetzt werden. Nur im christologischen, soteriologischen und anthropologischen Kembereich, keineswegs aber in allen theologischen Folgerungen und Spekulationen, zu denen Kirchenväter und Dogmatiker sich berechtigt meinten, besteht eine partielle Übereinstimmung. Semler verfolgt mit seiner Unterscheidung ein apologetisches Interesse, das die christliche Religion vor zeitgenössischen Angriffen schützen will. Seine Intention ist darauf gerichtet, die christliche Religion von dem theologischen Ballast zu befreien, der ihr zu Unrecht aufgebürdet worden ist. Was den Dogmatikern der lutherischen und reformierten Orthodoxie als notwendige Folgerungen aus Bibelaussagen erschien und von ihnen daher zum Bereich der heilsnotwendigen Lehre gerechnet wurde, darf solche Dignität und Verbindlichkeit nicht beanspruchen. In der theologiegeschichtlichen Beurteilung Semlers stellen die erst in der nachrefor-

31

Vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 355: „Nun erfahren sie immer mehr diese Veränderungen in ihren Gedanken, Urteilen, Neigungen, Entschließungen, Handlungen, welche Paulus einer Kraft Gottes zuschreibt, wodurch nun die Teilnehmung an dieser Erlösung, welche durch Jesum Christum zustande gebracht worden, auch in diesen Menschen stattfindet."

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matorischen Zeit ausgebildeten dogmatischen Lehren, insbesondere die Behauptung der Verbalinspiration und der Götdichkeit des vorliegenden Kanons, keine Bestandteile der zur christlichen Religion gehörigen Lehren dar, sondern sind eher als höchst problematische „theologische Erfindungen" einzustufen. In der Befreiung der christlichen Religion aus jenem Prozeß zunehmender Intellektualisierung, Dogmatisierung und Konfessionalisierung sieht Seniler eine Hauptaufgabe, die letztlich dazu dienen soll, die christliche Religion auch für kritisch denkende Zeitgenossen wieder annehmbar zu machen. Nach einer scharfen Kritik an den genannten theologischen Lehren der Orthodoxie erklärt er als seine Absicht: Und hiermit habe ich der christlichen Religion leichter den Weg bahnen wollen, wenn die theologischen Erfindungen und Übungen, so [...] bisher in einem gleichsam notwendigen Lehrbegriff gebracht worden sind, von dem allgemeinen Grunde und Inhalte der christlichen Religion wieder abgesondert werden.32

Was zu dem Grund und Inhalt der Religionslehren gehört, findet Semler im Apostolikum und in Luthers Katechismen sowie in einem weiteren Sinne in den lutherischen Bekenntnisschriften formuliert. Da er als überzeugter Lutheraner seine Zustimmung zum wesentlichen Lehrgehalt der reformatorischen Bekenntnisschriften mit der Freiheit zur Kritik an Einzelheiten ihrer Formulierung und Schriftbegründung verbunden hat, wird man seine These von den in den Bekenntnisschriften enthaltenen Grundsätzen der christlichen Religion nicht lehrgesetzlich im Sinne eines Bekenntnispositivismus oder eines unbedingten Festhaltens am Wortlaut aller Bekenntnisaussagen deuten dürfen.33 Mit der Reformation hat sich nach Semlers Urteil eine Zurückweisung der scholastischen Theologie vollzogen, weil durch dieselbe eine Umdeutung und Verfremdung der christlichen Religion eingetreten war, und weil man auf reformatorischer Seite erkannt hatte, daß die wesentlichen Lehren der christlichen Religion auch ganz unabhängig von scholastischen Begriffen und Distinktionen formuliert werden konnten. Ansätze für die geforderte Unterscheidung von christlicher Religion und zeitgeschichdich bestimmter Theologie lassen sich daher schon zur Reformationszeit finden. Landesherren wollten nicht mehr dem Papst und der Klerisei solche ungerechte Anmaßungen zugestehen, sie unterschieden glücklich, recht glücklich die christliche Religion von der bisherigen Theologie, wenn gleich auch diese römische Kirchentheologie schon in mehrere Sekten und Schulen abgeteilet worden war.

32 33

Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 100. Vgl. Semler, Verteidigung des Königl. Edikts vom 9"* Jul. 1788. Halle 1788, S. 89: „Der Inhalt der symbolischen Bücher [...] ist nicht das Symbolum selbst, nicht die Augsburgische Confession, Apologie, nicht Catechismi, wie sie wörtlich abgefasst sind; sondern ihr Sinn, ihr Lehrbegriff."

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In den von der Reformation erfaßten Territorien kommt es daher in Ausübung der landesherrlichen Macht „zur Freistellung der Religion für alle ihre Untertanen".34 Dies ist ein Vorgang, den Semler im Interesse der Aufrichtigkeit und Ungezwungenheit des christlichen Glaubens lebhaft begrüßt. Er will solche „Religionsfreiheit" nicht wieder eingeschränkt oder rückgängig gemacht wissen. Im 18. Jahrhundert vollzieht sich ein Prozeß stärkerer Verwissenschaftlichung der Universitätstheologie, an dem Semler selbst durch seine textkritischen, exegetischen und kanonsgeschichtlichen Forschungen Anteil hat. Dieser Prozeß führt aber zwangsläufig auch zum Bewußtsein der historischen Distanz gegenüber früheren Formen der Theologie, die in ihrer Lehre und methodischen Lehrart nicht einfach wiederholt werden können. Wenn unter historischem Aspekt die Theologie so verstanden werden muß, daß ihre Zeit- und Ortsbedingtheit und damit auch ihre Bedingtheit durch den jeweiligen Stand der Schriftauslegung und die vorherrschenden philosophischen Überzeugungen mitbedacht wird, wird gegenwärtige Theologie zur Wahrnehmung der Traditionskritik, d.h. zur kritischen Dogmen- und Theologiegeschichtsschreibung befreit. Zugleich wird aber mit der Reflexion auf die Bedingtheit des eigenen geschichtlichen Standortes die gegenwärtig zu vertretende Theologie auch von dem fragwürdigen Anspruch auf religiöse Verbindlichkeit ihrer Ergebnisse entlastet. Semlers begriffliche Distinktion gehört in beiden Fassungen (Heilsordnung und Theologie, Religion und Theologie) in den durch die historische Forschung veranlaßten Prozeß zunehmender Verwissenschaftlichung der Theologie.

7. Heilsglaube und Theologie Die aus den genannten Sachgründen für erforderlich gehaltene Unterscheidung von „Religion" und „Theologie" führt bei Semler konsequenterweise zu einer weiteren Distinktion, nämlich der zwischen „Glaube" und „Theologie". Der Glaubensbegriff wird dabei keineswegs auf das subjektive Gefühl oder das persönliche Engagement reduziert, sondern durchaus als die fides quae creditur verstanden. Gemeint ist der Glaube, der sich als Erkenntnis, Vertrauen und Hoffnung auf Gott, den Schöpfer und Welterhalter, die in Jesus Christus angebotene Erlösung und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes richtet.35 Solcher Glaube gehört nach Semler zur christlichen Religion, zur persönlichen Annahme der biblischen Gnadenbotschaft. Daß das in der Heiligen Schrift bezeugte Wort Gottes durch den Heiligen Geist den Glauben 34 35

Magazin fir die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Erster Theil. Halle 1780, Vorrede. Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 548: Der christliche Glaube ist „die Zuversicht eines Christen in Absicht der geistlichen Wohltaten, die ihm das Evangelium oder die Heilsordnung verspricht". Es ist der „Glaube, daß diese gepredigte versicherte Gnade Gottes auch ihm selbst zuteil werde".

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wirkt, ist Semlers Überzeugung, der zur Begründung einer inhaltlich verstandenen Bibelautorität auf das testimonium spiritus sancti internum verweist. In anderen Aussagen findet sich dagegen eine stärkere Betonung des Individuums, dessen Glaube zugleich mit der Erkenntnis und dem Bibelstudium wächst, aber auch Zweifeln und Anfechtungen ausgesetzt bleibt. Es scheint mir von den Quellen her unmöglich, die unterschiedlichen Aussagen Semlers über den christlichen Glauben auf verschiedene Schaffensperioden zu verteilen und etwa zu behaupten, im Unterschied zur Frühzeit dominiere beim älteren Semler (etwa ab 1777 und dem Erscheinen seiner deutschen Dogmatik) ein vom Glaubensgegenstand, der fides quae creditur, weitgehend abgelöstes subjektives Glaubensverständnis. Wenn Semler in der Dogmatik (1777) den christlichen Glauben charakterisiert als „die Zuversicht eines Christen in Absicht der geistlichen Wohltaten, die ihm das Evangelium oder die Heilsordnung verspricht",36 und er fünf Jahre später in der Autobiographie (1782) hervorhebt, die von Gott dem Vater, dem Sohne Jesus Christus und dem Heiligen Geist bewirkten „Wohltaten" seien „der Hauptgrund und Hauptinhalt des Glaubens aller wahren Christen",37 dann bleiben in beiden Fällen subjektiver Glaube und die neutestamentliche Botschaft von der Heilswirklichkeit des göttlichen Handelns in Versöhnung und geistlicher Erlösung aufeinander bezogen. Dieser Relation korrespondiert auch das Verständnis der Glaubensgewißheit, welche nach Semler die Wirkung Gottes bzw. des Heiligen Geistes im Christenmenschen ist.38 Von dem Heilsglauben muß die Theologie unterschieden werden, weil sie aus methodischen Anweisungen, Interpretationen, Theorien und dogmatischen Folgerungen besteht, die in ihrer Begrifflichkeit und in ihrem Lehrgehalt über die Heilige Schrift hinausgehen und mit den unabdingbaren Glaubenswahrheiten weder verwechselt noch gleichgesetzt werden dürfen. Die große Mehrzahl der theologischen Lehren hat nicht die Dignität und Verbindlichkeit von fundamentalen Glaubenslehren, auch wenn solches von Dogmatikern zugunsten ihrer eigenen Theologie oft behauptet worden ist. Die akademische Theologie muß die Frage beantworten, worin die Lehrdifferenzen und Lehrgegensätze der christlichen Konfessionen bestehen, aber sie vermag solche konfessionellen Lehren nicht zum Kernbestand der Heilswahrheiten zu erheben, welche die christliche Religion konstituieren und für sie unaufgebbar sind. Aus diesen Gründen müssen die biblischen Heilslehren, auf die sich der Glaube richtet, von den teils wissenschaftlich, teils konfessionell bestimmten theologischen Lehren deutlich unterschieden werden.39 36 37 38

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Ebd., S. 548. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 254f. Semler, Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 274f. Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 209: „Es ist weiter auch ein Unterschied zwischen Glauben und Theologie oder zwischen den Lehrwahrheiten, deren lebendige Erkenntnis allen Christen nöüg ist, um in christlicher Gemütsfassung zu stehen und zwischen solchen Lehrsätzen, welche ein Theil Gelehrte dem anderen Theile entge-

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Die Möglichkeit, auf den Gebieten von Exegese, Hermeneutik, Dogmatik und Kirchengeschichte zu einer wünschenswerten Neugestaltung der Theologie zu gelangen, schließt nach Semler nicht aus, daß die Theologie so an reformatorischen Erkenntnissen orientiert bleibt, daß sie ihren lutherischen Charakter behält. Im Blick auf die Dogmatik bedeutet dies, daß der Akzent weiterhin auf den Grundgedanken der Christologie und Soteriologie (Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung) liegt, daß die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium betont und an der Überordnung der Heiligen Schrift und ihrer Christusbotschaft über alle kirchlichen Lehrtraditionen festgehalten wird. Die Unterscheidung von christlicher Religion und wissenschaftlicher Theologie, praktischer Frömmigkeit und methodischer Forschung ist begründet in der Erkenntnis ihrer Funktionsverschiedenheit und relativen Selbständigkeit. Diese Erkenntnis negiert jedoch keineswegs die bleibende Verbundenheit beider Phänomene. Wenn zur christlichen Religion Glaubensüberzeugungen, eigenständige Reflexionen und mitteilbare Gedanken gehören, dann ist jede christliche Privatreligion imstande, im Anschluß an bestehende Konfessionen oder in Abweichung von ihnen, eine Privattheologie auszubilden. Mit diesem Antrieb zur Theologie, die als solche eine legitime Äußerung von Religion darstellt, hat Semler stets gerechnet. Es wäre daher verfehlt, wollte man Semlers Unterscheidung von christlicher Religion und wissenschaftlicher Theologie als strikte „Trennung" beider Bereiche und Phänomene interpretieren.40 Zahlreiche Äußerungen in den Quellen stehen einer solchen Deutung entgegen. Schon der Umstand, daß Semler die in ihren gottesdienstlichen Formen und Lehrbekenntnissen verschiedenen christlichen Konfessionen (bzw. Religionsparteien) als „öffentliche Religionen" oder als „Kirchenreligionen" bezeichnet hat, sollte zu denken geben. Die Art, wie Theologie betrieben wird, hat einschneidende Folgen für einen leichteren oder erschwerten Zugang zur Religion. Mitten in den Auseinandersetzungen um sein Reformprogramm für das akademische Theologiestudium hat Semler 1758 unter Berufung auf Melanchthon den bereits zitierten Satz formuliert: „Wer eine ungelehrte Theologie in die Kirche einführen will, verdient mit Recht Haß und Unwillen, denn er schadet der Reli-

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gensetzt." Vgl. Semler, Christologie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Homig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 190. Auf Ablehnung stoßen Semlers theologiegeschichüich wirksam gewordene Unterscheidungen von chrisüicher Religion und wissenschaftlicher Theologie, praktischer Frömmigkeit und methodischer Forschung bei Oswald Bayer, weil sie angeblich zu einer ,/aktischen Beziehungslosigkeit von Theologie und Glaube" und zu ,,unfruchtbare[n], ja tödliche[n] Trennungen" geführt haben; vgl. ders., Theologie. Gütersloh 1994, S. 57f. u. 392. Einen Nachweis dafür, daß die von Semler geltend gemachten „Unterscheidungen" im Sinne von strikten „Trennungen" zu verstehen seien, ist Bayer jedoch schuldig geblieben, und mit den seiner Deutung entgegenstehenden Quellenaussagen hat er sich nicht auseinandergesetzt. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 167. - Für den naheliegenden Vergleich mit Luther und Melanchthon wäre in erster Linie auf die Differenzen im Theologieverständnis zu verweisen, die durch den Zeitabstand und die

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Auch wenn ein Anwachsen glaubensunabhängiger Elemente in der historischkritischen Theologie zu konstatieren ist, weil diese sich in Textkritik, Exegese, Hermeneutik und historischen Untersuchungen allgemeiner Methoden und wissenschaftlicher Standards bedient, so bleibt doch eine Verbundenheit mit der christlichen Religion als lebendiger Glaubensüberzeugung bestehen. Sie zeigt sich auch darin, daß die nach wissenschaftlichen Methoden und Kriterien verfahrende Theologie den Wahrheitsgehalt der christlichen Religion vor Vergleichgiiltigung, Infragestellung und unberechtigter Kritik schützen soll. Neben den Aufgaben der Forschung und kritischen Überprüfung der Lehrtraditionen besitzt also die Theologie auch eine apologetische Aufgabe. Sie ist begründet in dem Charakter der christlichen Religion, die als solche weder dem Gefühl und der Innerlichkeit überlassen werden darf noch ausschließlich der persönlichen Frömmigkeit, der Lebensgestaltung und dem sittlichen Handeln zugeordnet werden kann. Die christliche Religion bleibt in ihrer universalen Ausrichtung und Geltung untrennbar mit lehrhaften und mitteilbaren Grundwahrheiten der neutestamentlichen Botschaft verbunden, deren Aussagegehalt erkannt und angeeignet werden soll. Denn „die christliche Religion besteht gar nicht überhaupt in dem sogenannten Erbaulichen, als welches in allen Religionen ist, sondern in der Annahme der biblischen Wahrheiten nach ihrer für einen jeden möglichsten Erweislichkeit".42 Zu dieser Apologie der neutestamentlichen Christusbotschaft, die Semler als historisch-kritischer Theologe in der Auseinandersetzung mit Hermann Samuel Reimarus (1779/80), aber auch danach in den Konflikten mit Carl Friedrich Bahrdt und Johann Bernhard Basedow geleistet hat, gehört jedoch keineswegs die vollständige Erhaltung und Bewahrung der jeweils herrschenden „Kirchentheologie", welche mit ihren Dogmen, Bekenntnissen und Systemen Lehren umfaßt, die in ihrer Begrifflichkeit und ihrem Aussagegehalt über die neutestamentlichen Heilsaussagen hinausgehen, wie dies etwa bei der altkirchlichen Trinitätslehre der Fall ist Mit der Unterscheidung von „Kerygma und Dogma" bzw. „Dogmen" soll die Rang- und Wertverschiedenheit von religiösen und theologischen Lehren hervorgehoben werden. In Semlers Sprachgebrauch und Begrifflichkeit bezeichnet der Kerygmabegriff diejenigen biblischen Wahrheiten, die in leicht faßlicher und allgemeinverständlicher Form verkündet werden sollen. Das Kerygma richtet sich auf den individuellen Glauben und ist als der wesentliche Glaubensinhalt für die Ge-

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geistige Problemlage des 18. Jahrhunderts bedingt sind. Während Luther den praktischen Charakter der Theologie als Kreuzestheologie betont und sie aus diesem Grunde von aller irdisch-rationalen Wissenschaft deutlich unterschieden wissen will, wird bei Semler, obwohl er die exegetische Berechtigung der reformatorischen Auffassung anerkennt, die Theologie doch zu einer mit anderen Wissenschaften durchaus vergleichbaren Fachwissenschaft. Die enge Verflechtung von wesentlichen neutestamentlichen Lehren und persönlichem Heilsglauben bleibt erhalten, wird aber nun von Semler dem Bereich der „Religion" zugerechnet. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 19.

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winnung und Bewahrung der christlichen Religion unerläßlich. Anders verhält es sich mit den kirchlichen „Dogmen", deren Verständnis historische Kenntnisse über ihre Entstehungsbedingungen verlangt, deren Aussagegehalt nicht zum seligmachenden Glauben gehört und deren Anerkennung daher auch nicht von allen Christen gefordert werden sollte.43 Ganz im Sinne der Rückwendung zur Schlichtheit biblischer Lehrweise erklärt Semler, daß der Christ an Gott den Schöpfer, an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus als unseren Versöhner und Erlöser und an den Heiligen Geist als Erneuerer des christlichen Lebens glaube, daß der seligmachende Heilsglaube aber weder in urchristlicher Zeit ein Dogmenglaube gewesen sei noch in Gegenwart und Zukunft ein solcher werden dürfe. Semlers apologetische Leistung wie auch seine kritische Intention sind in Wolfgang Schmittners Analyse zutreffend erfaßt worden: Semlers Absicht ist zweifellos, das Wort Gottes freizuhalten von eigenmächtigem kirchlichem Sicherungsstreben; daher betont er die Nichtidentität des Kanons und Dogmas mit der christlichen Wahrheit [...] Er wendet sich gegen eine Theologie, die die christliche Wahrheit durch allzu definitive Formulierungen für alle Zeiten fixieren möchte und nicht genügend Spielraum ausspart für die Möglichkeiten des Wandels der Verstehens und Aneignungsbedingungen. 44

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44

Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 249: „indem ich es lange aus den patribus wußte, daß κερυ^μα und δο^μα stets unterschieden worden; daß δόγματα nie für gemeine Christen zu ihrem Glauben gehörten, sondern für den Lehrstand, daß Dogmata gelehrte Übung und Wissenschaft erforderten und die Tauglichkeit zu einem Kirchenamt, nicht aber die Seligkeit angingen." Wolfgang Schmittner, Kritik und Apologetik in der Theologie J. S. Semlers. München 1963, S. 58.

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VI. Die Freiheit der christlichen Privatreligion. Semlers Begründung des religiösen Individualismus in der protestantischen Aufklärungstheologie1

An die Stelle der konfessionellen Polemik, von der das Zeitalter der altprotestantischen Orthodoxie bestimmt war, trat im 18. Jahrhundert mit der Neologie und protestantischen Aufklärungstheologie die Tendenz zur Toleranz, Irenik und Abschwächung der Lehrgegensätze. Gleichzeitig verstärkte sich die Entwicklung zum religiösen Individualismus, die in den Begriffen ,Privatreligion" und „Privattheologie" ihren Ausdruck findet. An der Bildung solcher Begriffe wird schlagartig deutlich, daß sich Frömmigkeit und Denken aus den kirchlichen Normen zu lösen beginnen. Die religiöse Mündigkeit des Individuums hat zur Folge, daß es seit der Aufklärung ein von der Kirche emanzipiertes Christentum gibt, daß Kirche und Christentum, Kirchlichkeit und Christlichkeit nicht mehr identisch sind. Im folgenden soll der Komplex an Gedanken analysiert werden, mit dem Johann Salomo Semler als maßgebender Vertreter der historisch-kritischen Aufklärungstheologie in Deutschland den religiösen Individualismus reflektiert, seine Herkunft erklärt und ihn legitimiert hat. Durch Semlers Schriften sind vor etwa zweihundert Jahren die Begriffe „Privatreligion" und „Privattheologie", ,Privatglaube" und ,Privatchristentum" in die theologische Terminologie und schließlich auch in den allgemeinen Sprachgebrauch eingedrungen. Zu den Fernwirkungen seiner Begrifflichkeit gehört wohl die heute noch weitverbreitete, wenn auch zum Schlagwort gewordene und in ihrer Deutung umstrittene These, daß Religion eine ,Privatsache" oder .Privatangelegenheit" des einzelnen sei.2 Semlers theologisches Plädoyer für die kirchliche und staatliche Respektierung der Privatreligion muß geistesgeschichtlich und politisch betrachtet auf dem Hintergrund jener liberalen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts gesehen werden, die auf verschiedenen Gebieten des öffentlichen Lebens die Rechte des Individuums 1

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Erweiterte Fassung von: Gottfried Hornig, Die Freiheit der christlichen Privatreligion. Semlers Begründung des religiösen Individualismus in der protestantischen Aufklärungstheologie, in: Neue Zeitschrift fiir systematische Theologie und Religionsphilosophie. Bd. 21 (1979), Heft 2, S. 198-211. Als Sektionsreferat in einer gekürzten Fassung vorgetragen auf dem Colloquy of the International Commission for Comparative Church History (CIHEC), das vom 25. Juni bis 2. Juli 1978 in Warschau stattgefunden hat. Zur Herkunft und Deutung der Sätze „Religion ist Privatsache" und „Kirche und Staat müßten getrennt werden" hat Adolf v. Hamack zutreffend erklärt, daß sie „von jener luftigen Unbestimmtheit [seien], welche alle Forderungen des alten Liberalismus charakterisiert"; vgl. ders., Erforschtes und Erlebtes, Reden und Aufsätze. Bd. 4. Gießen 1923, S. 200. - Über die Frage, ob die Religion als .Privatsache" zu betrachten sei (so die These von Wilhelm Liebknecht), ist es auch in der werdenden deutschen Sozialdemokratie um 1875 zu einer Auseinandersetzung gekommen; vgl. Heiner Grote, Sozialdemokratie und Religion. Tübingen 1968, S. 120ff.

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und seiner Überzeugung gegenüber den allgemeinen Ansprüchen von Staat und Kirche verteidigt haben. Doch wäre es eine einseitige Betrachtungsweise, wollte man meinen, daß es sich hier lediglich um die Durchsetzung allgemeiner Tendenzen des 18. Jahrhunderts oder die Übertragung zeitgenössischer politischer Bestrebungen auf den theologischen und kirchlichen Bereich gehandelt habe. Denn es gab innerhalb des Protestantismus eine Tradition, die den religiösen Individualismus bereits durch das neutestamentliche Glaubensverständnis und den reformatorischen Freiheitsgedanken legitimiert sah und sich in dem entschiedenen Eintreten für die Glaubens- und Gewissensfreiheit als Erbe der Reformation verstand. Wenn die protestantische Neologie und Aufklärungstheologie die Freiheitsrechte des religiösen Individuums hervorhob, so geschah dies in kritischer Auseinandersetzung mit der altprotestantischen Orthodoxie, welche den drohenden Zerfall der kirchlich-konfessionellen Einheitskultur aufzuhalten suchte. Nicht unterschätzt werden darf die Rolle, die der Pietismus als Vorläufer der theologischen Aufklärung gespielt hat, indem er für die Freiheit der Glaubensüberzeugung, die Lockerung der Bekenntnisverpflichtung und die Beendigung der konfessionellen Polemik eingetreten ist. Zwar stand der Pietismus aus dogmatischen Gründen der protestantischen Neologie und Aufklärungstheologie oftmals kritisch und ablehnend gegenüber. Aber er hat den religiösen Individualismus auch dadurch gefördert, daß er entscheidendes Gewicht auf die Heilsordnung, die Abfolge von Bekehrung, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Erneuerung und Heiligung legte. Er hat die christliche Existenz auf die religiöse Erfahrung, Aktivität und Entscheidung des Individuums gegründet.

1. Zur Begriffsbestimmung von „Privatreligion" und „Privattheologie" Wie die Theologie Semlers, so durchläuft auch seine Terminologie und Begrifflichkeit eine gewisse Entwicklung. In seinen Werken taucht seit Mitte der 70er Jahre in lateinischer und deutscher Fassung der Begriff der „Privatreligion" (religio privata) auf. Er wird seitdem ständig und mit zunehmender Häufigkeit verwandt. Sehr oft geschieht dies in Unterscheidung zum Begriff der „öffentlichen Religion" (religio publica) oder „Kirchenreligion", womit die in Lehre, Bekenntnis und Frömmigkeit weitgehend festgelegte Religion der einzelnen , .Religionsparteien' ' (= Konfessionen) gemeint ist. Die durch das Gegenüber dieser beiden Größen entstandenen Konflikte haben Semler sowohl im Blick auf die Kirchen- und Dogmengeschichte als auch im Blick auf die eigene Gegenwart, die Zensurbestimmungen und das geltende Kirchenrecht beschäftigt. Obwohl sich bei Semler erste Ansätze zu einer religionswissenschaftlichen Betrachtungsweise finden, erhebt sein Begriff der ,Privatreligion" keinen Anspruch, ein allgemeines religionswissenschaftliches Phänomen zu bezeichnen, das auch au181

ßerhalb des Christentums in anderen Religionen nachweisbar wäre. Vielmehr ist, wie an den synonymen Ausdrucksweisen und dem Kontext deutlich wird, mit dem Begriff der „Privatreligion" fast ausschließlich „die christliche Privatreligion" bzw. „das Privatchristentum" gemeint. Das persönliche Christsein sollte Ausdruck lebendiger Überzeugung sein. Der Begriff der „Privatreligion", der bei Semler einen positiven Wertakzent trägt, meint den persönlichen Gottesglauben in Bindung an das in der Heiligen Schrift enthaltene „Wort Gottes" bzw. an die „Offenbarung", das „Evangelium" oder „Kerygma".3 Die Selbstbestimmung der Privatreligion bedeutet also keine Autonomie in dem Sinne, daß der einzelne sein eigenes Heil bewirken oder sich selbst zusagen könne. Wohl aber bedeutet sie, daß der einzelne in seinem Christusglauben und im Vollzug der persönlichen Heilsaneignung weder an Lehrtraditionen noch an kirchliche Autoritäten gebunden ist. Privatreligion liegt dort vor, wo der Christ einen selbständigen Zugang zu den Grundwahrheiten der christlichen Religion gefunden hat. Diese Grundwahrheiten sind nach Semler etwa im Apostolikum oder in Luthers Kleinem Katechismus zusammenfassend formuliert worden. An der Privatreligion ist der Mensch als Ganzer mit Gewissen und Gemüt, Intellekt und Willen beteiligt, während die öffentlich geltende Kirchenreligion bei vielen nur als ein innerlich unbeteiligtes Gewohnheitschristentum existiert. Wenn die Privatreligion die persönliche Angelegenheit eines bestimmten Individuums ist, so ist sie als solche doch keine sich völlig gleichbleibende und konstante Größe, sondern vielmehr insofern einem Wandel unterworfen, als sie sich durch neue Erfahrungen, Gedanken und Erkenntnisse verändern kann. Diese Veränderungen können die historische Distanz zum überlieferten Kirchenglauben bewußt machen, zielen aber letzdich auf eine vertiefte Aneignung des Christusglaubens, auf ein allmähliches Wachsen im Glauben und in der tätigen Nächstenliebe.4 Es wäre demzufolge ein Mißverständnis, wollte man Semlers Begriff der „Privatreligion" so deuten, als handle es sich um die Etablierung eines bloß privat bedeutsamen Gesinnungschristentums oder als solle der Glaube auf den Bereich der Innerlichkeit, auf das Gefühl und die Empfindung beschränkt werden. Denn die christliche Privatreligion bewährt sich nicht nur in den Taten der Nächstenliebe, die aus dem Glauben erwachsen, sondern sie sucht auch den Zusammenschluß der Gleichgesinnten zu einer religiösen Gemeinschaft. Sie hat daher Auswirkungen auf den öffentlichen Be3

4

Eine kurze Charakterisierung der von Semler getroffenen Unterscheidung von Kerygma und Dogma (bzw. Dogmen) bietet mein Art. .Kerygma' in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Basel/Stuttgart 1976, Sp. 815. Genauere Analysen und Quellenbelege zum Offenbarungsverständnis des älteren Semler finden sich im Kap. VII („Der Perfektibilitätsgedanke") der vorliegenden Monographie. Semler schreibt in seiner Vorrede zu Des Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogus von der Uebereinstimmung oder Einheit des Glaubens. Leipzig 1787: „Wer keine eigene Privatübung der Religion in tätiger Liebe gegen alle Menschen hat und bloß der öffentlichen Religionsordnung anhängt, wie sie an Zeit, Ort und feierliche Umstände stets gleichlautend gebunden ist: der ist noch kein vorzüglicher Christ, ob er gleich ein eifriger Kirchenchrist heißen mag."

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reich, auf das Leben in Gesellschaft und Staat, ja sie kann dort sogar durch die Gefährdung offiziell anerkannter Religionsparteien ernste Konflikte hervorrufen. Es ist sachlich und terminologisch durchaus konsequent, wenn Semler mit dem Phänomen der , .Privatreligion" auch eine mehr oder weniger deutlich ausgebildete „Privattheologie" verbunden sieht. Nach seiner Überzeugung muß jedem Christen die Fähigkeit zur selbständigen Privattheologie zugebilligt werden. In der deutschen Fassung seiner Dogmatik spricht Semler von der „Privattheologie [...], wozu jeder denkende Mensch ein wirkliches Recht hat".5 Die konkrete Gestalt der Privattheologie wird man sich demzufolge größtenteils als Laientheologie verschiedener (z.B. lutherischer, reformierter, sozinianischer, mystischer, theosophischer, pietistischer oder neologischer) Prägung vorzustellen haben. Jedenfalls muß die Privattheologie, sofern sie Bestandteil der jedermann möglichen Privatreligion ist, nicht notwendigerweise einen wissenschaftlichen Charakter haben. Im Blick auf die Lehrtradition der einzelnen christlichen Kirchen und Konfessionen kann die Privattheologie auswählend, d.h. sowohl zustimmend als auch kritisch und ablehnend verfahren. Semler begründet das Recht zum Eklektizismus, das sowohl theologische Lehrer als auch selbständig urteilende Laien für sich in Anspruch nehmen dürfen, vor allem mit der inhaltlichen Differenz, die zwischen den als schriftmäßig erkannten christlichen Glaubenslehren und der Kirchentheologie der jeweils geltenden öffentlichen Lehrordnung besteht. Als Argument wird aber von ihm auch auf die Veränderlichkeit, historische Relativität und Revisionsbedürftigkeit aller theologischen Lehren und ihrer Sprachgestalt verwiesen. Bedenken hat Semler überall dort erhoben, wo der Versuch unternommen wird, die Privatreligion und Privattheologie durch eine bestimmte Gestalt herrschender Kirchentheologie von außen her zu normieren, zu reglementieren und in ihrer Entfaltung einzuengen. Er kritisiert vor allem die Vorstellung der zeitgenössischen Orthodoxie, daß es eine heilsnotwendige „reine Lehre" gebe, zu deren Anerkennung jeder Christ verpflichtet sei. Der Zugang zum christlichen Heilsglauben wird erschwert, wenn dieser Heilsglaube an die zeitbedingte Gestalt eines theologischen Lehrsystems gebunden wird.6

5 6

Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 181. Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 351: „Es ist also die wirkliche christliche Erbauung, geistliche Beruhigung und Besserung einzelner ernstlicher Christen nicht gebunden an eine feste Reihe der Beschreibungen, die hie und da Theologi als Lehrformel eingeführt haben." - Vgl. auch ebd., S. 355: „Theologia est doctrina, quae hanc veram religionem tradit, hielt ich nicht für die wahre Bestimmung der Theologie." - Zu Semlers Überzeugung von der Unhaltbarkeit des altprotestantischen Begriffs der ,/einen Lehre" vgl. ders., Abhandlung über die rechtmcißige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 34 u. 90; ders., Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1774, Vorrede, sowie ders., Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 51f.

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2. Die Freiheit und Unterdrückung der Privatreligion In einer Schrift aus dem Jahre 1784, die den Begriff der Privatreligion schon im Titel führt, hat Semler erklärt, daß ihn sein Gewissen nötige, „die Freiheit der Privatreligion und die freie Privatanwendung der christlichen Begriffe von Wahrheiten aufs allerbeste immer zu verteidigen".7 Semler spricht in einem doppelten Sinn von der „Freiheit der Privatreligion", ohne diese beiden Bedeutungen jedoch klar voneinander zu unterscheiden. Es gibt eine Freiheit, die wesensmäßig zur Privatreligion gehört und die ihr immer schon eignet, weil sie weder von kirchlichen Autoritäten noch von staatlichen Instanzen, sondern allein von Gott und seiner Offenbarung abhängig ist. Dies ist die innere Freiheit des religiösen Bewußtseins. Die Privatreligion ist insofern frei, als der persönliche Gottesglaube niemals menschlichen Vorschriften und Geboten unterliegen kann. „Die innere eigene Religion ist gar keiner menschlichen Lehrform, sondern Gott und dem Gewissen allein unterworfen."8 Wenn dagegen „die Freiheit der Privatreligion" von Kirche und Staat gefordert wird, so ist damit ihre ungehinderte Ausübung in der Öffentlichkeit des gesellschaftlichen Lebens gemeint. Von dieser Freiheit stellt Semler mit Recht fest, daß sie im Laufe der Kirchengeschichte oft verweigert wurde oder nur in eingeschränktem Maße bestanden hat. Das Oszillieren zwischen diesen beiden Freiheitsbegriffen erlaubt es Semler, sich auf den Bereich der immer schon vorhandenen inneren Glaubens- und Gewissensfreiheit zurückzuziehen, ohne jedoch die politischen Implikationen und Forderungen nach größerer öffentlicher Religionsfreiheit preisgeben zu müssen. Die Freiheit der Privatreligion ist somit nicht allein gegenwärtige Wirklichkeit, sondern ebenso zukünftige Möglichkeit. Sie ist bleibender Besitz, zugleich aber auch ständige Aufgabe. Semlers nachdrückliches Eintreten für „die Freiheit der Privatreligion" ist sowohl gegen die Ansprüche des Katholizismus als auch gegen das altprotestantischorthodoxe Ideal einer alle Staatsbürger umfassenden Religionseinheit gerichtet. Zurückgewiesen wird also das Bestreben, die individuellen Gestalten des Christseins der kirchlichen Norm anzupassen und Abweichungen von der geltenden Kirchenlehre und Frömmigkeitspraxis nach Möglichkeit zu verhindern. Wenn der christliche Glaube nur als kirchlicher Glaube, das Christentum nur als kirchliches Christentum gelebt werden darf, dann ist die Freiheit der Privatreligion bedroht und eingeengt. Zwang und Unterdrückungsmaßnahmen widersprechen aber dem Wesen des christlichen Glaubens, der eine freie persönliche Gewissensangelegenheit sein und bleiben soll.

7 s

Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 76. Semler, Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 137.

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Um die christliche Gewissensfreiheit für den protestantischen Laien zu festigen und ihren Bereich zu erweitern, plädiert Semler dafür, die Verpflichtung auf die Symbolischen Bücher auf die „öffentliche" Religion und ihre Amtsträger zu beschränken, den Bereich der christlichen „Privatreligion" aber davon gänzlich freizuhalten. Die Geistlichen sind in der öffentlichen Ausführung ihres Amtes an die in ihrer Kirche geltenden Lehrbekenntnisse gebunden, keineswegs aber der einzelne Christ in seiner Privatreligion. Es muß und kann deutlich gesagt werden: eines Christen Seligkeit beruht nicht auf der öffentlichen kirchlichen Religion, sondern auf ihrem Inhalt, der nun seine Privatreligion ausmacht: die kann mit der kirchlichen einerlei sein, sie kann aber auch den Privatvorstellungen nach davon verschieden sein.®

Zur Freiheit der Privatreligion gehört nicht nur die Möglichkeit, die eigene Glaubensüberzeugung öffentlich zu bekunden, sondern auch das Recht zu einem selbständigen Bibelstudium, das mit einem auswählenden Aneignen bestimmter Gehalte der neutestamentlichen Überlieferung verbunden ist. Für das kritische Denken der gebildeten Bürger sind allerdings die mythischen und legendären Elemente der Überlieferung von solcher Aneignung ausgeschlossen. Gemäß der inzwischen erfolgten Kritik an der orthodoxen Schriftlehre, ihrer Verbalinspiradonstheorie und ihrer Vorstellung von einem in allen seinen Teilen und Aussagen verpflichtenden Kanon, kann der Umgang mit der Bibel nur als ,.freier Privatgebrauch" und als „freie Privatanwendung" der Bibel beschrieben werden.10 Legitim sind die Ablehnung des gesetzlichen Biblizismus und der freie Schriftgebrauch bereits wegen der textkritischen Erkenntnisse. Diese hatten Semler veranlaßt, einer These zuzustimmen, die Johann Albrecht Bengel angesichts schwer zu entscheidender neutestamentlicher Lesarten aufgestellt hatte: „Nemini totum [sacrae scripturae] est necessarium, alium alia pars ad salutem ducit".11 Die emanzipativen und kirchenkritischen Impulse in Semlers Rede von der Privatreligion und in seinem Bemühen um die Wahrung und Erweiterung der „Freiheit der Privatreligion" sollte man nicht verkennen. „Christiani etiam extra ecclesiam", so lautet die Überschrift zu § 10 der lateinischen Fassung von Semlers Dogmatik, die 1774 erschienen ist.12 Als dieser Satz bei zeitgenössischen Theologen Anstoß erregte, hat Semler ihn drei Jahre später nachdrücklich verteidigt.13 Die modern klingende These, daß es echtes Christsein stets auch außerhalb der institutionellen 9

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12 13

Semler, Neuer Versuch die gemeinnüzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 50. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 36. Semler, Abhandlung über die rechtmiißige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, Vorrede; vgl. auch ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, Vorrede. Semler, Institutio ad doctrinam Christianam liberaliter discendam. Halle 1774, S. 13. Semler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 157,221 u. 267f.

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Kirchen gegeben habe und jederzeit geben könne, wurde von Semler unter Hinweis auf die Ketzergeschichte vertreten, wobei er an der rein dogmatischen Beurteilung und Verdammung der Ketzer durch Kirche und kirchliche Geschichtsschreibung Kritik geübt hat: „Es bleiben also viele von denen, welche im Ketzerregister mit einem Ketzemamen stehen, als Individua wirkliche Glieder der allgemeinen Kirche, wenn sie gleich nicht Glieder der römischen, alexandrinischen etc. gewesen sind".14 Trotz der unbestreitbaren emanzipativen und kirchenkritischen Impulse bleibt die Frage, ob Semlers Unterscheidung von „privater" und „öffentlicher" Religion nicht auch oder gar vorwiegend ein Anpassungsphänomen gewesen ist, mit dem man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmten zeitgeschichtlichen Bedingungen geistiger und politischer Art Rechnung zu tragen suchte. Konnten doch bei einer entsprechenden Interpretation mit Hilfe dieser Unterscheidung einerseits kritische Erkenntnisse, zu denen Wissenschaft und Theologie gelangt waren, auf den privaten Bereich beschränkt, und andererseits der öffentliche Religionsfriede gewahrt und der rechtlich garantierte Fortbestand der Religionsparteien gesichert werden. In einer 1977 erschienenen Darstellung der neuzeitlichen Christentumsgeschichte sind, wenn auch vielleicht etwas einseitig, die genannten Distinktionen als ein allgemein verbreitetes neologisches Anpassungsphänomen interpretiert worden: Eine Anpassung an ihre Zeit vollzogen auch die Neologen durch die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion. Die vom Staate gesetzlich bestimmte und der Obhut der Kirche anvertraute Religion diente der bürgerlichen Ordnung. Die wirkliche private Meinung des Pfarrers und Gelehrten aber sollte im Konfliktsfall auf Kanzel und Katheder nicht vertreten werden, konnte sie doch bei urteilslosen Menschen Verwirrung anrichten.15

Für Semler, der viele Jahre hindurch Zielscheibe orthodoxer und pietistischer Angriffe gewesen ist, hat die genannte Distinktion niemals die Funktion gehabt, die Verbreitung wissenschaftlich begründeter theologischer Erkenntnisse zu verhindern. Er selbst hat ja während seiner achtunddreißigjährigen Lehrtätigkeit in Halle und durch seine zahlreichen Schriften solchen Erkenntnissen gegen den Widerstand traditioneller Auffassungen zur Anerkennung verholfen. Bezeichnenderweise hat die zeitgenössische Orthodoxie Semlers Distinktion nicht etwa als hilfreichen Ausweg aus den entstandenen Schwierigkeiten empfunden, sondern vielmehr abgelehnt, weil sie eine individuelle Auswahl von Glaubenslehren aus der Heiligen Schrift gestattete und die Verbindlichkeit der „reinen Lehre" für die selbständige Privatreligion und das Privatchristentum bestritten hatte. Die orthodoxe Auffas14 15

Ebd., S. 221. Hans-Walter Krumwiede, Geschichte des Christentums III. Neuzeit: 17. bis 20. Jahrhundert. Stuttgart 1977, S. 85. Das gleiche Urteil findet sich auch in der 2. erg. Aufl. von 1987. Nach meinen bisherigen Forschungen läBt sich sagen, daß die Unterscheidung von „öffentlicher" und „privater Religion" in der Zeit vor Semler nicht vertreten worden ist. Sie findet sich in der Nachfolge Semlers bei einigen, aber keineswegs bei allen Neologen. Sack, Spalding und Jerusalem haben sie nicht vertreten.

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sung, daß Senders Distinktion unzulässig sei, ist 1786, also noch zu Lebzeiten Semlers, in der Leipziger Disputation von Salomo Gottlob Unger De distinctione inter religionem publicam et privatam nuper a S. V. Sentiero proposita, non admitiendo öffentlich ausgesprochen worden. Doch es ist zweifellos richtig, daß es in Semlers Denken bei allem Willen zum wissenschaftlichen Fortschritt und zum Wachstum in der christlichen Privatreligion auch ein konservatives Element gab, das sich als Wertschätzung und Anerkennung der Institutionen äußerte, die im gesellschaftlichen Leben das Christentum repräsentierten und bewahrten. Dies sind die offiziell anerkannten Religionsparteien, das Kirchenrecht und der Staat. Die Kirche wird von ihm nicht nur als die unsichtbare Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen anerkannt. Sie erfährt eine positive Wertung auch als Institution, sofern sie in Wahrnehmung ihrer Verkündigungs- und Erziehungsfunktion die notwendige Voraussetzung und Ausgangsbasis der christlichen „Privatreligion" bildet Gemäß dem geringen Bildungsstand weiter Bevölkerungskreise rechnet Semler damit, daß nur eine kleine Minderheit den Weg zu einer eigenständigen und unabhängigen „Privatreligion" findet. Für die große Mehrzahl der Bevölkerung bleibt die öffentliche und gesellschaftliche „Kirchenreligion" die maßgebende Gestalt des christlichen Glaubens. Aus den genannten Gründen darf die ,.Kirchenreligion", die durch das lutherische oder reformierte Bekenntnis geprägt ist, nicht generell als ein zu überwindendes Stadium in der Entwicklung des christlichen Glaubens betrachtet werden.16 Nach Semlers Urteil muß auch mit der Möglichkeit einer kirchlich-konfessionellen und konservativen Gestalt der Privatreligion und Privattheologie gerechnet werden. In diesem Fall besteht also kein inhaltlicher Gegensatz zur geltenden Kirchenlehre. Semler hat das Phänomen eines konservativen Kirchenchristentums beschrieben, das vom einzelnen ohne innere Anteilnahme übernommen wird und so leicht zu einem bloßen Gewohnheitschristentum absinkt: Alle Christen, die ohne Anwendung eigener moralischer Fähigkeiten und Übungen bloß die öffentlich, schon gemeinschaftliche Lehrform behalten und als ihnen genug bloß wiederholen: machen hiermit die öffentliche Lehrform zu ihrer Privatreligion, welches ihnen freisteht, aber hiermit nicht ein Vorzug wird.17

Im Blick auf die Privatreligion und das Privatchristentum muß also mindestens zwischen zwei Gruppen oder Klassen von Christen unterschieden werden: solchen, die sich mit dem traditionellen Kirchenchristentum begnügen, und solchen, die im lebendigen Glauben wachsen, ihre Erkenntnis und Frömmigkeit vertiefen und fortentwickeln wollen. Mit der Freiheit zur Privatreligion und Privattheologie besteht also die Möglichkeit einer inneren Loslösung von der Kirchenreligion, die bis zu einer weitgehenden Distanzierung führen kann.

16

17

Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 26f. Ebd., S. 235.

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Man kann sagen, daß Semler in seiner Verhältnisbestimmung von Privatreligion und öffentlicher Religion ein Gleichgewicht zwischen der Freiheit zu persönlichem Christentum und der staatsrechtlichen Garantie für den Fortbestand der Religionsparteien zu wahren sucht. Die mündigen, selbständig denkenden und aufgeschlossenen Privatchristen sind die Träger des religiösen und theologischen Fortschritts. Gemäß dem von Semler vertretenen Perfektibilitätsgedanken fördern sie die geschichtliche Entwicklung zu einer größeren Vollkommenheit und stärken den Gedanken einer die Partikularkirchen übergreifenden Universalität des Christentums. Das beharrende Element der bestehenden Kirchenreligion und Kirchentheologie soll auf diese Weise allmählich umgebildet, aber nicht durch eine Separation oder einen offenen Konflikt erschüttert werden. Es ist sehr bezeichnend, daß Semler auch die Verpflichtungen hervorhebt, die das Individuum gegenüber der Gesellschaft und Religionspartei hat, der es angehört. Die Anhänger der Privatreligion werden bei der Vertretung ihrer Glaubensüberzeugung um des Religionsfriedens willen zur Zurückhaltung gemahnt. Sie sollen darauf verzichten, „ihre Privateinsichten ohne Unterschied geradehin ins gemeine chrisdiche Publikum zu bringen".18 Auch wenn die Anhänger der Privatreligion zu neuen Erkenntnissen und tieferen Einsichten vorgedrungen sein sollten, ist es ihnen nicht gestattet, die öffentlichen Religionslehren abzuändern und ihre eigenen Erkenntnisse für alle Kirchenglieder verbindlich zu machen. Die „innere Verbindlichkeit" der eigenen Privatreligion berechtigt nach Semler niemanden dazu, die „äußerliche Obligation" zur geltenden Kirchenreligion in Frage zu stellen oder zu untergraben. Denn der Fortbestand der öffentlichen Religionsgesellschaft wäre gefährdet, „wenn der Inhalt der öffentlichen Lehre und Unterweisung eben so oft geändert würde als oft jemand seine Gedanken in die öffendiche Lehre verwandeln dürfte".19

3. Die Berufung auf das Neue Testament und die Reformation Für sein Verständnis der individuell in verschiedenen Formen auftretenden christlichen Privatreligion hat Semler sich sowohl auf das Neue Testament als auch auf Luther und die Reformation berufen. Die christliche Privatreligion tritt nicht erst mit der Neuzeit und ihrem Individualismus in Erscheinung, sondern sie ist ebenso alt wie das Christentum. Aus der apostolischen Verkündigung ergibt sich die Unvertretbarkeit des einzelnen in der Selbständigkeit seiner Gotteserkenntnis und im Wachstum seines Christusglaubens, der sein ganzes Leben prägen soll. Daher ist und bleibt der Glaube stets eine persönliche Angelegenheit. Niemand kann, wie Semler betont, für eine andere Person glauben, so wenig er für sie essen, trinken, 18

19

Vgl. Semlers Vorrede zu: Thomas Townson, Abhandlung über die vier Evangelien. Zweyter Theil. Leipzig 1784, S. XXVII. Ebd., S. XLIV.

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schlafen oder gesund sein kann. Solches Verständnis des Glaubens als persönliches Gottesverhältnis ist durch die Verkündigung Christi begründet und legitimiert. „Man kann also mit Recht sagen, Christus ist der Urheber der eigenen freien Privatreligion aller Christen; er lehrete eben die Unentbehrlichkeit der eigenen innem Verehrung Gottes für alle dazu fähigen Menschen."20 Beispiele dafür, wie Gott das Gewissen einzelner Menschen so in Bewegung setzt, daß der christliche Glaube und damit „die neue Privatreligion" entsteht, entnimmt Semler Berichten und Aussagen, wie sie z.B. Rom. 9,20 und Apg. 5,38f. vorliegen. Auch der Grundsatz, daß Glaube und Gewissen von menschlichen Bevormundungen frei sein sollen und der Glaubensgehorsam letztlich nur an Gott gebunden ist, findet er im Neuen Testament ausgesprochen.21 Die seit den ersten Anfängen des Christentums praktizierte Privatreligion ist ein Phänomen, das nach Semlers Überzeugung eigentlich gar keiner besonderen theologischen Begründung oder Apologie bedarf. Denn überall dort, wo es zur Annahme des christlichen Glaubens und später zu einem allmählichen Wachstum im Glauben kam, vollzog sich auch der Prozeß einer Individualisierung des Christentums. Weder für den Gesamtumfang der neutestamentlichen Lehre noch für den der kirchlichen Lehre darf der Anspruch auf Heilsnotwendigkeit erhoben werden. Schon die Erforschung der Kanonsgeschichte hat gezeigt, daß während der ersten Jahrhunderte der neutestamentliche Kanon in den einzelnen Kirchenprovinzen einen ganz verschiedenen Umfang hatte. Überdies wurden die Inhalte der christlichen Verkündigung von dem einzelnen immer nur soweit aufgenommen und angeeignet, als sie mit seiner eigenen Erkenntnis und Erfahrung übereinstimmten. Mit Vorliebe zitiert Semler das paulinische Wort von 1. Thess. 5,21 und deutet es in einem generellen Sinne: ,3s haben, ganz unleugbar, alle denkenden Christen, von den Zeiten der Apostel an, dieses Recht gehabt, alles zu prüfen und das ihnen Beste zu behal22

ten . Besonderes Gewicht aber liegt auf dem Nachweis, daß schon das Neue Testament im Rahmen des Christusglaubens einen gewissen religiösen und theologischen Pluralismus legitimiert. Semler sieht solchen Pluralismus - in seiner Terminologie: die urchristliche „Vielfalt" und „Ungleichheit" - dadurch gegeben, daß Jesus und die Apostel bei ihrer Verkündigung den Akkommodationsgrundsatz befolgen und verschiedene „Lehrarten" anwenden, indem sie sich nach der religiösen Herkunft und Aufnahmefähigkeit der einzelnen richten. Dementsprechend zeigen sich in den urchristlichen Gemeinden unterschiedliche Formen der Glaubensaneignung und un20

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Semler, Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 214. Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 7. Vgl. Semlers Vorrede zu: Thomas Townson, Abhandlung über die vier Evangelien. Zweyter Theil. Leipzig 1784, S. XXVII.

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terschiedliche Glaubensüberzeugungen. Semler hat wohl als einer der ersten deutschen Theologen auf jenen tiefgreifenden Gegensatz hingewiesen, der in urchristlicher Zeit zwischen einer gesetzesstrengen judenchristlichen und einer freiheitlich gesonnenen paulinischen Partei bestand.23 Er hat erkannt, daß die geschichtliche Entwicklung des Christentums nicht von einer ursprünglichen Religionseinheit zu einer späteren Vielfalt von Glaubenslehren geführt hat, sondern eher umgekehrt verlaufen ist: von unterschiedlichen christlichen Glaubensüberzeugungen und Frömmigkeitsformen zu einer staatskirchlich reglementierten und überwachten Religionseinheit. Nach Semlers Urteil ist die Reformation eine vornehmlich am paulinischen Schrifttum orientierte Wiederentdeckung des zentralen Gehalts der neutestamentlichen Botschaft und eine berechtigte theologische Kritik der davon abweichenden kirchlichen Lehren und Frömmigkeitsformen gewesen. Er sieht in der Reformation aber auch den Wegbereiter für den religiösen Individualismus „der inneren eigenen Religion", durch den die subjektive Erkenntnis und Erfahrung ein erhebliches Gewicht für das Christsein gewonnen hat.24 Vorbildlich ist das reformatorische Glaubensverständnis, weil ihm zufolge nicht ein formaler Gehorsam gegenüber kirchlichen Autoritäten, sondern nur die lebendige und persönliche Glaubensüberzeugung das Kennzeichen des Christenstandes ist. Mit Luthers entschiedenem Eintreten für die „Glaubensfreiheit" und „Gewissensfreiheit" ist für den Protestantismus die geistliche Bevormundung beendet worden. Es gehört zu den bleibenden Verdiensten Luthers, daß er .jedem Christen die Freiheit zugestund, über die christlichen Begriffe und Wahrheiten selbst zu denken und seinem Gewissen zu folgen".25 Wo Semler Ansätze zu einem die christliche Privatreligion einengenden Konfessionalismus gesehen hat, hat er sich nicht gescheut, auch Luther und Calvin zu

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Semler spricht bei seiner Charakterisierung der urchristlichen Situation wiederholt von „zwei Klassen" oder „zwei Parteien" von Christen, die er gemäß dem neutestamentlichen Sprachgebrauch als „Starke" und „Schwache", geistlich und fleischlich Gesonnene, aber auch als freiheitlich und gesetzlich Denkende einander gegenüberstellt. Es gab eine „Partey jüdischer Christen, welche an ihrem Gesetz sehr eifrig hängen blieben, wovon selbst Apostg. 15 und Gal. 2 hinlänglich Beweise vorkommen. Eben der übertriebene Hass dieser Partey gegen Paulum, setzt schon Pauli sehr ansehnliche Verrichtungen voraus"; vgl. ders., Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 146. Weitere Quellenbelege zu dieser Unterscheidung finden sich im Kap. VII („Der Perfektibilitätsgedanke") der vorliegenden Monographie. Vgl. Semler, Magazin für die Religion, hg. v. Johann Salomo Semler. Zweiter Theil. Halle 1780, Vorrede: „ich denke die Reformation hat in allen Ländern, worin sie stattgefunden hat, diese alte listige oder dumme Vermischung der äusserlichen Religion mit der innern eigenen Religion der einzelnen Christen glücklich aufgehoben". - Vgl. ebd.: „Die Reformation verwarf [...] alle Grundsätze und Theile der bisherigen öffentlichen Religion [Abendmahl in einer Gestalt, Anrufung der Heiligen, Reliquienverehrung, Meßopfer und Fegefeuer], welche man gar nicht aus der Heiligen Schrift einsehen konnte." Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 183. - Vgl. ders., Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 112: Die Reformation hat „die innere Religion oder die Freiheit des Gewissens mit Recht dafür angesehen [...], daß sie keinem menschlichen Befehle unterworfen seyn könne".

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kritisieren. Solche Kritik gilt insbesondere den Bestrebungen, welche die freie Gewissensreligion beseitigen, indem sie der reformatorischen Lehre durch staatliche Zwangsmaßnahmen allgemeine Geltung innerhalb eines Territoriums zu verschaffen suchen und so eine primär politisch motivierte Einheitsreligion etablieren: Selbst die emstliche Empfehlung, welche Luther in der Vorrede zum kleinen Catechismus anbringt: Leuten, die nicht den christlichen Catechismus lernen wollen, muß man sagen, daß der Churfiirst sie nicht im Lande leiden wolle: ist mehr politisch, als christlich.2*

Zu den reformatorischen Grundsätzen rechnet Semler jedoch nicht nur die individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit, sondern auch die Freiheit des wissenschaftlichen Denkens und Forschens. Ob Semler der Meinung ist, daß letztere Freiheit in der ersteren impliziert ist oder sich als Folgerung aus ihr ergibt, läßt sich aufgrund der Formulierungen nur schwer entscheiden. Deutlich ist jedoch seine besondere Wertschätzung der Freiheit des wissenschaftlichen Forschens, das sich als solches ebenfalls vor dem Gewissen zu verantworten hat: Je mehr die Grundsätze der protestantischen Kirchen einem jeden Menschen diese Freiheit des eigenen Denkens und Untersuchens gewähret, wider die papistische vorige Lehrordnung, daß er nun selbst es in seinem Gewissen entscheiden kann: desto liebenswürdiger wurden mir diese Grundsätze.27

Diese Forschungsfireiheit hat nach Semler offenbar eine generelle Bedeutung. Sie gilt nicht nur für Theologie, sondern für alle Wissensgebiete. Zu einer sehr bemerkenswerten Wiederaufnahme und Aktualisierung eines wichtigen Elements der reformatorischen Theologie kommt es durch Semler auch hinsichtlich der „untadelhaften Lehre", welche das Ungeniigen eines bloß „historischen Glaubens" betont und von jedem Christen die Heilsaneignung und den persönlichen Heilsglauben fordert.28 Hier zeigt sich erneut, wie, vermittelt durch die Orthodoxie und den lutherischen Pietismus, auch in der protestantischen Aufklärungstheologie und ihrer Christusfrommigkeit noch reformatorische Erkenntnisse lebendig sind. Wo bloß „historischer Glaube" vorliegt, fehlt nach Semler „unsere eigene Erfahrung", und damit „fehlt die Hauptsache der rechten geistlichen gläubigen Verehrung Christi, als unseres einigen rechten Heilandes. Dies ist doch selbst Christi Lehre und Warnung; seine Worte und Lehren sollen Geist und Leben in uns seyn".29 Der Hallenser Theologe fordert im Unterschied zu den maßgebenden Vertretern des Halleschen Pietismus keinen Bußkampf und keine „Versiegelung", wohl aber ist er der Ansicht, daß man Christ nicht schon von Geburt oder durch die bloße Zugehörigkeit zu einer christlichen Religionspartei sein 26 27 28

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Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 9. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 246. Semler, Neuer Versuch die gemeinnüzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 82; vgl. auch ebd., S.91,127,131,266f., 272 u. 276f. Ders., Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik undDogmatik. Halle 1788, S. 113f. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 234f.

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könne. Erst auf dem Wege der inneren Aneignung des Christusglaubens gewinnt der Christ seine selbständige geistliche Existenz. „Nur aus Nachdenken oder Überlegung wird man ein moralischer Christ; aus Nachdenken kommt der moralische lebendige Glaube, das Gegenteil vom historischen toten, stillstehenden Glauben".30 Was Semler in seinem Verständnis des „historischen Glaubens" von Luther unterscheidet, ist die Erweiterung dieses Begriffs. Bloß „historischer Glaube" liegt nicht nur dort vor, wo man sich mit den historischen Berichten über das Leben und Sterben Jesu begnügt, sondern auch dort, wo man in den Schranken des vorgegebenen und in Lehrbekenntnissen formulierten „Kirchenglaubens" verharrt. Denn mit der gewohnheitsmäßigen und gedankenlosen Zustimmung zur gesellschaftlichen Religionsordnung und zum „historischen Kirchenglauben" darf der lebendige und nachdenkende Glaube der Privatreligion nicht verwechselt werden. Christen, die sich „ihr eigenes Tun und Lassen geradehin von der Kirche vorsagen und bestimmen lassen", verharren noch im Bereich eines nur „historischen Glaubens".31 Von dem reformatorischen, noch stärker aber von dem altprotestantischen Kirchenverständnis der lutherischen Orthodoxie ist Semler insofern abgewichen, als sich in seiner Konzeption eine spiritualistische Tendenz bemerkbar macht. Als eigentliches Ideal erscheint ihm die ecclesia invisibilis, die alle Konfessionsgrenzen überschreitende Kirche der wahrhaft Christusgläubigen, während die sichtbare und institutionelle Kirche wegen ihres in der Vergangenheit immer wieder erhobenen Heirschaftsanspruchs über die Gewissen der Gläubigen sich scharfe Kritik gefallen lassen muß. Die Kirche wird als institutionelle Größe in der Ausübung ihrer Funktionen, in Predigt und Unterricht, auch positiv gewürdigt, aber Anerkennung findet sie nur dann, wenn sie sich dabei als Wegbereiter und Erzieher zur Privatreligion erweist. Semlers Eintreten für die Privatreligion beläßt dem einzelnen Christen seine Individualität und religiöse Freiheit, verstärkt aber damit gewollt oder ungewollt die Entwicklung zur Entkirchlichung des Christentums. Denn in dem Maße wie die christliche Privatreligion und die aus ihr erwachsenden religiösen Gemeinschaftsbildungen ihre Eigenständigkeit gewinnen, existieren neben den drei großen Kirchen, den öffentlich anerkannten Religionsparteien, eine wachsende Zahl von kleineren Gemeinschaften mit unterschiedlichen Formen von christlichen Glaubensüberzeugungen und christlicher Frömmigkeit.

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Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 59. Ebd., S. 62.

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4. Aspekte der Wirkungsgeschichte Bestimmte Aspekte der unmittelbaren Wirkungsgeschichte, als deren wichtigste Station das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 anzusehen ist, sind von dem soeben Gesagten schon angedeutet worden. Mit seinen Begriffsbildungen „Privatreligion", „Privattheologie" und „Privatchristentum" hat Semler nicht nur neue Komposita in die deutsche Sprache eingeführt, sondern damit zugleich auf bestimmte Phänomene aufmerksam gemacht, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts den Prozeß zunehmender Individualisierung und Aufgliederung der Religion kennzeichnen. Diese Entwicklung bleibt nicht auf die Epoche der Aufklärung beschränkt, sondern wirkt bis auf unsere Gegenwart fort. Ihre politische Voraussetzung ist das Recht der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit sowie die von Staat und Gesellschaft praktizierte religiöse Toleranz.32 Die schon von Semler beschriebene Korrelation von öffentlicher konfessionsbestimmter Kirchenreligion und christlicher Privatreligion bleibt während des vergangenen zweihundertjährigen Zeitraums in ihrem Spannungsverhältnis erhalten. Dabei läßt sich beobachten, wie die Privatreligion als persönliche Überzeugung, Erfahrung, Gewißheit und erlebte Frömmigkeit auch in die Welt des Denkens und der Bildung eindringt. Sie überschreitet also mit ihrer Schriftbindung und religiösen Beanspruchung der Bibel den engen Bereich des rein Privaten und drängt insofern auch an die Öffentlichkeit vor, als sie sich in Predigten, Erzählungen, Bekenntnissen und Autobiographien äußern und mit Gleichgesinnten in Vereinsgründungen institutionalisieren und zu neuen christlichen Religionsgesellschaften zusammenschließen kann. Die Privatreligion stärkt durch ihre Betonung der subjektiven Seite des Glaubens das Bewußtsein, daß jedes Individuum unmittelbar vor Gott steht und die Freiheit zur persönlichen Glaubensentscheidung gegenüber der Autorität der Kirche wie auch gegenüber den zeitbedingten Vorstellungen und Mythen der Bibel besitzt. Wo immer solche Privatisierung der Religion stattgefunden hat und stattfindet, zeigt sich in der Veränderung des Sprachgebrauchs und in der Bildung von neuen Kurzformeln des Glaubens, daß ein Wandel im Gange ist. Während die noch

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Die einschlägigen Bestimmungen im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 lauten: Allgemeine Grundsätze § 2 .Jedem Einwohner im Staate muß eine vollkommene Glaubensund Gewissensfreiheit gestattet werden"; § 3 „Niemand ist schuldig, über seine Privatmeinung in Religionssachen Vorschriften vom Staate anzunehmen"; § 4 „Niemand soll wegen seiner Religionsmeinungen beunruhigt, zur Rechenschaft gezogen, verspottet oder gar verfolgt werden"; § 5 .Auch der Staat kann von einem einzelnen Unterthan die Angabe: zu welcher Religionspartey sich derselbe bekenne nur alsdann fordern, wenn die Kraft und Gültigkeit gewisser bürgerlicher Handlungen davon abhängt"; vgl. hierzu Preußisches Allgemeines Landrecht, hg. v. Ernst Pappermann mit einer Einführung von Gerd Kleinheyer. Paderborn 1972, S. 106.

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immer beachtliche Prägekraft der großen christlichen Konfessionskirchen nachläßt, erweist sich die christliche Privatreligion als wirkungsvoll und lebenskräftig. 33

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Vgl. dazu Christoph Schwöbel, Gottes Stimme und die Demokratie, in: Richard Ziegert (Hg.), Die Kirchen und die Weimarer Republik. Neukirchen-Vluyn 1994, S. 40f. Schwöbel betont, daß der in das Erfurter Programm der Sozialdemokratie aufgenommene Satz „Religion ist Privatsache" eine „normative Forderung" darstellt, „die die öffentliche gesellschaftliche und politische Motivations- und Gestaltungskraft der Religion einschränken will, nicht weil sie wirkungslos, sondern weil sie so wirkungsvoll ist". - Eher kritisch beurteilt dagegen Jürgen Hach die Möglichkeit der Privatreligion, angesichts der Theodizeeproblematik eine für jedermann verbindliche Sinnstiftung zustande zu bringen; vgl. ders., Gesellschaft und Religion in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung in die Religionssoziologie. Heidelberg 1980, insb. S. 201f.

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ΥΠ. Der Perfektibilitätsgedanke1

Die theologiegeschichtliche Forschung hat dem von der deutschen Aufklärungstheologie ausgebildeten Perfektibilitätsgedanken und seiner Auswirkung auf die Geschichtstheologie des deutschen Idealismus bisher nur wenig Beachtung geschenkt. Die Eigenart dieses Perfektibilitätsgedankens besteht darin, daß sich in ihm biblisch-refoimatorische Vorstellungen von einem individuellen Wachstum in der Glaubenserkenntnis mit einer Geschichtstheologie verbinden, die von der Überzeugung bestimmt ist, daß der zukünftige Geschichtsprozeß zu einer Fortentwicklung und immer reineren Ausprägung zentraler christlicher Lehren und Erkenntnisse führen wird. Daß der Gedanke einer allmählichen Vervollkommnung des Christentums, der sich seit etwa 1770 in der deutschen Aufklärungstheologie nachweisen läßt, schon nach zwei Jahrzehnten eine zunehmende Anerkennung und Verbreitung fand, ist sicherlich mitbedingt durch den aufklärerischen Zukunftsoptimismus, der von dem Glauben an eine intellektuelle wie sittliche Entwicklungsfähigkeit des Menschen genährt wurde. Die Anerkennung des Gedankens von der Perfektibilität des Christentums signalisiert einen Stimmungsumschwung inneriialb der protestantischen Theologie. Dieser Stimmungsumschwung tritt besonders eindrücklich hervor, wenn zum Vergleich die pessimistische Anthropologie und Geschichtsauffassung der altprotestantischen Orthodoxie herangezogen wird. Denn die altprotestantische Auffassung von der baldigen Vernichtung des Kosmos und dem bevorstehenden Ende der Menschheitsgeschichte ist in der Aufklärungstheologie fast völlig verblaßt und weitgehend ersetzt worden durch die optimistische Hoffnung auf einen unendlichen Geschichtsprozeß, der zugleich mit dem allgemeinen Erkenntnisfortschritt auch eine zunehmende Vervollkommnung des Christentums bringen wird.

1. Der anthropologische und geschichtstheologische Aspekt des Perfektibilitätsgedankens Der Perfektibilitätsgedanke findet sich, obgleich terminologisch nicht näher fixiert, in verschiedenen Versionen und Begründungen in dem umfangreichen Spätwerk Johann Salomo Semlers. Auf die Frage, durch welchen Theologen die entschei-

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Vgl. bereits: Gottfried Hornig, Der Perfektibilitätsgedanke bei J. S. Semler, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 72 (1975), Heft 4, S. 381-397.

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denden Impulse zur Ausbildung und Anerkennung des Perfektibilitätsgedankens im deutschen Protestantismus ausgegangen sind, hat Hirsch mit dem Hinweis auf Semler geantwortet. Der einflußreiche Hallenser Theologe hat dem Protestantismus ein neues, besonderes Licht aufgesetzt: mit seiner Lehre von der Unerschöpflichkeit oder innern Unendlichkeit der christlichen Religion. Sie ist dann unter dem vergröbernden Stichwort der unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit oder Perfektibilität des Christentums der Lieblingssatz der theologischen Generation nach ihm geworden.2

Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, den Gedankenkomplex des älteren Semler, den wir der Kürze halber als ,Perfektibilitätsgedanken' bezeichnen, nach Inhalt und Umfang etwas genauer zu analysieren. Aufgrund der Forschungslage soll dabei unser Interesse weniger dem anthropologischen als dem geschichtstheologischen Aspekt des Perfektibilitätsgedankens gelten. Seinem Umfang nach betrifft der von Semler vertretene Perfektibilitätsgedanke einmal den Bereich der theologischen Anthropologie, weil in jedem Christen mit der Möglichkeit eines Wachstums in der Glaubenserkenntnis und vertieften Glaubensaneignung gerechnet wird, zum andern aber auch den Bereich der Geschichtstheologie und Dogmengeschichtsschreibung, weil die Vervollkommnung ein über das Individuum hinausgehender geschichtlicher Prozeß ist, der das Christentum in seinen Glaubenslehren und konfessionellen Ausprägungen verändern wird. Die von uns vertretene These, daß Semler seinen Perfektibilitätsgedanken nicht nur auf die Möglichkeit einer religiösen Entwicklung des einzelnen Christen, sondern auch auf das Christentum und die christliche Religion in ihren Vorstellungen und Glaubenslehren bezogen hat, bedarf einer Begründung aus den Quellen. Denn diese These ist in der neueren Literatur mehr oder weniger nachdrücklich bestritten worden.3 Diejenigen Faktoren, die einer sachgemäßen Erfassung des von Semler vertretenen Perfektibilitätsgedankens bisher im Weg gestanden haben, bewirken auch eine erhebliche Erschwerung für die Untersuchung und Analyse. Neben dem besonderen Sprachgebrauch und der oftmals ganz unsystematischen Darstellungsweise 2

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Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. 4. Gütersloh 2 1960, S. 86. Trutz Rendtorff erklärt, daß Semler die Perfektibilitätsthese nur „in dem Sinne der besseren und leichteren Aneignung der Religion, nicht aber im Sinne einer Verbesserung der Religion selbst" gekannt habe; vgl. ders., Kirche und Protestantismus bei J. S. Semler, in: ders., Kirche und Theologie. Gütersloh 2 1970, S. 52. Ganz ähnlich lauten dann die Urteile bei Hans-Walter Schütte, Die Vorstellung von der Perfektibilität des Christentums im Denken der Aufklärung, in: Hans-Joachim Birkner/Dietrich Rössler (Hg.), Beiträge zw Theorie des neuzeitlichen Christentums. Berlin 1968, S. 113-126, hier S. 117, sowie bei Hans Wagenhammer, Das Wesen des Christentums. Mainz 1973, S. 223, Anm. 161: „Die Perfektibilität bedeutet bei Semler Offenheit für die je eigene Aneignung, nicht Fortschritt und Entwicklung." - Zutreffend urteilt dagegen Hans-Eberhard Heß, daß bei Semler beide Betrachtungsweisen vorliegen, ,30 daß die aus dem Unendlichkeitsgedanken sich ergebende Vorstellung einer Entwicklung und Vervollkommnung des Christentums sowohl auf den einzelnen Christen als auch auf die Geschichte der christlichen Religion hin ausgelegt werden kann"; vgl. ders., Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 244.

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Semlers wirkt sich erschwerend vor allem der Umstand aus, daß Semler in keiner seiner zahlreichen Schriften jenen Komplex an Theorien und Überlegungen, die den Perfektibilitätsgedanken begründen und entfalten, thematisch und zusammenhängend behandelt hat. Der Gedanke, daß die geschichtliche Entwicklung ein allmähliches Wachstum und eine Vervollkommnung des Christentums bringen wird, klingt in verschiedenen Schriften und Versionen mehrfach an. Daher muß ein großer Teil der Quellen, die aus den beiden letzten Lebensjahrzehnten Semlers (17701791) stammen, herangezogen und der Analyse zugrundegelegt werden.

2. Die Unvollkommenheit der Anfangsgestalt des Christentums Eine wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung des Perfekübilitätsgedankens lag in der historisch-kritischen Einschätzung des Urchristentums und der frühen Kirche, die bei Semler erste Ansätze einer religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise erkennen läßt. Das Christentum gilt ihm als „eine viel vollkommenere Religion" gegenüber dem Judentum und Heidentum.4 Mit dem Hinweis darauf, daß das Christentum gegenüber dem Judentum und Heidentum zwar die spätere, gleichwohl aber vollkommenere Religion sei, bestreitet Semler die Berechtigung von Tertullians Traditionsbegriff. Dieser Traditionsbegriff ist nach Semlers Urteil „ganz falsch", weil er annimmt, daß das Frühere immer das Wahre, das zeitlich Spätere aber immer das Falsche oder eine Korruption des Wahren sein müsse.5 Wenn aber die Vollkommenheit nicht am Anfang einer geschichtlichen Erscheinung liegt, sondern erst in einem langen Entwicklungsprozeß erreicht wird, bedeutet dies im Blick auf die Geschichte des Christentums, daß das neutestamentliche Christentum nicht ohne weiteres schon als die vollkommene Gestalt des Christentums angenommen werden darf. Die Gründe für die Unvollkommenheit der Anfangsgestalt des Christentums liegen nach Semler vor allem darin, daß in dieser Anfangsgestalt noch religiöse Überzeugungen des zeitgenössischen Judentums und Heidentums nachwirken. So erklärt sich die „doppelte Lehrart" der Apostel, die bei ihrer Verkündigung auf die 4

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Hugo Farmer, Versuch über die Dämonischen des Neuen Testamentes. Bremen/Leipzig 1776, Vorrede, S. 36. Vgl. Semlers Vorrede zu: Thomas Townson, Abhandlungen über die vier Evangelien. Leipzig 1783: „Ich habe schon seit langer Zeit einen emsüichen Unwillen wider dergleichen deklamatorische Stellen im Tertullian; sie sind so ganz seine Gewohnheit; er hält sich ganz in Deklamationen; ehrliche Historie hatte er nicht oder wollte sie nicht anwenden. Wir wollen nur kurz es beurteilen, daß der hiesige Grundsatz, quod prius, illud verum; falsum est corruptio veri, ergo est post verum, an sich ganz falsch ist. Heidentum und Judentum ist eher als Christentum." - Semler bezieht sich hier auf das 4. Buch von Tertullians Werk Adversus Marcionem. - Zur Kritik an dem Traditionsbegriff des Irenäus und Tertullian vgl. auch ders., Neuer Versuch die gemeinnüzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu beßrdern. Halle 1786, S. 58.

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Herkunft der Gemeinden und ihren unterschiedlichen Erkenntnisstand Rücksicht nehmen müssen.6 Aus der Nachwirkung vorchristlicher religiöser Überzeugungen erklärt sich aber auch die unübersehbare Differenz zwischen zwei Klassen von Christen, die sich nach Art und Umfang ihrer Glaubenserkenntnis unterscheiden. Denn bei den einen handelt es sich um „Kinder, Anfänger, Ungeübte, schwache Christen", während die anderen als „Vollkommnere" und „auf einer höheren Stufe der Erkenntnis und des Urteils stehende Christen" bezeichnet werden können.7 Dieser Aufteilung in zwei Klassen entspricht der von Semler im Urchristentum konstatierte theologische Gegensatz zwischen einer gesetzesstrengen judenchristlichen und einer freiheitlichen paulinischen Richtung.8 Mit Hilfe seiner Akkommodationstheorie suchte Semler die im Neuen Testament vorhandenen Lehrdifferenzen als eine pädagogisch erforderliche Anpassung der Christusbotschaft an die in den verschiedenen Gemeinden jeweils schon vorhandenen Vorstellungen und religiösen Überzeugungen zu deuten. Für die historische Kritik ergibt sich die Erfahrung einer historischen Distanz zu einem Urchristentum, dessen Gottesglauben noch weitgehend durch bildhafte und anthropomorphe Vorstellungen geprägt ist, das dem Irrtum einer eschatologischen Naherwartung erlegen ist und dessen Heilsverkündigung mit jüdischen und heidnischen „Mythologien" (= Fabeln, Legenden und unhistorischen Berichten) vermengt ist. Von diesen „Mythologien" sagt Semler ganz ähnlich wie Christian Gottlob Heyne, daß sie in die „ Z e i t e n der Kindheit und Unmündigkeit der Religion" gehören.9 Die Erkenntnis der historischen Bedingtheit und Relativität der Anfangsgestalt des Christentums hat Semler veranlaßt, sich 6

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Zum Verständnis der „doppelten Lehrart" der Apostel vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 350. - Ders., Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, Vorrede u. S. 399. Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 174. - Vgl. auch ders., Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788, S. 112. Vgl. Semler, Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 86: .Juden-Christen behielten Gesetz Mosis, Beschneidung, Sabbat mit in ihren Grundartikeln; nahmen auch keine Schriften oder Lehrsätze Pauli an." - Auf den im Urchristentum bestehenden Gegensatz zwischen der gesetzesstrengen judenchristlichen und der freiheitlichen paulinischen Richtung hatte Semler bereits in seinen exegetischen Beiträgen und kanongeschichtlichen Untersuchungen aus den 60er und 70er Jahren mehrfach hingewiesen; vgl. ders., Beiträge zum genauem Verstände des Briefes an die Galater, in; Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der Briefe Pauli an die Galater, Epheser, Philipper, [...], hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1767, S. 891ff., sowie ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, Vorrede; ebd. Halle 1775, Vorrede. Ebd., S. 316. - Vgl. ders., Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Bd. 1. Halle 1773, S. 37; „Die geringen Vorstellungen derer Christen, welche Juden gewesen waren, konnten nicht sogleich veredelt und verfeinert werden; selbst Christus und die Apostel brauchten daher geraume Zeit solche Bilder und Redensarten, welche jenen Liebhabern angenehm und des einheimischen Inhalts wegen sehr lieb waren. Es blieben also dergleichen Hoffnungen und Erwartungen äußerlicher glücklicher Veränderungen, welche bei der nächst erwarteten abermaligen Erscheinung des Christus würden bewerkstelligt werden, unter diesen Judenchristen."

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entschieden gegen die vorherrschende Tendenz zur Idealisierung des Urchristentums zu wenden. Damit widerspricht er der von Orthodoxie und Pietismus vertretenen Grundüberzeugung, daß das Urchristentum für alle späteren Epochen der Kirche, Theologie und Christenheit als vorbildlich und normativ zu gelten habe. Semler wird nicht müde, in immer neuen Formulierungen seine historisch-kritische Auffassung der traditionellen Hochschätzung des Urchristentums entgegenzustellen. Es ist ein großer Irrtum, daß man in der katholischen Kirche es als ausgemacht eingeführt hat, die christliche Religion habe schon zu den Zeiten der Apostel oder der sogenannten ersten Christen ihre ganze je mögliche Vollkommenheit gehabt, sie müsse ebenso von allen Christen ferner nachgeamet und bloß wiederholt werden.

Mit dem Gedanken von der Perfektibilität des Christentums macht sich ein neues, dynamisches und zukunftsgerichtetes Element in der theologischen Geschichtsbetrachtung geltend. Schon im Jahr 1771 formuliert Semler die grundlegende These, die in der Folgezeit zu einem Leitmotiv seiner Einschätzung der Kirchenund Dogmengeschichte geworden ist: ,Aller Anfang bleibt Anfang und ist noch nicht Vollkommenheit."11 Die Epoche des Anfangs kann nicht als das Zeitalter der Vollkommenheit gelten, weil das Christentum eine dynamische, entwicklungsfähige Größe darstellt, die ihren Inhalt erst in einem zukünftigen Geschichtsprozeß vollkommener entfaltet. Das historische Christentum ist nicht perfekt, wohl aber perfektibel. Es ist „eines Wachstums seiner Vollkommenheit fähig".12 Die Vervollkommnung der christlichen Religion zeigt sich sowohl in dem Fortgang von einer bildhaften und anthropomorphen zu einer geistigen Gottesvorstellung und Gottesverehrung als auch darin, daß an die Stelle der judenchristlichen Gesetzlichkeit die durch Christus bewirkte und von Paulus verkündete Freiheit von dem Gesetz tritt.

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Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 181. - Vgl. ders., Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788, S. 115f.: „Können wir jene Vorurteile von dem großen Vorzuge, von der ganzen Vollkommenheit der ersten Christen, von göttlicher Einheit der Summe der Religion, noch immer behalten: da wir immer mehr sehen, daß die Kirche zur Noth einige historische Traditionen fortpflanzen, den Kern und Geist aber der unendlichen christlichen Religion noch gar nicht kannte?" Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 122 (erste Zählung.) - Zu beachten bleibt, daß Semler den in Anlehnung an den französischen Sprachgebrauch (Mirabeau, Diderot, Rousseau, Voltaire) gebildeten Begriff der Perfektibilität nicht verwendet Er spricht stattdessen von einem unendlichen geschichtlichen Wachstum und von einer Entwicklung zu höchster Vollkommenheit. Als anthropologischer und theologischer Fachterminus hat der Begriff der Perfektibilität durch Lessing, Mendelssohn, Reimarus, Johann Nikolaus Tetens, Wilhelm Abraham Teller und spätere Autoren in der deutschen Literatur Verbreitung gefunden; vgl. zu dieser begriffsgeschichtlichen Frage auch Gottfried Hornig, Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 24. Heft 2. Bonn 1980, S. 221— 257. Semler, Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. R. Steinbarts System des reinen Christentums. Halle 1780, S. 52.

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Bestimmte Elemente des neutestamentlichen Christentums werden unter gleichzeitiger Zurückdrängung anderer im Laufe der Entwicklung zu größerer Klarheit und Reinheit durchgebildet. Die Reformation bedeutet zwar eine tiefe Zäsur in dem dogmengeschichtlichen Prozeß, weil sie mit ihrem Schriftverständnis und ihrer Rechtfertigungslehre, ihrem Glaubensbegriff und ihrer Bestreitung der päpstlichen Jurisdiktion sowohl eine vertiefte theologische Erkenntnis als auch eine Legitimierung der Gewissensfreiheit und Privatreligion gebracht hat. Aber auch durch die Reformation ist der geschichtliche Vervollkommnungsprozeß des Christentums noch nicht zum Abschluß gebracht. Er hat lediglich eine neue Entwicklungsstufe erreicht. Daher kritisiert Semler wiederholt und überaus scharf die Auffassung der flacianischen Lutherscholastik, „die Reformation sei vollendet und man müsse bei Luthers Schriften nun stehen bleiben".13 Wenn weder eine Rückkehr zum Urchristentum oder zur alten Kirche noch zur Reformation oder Orthodoxie erfolgen darf, weil keine dieser Epochen der Kirchengeschichte die vollkommene Gestalt des Christentums schon verwirklicht hat, muß sich der Blick über die Gegenwart hinaus auf die Zukunft des Christentums richten. Die fähigen Christen sollen sich durch rechten Vemunftgebrauch von der „Providenz Gottes" leiten lassen und so zu einer vertieften Heilserkenntnis vordringen. Wir sollen ja wachsen in der Erkenntnis Christi und des großen Erfolges, wozu Christus gesendet worden; wir sollen nicht mit jenen Anfängern wissentlich stehen bleiben und die sich anbietende Gelegenheit zu weiteren Erkenntnissen oder Entwicklung und Verknüpfung derselben, als eine tägliche Wirkung der Providenz Gottes gern annehmen.14

3. Der Unendlichkeitsgedanke und das dynamische Offenbarungsverständnis Fragt man nach dem theologiegeschichtlichen Wurzelgrund, der als Nährboden für die Ausbildung des Perfektibilitätsgedankens gedient haben könnte, so wird man wohl vor allem an die bei Leibniz auftauchende Hoffnung auf eine ins Unendliche fortgehende geistige und sittliche Vollendung, aber auch an Speners Hoffnung auf bessere Zeiten für die Kirche zu denken haben. Offenbar lag in diesen Gedanken ein Impuls für die optimistische und zukunftsgerichtete Erwartung der deutschen Aufklärungstheologie hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Kirchen- und 13

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Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 164. - Vgl. auch ders., Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 212. - Weitere Quellenbelege zu Semlers Kritik an der flacianischen Lutherscholastik bei Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Göttingen 1961, S. 119, Anm. 10. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 120 (erste Zählung).

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Christentumsgeschichte. Semler ist zwar ein entschiedener Gegner der pietistischen Idealisierung des Urchristentums gewesen, aber von Spener hat er stets mit größter Hochachtung gesprochen und sich ausdrücklich zu dessen Zukunftshoffnung bekannt. „Ganz und gar gab ich dem unsterblichen Spener und seinen so vielen Freunden recht in der Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche oder [die] ganze christliche Religion."15 In der Anwendung des Unendlichkeitsgedankens auf die Lehre von der geschichtlichen Entwicklung des Christentums sieht Semler jedoch eine eigenständige Leistung und empfindet sie als eine kühne Neuerung im Vergleich zu der bisherigen Betrachtungsweise. „Ich habe wohl zuerst mich erkühnet, die Unendlichkeit der christlichen Religion zu behaupten."16 Die Vervollkommnung des Christentums ist keine kurzfristige Entwicklung von wenigen Generationen, sondern ein unendlicher Prozeß. In ihm wird sich der soteriologische Gehalt der neutestamentlichen Christusbotschaft allmählich entfalten. Als Begründung verweist Semler auf „die Unendlichkeit des Inhalts der Lehre von Jesu", womit vor allem die Bedeutung Jesu Christi als des Heilands und Versöhners der ganzen Menschheit gemeint ist.17 „Was ist denn", so fragt Semler in seiner Autobiographie, die Erlösung des Menschen? Was ist Genugtuung Chrisü? Gibt es über diese unendliche Sache und geistliche Wohlfahrt nur eine einzige Beschreibung? Ich denke nicht; weil die Beschreibung der geisüichen Gefangenschaft so mannigfaltig werden kann: so ist also auch die Beschreibung dieser geistlichen Wohltat Christi und der erwünschten wahren Teilnehmung daran ebenso vielfach möglich.18

Was sich ins Unendliche entwickelt, sind also nicht nur die Lehren und Ausdrucksweisen im Bereich der Christologie und Soteriologie, sondern ebenso auch im Bereich der theologischen Anthropologie. Bei dem geschichtlichen Vervollkommnungsprozeß handelt es sich um eine ,4ns Unendliche fortgehende Summe von Vorstellungen", die den Rahmen von direkten Schriftauslegungen sprengen.19 Es lag in der systematischen Konsequenz des Unendlichkeitsgedankens, daß seine Anwendung auf die geschichtliche Entfaltung der neutestamentlichen Heilsbotschaft auch den Offenbarungsbegriff dynamisieren mußte. Der Begriff der göttlichen Offenbarung mußte auf den Geschichtsprozeß als ganzen, auf die vergangene wie zukünftige Entwicklung des Christentums bezogen werden. In auffälligen Formulierungen seiner Spätwerke hat Semler diese Ausweitung des Offenbarungsbegriffes vollzogen. Neben der „biblischen Offenbarung" muß eine „noch immer 15

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Semler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, Vorrede b3. Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 216. Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 13. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 290. Semler, Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik und Dogmatik. Halle 1788, S. 28; vgl. ebd., S. 44 u. 46.

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fortgehende Offenbarung für jetzige Menschen" angenommen werden.20 Gottes Offenbarung ist nicht auf vergangene geschichtliche Heilsereignisse beschränkt und mit ihnen endgültig abgeschlossen, sondern vielmehr als ein fortlaufender geschichtlicher Prozeß zu denken. Die Dynamisierung des Offenbarungsbegriffes bedeutet jedoch keineswegs, daß der zukünftige Entwicklungsprozeß die Einmaligkeit der Heilsereignisse, die als Versöhnung und Erlösung durch Jesu Christi Leben, Sterben und Auferstehung wirksam geworden sind, relativiert Denn die Botschaft von der durch Jesus Christus bewirkten Versöhnung und Erlösung soll ja gerade in ihrem Gehalt für die sich ständig verändernden Bedingungen des menschlichen Daseins entfaltet werden. In bewußter Abweichung von dem traditionellen dogmatischen Offenbarungsverständnis erklärt Semler, daß „die Vorstellung von göttlicher Offenbarung, welche freilich in den Urkunden der ersten Christen der Sache nach ganz gewiß enthalten ist", doch „nur als Anfang, als άρχή einer unendlich fortgehenden moralischen Schöpfung" gedacht werden kann.21 Semler hat seine Konzeption der Offenbarungslehre eng mit der Pneumatologie verbunden. Die in der Geschichte fortgehende Offenbarung Gottes soll als eine Wirkung des göttlichen Geistes und als eine Erweiterung und Vertiefung der christlichen Glaubenserkenntnis verstanden werden. Der offenbarungstheologische Grundsatz besteht demzufolge in der Überzeugung „von nicht bloß ehemaliger historischer, sondern fortgehender moralischer Offenbarung und Belehrung Gottes durch seinen Geist".22 Das Subjekt der Entwicklung, welches den Gehalt der neutestamentlichen Christusoffenbarung entfaltet und damit den Prozeß der Vervollkommnung des Christentums vorantreibt, ist für Semler der die Geschichte lenkende Gott. Mit der Anerkennung der durch Jesu Christi Tod und Auferstehung geschehenen Versöhnung und Erlösung bleibt zwar für jedes zukünftige Christentum die Kontinuität mit dem neutestamentlichen Christentum erhalten, aber es gibt doch „geistliche vollkommnere Absichten Gottes", die in der Geschichte erst allmählich realisiert werden, und es gibt den Geist Christi, der ,4ns Unendliche" fortgeht.23 In dieser Fassung der Perfektibilitätstheorie finden sich bei Semler bereits Anklänge an die später von Schleiermacher vertretene Konzeption von dem in der Gemeinde waltenden und die Entwicklung vorantreibenden „Gemeingeist". Der von Gott geleitete Geschichtsprozeß beinhaltet als Vervollkommnungsprozeß des Christentums eine vertiefte christologische und soteriologische Glaubenserkenntnis und eine fortdauernde Erfahrung der Wirkungen, die von dem Heilswerk Jesu Christi, den 20

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Semler, Zusäze zu Lord Barringtons Versuch über das Christentum und den Deismus. Halle 1783; vgl. S. 129-153, zit. S. 130. Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, Vorrede. Semler, Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 126. Semler, Neuer Versuch die gemeinnüzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 268.

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beneficia Christi, ausgehen. Daher spricht Semler „von der Unendlichkeit der neuen Wohltaten, die Gott durch Christum und den Heiligen Geist immer mehr wirklich befördert".24

4. Die Entwicklung zur Liebesreligion und die Auflösung der Konfessionskirchen Der geschichtliche Prozeß einer allmählichen Vervollkommnung des Christentums wird von Semler nicht verstanden im Sinne einer fortschreitenden Fixierung oder gar Dogmatisierung der kirchlichen Lehre, auch nicht als zunehmende Bestätigung einer der Konfessionskirchen, sondern eher als Prozeß einer Auflösung der gegenwärtig noch bestehenden konfessionellen Lehrgegensätze. Dieses Ziel läßt sich jedoch weder durch die Rückkehr zum neutestamentlichen Ursprung verwirklichen noch durch die Anerkennung der Lehren irgendeines Stadiums der bisherigen Dogmengeschichte. Den calixtinischen Plan einer Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen durch den Rückgang auf die Lehrübereinstimmung der ersten fünf Jahrhunderte (consensus quinquesaecularis) hat Semler verworfen, weil nicht vorausgesetzt werden darf, „daß die ganze höchste Vollkommenheit der christlichen Religion vor unserer Zeit schon dagewesen" sei.25 Die Vollkommenheit der christlichen Religion, die zu einer Relativierung des Wahrheitsanspruches der gegenwärtig noch miteinander konkurrierenden Konfessionskirchen führen wird, liegt in der Zukunft, welche den unendlichen Inhalt der christlichen Religion allmählich entfaltet. Der Inhalt der christlichen Religion kann sich ,4ns Unendliche entwickeln, und alsdenn kann er alle einzelnen historischen Religionen in sich auflösen".26 Die zukünftige Entwicklung wird nicht nur die Integration aller christlichen Religionen und Konfessionskirchen in der Gestalt eines überkonfessionellen Christentums bringen, sondern darüber hinaus auch die Fortbildung des Christentums zu einer alle Menschen umfassenden universalen Menschheitsreligion. Der Entwicklungsprozeß zielt auf die Verwirklichung einer Liebesreligion, die aus den Quellen der empfangenen Liebe Gottes und Gnade Christi lebt, das gegenseitige Verhalten bestimmt und alle Christen zur Gemeinschaft des Heiligen Geistes zusammenschließt. „Nun wird das Gebot der Liebe, zum Vorteil aller Menschen, die Hauptsache der Christen wieder werden, mit Ausrottung aller Vorurteile, als seie die Kirchenlehre

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Semler, Ueber historische, geselschafiliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 213. Semler, Neuer Versuch die gemeinnäzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 79. - Vgl. auch ders., Ueber historische, geselschafiliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 22: „Nie ist die christliche Religion schon auf der höchsten Stufe ihrer Vollkommenheit" Semler, Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 211.

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die Hauptsache."27 Die Annahme, daß die zukünftige Gestalt des Christentums eine von der göttlichen Agape geprägte universale Liebesreligion sein werde, mußte die konfessionsauflösenden und unionistischen Tendenzen verstärken. Denn die noch bestehende Aufteilung der Christenheit in Konfessionskirchen, die durch Lehre und Bekenntnis voneinander geschieden waren, konnte nun als ein bloßes Durchgangsstadium der geschichtlichen Entwicklung betrachtet werden. Die Theorie von der Perfektibilität des Christentums impliziert eine Relativierung der gesamten bisherigen Dogmen- und Theologiegeschichte. Sie zeigt das auf die Zukunft gerichtete optimistische Fortschrittsdenken der Aufklärungstheologie und bildet den Nährboden für die idealistische Geschichtstheologie. Die Dynamisierung des Offenbarungsbegriffs und die Pneumatologie Semlers sind Elemente gewesen, die von einer idealistischen Geschichtstheologie aufgenommen werden konnten. Gewiß wird man einwenden dürfen, daß es nicht Semlers Absicht war, christliche Glaubenserkenntnis in allgemeinmenschliche Erkenntnis oder Theologie in Philosophie aufzulösen. Aber er hat doch gegen Ende seines Lebens hervorgehoben, daß das sukzessive Wachstum in der christlichen Glaubenserkenntnis eine Parallele in dem allgemeinen menschlichen Erkenntnisfortschritt besitzt.28 Damit war die Aufgabe gestellt, unter dem Aspekt des göttlichen Geschichtshandelns diese beiden auf die Vollkommenheit zustrebenden Erkenntnisprozesse zueinander in Beziehung zu setzen.

5. Beobachtungen zur Wirkungsgeschichte des Perfektibilitätsgedankens Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf die unmittelbare Wirkungsgeschichte der theologischen Rede von der Perfektibilität des Christentums geworfen werden. In welchem Maße diese Wirkungsgeschichte innerhalb des deutschen Protestantismus teils von Semler, teils aber auch von Lessing abhängig ist, bedarf noch einer genaueren Prüfung, die hier im einzelnen nicht geleistet werden kann. Wichtige Belege sprechen jedoch dafür, daß Semlers Gedanken in dieser Wirkungsgeschichte eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Der Berliner Propst und Oberkonsistorialrat Wilhelm Abraham Teller, der in seiner Schrift Die Religion der Vollkommnern (1792) den Perfektibilitätsgedanken thematisiert, beruft sich dabei sowohl auf Semler als auch auf Lessing. Für Teller vollzieht sich der individuelle Prozeß des tieferen Eindringens in den christlichen Glauben wie der geschichtliche Prozeß der Vervollkommnung des Christentums in drei Stadien. Er beginnt mit 27

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Semler, Neuer Versach die gemeinnäzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 283. Semler, Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. v. Chrisüan Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 86.

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dem „unmündigen Christenalter", in welchem der Glaube auf Autorität hin angenommen wird, führt über das Stadium des Glaubens aus eigener Einsicht und gelangt schließlich zu einem Stadium, in welchem der Glaube in ein praktisches Wissen übergeht. Die Idealgestalt des „reinen Christentums" liegt weder in irgendeinem Buch noch in einem kirchlichen System, sondern in der Aussage von Joh. 4, 24 vor, daß man den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten solle.29 Daß der von Semler vertretene Perfektibilitätsgedanke im theologischen wie philosophischen Bereich nachhaltig gewirkt hat, ist besonders von dem Philosophen Wilhelm Traugott Krug (1770-1842), dem Nachfolger Kants auf dem Königsberger Lehrstuhl hervorgehoben worden. In einer anonymen Schrift aus dem Jahre 1795 hat er dem verstorbenen Semler das Verdienst zugesprochen, als erster „den großen Gedanken von der fortschreitenden Vervollkommnung der geoffenbarten Religion" öffentlich aufgestellt zu haben. Krug mißt dem Perfektibilitätsgedanken Semlers eine zentrale Bedeutung und erhebliche theologiegeschichtliche Wirkung zu. Denn „dieser Grundsatz war es eigentlich, durch welchen in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts die Wiedergeburt der Theologie [...] so glücklich eingeleitet wurde".30 Auch Schleiermacher, von dem Hirsch mit Recht festgestellt hat, er sei „der eigentliche vollmächtige Erbe Semlers" gewesen,31 hat den Perfektibilitätsgedanken mit bestimmten Modifikationen in sein organisches Geschichtsverständnis übernommen. Es gibt im Verlauf der Kirchen- und Dogmengeschichte ein allmähliches Fortschreiten zu besserer und vollkommenerer Erkenntnis. „Denn auch der Sinn für das wahrhaft Apostolische ist, wie die Geschichte lehrt, eine in der Kirche sich allmählich steigernde Geistesgabe [~.]".32 Irrtümer und Unvollkommenheiten, die in der Kirche vorhanden sind, werden durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes ans Licht gezogen und überwunden. Wenn aber die Möglichkeit zu einer Vervollkommnung von Erkenntnis und Sitte, Kirchensprache und Lehre besteht, dann darf von einer „Perfectibilität der Kirchengemeinschaft" gesprochen werden.33 Diese Perfektibilität gilt sowohl für die katholische als auch für die evangelische Kirche. 29

Wilhelm Abraham Teller, Die Religion der Vollkommnern. Berlin 1792, S. 70. - Ob man mit Schütte behaupten darf, daß die Vorstellung von der Perfektibilität des Christentums „ihre erste gedankliche Präzisierung und damit ihre theologische Wirksamkeit" durch Teller erhalten habe, erscheint doch höchst zweifelhaft, wenn man die von Teller zugestandene Abhängigkeit seines Perfektibilitätsgedankens von den entsprechenden Vorstellungen bei Semler und Lessing beachtet; vgl. Hans-Walter Schütte, Die Vorstellung von der Perfektibilität des Christentums im Denken der Aufklärung, in: Hans-Joachim Birkner/Dietrich Rössler (Hg.), Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums. Berlin 1968, S. 116.

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Vgl. Wilhelm Traugott Krug, Briefe über die Perfektibilität der geoffenbahrten Religion. Jena/Leipzig 1795, Vorrede, S. Vlllf. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. 4. Gütersloh 2 1960, S. 88. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, hg. v. Martin Redeker. Bd. 2. Berlin 'i960, S. 298 (§ 130,4). Ders., Sämmtliche Werke. Abt. 1. Bd. 12. Berlin 2 1884, S. 126.

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In sachlicher Übereinstimmung mit der Auffassung des älteren Semler sieht Schleiermacher es als ein Mißverständnis an, wenn man sagen wollte, „die Reformation sei die letzte Vollendung des Christentums gewesen, die evangelische Kirche allein enthalte nur Wahrheit und über sie hinaus sei keine Steigerung mehr denkbar".34 Vielmehr muß davon ausgegangen werden, „daß der Lehrbegriff unserer Kirche nicht etwas durchaus Feststehendes, sondern im Werden" begriffen ist.35 Daß die Kirche der Entwicklung und Vervollkommnung des Christlichen Raum gewährt und damit sich selbst als ein „bewegliches Ganzes" darstellt, ist nach Schleiermachers Urteil ein besonderes Kennzeichen des evangelischen Kirchenverständnisses. Neben der Übereinstimmung mit den Grundgedanken seines Hallenser Lehrers ergibt sich für Schleiermacher freilich auch eine charakteristische Differenz zu Semler, die in der veränderten philosophischen und theologischen Situation begründet liegt. Während Semler noch um die Anerkennung seines Perfektibilitätsgedankens ringen mußte, erfreute dieser sich eine Generation später bereits allgemeiner Beliebtheit und erfuhr mancherorts eine Ausweitung und Anwendung auf die geistige und kulturgeschichtliche Entwicklung. Daher mußte seitens der evangelischen Theologie Stellung bezogen werden gegenüber einer Auffassung, die auch das Christentum nur noch als Durchgangsstufe in dem fortschreitenden geistigen und religiösen Entwicklungsprozeß begreifen wollte. In dieser neuen Frontstellung steht Schleiermacher. Daher bemüht er sich, verständlich zu machen, daß an der Heilsbedeutung Jesu Christi und an der Eigenart des Christentums als Erlösungsreligion festgehalten werden muß. Eine Perfektibilität des Christentums gibt es daher nur in der fortschreitenden Erkenntnis des unerschöpflichen Inhalts, der in der Christusoffenbarung begründet liegt. Dagegen würde die Annahme einer Vervollkommnungsfähigkeit der christlichen Lehre, welche über Christus hinausführt, das Christentum als Erlösungsreligion auflösen und uns ,4er eigentümlichen Würde Christi" berauben.36 Schleiermacher hebt also die Grenzen hervor, die dem Gedanken einer Vervollkommnung des Christentums gezogen sind Innerhalb der Grenzen, die zur Wahrung der Identität des Christentums zu beachten sind, darf und soll der Perfektibilitätsgedanke jedoch Anerkennung finden. Dies kommt auch in den Grundbestimmungen der Ekklesiologie Schleiermachers deutlich zum Ausdruck. Denn es gehört zum Wesen der christlichen Kirche, daß sie als ein „bewegliches Ganzes" gedacht wird, „das der Fortschreitung und Entwicklung fähig ist, nur [...]

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36

Ebd., S. 384. Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, hg. v. Martin Redeker. Bd. 2. Berlin 'i960, S. 144 (§ 25,2a). Ebd., S. 112 (§ 103,2).

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daß jede Fortschreitung nichts sein kann, als ein richtiges Verstehen und vollkommeneres Aneignen des in Christo Gesetzten".37 Der Perfektibilitätsgedanke hat in verschiedenen Gestalten und Ausformungen in der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts fortgewirkt. Wo man der Überzeugung war, daß der gesamte geistige Entwicklungsprozeß von Gott geleitet und vorangetrieben wird, konnte der Perfektibilitätsgedanke auch zur Rechtfertigung der immer erneuten Synthesen von evangelischer Theologie und idealistischer Philosophie verwandt werden. Eine Deutung der Perfektibilitätstheorie, welche diesen Aspekt als ihr eigentliches Anliegen und ihren besonderen Vorzug herausstellt, hat Oberkonsistorialrat und Generalsuperintendent Karl Gottlieb Bretschneider gegeben: Die Eigenschaft der christlichen Religion, oder vielmehr des Systems ihrer Glaubenslehre, nach welcher sie zu einem mit den Fortschritten der Philosophie einstimmigen Sinn gedeutet werden kann, nannte man die Perfectibilität des Christentums.38

Unter denen, die den Perfektibilitätsgedanken positiv aufgenommen und zur Deutung der geschichtlichen Entwicklung des Christentums verwandt haben, ist auch Christoph Friedrich von Ammon zu nennen, der als Theologieprofessor in Erlangen und Göttingen tätig gewesen ist. In seinem vierbändigen Werk Die Fortbildung des Christenthums zur Weltreligion (1833) behauptet er ähnlich wie Semler die Unvollkommenheit der Anfangsgestalt des Christentums. Die Perfektibilität bedeutet, daß das Christentum in dreifacher Hinsicht einer Vervollkommnung fähig und bedürftig ist: Das Christenthum ist daher perfectibel nach seinem Zusammenhange mit dem A. T., dessen großer Theil von ihm ausdrücklich, als veraltet, außer Kraft gesetzt ist; es ist perfectibel nach der Individualität, mit der es schon von seinen ersten Lehrern erfaßt, in Schrift und Rede gekleidet und ausgedrückt wurde; es ist endlich perfectibel nach den historischen, dogmatischen und moralischen Gegensätzen, die es in seinen ältesten Urkunden entweder wirklich darbietet, oder doch darzubieten scheint.39

Ammon, der das von Jesus Christus begründete Reich Gottes für das Wesen des Christentums hält, knüpft die Fortbildung des Christentums zur universalen Weltreligion für alle Erdenvölker an die Bedingung, daß in ihm alle Lehren „geläutert und von den rein evangelischen Grundsätzen Jesu durchdrungen werden".40 37

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Ders., Sämmtliche Werke. Abt. 1. Bd. 12. Berlin 2 1884, S. 72. - Schleiermachers Zurückhaltung gegenüber der Verwendung des Perfektibilitätsbegriffs erklärt sich offenbar als Reaktion gegenüber einer Ausweitung dieses Begriffs auf einen Prozeß, der die Identität des Christentums als Erlösungsreligion aufzulösen drohte. Karl Gottlieb Bretschneider, Handbuch der Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Bd. Ì.Leipzig 3 1828,S. 73. Christoph Friedrich von Ammon, Die Fortbildung des Christenthums zur Weltreligion. Bd. 1. Leipzig 1833, S. 98. Ebd., S. 281.

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Grundsätzlich konnten sehr verschiedene Ideale und Zielvorstellungen für den geschichtlichen Prozeß der Vervollkommnung des Christentums geltend gemacht werden. In dem Jahrzehnt nach dem Tode Schleiermachers und Hegels verstärkte sich eine rationalistische Kritik, die sich des Perfekübilitätsgedankens bemächtigt hatte, um die erstrebte Entwicklung zu einem weitgehend dogmenfreien, praktischen Christentum zu rechtfertigen. Eduard Zeller, der Schwiegersohn von Ferdinand Christian Baur und spätere Berliner Philosoph, wollte in die aktuelle theologische Auseinandersetzung eingreifen, als er 1842 den ersten Jahrgang der von ihm herausgegebenen Tübinger Theologischen Jahrbücher mit einem Aufsatz über das Thema „Die Annahme einer Perfektibilität des Christentums" eröffnete. Er ist ähnlich wie Krug der Auffassung, daß Semler den „Hauptanstoß" zu einer wissenschaftlichen Begründung des Perfekübilitätsgedankens gegeben hat.41 Die Vervollkommnung des Christentums, die Semler als geschichtlichen Prozeß erwartet, besteht nach Zellers Interpretation darin, „daß der moralische Inhalt der christlichen Lehre immer reiner herausgearbeitet" wird, während gleichzeitig zeitgeschichtlich bedingte Einkleidungen und aus unterschiedlichen völkischen Traditionen stammende Vorstellungen „immer vollständiger abgestreift" werden.42 Semlers Perfektibilitätsgedanke hat nach dem Urteil Zellers eine folgenreiche Wirkungsgeschichte gehabt, weil man sich „bis in unsere Tage herein um die Wette bemühte, sein Ideal von geistlichem Christenthum durch immer vollständigere Aufklärung und Ausleerung der Dogmatik möglichst zu realisieren".43 Da der Perfektibilitätsgedanke in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vor allem von verschiedenen Richtungen eines theologischen Rationalismus rezipiert worden war, lag es nahe, im Rückblick auf die Geschichte dieses Gedankens nun auch Semler dem theologischen Rationalismus zuzuordnen: Dies ist 1839 durch August Tholuck44 und bald darauf auch in dem oben genannten Aufsatz von Eduard Zeller geschehen. So hatte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein stark verkürztes und recht einseitiges Bild von Semlers Perfektibilitätsgedanken ergeben. Daß die Anliegen und Intentionen des Hallenser Theologen nun von späteren rationalistischen Interpretationen des Perfekübilitätsgedankens nicht mehr deutlich geschieden wurden, erklärt sich wohl einerseits aus einer unzureichenden Quellenkenntnis und andererseits aus dem Verzicht auf eine genaue Analyse von Semlers Sprachgebrauch, die sowohl bei seinem Vernunftbegriff als auch bei seinem weitgefaßten Begriff des Moralischen unbedingt erforderlich ist. Denn die von Semler erstrebte geistliche oder , .moralische Religion" zielt weder auf einen Rationalismus oder ein plattes Vernunftchristentum noch hat sie etwas mit einem Moralismus 41 42 43 44

Theologische Jahrbücher, hg. v. Eduard Zeller. Bd. 1. Tübingen 1842, S. 14. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. August Tholuck, Vermischte Schriften größtentheils apologetischen Inhalts. Bd. 2. Hamburg 1839, S. 53.

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oder einer Beschränkung des Christlichen auf sittliches Handeln zu tun. Die sich in einem unendlichen Entwicklungsprozeß vollziehende Vervollkommnung des Christentums ist für ihn vielmehr die Entfaltung des soteriologischen Gehalts der Christusbotschaft. Daß dem Perfektibilitätsgedanken Semlers eine klare begriffliche Ausprägung und prägnante Formulierung fehlte, daß er verschiedene Deutungen zuließ, ist offenbar der theologiegeschichtlichen Wirkung dieses Gedankens eher förderlich als hinderlich gewesen. Der Perfektibilitätsgedanke konnte über diese Gestalt hinaus, die er bei Semler erhalten hatte, weiterentwickelt und in umfassende geschichtstheologische Konzeptionen eingebettet werden. So ist man von dem Gedanken einer Perfektibilität des Christentums, die eine Vervollkommnung des christlichen Bewußtseins, der kirchlichen Sitte, Sprache und Lehre bringen sollte, zu dem Gedanken weitergeschritten, daß die Perfektibilität den gesamten Geschichtsprozeß betrifft, durch den Gott oder der absolute Geist sich in Überwindung und Versöhnung aller Gegensätze immer vollkommener zur Geltung bringt. Nach Hegel herrscht in allen Veränderungen, die auf dem geistigen Boden vorgehen, „der Trieb der Perfectibilität". Wenn er es gleichwohl ablehnt, diesen Begriff zu verwenden, so deshalb, weil er ihm noch zu unbestimmt ist.45 Dennoch wird man sagen dürfen, daß Hegel wesentliche Elemente des mit dem Perfektibilitätsbegriff gemeinten Sachverhalts in seine vom Entwicklungsbegriff bestimmte Geschichtsphilosophie aufgenommen hat.

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Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Stuttgart "1961 (Sämtliche Werke. Bd. 11), S. 89: „In der That ist die Perfectibilität beinahe etwas so Besümmungsloses als die Veränderlichkeit überhaupt; sie ist ohne Zweck und Ziel, wie ohne Maaßstab für die Veränderung: das Bessere, das Vollkommnere, worauf sie gehen soll, ist ein ganz Unbestimmtes."

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Vili. Orthodoxie und Textkritik. Die Kontroverse zwischen Johann Melchior Goeze und Johann Salomo Semler1

1. Thematik und theologiegeschichtliche Bedeutung der Kontroverse Ein Jahrzehnt vor dem Fragmentenstreit mit Lessing hat der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze eine leidenschaftliche Kontroverse mit dem Hallenser Theologieprofessor Johann Salomo Seniler ausgetragen. In dieser Auseinandersetzung, die 1765 mit einer Streitschrift Goezes eingeleitet wurde und die aus wissenschaftlichen wie aus theologiegeschichtlichen Gründen Beachtung verdient, ging es thematisch um den Quellenwert des griechischen Neuen Testaments der Complutensischen Bibelausgabe, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf Veranlassung des Kardinals Ximénes von spanischen Gelehrten der Universität Alcala erstellt und 1520 herausgegeben worden war. Eines der selten gewordenen Exemplare dieser sechsbändigen spanischen Polyglotte befindet sich in der Bibelsammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Handelt es sich also bei unserem Thema um eine gelehrte Kontroverse historischer und philologischer Art, an der nur einige Spezialisten unter den zeitgenössischen Exegeten Anteil nehmen konnten und die etwas abseits lag von den aktuellen Fragestellungen, die mit dem Vordringen der Aufklärung die protestantische Theologie in Deutschland bewegten? Auf den ersten Blick mag dies so scheinen, weil es zunächst um die Klärung schwieriger historischer Sachverhalte, um Abhängigkeiten, Einschübe und Textvarianten, also um Fragen der neutestamentlichen Textüberlieferung und Textkritik ging. Schon bald aber zeigte es sich, daß in dieser Kontroverse zugleich um unterschiedliche dogmatische Positionen sowie um die Bedeutung neuer Fragestellungen und Methoden für die Theologie gerungen wurde. Daher wird man die Goeze-Semler-Kontroverse wohl auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen sehen müssen, in denen sich die lutherische Spätorthodoxie gegen die stärker werdenden Kräfte der Neologie und der historisch-kritischen Aufklärungstheologie zu behaupten suchte.

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Vortrag am 10. Oktober 1986 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Vgl.: Gottfried Hornig, Orthodoxie und Textkritik. Die Kontroverse zwischen Johann Melchior Goeze und Johann Salomo Semler, in: Heimo Reinitzer/Walter Spam (Hg.), Verspätete Orthodoxie. Über D. Johann Melchior Goeze (1717-1786). Wiesbaden 1989, S. 159-177.

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2. Zur Vorgeschichte der Kontroverse Die Kontroverse hat eine Vorgeschichte, die Erwähnung verdient, weil und sofern sie das Verständnis des Gesamtverlaufs der langjährigen Auseinandersetzung erleichtert. Seit seiner Hallenser Magisterdisputation im Jahre 1750 hatte sich Semler intensiv mit Fragen der neutestamentlichen Textkritik beschäftigt. Von einem Verteidiger der auch in Halle vertretenen Auffassung von der generellen Zuverlässigkeit der überlieferten Textgestalt des griechischen Neuen Testaments war Semler allmählich zu einem kritisch abwägenden Urteil gelangt. Vor allem bestritt er seit Ende der 50er Jahre, wie dies englische Gelehrte (Thomas Emlyn, William Whiston) schon vor ihm getan hatten, die Echtheit des Comma Johanneum. Das Quellenstudium, der Rückgang auf die ältesten griechischen Handschriften und die genaue Prüfung der Veränderung in der Überlieferung des neutestamentlichen Textes sind für Semler seit Antritt seiner Hallenser Professur keine peripheren Beschäftigungen, sondern Fragen von wissenschaftlichem Rang, weil sie der Wahrheitsfindung dienen und auf Irrtümer, Fehler und Vorurteile in der kirchlich-theologischen Lehrtradition aufmerksam machen. Daß sich hier ein echtes wissenschafdiches Pathos äußerte, läßt sich unschwer schon 1762, also drei Jahre vor Beginn der Kontroverse mit Goeze, erkennen. Semler publizierte damals einen dreiteiligen Aufsatz mit dem Titel Anmerkung über die lange Fortdauer mancher irrigen Meinungen über die Stelle 1. Joh. 5,7. In deudicher Kritik an einer exegetisch-dogmatischen Lehrtradition, die von Johann Gerhard über Johann Albrecht Bengel bis zu dem verehrten Lehrer und Freund Siegmund Jacob Baumgarten und der zeitgenössischen Theologie reicht, erklärt Semler: Wenn man insbesondere auf diejenigen Schriften siehet, welche nach und nach zur Verteidigung der echten Beschaffenheit dieser Stelle [1. Joh. 5,7] herausgegeben worden: so muß man sich wundern über die eifrige Heftigkeit auf der einen Seite, womit man solche Verteidigung vorgenommen und auf der anderen Seite über den Mangel der Gründlichkeit und des freien, zur Untersuchung einer bloß historischen Sache nötigen Nachdenkens [...] Überhaupt fehlt es den allermeisten Gottesgelehrten an der ganz unentbehrlichen Bekanntschaft mit der Kritik oder2genaueren Historie des griechischen Textes; sie hingen bloß an den gedruckten Ausgaben. 2

Semler, Anmerkung über die Fortdauer mancher irrigen Meinungen über die Stelle 1. Joh. 5,7, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen. Nr. 51 (20. December 1762), Sp. 813. - Zwei Jahre später hat Semler diese lutherische Tradition einer unkritisch verfahrenden Behauptung und Verteidigung von 1. Joh. 5,7 folgendermaßen charakterisiert: „Eine sehr umständliche Sammlung und Untersuchung vieler hierher gehörigen Dinge findet man in des berühmten Doct. Johann Gerhards bekannter disputatione theologica über 1. Joh. 5,7. Diese Abhandlung ist mehrmalen gedruckt, auch, zumal in unsern Kirchen, der vornehmste Grund worden, von nachheriger fast allgemeiner Behauptung dieser Stelle: weil man sich in eigene Untersuchungen schon geraume Zeit her nicht selbst einließ und das Ansehen berühmter Gottesgelehrten in der Tat zuviel Platz genommen hatte. Gerhard hat viel Fleiss bewiesen; allein in manchen Stücken zu wenig critisch und zu viel auf dogmatische Art geschrieben, ehe die historischen und philologischen Grundsätze ihre vollständige Beschaffenheit oder erweisliche Gewißheit

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Von Johann Melchior Goeze, dem Kontrahenten Semlers, wissen wir, daß er ein vorzüglicher Kenner und Sammler von wertvollen Bibelausgaben gewesen ist. Doch wäre zu fragen, ob seine Bibliophilie und sein Offenbarungsverständnis nicht auch eine Tendenz zur Bibliolatrie, zur Identifizierung des geschriebenen und gedruckten Bibelbuchstabens mit dem Wort Gottes gehabt haben. Die Bibel galt ihm als das geschriebene Wort Gottes, als die geschriebene göttliche Offenbarung. Das Vorhandensein von Textvarianten im Neuen Testament ist ihm zweifellos vertraut gewesen. Doch die von Semler und wenigen anderen zeitgenössischen Theologen betriebene Textkritik hat er mit großem Argwohn betrachtet und ihre Ergebnisse abgelehnt oder zu relativieren versucht. Er spürte die Verunsicherung, die von der Arbeit der Textkritik für die herkömmliche Gestalt der Dogmatik, aber auch für den Religionsunterricht und die kirchliche Verkündigung ausging. Diese Abwehrhaltung erklärt sich aus den Nachwirkungen einer dogmatischen Schrifdehre, die Goeze während seines Theologiestudiums in Halle kennengelemt hatte. Unabdingbar für sie war nicht nur die Auffassung von der göttlichen Schriftautorität und der Zuverlässigkeit des überlieferten Bibeltextes, sondern auch die Lehre von dem richterlichen Ansehen der Heiligen Schrift in allen Glaubensfragen. Beides aber schien nun durch die Anwendung der Textkritik gefährdet. Denn wie sollte in theologischen Streitfragen argumentiert und wie sollten für die Lehren der Dogmatik Schriftbeweise erbracht werden, wenn unsicher war, ob wir in dem uns überlieferten Bibeltext überall den ursprünglichen und authentischen Text vor uns haben. Das hier bestehende Problem hatte schon der Hallenser Exeget und Dogmatiker Siegmund Jacob Baumgarten deutlich erkannt. Aber er hatte es nicht durch eine Öffnung gegenüber der Textkritik gelöst, sondern mit der dogmatischen Behauptung von der „unverfälschten Richtigkeit" und Übereinstimmung des vorliegenden mit dem ursprünglichen Bibeltext beantwortet. Daß neben dem göttlichen Ursprung der Heiligen Schrift auch die Authentizität und unverfälschte Überlieferung des Bibeltextes ausgesagt werden dürfe, ergab sich für Baumgarten nicht als Ergebnis aus historischen oder textkritischen Untersuchungen, sondern als Folgerung aus dem „ E n d z w e c k " der Bibel und den „göttlichen Vollkommenheiten". Aus der Allmacht, Weisheit, Güte und Wahrhaftigkeit Gottes lasse sich folgern, daß Gott die Heilige Schrift unverfälscht bewahren konnte. Und daß er die Integrität des ursprünglichen Wortlautes und Textbestandes durch die Jahrhunderte auch faktisch bewahrt habe, entspreche dem „Endzweck" der Bibel, welche die nähere Offenbarung Gottes enthalte. Dieser Endzweck bestehe darin, die durch Christus

bekommen hatten." Vgl. Semler, Historische und kritische Sandlingen über die sogenannten Beweisstellen in der Dogmatik. Erstes Stück, über I Job. 5,7. Halle/Helmstädt 1764, S. 111. Bei der hier von Semler erwähnten Disputation Johann Gerhards handelt es sich um dessen Schrift Commentatio qua dictum Johanneum de tribus testibus in coelo sivelVon den dreyen Zeugen im Himmel, 1 epistol. V,7. Fuse enarratur atque explicatur. Jena s1747. Die erste Auflage dieser Schrift Johann Gerhards erschien 1625.

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bewirkte „Heilsordnung" bekanntzumachen und durch ihre im Glauben geschehende Aneignung die Vereinigung des Menschen mit Gott zu ermöglichen. Baumgartens Schriftlehre nimmt mit ihren Thesen vom göttlichen Ursprung, der bleibenden Integrität und Autorität der Heiligen Schrift zugleich auf ihre Funktion als Quelle zur Gewinnung von Glaubenslehren Bezug. Diese für die dogmatische Arbeit so wichtige richterliche Funktion der Heiligen Schrift setzt nach seinem Urteil gleichfalls eine unverfälschte Textüberlieferung voraus. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Lehrsatz, den Baumgarten sehr wahrscheinlich schon während der 30er Jahre in seiner Dogmatikvorlesung vorgetragen hat und der in einem für Studenten geschriebenen Lehrbuch des Jahres 1747 zu lesen ist: Außer diesem göttlichen Ursprung wird zum richterlichen Ansehen der h. Schrift auch ihre unverfälschte Richtigkeit erfordert, die darin besteht, daß der Text in allen Stücken noch einerley und eben derselbe ist und ohne alle Verfälschung einer fremden Hand ungeändert aufbehalten worden, so wie ihn die heiligen Schreiber niedergeschrieben

haben.3 Die Grundzüge dieser Schriftlehre finden wir auch in dem 1760 publizierten dritten Band der von Semler posthum herausgegebenen Evangelischen Glaubenslehre Baumgartens. Er enthält sachlich gesehen die gleichen Thesen und bedient sich derselben Argumentationsstruktur.4 Johann Melchior Goeze, der von 1736 bis 1738 in Halle studierte, hat diese frühe und relativ konservative Position Baumgartens kennengelernt und ist auch später als Hauptpastor und Senior in Hamburg ein Vertreter und Verteidiger derselben geblieben. Etwas anders verhält es sich mit Semler, der erst 1743 nach Halle kam, von Baumgarten wegen seiner wissenschaftlichen Begabung besonders gefördert und bald als Mitarbeiter in das Baumgartensche Haus aufgenommen wurde. So hat Semler, der schließlich zum Freund und Fakultätskollegen seines Lehrers wurde, jene Wendung beim älteren Baumgarten beobachten können, mit der dieser sich auch im Bereich der theologischen Disziplinen von Exegese und Dogmatik den historischen Fragestellungen öffnete. Semlers eigene Neigungen gingen in die Richtung einer genaueren Betrachtung des historischen Wandels in Sprache, Methode und Lehrart, und er ist vom älteren Baumgarten ermutigt worden, den Weg solcher historischen Untersuchungen fortzusetzen. So ist Semler schon wenige Jahre nach seiner Magisterdisputation zur prinzipiellen Anerkennung der Textkritik als eines wissenschaftlichen Verfahrens gelangt, das als solches die Voraussetzung für eine sachgemäße exegetische und dogmatische Arbeit darstellt. Bei unveränderter Hochachtung, die beide Kontrahenten ihrem einstigen Lehrer Baumgarten weiterhin entgegenbrachten, erklärt sich so doch bis zu einem gewissen Grad ihre

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Siegmund Jacob Baumgarten, Theologische Lehrsätze von den Grundwahrheiten der christlichen Lehre nach der Ordnung der Freylinghausischen Grundlegung. Halle 1747, S. 300. Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 3. Halle 1760, S. 125ff„ insb. S. 128 u. 138.

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Sachdifferenz in grundlegenden Fragen der Schriftlehre und Schriftautorität sowie in der Beurteilung von exegetischen und dogmatischen Problemen. Die Bindung an die Lehrtradition der lutherischen Orthodoxie zeigt sich bei Goeze ferner an seinem objektbezogenen Glaubensbegriff, der keineswegs auf die Zustimmung zur Christusbotschaft und anderen biblischen Verkündigungsinhalten beschränkt blieb, sondern auch altkirchliche und reformatorische Lehren als unverzichtbare Bestandteile des christlichen Glaubens betrachtete. Glaubensgegenstände im Sinne Goezes sind demzufolge die Trinitätslehre, die Zweinaturenlehre, die Lehre von der Gottheit Jesu Christi und der communicatio idiomatum, die lutherische Abendmahlslehre mit ihrer Vorstellung von der Realpräsenz Christi in den Elementen sowie die Lehre vom doppelten Ausgang im Jüngsten Gericht. Aus dem Arsenal der lutherischen Orthodoxie übernimmt er nicht nur die Verbalinspirationslehre, sondern auch die Kettenmetapher mit ihrer Vorstellung einer unauflöslichen Zusammengehörigkeit aller dogmatischen Lehren, aus der keine Einzellehre herausgebrochen oder leichtfertig preisgegeben werden darf.5 Im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Goeze und Semler sind in einem Zeitraum von etwa sieben Jahren in rascher Aufeinanderfolge nicht weniger als neun teilweise umfangreiche Streitschriften gewechselt worden.6 Sicherlich wird man dafür nicht nur den Ehrgeiz, das Temperament und die Streitlust der Kontrahenten verantwortlich machen dürfen. Zahlreiche schwierige Sachfragen bedurften der Klärung, und die Kontroverse vollzog sich auf dem Hintergrund einer Traditi5

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Zur Theologie des Hamburger Hauptpastors vgl. die vorzügliche Darstellung von Bernhard Lohse, Johann Melchior Goeze als Theologe des 18. Jahrhunderts, in: Heimo Reinitzer (Hg.), Johann Melchior Goeze 1717-1786. Hamburg 1987, S. 40-56. - Auf das orthodoxe Axiom des Ineinandergreifens der Grundlehren der Lutherischen Kirche verweist auch Harald Schultze, Toleranz und Orthodoxie. Johann Melchior Goeze in seiner Auseinandersetzung mit der Theologie der Aufklärung, in: NZSTh 4 (1962), S. 205. - Der entsprechende Gedankengang des orthodoxen Dogmatikers Johannes Andreas Quenstedt lautet: „Hinc tritum illud axioma; Fides est una copulativa, quo significatur, omnes artículos fîdei fundamentales tarn arete esse concatenatus, ut qui unum neget etiam reliquos." Vgl. ders., Theologia didáctico polemica. I. Lipsiae 1702, S. 243a. In der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens handelt es sich um folgende Schriften: 1) Semler, Historische und kritische Sandlingen über die sogenannten Beweisstellen in der Dogmatik. Erstes Stück, über I Joh. 5,7. Halle/Helmstädt 1764. - 2) Johann Melchior Goeze, Vertheidigung der Complutensischen Bibel, insonderheit des neuen Testaments, gegen die Wetstenischen und Semlerischen Beschuldigungen. Hamburg 1765. - 3) Semler, Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Zur Widerlegung des Herrn Senior Götzens. Halle 1766. - 4) Johann Melchior Goeze, Ausführlichere Vertheidigung des Complutensischen griechischen Neuen Testaments. Zur Widerlegung des Herrn D. Semlers. Hamburg 1766. - 5) Semler, Historische Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Zweites Stück. Nebst einem Anhange wider Herrn Senior Göze. Halle/Helmstädt 1768. - 6) Johann Melchior Goeze, Fortsetzung der ausßhrlicheren Vertheidigung des Complutensischen griechischen Neuen Testaments [...]. Zur Widerlegung des Herrn D. Semlers. Hamburg 1769. - 7) M. Johann Nicolaus Kiefer, Gerettete Vermutungen über das Complutische N. Testament. Gegen den Hrn. Senior Götz in Hamburg, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1770. - 8) Johann Melchior Goeze, Eine Probe von der Art, wie der Hr. D. Semler seine Zeugen anzuführen pflegt. Hamburg 1771.-9) Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 253-272.

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onskrise, in welche die protestantische Theologie geraten war. Mit der Textkritik und der strengeren Anwendung historischer Methoden waren nicht nur traditionelle Auffassungen in der Bibelexegese und Hermeneutik, sondern auch die Dogmatik und Polemik in eine Krise geraten. Semler besaß ein deutliches Gespür für diese Konsequenzen. Manche der dicta probantia, mit denen man bisher die Schriftgemäßheit dogmatischer Lehren legitimiert hatte, erwiesen sich nun als untauglich und konnten keine Verwendung mehr finden. Diese Erkenntnis war das Ergebnis einer sorgfältigen Untersuchung, welche Semler 1764 mit seinen Historischen und kritischen Samlungen über die sogenannten Beweisstellen in der Dogmatik vorgelegt hatte. Historische Exegese und neutestamentliche Textkritik bestätigten nicht nur die Verwendbarkeit traditioneller dicta probantia, sie zwangen in Einzelfällen auch zu ihrer Preisgabe. Damit aber drohte die Schriftgrundlage für bestimmte Glaubensfragen, die als fundamental angesehen wurden, immer schmaler und brüchiger zu werden. In den Sog solcher Kritik geriet auch die lange Zeit als unproblematisch geltende Verwendung von 1. Joh. 5,7 als Schriftbeweis für die Richtigkeit der altkirchlichen Trinitätslehre. Bei seinen Quellenstudien und Untersuchungen stellte Semler als historischen Sachverhalt fest, daß der Textzusatz von 1. Joh. 5,7 in den ältesten griechischen Handschriften nicht vorhanden war, also jene Aussage der späteren Textüberlieferung, die von den drei Zeugen im Himmel spricht, dem Vater, dem Wort und dem Heiligen Geist, die eins sind. Erasmus hatte dieses sogenannte Comma Johanneum nicht in die ersten beiden Ausgaben seines griechischen Neuen Testaments aufgenommen und infolgedessen fehlte es auch in Luthers Übersetzung des Neuen Testaments. Wenn der erwähnte Zusatz, der bestens zur Trinitätslehre des 4. Jahrhunderts paßt, sich dagegen in der Bibelausgabe der Spanier findet und im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie auch in die deutschen Bibelausgaben wieder eingerückt wurde, so muß nach den Gründen dafür geforscht werden. Semler vermutet einerseits Sorglosigkeit und mangelnde Sachkenntnis über die Textgestalt in den ältesten griechischen Handschriften, spricht aber schon 1762 im Blick auf die Herausgeber der spanischen Bibelausgabe auch von fehlender Redlichkeit und Treue bei der Wiedergabe des griechischen Textes, ja von dessen bewußter Veränderung zum Zwecke seiner besseren Ubereinstimmung mit dem als normativ angesehenen lateinischen Vulgatatext.7 Goeze urteilte in diesen Sachfiragen ganz anders. Er 7

Semler, Anmerkung über die Fortdauer mancher irrigen Meinungen über die Stelle 1. Joh. 5,7, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen. Nr. 49 (6. December 1762), Sp. 780. - Vgl. auch ders., Historische und kritische Samlungen über die sogenannten Beweisstellen in der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1764, S. 102f.: „Man muß sich also desto mehr verwundem, daß nach und nach diese Stellen [1. Joh. 5,7 u.a.] von unseni Theologis, die doch viel weniger von den wahren Umständen wussten, in die Glaubenslehre zum Beweis der Lehre angenommen worden; welcherley Beschaffenheit sie doch unmöglich haben konnte[n], da sie öffentlichen Zweifeln und Widersprüchen schon so sehr unterworfen war[en]. Es ist gewiß, daß der Mangel der hierzu erforderlichen Gelehrsamkeit und die Gewalt der Vorurteile dieses nach und nach veranlasst haben."

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suchte die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit der spanischen Gelehrten zu verteidigen und hielt an der Authentizität, Echtheit und Geltung der umstrittenen Stelle von 1. Joh. 5,7 fest.

3. Bisherige Berichterstattung und Forschungslage Eine in wissenschaftlicher Hinsicht befriedigende Untersuchung zur Goeze-SemlerKontroverse besitzen wir bisher noch nicht. Angesichts des umfangreichen Quellenmaterials muß sich auch unser Beitrag im folgenden starke Beschränkungen auferlegen. Nicht alle Gedankengänge und Einzelargumente, sondern nur einige Hauptaspekte der Kontroverse können zur Darstellung gebracht werden. Blickt man in die apologetisch gehaltene Monographie, die Georg Reinhard Röpe 1860 über seinen Hamburger Landsmann Goeze verfaßt hat, so verwundert es allerdings, daß diese Kontroverse nur mit wenigen Zeilen erwähnt wird.8 Denn in der zeitgenössischen theologischen Literatur, in den Zeitschriften und Rezensionsorganen hat die Goeze-Semler-Kontroverse durchaus Beachtung gefunden. Als Indiz dafür, daß man ihr eine wissenschaftliche Bedeutung zugemessen hat, darf der Umstand gelten, daß der Göttinger Kirchenhistoriker Christian Wilhelm Franz Walch im Jahre 1774 in seiner Neuesten Religions-Geschichte ausführlicher über sie berichtet hat.9 Als Lessing im Januar 1769 Goeze in Hamburg aufsuchte und persönlich kennenlernte, ist nach Lessings Bericht von den damals geführten Gesprächen auch der aktuelle Streit des Hamburger Hauptpastors mit Semler erörtert worden. Offenbar bestand damals Einvernehmen darüber, daß Goeze gegenüber Semler im Recht sei.10 Differenzierter ist das Urteil, das der Leipziger Franz Delitzsch hundert Jahre später in seinen Studien zur Entstehungsgeschichte der Polyglottenbibel des Cardinais Ximenes gefällt hat. Lob und Tadel werden nahezu gleichmäßig auf die beiden Kontrahenten verteilt: „Semler übertrieb die Kritik und Goeze die Verteidigung." Und von Lessing heißt es, daß ihm trotz seines Scharfblicks „das relative Recht" der Position Semlers entgangen sei.11 Mit diesen Feststellungen hat Delitzsch sein Gesamturteil eingeschränkt, das letztlich aber doch zugunsten von Goeze ausfallt:

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Georg Reinhard Röpe, Johann Melchior Goeze. Hamburg 1860, S. 64f. Christian Wilhelm Franz Walch, Neueste Religions-Geschichte unter der Aufsicht Hrn. Christian Wilhelm Franz Walchs. Theil 4. Lemgo 1774, S. 423-490 (III. Nachricht von der Streitigkeit über das Ansehen der complutensischen Ausgabe des N. T.). Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann. 3. Aufl. besorgt durch Franz Muncker. Bd 15. Leipzig 1900, S. 261. Franz Delitzsch, Studien zur Entstehungsgeschichte der Polyglottenbibel des Cardinais Ximenes. Leipzig 1871, S. 8.

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In der Tat hat Goeze überzeugend dargetan, daß die Complutenser dem Erasmus an Ehrlichkeit mindestens nicht nachstehen und daß sie in aller Treue wiedergegeben haben, was ihnen ihre Handschriften boten. Semler und sein Secundant Kiefer haben in diesem Streit den Kürzeren gezogen. 12

Soweit der Überblick über die bisherige Berichterstattung und Forschungslage.

4. Gegensätze in der Beurteilung historischer und textkritischer Fragen Die Kontroverse beginnt 1765 nicht nur mit einer langen Reihe gegensätzlicher Behauptungen über den Wert und das Ansehen, das die Complutensische Bibelausgabe verdient, sondern auch mit einer gegenseitigen Versicherung der Hochachtung und des Respektes. Es ist nicht unwichtig, dies zu erwähnen, weil die Kontroverse dann schließlich doch auf die Ebene persönlicher Beschuldigungen und Verdächtigungen abzugleiten drohte und teilweise auch abgeglitten ist. Zunächst spricht Goeze jedoch von Semler als dem „berühmten" Professor in Halle, zu dessen „Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe" er volles Vertrauen habe.13 Und umgekehrt bezeugt auch Semler seine Hochachtung vor dem Hamburger Hauptpastor und bittet gleichsam im voraus um Entschuldigung für allzu scharfe oder unbedachte Äußerungen.14 Die Kritik, die Semler in seiner Untersuchung zur Geschichte von 1. Joh. 5,7 vorgetragen hatte, suchte Goeze ein Jahr später in seiner 1765 erschienenen Vertheidigung der Complutensischen Bibel zu entkräften. Gleichzeitig will er die Gründe verständlich machen, die ihn bewogen haben, für ein von einem spanischen Kardinal in Auftrag gegebenes, von katholischen Gelehrten ausgearbeitetes und einem Papst gewidmetes Bibelwerk einzutreten. Die Argumente, die der reformierte Exeget Wetstein und Semler ins Feld geführt haben, werden von ihm als höchst gefährlich empfunden. Denn sollte es sich herausstellen, daß diese beiden Textkritiker recht haben, dann wäre das Zutrauen zur Verläßlichkeit des Bibeltextes erschüttert. Für Goeze ist die Kontroverse mit Semler weit mehr als nur eine akademische oder historische Streitfrage. Sie ist eine aktuelle Frage von unmittelbarer Relevanz für die gegenwärtige Schriftautorität, Dogmatik und Verkündigung.

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Ebd., S. 7. Johann Melchior Goeze, Vertheidigung der Complutensischen Bibel. Hamburg 1765, Vorrede, S. XV. Vgl. Semler, Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Halle 1766, Vorrede: „Uebrigens unterlasse ich nicht die Hochachtung, welche ich sonst gegen den Herrn Senior hege, deswegen ausdrücklich zu gestehen und zu bezeugen [...]. Ich zweifle nicht an der guten Absicht, die sich auch an den Tag legt in seiner Vertheidigung."

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Ist nun der spanische Text durch und durch nach der Vulgata eingerichtet, so folget unwidersprechlich, daß wir bisher gar keinen recht zuverlässigen Grundtext gehabt haben und die Vulgata der letzte Grund unserer Glaubenslehre sei.15

Doch ist nach Goezes Einschätzung solche Befürchtung gottlob unbegründet. Denn der Kardinal Ximénes hat das große spanische Bibelwerk nicht nur mit erheblichen Mitteln finanziert, sondern auch mit äußerster Sorgfalt betrieben, indem er die tüchtigsten Gelehrten der damaligen Zeit für die Arbeit an diesem Bibelwerk gewonnen hat. Zustimmung findet bei Goeze auch die im Vorwort der Complutensischen Bibelausgabe enthaltene Erklärung der Spanier, daß Papst Leo X. ihnen zum Abdruck des Neuen Testaments aus der Vatikanischen Bibliothek die ältesten und zuverlässigsten Handschriften zugesandt habe. Aus diesem Grunde müsse diesem Bibelwerk und insbesondere dem in ihm enthaltenen griechischen Text des Neuen Testaments „ein großes Ansehen der Zuverlässigkeit" zuerkannt werden.16 Schließlich wird auch die Lehre von der Providentia Dei zugunsten der Spanier ins Feld geführt. Sie legitimiert die Normativität des Faktischen als des von Gott Gewollten und Bewirkten. .Protestantische Gottesgelehrte", so erklärt Goeze, haben also nach meiner Überzeugung die allergrößte Ursach, das Complutensische Bibelwerk als ein besondres und schätzbares Werk der göttlichen Vorsehung und Fürsorge zu betrachten und sie thun nicht wohl, wenn sie solches auf alle mögliche Art zu verkleinern suchen.17

Wie zuvor schon Wetstein, so bezweifelt auch Semler die Angabe der Spanier, daß sie sich bei der Abfassung des neutestamentlichen Textes nach den ältesten und zuverlässigsten Handschriften gerichtet hätten. Semler äußert den Verdacht, ja die Überzeugung, daß der griechische Text des Neuen Testaments zwar nicht durchgängig, wohl aber an einigen wichtigen Stellen gemäß dem in der römisch-katholischen Kirche als normativ geltenden Vulgatatext abgeändert worden sei. Erwähnenswert ist, daß Goeze sich bei seiner Verteidigung auf den .Augenschein", d.h. die selbständig vorgenommene Überprüfung des spanischen Bibelwerkes an Hand eines in Hamburg befindlichen Exemplares beruft, während er gegen Semler den zunächst nicht unberechtigten Vorwurf erhebt, ohne eigene Überprüfung des Sachverhalts allzu rasch und leichtfertig den Argumenten Wetsteins vertraut und sich diese zu eigen gemacht zu haben. Daß ein in der Kritik so erfahrener Gelehrter wie Semler Wetsteins Argumentation gefolgt sei, erscheint Goeze nahezu unbegreiflich. „Ich kann solches aus keinem anderen Grunde herleiten, als aus seiner großen

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16 17

Johann Melchior Goeze, Vertheidigung der Complutensischen Bibel. Hamburg 1765, Vorrede, S. XIII. Ebd., Vorrede, S. V. Ebd., S. 39. - Goeze bezeichnet den Kardinal Ximénes und die von ihm beauftragten spanischen Gelehrten als „hochverdiente Männer, welche wirklich gesegnete Werkzeuge in der Hand Gottes gewesen sind". Vgl. ebd., S. 23. - Zu den Grundgedanken der alüutherischen Providentialehre vgl. jetzt auch den instruktiven Aufsatz des Schweden Bengt Hägglund, De Providentia. Zur Gotteslehre im frühen Luthertum, in: ZThK%?> (1986), S. 356-369.

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Liebe zu seiner angenommenen Hypothese von der Unächügkeit (man erlaube mir dieses Wort) der Stelle 1. Joh. 5,7".18 Goezes Äußerung ist eine Anspielung auf Semlers frühere Publikationen zu diesem Thema. Sie zeigt aber zugleich auch eine erhebliche Sachdifferenz in der Beurteilung und Einschätzung einer zentralen textkritischen Frage. Denn das, was für Semler nach umfassenden und sorgfältigen historischen Untersuchungen über die Beweisstellen der Dogmatik und insbesondere über die Stelle 1. Joh. 5,7 längst zur Gewißheit geworden ist - die Aussage von „den drei Zeugen im Himmel" ist nicht authentisch, sondern stellt einen späteren Zusatz dar - , das beurteilt Goeze noch immer so, als handele es sich lediglich um eine unbewiesene Hypothese. So überrascht es auch nicht, daß er in einer späteren Streitschrift erklärt, er hege die Hoffnung, es würden sich noch alte griechische Codices finden, die nicht latinisierten und die fragliche Stelle, also 1. Joh. 5,7, dennoch aufwiesen.19 Auf Goezes Verteidigung der complutensischen Bibelausgabe antwortet Semler im folgenden Jahr (1766) mit einer mehr als 240 Druckseiten umfassenden Genaueren Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Der im Titel erscheinende Zusatz Zur Widerlegung des Herrn Senior Götzens läßt ihren Charakter als wissenschaftliche Streitschrift erkennen. Sie hat in theologischen Fachkreisen Beachtung und Anerkennung gefunden. Selbst der Rezensent der eher konservativ eingestellten Danziger Theologischen Berichte urteilt ausgesprochen positiv. „Semlers Untersuchung", so schreibt er, ist gründlich ausgeführt, auch mit ziemlich gemäßigter Feder; sie bestimmt die Streitfrage genauer als man sonst in Semlers Schriften gewohnt ist und bringt nebst vieler Belesenheit und Stärke in der Critik gewiß solche Gründe vor, die manche Leser wankend machen kön„ _ „ 20 nen.

Eine Präzisierung der Streitfrage hat Semler in der Tat vorgenommen. Goezes Argumentation treffe nicht den Kern der Sache, wenn er zu beweisen suche, daß der griechische Text des complutensischen Bibelwerkes mehrfach vom Vulgatatext abweiche. Denn niemand habe behauptet, daß der griechische Text durchgängig geändert und dem Vulgatatext angeglichen worden sei.21 Die Streitfrage sei vielmehr, ob nicht an einigen dogmatisch und liturgisch wichtigen Stellen die Herausgeber des spanischen Bibelwerkes so verfahren seien, wie dies dem Denken und den Gepflogenheiten damaliger römischer Theologen entsprach, indem sie dem Vulgatatext den Vorzug gaben. 18 19

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Johann Melchior Goeze, Verteidigung der Complutensischen Bibel. Hamburg 1765, S. 23. Johann Melchior Goeze, Ausführlichere Vertheidigung des Complutensischen griechischen Neuen Testaments. Hamburg 1766, S. 75f. Vgl. Theologische Berichte von neuen Büchern und Schriften von einer Gesellschaft zu Danzig ausgefertigt. 30. Stück. Danzig/Leipzig 1766, S. 673. Die Rezension ist nicht signiert. Semler, Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Halle 1766, S.123. 219

Punkt für Punkt weist Semler die von Goeze zur Verteidigung vorgebrachten Argumente zurück. Goezes Annahme für die Echtheit von 1. Joh. 5,7 verhalte sich zur Annahme der Unechtheit dieser Stelle wie eins zu fünfzig, vielleicht sogar wie eins zu hundert. Denn es gäbe unter neunzig griechischen Handschriften des Neuen Testaments nur zwei Handschriften jüngeren Datums, welche diese Lesart aufwiesen. Auch in den Bibelübersetzungen der ersten fünf Jahrhunderte finde sie sich nicht. Nur in den lateinischen Übersetzungen sei sie vorhanden, aber auch dort im Wortlaut nicht einheitlich. Ein starkes Indiz gegen die Echtheit sieht Semler femer zu Recht in dem Umstand, daß keiner der Kirchenväter in den ersten fünf Jahrhunderten diese Stelle in den Auseinandersetzungen mit den Antitrinitariem verwandt habe, obwohl dies doch nahegelegen hätte, wenn sie vorhanden gewesen wäre.22 Da die Spanier in der Vorrede zu ihrer Bibelausgabe behauptet haben, sie hätten sich nach vatikanischen Handschriften gerichtet, und da Goeze dieser Behauptung Glauben schenke, stelle sich die Frage nach dem Verbleib dieser bisher unauffindbaren Codices. Mit einiger Ironie verweist Semler auf diese Schwachstelle in Goezes Argumentation. „Der Herr Senior will durchaus 1. Joh. 5,7 retten und also muß er auch behaupten, es koste was es wolle, daß zu Alcala das Ν. T. überall ehrlich nach alten codicibus graecis vaticanis abgedruckt worden." Nun „sollte er auch endlich den Ausweg erfinden, man habe nachher listiger Weise diese codicibus (im plurali) versteckt und lasse sie nicht weiter sehen".23 Keinen Wert für die Entscheidung der eigentlichen Streitfrage vermag Semler in der von Goeze behaupteten Sorgfalt des spanischen Kardinals Ximénes zu sehen. Worin auch immer diese Sorgfalt bestanden haben möge, so sei sie jedenfalls nicht imstande gewesen, die Mängel abzugleichen, die sich in einer unzureichenden griechischen Sprachgelehrsamkeit und in einer gänzlichen Unkenntnis der Kritik zeigten.24 Schließlich weist Semler auch Goezes fromm klingende These zurück, das spanische Bibelwerk verdiene Hochachtung auch von Seiten der Protestanten, weil es ein Werk der ganz besonderen Fürsorge Gottes gewesen sei. Man müsse in ihm, so meint Goeze, „die deutlichen Spuren der göttlichen Weisheit und Fürsorge für die Erhaltung und Ausbreitung seines Wortes" bemerken und dankbar verehren.25 Semlers Antwort fallt deutlich aus: Der ganze Vortrag, daß die Bibel [gemeint ist das spanische Bibelwerk] ein höchst schätzbares Werk sei, worin sich die allerbeste Fürsorge Gottes für sein Wort so sichtbar geoffenbart 22

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Semler, Historische Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Zweites Stück. Nebst einem Anhange wider Herrn Senior Göze. Halle/Helmstädt 1768, S. 370-373. Semler, Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Halle 1766, S. 88; vgl. auch S. 85 (Zeitangaben über Papst Leo X. und die Beendigung des Drucks des Neuen Testaments in der Complutensischen Bibelausgabe), femer S. 95. Ebd., S. 5. Johann Melchior Goeze, Vertheidigung der Complutensischen Bibel. Hamburg 1765, S. 17.

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habe, wird von mir als teils falsch, teils zu unserer Frage ganz unnütz, verworfen. Ein Buch kann übrigens schätzbar sein, aber in einer bestimmten Absicht nicht die geringste Brauchbarkeit haben; und dies ist der Fall.

Denn zur Bestätigung der Richtigkeit der umstrittenen Worte und zur Entscheidung über die korrekte Textfolge sei dieses Bibelwerk ganz und gar ungeeignet, „außer bei Leuten, die gar nichts von Kritik verstehen".26 Die Berufung auf die göttliche Providenz und Fürsorge könne hinsichtlich der Streitfrage, welcher Quellenwert dem Neuen Testament der Complutensischen Bibelausgabe zuzumessen sei, kein wissenschaftliches Gewicht beanspruchen. Denn solche Berufung ließe sich mit dem gleichen Recht auch zugunsten ganz anderer, ja gegenteiliger Sachverhalte verwenden. Man könnte sagen, die Fürsorge Gottes sei nirgends sichtbarer geworden als bei den ersten beiden Ausgaben des griechischen Neuen Testaments, die von Erasmus stammen. Dort aber sei im Unterschied zur spanischen Bibelausgabe die Stelle 1. Joh. 5,7 nicht aufgenommen worden.27 Während Semler hinsichtlich der textkritischen Fragen den Übergang zu dem neuen Paradigma einer rein historischen Argumentation mit ihren Untersuchungen, Textvergleichen und Wahrscheinlichkeitsurteilen vollzogen hatte, bestanden für Goezes konservative Position erhebliche Schwierigkeiten. Denn einerseits konnte er die Relevanz der historischen Argumentation nicht leugnen, und er hat sich ihrer auch selbst bedient, andererseits aber wollte er die gewohnten orthodoxen Bahnen eines metaphysisch-dogmatischen Denkens und Argumentierens nicht verlassen. Er bringt dieses traditionelle Paradigma dort zur Anwendung, wo die schwierigen textkritischen und historischen Fragen nach eigener Auffassung noch nicht definitiv entschieden sind. Daher vermag er im Streit um den Quellenwert der Complutensischen Bibelausgabe mit dem dogmatischen Begriff der Providentia dei zu argumentieren und ihn zugunsten der Spanier in die Waagschale zu werfen. Dieses Nebeneinander zweier ganz unterschiedlicher Argumentationsebenen, die jedoch beide für die Entscheidung historischer Fragen Relevanz haben sollen, bedingt auf seiten Goezes eine auffallige Zweigleisigkeit. Der Saarbrückener Rektor Kiefer, der auf seiten Semlers mit eigenen Untersuchungen in die Debatte einge26

Semler, Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Halle 1766, S. 38. - Wie Semler eine dogmatische Argumentation beurteilt, die von der Providentia dei auf die Authentizität, Unversehrtheit und Zuverlässigkeit des Textes von Bibelausgaben schließt, ergibt sich aus einer Passage seiner Lebensbeschreibung: „Recht sicher schließt der Verfasser [gemeint ist offenbar Rasmus Brochmand, 1585-1652] aus der Providenz Gottes, daß keine Corruptio der Bibel habe stattfinden können; ich meinte aber, daß Gelehrte, die so schließen, petitionem principii mit diesen Büchern begingen und corruptionem mancher Buchstaben mit corruptio geistlicher Wahrheiten verwechselten." Vgl. ders., Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 303.

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Vgl. Semler, Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Halle 1766, S. 40: „Wo aber die allerbesonderste Fürsorge Gottes in diesem spanischen Druck sich soll offenbart haben, weiß ich nicht. Bey Erasmi Ausgaben könnte man eher so reden, welche beide ersten man eher und also bald wirklich und bequem brauchen konnte."

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griffen hatte, konnte daher gegen den Hamburger Hauptpastor den Vorwurf der Parteilichkeit erheben. Er fragt, wie es nach Goezes Auffassung um den göttlichen Beistand beim Zustandekommen der Erasmischen Ausgabe des Neuen Testaments bestellt gewesen sei. In Übereinstimmung mit der orthodoxen Lehre, daß sich die Providentia Dei auf alles erstrecke, was geschieht, wenn auch nicht auf alles in gleicher Weise, erklärt Goeze, er wolle keineswegs leugnen, daß Gottes Fürsorge auch bei der Erasmischen Ausgabe gewaltet habe. Denn in allen menschlichen Bemühungen um zuverlässige Bibelausgaben ist Gott selbst am Werk. Doch, so fügt Goeze einschränkend hinzu, er habe sich nicht auf eine Untersuchung der Frage eingelassen, ob sich „der Finger Gottes" bei der spanischen oder Erasmischen Ausgabe „deutlicher geoffenbart habe". Die logische Konsequenz, daß dieses metaphysische Argument einer Berufung auf Gottes Providenz für die Entscheidung der Fragen nach der Echtheit des überlieferten Bibeltextes gar nichts hergebe, hat Goeze freilich nicht gezogen und wollte sie offensichtlich nicht ziehen. Er nimmt die Inkonsequenz in Kauf, um seine Verteidigung der Complutensischen Bibelausgabe nicht entscheidend schwächen zu müssen. Vorurteile sieht er nur auf Seiten seiner Kontrahenten. „Ich bin indessen versichert", erklärt er abschließend, „daß alle diejenigen, die hier nicht von Vorurteilen eingenommen und gewohnt sind, auf das Werk Gottes und auf das Geschäft seiner Hände zu merken, ganz anders urteilen werden".28 Semler und Kiefer, denen Goeze Voreingenommenheit und Vorurteile unterstellt, urteilen in der Tat ganz anders. Mißt man die „Fürsorge Gottes" an dem faktischen Einfluß und der Wirkungsgeschichte der beiden Editionen, der spanischen Bibelausgabe und dem Erasmischen Neuen Testament, so darf nach Kiefers Urteil gesagt werden, daß die Erasmische Ausgabe einen hundertmal größeren Einfluß gehabt habe als die spanische.29 Der Vergleich zwischen den beiden nahezu gleichzeitig, aber unabhängig voneinander entstandenen Editionen des griechischen Neuen Testaments, ihren Differenzen und Übereinstimmungen in der Textgestalt, lag nahe. Erasmus hatte in den ersten Ausgaben das Comma Johanneum nicht berücksichtigt, es aber dann in die dritte Auflage seines Neuen Testaments von 1522 eingefügt. Goeze war geschickt genug, sich diesen Sachverhalt als Argument nicht entgehen zu lassen. Lobt man Erasmus wegen seines Neuen Testaments, darf man die spanischen Gelehrten nicht tadeln oder ihnen bewußte Textverfälschungen zum Vorwurf machen, wenn sie wahrscheinlich entsprechend dem Wortlaut der ihnen vorliegenden vatikanischen Handschriften - 1. Joh. 5,7 den vollständigen Text abgedruckt haben.

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29

Johann Melchior Goeze, Fortsetzung der ausführlicheren Verteidigung des Complutensischen griechischen Neuen Testaments. Hamburg 1769, S. 413. Semler, Historische Samiungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1768, S. 480.

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Semler antwortet darauf mit einem sehr differenzierten Urteil über den Quellenwert und die Zuverlässigkeit der Erasmischen Ausgaben: Erasmis Ausgaben habe ich zwar stets für viel besser geachtet als diese spanische, aber ich habe sie auch nie für authentisch und kritisch zuverlässig gehalten. Was Erasmus aus Furcht vor Mönchen getan oder aus Noth und Mangel griechischer Codicum, ist ja ganz anders, als wider die codices graecos im griechischen Text weglassen und zusetzen.30

Wenn also Erasmus sich dazu bereit fand, das Comma Johanneum wieder einzurücken, so sind dafür keine wissenschaftlichen Gründe, sondern vielmehr kirchlichdogmatische Wünsche und Forderungen maßgebend gewesen. Der relative Vorzug, den die von Erasmus veranstalteten Ausgaben vor der spanischen verdienen, darf nach Semlers Urteil nicht den Blick dafür trüben, daß die Erstellung eines zuverlässigen Textes eine gegenwärtig noch nicht gelöste Aufgabe ist. In dieser Einschätzung der Problemlage hat die spätere wissenschaftliche Textforschung wohl eher Semler recht gegeben. Was die Beurteilung der wissenschafdichen Kontroverse erschwert, ist der Umstand, daß die historischen und textkritischen Einzelfiragen oft nur mit Hypothesen und Vermutungen mit mehr oder weniger plausiblen Wahrscheinlichkeitsurteilen beantwortet werden konnten. Der gegen Semler gerichtete Vorwurf, kritisch und negativ über eine Bibelausgabe zu urteilen, ohne sie zuvor selbst in Augenschein genommen zu haben, war berechtigt, traf aber sachlich nur auf die Anfangsphase der Kontroverse zu. Da in Halle kein Exemplar der Complutensischen Polyglotte erhältlich war, ließ Semler sich 1766 ein Exemplar aus der Königlichen Bibliothek in Berlin kommen. Doch zu einer Revision seines kritischen Urteils sah er sich nicht veranlaßt. Aus der Sicht der neueren neutestamentlichen Textforschung wird man wohl den Versuch zurückweisen müssen, Goeze als denjenigen darzustellen, der in den entscheidenden Sachfragen der Kontroverse letztlich Recht behalten hatte. Auf eine ganze Reihe schwieriger Fragen, die Semler gestellt hatte, wußte Goeze keine überzeugende Antwort zu geben: warum das Comma Johanneum, das in den ältesten griechischen Handschriften fehlt, von den Spaniern in den Text ihrer Bibelausgabe eingefügt wurde, warum die Kirchenväter bei ihrem Kampf gegen die Antitrinitarier die Stelle 1. Joh. 5,7 nicht zitiert haben, obwohl solche Berufung doch sehr nahe gelegen hätte, wenn die Stelle authentisch und damals bekannt gewesen wäre, und schließlich, wo die aus dem Vatikan entliehenen Handschriften zu finden seien, nach denen sich die Spanier bei der Überprüfung der Korrektheit ihres neutestamentlichen Textes angeblich gerichtet haben. Goeze konnte nur die vage Hoffnung äußern, daß man diese alten griechischen Handschriften, die das Comma Johanneum bezeugen, eines Tages noch auffinden werde. Hinsichtlich der Anliegen und Motive, die Goeze bei seiner Kontroverse mit Semler geleitet haben, wird man dagegen Georg Reinhard Röpe schon eher zu30

Ebd., S. 247.

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stimmen können. Es war für Goeze, wie Röpe erklärt, eine „Herzenssache" nachzuweisen, daß die Complutensische Bibelausgabe aus alten und bewährten Handschriften abgedruckt worden sei, weil er darin eine „providentielle Fürsorge Gottes" zur Erhaltung des reinen Textes der Heiligen Schrift erblickte.31 Ergänzend ist lediglich anzumerken, daß dieses Motiv Goezes seinem Interesse an der Aufrechterhaltung einer uneingeschränkten Schriftautorität und der Geltung eines dogmatischen Schriftgebrauchs entsprang. An der Identität des gedruckten Bibeltextes mit dem ursprünglichen und unverfälschten Wort Gottes sollte festgehalten werden. Genau an diesem Punkt setzte Semlers Kritik ein, der, von den Ergebnissen der Geschichte der Textüberlieferung und Textkritik ausgehend, gegen die Identitätsannahme Einspruch erhob und nachdrücklich für das Recht einer Unterscheidung von „Wort Gottes" und „Heiliger Schrift" im Sinne des vorliegenden gedruckten Bibeltextes eintrat.32

5. Die Ausweitung der Kontroverse auf dogmatische Fragen Die diffizilen historischen Fragen und Probleme der neutestamentlichen Textüberlieferung und die Bestimmung des Quellenwertes einzelner Handschriften und gedruckter Bibelausgaben waren nicht das Feld, auf dem der Hamburger Hauptpastor sein theologisches Anliegen und seine Polemik entfalten konnte. Es ging ihm entscheidend um die Bewahrung der lutherischen Rechtgläubigkeit. Diese aber sah er gefährdet durch Semlers Textkritik und historisch-kritische Theologie. Indem er seinen Kontrahenten des „Arianismus" und „Sozinianismus" sowie des Abweichens vom Lehrbegriff der Lutherischen Kirche beschuldigte, suchte er den Eindruck zu erwecken, als erkläre sich der Gegensatz in der Einschätzung des Quellenwertes der Complutensischen Bibel aus einem Gegensatz in der dogmatischen Grundhal-

31 32

Georg Reinhard Röpe, Johann Melchior Goeze. Hamburg 1860, S. 65. Für die Unterscheidung von „Wort Gottes" und „Heiliger Schrift" hat sich Semler nachweislich bereits 1761 in der Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, aber auch in späteren Jahren mehrfach ausgesprochen. Vgl. ders., Vorbereitung zw theologischen Hermeneutik. Zweites Stück. Halle 1761, S. 279f. Zu beachten ist, daß er unterschiedliche Gründe für die Sachgemäßheit und Notwendigkeit dieser Unterscheidung geltend gemacht hat. Neben dem historischen Aspekt der ursprünglichen Mündlichkeit der Verkündigung des „Wortes Gottes" und dem inhaltlichen Aspekt, welcher das Wort Gottes vor allem mit dem „ E v a n g e l i u m " Und der von Gott uns verordneten „Heilsordnung" verbindet, sind für Semler vor allem textkritische Gründe maßgebend gewesen. Er betont, daß der vorliegende Bibeltext nicht ungeprüft und generell mit dem ursprünglichen Text gleichgesetzt werden darf. Auch gegenüber Goeze rügt Semler die orthodoxe Identitätsthese: „Man vermengt das Wort Gottes, dem die erhabensten praedicata mit Recht zukommen, das wir auch unmittelbar zur Seligkeit nützen, mit dem geschriebenen oder gedruckten Texte der Bibel". Vgl. ders., Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Halle 1766, Vorrede.

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tung, aus den unvereinbaren Positionen von lutherischer „Orthodoxie" und arianischer oder sozinianischer „Heterodoxie". Mit dieser von Goeze vollzogenen Wendung und Ausweitung der Kontroverse wiederholte sich ein bekanntes Argumentationsschema, dessen sich der Angegriffene einst selbst bedient hatte, als er 1750 in seiner öffentlichen Magisterdisputation mit dem Einverständnis Baumgartens und der Hallenser Fakultät gegen die Textkritik des Engländers William Whiston auftrat. Denn die von Whiston und den englischen Textkritikem vorgetragene Bestreitung der Authentizität von 1. Joh. 5,7 ist damals von Semler als „arianische Erklärung" gebrandmarkt worden.33 Semler hat später sein Urteil zugunsten der Engländer revidiert, mußte aber nun erleben, daß ihm ebenfalls eine häretische Absicht unterstellt wurde, gleichsam, als habe er seine Zweifel am Quellenwert des Neuen Testaments der Complutensischen Bibel und der Echtheit des Comma Johanneum nur deshalb formuliert, um der kirchlichen Trinitätslehre die Schriftgrundlage zu entziehen und eine weitere Ausbreitung des Sozinianismus zu ermöglichen. Auf Goezes inquisitorische Fragen und Beschuldigungen, kein redlicher lutherischer Lehrer zu sein, reagierte Semler sichtlich irritiert und verärgert.34 Was jedoch die textkritische Hauptfrage anbelangt, weiß er sich am Ende der jahrelangen Auseinandersetzung seiner Sache vollkommen sicher und formuliert diese Überzeugung in deutlichen Worten: Wie lange habe ich mich wegen 1. Joh. 5,7 müssen anschreien lassen! Und wo ist denn ein Theologus, der sich erkühnen darf, mich zu widerlegen und dieses für eine sehr gute Beweisstelle der Dreieinigkeit ferner zu empfehlen? Wenngleich seit Gerhards Zeiten alle dogmatici dabei stille stunden und gleichsam einmütig es beschlossen: es solle und müsse 1. Joh. 5,7 durchaus eine gute Beweisstelle heißen.35

Als unaufgebbar erweist sich nach Semler die trinitarische Struktur des christlichen Glaubens, weil dieser Glaube sich auf den Empfang der uns geltenden „Wohltaten" des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes richtet. Aber die altkirchliche Trinitätslehre mit ihrer Begrifflichkeit und Bestimmung der innertrinitarischen Be33

34

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Semler, Vindiciae plurium praecipuarum lectionum codicis graeci Novi Testam. adversas Guilielm. Whiston Anglum atque ab eo latas leges criticas. Halae 1750. - Vgl. auch ders., Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 27. Nach Semlers Urteil in den Historischen Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik sucht Goeze mit seinem Ketzereivorwurf und seinen dogmatischen Beschuldigungen den Eindruck zu erwecken, „daß endlich ich gar für einen Arianer und unredlichen Theologus der lutherischen Kirche mich sollte ansehen lassen." - Später erklärt Semler: „Ich verehre sonst den Herrn Senior als einen angesehenen Mann; aber als Schriftsteller über einen kritischen Gegenstand gebe ich ihm ein gemäßigtes Lob und wenn er über andere, die nicht seiner Meinung sind, bald durch den Vorwurf der Ketzerey, bald durch Spöttereien und ein hohnsprechendes Wesen, Meister zu werden sucht: so muß ich öffentlich sagen, daß es ein ungeisüich böses Geschrey und unchristlich gehandelt seie." Vgl. Semler, Historische Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1768, Vorrede u. S. 356. Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 262.

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Ziehungen darf nicht zum Inhalt des christlichen Glaubens gerechnet werden. Gemäß der eigenen Unterscheidung von christlicher Religion und geschichtlich bedingter Kirchentheologie wendet er sich gegen die Tendenz, mit dem Wortlaut der altkirchlichen Bekenntnisse eine bestimmte Theologie zur Norm zu erheben und lehrgesetzlich verbindlich zu machen. Für das gegenwärtige Christsein ist nach Semlers Urteil „die eigentliche christliche Sinnesänderung" von größerem Gewicht als die bloße Wiederholung von altkirchlichen Lehrformulierungen.36 Ist Goezes Bestreben darauf gerichtet, im Interesse des ewigen Seelenheils an der Vollständigkeit, Zusammengehörigkeit, notwendigen Anerkennung und rechtlichen Geltung aller Lehren der Lutherischen Kirche festzuhalten, so ist Semler bestrebt, den Umfang der von jedem Christen anzuerkennenden wesentlichen Glaubenslehren möglichst klein zu halten und gegenüber dem weiten Feld zeitbedingter theologischer Lehren deutlich abzugrenzen. Es sind in der Tat gegensätzliche Tendenzen, die hier aufeinanderstoßen: Goezes Versuch einer Sicherung des lutherischen Glaubens durch betontes Festhalten an den in den Bekenntnissen erfolgten Lehrfestsetzungen und Semlers Verteidigung der Freiheit des christlichen Glaubens durch den Hinweis darauf, daß letztlich nur die biblischen Heilswahrheiten, d.h. die Bestandteile und Aussagen der im Neuen Testament bezeugten „Heilsordnung", verbindlich seien, während die überlieferten theologischen Lehren und Dogmen solche Verbindlichkeit nicht für sich beanspruchen könnten.

6. Die Endphase der Kontroverse Angesichts der gelehrten Öffentlichkeit, welche die Auseinandersetzung mit Interesse verfolgte, ist bis in die Endphase der Kontroverse um das wissenschaftliche Ansehen in der Kenntnis der Dogmengeschichte und Auslegungsgeschichte sowie um die sachgemäße Beurteilung von schwierigen textkritischen Fragen gerungen worden. Auf eine genauere Darstellung dieser Endphase des Streites, der sich bis in die Publikationen des Jahres 1771 hinein verfolgen läßt, kann hier verzichtet werden. Eine Annäherung der unterschiedlichen Auffassungen fand nicht statt. Eher wird man von einer Verhärtung der Positionen sprechen müssen. Goezes Vermutung, daß Semler ein geheimes Lehrgebäude habe und von daher argumentiere, hat dieser scharf zurückgewiesen. Hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit sich die Theologie neuzeitlichen Erkenntnissen öffnen sollte, wurden von Semler und Goeze gegensätzliche Standpunkte vertreten. Nicht weniger umstritten blieb der beiderseitige Anspruch, das Erbe reformatorischer Theologie zu wahren und in sachgemäßer Form fortzuführen. Im Urteil Goezes erscheinen Semlers historischkritische Untersuchungen als ein höchst gefährliches Unternehmen, weil sie letzt36

Semler, Historische Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Halle/Helmstädt 1768, S. 306f.

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lieh zu ganz unreformatorischen, ja antireformatorischen Konsequenzen führen. Semler rühmet sich zwar, daß sein Hauptzweck dieser sey, in den Fußstapfen eines Luthers und Melanchthons einherzugehen, und die Kirche zu reformieren, er wird aber erfahren, daß seine Bemühungen, Sammlungen etc. gerade eine gegenseitige Wirkung nach sich ziehen werden.37

Umgekehrt grenzt Seniler sich sehr deutlich von den „orthodoxen Usurpatoren" vom Schlage eines Senior Goeze ab, die ihre eigene Theologie als Teil der Offenbarung oder des Wortes Gottes ausgeben, und er bestreitet, daß Goeze zu jenen Gelehrten gehört, „die der christlichen Wahrheit zu unserer Zeit ernsdich forthelfen".38 Letzteres aber versteht Semler als die eigentliche Aufgabe des Theologen und als Anliegen der eigenen kritischen Untersuchungen. Goeze hatte dem Hallenser Professor nicht nur Fahrlässigkeit und Ungenauigkeit bei den angeführten Zitaten aus den Kirchenvätern zum Vorwurf gemacht, sondern ihm zugleich die Absicht unterstellt, das göttliche Ansehen der Heiligen Schrift zu untergraben.39 Semler antwortet auf diese Beschuldigungen postwendend, indem er als unmittelbare Erwiderung seinem gerade fertiggestellten ersten Band der Abhandlung von freier Untersuchung des Canon einen zwanzig Druckseiten umfassenden Anhang beifügt.40 Mit diesem Werk, das eine Untersuchung zur Entstehung, Geschichte und Bedeutung des neutestamentlichen Kanons darstellt, rückte Semler in den Brennpunkt einer neuen Auseinandersetzung. Noch stärker als die zuvor veröffentlichten textkritischen Arbeiten ist dieses kanonskritische Werk von den Vertretern der zeitgenössischen lutherischen und reformierten Spätorthodoxie als Herausforderung empfunden worden. Denn Semler hatte sich um den historischen Nachweis bemüht, daß der neutestamentliche Kanon eine relativ späte Erscheinung ist, dem nicht nur unterschiedliche Kanonsverzeichnisse in den einzelnen selbständigen Kirchenprovinzen, sondern im Urchristentum auch eine Phase rein mündlicher Verkündigung des „Wortes Gottes" vorausgegangen sind. Zurückgewiesen wurde damit die orthodoxe Forderung nach Anerkennung einer formal-gesetzlichen Schriftautorität, welche alle Teile, Schriften und Aussagen des Neuen Testaments als gleichermaßen verbindlich ansieht Nachdrücklich plädiert Semler für eine inhaltlich bestimmte Schriftautorität, weil behauptet werden muß, „daß die Kraft des Christentums, die geistliche Vollkommenheit und die gewisse Ordnung des Wachstums in der Erkenntnis Gottes und Christi" nicht an die Behauptung der Inspiriertheit und Göttlichkeit aller biblischen Bücher gebunden ist, 37

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Johann Melchior Goeze, Eine Probe von der Art, wie der Hr. D. Semler seine Zeugen anzuführen pflegt. Hamburg 1771, S. 22. Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 144 u. 178. Johann Melchior Goeze, Eine Probe von der Art, wie der Hr. D. Semler seine Zeugen anzuführen pflegt. Hamburg 1771, S. 25. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 253-272.

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sondern „die ganze christliche Heilsordnung" von uns auch aus einer einzigen neutestamendichen Schrift (z.B. dem Römerbrief oder Galaterbrief) gewonnen und angeeignet werden kann.41

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Ebd. Halle 1772, Vorrede u. S. 302.

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IX. Hermeneutik und Bibelkritik

Das Thema der Hermeneutik und Bibelkritik ist sehr weit gespannt und betrifft einen wesentlichen Teil von Semlers Forschung und Theologie. Die Probleme, die sich hier stellen, sind kompliziert und vielschichtig. Sie verlangen eine genauere Analyse und bieten Stoff zu Erörterungen, von denen im folgenden nur einige Aspekte behandelt und entfaltet werden können.1

1. Bibelautorität und Bibelkritik Während der Begriff der Hermeneutik zu Semlers Zeiten bereits ein bekannter und geläufiger Begriff ist, kann das gleiche von dem Begriff der Bibelkritik nicht gesagt werden. Semler hat ihn nicht verwandt, obwohl er die wissenschaftliche Kritik in ihrer Anwendung auf biblische Texte schon frühzeitig bejaht. Wenn wir - wie dies hier geschieht - von Bibelkritik bei Semler sprechen, bedienen wir uns eines neueren Begriffs, demzufolge die Bereiche der Textkritik, der Literarkritik und der Sachkritik zur Bibelkritik gerechnet werden. Die Bezeichnung dieser drei Teilbereiche erklärt freilich noch nicht den pejorativen Sinn, der dem Begriff der Bibelkritik bis heute anhaftet. Er ergibt sich aus der engen Relation zum Begriff der Bibelautorität. Bibelkritik - und zwar ganz gleich aus welchen Gründen und Motiven sie betrieben wird - wird weithin als ein die Bibelautorität auflösendes und zersetzendes Element empfunden. Sie gilt als richtende und abwertende Kritik und daher als eine Gefahrdung des Glaubens. Beachtung verdient jedoch der Umstand, daß sich Bibelkritik und Bibelautorität oftmals gegenseitig bedingen. Das jeweils vorherrschende Verständnis der Bibelautorität ist in der Regel der Maßstab dafür gewesen, was als Bibelkritik empfunden wurde. Dieser Maßstab ist aber keine konstante, sondern eine sich geschichtlich wandelnde Größe. Wenn heute in konservativen Kreisen die These vertreten wird, das eigentlich Problematische sei stets die Bibelkritik gewesen, weil sie von ungeklärten Voraussetzungen oder Vorurteilen ausgegangen sei, so ist dies eine sehr begrenzte und einseitige Sichtweise. Denn nicht minder problematisch ist der

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Vgl. bereits: Gottfried Homig, Hermeneutik und Bibelkritik bei Johann Salomo Semler, in: Henning Graf Reventlow/Walter Spam/John Woodbridge (Hg.), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Wiesbaden 1988, S. 219-236. Geringfügig überarbeitete Fassung des Vortrags, der am 13. Dezember 1985 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel gehalten wurde.

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angewandte Maßstab der Bibelautorität. Die Lehren und Theorien, mit denen das jeweilige Verständnis der Bibelautorität begründet wurde, haben sich gewandelt, und auch sie müssen jeweils in ihren Behauptungen und Argumenten genauer überprüft weiden. Blickt man auf die theologische Situation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so gab es neben den vorwärtsdrängenden Strömungen der Neologie und Aufklärungstheologie noch immer starke Kräfte einer Orthodoxie, die an einem lehrgesetzlichen Verständnis der Bibelautorität festhielt. Gemäß der Verbalinspirationslehre galt für sie die Bibel nicht nur als Quelle der kirchlichen Glaubenslehren und einer christlichen Frömmigkeit, sondern zugleich auch als ein unfehlbares Geschichtsbuch, aus dem sichere Erkenntnisse über Anfang, Verlauf und Ende der Welt- und Menschheitsgeschichte gewonnen werden konnten. Nicht nur die Theologie, sondern auch die profane Geschichtsschreibung hatte sich an den vorgegebenen Rahmen biblischer Aussagen zu halten. Die alttestamentlichen Schöpfungsberichte wurden nicht als mythische Erzählungen und auch nicht als bloßes Bekenntnis zu der in der Schöpfung begründeten Henrschaft Gottes über die Welt, sondern als im wörtlichen Sinne zutreffende Beschreibung von dem Hergang der Weltentstehung aufgefaßt. Wer in dieser Weise vom kognitiven Charakter und der generellen Zuverlässigkeit der alttestamendichen Berichte überzeugt war, für den hatte unsere Welt ein Alter von höchstens 6000 Jahren, der mußte in Übereinstimmung mit dem Sechs-Tage-Schema die Gleichzeitigkeit der Erschaffung der Welt und des Menschen behaupten, am geozentrischen Weltbild festhalten und die Lehre von der Existenz der Präadamiten als schriftwidrige und verdammungswürdige Ketzerei verwerfen. Selbstverständlich mußte er auch alle biblischen Wunderberichte ohne Abstriche und Einschränkungen für wahr halten: die wundersame Errettung der Israeliten beim Durchzug durch das Rote Meer, den Einsturz der Mauern Jerichos durch das Ertönen der Posaunen, das Stillestehen der Sonne unter Josua, die Bileamsgeschichte von der redenden Eselin und vieles mehr.

2. Wurzeln und Faktoren der Bibelkritik Ein Wandlungsprozeß, der für den Übergang zur Neologie und Aufklärungstheologie von eminenter Wichtigkeit ist, hat sich nur langsam vollzogen. Von den Gelehrten, die mitten in diesem Wandlungsprozeß standen, ist er verständlicherweise nur selten reflektiert worden. Er besteht kurz gesagt darin, daß die Theologie ihre Rolle und Funktion als eine für alle anderen Bereiche maßgebende Leitwissenschaft verliert. Rückblickend auf dieses geschichtliche Phänomen wird man kaum sagen können, daß sich die Theologie freiwillig und aufgrund besserer Einsicht aus ihrer ehemaligen Herrschaftsrolle verabschiedet hätte. Eher schon, daß ihr diese Rolle 230

durch den Doppelangriff der sich verselbständigenden Geschichts- und Naturwissenschaft allmählich entwunden wurde. Beigetragen dazu hat zweifellos auch die Entwicklung in der neuzeitlichen Philosophie von Descartes über David Hume bis zu Immanuel Kant. Die Historiker und Naturwissenschaftler des 18. Jahrhunderts waren in der Regel keineswegs christentumsfeindlich eingestellt. Aber von ihren Methoden und Forschungsresultaten her konnten sie Bibelkritik und Theologiekritik betreiben und haben dies auch getan. Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewann die historische Bibelkritik in Deutschland an Umfang, Stärke und Evidenz. Dieser Vorgang wurde wissenschaftsgeschichtlich dadurch ermöglicht, daß man die Geschehnisaussagen und Berichte der Bibel mit dem neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnis und den naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen konfrontierte. Die historische Distanz zu den weltbildhaften und mythischen Bibelaussagen wurde deutlicher als früher empfunden und zugleich mit solchen Feststellungen die fortdauernde Geltung dieser Aussagen bestritten oder doch erheblich relativiert. Bei Johann Salomo Semler zeigen sich die Auswirkungen des soeben geschilderten Wandlungsprozesses.2 Die mosaischen Schöpfungsberichte und die Sündenfallsgeschichte hat er nicht als Berichte von historischen Ereignissen angesehen und es grundsätzlich für ein Mißverständnis gehalten, die Bibel als unfehlbares Geschichtsbuch oder als Lehrbuch der Naturkunde zu betrachten. „Man muß vielmehr gestehen", so erklärt er 1775 in der Auseinandersetzung mit dem Greifswalder Kollegen Johann Ernst Schubert, daß aus der heil. Schrift oder Bibel weder die sogenannte allgemeine Welthistorie, die alle nach und nach erst bekannte Nationen begreift, noch eine genaue Chronologie zumal in der Verknüpfung mit der Geschichte anderer Völker; noch weniger sogenannte Philosophie, Physik, Astronomie, Mathematik etc. von den Menschen gelernt und gesammelt werden sollen.3

Man kann in der Tat fragen, ob der von der altprotestantischen Orthodoxie erhobene generelle Geltungsanspruch für die Bibeltexte, insbesondere die Behauptung der göttlichen Verbalinspiration, die jedes Wort des vorliegenden Bibeltextes zum irrtumslosen und absolut verpflichtenden Gotteswort werden ließ, nicht zu einer äußerst schwierigen Problematik führen mußte. Und zwar zu einer Problematik, die 2

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Vgl. Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 59: „Denn das Christentum ist kein philosophisches System, betrifft auch weder die Physik noch Physiologie, Astronomie oder die allgemeinen Begriffe von mit uns übrigens verbundenen Dingen [...] Daher blieben auch bey den ersten Christen alle übrigen Mängel der gemeinen damaligen Erkenntnis [...], also sind nicht nur viel schlechte und nach der nachherigen Entdeckung zu urteilen falsche Vorstellungen und Meinungen über die natürlichen Ursachen und Verknüpfungen der Dinge, sondern auch Vorurteile und abergläubische Irrtümer, insofern sie nicht die wenigen wesentlichen Wahrheiten des Christentums selbst betrafen, hie und da gebheben." Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 40.

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ihrerseits dann einen Großteil der Bibelkritik der Aufklärung und Aufklärungstheologie provozierte: sowohl die Textkritik als auch eine gewisse Sachkritik an der behaupteten Referenz und Geltung biblischer Angaben, Berichte und Vorstellungen. Die sich allmählich verselbständigenden Naturwissenschaften und die profane Geschichtswissenschaft förderten im 17. und 18. Jahrhundert zahlreiche bis dahin unbekannte oder unbeachtet gebliebene Sachverhalte zutage, die den engen chronologischen Rahmen des biblischen Geschichtsbildes sprengten und in ihm kaum noch unterzubringen waren. Die Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift als Geschichtsquelle wurde erschüttert, und dieser Vorgang mußte zwangsläufig auch Auswirkungen auf das Verständnis der Bibelautorität haben. Auffassungen, welche zur Zeit der Hochorthodoxie offiziell noch völlig inakzeptabel waren, galten zu Semlers Zeit vielerorts bereits als gesichertes wissenschaftliches Wissen. Der Göttinger Historiker August Ludwig Schlözer rechnet, was das Alter der Welt anbelangt, mit Myriaden von Jahren und erklärt im Jahre 1773, daß unsere Erde und das große Weltall nicht erst „6 mal 24 Stunden vor Adam" entstanden sein können.4 Auf die Bibelkritik der deutschsprachigen Theologie des 18. Jahrhunderts haben offenbar sehr verschiedene Faktoren eingewirkt. Was ihr zusätzliche Impulse verleiht, ist das durch Forschungs- und Entdeckungsreisen explosionsartige Anwachsen des historischen Wissens und die gleichzeitig sich vollziehende Verwissenschaftlichung des historischen Denkens. Ahnliches ließe sich auch im Blick auf die Methoden und den Wissenszuwachs in den Naturwissenschaften sagen.5 Erkennt

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August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner Universalhistorie. Bd. 2. Göttingen/Gotha 1773, S. 349. - Bezeichnend für die Beunruhigung, die in dieser Frage für die zeitgenössische Orthodoxie entstanden war, ist die Schrift des Rintelner Professors Johann Daniel Müller, Ist es wahr, daß die Erde ein unermeßlich hohes Alter habe? Rinteln 1774; vgl. dazu auch die Rezension dieser Schrift in den Kritischen Sammlungen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit. Bd. 2,2. Stück. Bützow/Wismar 1775, S. 53ff. Gegen den theologischen Widerstand im römischen Katholizismus und im Protestantismus gewinnt der Kopernikanismus zunehmende wissenschaftliche Anerkennung. Immer deutlicher wird das Scheitern aller Versuche, am biblischen Weltbild und der alttestamentlichen Chronologie festzuhalten. Daß die naturwissenschaftlichen Forschungen auch im 18. Jahrhundert Auswirkungen auf die Bibelkritik haben, kann durch ein umfangreiches Quellenmaterial belegt werden. Um einen direkten Konflikt mit der Bibelautorität zu vermeiden, bediente man sich allerdings nicht selten einer Hermeneutik, die es gestattete, die historische Kritik an dem biblischen Weltbild und den biblischen Naturaussagen in eine theologische Interpretation aufzuheben, welche die Gültigkeit der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und des kopemikanischen Weltbildes voraussetzt. Die Anwendung der Akkommodationstheorie bot dazu ein geeignetes Interpretationsinstrument; vgl. Heinrich Karpp, Der Beitrag Keplers und Galileis zum neuzeitlichen Schriftverständnis, in: ZThK 67 (1979), S. 46ff. - Bezeichnend für das zunehmende Bewußtsein der historischen Distanz zum biblischen Weltbild ist auch die Kritik Voltaires, der in seinen Bemerkungen zu Pascals Pensées behauptet, daß die Heilige Schrift sich in Dingen der Physik den zu ihrer Zeit gängigen Ideen und Vorurteilen angepaßt habe. Vgl. Voltaire, Lettres philosophiques, hg. ν. Gustave Lanson. Paris 1964, S. 163f.

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man das Gewicht dieser Faktoren, dann erscheinen jene Erklärungsmodelle unzulänglich, welche die Bibelkritik der Aufklärungstheologie monokausal oder vorwiegend genetisch aus theologischen, philosophischen oder weltanschaulichen Konzeptionen früherer Zeiten (z.B. dem spätmittelalterlichen Spiritualismus, dem humanistischen Moralismus und Rationalismus, Erasmus und dem englischen Deismus) zu erklären versuchten. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich aber auch, daß es kaum angemessen sein dürfte, in der Bibelkritik Semlers und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lediglich Äußerungen des aufklärerischen Zeitgeistes oder einer individuellen Subjektivität zu erblicken. Es gilt vielmehr, die grundlegenden Probleme zu erfassen, von denen diese Bibelkritik bestimmt ist. Zu ihnen gehört die Wahrheitsfrage nach der Authentizität des überlieferten Bibeltextes sowie die Frage nach der Referenz und dem Phänomenbezug der glaubensbedingten und historischen Bibelaussagen.

3. Der Weg zur Anerkennung der Textkritik Wer den mühsamen Anfängen der biblischen Textkritik in Deutschland nachspürt, stößt auf einen von englischen Gelehrten ausgehenden Impuls, der jedoch zunächst nicht positiv aufgenommen wurde, sondern um die Mitte des 18. Jahrhunderts bei den Hallenser Theologen Beunruhigung auslöste und von ihnen als wissenschaftliche Herausforderung empfunden wurde. Was war geschehen? Thomas Emlyn und William Whiston hatten 1715 und 1719 in ihren Untersuchungen und Kommentaren zum 1. Johannesbrief die Stelle 1. Joh. 5,7 für unecht erklärt,6 und ebenso war eine 1729 von englischen Gelehrten erstellte zweibändige griechisch-englische Ausgabe des Neuen Testaments verfahren, deren Titel den Anspruch erhob, einen nach den ältesten Handschriften verbesserten griechischen Grundtext zu bieten.7 Nichts deutet darauf hin, daß die genannten englischen Werke sogleich nach ihrem Erscheinen in Deutschland größere Aufmerksamkeit erregt oder eine Diskussion ausgelöst hätten. Es hat offenbar Jahrzehnte gedauert, bis sie überhaupt genauer zur Kenntnis genommen wurden. Die Rolle des Vermittlers spielte der von Semler als Lehrer und Wissenschaftler hochverehrte Siegmund Jacob Baumgarten, der diese Werke in seiner riesigen Privatbibliothek besaß und sie in den Jahren 1749 und 1750 in den von ihm herausge-

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Thomas Emlyn, A full inquiry into original authority ofthat text, I John V,7 [1715], in: ders., A Collection of tracts relating to the Deity, Worship and Satisfaction of the Lord Jesus Christ. 2 Bde. London 1731. - William Whiston, A commentary on the three catholick epistels of St. John. London 1719.

7

The new testament in greek and english: containing the original text corrected from the authority of the most authentic manuscripts. 2 Bde. London 1729.

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gebenen Nachrichten von einer hallischen Bibliothek rezensieren ließ.8 Bei allem Respekt, den man den Engländern wegen ihrer Gelehrsamkeit zollte, wurde ihre Textkritik doch als ein abzulehnendes, verwerfliches und willkürliches Unternehmen gebrandmarkt. Die Rezensionen sind nicht signiert, aber zweifellos mit Billigung Baumgartens erschienen. Vermutlich, ja wahrscheinlich ist der in Baumgartens Haus wohnende und zur Rezensionsarbeit herangezogene Semler der Verfasser gewesen. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der englischen Textkritik war nun unvermeidlich geworden. Als Thema für seine Magisterarbeit erhielt der junge Semler von Baumgarten die Aufgabe, die durch William Whiston und andere englische Gelehrte in ihrer Authentizität bestrittene Stelle 1. Joh. 5,7 zu verteidigen. Obwohl Erasmus den späteren Textzusatz zu dieser Stelle in seinen beiden ersten Ausgaben des griechischen Neuen Testaments ausgelassen hatte, und derselbe infolgedessen auch bei Luther unübersetzt geblieben war, war er später doch wieder in die deutschsprachigen Bibelausgaben eingedrungen9 und wurde von den Hallenser Theologen als authentischer Bestandteil des Textes betrachtet. Die Stelle hatte mit ihren Zusätzen folgenden Wortlaut: „So sind es drei, die da zeugen auf Erden, der Geist, das Wasser und das Blut und sie sind eins in Christo Jesu; und es sind drei, die da zeugen im Himmel, der Vater, das Wort und der Heilige Geist und diese drei sind eins." Der damaligen Dogmatik galt diese Stelle als ein wichtiger Beweis für die Richtigkeit der Trinitätslehre, auf den man nicht verzichten wollte. An dem ablehnenden Tenor der Halleschen Rezensionen, aber auch an Semlers Bericht über sein 1750 erfolgreich bestandenes Magisterexamen wird deutlich, daß die Beurteilung der textkritischen Fragen und Lösungen von ihren dogmatischen Konsequenzen her erfolgte. Der bekannte und vertraute Bibeltext sollte in seiner Beweisfunktion für die Dogmatik erhalten bleiben und das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Bibeltextes nicht erschüttert werden. Wer die Echtheit von 1. Joh. 5,7 verteidigte, trat nach hallescher Überzeugung dafür ein, daß sie von Johannes stamme und von ihm „zum Beweise der Dreieinigkeit" bestimmt worden sei.10 Umgekehrt bot derjenige, der die Echtheit bestritt, eine „arianische Erklärung", stellte sich also auf die Seite 8

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Nachrichten von einer hallischen Bibliothek, hg. v. Siegmund Jacob Baumgarten. Bd. 4. Halle 1749, S. 98ff. (zu Thomas Emlyn), S. 208-212 (zu The new testament in greek and english), S. 353f. (zu William Whiston). Das Eindringen des Comma Johanneum in die deutsche Bibelübersetzung Martin Luthers vollzieht sich bereits um 1575 (vgl. die Angaben bei Georg Wolfgang Panzer, Entwurf einer vollständigen Geschichte der deutschen Bibelübersetzung D. Martin Luthers vom Jahr 1517 an bis 1581. Nürnberg 1783, S. 494ff., sowie Beate Köster, Die Lutherbibel im frühen Pietismus. Bielefeld 1984, S. 28). Demzufolge rechnet auch der Hallenser Theologieprofessor Johann Anastasius Freylinghausen das Comma Johanneum ganz problemlos zum ursprünglichen Text; vgl. ders., Erklärung der ersten Epistel Johannis, hg. v. Gotthilf August Francke. Halle 1741, S. 553f. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 268.

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der Ketzer und der Widersacher der Gottheit Christi. Semler bekennt von seiner Magisterdisputation, daß sie „wider Whistons arianische Erklärung mancher Stellen des Neuen Testaments" gerichtet war.11 Unmittelbar nach seiner Magisterdisputation ist Semler in einen lateinisch geführten Briefwechsel mit William Whiston getreten12 und hat kurz nach Baumgartens Tod eine grundsätzliche Revision seiner früheren Ansicht vollzogen, weil er erkannte, daß die besseren wissenschaftlichen Argumente auf Seiten Whistons und der englischen Textkritiker lagen. Es gehört zu Semlers textkritischen Erkenntnissen, daß die Bibelhandschriften einen unterschiedlichen Quellenwert besitzen, und daß bei der Textüberlieferung und dem wiederholten Abschreiben Veränderungen im ursprünglichen Wortlaut eingetreten sind. Aber auch aus dogmatischen Motiven und um den Vorrang des in der römisch-katholischen Kirche als maßgeblich angesehenen Vulgatatextes zu sichern, sind in der Vergangenheit Textänderungen und Texteinschübe vorgenommen worden. Die Notwendigkeit, bei der Erstellung eines einigermaßen zuverlässigen Textes auf die ältesten griechischen Handschriften des Neuen Testaments zurückzugehen, die unterschiedlichen Lesearten miteinander zu vergleichen und kritisch zu werten, macht nach Semlers Urteil die orthodoxe Schriftlehre mit ihren Behauptungen einer Vollkommenheit, Unversehrtheit und Verbalinspiration des überlieferten Textes völlig gegenstandslos.13 Der Durchbruch zur Anerkennung der Textkritik hat sich in der deutschsprachigen protestantischen Theologie in mehreren Etappen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen vollzogen, zu denen auch die mehrjährige Kontroverse Semlers mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze über den Quellenwert des in der Complutensischen Bibelausgabe enthaltenen Neuen Testaments zu rechnen ist. Bei diesem Streit ging es neben vielen historischen und philologischen Einzelfragen auch um das Problem, wie der Texteinschub von 1. Joh. 5,7 zu erklären

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Semler, Zum Andenken einer würdigen Frau. Halle 1772, S. 27; ders., Vindiciae plwrium praecipuarum lectionum codicis graeci Novi Teslam. adversus Guilielm. Whiston Anglum atque ab eo latas leges criticas. Halae 1750. - Semlers Behauptung, daß Whiston einige Stellen des N. T. verfälscht habe, richtete sich vor allem gegen dessen zweiteiliges Primitive New Testament (London-Westminster 1745). - In der Rezension, die dieses Werk Whistons in den Nachrichten von einer hallischen Bibliothek erhalten hatte, wird behauptet, „daß die kritische Verwegenheit und Unwissenheit in Mishandlung der göttlichen Schriften unter dem Vorwand ihrer Berichtigung noch niemals weiter gegangen" ist. Vgl. Nachrichten von einer hallischen Bibliothek, hg. v. Siegmund Jacob Baumgarten. Bd. 6. Halle 1750, S. 189ff. Von dem Briefwechsel mit dem englischen Gelehrten William Whiston (1667-1752), der Nachfolger Newtons in Cambridge gewesen ist, berichtet Semler in: Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 118f. Leider ist dieser Briefwechsel nicht erhalten. - Zu Whistons Bibelkritik und Hermeneutik vgl. Peter Stemmer, Weissagung und Kritik. Göttingen 1983, S. 12-30, sowie James E. Force, William Whiston, Honest Newtonian. Cambridge 1985, insb. S. 90ff. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 420. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 125. Einen ausführlichen Bericht über die Kontroverse zwischen Semler und Goeze hat der Göttinger Kirchengeschichtler Walch unter dem Titel Nachricht von der Streitigkeit über das Ansehen der complutensischen Ausgabe des NT

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Als Semler zu Beginn der 80er Jahre seine zweibändige Autobiographie verfaßte, hatte die Textkritik als wissenschaftliches Verfahren in der protestantischen Universitätstheologie weithin Anerkennung gefunden, so daß Semler sich in seiner Position bestätigt sah. Aber die massiven Widerstände, die es zu überwinden galt, waren ihm durchaus noch bewußt: Denn daß die besondere Übung und Geschicklichkeit, welche man Critik nennt, durchaus bei der Bibel nicht solle und dürfe angewendet werden, so nützlich sie bei allen alten menschlichen Büchern sein möge: habe ich mir durchaus nicht beibringen lassen; in dem ich [...] das Abschreiben und das Drucken der Bibel für eben dieselbe menschliche Arbeit hielte, als wenn Abschreiber und Drucker den Plato oder Horatius in Arbeit nahmen. Eine besondere außerordentliche Regierung und Aufsicht Gottes bei solcher Arbeit des Abschreibens, zumal des Neuen Testaments, kann nur derjenige behaupten, der die wirkliche Welt aus seinem Kopfe abhängen läßt.15

An Semlers Zitat wird zweierlei deutlich: einmal, daß der Bibel - zumindest was die Geschichte ihrer Textüberlieferung anbelangt - keine Sonderstellung im Vergleich zu anderer antiker Literatur zugebilligt werden kann; und zum zweiten, daß es der Befreiung von bestimmten dogmatischen Behauptungen bedurft hatte, um den Weg zur biblischen Textkritik beschreiten zu können, nämlich der Befreiung von den von Baumgarten und anderen Theologen noch zu Semlers Studienzeit vertretenen Thesen, daß für die Uberlieferung des biblischen Textes eine besondere Providentia dei anzunehmen sei, und daß das richterliche Ansehen der Heiligen Schrift auch die „unverfälschte Richtigkeit" des uns überlieferten Bibeltextes impliziere.16 Blickt man in neuere Darstellungen und Dokumentationen zur Bibelkritik der protestantischen Aufklärungstheologie, so zeigt sich die Tendenz, die Textkritik zu übergehen und zu verschweigen, gleichsam als hätte es sie gar nicht gegeben. Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß die Bibelkritik der Aufklärungstheologie nicht nur aus einer mitunter problematischen Sachkritik, sondern auch aus einer um die Authentizität des Bibeltextes bemühten Textkritik bestanden hat.

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in: Neueste Religionsgeschichte unter der Aufsicht Hrn. Christian Wilhelm Franz Walchs. Theil 4. Lemgo 1774, S. 425^)90, gegeben. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 125. Die Lehre von der „unverfälschten Richtigkeit" (integritas incorrupta) der Heiligen Schrift besagt nach Baumgarten, daß „die heilige Schrift noch ganz durch und durch nach allen ihren Teilen eben dieselbe sey, wie sie aus göttlichem Eingeben von den Verfassern derselben niedergeschrieben worden"; vgl. Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 3. Halle 1760, S. 126. - Zu der konservativen Einstellung, die sich aus dieser Schriftlehre gegenüber der Textkritik ergeben mußte, vgl. auch Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. Göttingen 1974, S. 216f.

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4. Die Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift Wie im Pietismus, so ist auch in der Exegese der Neologie das reformatorische Schriftprinzip als entscheidendes Motiv für die Intensivierung des Bibelstudiums wirksam geblieben. Semler, der für die Anerkennung der Textkritik kämpft und eine historisch-kritische Schriftauslegung zur Geltung zu bringen sucht, ist sich des Traditionszusammenhanges mit der Reformation durchaus bewußt gewesen. Wiederholt hat er sich auf Luther und Melanchthon berufen, besonders hinsichtlich der Unterscheidung von „Wort Gottes" und „Heiliger Schrift", aber auch hinsichtlich der Grundsätze einer am Wortsinn orientierten Schriftauslegung. Die neutestamentlichen Schriften sind für Semler nicht nur historische Quellen, aus denen die Geschichte des Urchristentums mit ihrem theologischen Gegensatz von gesetzlich denkender judenchristlicher Partei und freiheitlich gesonnener paulinischer Partei rekonstruiert werden kann. Sie sind für ihn auch aktuelle Verkündigungstexte, die den christlichen Glauben wecken und stärken wollen. Als Theologieprofessor hat er für seine Studenten sonntags Erbauungsstunden abgehalten, die in Gebeten und ausführlichen Bibelauslegungen bestanden haben. Sie sind uns im Band seiner Ascetischen Vorlesungen erhalten. Aus der Feder Semlers besitzen wir auch mehrere Kommentare zu neutestamentlichen Schriften, vor allem zu paulinischen Briefen. Als Prediger und Exeget war Semler der Ansicht, daß das lebendige und wirksame Gottes wort von der eigenen Bibelkritik gar nicht berührt werde. Wo allerdings die neutestamentliche Botschaft in ihrem Wahrheitsgehalt radikal in Frage gestellt wird, wie dies durch die Betrugstheorie des Reimarus im Fragmentenstreit geschehen ist, sieht Semler sich zur Verteidigung einer inhaltlich verstandenen Bibelautorität aufgerufen.17 Das Festhalten an einer inhaltlich verstandenen Bibelautorität bei gleichzeitiger Bibelkritik erklärt sich bei Semler aus seiner Unterscheidung von „Wort Gottes" und „Heiliger Schrift", für die er schon im zweiten Teil der Theologischen Hermeneutik (1761), aber auch später in der vierbändigen Untersuchung zum Kanon eingetreten ist.18 Man darf diese Unterscheidung jedoch nicht als Scheidung oder Trennung interpretieren. Eine solche Trennung ist nach Semler unmöglich, weil äußere Kriterien zur Feststellung des Gotteswortes gar nicht zur Verfügung stehen. Fragt man, wie das Gotteswort als solches wahrgenommen werden kann, so ist im

Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779 [ 2 1780], - Schon 1761 erklärt Semler in der Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 19: „Die christliche Religion besteht [...] in der Annahme der biblischen Wahrheiten". Im gleichen Sinne heißt es später bei Semler: „Ich verteidige und beschütze das wahre Evangelium, die einzige wahre christliche heilsame Lehre und Religion". Vgl. ders., Ausfiirliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 248. 18

Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 126; vgl. dazu auch Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Göttingen 1961, S. 190.

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Sinne Semlers zu antworten: solche Wahrnehmung geschieht durch das testimonium spiritus sancti internum.19 Anders ausgedrückt: Sie geschieht durch die subjektive Erfahrung des Individuums, das vom Worte Gottes im Herzen und Gewissen getroffen und durch dasselbe verändert wird. Mit der Unterscheidung von Gotteswort und Schrifttext gewinnt Semler den Freiraum für eine Bibelkritik, die textkritisch und sachkritisch verfahren kann, ohne die Autorität und Geltung des Gotteswortes einzuschränken. In einer prinzipiellen Äußerung aus dem Jahre 1777 heißt es bei Semler: „Das Wort Gottes ist freilich außer und über aller Kritik."20 Und schon einige Jahre zuvor formuliert er mit Bezug auf ein konkretes Problem der Textkritik: Gesetzt also Joh. 8 die ganze Historie von der Ehebrecherin fällt gar weg, wie sie in vielen ehemaligen Abschriften und Überzeugungen großer Kirchenparteien fehlte: so fehlt ein Stück in der sogenannten scriptura sacra, aber es fehlt gar nichts von dem Worte Gottes.21

Semler hat eine streng historische Schriftauslegung gefordert, die sich am Wortlaut der Texte orientiert und diese so zu verstehen sucht, wie sie von ihrem jeweiligen Autor zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift verstanden sein wollten. Unter Berufung auf reformatorische Erkenntnisse hat er die Theorie vom vierfachen Schriftsinn entschieden abgelehnt.22 Wenn Semler betont, daß die Ermittlung des historischen Schriftsinns einen Vorrang vor jeder erbaulichen Aktualisierung des Textes beanspruchen darf, so hat diese Forderung eindeutig eine antisubjektivistische Spitze. Sie ist gegen die pietistische Tendenz zur raschen erbaulichen Aktualisierung und Vergeistlichung von Bibeltexten, ebenso aber auch gegen die zeitgenössische dogmatische Auslegung secundum analogiam fidei gerichtet. Sofern in der kirchlichen Verkündigung eine Aktualisierung von Bibeltexten erfolgt, sollte diese durch den zuvor festgestellten historischen Textsinn gedeckt sein.

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Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 39: „Der einzige Beweis, der einem aufrichtigen Leser ein ganz Genüge tut, ist die innere Uberzeugung durch Wahrheiten, welche in dieser heiligen Schrift (aber nicht in allen Theilen und einzelnen Büchern) angetroffen werden, welches man sonst, kurz zu reden, [...] das Zeugnis des heiligen Geistes in dem Gemüte des Lesers genennt hat"; vgl. auch S. 402. Semler, Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 112. Dieser Auffassung entspricht auch Semlers These: „Vom Worte Gottes, (so unendlich es ist und nicht controlliert werden kann), sollte man nun nichts ab- noch zuthun"; vgl. ders., Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 60. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 117. Semlers scharfe und wiederholte Kritik an der Theorie vom vierfachen Schriftsinn einschließlich des in ihm enthaltenen „moralischen" Sinnes ist ein deutliches Indiz dafür, daß man seine Hermeneutik nicht der erasmischen Tradition zuordnen kann. Denn Erasmus hatte sich nachdrücklich für die Bejahung des vierfachen Schriftsinnes ausgesprochen. Semler folgt in seiner Kritik am vierfachen Schriftsinn Melanchthon, Chyträus und der lutherischen Auslegungstradition; vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heil. Schrift. Halle 1759. Weitere Quellenbelege bei Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Göttingen 1961, S. 204f.

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Es ist bezeichnend für die von Semler bejahte Bibelautorität, daß er den Bibelgebrauch und die Bibellektüre als allgemeine Christenpflicht ansieht, das hermeneutische Bemühen um eine korrekte Bibelauslegung als wissenschaftliche Angelegenheit aber davon unterschieden wissen will.23

5. Kanonkritik als Kritik der orthodoxen Lehre vom Kanon Semler wird oft als Begründer der Kanonkritik bezeichnet. Seine Bedeutung für den Anstieg des Niveaus der historischen Kritik in der deutschen Universitätstheologie ist in der Tat nicht gering. Er hat in den Jahren zwischen 1771 und 1775 eine vierbändige Abhandlung von freier Untersuchung des Canon publiziert, die bei ihrem Erscheinen Aufsehen erregte, mehr Widerspruch als Zustimmung fand und ihm sogar eine Klage vor dem höchsten zuständigen Gremium, dem Corpus Evangelicorum in Regensburg, eingetragen hat. Seine Untersuchung über die Entstehung und Geschichte des neutestamentlichen Kanons stellt eine beachtliche wissenschaftliche Leistung dar. Aber das Motiv, das Semler bei der Ausarbeitung bewegte, ist kein rein historisches gewesen. Es ging ihm nicht nur um die Darstellung der nachweisbaren kirchengeschichtlichen Sachverhalte, sondern zugleich um die Kritik an einem Denken, das ungeprüfte Traditionen zu einer verbindlichen Norm erhebt und so das freie Christsein einem unzulässigen Zwang unterwirft. Semler steht in einer theologischen Frontstellung. Seine Untersuchung ist eine Waffe im Kampf gegen den Herrschaftsanspruch der Orthodoxie, gegen die Geltung ihrer Schriftlehre, Hermeneutik und Dogmatik. Die Zeitgenossen Semlers haben dies deutlich empfunden. Es ist aber auch bei der heutigen Interpretation der Quellen zu beachten. Semlers Kritik richtet sich nicht gegen den Kanon als solchen. Trotz unterschiedlicher Werturteile über einzelne neutestamentliche Schriften, lobende über den Galater- und Römerbrief, die beiden Korintherbriefe sowie über das Johannesevangelium und kritische über die Apokalypse, hat er den Kanon in seiner Funktion als kirchliche Sammlung der maßgeblichen Verkündigungstexte durchaus anerkannt. Gegenstand der Kritik ist für ihn vielmehr die orthodoxe Lehre vom Kanon, welche im Widerspruch zu den historischen Sachverhalten den neutestamentlichen Kanon vergöttlicht und verabsolutiert, ihn durch die Verbalinspirationslehre zu einem die Christen verpflichtenden Glaubens- und Denkgesetz erhoben hat.

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Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1761, S. 19: „Man wird nun leicht den Unterschied des Gebrauchs der Bibel und ihrer Auslegung einsehen können. Der Gebrauch der Bibel ist algemein, oder ist eines jeden Christen Pflicht; nicht aber die Auslegung: es darf also auch nicht ein jeder Christ sich einer Auslegung anmaßen, ob er gleich die Bibel brauchen kann und soll."

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Diese orthodoxe Lehre erschüttert Semler durch den Nachweis, daß unser heutiger neutestamentlicher Kanon keineswegs von Anfang an in allen Gemeinden und Provinzen in Geltung gestanden habe, daß er vielerorts zunächst einen geringeren Umfang besaß und ihm überdies eine Periode rein mündlicher Evangeliumsverkündigung vorausgegangen ist. Wenn es aber in den ersten Jahrhunderten Predigt, Unterricht und christlichen Glauben gab, ohne daß man den erst später entstandenen Kanon von insgesamt 27 Schriften schon besessen hätte, dann darf dieser Kanon nicht nachträglich zu einer von jedem Christen unbedingt anzuerkennenden „regula cognoscendi et agendi" erhoben werden.24 Der neutestamentliche Kanon enthält zwar das uns angehende Wort Gottes, das Evangelium und die göttliche Heilsordnung, aber er verpflichtet uns nicht zu einer gleichmäßigen Beachtung und Anerkennung aller seiner Schriften und Aussagen. Semlers Vorschlag lautet: der Kanon des Alten und Neuen Testaments solle fur Kirche und Gesellschaft in unveränderter öffentlicher Geltung bleiben, aber der private Bibelgebrauch der Christen solle frei sein und dürfe keinen Vorschriften unterworfen werden. Wer in der Apokalypse oder in bestimmten Schriften des Alten Testaments (Esra, Nehemia, Ester, Chronik, Ruth und Richter) keine geistliche Nahrung oder Erbauung finde, dürfe sie beiseite lassen. Für den privaten Bibelgebrauch sei ein Auszug aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments legitim. Semler hat sich hinsichtlich des Kriteriums für die Erstellung eines Bibelauszugs nicht auf eine bestimmte Formel festgelegt, sondern gemäß der Vielfalt neutestamentlicher Begriffe unterschiedliche Umschreibungen verwandt. Analysiert man sie, so ergibt sich, daß er vor allem Grundgedanken der paulinischen und johanneischen Christologie und Heilserkenntnis als entscheidend ansieht.25 Aus den prinzipiellen Äußerungen, exegetischen Schriften, Paraphrasen und erbaulichen Auslegungen des Hallensers ließe sich in groben Zügen der Umfang des von ihm befürworteten Bibelauszugs rekonstruieren. Eine Erklärung verlangt jedoch der historische Sachverhalt, daß Semler seinen eigenen Vorschlag nicht verwirklicht, sondern die Publikation von Bibelauszügen anderen zeitgenössischen Autoren überlassen hat. Wenn er auf diesem Gebiet nur als Anreger wirken wollte, dann offenbar, um jeden Anschein einer neuen gesetzlichen Vorschrift zu vermeiden. Überdies war Semler der Meinung, daß jeder Bibelauszug von der individuellen Erkenntnis und Frömmigkeit abhängig ist und selbst dann einen unterschiedlichen Umfang haben könne, wenn das Auswahlinteresse auf die Heilsbotschaft und

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Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 574. Bezeichnend ist, daß Semler in der Vorrede zum 3. Teil seiner Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1773) als Kriterium für die Erstellung eines Bibelauszugs die von Christus und Paulus verwandten „neuen geistlichen Begriffe und Wahrheiten" („Geist", „Leben", „Lebendigmachung" und „Wahrheit") hervorhebt und erklärt, daß mit diesen geisdichen Begriffen eine Stufe der Belehrung erreicht sei, die man nicht in allen Büchern des jüdischen Kanons finde.

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das Christuszeugnis gerichtet ist. 26 Mit einer gewissen Befriedigung hat er im Jahre 1783 festgestellt, daß seine Empfehlung zur Erstellung von Bibelauszügen befolgt und positiv aufgenommen worden ist. 27 Mit der Erstellung von Bibelauszügen unterschiedlichen Umfangs verstärkt sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der individuellen Frömmigkeit und in der protestantischen Theologie ein eklektischer Schriftgebrauch. Zu beachten bleibt jedoch, daß Semler nicht jede Art eines Bibelauszugs gutgeheißen hat. Im Anschluß an die reformatorische Erkenntnis und lutherische Lehrtradition erblickt er in den paulinischen und johanneischen Schriften das Zentrum christlicher Theologie und Verkündigung. 28 Demzufolge wünscht er, daß die Grundgedanken und Grundbegriffe der neutestamentlichen Christusbotschaft und Heilserkenntnis weiterhin Beachtung finden und an ihnen festgehalten wird. Als Exeget und Dogmatiker vollzieht Semler daher eine deutliche Abgrenzung von den sozinianischen und naturalistischen Positionen. Wenn also jemand verlangte, es gehöre ein für allemal zum neuesten Vorzuge der Dogmatik, über den und jenen Satz, Begriff des Ν. T. geradehin so wegzuschleichen, daß er nicht mehr zum Vorschein kommt oder ihn bedächtig auszulöschen, auszurotten [...] sei es aus Absicht, den Socinianern oder den Naturalisten öffentlich näher zu kommen, nichts mehr von Gottheit Chrisü, des heil. Geistes, nichts mehr von Versöhnung, von Rechtfertigung nach dem lutherischen öffentlichen Lehrbegriff zu erklären und zu beschreiben: so würde ich dies nach aller meiner Einsicht für Untreue eines christlichen Lehrers halten müssen.29

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Vgl. Semler, Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 114: „Es steht privatim frei, aber es muß auch den Christen fernerhin freistehen, den Abriß von diesem geistlichen Christus in der Bibel selbst zu suchen und zu finden, wo sie können. Diese wirkliche moralische Beschäftigung ist von der gelehrten Auslegung unterschieden; beide können kein Register machen, wieviel Stellen und in welchem Grade der Deutlichkeit ein wahrer Christ zu eigener Erbauung auf Christum ziehen müsse." Vgl. Semlers Vorrede zu: Hugh Farmer, Briefe an D. Worthington über die Dämonischen in den Evangelien. Halle 1783, S. 39: „Ich hoffe auch, daß wir immer bessere und fruchtbarere Auszüge aus der Bibel bekommen werden, nachdem einmal der Anfang dazu gemacht worden ist. So wenig ich auch sonst den Beifall meiner Zeitgenossen häufig erlangt habe in Absicht mancher meiner gelehrten Versuche und Arbeiten [...] so freue ich mich doch, daß meine Empfehlungen solcher Auszüge nach und nach einigen Eingang gefunden haben." Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 151: „Luther hatte sehr chrisüich dem Evangelio Johannis und den Briefen an die Römer und Galater den Vorzug gegeben, allein dieser Geist und wahre Kraft des Christentums hatte die nachherige Kirchentheologie meist wieder aufgehoben." - Zu Semlers Wertschätzung der johanneischen und paulinischen Theologie vgl. die Ausführungen und Quellenbelege bei Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Göttingen 1961, S. 196ff. Semler, Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 52. 241

6. Zur Charakterisierung von Semlers Bibelkritik Will man Semlers Bibelkritik in ihrem gesamten Umfang erfassen, so wird man neben den von uns erörterten Sachverhalten noch drei weitere Problembereiche zu berücksichtigen haben, die hier nur stichwortartig angedeutet, aber nicht näher dargestellt werden können. Dazu gehört erstens die Anwendung der Akkommodationstheorie, die freilich auch bibelapologetische Züge aufweist.30 Die historische Interpretation erkennt, daß auch das neutestamentliche Christentum eine historisch bedingte Gestalt hat und daß die urchristlichen Glaubensvorstellungen zumindest teilweise als Akkommodationen an damals vorherrschende jüdische und heidnische Überzeugungen begriffen werden müssen. Zur Semlerschen Bibelkritik gehört zweitens auch die kritische Einschätzung der in biblischen Aussagen enthaltenen weltbildhaften und mythischen Elemente, z.B. der Dämonologie und Teufelsvorstellung. Diese kritische Einschätzung impliziert die Erkenntnis, daß ein in der Gegenwart des 18. Jahrhunderts zu vertretender christlicher Glaube keineswegs als vollständige und wörtliche Übernahme aller biblischen Vorstellungen und Sprachelemente ausgegeben werden dürfe. Drittens ist die stärkere Akzentuierung der inhaltlichen Differenz des Alten vom Neuen Testament zu erwähnen. War bis auf Siegmund Jacob Baumgarten die exegetische Haupttendenz darauf gerichtet gewesen, durch eine christusbezogene Interpretation und die Betonung des Weissagungsbeweises das Alte Testament als Hinführung zum Neuen und in Einheit mit dem Neuen Testament zu verstehen, so akzentuiert Semler nun weit stärker die Sachdifferenzen als die Zusammengehörigkeit beider Testamente. Er erkennt, daß es mit der Gesetzesfrömmigkeit und dem nationalen Erwählungsglauben alttestamentliche Überzeugungen und Erwartungen gibt, die von der neutestamentlichen Botschaft nicht aufgenommen oder bestätigt werden, sondern die zum Heilsuniversalismus und zum Glauben an Jesus Christus als den geistlichen Erlöser in einem deutlichen Gegensatz stehen. Semler hat die Fragwürdigkeit der zu seiner Zeit noch weithin üblichen christusbezogenen Auslegung alttestamentlicher Texte erkannt und diese Auslegung insbesondere bei seiner Psalmenexegese (8. und 19. Psalm) kritisiert.31 Von den Grundsätzen seiner historisch-kritischen Auslegung ausgehend wendet er sich auch gegen eine Interpretation, die „in den Büchern Mosis nun typice, mystice überall Christum finden" will.32 Semlers Stellung zum Alten Testament scheint angesichts seiner Wertschätzung der Psalmen und Propheten einer genaueren Analyse zu bedürfen, als sie hier 30

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Zur Bedeutung der Akkommodationstheorie und ihrer besonderen Gestalt bei Semler vgl. Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Göttingen 1961, S. 21 Iff., insb. S. 220ff., sowie den Art. .Akkommodation', in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Basel/Stuttgart 1971, Sp. 125f. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 109f. u. 153. Vgl. Semlers Vorrede zu: Johann Kiddel, Abhandlung von Eingebung der heiligen Schrift. Halle 1783, S. XXIII.

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gegeben werden kann. Unzutreffend ist jedenfalls die neuerdings aufgestellte Behauptung, daß Semler sich „zeit seines Lebens nie in eingehender exegetischer Arbeit dem Alten Testament gewidmet" habe. 33 Bedeutende zeitgenössische Gelehrte haben Semler als Textkritiker, Exeget, Kirchengeschichtler und Dogmatiker positiv gewürdigt und besonders hervorgehoben, daß er für eine „historische" Schriftinterpretation eingetreten ist. 34 Im Widerspruch dazu, aber auch im Widerspruch zur neueren Semlerforschung, glauben einige heutige Interpreten an dem Vorwurf festhalten zu dürfen, Semler habe eine moralische oder moralisierende Bibelkritik betrieben. Er habe die Bibel den Vernunft- und Moralvorstellungen der eigenen Aufklärungszeit unterworfen. Mit dieser Semlerdeutung und Semlerkritik, wie sie sich bei Wolfgang Schmittner 35 und Hans-Joachim Kraus 36 findet, hat sich Hans-Eberhard Heß 1974 in seiner Berliner Dissertation auseinandergesetzt. Er gelangt zu der Feststellung, daß Semler nicht irgendeine Moralvorstellung oder irgendeinen Begriff des Moralischen von außen her an die biblische Botschaft heranträgt, auch nicht Moralvorstellungen der Aufklärungszeit als Kriterien für den Wert oder die Aktualität biblischer Aussagen handhabt. Vielmehr ist Semler der Auffassung, daß das in der Heiligen Schrift enthaltene Wort Gottes eine ihm innewohnende moralische Qualität und Aktualität besitzt. Wörtlich erklärt Heß: Das Kriterium einer moralischen Applikation hat Semler somit nicht dem vorgängigen moralischen Selbstverständnis des aufgeklärten Menschen im lg. Jahrhundert entlehnt; sondern daß die geistlichen Begriffe der biblischen Offenbarungswahrheiten moralisch angewandt werden wollen, ist der ihnen innewohnende Sinn und der historisch erkennbare Zweck der Lehre Jesu und der Apostel.37

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Gegen Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments. Neukirchen-Vluyn 31982, S. 110. - Semler berichtet über seine exegetischen Vorlesungen in Halle: „Ich habe über mehrere Briefe Pauli, über Evangelium Johannis, die Briefe Johannis [...] gelesen, auch über Psalmen und Spruchwörter sehr oft." Vgl. ders., Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 153. Johann August Nösselt (1734-1807), seit 1757 Fakultätskollege Semlers, erklärt, daß Semlers „wesentliche Verdienste" „die um die Kirchen- sonderlich Lehrgeschichte und um die bessere Exegese" gewesen sind, hebt aber auch seine Bedeutung als Textkritiker hervor. Er schließt mit der Feststellung, daß man Semler das Verdienst nicht absprechen könne, auf die „historische Behandlung der Bibel" gedrungen und ihre Notwendigkeit betont zu haben; vgl. ders., Ueber den verewigten D. Johann Salomo Semler und dessen, besonders schriftstellerischen Charakter, in: August Hermann Niemeyer, Leben, Charakter und Verdienste Johann August Nösselts. Halle/Berlin 1809, S. 228 u. 232. - Nach August Hermann Niemeyers Urteil hat Semler „wenigstens in Deutschland den Grund zu der in der Folge weiter ausgebildeten historischen Interpretation gelegt"; vgl. ders., Akademische Predigten und Reden. Halle/Berlin 1819, S. LXXXVn. Wolfgang Schmittner, Kritik und Apologetik in der Theologie J. S. Senders. München 1963. Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments. Neukirchen-Vluyn 31982, S. 103-113. Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 162. Mit Recht hat Heß auf die eklatanten Fehldeutungen bei Kraus hingewiesen 243

Untersucht man die Gründe, die Semler zu seiner kritischen Einschätzung der Apokalypse veranlaßt haben, so wird man sie nach heutigem Sprachgebrauch kaum als moralisch-sittliche Gründe bezeichnen können. Es sind exegetische und theologisch-dogmatische Gründe gewesen. Woran Semler Anstoß nimmt, ist der Chiliasmus der Apokalypse, ihre schwer deutbare Bildersprache sowie ihre fehlende Übereinstimmung mit der paulinisch-johanneischen Lehre, mit dem „Geist Christi" sowie dem „Geist und Licht des Evangeliums". 38 Unter dem formalen und methodischen Aspekt wird man von Semlers Bibelkritik sagen können, daß sie zu einem erheblichen Teil eine Anwendung jener Grundsätze historischer Kritik gewesen ist, die der Hallenser auch gegenüber profanen Quellen zur Geltung gebracht hat, so z.B. gegenüber den Quellen der mittelalterlichen Staats- und Reichsgeschichte. 39 Das Ziel der historischen Bibelkritik bestand für ihn in der Gewinnung eines authentischen Textes und seiner Abgrenzung von späteren Veränderungen und Texteinschüben, sodann in der Unterscheidung historisch gesicherter oder wahrscheinlich geschehener Ereignisse von bloßen Legenden, Fabeln und Mythen, und schließlich in der Erkenntnis, daß man nicht durch Glaubensurteile, metaphysische Behauptungen und dogmatische Deduktionen über Sachverhalte entscheiden kann, die ihrer Natur nach historisch sind und demzufolge historische Forschungen und Argumentationen erforderlich machen. 40

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und bemängelt, daß dieser „den bei Semler vorliegenden Sachverhalt in sein Gegenteil" verkehrt; vgl. ebd., S. 318, Anm. 200. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 185 u. 252f. - ders., Theologische Briefe. Zweite Samlung. Leipzig 1781, S. 150: „Die älteste griechische Kirche, eine große Zahl frommer Lehrer bis hinter Luther finden in dem Buche [der Apokalypse] nicht den Geist Christi und legen es also bey Seite." - Vgl. ebd., S. 154: „ich sage ein solches Buch [die Apokalypse] ist von einem Liebhaber der jüdischen Bildersprache, nicht im Geist und Lichte des Evangelii geschrieben. Wenn ich von jedem anderen Buche des N. T. dies sagen müsste, [...] so hätte ich gar nichts, das Christentum für einen neuen Bund zu halten." Vgl. Semler, Versuch den Gebrauch der Quellen in der Staats- und Kirchengeschichte der mitlern Zeiten zu erleichtern. Halle 1761. Semlers theologische Entwicklung führt von einer relativ anerkennenden zu einer ausgesprochen kritischen Haltung gegenüber der „Metaphysik", insbesondere gegenüber der „theologischen Metaphysik". Doch ist mit der Metaphysikkritik, die sich durch die Ausbildung der eigenen historisch-kritischen Theologie verschärft, weder die Negierung des Gedankens der allgemeinen Offenbarung Gottes noch die Bestreitung einer begrenzten natürlichen Theologie beabsichtigt. Vielmehr richtet sich Semlers Metaphysikkritik gegen die in der traditionellen Dogmatik geübte Methode, mittels metaphysischer Begriffe und logischer Deduktionen über historische Sachverhalte (z.B. die Entstehung und Autorität des Kanons, die Zuverlässigkeit einzelner Handschriften und der gegenwärtigen biblischen Textgestalt) verbindliche Feststellungen treffen zu können. In diesem Sinne heißt es bei Semler: „Diese meine Abhandlung vom Canon und libris canonicis, welche ich vornehmlich in ein besseres Licht zu setzen mich bemüht habe, reut mich so wenig, wenn ich gleich so viel Zorn damit erregt habe [...]. Widerlegen kann mich niemand, weil ich Historie habe; Metaphysik lasse ich ihren Liebhabern." Vgl. ders., Ausfiirliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 177. Der methodische Gegensatz von „Historie" und „Metaphysik" kommt auch später in der Autobiographie zur Sprache: „Ich hatte erst nach und nach die theologische Metaphysik von der wirklichen Historie unterscheiden lernen. Es ist sehr leicht, sich eine Art von Demonstration anzugewöhnen wonach es so sein müßte mit dem Neuen Te-

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Versucht man eine allgemeine Charakterisierung, so könnte man sagen: Semlers historische Bibelkritik ist weder eine pauschale noch eine moralisierende oder rationalistische Kritik gewesen. Sie war vielmehr eine durch die historische Forschung bedingte, an Einzelproblemen ansetzende wissenschaftlich argumentierende Kritik, für welche die Beibehaltung einer an der neutestamentlichen Christusbotschaft orientierten Bibelautorität ständige Voraussetzung gewesen ist.

stament, mit codicibus, mit canon etc. als man es jetzt in seiner Lage als recht gut und dienlich sich vorstellt. Aber aus unseren Gedanken wird jene Historie nicht." Vgl. ders., Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 120.

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X. Grundzüge der theologischen Hermeneutik1

Die evangelische Theologie ist seit der Reformation eine Auslegungswissenschaft gewesen, die sich mit großer Intensität um die sachgerechte Interpretation der biblischen Schriften bemüht hat. Daher findet sich in ihrem Bereich schon frühzeitig ein besonderes Interesse für die theologische Hermeneutik, die dann eine paradigmatische Bedeutung für andere Disziplinen wie etwa die Philosophie und Literaturwissenschaft gewonnen hat. Die enge Verbindung von theologischer und allgemeiner philosophischer Hermeneutik zeigt sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts an der preußischen Universität Halle, die damals ein Zentrum der Erforschung, Veränderung und lehrhaften Darstellung der Hermeneutik gewesen ist Siegmund Jacob Baumgarten, der als lutherischer Theologe ein weit über Halles Grenzen hinaus angesehener Gelehrter und auch Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gewesen ist, hatte die Hermeneutik als Teilbereich der „exegetischen Theologie" oder „Schrifttheologie" zugeordnet, zugleich aber für so wichtig gehalten, daß er sie mehrfach in Vorlesungen und eigenen Lehrbüchern thematisch behandelte. Sein 1742 erstmals erschienenes Kompendium mit dem Titel Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift, das er selbst als „Hermeneutic" bezeichnete, hat mehrere Auflagen erlebt und über seinen Tod hinaus Beachtung und Anerkennung gefunden.2 Die um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Halle tätigen Hermeneutiker sind durch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, seit den 50er Jahren als Universitätsprofessoren aber auch durch einen engen freundschaftlichen Umgang miteinander verbunden gewesen. Georg Friedrich Meier (1718-1777), der eine bemerkenswerte philosophische Theorie der Auslegung3 entwarf und Johann Salomo Semler, der 1

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Vgl. bereits: Gottfried Homig, Über Semlers theologische Hermeneutik, in: Axel Bühler (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frankfurt/M. 1994, S. 192-222. Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrage, der auf der Tagung „Hermeneutik der Aufklärung" Ende Juni 1992 an der Universität Mannheim gehalten wurde. Wertvolle Anregungen zur Präzisierung meiner Ausführungen habe ich durch die Diskussion mit H. E. Hasso Jaeger (Paris), Hans Wemer Arndt (Mannheim), Axel Bühler (Mannheim), Luigi Cataldi Madonna (Rom) und Oliver R. Scholz (Marburg) erhalten. Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift [1742], Halle 21745 u. 31751. Zur Hermeneutik Baumgartens vgl. Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Überganges zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974, S. 223-242. Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757. Dieser ist, versehen mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer, 1965 in einem photomechanischen Nachdruck erschienen. Die evangelische Theologie hat bisher Meiers Bedeutung und Einfluß als Hermeneutiker und Religionsphilosoph noch nicht angemessen gewürdigt. In jüngster Zeit

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seine akademische Tätigkeit in Halle 1753 mit Vorlesungen über Hermeneutik und Kirchengeschichte eröffnete4 und nach einigen Jahren eine umfangreiche theologische Hermeneutik publizierte, sind beide Schüler Baumgartens gewesen. Semler hatte bei Baumgarten Exegese, Dogmatik, Symbolik und theologische Moral, bei Meier Logik und Mathematik gehört. In der positiven Einschätzung der Wichtigkeit der Hermeneutik ist Semler der Auffassung seines Lehrers und späteren Fakultätskollegen Baumgarten gefolgt. Für ihn beschränkt sich die theologische Hermeneutik nicht auf eine Methodenlehre oder bloße Zusammenstellung von Anweisungen und Regeln zur Textinterpretation. Vielmehr ist sie durch Beachtung von Textkritik und historischer Kritik eine Wissenschaft, welche nicht nur die Fragen nach der ursprünglichen Bedeutung, sondern auch nach dem Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsgehalt der Textaussagen zu bedenken hat. Semler hat durch seine Untersuchungen und Veröffentlichungen die schon bei Baumgarten spürbare Tendenz zur Eigenständigkeit der Hermeneutik wesentlich gefördert. Auch an Veränderungen der Terminologie ist dies erkennbar. Seit 1760 wird der Wissenschaftscharakter der Hermeneutik betont und diese auch später mit dem Begriff der ,Auslegungswissenschaft" bezeichnet.5 Auf die Notwendigkeit einer intensiven und gründlichen Beschäftigung mit der theologischen Hermeneutik hat Semler seine Hallenser Studenten wiederholt hingewiesen. Denn „der Lehrer muß alle die Fähigkeiten und Fertigkeiten haben, welche durch die Anleitung und Übung der theologischen Hermeneutik entstehen, wenn er im Stande sein will, biblische Wahrheiten seinem und ihrem Zweck gemäß vorzutragen."6 Im gleichen Atemzug beklagt er jedoch an dieser Stelle, daß noch lange nicht hinreichend bekannt sei, was die theologische Hermeneutik von dem Schriftausleger fordere, und daß dazu „alle nur möglichen Anstrengungen unserer Seelenkräfte, besonders der Vernunft" gehören. Das Quellenmaterial zu Semlers Hermeneutik ist umfangreicher als die wenigen Titel vermuten lassen, die in neueren Lexikonartikeln und Standardwerken angegeben werden. Es beschränkt sich nicht auf die beiden Hauptwerke, die hier in er-

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haben vor allem Günter Gawlick (Bochum) und Oliver R. Scholz (Marburg) auf Meiers Stellung in der deutschen Aufklärung und seine denkerische Leistung hingewiesen. Vgl. vor allem Günter Gawlick, G. F. Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung, in: Norbert Hinske (Hg.), Zentren der Aufklärung. Bd. I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 157-176, und ders., Ein Hallischer Beitrag zum Streit der Fakultäten: Georg Friedrich Meiers „Betrachtungen über das Verhältniß der Weltweißheit zur Gottesgelahrheit" (1759), in: Robert Theis/Claude Weber (Hg.), Von Christian Wolff bis Louis Lavelle. Geschichte der Philosophie und Metaphysik. Hildesheim/Zürich/New York 1995, S. 71-84. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 208. Semler, Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 93. Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1759, S. 72f.

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ster Linie zu nennen sind: die Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, die zwischen 1760 und 1769 in vier Teilen mit einem Gesamtumfang von mehr als tausendzweihundert Druckseiten erschienen ist, und die ebenfalls vierteilige aufsehenerregende Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771-1775). Dem erstgenannten Werk war Semlers instruktive Vorrede zu einer posthumen Ausgabe von Baumgartens Unterricht von Auslegung der heil. Schrift (1759) vorausgegangen. Von diesem Lehrbuch seines verstorbenen Freundes und Fakultätskollegen urteilt Semler noch Jahrzehnte später anerkennend, es sei „der erste teutsche wissenschaftliche Entwurf der Hermeneutik" gewesen.7 Beachtung verdienen sodann der Apparatus ad liberalem Novi Testamenti interpretationem (1767) sowie der Apparatus ad liberalem Veteris Testamenti interpretationem (1773). Von den Alterswerken Semlers ist sein Neuer Versuch die gemeinnüzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern (1786) hervorzuheben. Denn dieses Werk bietet nicht nur eine kurzgefaßte Geschichte der biblischen oder theologischen Hermeneutik, sondern bekräftigt und modifiziert auch die früher begründeten Auslegungsgrundsätze einschließlich der historischen Interpretation. Zu berücksichtigen ist femer das zwei Jahre später publizierte Werk Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik und Dogmatik (1788). Erstrebt man eine möglichst umfassende Auswertung der für Semlers Hermeneutik relevanten Quellen, so empfiehlt es sich, außer den genannten Werken auch die Ascetischen Vorlesungen (1772), die Autobiographie, die Kommentare zu neutestamentlichen Schriften sowie Semlers Vorreden und Zusätze zu Übersetzungen englischer Autoren wie Lord Barrington, Hugh Farmer, Johann Kiddel und Thomas Townson heranzuziehen.

1. Die Forderung nach historischer Schriftauslegung Schon in seinem Programm zur Reformation des Theologiestudiums (1757) hatte Semler mehrfach auf die weitreichende Bedeutung der Hermeneutik hingewiesen und sie ein Jahr später als „eine der allerwichtigsten und unentbehrlichsten Wissenschaften" bezeichnet8 Diese Wertschätzung erfolgt aus dem Bewußtsein, daß die Hermeneutik nicht nur eine ganz unmittelbare Relevanz für die Exegese biblischer Schriften besitzt, sondern auch zur größeren Zuverlässigkeit bei der Argumentation in anderen theologischen Disziplinen beiträgt: Durch die Hermeneutik bekommen sie [die Studenten] den eigentlichen Grund, die wirkliche äußere Sicherheit der Wahrheiten, welche unsere Dogmatik und Moral ausmachen und in der

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Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 208. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 126.

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Polemik von uns gegen Widerspruch behauptet werden. Am gewissesten werden sie darin durch das Baumgartische vortreffliche Lehrbuch von dieser Wissenschaft befördert werden.®

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wollte man sich mit der Feststellung begnügen, daß in dieser Hinsicht offensichdich ein Einfluß Baumgartens auf Semler vorliegt. Zu beachten bleibt die länger zurückreichende Kontinuität, in der beide Gelehrte mit ihrer Wertschätzung der Hermeneutik stehen. Denn bei Baumgarten wie bei Semler entspringt das Bewußtsein für die Bedeutung der Hermeneutik der reformatorischen Erkenntnis, daß evangelische Theologie primär Schrifttheologie sein müsse, weil uns die Heilige Schrift, und insbesondere das Neue Testament, den Erkenntnisgrund für die ewigen Heilswahrheiten darbietet. Damit sind die gemeinsam bejahten Prämissen und Grundüberzeugungen genannt. Als entscheidend für eine lutherische Theologie, die auf der Exegese aufbaut, gilt der sensus litteralis, und daher ist „eine recht gegründete Einsicht des Wortverstandes der heiligen Schrift" notwendig.10 Solche historische Schriftauslegung aber erfordert ein intensives Studium der biblischen Sprachen, des Griechischen und Hebräischen. Da Studiosi Theologiae lebenslang mit der Bibel umgehen sollen, um sie immer richtiger zu verstehen, so wäre es der Mühe wert, daß sie zu rechter Zeit sich darin schickten, den biblischen Sprachgebrauch aufs möglichste zu kennen, um nicht in der Bestimmung desselben von andern bloß abzuhängen. 11

Doch erschöpft sich die hermeneutische Fertigkeit, die zur korrekten Schriftauslegung benötigt wird, nicht in dem Erwerb solcher Kenntnis und Vertrautheit mit dem biblischen Sprachgebrauch. Semler hat noch eine zweite Forderung erhoben, die er für ebenso wichtig hält: Der Interpret soll „die historischen Umstände einer biblischen Rede" ermitteln und sich vorstellen können.12 Mit dieser Forderung, die schon Baumgarten in seiner Hermeneutik formuliert hatte,13 sind die zeitgeschichtliche Bedingtheit der Vorstellungen des biblischen Autors, aber auch die Situation der Adressaten bzw. der angeredeten Gemeinde gemeint. Das Verhältnis der historischen Auslegung zu der erbaulichen Applikation, die den Bibeltext in Form der Predigt auf die Situation gegenwärtiger Predigthörer zu beziehen sucht, hat Semler in einer unumkehrbaren Reihen- und Rangfolge festgelegt: erst historische Auslegung, dann erbauliche und praktische Applikation, sofern der Aussagegehalt des Bibeltextes solche Anwendung gestattet. Es handelt sich also bei der historischen Schriftauslegung und der erbaulichen Applikation um zwei Vorgänge, die nicht miteinander vermischt werden dürfen und bei denen zu beachten ist, daß manche Bibeltexte in ihrem Aussagegehalt so 9 10 11

Ebd., S. 131. Ebd., S. 117. Semler, Vorbereitung zur theologischen

Hermeneutik. Halle 1760, S. 163.

12

Ebd., S. 160.

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Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht S. 41ff. u. 111.

von Auslegung

der heiligen Schrift. Halle 3 1751,

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beschaffen sind, daß sie eine erbauliche Anwendung kaum ermöglichen. Damit wird ein Hauptargument gegen die pietistische Schriftauslegung und ihre Bevorzugung des Erbaulichen vorgetragen: Es ist also falsch, daß die heilige Schrift stets und zunächst die Erbauung des Menschen bewerkstellige und dazu auch gebraucht werden müsse unmittelbar; es muß erstlich die richtige historische Erkenntnis entstehen und nachher erst die heilsame abgewartet werden.14

Die erbauliche Anwendung darf sich also über die Erkenntnisse der streng historischen Interpretation nicht hinwegsetzen, weil dies zu willkürlichen „Vergeistlichungen" von Bibeltexten führen würde. Auf die Wichtigkeit des Historischen für die Ermittlung des Bedeutungsgehaltes von überlieferten und auszulegenden Texten hatte Semler seine Hallenser Theologiestudenten schon 1757 im Reformprogramm nachdrücklich hingewiesen: „Man muß [...] genau das, was eigentlich historisch ist, wirklich auf tauglichen Zeugnissen beruht, unterscheiden lernen von Mutmaßungen, Erläuterungen und Meinungen."15 In den uns überlieferten Quellen, die der Historiker zu untersuchen und zu interpretieren hat, ist das Zeugnis von tatsächlich geschehenen Ereignissen immer schon mit bestimmten Interpretationen und Wertungen verbunden. Die Einsicht, daß Geschichte stets von einem bestimmten Standpunkt aus geschrieben wird, klingt hier an, und damit stellt sich zugleich die Frage, ob der Historiker die in den Texten vorliegenden „Mutmaßungen, Erläuterungen und Meinungen" einfach übernehmen darf. Verglichen mit der vorangegangenen orthodoxen und pietistischen Tradition der Schriftauslegung ist es das Besondere an Semlers Hermeneutik, daß bei ihm die zuvor aus dogmatischen und erbaulichen Gründen vernachlässigte historische Interpretation nachdrücklich gefordert wird und damit auch die Einsicht in die Zeitbedingtheit der auszulegenden biblischen Texte Berücksichtigung findet Eine Modifikation erhält auf diese Weise auch die Akkommodationstheorie, sofern sie nach der Anpassung der neutestamentlichen Botschaft an die in den judenchristlichen und heidenchristlichen Gemeinden vorherrschenden Vorstellungen fragt 16 Daß Semlers Leistungen auf dem Gebiet der Textkritik und der Schriftauslegung Anerkennung gefunden hatten, bestätigen Forscher am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zu nennen sind hier vor allem der Göttinger Theologe Gottlieb Jacob Planck (1775-1833), der Jenaer Altphilologe und spätere Göttinger Philosophieprofessor Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) sowie der 14

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Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Halle 1760, S. 150. Dieser Unterscheidung zwischen historischer und heilsamer Erkenntnis entspricht bei Semler die schon im Reformprogramm (1758) vorgenommene Unterscheidung von „Exegese" und „praktischer Anwendung" von Bibeltexten; vgl. ders., Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 132. Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 191. Eine genauere Analyse der Akkommodationstheorie Semlers findet sich bei Gottfried Hornig, Die Anßnge der historisch-kritischen Theologie. Göttingen 1961, S. 211-236.

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Bonner Theologieprofessor Friedrich Lücke (1791-1855), der auch als Herausgeber von Schleiermachers Hermeneutik (1838) hervorgetreten ist. Alle drei sprechen Semlers wissenschaftlichen Bemühungen eine erhebliche Bedeutung für die gegenwärtige Gestalt der theologischen Hermeneutik zu. Vor allem die beiden Letztgenannten, die ihre Beiträge 1811 und 1822 veröffentlichten, sind überzeugt, daß mit Johann Salomo Semler zu Halle und Johann August Ernesti (1707-1781) zu Leipzig „eine neue Epoche in der biblischen Hermeneutik eröffnet" worden ist 17 Begründet wird dieses Urteil mit den Implikationen, die in Semlers Forderung nach einer „historischen Auslegung" enthalten sind. Denn Semler habe den Begriff der historischen Auslegung umfassender verstanden und weiter ausgedehnt als dies zuvor geschehen war. Er behauptete, daß der historischen Auslegung nur alsdann Genüge geleistet werde, wenn man bei jedem einzelnen Buche des N. T. genau untersuche, aus welcher Veranlassung, zu welchem Zwecke, unter welchen Umständen es geschrieben, wie seine innere Einrichtung beschaffen sey, wenn man bei den Reden Jesu sowie bei den Vorträgen und Schriften der Apostel darauf Rücksicht nehme, wie sie sich nach den herrschenden Meinungen und wohl auch Irrtümern accomodieren.18

Ähnlich wie Eichhorn urteilt auch Lücke, der mit Ernestis und Semlers Grundsätzen einer grammatischen und historischen Auslegung um die Mitte des 18. Jahrhunderts die vierte Epoche in der Geschichte der Hermeneutik beginnen sieht, von der dann gesagt wird, daß sie zum Glück über die andersartigen Bestrebungen von Carl Friedrich Bahrdt und den aus der Kantischen Schule hervorgegangenen Rationalisten „die Oberhand" behalten habe.19 Aus einer Formulierung der Autobiographie ergibt sich, daß Semler 1781 für die Unterscheidung von „historischer Auslegung" und gegenwärtiger praktischer bzw. erbaulicher .Anwendung" des Textes Originalität für sich beansprucht20 Er hat diesen Originalitätsanspruch aber schon zwei Jahre später (1783) mit der Bemerkung eingeschränkt, die Anregung zu dieser Unterscheidung aus den Schriften des

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Johann Gottfried Eichhorn, Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neuesten Zeiten. Bd. 6, AbL 2. Göttingen 1811, S. 389. Ebd., S. 393. - Bei Gottlieb Jacob Planck kommt das Verdienst, um 1770 jene Epoche eingeleitet zu haben, welche der Hermeneutik ihre „volle Freiheit" gebracht hat, einerseits Semler und andererseits Wilhelm Abraham Teller (1734-1804) mit seinem Wörterbuch des Neuen Testaments (1772) zu. Vgl. ders., Einleitung in die Theologischen Wissenschaften. Theil 2. Leipzig 1795, S. 152. Friedrich Lücke, Über den richtigen Begriff und Gebrauch der exegetischen Tradition in der Evangelischen Kirche. Ein Beitrag zur theologischen Hermeneutik und deren Geschichte, in: Theologische Zeitschrift, hg. v. Friedrich Daniel Emst Schleiermacher, Wilhelm Martin de Wette und Friedrich Lücke. Heft 3. Berlin 1822, S. 141 u. 160. Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 208: „und ich fiel selbst für mich auf die Unterscheidung der historischen Auslegung, die wirklich in jene Zeiten des ersten Jahrhunderts als damaliger Inhalt und Umfang der Vorstellungen dieser Zeitgenossen gehöret und der jetzigen wirklichen Anwendung zur Belehrung unserer Christen aus den richtig erklärten Stellen." 251

befreundeten Leipziger Theologen Johann August Ernesti empfangen zu haben.21 Ein Interpretationsproblem entsteht hier insofern, als Semler sich 1759 zwar sehr lobend über drei hermeneutische Schriften Ernestis geäußert, 22 aber die Unterscheidung von „historischer Auslegung" und gegenwärtiger .Anwendung" mit keinem Worte erwähnt hat. D a die 1783 erfolgte Bezugnahme auf Ernesti ganz allgemein gehalten ist und keine genaueren Quellenangaben bietet, bleiben wir auf Vermutungen angewiesen. Möglicherweise hat Semler erst später, als ihm die eigene Unterscheidung längst geläufig war, gewisse Parallelen dazu in Ernestis Schriften entdeckt und so einen Zusammenhang konstruiert 23 Semler hat erkannt, daß das Bemühen um eine „historische Auslegung" auf Schwierigkeiten stößt, weil wir uns als heutige Interpreten in einer erheblichen zeitlichen Distanz zu den „historischen Umständen" der biblischen Autoren befinden, diese nicht mehr nach ihren Absichten befragen können und ihre Briefe und Schriften uns diesbezüglich nur begrenzten Aufschluß geben. Aus diesen Gründen sind bei bestimmten neutestamentlichen Schriften, wie etwa beim Hebräerbrief, die Verfasserfragen nicht eindeutig klärbar, und bei der Ermittlung der historischen Umstände sind Wahrscheinlichkeitsurteile und Rekonstruktionen unvermeidlich. 24 21

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Vgl. Semler, Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Ernesti Verdienste. Halle 1783, S. 21: „Genug ich gestehe es, daß ich die ganze wahre Idee vom Unterschiede der historischen Auslegung und von unserer jetzigen Anwendung und gegenwärtigen eigenen Kenntnis christlicher Wahrheiten aus Ernestischen Schriften mir zuerst entworfen habe." Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1759, S. 72, Anm. 24. Der hier von Semler gegebene Verweis auf „Herrn D. Emesti[s] vortreffliche und hochnützliche Schriften" nennt folgende Titel: Prolusio difficultatibus Novi Testamenti recle interpretanda. Lipsiae 1748; Disputano philologica de difficultate interpretationis grammaticae Novi Testamenti. Lipsiae 1755 und Disputatio historico-critica de Origene interpretationis librorum ss. grammaticae auctore. Lipsiae 1756. Daß Semler mit seiner frühzeitig erhobenen Forderung nach einer umfassenden „historischen Auslegung" von Ernesti abhängig sein sollte, ist sehr unwahrscheinlich. Eher wird man sagen können, daß Semler seinen Leipziger Freund schließlich doch von der Notwendigkeit historischer Auslegung überzeugt hat. Johann Gottfried Eichhorn stellt den Sachverhalt einigermaßen zutreffend dar, wenn er in seiner Allgemeinen Bibliothek der biblischen Litteratur schreibt „Selbst Emesti, dem doch historische Interpretation aus der Profan=Philologie geläufig hätte sein sollen, konnte sich in Semlers große Idee nicht finden und versagte ihm dabei nicht nur seinen damals viel bedeutenden Beystand, sondern bestritt ihn auch durch allerley Sophismen, wie z.B. seine Schriften über die Dämonischen im N. T., in denen er zuerst einen mehr ins Große gehenden Gebrauch von historischer Auslegung machte." Vgl. ders., Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur. Bd. 5. Leipzig 1793, S. 40f. - Zwei Schriften über die Dämonischen im N. T. hatte Semler 1776 (vgl. Nr. 144 und Nr. 145 im Verzeichnis der Semlerschen Schriften) verfaßt. Hat Eichhorn mit seiner Feststellung recht, so bestand also bis zu diesem Zeitpunkt (1776) offenbar noch eine erhebliche Differenz in den hermeneutischen Grundsätzen zwischen diesen beiden Gelehrten. Eine Kontroverse zwischen Ernesti und Semler hatte es bei gleichzeitiger Verteidigung Semlers durch Ernesti bereits 1762 gegeben. Vgl. hierzu Karl Aner, Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, S. 240. Vgl. Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 16: „die sogenannten historischen Umstände einer jeden Schrift gehören [...] zu dem eigentlichen völligen Grunde der richtigen Auslegung derselben.

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Im Blick auf die lange Geschichte der Schriftauslegung meint Semler, eine auffallige Vernachlässigung der „historischen Auslegung" konstatieren zu können, und er sieht in diesem Defizit den Grund dafür, daß es dann um so leichter war, den Bibeltexten den jeweils gewünschten geistlichen, erbaulichen oder moralischen Sinn zu unterlegen. „Eben diese Nachlässigkeit in richtiger Historie enthielt den Grund zu den unrichtigen Auslegungsarten."25 Sieht man von den allgemeinen Regeln und Grundsätzen der Auslegungstheorie ab, welche Semlers Hermeneutik mit zeitgenössischen Konzeptionen verbindet, so scheint das Besondere an seiner Hermeneutik darin zu bestehen, daß sie die Tendenz hat, zu einer historischen Disziplin zu werden. Dies aus einem doppelten Grund: erstens weil die Sprache als wandlungsfähiges historisches Phänomen eingeschätzt wird und infolgedessen für die Ermittlung des Bedeutungsgehaltes des Textes nicht nur die Kenntnis des allgemeinen Sprachgebrauchs der damaligen Zeit, sondern auch des individuellen Sprachgebrauchs des Textautors wie überhaupt der „historischen Umstände" gefordert wird; und zweitens, weil die Hermeneutik nun ihre eigene bisherige Geschichte kritisch reflektiert und daraus ihre eigene Standortbestimmung zu gewinnen sucht.

2. Die Zurückdrängung des Deutungsprinzips der Glaubensanalogie Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein hat das aus einer alten Tradition stammende Deutungsprinzip der „Glaubensanalogie" (analogia fidei) bei der Auslegung der Heiligen Schrift Anwendung gefunden.26 Dieses Deutungsprinzip sollte die sachliche Einheit der Schriftbotschaft gewährleisten. Zugleich diente es aber auch dem Zweck der Bewahrung und Bestätigung der jeweils geltenden konfessionellen Glaubenslehren. Die Auslegung secundum analogiam fidei bezog sich also nicht auf den subjektiven oder persönlichen Glauben des Interpreten, sondern auf die in den

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Da diese historischen Umstände sowohl des Verfassers als auch seiner nächsten Leser, für welche er schreibt, die wirkliche Veranlassung und Absicht seiner Schrift ausmachen, so sind sie nicht allemal, ja nur selten, nach besonderen Beschreibungen und Anzeigen in seiner Schrift befindlich oder völlig und ganz ausführlich bestimmt, sondern werden gemeiniglich ganz vorausgesetzt als ohnehin bekannt auf beiden Seiten." - Vgl. ebd., S. 83: „Die besonderen historischen Umstände dieser [paulinischen] Briefe weiß man ebensowenig mit Gewißheit als von anderen Schriften des neuen Bundes." Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heil. Schrift. Halle 1759, sowie Semler, Paraphrasis Epistolae ad Romanos. Halae 1769, praefatio. Vgl. dazu Otto Merk, Erwägungen zum Paulusbild in der deutschen Aufklärung, in: Wolfgang E. Müller/Hartmut H. R. Schulz (Hg.), Theologie und Aufklärung. Würzburg 1992, insb. S. 160. Vgl. Johann Jacob Rambach, Institutiones hermeneuticae sacrae. Jenae 1743, S. 92: ,Auctoritas, quam haec analogia fidei in re exegetica habet, in eo consistit, ut sit fundamentum ac principium generale, ad cuius normam omnes scripturae expositiones, tamquam ad lapidem lydium exigendae sunt."

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geltenden kirchlichen Bekenntnissen formulierten Lehren. Siegmund Jacob Baumgarten hatte die Glaubensanalogie durch die Schriftanalogie (analogia scripturae), d.h. den Zusammenhang der Schriftaussagen begründet und daher die Beachtung der Glaubensanalogie vom Exegeten gefordert. Unter dem letztgenannten Begriff verstand er den Zusammenhang aller in der Heiligen Schrift enthaltenen Heilswahrheiten. Wer die Glaubensanalogie anwendet, bedarf der Dogmatik. Denn er muß „den richtigen und vollständigen Lehrbegriff der Heilsordnung aufsuchen."27 Die Analyse der Hermeneutik Semlers hat also zu untersuchen, welche Stellung Semler zum Deutungsprinzip der Glaubensanalogie eingenommen hat. Ist er Baumgartens Position gefolgt oder hat er neue Wege beschritten? Hans-Georg Gadamer hat unter Bezugnahme auf Ernesti und Semler behauptet, daß die theologische Hermeneutik „auch im späteren 18. Jahrhundert noch beständig den Ausgleich mit dem dogmatischen Interesse" gesucht habe.28 Man könnte also vermuten, daß Semler ebenso wie sein Lehrer für das Festhalten an der Glaubensanalogie eingetreten sei. Der Quellenbefund zeigt jedoch, daß für den älteren Semler eher eine gegenläufige Bewegung kennzeichnend ist, welche die Heilige Schrift in ihrer inhaltlichen Vielgestaltigkeit emstzunehmen sucht. Diese Tendenz steht nicht im Widerspruch zu der seit August Hermann Francke in der halleschen Tradition vertretenen und auch von Semler geteilten Auffassung, daß Jesus Christus der „Kem" und die Mitte der Heiligen Schrift, insbesondere des Neuen Testaments sei.29 Zwar zeigt sich bei Semler keine radikale Verwerfung des Deutungsprinzips der Glaubensanalogie, wohl aber zeigen sich deuüich die Bestrebungen zu ihrer Zurückdrängung. Er hat erkannt, daß sie mit den Grundsätzen einer historischen Auslegung leicht in Konflikt geraten kann, sofern sie der Gefahr einer Eintragung dogmatischer Gedanken in den Bibeltext, d.h. einer Konfessionalisierung des Textes erliegt Es ist die Folge der Anwendung des Deutungsprinzips der Glaubensanalogie, daß in der Vergangenheit keine Ubereinstimmung in der Exegese erzielt werden konnte, sondern die Hermeneutik zur Begründung unterschiedlicher Theologien 27

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Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift. Halle 31751, S. 125 u. 121f. Hans-Georg Gadamer, Art. . H e r m e n e u t i k ' , in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel/Stuttgart 1974, Sp. 1064. - Zutreffender erscheint mir, was Gadamer in Wahrheit und Methode ausgeführt hat: „Erst einmal mußte sich die Hermeneutik aus aller dogmatischen Beschränkung lösen [...] Das geschah im 18. Jahrhundert, als Männer wie Semler und Emesti erkannten, daB ein adaequates Verständnis der Schrift die Anerkennung der Verschiedenheit ihrer Verfasser, also die Preisgabe der dogmatischen Einheit des Kanon voraussetzt". Vgl. ders., Wahrheit und Methode. Tübingen *1975, S. 165. Semler, Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 242. - Semler folgt darin seinem Lehrer Baumgarten, der allerdings nicht Christus, sondern dogmatisch korrekter „die Lehre von Christo" (doctrina de Christo) zum „Kem und Hauptinhalt der heiligen Schrift" erklärt hatte; vgl. Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 3. Halle 1760, S. 171f.

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der christlichen Konfessionen geworden ist. Zutreffend verweist Semler auf den Grund für diesen Tatbestand: Es gibt „so vielerlei und verschiedene analogiam fidei als verschiedene Lehrbegriffe die christlichen Parteien eingeführt haben."30 Gegenüber der Gefahr, daß der Aussagegehalt eines Bibeltextes durch die von der Glaubensanalogie bestimmte Interpretation überdeckt wird und nicht mehr voll zur Geltung kommt, verteidigt Semler die Selbständigkeit der Exegese und warnt davor, sie in eine Abhängigkeit von der jeweils geltenden Dogmatik zu bringen: „Man muß die angeblich reine Lehre mit kirchlichen guten Bestimmungen nicht aus dem Systemate der Bibel überall selbst aufdringen; dazu sollen Lehrer gar nicht helfen."31 „Freie Lehrart" impliziert für den Hallenser nicht nur das Recht zur Kritik von bestehenden Vorurteilen, sondern bedeutet auch Befreiung der historischen Exegese von dogmatischer Gebundenheit. Es ist eine Konsequenz der geforderten historischen Auslegung und der entsprechenden Zurückdrängung des Deutungsprinzips der Glaubensanalogie, daß Semler auch gegen die lange Zeit übliche Verchristlichung von alttestamentlichen Texten Einspruch erhoben hat. Bedenken hat er auch gegen das Verfahren angemeldet, aus dem Alten Testament Beweisstellen für die Richtigkeit von christlichen Glaubenslehren wie etwa der altkirchlichen Trinitätslehre anzuführen, wenn offenkundig ist, daß sie ihrem Wortlaut nach dazu ungeeignet sind, weil ein Großteil der geltenden Glaubenslehren nur aus dem Neuen Testament begründet werden kann.32

3. Die Vernunft als Vermögen zu sachgemäßer Interpretation Die Heilige Schrift hat Semler als menschlich-geschichtliches Offenbarungszeugnis verstanden, das zur heutigen Verkündigung und Predigt auffordert, aber der Interpretation bedarf, weil es vor langer Zeit von verschiedenen Autoren niedergeschrieben wurde und weil die einzelnen Schriften an verschiedenartige Empfängergemeinden gerichtet waren. Die Heilige Schrift darf mit dem „Worte Gottes" nicht identifiziert werden, obwohl man sagen kann, daß es in der Heiligen Schrift enthalten ist. Zum wirksamen Worte Gottes wird das Schriftzeugnis dadurch, daß es sich dem Gewissen der Bibelleser und Predigthörer bezeugt und in ihnen den Glauben erweckt. Semler hat wiederholt die Legitimität des wissenschaftlichen 30 31

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Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 213. Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 90. Vgl. Semler, Ausfürhche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, Vorrede, 1 Seite nach b3: „Ich behauptete, daß die christliche Lehre unmittelbar aus den Urkunden des neuen Bundes und zwar aus den fruchtbarsten und deutlichen Stellen bewiesen und dargestellt werden sollte; aus dem alten Testament aber nur jene Stellen solcher Verfasser, [...] in denen der Geist Christi, die vollkommenere Einsicht in eine geistliche Religion, schon in einigem Maße befindlich war."

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Vernunftgebrauchs in der Theologie betont. Zu den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen seiner theologischen Hermeneutik gehört die Überzeugung, daß man bei dem Bemühen um eine korrekte Schriftinterpretation sich auf das Erkenntnisvermögen der Vernunft verlassen darf. Dies schließt nicht aus, daß die Vernunft der angehenden Lehrer und Geistlichen methodisch geschult und geübt werden soll, was unter anderem durch das empfohlene Studium der Logik und Mathematik zu geschehen hat. „Die beste und meiste Übung der Vernunft ist einem angehenden Gottesgelehrten [...] an sich unentbehrlich."33 Der Vernunftgebrauch beschränkt sich jedoch nicht auf die Gruppe der Akademiker und ihr methodisch geschultes wissenschaftliches Denken, sondern er ist allen Christen unentbehrlich, weil diese nur mittels ihrer Vernunft und ihrem Verstand zu einer eigenständigen Glaubensüberzeugung und lebendigen christlichen Religion gelangen können.34 Die Vernunft ist dabei nicht als Inbegriff angeborener Ideen oder konstanter Erkenntnisinhalte aufgefaßt, sondern als ein Erkenntnisvermögen, das, vermittelt durch Erfahrungen und Reflexionen, immer neue Inhalte aufnehmen, neues Wissen erwerben und alte Vorurteile überwinden kann. Die Weiterentwicklung der theologischen Hermeneutik hin zu einer Auslegungstheorie, welche die grammatische mit der historischen bzw. zeitgeschichtlichen Bibelauslegung verbindet, soll sich von reformatorischen Grundsätzen leiten lassen: Vornehmlich aber hat Lutherus und Melanchthon mit gesunder guter Vernunft den Grund des Verstandes untersucht und eröffnet, wider die Geisteleien sich herzhaft gesetzt und durchaus gefordert, daß man Grammatik und Logik gebrauche, um die Bibel gewiß zu verstehen.35

Obwohl Semler entdeckt hat, daß sich aus dem Neuen Testament auch eine Geschichte des Urchristentums mit ihrem Gegeneinander von gesetzesstrenger und freiheitlich-paulinischer Richtung rekonstruieren läßt, bleibt das Hauptmotiv seiner Hermeneutik doch das Verständnis des in der Heiligen Schrift enthaltenen „Wortes Gottes", dessen Suffizienz und Heilswirksamkeit zu bejahen ist, weil es auch gegenwärtig noch den Glauben hervorruft und festigt und die Anfechtungen überwin33

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Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1759, S. 103. Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 227: „Das Christentum schließt ganz notwendig den Gebrauch der Vernunft ein, subjective und objective genommen". - Vgl. ebd., S. 416: „Es behalten aber alle Leser der heiligen Schrift und alle Zuhörer des christlichen Unterrichts den ganzen Gebrauch ihrer vernünftigen Fähigkeit nicht nur frei, sondern es ist auch ihre große würdige Pflicht, ja nicht die Beschäftigung des Verstandes bloß anderen anheim zu geben und sich selbst davon loszusagen. Die Religion wird sonst ein Menschenwerk, ein Geschäft anderer, welche [...] sich ein Recht einbilden, Entscheidungen zu geben, daß dieses und jenes der Inhalt der göttlichen Belehrung durchaus seie und sein müsse". Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heil. Schrift. Halle 1759.

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det. Semler hat das „Wort Gottes", das von keiner Kritik erreicht werden kann, an der Christusbotschaft orientiert und als den um Christi willen ergehenden Zuspruch der Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung verstanden. Weder hat er die göttliche Offenbarung als bloße Bestätigung menschlicher Vemunfteinsichten oder Moralgebote betrachtet noch eine Identifizierung von Heiligem Geist und menschlicher Ratio vorgenommen.36 Ausdrücklich erklärt er, daß er „unsere wenige und arme Vernunft nicht zur Meisterin und Anführerin des seligmachenden Glaubens machen" wolle.37 Semlers Anthropologie, Vernunftbegriff und Erkenntnistheorie bedürfen genauerer Analyse, wenn man seine Hermeneutik einigermaßen zutreffend erfassen will. Zu fragen wäre, ob und inwieweit Semlers Vernunftbegriff dem damals in Halle dominierenden Wolffianismus und seiner Erkenntnistheorie entsprach. Die von Christian Wolff getroffene Unterscheidung von Verstand und Vernunft wird, wenn ich recht sehe, nicht übernommen, und im inhaltlichen Verständnis läßt sich insofern eine Abweichung konstatieren, als Vernunft nicht nur als „das Vermögen" gilt, „den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen",38 sondern primär als Erkenntnisorgan der Wahrheitsfindung verstanden wird. Wenn „Wahrheit" im religiösen wie im wissenschaftlichen Sinne eine vorgegebene objektive Größe ist, so ist die menschliche Vernunft für Semler das Vermögen, diese Wahrheit zu entdecken und sich ihr gradweise anzunähern. Eine deutliche Abgrenzung vollzieht Semler gegenüber theologischen Theorien, welche von der Vernunft nicht nur Blindheit und Nichtwissen bezüglich des Heilsweges aussagen, sondern grundsätzlich von einem durch den Sündenfall beeinträchtigten oder verminderten Erkenntnisvermögen der Vernunft sprechen und daher eine besondere Erleuchtung oder Geistbegabung fordern, um die Heilige Schrift verstehen und recht auslegen zu können. Um den Sinngehalt oder „Verstand" der biblischen Texte zu ermitteln, bedarf es nach Semler der hebräischen und griechischen Sprachkenntnisse sowie der Vertrautheit mit dem individuellen Sprachgebrauch des Autors der Texte, aber es bedarf auf Seiten des Interpreten keiner besonderen Geistbegabung und Erleuchtung.39

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Gegen Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik. Göttingen 2 1986, S. 128ff. - Von einer sachgerechten und an den Quellen orientierten Darstellung der Hermeneutik Semlers ist Stuhlmacher noch weit entfernt. Im Gegensatz zur neueren Semlerforschung hält er an der rationalistischen Fehldeutung fest, wonach Semler „das Wort Gottes" für ewige und unveränderliche Vernunftwahrheiten gehalten habe (ebd., S. 130). Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgeier samkeit, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1759, S. 103. Christian Wolff, Vernünftige Gedancken [Deutsche Metaphysik], in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Charles A. Corr. Abt. 1, Bd. 2. Hildesheim/Zürich/New York 1983, §§ 277 u. 368. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heil. Schrift. Halle 1759: „Da kam der alte unvernünftige Satz wieder auf, daß ein Unbekehrter und

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In einer prinzipiellen Stellungnahme aus dem Jahre 1762, also der Frühzeit von Semlers akademischer Lehrtätigkeit, kommt dieses Zutrauen zur Erkenntnisfähigkeit der gottgegebenen menschlichen Vernunft zum Ausdruck: Die Vernunft mag noch so verderbt und mangelhaft jetzt bei uns sein und folglich mit Recht heißen: so ist sie doch zu dieser historischen Erkenntnis hinlänglich und unentbehrlich: daß 1) die heilige Schrift wirklich das seie, wofür sie uns von Propheten und Aposteln ist angeboten und in die Hände gegeben worden; 2) daß ihr Verstand, der Inhalt einzelner Stücke und Aussprüche wirklich dieser und nicht jener sei.40

Bemerkenswert an dieser Stellungnahme ist die für Semler offenbar selbstverständliche Annahme, daß Vemunfterkenntnis auch Gotteserkenntnis ermöglicht und damit auf den Weg zur Anerkenntnis der Heiligen Schrift als des uns unmittelbar angehenden „Wortes Gottes" führt.

4. Die Kritik an der Theorie vom vierfachen Schriftsinn Reinhart Koselleck hat 1979 behauptet: „Die Glaubwürdigkeit der biblischen Texte wurde zwar weltlicher Kritik unterworfen, aber die alte Lehre vom mehrfachen Schriftsinn prägte auch die Aufklärung."4' Ob und inwieweit der zweite Teil dieser These auf die Historik, Geschichtswissenschaft und Exegese der Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts tatsächlich zutrifft, müßte auf breiter Quellenbasis genauer untersucht werden. Bei Semler, der ein maßgebender Vertreter der historisch-kritischen Bibelauslegung gewesen ist, sind ganz andere Tendenzen vorhetTschend. In seinen exegetischen, hermeneutischen und kanonskritischen Schriften hat er wiederholt an der expositio quadriga Kritik geübt. Gemeint ist damit eine Auslegungstheorie, die schon im 4. Jahrhundert und bei Augustin ansatzweise ausgebildet worden war und dann während des gesamten Mittelalters bis zur Reformation fast unangefochten als maßgebliche Richtschnur für die Bibelauslegung gegolten hatte. Es ist die Theorie von einem mehrfachen, in der Regel vierfachen Schriftsinn, die besagt, daß neben dem Wortsinn, dem sensus litteralis, auch noch ein allegorischer, tropologischer oder moralischer und schließlich anagogischer Sinn zu beachten seien.42

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der den Geist nicht hat oder der nicht in Ansehung der Richtung seiner Seelenkräfte gebessert worden, die heil. Schrift weder selbst verstehen noch anderen nützlich vortragen könne." Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 122. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 279. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 142. - Vgl. ders., Neuer Versuch die gemeinnäzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 193: „Es war doch bloß Gehorsam gegen die Kirche, daß so viel lateinische Ausleger nun mit vier Rädern den Sinn der Bibel umherführten: sensus litterae, allegoricus, moralis, anagogicus". - Zur Geschichte der Theorie vom vierfachen Schriftsinn vgl. Ernst von Dobschütz, Vom vierfachen Schriftsinn, in: Harnack-Ehrung. Beiträge zur Kir-

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Den berühmten Merkvers für diese Theorie vom vierfachen Schriftsinn hatte auch Luther in seiner Galatervorlesung von 1516/17 zitiert. Der Reformator bricht aber mit dieser mittelalterlichen Auslegungsform, weil man sich bei ihrer Anwendung weder auf die Heilige Schrift noch auf die Tradition der alten Kirchenväter noch auf die grammatische Logik berufen kann.43 Der Merkvers für die Anwendung dieses vierfachen Schriftsinns lautet: Littera gesta docet, quid credas allegorìa, moralis quid agas, quo tendas anagogia.

zu deutsch: Der Wortsinn lehrt, was geschehen ist; der allegorische, was zu glauben ist; der moralische, was zu tun ist; der anagogische, wohin zu streben ist.

Man ist fast geneigt zu sagen, die Theorie vom vierfachen Schriftsinn legitimiere die Kunst, aus einem Text herauszulesen, was nicht drinsteht. Illustrieren läßt sich die Anwendung eines solchen Auslegungsverfahrens am Beispiel des Wortes .Jerusalem": Jerusalem ist nach dem sensus litteralis die Hauptstadt Judäas, nach dem allegorischen Sinn die Kirche, nach dem tropologischen oder moralischen Sinn ein geordnetes Staatswesen und nach dem anagogischen Sinn das himmlische Jerusalem. Diese Theorie vom vierfachen Schriftsinn war im Interesse der Vergegenwärtigung und Aktualisierung von Predigttexten ausgebildet worden, regte die Phantasie der Ausleger an und ließ sie nach geheimen, nicht offen zutageliegenden Sinngehalten der Texte fragen. Sie produzierte einen ungeahnten Bedeutungsreichtum, weil Aussagen aus verschiedenen Zeiten und von ganz verschiedenen biblischen Autoren zur Interpretation herangezogen und miteinander kombiniert werden konnten.44 Der Wortlaut der Bibeltexte wurde als Verschlüsselung aufgefaßt, deren tieferer, geistlicher Sinn durch die Auslegungskunst des Interpreten zutagegefördert werden sollte. Es ist offenkundig, daß diese Theorie von einem vierfachen Schriftsinn mit der von Semler als allein maßgeblich vertretenen historischen Textauslegung unvereinbar war. Es überrascht daher nicht, daß Semler sie als eine

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chengeschichte ihrem Lehrer Adolf von Harnack zu seinem 70. Geburtstag dargebracht von einer Reihe seiner Schüler. Leipzig 1921, S. 1-13. Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik. Tübingen '1991, S. 286ff. Vgl. Semlers Vorrede zu: Johann Kiddel, Abhandlung von Eingebung der heiligen Schrift. Halle 1783, S. XII: „Man nahm nun die quadrigas hermeneuticas zu Hülfe oder den vierfachen sensum: Litteralis, allegoricus, moralis, anagogicus; und nun konnte man für Christen einen Text holen, wo man wollte, vom Abimelech, Pharao, Esau, Simson etc., überall kamen nun erbauliche Gedanken genug zusammen."

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„willkürliche und für nachdenkende Menschen ganz untaugliche Hermeneutik" bezeichnet und entschieden abgelehnt hat.45 Wenn Semler die Willkürlichkeit solcher „Auslegung" bemängelt, weil sie eine Eintragung fremder Gedanken in den Text zum Zwecke seiner Vergeistlichung und Aktualisierung ist, so beansprucht er doch keineswegs, der erste Kritiker der Theorie vom vierfachen Schriftsinn zu sein. Er sieht sich selbst als geistiger Erbe reformatorischer Grundsätze und Erkenntnisse. Seine am Wortverstand orientierte Hermeneutik ist eine bemerkenswerte Konzeption, die vielfach hinter Pietismus und Orthodoxie auf Luther und Melanchthon zurückgreift. Die „Hypothese, daß die Bibel mehr als einen Verstand zugleich begreife", ist „von Luther und Melanchthon ernsdich widerlegt worden", erklärt er kurz, lapidar und historisch zutreffend.46 Daß dieses Lob der reformatorischen Hermeneutik immer wieder anklingt, hat seinen Grund darin, daß Semler in den maßgebenden Vertretern der reformatorischen Schriftauslegung Bundesgenossen in seinem Kampf gegen zeitgenössische Bestrebungen zur Weiterführung und Fortsetzung einer allegorischen und mystischen Schriftauslegung erblickt. Die Gründe für die Anwendung mystischer Schriftauslegungen in der nachreformatorischen Theologie liegen nach Semlers Urteil hauptsächlich in der Verbalinspirationslehre und in dem Bestreben, die Differenz zwischen Altem und Neuem Testament zu überbrücken und die alttestamentlichen Aussagen der neutestamentlichen Heilsbotschaft inhaltlich anzugleichen.47 Dieses Verfahren einer Christianisierung des Alten Testaments, das bis weit in das 18. Jahrhundert hinein von vielen Exegeten bei der Auslegung der Mosebücher, der Psalmen und der Propheten ganz selbstverständlich geübt worden ist, wird nun in seiner Fragwürdigkeit erkannt. Denn es verstößt gegen die Grundsätze der geforderten historischen Auslegung, welche sich auf den Literalsinn und die Aussageintention des Autors richtet. Die bewußte oder unbewußte Christianisierung alttestamentlicher Texte mußte also preisgegeben werden. In einem gewissen Umfang hat Semler dies in deutlicher Abweichung von der exegetischen Tradition bei seiner Psalmenauslegung getan. Er bekennt von seinen exegetischen Vorlesungen: Ich fing also nach und nach an mit freierem Gewissen über Bücher der Bibel hier zu lesen [...] schon viele Psalmen erklärte ich nicht von Christo, auf den ich auch die Sprüchw. [die Sprüche Salomos] 8. und 31. nicht historisch ziehen konnte.48

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Vgl. Semlers Vorrede zu: [Georg Ludwig Oeder], Christliche freye Untersuchung über die so genannte Offenbarung Johannis, aus der nachgelassenen Handschrift eines fränkischen Gelehrten. Halle 1769, (1 Seite vor a5). Semler, Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Halle 1774, S. 610. Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 183f. u. 238: „Aus dieser übertriebenen Inspiration hat man auch angenommen, daß in allen jenen Historienbüchem ein verborgener geistlicher Verstand enthalten seie nach Absicht des Urhebers." Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 153. - Vgl. zu Semlers Psalmenauslegung auch seine Ascetischen Vorlesungen. Halle 1772, sowie sein Apparatus ad liberalem Veteris Testa-

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Nach Semlers Urteil besitzt der neue Bund, den Gott in Jesus Christus geschlossen hat, einen Vorrang vor dem alten und dementsprechend auch das Neue Testament einen Vorrang vor dem Alten Testament. Das letztere kann zwar durch seine Psalmen und Propheten für den Christen zur Quelle echter Frömmigkeit und geistlicher Religion werden, aber die für den christlichen Glauben entscheidenden Heilswahrheiten sind nicht im Alten Testament zu suchen oder in dasselbe hineinzulesen, sondern aus den wichtigsten Schriften des Neuen Testaments, den paulinischen Briefen und dem Johannesevangelium zu entnehmen. Das Verfahren einer allegorischen oder mystischen Auslegung des Alten Testaments hat Semler kritisiert und betont, daß solche Methoden nicht dadurch legitimiert wären, daß der Apostel Paulus sich gelegentlich in seinen Schriften der Allegorese bedient hätte.49 Den von Semler vertretenen Grundsatz objektiver textgetreuer Interpretation kann man als Befolgung einer alten Anweisung auffassen: Sensus non est inferendus, sed efferendus. Auch wenn diese Anweisung erst in einer der Spätschriften (1786) wörtlich zitiert wird, so erfährt sie doch der Sache nach schon 1760 eine deutliche Zustimmung: „Ein Ausleger sollte nichts in die Schrift, so er auslegen will, von seinen Gedanken hineintragen, sondern alles aus derselben zu seinen nunmerigen Gedanken erst machen."50

5. Die Forderung nach Anerkennung und Anwendung der Textkritik Als Thema für seine Magisterarbeit hatte Semler 1750 von seinem Lehrer Baumgarten eine Aufgabe gestellt bekommen, die ihn mit einer neuen Forschungsrichtung näher vertraut machte: der neutestamentlichen Textkritik. Auf diesem Gebiet, das zunächst auch in Halle noch heftig umstritten war und innerhalb der protestantischen Universitätstheologie erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts größere Anerkennung erlangte, ist Semler durch eigene Untersuchungen und wissenschaftliche Kontroversen hervorgetreten. Dieser Sachverhalt muß erwähnt werden, weil Semler spätestens seit 1760 die Textkritik zur theologischen Hermeneutik gerechnet und als einen unverzichtbaren Bestandteil der biblischen Exegese angesehen hat. Er will, wie er selbst sagt, der „ungegründeten Furcht vor der Kritik" begeg-

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menti interpretationem. Halae 1773, § 48. Schon in diesen beiden Werken aus den frühen 70er Jahren wendet sich Semler dagegen, daß man die Psalmen häufig auf Christus gedeutet habe. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 142. Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Halle 1760, S. 7; vgl. auch den Leitsatz zu § 2 Inhalt. - Die Zustimmung zu der auch für die Heilige Schrift geltenden Auslegungsregel ist beim älteren Semler mit einer Abwehr des Biblizismus verbunden, wobei er betont, daß der Unterschied zwischen den urchristlichen Gruppen der ungeübten Anfänger und den fähigeren Christen in der aktuellen Bibelanwendung nicht aufgehoben werden dürfe. Vgl. ders., Neuer Versuch die gemeinnäzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 261f.

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nen und die religiöse Scheu durchbrechen, die man vielerorts gegenüber einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte und den Problemen der biblischen Textüberlieferung empfindet.51 Nach Ansicht der zu Semlers Zeit noch einflußreichen Vertreter der Spätorthodoxie darf an dem vorliegenden Bibeltext keine Kritik geübt werden, weil er ein von Gott unmittelbar eingegebener, verbalinspirierter Text ist, den die göttliche Vorsehung vor aller Verderbnis geschützt hat. Textkritik wäre demzufolge nicht nur unzulässig, sondern auch gänzlich überflüssig. Semler sucht diese weitverbreitete Auffassung als Irrtum und Vorurteil zu entlarven und hat deswegen die umfangreichen Bände, die den leicht geänderten Titel Hermeneutische Vorbereitung (3. und 4. Stück) tragen, ausschließlich der Behandlung der textkritischen Fragen des Neuen Testaments gewidmet Ehe man mit Grund und Gewißheit an die Auslegung von Bibeltexten herangehen kann, muß zuvor die Echtheit des Textes geprüft und, falls erforderlich, eine Entscheidung über die Lesarten getroffen werden. Semler verlangt solche Prüfung bereits 1758 in seinen Vorschlägen zur Reform des Theologiestudiums.52 Ganz selbstverständlich bringt er sie dann in der Folgezeit bei der Exegese neutestamentlicher Schriften und paulinischer Briefe zur Anwendung, weil sie für eine zuverlässige Auslegung und Erklärung unentbehrlich ist. Ohne Beachtung der unterschiedlichen „Lesearten" und der Entscheidung über die richtige Lesart, welche der Textauslegung zugrundegelegt werden soll, „ist man viel zu geschwind fertig mit der Erklärung selbst und diese ist alsdenn nichts weiter als eine neue Einkleidung der gemeinen dogmatischen oder auch unmittelbar erbaulichen Vorstellungen."53 Es gehört zu Semlers textkritischen Erkenntnissen, daß die vorhandenen Bibelhandschriften einen unterschiedlichen Quellenwert besitzen und daß bei der Textüberlieferung und dem wiederholten Abschreiben Veränderungen im ursprünglichen Wortlaut eingetreten sind. Aber auch aus dogmatischen Motiven und um den Vorrang des in der römisch-katholischen Kirche als maßgeblich angesehenen Vulgatatextes zu sichern, seien in der Vergangenheit Textänderungen und Texteinschübe vorgenommen worden. Die Notwendigkeit, bei der Erstellung eines einigermaßen zuverlässigen Textes auf die ältesten griechischen Handschriften des Neuen Testaments zurückzugehen, die unterschiédlichen „Lesearten" miteinander zu vergleichen und kritisch zu werten, macht nach Semlers Urteil die orthodoxe Schriftlehre mit ihren Behauptungen einer Vollkommenheit, Unversehrtheit und Verbalinspiration des überlieferten Textes völlig gegenstandslos. Die Textkritik konnte also zu dem Ergebnis führen, daß wir es bei dem auszulegenden Text gar nicht mit authentischen Aussagen eines Apostels oder biblischen 51 52

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Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Halle 1761, Inhalt zu § 1. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 133. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung der beiden Briefe Pauli an die Galater, Epheser, Philipper [...], hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1767, S. 7.

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Autors, sondern mit Fälschungen, späteren Zusätzen und Einschüben zu tun haben, welche dann das Urteil erzwingen, daß die betreffende Stelle auch als dogmatische Beweisstelle ungeeignet ist. Auf einen solchen Fall hat Semler mit seinen Untersuchungen zu 1. Joh. 5,7 hingewiesen.54 Es ist für das Verständnis der damaligen wissenschaftlichen Terminologie, derer sich Semler bedient hat, sehr bezeichnend, daß der Begriff „Kritik" zunächst fast ausschließlich im Sinne von Textkritik verwandt worden ist. Die Forderung nach Anwendung der Textkritik und Authentizitätsprüfung gilt aber nicht nur für die Interpretation der biblischen Schriften, sondern grundsätzlich für alle Schriften der Vergangenheit, mit denen es die Theologie bei ihren geschichtlichen und systematischen Darstellungen zu tun hat. Die Aufgaben der Kritik bestimmt Semler im Jahre 1763 folgendermaßen: Es muß also die echte Beschaffenheit der Schriften selbst außer Zweifel sein, um sie in die oder jene Zeit erweislich setzen zu können [...]. Es ist auch nach meiner Einsicht jedem Leser freizustellen, nach den hergehörigen Gründen von solchen historischen Umständen einer Schrift (ob dies ihr wahrer Verfasser sei, ob sie so alt, ob sie ohne Einschiebsel und Veränderungen auf uns gekommen) selbst ein Urteil zu fällen.55

Semler hat in Halle Vorlesungen über die Geschichte des Neuen Testaments und die Textkritik eingeführt und so dieser neu entstandenen wissenschaftlichen Disziplin in der protestantischen Universitätstheologie zum Durchbruch verholfen. Er trug durch eigene Forschungen - aber auch unter Berufung auf Erkenntnisse des französischen Exegeten und Patristikers Richard Simon (1638-1712)56 - wesentlich zur Überwindung jener Thesen der dogmatischen Schriftlehre bei, welche den überlieferten und gebräuchlichen Bibeltext mit dem ursprünglichen Text identifiziert und eine völlige Integrität des vorliegenden Bibeltextes behauptet hatten. Mit der Anerkennung der im Laufe einer langen Überlieferungsgeschichte erfolgten Textveränderungen und der Notwendigkeit einer Weitung der unterschiedlichen Lesarten befreite sich Semler von dogmatischen Positionen der Schriftlehre, die Siegmund Jacob Baumgarten, sein Kontrahent Johann Melchior Goeze sowie andere zeitgenössische Dogmatiker hinsichtlich der Textüberlieferung und Textkritik eingenommen hatten. 54

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Bei seiner Magisterdisputation von 1750 hat Semler noch in Übereinstimmung mit Baumgarten und der damaligen Theologischen Fakultät in Halle die Echtheit des Comma Johanneum (I. Joh. 5,7) gegen den Engländer William Whiston verteidigt, 1760 aber eine Revision in dieser textkritischen Frage vollzogen. Vgl. hierzu das Kap. VIII („Orthodoxie und Textkritik. Die Kontroverse zwischen Johann Melchior Goeze und Johann Salomo Semler") der vorliegenden Monographie. Vgl. Semlers Vorrede zu: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 2. Halle 1763, S. 7. Zu der schon 1757 erfolgten Empfehlung zur Beachtung der Textkritik Richard Simons vgl. Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Göttingen 1961, S. 185ff., sowie John Woodbridge, German Responses to the Biblical Critic Richard Simon: from Leibniz to J. S. Semler, in: Henning Graf Reventlow/Walter Spam/John Woodbridge (Hg.), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Wiesbaden 1988, insb. S. 81ff.

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6. Besonderheiten und Gemeinsamkeiten theologischer und philosophischer Hermeneutik - Der Billigkeitsgrundsatz Es dürfte unbestreitbar sein, daß sich für die Interpretation der Heiligen Schrift einige besondere Probleme stellen, die keine unmittelbare Entsprechung in der philosophischen Hermeneutik besitzen. Zu diesen Besonderheiten der theologischen oder biblischen Hermeneutik wird man wohl den Gedanken der Schriftmitte (Schale-Kern), die Anwendung der Glaubensanalogie sowie das Problem der Gleichrangigkeit und Verschiedenheit von Altem und Neuem Testament zu rechnen haben. Zu diesen Besonderheiten gehört auch die Aufgabe der Applikation, weil die biblischen Texte als Verkündigungstexte auf die Situation und Lebenswirklichkeit gegenwärtiger Menschen bezogen werden sollen. Allerdings wird man sagen müssen, daß solche Applikation auch im juristischen Bereich bei der Anwendung von Gesetzestexten vorgenommen wird. Die genannten Besonderheiten schließen nicht aus, daß in anderer Hinsicht zwischen den um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland entworfenen Konzeptionen der theologischen und philosophischen Hermeneutik auch methodische Gemeinsamkeiten vorliegen können. Dies ist, wenn ich recht sehe, hinsichtlich der Forderung nach Berücksichtigung des individuellen Sprachgebrauchs, nach Feststellung der Autorintention und der Beachtung des Billigkeitsgrundsatzes der Fall. Über die gegenseitige Beeinflussung von theologischer und allgemeiner oder philosophischer Hermeneutik können bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung jedoch vorerst nur Hypothesen und Vermutungen geäußert werden. Die lange, bis auf die Reformation zurückreichende Tradition einer Reflexion über die Bedingungen korrekter Schriftauslegung erklärt wohl hinreichend, warum Semler nirgends von dem Bestreben geleitet ist, die Eigenständigkeit der theologischen Hermeneutik als wissenschaftlicher Disziplin herauszustellen oder nachzuweisen. Er sieht auch in den zeitgenössischen Bemühungen um eine philosophische Hermeneutik kein Konkuirenzunternehmen, von dem man sich abgrenzen müsse. Er hat in seinen Schriften nirgends direkte Vergleiche zwischen theologischer und philosophischer Hermeneutik angestellt. Es ging ihm vordringlich darum, die Auslegung der Heiligen Schrift wissenschaftlich überprüfbar und zuverlässiger zu machen. Theologische Hermeneutik ist für ihn in erster Linie „biblische Hermeneutik", die als solche besondere Aufgaben und Probleme besitzt, wie etwa die Überprüfung und Kritik der bisher angewandten unterschiedlichen Auslegungsarten, die Bestimmung der inhaltlichen Verschiedenheit von Altem und Neuem Testament sowie die Unterscheidung von „Wort Gottes" und „ H e i l i g e r Schrift". Man könnte auch sagen, daß die theologische Hermeneutik nach der vollzogenen Kritik an der Verbalinspirationslehre vor der Aufgabe steht, die Bibelautorität neu zu begründen und zwischen dem Bibeltext als solchem und seinem religiösen Gehalt zu unterscheiden. 264

Hinsichtlich ihrer methodischen Regeln und Grundsätze bleibt Senders Konzeption einer historisch orientierten Signifikationshermeneutik auf vielfältige Weise mit der zeitgenössischen philosophischen Hermeneutik verbunden. Ausnahmeregeln oder ein Sonderstatus sollen für die sachgemäße Interpretation der Bibel nicht in Anspruch genommen werden. Vielmehr wird die Heilige Schrift als ein Buch betrachtet, dessen Interpretation den gleichen methodischen Bedingungen unterworfen ist wie jede andere Schrift aus vergangenen Zeiten. Semler hat dies mit Nachdruck hinsichtlich der Anwendung der Textkritik hervorgehoben, aber auch ganz prinzipiell gefordert: „Man muß das neue Testament eben so lesen, nach eben den Grundsätzen auslegen als alle Schriften in der Welt. Komme heraus, was mag."57 Bezeichnend für diese Überzeugung allgemein verbindlicher Auslegungsgrundsätze ist, daß Semler häufiger von der „Hermeneutik" ohne nähere Kennzeichnung spricht, wodurch man den Eindruck gewinnt, es handle sich um eine für Theologie und Philosophie gleichermaßen geltende wissenschaftliche Disziplin. In den Anweisungen des kurzen Leitsatzes zu § 17 der Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik heißt es: „In der Hermeneutik kommt's gar nicht auf Eifer und Beteuerungen von eigener Einsicht an; man muß Billigkeit beobachten und stets hermeneudsche Gründe angeben, um andere zu überzeugen." Bemerkenswert ist dieser Leitsatz nicht nur, weil er für die Auslegung eine nachprüfbare Argumentation fordert, sondern auch wegen des Billigkeitsgrundsatzes, von dem hier die Rede ist. Wer sich dann den Ausführungen zum § 17 zuwendet und sie in der Erwartung liest, dort Näheres zum Verständnis der Billigkeit zu erfahren, wird enttäuscht sein. Denn es wird weder eine Definition noch eine Erläuterung dieses Begriffs geboten. Der Begriff kommt nur im Zusammenhang mit „Melanchthons Billigkeit" zur Sprache, dem humanistisch gebildeten Reformator, der im Urteil Semlers stets ein vorbildlicher Schriftausleger und Interpret antiker Autoren gewesen ist.58 Was wir heute an solchen Darlegungen als unbefriedigend oder defizitär empfinden, läßt sich historisch erklären. Um 1760 gehörte die Forderung nach Beachtung der Billigkeit bereits zu den anerkannten Grundsätzen der in Halle vertretenen theologischen und philosophischen Konzeptionen der Hermeneutik. Johann Georg Walch hatte in der zweiten Auflage seines Philosophischen Lexikons (1740) den Billigkeitsbegriff in einem eigenen Artikel behandelt, und Siegmund Jacob Baumgarten verwendet ihn seit 1742 in allen Auflagen seines Hermeneutik-Kompendiums. Als Haltung oder „Gemütsfassung", derer sich ein Ausleger befleißigen soll, werden von Baumgarten erstens eifrige „Wahrheitsbegierde", zweitens „Unverdrossenheit" und drittens „große Bescheidenheit und Billigkeit"

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Semler, Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. R. Steinbarts System des reinen Christentums. Halle 1780, S. 123. Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Halle 1760, S. 142.

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genannt.59 Mit Billigkeit soll sowohl gegenüber dem Autor einer auszulegenden Quelle als auch gegenüber zeitgenössischen Interpreten verfahren werden. Aus dem Kontext der zitierten Stelle ist die genauere Bedeutung dieses Begriffs nicht erkennbar, so daß es schwierig ist, anzugeben, worin die geforderte Billigkeit besteht und welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit man sagen kann, sie habe Beachtung gefunden. Vielleicht trifft man den von Baumgarten gemeinten Sachverhalt am ehesten, wenn man die Haltung der Billigkeit zum Ethos der Interpretation rechnet und in ihr einen Ausdruck für jene wohlwollende Einstellung sieht, die bei der Interpretation stets solche Erklärungen und Beschreibungen wählt, die sich am besten in den Gesamtzusammenhang der Textaussagen einfügen.60 Eine direkte Bestätigung und Stützung erfährt diese Interpretation durch die Beobachtung, daß der Billigkeitsbegriff seine ursprüngliche Verwendung bei Baumgarten offenbar in der Ethik, d.h. im Rahmen der Theologischen Moral gehabt hat. In der dritten Auflage dieser Schrift Baumgartens von 1744 finden sich zwei Paragraphen (§§ 135 u. 260), welche Gerechtigkeit und Billigkeit als Haltung bezeichnen, zu der jedermann, vor allem aber jeder Christ verpflichtet sei. Begründet wird diese sittliche Verpflichtung mit dem Hinweis auf die goldene Regel, die in den Bibelstellen Matth. 7,12 und Luk. 6,31 in unterschiedlichen Formulierungen vorliegt. Nach Baumgartens Worten enthalten diese beiden Bibelstellen „die fruchtbarste und vollständigste Regel dieser Billigkeit".61 Semler hat sein Verständnis der Billigkeit und die Verwendung dieses Begriffs im Rahmen der Hermeneutik von Baumgarten übernommen und kein Bedürfnis empfunden, den Begriffsinhalt zu erläutern oder zu präzisieren. Fraglos will er ein positives Werturteil abgeben, wenn er von Melanchthons „Billigkeit" spricht, zumal dieser von ihm stets als großes Vorbild der Gelehrsamkeit gepriesen wird. Im Blick auf den Stellenwert des Billigkeitsgrundsatzes wird man jedoch einschränkend hinzufügen müssen, daß er bei Baumgarten und Semler offenbar nicht jenes Gewicht besitzt, das ihm in der Hermeneutik von Georg Friedrich Meier zuerkannt worden

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Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift. Halle 3 1751, S. 218. Ebd., S. 142. Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht vom rechtmäßigen Verhalten eines Christen oder Theologische Moral. Halle 3 1744, S. 283. Vgl. Oliver R. Scholz, „Hermeneutische Billigkeit" - Zur philosophischen Auslegungskunst der Aufklärung, in: Beate Niemeyer/Dirk Schütze (Hg.), Philosophie der Endlichkeit. Würzburg 1992, S. 286-309, insb. 298ff. - Ders., Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier, in: Axel Bühler (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Frankfurt/M. 1994, S. 158-191, insb. 181ff.

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7. Die Feststellung der hermeneutischen Wahrheit und die Eindeutigkeit der Textaussagen Semlers theologische Hermeneutik kann man als eine .Signifikationshermeneutik' charakterisieren, weil sie an der Zeichenfunktion der Sprache orientiert ist und der Textauslegung die Aufgabe zuweist, die Bedeutung der sprachlichen Zeichen (Worte, Sätze) zu erkennen. Die Aufmerksamkeit richtet sich daher auf die Relation von signa und res, sprachlichen Zeichen und bezeichneter Wirklichkeit. Diese Relation liegt jedoch in einer historischen Sprachgestalt vor, deren Bedeutungsgehalt sich auch dem philologisch geschulten Leser biblischer Texte erst allmählich erschließt. Auf dem Wege über die Feststellung der Wortbedeutung soll der Zugang zu den ursprünglich gemeinten Sachverhalten gewonnen werden. Dabei läßt sich Semler offenbar von der für uns problematisch gewordenen Annahme leiten, daß die festzustellende Bedeutungsrelation von Wort (Begriff) und gemeintem Sachverhalt oder Phänomen stets eindeutig ist: unum nomen - unum nominatimi. Diese Feststellung des „wahren Verstandes" einer Textaussage, wie etwa einer Bibelaussage, erscheint daher eine prinzipiell lösbare Aufgabe: Wenn alle einzelne Worte und Wortfügungen ihre bestimmte Bedeutung bekommen haben, wozu sehr viel philologischer Vorrat gehört: so bekommen wir nun Begriffe und Sachen, die dadurch bedeutet worden sind. Wenn diese so erkläret und deutlich gemacht worden [sind], daß wir eben den Umfang in der Vorstellung davon erreichen, als bei dem Schriftsteller gewesen ist und als er seinen damaligen nächsten Lesern hat mitteilen wollen, so haben wir den richtigen und wahren Verstand erklärt und ausgelegt.63

Bei dem historischen und philologischen Bemühen um die Gewinnung einer solchen hermeneutischen „Wahrheit", welche in der Übereinstimmung der Interpretation mit den Aussageintentionen des Textautors besteht, könnte es sich um die Anwendung der bekannten Adäquationstheorie (Veritas est adaequatio rei et intellectus) auf den Interpretationsvorgang handeln. In der zeitgenössischen Verwendung des Wahrheitsbegriffs hat man zwischen einer metaphysischen, ethischen und logischen Wahrheit unterschieden. Von einer „hermeneutischen Wahrheit" hat Johann Georg Walch in dem Wahrheitsartikel seines Philosophischen Lexikons (2. Aufl. 1740) nicht gesprochen. Gleichwohl stellt Semlers Rede von der „hermeneutischen Wahrheit" oder dem „hermeneutisch Wahren" keine sprachliche oder begriffliche Neuprägung dar. Denn ein entsprechender Sprachgebrauch läßt sich 63

Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zw Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 134. - Vom feststellbaren sensus hermeneutice verus als dem erstrebenswerten Ziel der Interpretation spricht Semler auch in seiner scharfen Auseinandersetzung mit einer willkürlichen Auslegung des Hohenliedes Salomos. Dabei fordert er die Beachtung historischer Interpretationsgrundsätze, weil „ein Schriftsteller alsdenn richtig ausgelegt wird, wenn der Ausleger eben die Vorstellungen und Gedanken, nicht mehr und nicht weniger, und nicht anders anbringt und mitteilt, als diejenigen sind, welche der Verfasser des Buches selbst ehedem hatte"; vgl. ders., Eigne historische theologische Abhandlungen. Erste Samlung. Halle 1760, S. 252f.

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schon in der Hermeneutik Baumgartens nachweisen, aus der Semler ihn sehr wahrscheinlich übernommen hat.64 Was aus heutiger Sicht etwas überrascht, ist der in Semlers Signifikationshermeneutik vorwaltende Erkenntnisoptimismus, der sich in der Überzeugung äußert, daß bei hinreichend sorgfältiger und gewissenhafter Auslegung „die hermeneutische Wahrheit" feststellbar sei. Dabei wird vorausgesetzt, daß die auszulegenden Bibeltexte nicht etwa teils mehrdeutig und teils eindeutig, sondern durchweg in ihrem ursprünglichen Sinn eindeutig sind. Die behauptete Eindeutigkeit der Texte ist nicht das Ergebnis bisheriger Exegese, sondern eher ein Postulat, das alle Anstrengungen zur Erforschung ihres Sinnes stimulieren soll. Es wäre zu prüfen, ob Semler seine Eindeutigkeitsthese lediglich auf das von einem Textautor Gemeinte oder auch auf dessen Formulierungen und Sprachgebrauch bezogen wissen wollte. Jedenfalls bezeichnet Semler die Eindeutigkeit biblischer Reden als eine „Gewißheit", von der jeder vernünftige Schriftausleger überzeugt ist und ausgehen darf.65

8. Veränderungen in der Signifikationshermeneutik Der Eindeutigkeitsthese entspricht bei Semler ein Wahrheitsbegriff, der die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der biblischen Wahrheit und ihrer Sätze akzentuiert: Veritas est unica. Mit diesem Wahrheitsbegriff wird dem Bedeutungsgehalt der biblischen Heilswahrheiten eine besondere Dignität, Verbindlichkeit und religiöse Autorität zugesprochen. Doch legt Semler auf die Feststellung wert, daß dieser Wahrheitsbegriff nicht auf die unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Schriftinterpretationen bezogen werden darf.66 Subjektive Wahrheitserkenntnis in ihrer perspektivischen Beschränkung und Wahrheit im objektiven Sinne als vollständige und adäquate Erkenntnis der Sachverhalte decken sich also nicht. Sie sind auch dann nicht identisch, wenn auf Seiten des Erkenntnissubjektes echtes Wahr64

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Siegmund Jacob Baumgarten, Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift. Halle 3 1751, S. 5. - Die Rede vom sensus hermeneutice venís findet sich auch bei Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757, S. 65, § 118. Vgl. Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Halle 1760, S. 143: „Da also ganz gewiß ist, daß die heiligen Verfasser allezeit einen Verstand in ihren Reden gehabt und gedacht haben, als auch, daß sie nur e i n e n Verstand und nicht mehrere [...] gehabt haben; so ist auch gewiß, daß jeder vernünftige Ausleger nur einen Verstand einer Stelle für den wahren hält." Vgl. Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1762, S. 17: „Wenn also gleich es an sich oder überhaupt ein richtiger Satz ist, veritas est unica; daß von allen den verschiedenen Begriffen, welche die Christen nach und nach als Theile des wirklichen Inhalts der Schrift angesehen, nur Einer der hermeneuüsch wahre sein kann, so verhält es sich doch anders, sobald es auf die besonderen Individua ankommt, welche eine Erkenntnis des hermeneutisch Wahren sich allesamt zuschreiben."

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heitsstreben und der Wille zur Überwindung und Korrektur der eigenen Vorurteile vorhanden ist. Was bestenfalls erreicht werden kann, ist nach Semlers Urteil eine gradweise Annäherung an das objektiv Wahre. Das Eingeständnis der Relativität und Unvollständigkeit individueller Wahrheitserkenntnis rechtfertigt jedoch keineswegs den Verzicht auf das Bemühen um ständige Erweiterung der eigenen Erkenntnis. Mein eigenes Wissen und Urteil bestimmt das für mich Wahre [...]. Niemand erkennt das objektivisch Wahre ein für allemal in seinem ganzen Umfange; alle Erkenntnis davon ist abgeteilte, partikuläre, nicht totale Erkenntnis des objektivisch unendlich Wahren.61

Indirekt hat Semler seine Eindeutigkeitsthese durch das Zugeständnis relativiert, daß es in der Bibel auch die Sinnlichkeit und Bildhaftigkeit der Metaphernsprache, daß es Allegorien sowie eine uneigentliche symbolische Ausdrucksweise gebe. Mit dem Hinweis auf diesen besonderen Charakter der Bibelsprache sucht er zu erklären, daß die Feststellung der Textbedeutung doch eine schwierige Aufgabe darstellt und der genaue und richtige Verstand einer Stelle doch „nie auf einmal kann gefunden werden."68 Die Zweifel an der Richtigkeit der ursprünglichen Eindeutigkeitsthese verstärken sich gegen Ende der 70er Jahre und bewirken, daß eine wichtige Veränderung in Semlers Signifikationshermeneutik eintritt. Die neue Position besteht in der Einsicht, daß mit den Worten und Aussagen mehr als nur eine einzige Vorstellung verbunden werden könne. Damit ist die Eindeutigkeitsthese in der Sache preisgegeben. Ich fange in der Tat an, es für unwahr zu halten, was man so lange Zeit lehrete, es seie in der Bibel eine feste, determinierte Beschreibung der christlichen Wahrheiten oder Begriffe also enthalten, daß nur eine allereinzige Vorstellung unaufhörlich die wahre Vorstellung sein solle und müsse, dieweil sie schon in diesen Worten enthalten und angezeigt seie.69

Will man die neue Position hinsichtlich der Deutungsmöglichkeiten biblischer Aussagen mit einem Begriff charakterisieren, so könnte man sagen, daß der ältere Semler sich einer Symboltheorie nähert, die hinsichtlich der geistlichen Wirklichkeiten des christlichen Glaubens mit einer Differenz zwischen sprachlichem Symbol (Wort, Aussage) und dem Symbolisierten (der gottgewirkten geistlichen Wirklich67

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Semler, Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. 58. Vgl. Kap. IV („Christologie und Soteriologie") der vorliegenden Monographie. Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Halle 1760, S. 154, Anm. 44. Semler in: Johann Kiddel, Abhandlung von Eingebung der heiligen Schrift. Halle 1783, S. 150. - Die Erkenntnis der Zweideutigkeit des Wortlauts mancher Schriftaussagen hat für Semler auch Auswirkungen auf die Dogmatik und Kontroverstheologie, weil sie zu einer milderen Beurteilung dogmatischer Differenzen und zur Vorsicht hinsichtlich der Antwort auf die Frage nach der Schriftgemäßheit sozinianischer Lehren nötigt Vgl. ders., Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 341: „Da ich nach Baumgartens Tode öfter über Polemik gelesen habe, so habe ich durchaus nicht in der Bosheit der Sozinianer den Grund ihres Widerspruchs angenommen, sondern in der Möglichkeit, die Schriftstellen auf mehr als Eine Art zu erklären".

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keit) rechnet. Kennzeichnend dafür ist die Erklärung, daß wichtige biblische und dogmatische Aussagen der Christologie, Soteriologie und Abendmahlslehre (z.B. die Bezeichnung des Kreuzestodes Jesu Christi als „Opfer", die durch Christus bewirkte „Versöhnung" und „Erlösung") sowohl sensu proprio als auch sensu improprio verstanden werden können.70 Zu dieser Veränderung der Semlerschen Hermeneutik haben offensichtlich erkenntniskritische und sprachkritische Reflexionen beigetragen, welche vor allem die Relativität der menschlichen Gottesvorstellungen und der Rede von Gott betreffen. Als positive Bezeichnungen für die Geisthaftigkeit und ständige Gegenwart der Wirklichkeit Gottes verwendet Sender die Begriffe der „Unvergleichlichkeit" und der „Unendlichkeit" Gottes, womit seine räumliche und zeitliche Unbegrenztheit gemeint sind. Wenn aber Gott ein „unvergleichliches" und „unendliches" Wesen ist, so verfügt er über Eigenschaften und Handlungsmöglichkeiten, welche die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens erheblich überschreiten und vom Menschen weder denkend zureichend erfaßt noch sprachlich adäquat beschrieben werden können. Von Gott kann gesagt werden, daß er „viel mehr ist, als was wir von ihm zu denken imstande sind."71 Ist er ein „unendliches" Wesen, so ergibt sich, daß wir von ihm „nur auf menschliche, endliche, mangelhafte Weise reden können."72 Hier artikuliert sich die sprachkritische Einsicht in die Inadäquatheit menschlicher Rede von Gott. Die Unendlichkeit Gottes impliziert für Semler trotz der Anerkennung eines Offenbarungsgeschehens, das in der doppelten Gestalt der Schöpfungs- und Christusoffenbarung zugänglich ist, eine letzte Unbegreiflichkeit Gottes.73

9. Argumente für eine begrenzte Sachkritik Für die theologische Hermeneutik der Aufklärungszeit ergab sich eine schwierige Problematik dadurch, daß mit dem erfolgreichen Bemühen um die Feststellung der „hermeneutischen Wahrheit" als der Übereinstimmung gegenwärtiger Interpretationen mit der ursprünglichen Aussageintention des Textautors die Frage nach der Sachwahrheit, d.h. dem Phänomen- oder Gegenstandsbezug der biblischen Berichte noch gar nicht berührt, geschweige denn beantwortet war. Es stellte sich die 70

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Vgl. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 350f., u. ders., Neuer Versuch die gemeinnüzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 249ff. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 263. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 284. Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 302: „Nun kommt es auf das Gewissen der Christen an, ob sie nicht gestehen müssen, daß überhaupt das höchste Wesen unendlich und unbegreiflich seie." - Vgl. auch die in den Ascetischen Vorlesungen gewählte Gebetsanrede: „Ewiger, hocherhabener Gott, Herr über alles was außer dir da ist! Unendlich[es], unbegreifliches Wesen!" Ders., Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 203.

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Frage, ob die biblischen Texte mit ihren sprachlichen Bezeichnungen zutreffende Beschreibungen der Gegenstände, Phänomene und Ereignisse bieten, von denen sie sprechen. Mit dem sich allmählich herausbildenden Verfahren der historischen Kritik konnte untersucht werden, ob das in den biblischen Texten Berichtete nur in der Auffassung des jeweiligen biblischen Autors als geschehen vorgestellt worden ist oder ob es nach neueren wissenschaftlichen Kriterien auch als faktisch geschehen beurteilt werden durfte. Solche Unterscheidung der Berichte, die als Darstellung historischer Ereignisse anerkannt werden konnten, von anderen Überlieferungen, die eher als Fabel, Legende oder Mythos einzustufen waren, drängte sich durch das neuzeitliche Wiridichkeitsverständnis ganz unvermeidlich auf. Sie war durch die Entwicklung und methodische Verselbständigung der Geschichtswissenschaft und der Naturwissenschaften unumgänglich geworden.74 In Anbetracht ihres besonderen Charakters als Glaubensaussagen waren von der Möglichkeit einer Überprüfung auf ihre Sachwahrheit nicht alle Bibelaussagen in gleicher Weise betroffen. Für die Gottesaussagen, die zentrale Botschaft von Gottes Heilshandeln in Versöhnung und Erlösung, schien jede Verifikation oder Falsifikation gänzlich ausgeschlossen, auch wenn verschiedentlich der Versuch einer Verifikation solcher religiösen Aussagen durch die Betonung der Glaubwürdigkeit der biblischen Autoren unternommen wurde. Anders verhielt es sich jedoch hinsichtlich solcher Bibeltexte, in denen sich das geozentrische Weltbild der damaligen Zeit widerspiegelte, die chronologische Angaben enthielten, über Naturvorgänge oder historische Ereignisse berichteten. Hier konnte es sich um zeitgeschichtlich bedingte Irrtümer, um Aberglaube, Legenden und Einbildungen handeln. Semler ist bereit zuzugeben, daß in Bibeltexten auch „die Mängel" der damaligen allgemeinen Erkenntnis, und das heißt „abergläubische Irrtümer" sowie ,.falsche Vorstellungen und Meinungen", enthalten sind.75 Zugespitzt formuliert und auf eine knappe For74

Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 52: „Die Historie geriet unter den Anspruch auf einen intensiveren Realitätsgehalt, längst bevor sie diesem Anspruch genügen konnte." Es „verschob sich der Stellenwert der res factae gegenüber den res fictae. Es ist ein deutlicher Gradmesser für die Ausbreitung eines neuen geschichtlichen Wirklichkeitsbewußtseins, daß sich umgekehrt auch Erzählungen und Romane als .histoire veritable', als .wahrhaftige Geschichte' ausgeben mußten". - Zu den Wandlungen der deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert vgl. auch Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer, Aufklärung und Historik. Aufsätze zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft, Kirchengeschichte und Geschichtstheorie in der deutschen Aufklärung. Waltrop 1991, sowie Friedrich Jaeger/Jöm Rüsen, Geschichte des Historismus. München 1992.

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Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 59. - Angesichts der offenkundigen Differenz des alttestamentlichen Weltbildes zu den neuzeitlichen astronomischen Erkenntnissen votiert Semler bei seiner Interpretation von Psalm 19,7 eindeutig zugunsten der sich weiterentwickelnden modernen Naturwissenschaft; vgl. ders., Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 158: „Wer übrigens die wahre und eigentliche Erkenntnis von der Bewegung aller Planeten, also auch unserer Erdkugel, um eine eigene Achse schon hat oder sich schaffen kann, der soll um solcher gemeinen sinnlichen Beschreibung willen [wie sie Psalm 19,7 vorliegt] diese richtige astrono-

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mei gebracht lautet die von Semler gewonnene Einsicht: Die gleiche Aussage, die als „hermeneutisch wahr" bezeichnet worden war, konnte in sachlicher Hinsicht und gemessen an modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen fragwürdig oder „falsch" sein. So ergab sich für Semler über die Textkritik hinaus auch die Berechtigung zur Sachkritik an bestimmten biblischen Vorstellungen und Bibelaussagen. Die urchristliche Naherwartung mit ihrer Hoffnung auf die baldige Wiederkunft Christi ist durch den tatsächlichen Geschichtsverlauf widerlegt worden und hat sich als „eine menschliche unrichtige Idee" erwiesen.76 Aber auch hinsichtlich der Rede vom Wirken des Teufels und der Dämonen sowie der Differenz zwischen dem biblischen Weltbild und dem kopemikanischen System schien die Feststellung berechtigt: ,3s gibt viele Dinge in der heiligen Schrift, von denen nicht so geredet wird, wie sie wirklich waren, sondern nach der Meinung der Zeiten, in denen sie geschahen."77 Wegen dieser Zeitbedingtheit und deutlichen Differenz zur Sachwahrheit lehnt Semler es ab, die Bibel wie ein Kompendium empirischer Wahrheiten, wie ein Lehrbuch der Naturkunde oder eine Enzyklopädie des modernen Wissens zu behandeln. Er beschränkt die Bibelautorität auf die in der Heiligen Schrift enthaltene Christusbotschaft, das Evangelium und die Heilsordnung und plädiert gleichzeitig für eine Offenheit des christlichen Glaubens gegenüber den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft.

10. Rangstufen im Schriftverständnis und Applikation der Heilswahrheiten Den Grundsatz, daß ein lutherischer Theologe nicht an Lehrtraditionen und Meinungen anderer Lehrer gebunden sei, wohl aber „die christliche Lehre aus den ersten echten Urkunden der christlichen Religion herleiten" solle,78 hat Semler sich zu eigen gemacht. Die ständige Bibellektüre betrachtet er als ,Pflicht" jedes Christenmenschen. Seine eigene Theologie wollte nicht gesetzlich-biblizistisch, wohl aber eine an der Schriftmitte orientierte schriftgemäße Theologie sein. Zahlreich sind bei ihm nicht nur direkte Schriftzitate, sondern bis in die theologischen Spätwerke hinein die Verwendung neutestamentlicher Begriffe, Vorstellungen und Ausdrucksweisen. So spricht er etwa davon, daß die geistlichen Christen immerfort

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mische Erkenntnis nicht wegwerfen, welche von Zeit zu Zeit durch menschlichen Fleiß noch immer weiter vollkommen gemacht werden kann." Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771, S. 120 (erste Zählung) [= Neuausgabe des grundlegenden Teils des 1. Bandes (S. 1-128) dieser Semlerschrift von Heinz Scheible, Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte. Heft 5. Gütersloh 2 1980, S. 88]. Semler in: Hugh Farmer, Briefe an D. Worthington über die Dämonischen in den Evangelien. Halle 1783, S. 222, Anm. n. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 109.

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und zu allen Zeiten „das Salz der Erde" gewesen seien79 und verweist auf das Tröstliche der Erfahrung: „so uns unser Herz verdammet, so ist Gott größer als unser Herz".80 In der Christologie verwendet er nicht nur die traditionellen Hoheitsnamen und Würdeprädikate, sondern erwähnt, daß Jesus Christus „ein Licht, ein Hirte" und „Bischof der Seelen", aber auch „ein Opfer" und „Priester" genannt werde.81 Im Gegensatz zu einem Schriftverständnis, das von einer prinzipiellen Gleichrangigkeit aller kanonischen Schriften ausgeht, kennt und markiert Semler sowohl im Alten als auch im Neuen Testament unterschiedliche Rangstufen. Dabei tritt das Alte Testament hinter dem Neuen deutlich zurück, weil nur das Neue als Quelle und klares Zeugnis der christlichen Heilswahrheiten angesehen werden kann. Die differenzierende Bewertung der biblischen Schriften ergibt sich aus der Beobachtung, daß nur in einigen, keineswegs aber in allen kanonischen Schriften Zeugnisse von den eigentlichen „Grundwahrheiten des Christentums" enthalten sind. Neben jenen alttestamentlichen Schriften, die eher „Religionsbücher der Juden" darstellen und denen aus christlicher Sicht keine oder nur eine sehr geringe Bedeutung zukommt (Esra, Nehemia, Ester, Chronik, Ruth und Richter), gibt es andere, die zur christlichen Religion hinführen und die sich darum zu Recht besonderer Wertschätzung erfreuen. Dies sind vor allem die Psalmen und Propheten, also Schriften, in denen „Geist und Kraft Gottes" zum Ausdruck kommt.82 Seinen eigenen Bibelmeditationen hat Semler in den Ascetischen Vorlesungen (1772) neben paulinischen Texten größtenteils eine Auswahl von Psalmen zugrundegelegt. Mit einer historischen Exegese, die dem Aussagewillen der alttestamentlichen Texte gerecht zu werden versucht und deshalb auf ihre Christianisierung verzichtet, stellt sich nun allerdings das Problem, ob und inwieweit das Alte Testament noch als notwendiger Bestandteil des Kanons oder der christlichen Bibel angesehen werden muß. Für Semler, der radikale Konsequenzen zu vermeiden sucht, ist der Sachzusammenhang von Altem und Neuem Testament insofern gegeben, als in einzelnen Psalmen und prophetischen Büchern „der Geist Christi" wirksam ist und „die rechte Idee eines würdigen Christus" bezeugt wird.83 79 80 81 82

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Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 307. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 313. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 431. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 513; ders., Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 92 u. 114. Vgl. Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 169: .Paulus hat also recht, wenn er die Grundsätze der christlichen Religion, wonach sie auf lebendiger Erkenntnis Gottes und auf Glauben beruhet, schon an dem Beispiel Abrahams und Davids kennen lehret. Es ist auch folglich wahr, wenn Jesus so oft sagt, Moses und die Propheten geben Zeugnis von ihm oder empfehlen eben diese Grundsätze der geistlichen, vollkommenen Religion welche er lehrte." Vgl. ders., Theologische Briefe. Leipzig 1782, S. 89: „So viele Urheber jener erhabenen Lieder und Psalmen waren weit entfernt von dem armen Partikularismus, der nach und nach in der Nationalreligion der Juden herrschete. Moses zeuget von dem Christus (implicite, der Sache nach), alle Propheten zeugen von ihm; der Geist Christi, die rechte Idee eines würdigen

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Im Neuen Testament bevorzugt Semler so eindeutig die wichtigsten paulinischen Briefe - vor allem den Römerbrief, den Galaterbrief und die beiden Korintherbriefe - , daß man ihn als Paulinist bezeichnen kann. Denn Paulus ist deijenige Apostel, der die durch Jesus Christus bewirkte Versöhnung und Erlösung verkündet und den Glauben an die Gnade und Liebe Gottes lehrt, die allen Menschen gilt. Er hat in Überwindung aller Gesetzlichkeit die „Freiheit" hervorgehoben, die aus dem Christusglauben erwächst. Den Römerbrief des Paulus lobt Semler mit dem Urteil, er enthalte „eine sehr zusammenhängende Abhandlung von dem eigentlichen Grund der christlichen Religion".84 Die unaufgebbare Korrelation von Wort und Geist sowie die mit dem Christusglauben uns geschenkte Sündenvergebung, Versöhnung und Erlösung sind nach Semlers Urteil wichtige Bestandteile der paulinischen Verkündigung. Dementsprechend werden sowohl die Christologie und Soteriologie als auch die Ekklesiologie des Paulus den Hallenser Studenten als vorbildlich empfohlen. Das Evangelium Pauli ist die Lehre von geistlicher Wohlfahrt, die alle Menschen Christo danken, ohne jüdisches Gesetz dazu noch nötig zu haben; und sie beruhet auf der so vortrefflichen Idee Christi, der sich als ein geistlicher Heiland beschrieben hat.85

Das Amt des Neuen Testaments ist „das Amt des Geistes", das Paulus dem Amt „des Buchstabens" gegenübergestellt hat und wodurch jeder Christ zu eigenen geistlichen Erkenntnissen gelangen kann.86 Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß Semlers Verständnis des Evangeliums in den Grundzügen paulinisch-reformatorisch geprägt ist. Anerkennung der Heilsordnung und Zustimmung zum Evangelium von dem um unserer Sünde willen gekreuzigten und um unserer Gerechtigkeit willen auferstandenen Christus gehören unmittelbar zusammen. Daher sind auch jedes Verdienstdenken und jede Berufung auf eigene Werke ausgeschlossen. Als Widerspruch zum paulinischen Verständnis des Evangeliums empfindet es Semler, wenn jemand die Ordnung und den Grund unserer Seligkeit in unsere eigene Heiligkeit und gute Werke setzt und den Glauben an Jesum, der für unsere Sünde gestorben und zur Gewißheit des

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Christus war aber in den Propheten; sie lehren also die wahre innere und folglich allgemeine Religion." - Eine sorgfältige Untersuchung über Semlers Stellung zum Alten Testament liegt neuerdings vor in der Marburger Dissertation von Andreas Lüder, Historie und Dogmatik, in die mir der Autor schon vor der Drucklegung dankenswerterweise Einsicht gewährt hat. Vgl. Andreas Lüder, Historie und Dogmatik. Ein Beitrag zur Genese und Entfaltung von Johann Salomo Semlers Verständnis des Alten Testaments. Berlin 1995. Semler in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 84. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 521. Ebd., S. 522 u. ders., Ausßrliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, Ende der Vorrede mit deutlicher Anspielung auf 2. Kor. 3,6.

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Wohlgefallens Gottes an uns auferweckt worden, verächtlich macht und für untauglich zu einer Ordnung des Heils erklärt.87

Semlers Hochschätzung gilt aber in gleichem Maße auch dem Johannesevangelium und dem 1. Johannesbrief, und zwar nicht allein deswegen, weil der Apostel Johannes der Verfasser ist, sondern weil der Inhalt seines Evangeliums aus göttlichem Antrieb niedergeschrieben wurde und daher für unseren Glauben und unser Christsein verbindlich ist.88 Was die Christusbotschaft und „Heilsordnung" anbelangt, so ist Semler von der sachlichen Übereinstimmung der paulinischen mit der johanneischen Verkündigung überzeugt.89 Man könnte meinen, daß Semlers unterschiedliche Wertungen und die von ihm vertretenen Rangstufen in der Einschätzung der neutestamentlichen Schriften rein subjektiv bedingt seien. Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich jedoch, daß sowohl die Bevorzugung der paulinischen und johanneischen Schriften als auch die kritische Haltung zur Apokalypse eine auffallige Ubereinstimmung mit Luther und der reformatorischen Theologie aufweisen. Dies ist aus der schon frühzeitig erworbenen Lutherkenntnis und der intensiven Beschäftigung mit den lutherischen Bekenntnisschriften zu erklären.90 Bezeichnend ist, daß Semler seine exegetischen Vorlesungen in Halle mit Auslegungen des Hebräerbriefes (der damals noch zu den paulinischen Briefen gerechnet wurde) und des Galaterbriefs begonnen und ebenso wie sein Lehrer Baumgarten einen Kommentar zum Römerbrief veröffentlicht hat.91 Auch das Johannesevangelium hat von ihm einen eigenständigen Kommentar erhalten. Für sein Schriftverständnis, das die Christusbotschaft als „Kern" neutestamentlicher Verkündigung ansieht, sowie für die Hochschätzung und theologische Bevorzugung der paulinischen und johanneischen Schriften hat Semler sich als Hallenser Professor wiederholt auf Luther, Melanchthon und die reformatorische Lehrtradition berufen.92 Auch der erhebliche Unterschied, der zwischen Luthers 87 88

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Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 377. Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 51: „Wenn also Johannes z.E. aus göttlichem Antrieb sein Evangelium schreibt, dessen Inhalt freilich von Gott allein und selbst veranstaltet worden ist: so ist diese Göttlichkeit des Evangelii hinreichend, die neuen Endzwecke Gottes immerfort unter den Menschen zu befördern." Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 241f. Vgl. Baumgartens Vorrede zu: Christliches Concordienbuch, darin öffentliche Bekenntnisse und symbolische Schriften der evangelischlutherischen Kirche enthalten sind, hg. v. Siegmund Jacob Baumgarten. Halle 1747, S. 22, wo Baumgarten Semler für seine Mitarbeit dankt. Vgl. Siegmund Jacob Baumgarten, Auslegung des Briefes Pauli an die Römer. Halle 1749. Vgl. Semler, Paraphrasis Epistolae ad Romanos. Halae 1769. Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 251: „Luther zog Johannis Evangelium und Pauli Briefe allen andern vor"; ders., Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 151: „Luther hatte sehr christlich dem Evangelio Johannis und den Briefen an die Römer und Galater den Vorzug gegeben, allein dieser Geist und wahre Kraft des Christentums hatte die nachherige Kirchentheologie meist wieder aufgehoben."; ders., Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle

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differenzierender Beurteilung neutestamentlicher Schriften und der von der Verbalinspirationslehre und Diktattheorie bestimmten Schriftlehre der lutherischen Orthodoxie (Calov, Quenstedt u.a.) besteht, ist Semler nicht verborgen geblieben.93 Eine kritische Beurteilung erfahren bei Semler der 2. Petrusbrief und der Aussagegehalt der Apokalypse, die beide hinsichtlich ihrer Verfasserschaft als „ungewisse Schriften" gelten.94 Wichtiger als die Verfasserfrage ist jedoch für Semler die inhaltliche Bewertung der neutestamentlichen Schriften am Maßstab der Christusbotschaft. Von der Apokalypse urteilt er, sie sei „von einem Liebhaber der jüdischen Bildersprache, nicht im Geist und Lichte des Evangelii geschrieben".95 Semler vertritt ein christozentrisches Schriftverständnis und erklärt, daß Jesus Christus „die Hauptsache, der Kern der ganzen Bibel und besonders des Ν. T." sei.96 Das Wort,Kernstelle' hat er, wenn ich recht sehe, zwar nicht verwandt. Wohl aber verwendet er die Metapher von „Kern" und „Schale", um den wesentlichen Aussagegehalt von der äußeren Form und dem Wortlaut der Texte zu unterscheiden.97 In diesem Sinn hat der „Kern" stets einen größeren Wert als die „Schale", die den Kern bewahrt und schützt. Kritisch wendet sich Semler gegen die Schriftlehre der altprotestantischen Orthodoxie und ihre Identitätsthese, scriptura sacra est verbum dei, weil durch sie die Hauptsache, der „Kern" der Heiligen Schrift, in Vergessenheit geraten ist „über dem unchristlichen ungöttlichen Eifer, allen Büchern, allen Teilen, allen Worten [...] eine und dieselbe Göttlichkeit beizulegen".98 Bei einer genaueren Analyse ist erkennbar, daß Semlers Verwendung der Metapher von „Kern" und „Schale" eine doppelte Bedeutung hat. Denn sie dient nicht nur einer unterschiedlichen Wertung von Schriftinhalt und äußerer Schriftform, son-

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1786, S. 37: „So forderte Selneccer in der Erklärung über Melanchthons examen ordinandorum, die Candidaten sollten vornehmlich über Pauli Brief an die Römer examiniert werden; und Luther selbst gab dem Evangelio Johannis den Vorzug." Vgl. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 36f.: „Wir wissen es als historisch ganz ausgemacht, daß Luther selbst manche einzelne Schriften des N. T. nicht für gleiche Theile eines von Gott oder von Aposteln herrührenden Ganzen angesehen hat; wie er eine solche Inspiration, als im vorigen Jahrhundert vornehmlich auf Academien gelehrt worden [ist], noch gar nicht gekannt oder bejaht hat." Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 689. Vgl. ders., Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 339: „Ich brauche gar nicht auf alle diese Folgereien zu antworten, indem der zweite Brief unter Petri Namen in den ersten Jahrhunderten von sehr vielen Kirchen und Lehrern nicht als ein ächtes Stück angenommen worden; daher ihn auch viele lutherische angesehene Lehrer selbst in ihren Compendiis der Dogmatik unter libros deuterocanonico N. T. gesetzt haben, aus denen man keine gültigen Beweise nehmen könne." Semler, Theologische Briefe. Zweite Samlung. Leipzig 1781, S. 154. - Zur kritischen Beurteilung der Apokalypse vgl. auch Semlers Vorrede zu: [Georg Ludwig Oeder], Christliche freye Untersuchung über die so genannte Offenbarung Johannis aus der nachgelassenen Handschrift eines fränkischen Gelehrten. Halle 1769. Semler, Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 242. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 52. Ebd., Vorrede (2 Seiten nach b5).

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dem auch der Unterscheidung zwischen den zentralen und als „Hauptsache" eingeschätzten Aussagegehalten und den eher als peripher empfundenen Nebengedanken (z.B. den Genealogien, rein historischen Erzählungen und Akkommodationen), die keinen unmittelbaren Sachzusammenhang mit der Christusbotschaft bzw. , .Heilsordnung" aufweisen. Was sich an der unterschiedlichen Wertung neutestamentlicher Schriften und bei den Vorschlägen zur Erstellung von Bibelauszügen bereits gezeigt hatte, dürfte sich erneut bestätigen, wenn Bibelregister zu jenen Werken Semlers angefertigt würden, die nicht zur Gruppe der neutestamentlichen Kommentare oder Bibelparaphrasen gehören. Semlers Streitschriften und dogmatische Werke, die weder Personenregister noch Bibelregister aufweisen, zeigen eine Bevorzugung von Aussagen aus paulinischen Briefen und johanneischen Schriften, die der Hallenser nicht selten argumentativ für seine eigene Theologie verwendete. Auch bei der trinitarischen Wesensbestimmung des Christentums hat Semler seine Bevorzugung der paulinischen Christusbotschaft und entsprechender Kernstellen zur Geltung gebracht. Der für das geistliche Leben und Glaubenswachstum so wichtigen Applikation von biblischen Heilswahrheiten hat er schon im Rahmen seiner Theologischen Hermeneutik (1760-1769) die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Die Applikation ist erforderlich, weil jeder Christ durch die Heilige Schrift als medium salutis ein eigenständiges Verhältnis zur Heilsordnung und den mit der Christusbotschaft verbundenen Heilswahrheiten gewinnen soll. Deshalb ist für Semler die „Verbindung" zwischen historischer Schriftauslegung und gegenwartsbezogener praktischer Applikation stets ein wichtiges Anliegen gewesen." Die für die Erbauungsstunden verwendeten Bibeltexte und Kernstellen sind als solche Anweisungen zur praktischen Applikation der christlichen Grundwahrheiten. Denn das Evangelium von Jesus Christus wird mit dem „Endzweck" verkündigt, die Menschen zum Christusglauben und damit zum Heilsglauben zu führen. Gemäß dem christozentrischen Schriftverständnis wird jedoch keine lehrgesetzliche oder biblizistische Anwendung einer Fülle von Einzelaussagen erstrebt oder gefordert. Das Ziel der Applikation besteht vielmehr darin, ein möglichst enges Lebensverhältnis der Christen zu Christus zu gewinnen, wie es in Joh. 15 mit dem Gedanken des Bleibens bei Christus und der Metapher vom Weinstock und den Reben veranschaulicht wird: „In Christo bleiben, Joh. 15, heißt die Lehre und Grundsätze 99

Dies hat zu Recht auch Hans-Eberhard Heß hervorgehoben: Semler hat erkannt, „daß trotz der gebotenen Unterscheidung zwischen historischer Explikation und moralischer Applikation ein innerer, sachlicher Zusammenhang zwischen beiden besteht" Ders., Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 163. - Einem Irrtum erliegt Hartmut Hövelmann, wenn er behauptet: „Unmöglich wird in der Schriftanwendung der Aufklärungstheologie natürlich die Applikationstheorie". Ders., Kernstellen der Lutherbibel. Bielefeld 1989, S. 211. Für seine These hat Hövelmann keine Begründung gegeben. Sie ist widerlegbar.

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Christi zu einem neuen Zustande und Verhalten anwenden".100 Mit der Darbietung des zentralen Gehalts der biblischen Botschaft soll die Freiheit in der Zustimmung und glaubenden Aneignung dieser Botschaft nicht beeinträchtigt werden. Schon in urchristlicher Zeit können wir beobachten, daß die geistliche Reife innerhalb der Christenheit in unterschiedlichem Grade vorhanden ist, worauf Paulus hingewiesen hat, indem er „Schwache" und „Starke", „Kindel" und „Erwachsene" im Glauben unterschied. Die brüderliche Solidarität und die gebotene Rücksichtnahme auf die Schwachen darf jedoch nicht dazu führen, daß die Christusverkündigung und die christliche Freiheit dauerhaft eingeschränkt wird. Vielmehr gilt für alle Prediger und Lehrer die Ermahnung: „Wir sollten aber auch darauf sehen, daß unsere Zeitgenossen nicht immer Kinder an Christo bleiben".101

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Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 653. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, Vorrede.

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XI. Wahrheit und Historisierung in Semlers kritischer Theologie1

Nach Gesinnung und Lebenswerk ist Johann Salomo Semler ein Vertreter der historisch-kritischen Aufklärungstheologie gewesen, der schon als junger Hallenser Professor die „Freiheit im Denken" und das Recht auf kritische Überprüfung der Lehrtraditionen für sich beansprucht hat. Angesichts der erfolgten konfessionellen Ausprägung des Christentums ist er für die Freiheit und Mündigkeit der christlichen „Privatreligion" eingetreten, hat aber keine Freiheit des Individuums aus allen gesellschaftlichen und politischen Bindungen erstrebt.

1. Die Historisierung der Theologie Das spannungsvolle Verhältnis, das bei ihm zwischen der Historisierung der Theologie und der bleibenden Wahrheit der christlichen Religion und ihrer Heilsbotschaft besteht, soll im folgenden analysiert werden. Wenn von .Historisierung' gesprochen wird, so ist mit diesem Begriff in erster Linie die von Semler intendierte Einordnung der in den Texten bezeugten Ereignisse und Aussagen in ihren historischen Zusammenhang gemeint. Wenn auf diese Weise ein angemessenes Verstehen ermöglicht wird, so bedeutet dies zugleich auch ein Abstandnehmen und eine reflexive Distanz zu den Lehren und Vorstellungen der Vergangenheit, deren zeitgeschichtliche Bedingtheit festgestellt und deren Geltungsanspruch mit dieser Feststellung zugleich relativiert wird. Im Bereich der Exegese ist die Historisierung eine unvermeidliche Folge der geforderten historischen Schriftauslegung, welche die Texte so zu verstehen sucht, wie sie von ihrem Autor zum Zeitpunkt der Niederschrift verstanden sein wollten. Neben der Intention und Aussageabsicht des jeweiligen Autors rückt damit auch die besondere Situation der angeredeten Gemeinde ins Blickfeld. Die neutestamentlichen Texte sind Quellen, aus denen die Geschichte des Urchristentums mit ihrem Gegensatz von gesetzesstrenger judenchristlicher und freiheitlich gesonnener paulinischer Partei rekonstruiert werden kann. Diesen theologischen Gegensatz hat nicht erst der Tübinger Ferdinand Christian Baur, sondern schon Semler entdeckt. Die differenzierte historische Betrachtungsweise erlaubt und erleichtert dann auch eine unterschiedliche Wertung neutestamentlicher Schriften und Aussagen, je 1

Erweiterte Fassung von: Gottfried Homig, Wahrheit und Historisierung in Semlers kritischer Theologie, in: Theologische Literaturzeitung 116 (1991), Nr. 10, Sp. 721-730.

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nachdem, ob sie eher dem freiheitlichen oder eher einem gesetzesstrengen Verständnis des Christentums Ausdruck geben. Die Historisierung des Neuen Testaments impliziert für Semler das Bemühen um die Zuweisung der Briefe und Evangelien zu unterschiedlich geprägten Gemeinden und Provinzen. Wenn aber erkennbar ist, daß mit jedem der vier Evangelien unterschiedliche Absichten verfolgt wurden, dann ist die überlieferte Lehre von ihrer völlig gleichen Verbindlichkeit problematisch und die Zusammenfügung der vier Evangelien zu einer Evangelienharmonie ein abwegiges Unternehmen. Mit der Historisierung der Theologie ist für Semler eine Frontstellung gegen die zeitgenössische Orthodoxie gegeben. Ahnlich wie der Humanismus einst mit dem Ruf „Zurück zur Antike" ein Ideal aufgestellt hatte, suchten altprotestantische Theologen ihr Verständnis des Urchristentums zur Norm zu erheben und in den Lehren der Dogmatik als ein zeitloses Glaubens- und Denkgesetz zu proklamieren. Semler widerspricht sehr entschieden, weil ein solches Verfahren den christlichen Glauben an vergangene Naturauffassungen, ein antiquiertes Weltbild und mythische Vorstellungen bindet: ,JEs ist also nicht wahr, daß wir schlechterdings den ersten Christen in den Lehren und Wahrheiten dem historischen Umfange der Vorstellung nach ganz ähnlich seyn und bleiben sollen, dieweil es an sich unmöglich ist."2 Doch die erstrebte Historisierung, die innerhalb des Neuen Testaments differenziert und ein Bild der urchristlichen Entwicklung in Umrissen erkennbar werden läßt, bleibt nicht auf die neutestamentlichen Schriften und ihre Aussagen beschränkt. Sie erfaßt auch die Wandlungen und Veränderungen, die sich hinsichtlich der Lehrmethoden und Lehrinhalte im Laufe der Dogmen- und Theologiegeschichte vollzogen haben. Nicht zuletzt durch Semlers Quellenforschungen und Darstellungen kommt es zu einer Verselbständigung der Dogmengeschichte, die zu einer eigenständigen Disziplin avanciert und sich aus ihrer bisherigen Funktion als einer Hilfswissenschaft zur Legitimierung gegenwärtiger Dogmatik zu befreien sucht. Die Theologie der griechischen und lateinischen Kirchenväter hat keine normative Autorität. Sie ist, wie Semler wiederholt betont, ein zeitbedingtes und höchst komplexes Gebilde.3 Veränderungen und Neuerungen in den theologischen Lehren sind als solche noch keine Kennzeichen von Irrtum und Ketzerei, sondern sollten als Ergebnis des geschichtlichen Wandels, neuer Erkenntnisse und sprachlicher Ausdrucksformen interpretiert werden. Was durch Quellenstudien genauer erforscht werden soll, bezeichnet Semler mit einem damals neuen Begriff als „Geographie der Theologie". Gemeint ist damit die Aufgabe einer Erklärung der Verschiedenartigkeit theologischer Lehrbildungen und Systeme durch den Nach-

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Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 350f. Semler, Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 226.

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weis orts- und zeitbedingter Einflüsse, die auf Denken, Sprache und Ausdrucksformen eingewirkt haben. Zu solcher Ausrichtung der theologiegeschichtlichen und dogmengeschichtlichen Forschung hat Semler schon 1762 aufgefordert. Er sieht ein erhebliches Defizit in der bisherigen Betrachtungsweise, weil von ihr kaum berücksichtigt wurde, daß auch die theologische Sprache und Terminologie ein historisches Phänomen ist, deren Wandel verständlich gemacht werden muß. Man kann mit Recht behaupten, daß die Geschichte der christlichen Lehre vornehmlich in Absicht einzelner Provinzen und Länder muß untersucht werden; obgleich bisher nur wenig darauf Achtung gegeben worden [ist], daß es gleichsam eine Geographie für die Moral oder Theologie und überhaupt für die christliche Sprache gibt, welche Beobachtung von großer Brauchbarkeit ist, sobald es auf Untersuchung des Ursprungs einer gewissen Vorstellung und ihrer besonderen Bestimmungen ankommt.4

2. Wahrheitsverständnis und Gewißheitsstreben Die Theologie als Wissenschaft soll in ihren Sätzen, Thesen und Behauptungen „wahr" sein oder sich zumindest um die Feststellung der wahren bzw. wahrscheinlichen Sachverhalte bemühen. Unter diesem wissenschaftlichen Aspekt sollen alle exegetischen und historischen Forschungen sowie alle kritischen Überprüfungen von Dogmen, Kirchenlehren und theologischen Behauptungen vorgenommen werden. Ohne direkte Erwähnung dieses wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffes, aber doch bestimmt von ihm, erklärt Semler im Jahre 1771: .Academische Theologi müßen dazu helfen, daß die ganze theologische Gelehrsamkeit nach und nach richtig, genau und ganz zuverlässig wird."5 Diese Aufforderung setzt voraus, daß die Disziplinen der Theologie, insbesondere die Exegese, Kirchengeschichte und Dogmatik, den wünschenswerten Grad an Richtigkeit, Gewißheit, Deutlichkeit und Zuverlässigkeit in ihren Aussagen und Methoden noch nicht erreicht haben.6 Zur Wahrheitsproblematik, wie sie sich für Semler stellt, gehört nicht nur die Rezeption traditioneller Wahrheitsbegriffe und Wahrheitstheorien, sondern auch das Verfahren der Wahrheitsfindung, d.h. die Erforschung des historisch Wahren, die ein möglichst großes Maß an Faktizität und Wirklichkeitstreue verbürgt. Der Mensch bedarf sowohl der vorgegebenen biblischen Wahrheiten, wie sie in dem an

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Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 33. Semler, Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart. Halle 1771, S. 257. Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 221: „Der Inhalt der Kirchenhistorie hat sich eben so sehr verändert [...] und sie ist gleichwohl noch lange nicht zu dem Grad an Gewißheit und Deutlichkeit erhoben, der von fernerem Fleiße zu erwarten ist."

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uns gerichteten Worte Gottes enthalten sind, als auch der erst zu erforschenden historischen Wahrheiten. Bei solcher Wahrheitsforschung ist die menschliche Vernunft ein geeignetes, kompetentes, ja unentbehrliches Erkenntnisorgan. Schon das Bemühen um eine sachgerechte Schriftauslegung, welche der eigentliche Erkenntnisgrund der Theologie ist, erfordert die Anwendung der menschlichen Vernunft 7 Die Wertschätzung der Vernunft ist bei Semler durch die Überzeugung bedingt, daß es sich um jenes gottgegebene Vermögen handelt, welches die Verwandlung der sinnlichen Erfahrungsgehalte in begrifflich-logische Aussagen ermöglicht und damit zu korrekten Schlußfolgerungen befähigt. Doch die Kompetenz der Vernunft reicht darüber hinaus. Denn sie ist auch das Erkenntnisinstrument, das uns das Lesen im „großen Buch der Natur und Geschichte" gestattet und so durch die Betrachtung der Schöpfungswerke und das Studium des Geschichtsverlaufs zur Gotteserkenntnis führt.8 Mit dem Tatbestand einer allgemeinen Offenbarung Gottes in Natur und Geschichte ist für Semler auch die Berechtigung einer natürlichen Theologie gegeben. Durch eine methodische und wissenschaftliche Schulung kann schließlich die vernehmende Vernunft zur kritisch prüfenden Vernunft werden, die uns vor einem „blinden Glauben", vor bloßer Autoritätshörigkeit, Voreingenommenheit und Traditionsgebundenheit bewahrt.9 Es ist ein naiver Aberglaube zu meinen, eine Behauptung stelle sich dadurch als wahr heraus, daß viele Generationen lang an sie geglaubt wurde. An das geozentrische Weltbild und die Realität von Teufel, Hexen und Dämonen ist sehr lange Zeit geglaubt worden. Einen wichtigen Grundsatz der historisch-kritischen Theologie hat Semler schon 1757 formuliert, indem er erklärte, man müsse eine genauere Bestimmung des Historischen vornehmen und die historischen Sachverhalte von den späteren Deutungen desselben unterscheiden. Denn der Bereich der nachprüfbaren historischen Berichte und Angaben ist in der 7

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Vgl. Semler, Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit, in: Siegmund Jacob Baumgaiten, Evangelische Glaubenslehre, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1759, S. 70: „Die biblischen Stellen also, welche von Gott und den Verhältnissen der Menschen gegen ihn handeln, machen den jedesmaligen unmittelbaren Erkenntnisgrund der Theologie aus, der ohne menschliche Vernunft nicht genützt werden kann." - Vgl. auch Semler, Eigne historische theologische Abhandlungen. Halle 1760, S. 244, Anm. Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 340: „das große Buch der Natur und der Geschichte lehret hier alle Menschen von diesen großen und unbegreiflichen Taten Gottes." - Die Metapher vom ,3uch der Natur" und seine Parallelisierung mit dem Buch der Bibel kommt bei Semler häufiger vor. Die wissenschaftliche Naturerkenntnis soll unmittelbar aus dem „Buch der Natur" gewonnen werden. Es ist Semlers Vorwurf an die Adresse orthodoxer Lehrtraditionen, daß sie das ,3uch der Natur" und damit die Schöpfungswerke als Quelle der Offenbarung Gottes mißachtet hat Vgl. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 209f.: .Protestanten haben gewiß nicht auf diese Weise gelehret [daß man sich hinsichtlich der Schriftauslegung der Autorität eines Lehrers oder der Kirche zu unterwerfen habe], da sie sich gerade durch ein freies vernünftiges Denken und Prüfen von der beschwerlichen und ungegriindeten Theologie losgesagt haben, ohne daß dieser Gebrauch der Vernunft mit dem christlichen Glauben selbst in Widerspruch gekommen wäre."

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Darstellung der Historiker und Kirchengeschichtler oftmals mit „Mutmaßungen, Erleuterungen und Meinungen" verbunden.10 Mögen solche Mutmaßungen und Erläuterungen im Rahmen der Überlieferungen auch unvermeidbar sein, weil ja nur als bedeutsam Eingeschätztes überliefert wird, so sind sie doch oftmals auch Quellen des Irrtums. Zu Beginn der 60er Jahre vertritt Semler, bezogen auf die korrekte Schriftauslegung, die These „veritas est unica".11 Aber seine Rede von der Wahrheit bleibt nicht auf den absoluten Singular beschränkt, sondern begegnet auch in der Folgezeit weit häufiger im Plural. Es wird von „christlichen", „geistlichen" und „praktischen Wahrheiten", aber auch von „historischen Wahrheiten" und „Lehrwahrheiten" gesprochen. Dieser Sprachgebrauch legt es nahe, den Sinn der Semlerschen These dahingehend zu präzisieren, daß es von jeder Begebenheit oder jedem Ereignis jeweils nur eine Vorstellung beziehungsweise nur einen Bericht geben könne, der das Prädikat „wahr" verdient, und in ähnlicher Weise auch bei der Textauslegung nur eine Interpretation, die tatsächlich „das hexmeneutisch Wahre" wiedergibt. Der Begriff der objektiven Wahrheit, an dem Semler auch in seinen späten Werken ganz bewußt festhält, besagt demzufolge nicht, daß es nur eine einzige Wahrheit gebe, sondern daß jedem Ereignis nur ein Urteil oder nur eine Beschreibung so exakt entspricht, daß die Forderung nach Übereinstimmung erfüllt ist. Der von Semler geäußerten Auffassung liegt offensichtlich die klassische Wahrheitsdefinition der Adäquationstheorie zugrunde, derzufolge „wahr" soviel bedeutet wie „mit der Wirklichkeit übereinstimmend"12: „Veritas est adaequatio intellectus ad rem" oder „veritas est adaequatio rei et intellectus". Allerdings wird man diese Wahrheitsdefinition der Adäquationstheorie nicht als ein jederzeit leicht zu handhabendes Verifikationsverfahren betrachten dürfen. Wird unter Berufung auf sie ein Satz als „wahr" bezeichnet, so wird für denselben zwar ein Geltungsanspruch erhoben, aber es wird nicht behauptet, daß sein Aussagegehalt auch verifiziert werden könne. Weil oftmals ein unmittelbarer Zugang zu den ausgesagten Sachverhalten oder den im Bericht erwähnten historischen Ereignissen gar nicht mehr gegeben ist, fehlt auch die Möglichkeit, die Ubereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit direkt überprüfen zu können. Das Verifikationsproblem verlagert sich daher auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Berichterstatters und die Frage, ob der vorliegende Bericht durch Zeugnisse anderer Augenzeugen bestätigt oder ihm widersprochen wird.

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Semler, Versuch einer nähern Anleitung. Halle 1757, S. 191. Semler, Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren, in: Siegmund Jacob Baumgarten, Untersuchung Theologischer Streitigkeiten, hg. v. Johann Salomo Semler. Bd. 1. Halle 1762, S. 17f. Daß Semler von der Gültigkeit der zu seiner Zeit allgemein akzeptierten Adäquationstheorie ausgeht, ergibt sich aus seiner Formulierung, daß man eine Wahrheitsvorstellung oder einen Satz „für übereinstimmig mit dem Dinge selbst" halten könne; vgl. ebd., S. 17.

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In seinen späten Werken, vor allem in der Gottheit Christi (1787) und in dem fast gleichzeitig publizierten Kommentar zu der Cusanusschrift De pace fidei, hat Semler sein Wahrheitsverständnis erweitert und modifiziert Einmal ist dies geschehen durch die Aussagen von der „Unendlichkeit" der Wahrheit (ventas est infinita) und zum anderen durch die These von der Begrenztheit und Verschiedenheit der subjektiven Wahrheitserkenntnis. „Niemand erkennt das objektivisch Wahre ein für allemal in seinem ganzen Umfange; alle Erkenntnis davon ist abgeteilte, particuläre, nicht totale Erkenntnis des objektivisch unendlichen Wahren."13 Wenn Gott ein unendliches Wesen ist und mit dem Fortgang der gottgelenkten Geschichte sich der Wahrheitsbereich ins Unendliche ausdehnt, kann die subjektive Wahrheitserkenntnis des Menschen zwangsläufig nur eine begrenzte und partikuläre sein. Sie ist niemals imstande, das Ganze der Wahrheit zu erfassen. Die aktive Rolle, die der Mensch selbst im Erkenntnisprozeß spielt, schließt nach Semler nicht aus, daß es gemäß der unterschiedlichen Intensität des Wahrheitsstrebens auch unterschiedliche Grade der Annäherung der subjektiven Erkenntnis an das objektiv Wahre gibt 14 Das Streben nach Wahrheitserkenntnis ist für Semler von fundamentaler Bedeutung, weil ihm „die Wahrheit" als eine vorgegebene Größe gilt und dieser Begriff dasjenige bezeichnet, das uns Gewißheit schenkt und an dem wir uns in unserem Denken und Verhalten orientieren sollen.15 Die Wahrheit hat Anspruch auf Anerkennung und zwar sowohl im religiösen als auch im wissenschaftlichen Bereich. Sie besitzt eine ontologische Dimension, die durch die Beziehung von Wahrheit und Wirklichkeit gegeben ist. Denn in der Heiligen Schrift, dem Erkenntnis13

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Semler, Vorbereitung auf die Königlich Grossbritanniscke Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787, S. 58 [= ders., Christobgie und Soteriologie, hg. v. Gottfried Hornig u. Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1990, S. 151]. - Mit der Rede von der Unendlichkeit der Wahrheit nimmt Semler einen Gedanken auf, den er im Rahmen seiner Kanonsabhandlung von der Gotteslehre her begründet hatte. Vgl. ders., Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 314: „Gott, seine Eigenschaften, Absichten und Wirkungen sind und bleiben unendlich; daher können alle göttliche[n] oder Gott zum Inhalt und Zweck habende[n] Wahrheiten unaufhörlicher Folgen und Wirkungen fähig sein". Vgl. Semler in: Des Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogus von der Uebereinstimmung oder Einheit des Glaubens. Leipzig 1787, Voirede u. S. 43f. - Der gelehrte und verdienstvolle Systematiker Jörg Baur hat den Versuch unternommen, Semler in Richtung auf ein subjektivistisches Wahrheitsverständnis zu deuten: „Die Wahrheit ist allein beim Subjekt"; vgl. ders., Einsicht und Glaube. Aufsätze. Göttingen 1978, S. 276. Dabei verkennt Baur die ontologische Dimension der Wahrheitstheorie des Hallensers und dessen Annahme einer objektiven Gegebenheit der Wahrheit, der sich die subjektive Wahrheitserkenntnis bestenfalls annähern kann. Für dieses Wahrheitsverständnis, das sich am „Worte Gottes" als dem „Kern" der Heiligen Schrift ausrichtet, hat Semler sich ausdrücklich auf Luther und dessen Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der deutschen Schriften {WA 50, S. 658f.) berufen: „Man stehet unwidersprechlich, daß Lutherus hier von dem EinfluB dessen, was in Gottes Wort enthalten ist, auf unser Verhalten und Betragen redet; folglich von Wahrheiten, die eigentlichen unmittelbaren EinfluB auf uns haben sollen und müssen, also die uns Menschen angehen, wenn wir uns in ein Verhältnis gegen Gott setzen wollen, das das richtige ist." Vgl. ders., Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit. Halle 1758, S. 43.

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grand der Heilswahrheiten, wird uns Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt sowie als Urheber der geistlichen Wirklichkeit von Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung bezeugt.16 Im Christusglauben gewinnen wir persönlichen Anteil an dieser geisdichen Wirklichkeit. Semlers Rede von der Wahrheit, die im prädikativen wie designatorischen Sinne erfolgt, umfaßt also zwei unterschiedliche Bereiche: die das göttliche Handeln bezeugenden biblischen Heilswahrheiten und die wissenschaftlichen Wahrheiten, die sich als Resultat der Überprüfung traditioneller Auffassungen und sorgfältiger Forschungen ergeben. Ist der Mensch als glaubender Christ Empfänger von Heilswahrheiten, die er selbst nicht hervorgebracht hat, sondern als Zusage und Gnadengeschenk entgegennimmt, so ist er als Historiker und der Wahrheit verpflichteter Wissenschaftler deijenige, der Behauptungen auf ihre zureichende Begründung überprüft, Irrtümer und Fehler korrigiert und neue Erkenntnisse zutage fördert. In solcher wissenschaftlichen Verwendung ist „wahr" ein auszeichnendes Prädikat, das auf bestimmte Sätze, Behauptungen und Berichte zutrifft, auf andere jedoch nicht. Semlers Werke lassen erkennen, daß für ihn die Feststellung der historischen Wahrheit bzw. das Bemühen um die Annäherung an die historische Wahrheit unverzichtbar waren, weil sie die Befreiung von der vorherrschenden Traditionsabhängigkeit erlaubten und weil sie durch eine begründete und nachprüfbare Erkenntnis auch die Möglichkeit boten, noch bestehende „Vorurteile" zu überwinden. Solche Vorurteile finden sich in den traditionellen Auffassungen über die Entstehung des neutestamentlichen Kanons und in den stark konfessionell geprägten Darstellungen der Reformationsgeschichte sowie in den einseitigen und negativen Urteilen, welche die lutherische Orthodoxie über Melanchthons Theologie und Kirchenpolitik gefällt hat. Korrekturen sind schon gegenüber den Darstellungen der Kirchengeschichte des zweiten und dritten Jahrhunderts angebracht, weil man den Ketzern der damaligen Zeit Schwärmertum, verwirrte Einbildung und willkürliche Erdichtungen zum Vorwurf gemacht hat. Nach Semlers Kritik zeigen solche Urteile „die ganz gemeine Sprache der bisherigen Kirchenhistorie, allein eben diese noch so gemeine [=allgemeine] kirchliche Sprache ist deswegen der historischen Wahrheit nicht zugleich am nächsten."17 Zur Vorsicht mahnt Semler ganz generell gegenüber einer leichtgläubigen Rezeption und ungeprüften Übernahme traditioneller kirchengeschichtlicher Auffassungen und Werturteile. Denn „zu viel hatte man als ausgemachte Wahrheit in die 16

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Eine Fülle von Belegen könnte für Semlers designatorische Verwendung des Wahrheitsbegriffs (biblische bzw. geistliche Wahrheiten, Grundwahrheiten und Heilswahrheiten) aus seinen Werken beigebracht werden. Das testimonium spiritus sancti internum gilt ihm als „die innere Überzeugung durch Wahrheiten, welche in dieser heiligen Schrift (aber nicht in allen Theilen und einzelnen Büchem) angetroffen werden"; vgl. ders., Abhandimg von freier Untersuchung des Canon. Halle 1772, S. 39. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 172.

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Kirchenhistorie gerechnet und vieles waren alte Meinungen und sehr ungewisse Tradition."18 Mit der hier skizzierten positiven Einschätzung der historischen Forschung, die stets ein eigenes Quellenstudium und das Bemühen um eine sachgemäße Interpretation der Textaussagen impliziert, orientiert Semler sich an den vielfältigen Bestrebungen der zeitgenössischen Geschichtstheorie und ihren Tendenzen zur Verwissenschaftlichung des historischen Denkens.19 Er folgt darin aber auch dem Programm der Aufklärung, das auf eigenständige Überprüfung der mit Geltungsanspruch auftretenden Behauptungen und Theorien ausgerichtet ist. Die historische Erkenntnis hat Beweisfunktionen, und sie gehört zur Eigenständigkeit einer höchst erstrebenswerten Wahrheitserkenntnis. Wie überhaupt die Historie das mächtigste Licht ausbreitet und die Unwissenheit am gewissesten besieget, so hoffe ich auch durch solche historische viele Beweise bei allen denkenden Zeitgenossen es dahin zu bringen, daß sie nicht mehr Knechte menschlicher Meinungen und Vorurteile bleiben.20

Die von Semler geübte Sachkritik, welche sowohl kirchengeschichtliche Darstellungen als auch biblische Textaussagen betrifft, ist ein Verfahren wissenschaftlicher Überprüfung. Sie setzt voraus, daß es durch Erfahrung und Erkenntnis einen Zugang zu den ausgesagten Ereignissen, Sachverhalten und Geschehnisberichten gibt und damit die Möglichkeit, solche Aussagen und Berichte entweder als wahrscheinlich geschehen zu bestätigen oder als zeitbedingte Intümer, Fabeln, Legenden und Mythen zu charakterisieren. Semler hegt die Erwartung, daß die wissenschaftlichen Forschungsmethoden verbessert und weiterentwickelt und auf diese Weise wichtige Erkenntnisgewinne erzielt werden können. Dieser vom Perfektibilitätsgedanken bestimmte Geschichtsprozeß erhält seine Kraft und Richtung nicht erst durch das 18. Jahrhundert, sondern setzt fort, bereichert und vertieft, was in der Reformationszeit begonnen wurde. Gedacht ist dabei nicht nur an die historische Forschung und ihre Bedeutung für eine klarere und besser begründete Darstellung der Kirchengeschichte und der Wandlungen in der Dogmen- und Theologiegeschichte, sondern auch an den Zentralbereich der evangelischen Theologie: die Hermeneutik, Schriftauslegung und Dogmatik. Schon durch die reformatorischen Erkenntnisse und Grundsätze, wie den Übergang vom vierfachen Schriftsinn des Mittelalters zum Literalsinn, haben die für die Glaubenslehre relevanten Bibelauslegungen an nachprüfbarer Zuverlässigkeit gewonnen. Diese Bemühungen sollen durch historische Forschung, den Rückgang auf die ältesten griechi-

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Semler, Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg. von Christian Gottfried Schütz. Königsberg 1792, S. 280. Vgl. hierzu jetzt auch Horst Walter Blanke/Dirk Heischer (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Bde. 1-2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, hg. v. Johann Salomo Semler. Halle 1776, Vorrede.

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sehen Handschriften des Neuen Testaments und die Einbeziehung der Textkritik in die Exegese fortgesetzt werden. Es darf nach Semlers Überzeugung in dieser Hinsicht kein Verharren und keinen Stillstand geben. Denn daß die Auslegung der heiligen Schrift von Zeit zu Zeit sowohl besserer Regeln und Bemerkungen fähig sei, als auch niemalen in Absicht der Anwendung derselben einerley Inhalt und Umfang [...] behalte und fortsetze: ist wohl eine historische ganz ausgemachte Wahrheit.21

Wenn behauptet werden darf, daß seit der reformatorischen Theologie Luthers und Melanchthons bis auf die Mitte des 18. Jahrhunderts in Hermeneutik und Schriftauslegung ein methodischer und sachlicher Erkenntnisgewinn erzielt wurde, so sind diese wissenschaftlichen Fortschritte doch kein Alleinbesitz einer bestimmten Religionspartei. Entschieden hat Semler die konfessionalistisch klingende These zurückgewiesen, daß nur die lutherische Schriftauslegung „wahr" und richtig, alle anderen aber „falsch" seien.22 Zu untersuchen wäre, ob man mit Reinhart Koselleck behaupten darf, daß Semler durch Erkenntnis der Bedingtheit und Perspektivität des Historikers, dessen Darstellung auch bei sorgfältiger Quellenauswertung immer aus einem bestimmten Blickwinkel erfolgt, „bereits in die Position eines historischen Relativisten gedrängt worden ist."23 Dies ist zweifellos eine wichtige Beobachtung, die gute Gründe für sich hat. Denn mit starker Betonung ihrer Relativität und Zeitbedingtheit hat Semler wiederholt von metaphorischen, anthropomorphen, poetischen und mythischen Gottesvorstellungen alttestamendicher Art gesprochen, die in ,jene Zeiten der Kindheit und Unmündigkeit der Religion" gehören.24 Mit dieser Periodisierung der religiösen und theologischen Entwicklung hat er einen Gedanken konzipiert, der sich bald darauf auch in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1777/80) findet Doch die Vorstellung von der Geisthaftigkeit und Unendlichkeit Gottes, der ein unablässig Handelnder ist und von uns im Geist und in der Wahrheit angebetet werden soll (Joh. 4,24), unterliegt keiner Relativierung. Ihr hat Semler vielmehr eine bleibende Geltung zuerkannt. Auch die Folgerung, daß aufgrund ihrer geschichtlichen Bedingtheit alle Geschichtsdarstellungen den gleichen wissenschaftlichen Rang und Wert besitzen, hat er offensichtlich nicht gezogen. Was ihn daran hindert, ist die Beobachtung, daß die Heranziehung und Auswertung der relevanten Geschichtsquellen mit unterschiedlicher Sorgfalt erfolgt und daß auch die für die Darstellungen maßgebenden Absichten und Wertvorstellungen deutlich differieren. 21 22

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Semler, Versuch einer biblischen Dämonologie. Halle 1776, Vorrede a 5. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 85. - Vgl. ders., Theologische Briefe. Zweite Samlung. Leipzig 1781, S. 94: „Wir wissen es, daß in den symbolischen Büchern, sogar in der Apologie des so gelehrten Melanchthons, unrichtige Schriftauslegungen vorkommen; und wir sind keineswegs verpflichtet worden, sie für die wahren zu halten." Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunfi. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 194. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1775, S. 316 u. 367ff., insb. 381.

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Weil Geschick, Gesinnung und Absicht bei den Historikern so unterschiedlich sind, kann es, wie Semler 1788 erklärt, keine unveränderliche Kirchenhistorie geben.25

3. Bleibende Glaubenswahrheiten und die Grenzen der Historisierung Spätestens seit Semlers kritischen Untersuchungen gilt die Bibel als eine historischphilologisch zu erforschende Sammlung von inhaltlich unterschiedlichen Schriften menschlicher Autoren. Es stellt zwar keinen logischen Widerspruch dar, führt aber doch zu Spannungen und Konflikten, wenn die Bibel in ihrer Entstehung und inhaltlichen Vielgestaltigkeit als Ergebnis eines historischen Prozesses betrachtet wird und sie doch zugleich das Offenbarungszeugnis sein soll, das uns das „Wort Gottes" und die bleibend gültige Heilsbotschaft verkündet. Mit seinen Reflexionen und Lösungsversuchen steht Semler am Beginn einer Problematik, die mit gegensätzlichen Tendenzen bis heute das Schriftverständnis in der evangelischen Universitätstheologie und in unseren Gemeinden prägt. Semlers Stellung ist deshalb kompliziert und schwierig, weil er beide Extrempositionen zu vermeiden sucht: die Position einer gesetzlichen und fundamentalistischen Bibelautorität, die ausnahmslos alle biblischen Angaben und Vorstellungen als verbindlich ansieht, und die Position eines modernistischen Relativismus, der das Zeitbedingte akzentuiert und es kaum noch gestattet, von einem bleibend gültigen „Worte Gottes" in der Bibel zu reden. Es ist sicher kein Zufall, sondern durch diese doppelte Frontstellung bedingt, daß Semler schon von Zeitgenossen sowohl „Skeptizismus" als auch Halbherzigkeit und Rückfall in die Orthodoxie zum Vorwurf gemacht worden sind. Die relativierenden Konsequenzen der historisch-kritischen Forschungen und ihrer Ergebnisse werden bei Semler begrenzt und eingedämmt durch die Betonung der bleibenden Geltung der neutestamentlichen Heilsbotschaft von der durch Jesus Christus bewirkten Versöhnung und Erlösung, zu deren Hervorhebung dann auch die Wesensbestimmung des Christentums dienen soll. Das Christentum als universale Religion der Liebe und Gnade Gottes müsse von den Theorien und Ergebnissen wissenschaftlicher Theologie deutlich unterschieden werden. Mit dieser wiederholt geforderten Unterscheidung sollte einerseits die Theologie zur Wahrnehmung ihrer Traditionskritik befreit, andererseits aber zugleich von fragwürdigen Ansprüchen auf religiöse Verbindlichkeit ihrer Ergebnisse und Reflexionen entlastet werden. Die kirchlichen Lehrbekenntnisse, theologischen Systeme und Darstellungen der Dogmatik dürften, auch wenn sie sich auf die Heilige Schrift berufen und durchgängige Schriftgemäßheit beanspruchen, niemals zum Gegenstand des christlichen Glaubens erhoben werden. Im Unterschied zum weiten Bereich der mit einer besonderen Terminologie und wechselnden Unterscheidungen arbeitenden 25

Semler, Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788, S. 2.

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Theologie sollte sich die christliche Religion in ihren mitteilbaren Lehren auf die wesentlichen biblischen Heilswahrheiten beschränken. Sie sei als solche von konfessionsspezifischen Lehren, den theologischen Theorien und Hypothesen abzugrenzen, und dürfe nicht mit ihnen vermischt werden. Es gibt also Glaubensüberzeugungen und dogmatische Bindungen, die verhindern, daß die von Semler bejahte Historisierung der Theologie in einen auch das Kerygma und die christliche Religion erfassenden Historismus ausmündet. Trotz des Eingeständnisses, daß das Christentum aus dem Judentum hervorgewachsen ist und in seiner neutestamentlichen Gestalt noch Akkommodationen an das Judentum aufweist, und trotz gewisser Ansätze für eine religionsgeschichtliche Betrachtungsweise, wird das Christentum nicht in die allgemeine Religionsgeschichte oder Kulturentwicklung eingegliedert. Semler verwendet keinen Gedanken daran, daß das Christentum, obwohl geschichtlich bedingt und geschichtlich entstanden, auch einmal vergehen und von einer anderen Religion oder gar vom Atheismus abgelöst werden könnte. Im Gegenteil: Das Christentum ist mit seinen Heilswahrheiten eine „unendliche" Religion, und diese Feststellung besagt nach Semler, daß es wie Gott selbst alle Weltzeiten überdauern wird.26 Mit seiner Wesensbestimmung des Christentums hat Semler nicht nur hervorgehoben, daß die Elemente der aufrichtigen Frömmigkeit, der Gottesverehrung und Nächstenliebe zu einem Kennzeichen des individuellen Christseins weiden sollen, sondern auch unterstrichen, daß das Christentum eine Religion sui generis ist und als solche eigenständige mitteilbare Lehren aufweist, die für Predigt, Unterricht und Lebensführung normative Bedeutung gewinnen sollen. Orientierungsziel ist demzufolge das freiheitliche und geistbestimmte Christentum, das ganz auf die in Jesus Christus offenbar gewordene Gnade und Liebe Gottes ausgerichtet ist.27 In einer sehr bezeichnenden Erweiterung des paulinischen Grußes, der sich am Ende des zweiten Korintherbriefes findet (2. Kor. 13,13), hat Semler seine militärische Wesensbestimmung auf eine knappe Formel gebracht und dabei die universale Geltung des Christentums hervorgehoben: „die Gnade des Herrn Jesu ohne jüdische Gesetze, die Liebe Gottes ohne Unterschied der Nationen und die allen Christen gemeinsame Teilnehmung an dem heiligen Geiste."28 26

27

28

Zur Bedeutung des Unendlichkeitsgedankens beim älteren Semler vgl. Kap. IV, Abschnitt 7 („Unendlichkeitsgedanke und Lichtmetapher") der vorliegenden Monographie. Vgl. Semler, Verteidigung des Königl. Edikts vom 9"" Jul. 1788. Halle 1788, S. 80: „Denn die christliche Religion soll vornemlich die Liebe und Güte Gottes empfehlen, aber nicht in philosophischen Betrachtungen, wozu die Millionen Christen gar nicht aufgelegt sind, sondern in chrisüicher biblischer Einkleidung; also durch Christum in der neuen Verbindung der Erkenntnis von der geistlichen Erlösung, Versöhnung, Begnadigung der Menschen." Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Halle 1779, S. 147 [= Halle 2 1780, S. 139], - Irrtümlich wird als Bibelstelle in beiden Auflagen 2. Kor. 11,13 angegeben. - Eine genauere Analyse der trinitarischen Wesensbestimmung des Christentums durch Semler bietet die Untersuchung von Hartmut H. R. Schulz, Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums. Würzburg 1988, insb. S. 149ff.

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Offen muß hier die schwierige Frage bleiben, ob der von Semler vorgenommenen Wesensbestimmung die Annahme zugrundeliegt, jedes geistige Phänomen besitze ein Wesen und lasse sich durch dasselbe charakterisieren. Unbestreitbar scheint zu sein, daß zum Zwecke der Wesensbestimmung eine Auswahl von bestimmten Gedanken aus dem Neuen Testament vorgenommen worden ist, und daß die Wesensbestimmung zugleich mit dem Anspruch auf Geltung und Wahrheit des Christentums auftritt.29 Sie hat nicht nur eine deskriptive und charakterisierende Bedeutung, die sich aus dem Vergleich des Christentums mit dem Judentum und Heidentum ergibt, sondern sie hat auch eine wertende Bedeutung. Diese Feststellung wird man nicht so verstehen dürfen, daß die erfolgte Wesensbestimmung ursprünglich wertindifferent sei und ihr erst nachträglich ein positives Wertprädikat hinzugefügt würde. Vielmehr sind die bei dem Religionsvergleich zur Charakterisierung des Christentums gebrauchten Bezeichnungen gemäß dem damaligen Sprachgebrauch zugleich wertende Bezeichnungen. Das Judentum ist eine gesetzliche, partikuläre und national begrenzte Religion, das Christentum dagegen eine freiheitliche, geistbestimmte und universale, von Gott für alle Menschen geoffenbarte Religion. Die von uns erwähnte trinitarische Wesensbestimmung des Christentums sollte nach Semlers Intention keine konfessionsspezifische, sondern unbeschadet der bestehenden Lehr- und Bekenntnisunterschiede eine für alle christlichen Religionsparteien anwendbare und geltende Bestimmung sein. Obwohl überzeugt, daß die reformatorische Theologie und ihre Bekenntnisse eine größere Schriftgemäßheit aufweisen, vermeidet es Semler ganz bewußt, die eigene lutherische Konfession durch die Prädikate „allein seligmachende" oder „wahre" Religion auszuzeichnen und andere christliche Konfessionen entsprechend als ,falsche" Religionen abzuwerten und zu verwerfen. Jene Wahrheitsprädikation, deren Anwendung auf einzelne Konfessionskirchen oder eine der großen christlichen Religionsparteien (Luthertum, Reformiertentum und Katholizismus) nicht mehr statthaft erscheint, wird dem „Christentum" und der „christlichen Religion" aber durchaus zuerkannt. Dies geschieht unbeschadet der kritischen Einsichten, daß im Alten und Neuen Testament das Wort Gottes in menschlicher Sprache, geschichtlichen Vorstellungen und irrtumsfahigen Überlieferungen zu uns gekommen ist und insofern bleibend Gültiges und Zeitbedingtes im biblischen Zeugnis miteinander verbunden sind. Das Christentum gilt nicht nur als die gegenwärtige Höchstform der Religion und als Inbegriff verbindlicher Lebensorientierung, sondern als die für alle Zukunft geltende und alle Zeiten überdauernde „wahre" Religion. Semler wußte, daß sich die Wahrheit des Christentums und seiner wesentlichen Glaubensgedanken mit den Mitteln der historischen Wissenschaft nur begrenzt verteidigen lassen. Gleichwohl 29

Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 197: „Es ist auch nicht zu leugnen, daß in der Wahl der Wahrheiten, welche dem Christentum wesentlich sind, und seine große Vollkommenheit wider das Judentum und Heidentum anempfehlen, ein Prediger vornehmlich seine Treue und Geschicklichkeit an den Tag legen muß."

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hat er an dem Geltungs- und Wahrheitsanspruch des Christentums allen zeitgenössischen Angriffen und Einwänden zum Trotz unbeirrt festgehalten.30

30

Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 336: „Daher ist die christliche Religion auch die allgemeine und wahre Religion." - Zu Semlers Begriff der „wahren" Religion vgl. auch ders., Vorrede zu: Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten. Halle 21780: „Die reine wahre christliche Religion kann unmöglich angefeindet, verachtet, verspottet werden. Der Fehler muß an der Person liegen, welche sich den Inhalt der Religion so unrichtig vorstellen konnte, daß sie ihren Ursprung nicht von Gott herleiten kann." Auch in den letzten Lebensjahren hat der Hallenser die christliche Religion wegen ihrer göttlichen Herkunft und ihrer Christusbotschaft gegenüber dem zeitgenössischen Naturalismus verteidigt. Sie gilt ihm als die „allerliebste Religion, die Gott durch Christum aufgestellet und empfohlen hat" und der „die allertreuesten Dienste" geleistet werden sollten; vgl. ders., Vorläufige Antwort auf eines Naturalisten unbillige Prüfung der vertrauten Briefe über die Religion. Halle 1786, Vorrede, S. XXXII. 291

ΧΠ. Die Stellung zu Glaubensfreiheit und Toleranz1

Viele Jahrhunderte lang bis hin zum Zeitalter der Aufklärung galt die Bewahrung einer die Gesamtbevölkerung umfassenden Glaubenseinheit als das unentbehrliche Band der staatlichen Gemeinschaft. Die Erhaltung der bestehenden Staatsreligion wurde als Pflicht der christlichen Kaiser, Könige und Landesfürsten angesehen. Was sie in ihrem Handeln leiten sollte, kommt in der Formel „custodia utriusque tabulae" zum Ausdruck. Gemeint war damit die dem Regenten obliegende Pflicht, für die Beachtung der beiden Gesetzestafeln einzutreten. Dies implizierte nicht nur die Verantwortung für die äußere Rechtsordnung, den Schutz von Leben und Eigentum der Untertanen, sondern auch die Sorge für ihr Seelenheil. Aber nachdem sich die christliche Religion in mehrere Konfessionen gespalten hatte und die Vergeblichkeit aller militärischen Anstrengungen, die Konfessionsspaltung im Deutschen Reich rückgängig zu machen, deutlich geworden war, blieb nach langen und verlustreichen Kriegen schließlich nur die Einsicht in die Notwendigkeit von Friedensverhandlungen. Der mühsam errungene Augsburger Religionsfriede von 1555 hatte zwar für die Landesherren das Recht auf freie Konfessionswahl zwischen dem römisch-katholischen und evangelischen Bekenntnis gebracht, aber dieses Recht galt nicht für ihre Untertanen. Der Landesherr konnte kraft seines ius reformandi die konfessionelle Geschlossenheit seines Territoriums erzwingen. Andersgläubigen Untertanen blieb dann nur der Heimatverlust und die Auswanderung. Diese Rechtslage erfuhr durch den vom Vatikan nicht anerkannten Westfälischen Frieden von 1648 eine gewisse Veränderung. Denn unter Verzicht auf politische und religiöse Einheit und auf Gewaltanwendung wurden nun die bestehenden Verhältnisse konfessioneller Verschiedenheit festgeschrieben. Die Einwohner durften diejenige Religion, die sie im Normaljahr (1624) besessen hatten, auch dann behalten, wenn ihr Landesherr sich zu einer anderen Konfession bekannte oder eine Konversion vollzog.2 Die itìo in partes war ein Mittel zur Bewahrung der korporativen Freiheit und bestand in der Trennung nach Religionsparteien bei konfessionell relevanten Ab1

2

Vgl. bereits: Gottfried Hornig, Johann Salomo Semlers Stellung zur Glaubensfreiheit und Toleranz, in: Günter Jerouschek/Arno Sames (Hg.), Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694-1806). Hanau/Halle 1994, S. 281-288. Bernd Mathias Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung. Tübingen 1989 (Jus Ecclesiasticum. Bd. 37), S. 175ff. - Kremer verweist in seiner Untersuchung auf die zwischen Protestantismus und Katholizismus divergierenden Interpretationen einzelner Bestimmungen des Westfälischen Friedens.

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Stimmungen des Reichstags. Die Majorisierung einer Partei durch die andere sollte auf diese Weise verhindert werden.3 Mit solchen rechtlichen Bestimmungen war aber im Deutschen Reich noch keineswegs ein dauerhafter Religionsfriede, geschweige denn eine vollständige Glaubensfreiheit erreicht worden. Die zahlreichen Religionsgravamina der Folgezeit zeigen dies deutlich. Bis hin zum Siebenjährigen Krieg (1756-1763) wurde nicht nur um den Besitz von Territorien und die politische Vormachtstellung im Deutschen Reich zwischen dem protestantischen Preußen und dem katholischen Östeireich, sondern gleichzeitig auch um die konfessionelle Selbstbehauptung des Protestantismus, d.h. um die Begrenzung oder Ausweitung der römisch-katholischen Machtstellung gerungen. Weder eine religionsrechtliche Parität noch eine individuelle Glaubensfreiheit waren gewährleistet. Protestantische Minderheiten besaßen in katholischen Ländern keine Gleichberechtigung, sondern hatten wegen ihres Glaubens nur beschränkte Rechte und waren wiederholt Verfolgungen ausgesetzt. Nach der Ermordung und Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich und der Vertreibung der Sozinianer aus Polen wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Salzburger Protestanten, die sich von ihrem lutherischen Glauben nicht trennen wollten, in großen Scharen zur Auswanderung aus Österreich gezwungen. Mit dem naturrechtlichen und historischen Denken der Aufklärung gewinnt der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen bei Anerkennung der Verschiedenheit ihrer Religionen und Glaubensüberzeugungen wachsende Zustimmung. Damit konnte jener Prozeß eingeleitet werden, der zu einer allmählichen Lösung des Staates aus seiner früheren Bindung an das Mehrheitsbekenntnis führte. War Toleranz ursprünglich die Duldung des Übels, daß es neben der einen „wahren" Religion auch Anhänger „falscher" Religionen und Glaubensüberzeugungen gibt, so wandelt sich nun diese Einstellung. Es kommt zu einer Aufwertung des Toleranzgedankens. Die Toleranzforderung richtet sich im 18. Jahrhundert und im Zeitalter des Absolutismus zunächst an die Adresse der Obrigkeit. Gesetze und Edikte sollen den Weg zu ihr ebnen. Toleranz zeigt sich in der öffentlich-rechtlichen Duldung von religiösen Minderheiten, die nicht mehr verfolgt und vertrieben werden dürfen. Sofern solche Toleranz gewährt wird, führt sie jedoch keineswegs schon zur Parität und zur Anerkennung einer Gleichberechtigung aller Religionsgemeinschaften. Gegenüber Deismus und Naturalismus, Agnostizismus und Atheismus wie überhaupt gegenüber nicht-christlichen Religionen oder Weltanschauungen bestand auch während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch eine deutliche Abneigung in weiten Kreisen der Bevölkerung. Die Toleranzforderung stieß auf konfessionell begründete Widerstände, weil sie der im Väterglauben verwurzelten Bevölkerung die Duldung von Irrtum und Aberglaube, Ketzerei und Sektierertum aufzunötigen schien. So verwundert es kaum, daß es auch in Preußen, das damals zu den 3

Zur itio in partes als Bestandteil der Religionsverfassung des Deutschen Reiches vgl. Martin Heckel, Gesammelte Schriften, hg. v. Klaus Schiaich. Bd. 2. Tübingen 1989, S. 636ff.

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aufgeklärten und toleranten Staaten in Europa zählte, noch zahlreiche Vorurteile gegenüber Juden und anderen religiösen Minderheiten gab.

1. Die Forderung nach Denkfreiheit und Gewissensfreiheit Der staatliche Absolutismus hatte durch seine Gesetze und Zensuredikte zwar mancherlei einengende Schranken errichtet, aber kennzeichnend für den gebildeten Bürger der norddeutschen protestantischen Aufklärung war gleichwohl das Streben nach Mündigkeit, Selbstbestimmung und Erweiterung der geistigen Freiheit. Diesen Willen zur Unabhängigkeit von vorgegebenen Lehrtraditionen und Autoritäten beobachten wir bei Johann Salomo Semler, der als Wissenschaftler die „Freiheit im Denken" für sich in Anspruch genommen hat.4 Er hat die Theologie hinsichtlich ihrer Methoden und Lehrinhalte verändert und sich von diesem Weg wissenschaftlicher Neuerungen auch nicht durch die Auseinandersetzungen abbringen lassen, die sich mit den Vertretern herkömmlicher Auffassungen zwangsläufig ergeben mußten.5 Von großer Bedeutung für Semlers Denken und seine Anthropologie ist der Gewissensbegriff. Dieser Begriff bezeichnet für ihn das Personenzentrum, den Ort der persönlichen Einsicht und Wahrheitserkenntnis. Das Gewissen wird zwar nicht mit der Stimme Gottes gleichgesetzt, aber gilt doch als die Instanz, nach der man sich im Denken und Handeln richten soll. Wenn das Individuum seinem Gewissen verpflichtet ist, so deshalb, weil es der Wahrheitserkenntnis verpflichtet ist. Solche Feststellung zielt nicht nur auf den Bereich des profanen Wissens und die wissenschaftlich nachprüfbare Wahrheitserkenntnis, sondern auch auf den Glaubensbereich und die Orientierung an dem Worte Gottes, das uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Für Semler gilt es als Gewißheit, „daß jedes Menschen Gewissen sich so weit erstreckt als seine Erkenntnis".6 Die Freiheit des Gewissens erscheint daher als ein hohes Gut, das auch aus religiösen Gründen keiner Einschränkung oder Bedrückung unterliegen darf. Denn „Glauben ist eine Beschäftigung des Gewissens. Lehrer müssen ihre Zuhörer und Leser nach allem ihrem guten Gewissen so untenichten, daß auch diese ihr Gewissen selbst anwenden".7

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Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1781, S. 222. - Als ungefähre Datierung für das Gespräch mit dem Freund und Fakultätskollegen Siegmund Jacob Baumgarten, in dessen Verlauf die Forderung nach „Freiheit im Denken" von Semler erhoben wurde, wird man wohl die Jahre 1755/56 vermuten dürfen. Konservative Gegner Semlers waren vor allem der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, der Kasseler Gymnasialprofessor Johann Rudolf Piderit, der Leipziger Theologieprofessor Christian Friedrich Schmid, der Greifswalder Theologieprofessor Johann Ernst Schubert sowie der Tübinger Kanzler Jeremias Friedrich Reuß. Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 92. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1773, S. 288.

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Denkfreiheit und Gewissensfreiheit stehen also in enger Verbundenheit. Sie sind gleichsam Voraussetzung für die Glaubensfreiheit, die nur dann gegeben ist, wenn geprüft werden kann, ob die Zustimmung zu den kirchlich behaupteten Glaubenslehren zu Recht verlangt wird. Wenn der persönliche Glaube unersetzbar ist, dann darf er weder durch kirchliche Autoritäten inhaltlich vorgeschrieben noch durch staatliche Befehle und Verordnungen erzwungen oder seine Ausübung verboten werden. In religiösen Glaubensfragen soll nur die Bindung des Gewissens an Gottes Wort als unbedingt verpflichtend angesehen werden. Das Gewissen wird dabei als die Instanz verstanden, die dem Glaubenden die Gewißheit schenkt, daß er von Gott angenommen ist, die ihn innerlich frei macht, indem sie ihm das Evangelium als das befreiende Wort Gottes zuspricht Aus der Einsicht in die Unaufgebbarkeit der Gewissens- und Glaubensfreiheit ist die Reformation erwachsen. Diese Feststellung darf jedoch keineswegs nur als historisches Urteil über ein vergangenes Geschehen und den Bekennermut unserer protestantischen Vorfahren betrachtet werden. Sie hat vielmehr gegenwärtige und bleibende Bedeutung für das rechte Verhältnis der Kirche als rechtlicher Organisation zu den Gemeindegliedem und glaubenden Individuen. Kirche darf kein Herrschaftsinstrument werden. Sie hat die Unverletzlichkeit des Gewissens zu achten. „Die protestantischen Kirchen müssen nach ihren eigenen Grundsätzen auf die stete Anwendung der Freiheit des eigenen Nachdenkens und Gewissens bei allen den Mitgliedern gewiß rechnen, welche wirklich dazu fähig sind oder fähig zu sein glauben."8 Es wäre für die Behandlung unseres Themas wünschenswert, wenn an dieser Stelle dargestellt werden könnte, welche Bedeutung und Wirkung protestantische Theologie und protestantische Theologen durch ihr Eintreten für die Glaubens- und Gewissensfreiheit für die politische und öffentliche Anerkennung des Toleranzgedankens gehabt haben. Denn es gibt in dieser Hinsicht eine noch unzureichend erforschte Geschichte der Auseinandersetzung um Toleranz und Intoleranz im Bereich des Protestantismus.9 Aus Raumgründen müssen wir jedoch auf eine skizzenhafte Darstellung dieser Geschichte verzichten. Wir wollen uns hier auf Johann Salomo Semler beschränken. 8

9

Semler, Neuer Versuch die gemeinnäzige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786, S. 43. Vgl. dazu vor allem: Harald Schultze, Lessings Toleranzbegriff. Göttingen 1969. Diese wertvolle Monographie enthält ein Verzeichnis des deutschen Toleranzschrifttums des 18. Jahrhunderts (vgl. ebd., S. 128-172); Trutz Rendtorff (Hg.), Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung. Gütersloh 1982; Theophil Lessing, De religionum tolerantia, hg. u. eingel. v. Günter Gawlick u. Wolfgang Milde. Wolfenbüttel/Göttingen 1991; Wilfried Härle, Der Toleranzgedanke im Verhältnis der Religionen, in: Wolfgang E. Müller/Hartmut H. R. Schulz (Hg.), Theologie und Aufklärung. Würzburg 1992, S. 323-338. - Wichtig ist auch die Untersuchung von Simone Zurbuchen, Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzproblems von Samuel Pufendorf bis Jean-Jaques Rousseau. Würzburg 1991.

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2. Die Kritik an den Ketzer- und Judenverfolgungen Jede Anwendung von kirchlichen oder staatlichen Zwangsmaßnahmen, mit denen die Zustimmung zu Lehren und Dogmen verlangt oder eine äußere Uniformität in Glaubensfragen erreicht werden soll, hat Semler als unvereinbar mit den Grundsätzen des christlichen Glaubens entschieden abgelehnt. Diese Haltung zeigt sich nicht nur in seinen systematischen Werken und prinzipiellen Äußerungen, sondern auch in den kirchenhistorischen Darstellungen, sobald er auf jene Ereignisse zu sprechen kommt, die während mehrerer Jahrhunderte als Zwangsbekehrungen, Ketzerverfolgungen, Judenvertreibungen und blutige Inquisitionen stattgefunden haben.10 Mit solchen Grausamkeiten und furchtbaren Tragödien hat die Kirche und haben christliche Staaten sich in einen Widerspruch zum Geist Christi und zum Verständnis des Christentums als einer Liebesreligion gesetzt. Mit Schärfe wendet sich Semler auch gegen die mißbräuchliche Auslegung von Lukas 14,23 („nötiget sie hereinzukommen") und weist den Versuch zurück, unter Berufung auf diese Bibelstelle gewaltsame Bekehrungen und kirchliche Verfolgungen von Andersgläubigen rechtfertigen zu wollen.11 Ein aktueller Anlaß, zu den Fragen des Zusammenlebens von Christen und Juden und der Duldung jüdischer Gemeinden Stellung zu nehmen, ergab sich durch das Ersuchen des Hamburg-Altonaer Oberrabbiners Jonathan Eibenschütz, der sich zu Beginn der 60er Jahre mit der Bitte um ein Gutachten an den Dekan der Theologischen Fakultät in Halle gewandt hatte. Semler wurde mit der Ausarbeitung des Gutachtens beauftragt. Er sollte zu den immer wieder erhobenen Beschuldigungen Stellung nehmen, die Juden hätten Ritualmorde an Christenkindern verübt. Alle Berichte und Gerüchte über solche Blutbeschuldigungen weist Semler als Unwahrheiten und haltlose Vorurteile zurück.12 Er urteilt dabei nicht nur als unbestechlicher Historiker, sondern reiht sich auch unter die Autoren der relativ judenfreundlichen Hallenser Fakultätsgutachten ein.13 Seine Kritik an den Judenverfolgungen, 10

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Vgl. Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 183: „viele eifrige Anhänger der katholischen äußerlichen Religionsordnung bewiesen ihre Verehrung Gottes sogleich durch alle Arten von Grausamkeiten wider alle anderen Christen, die nicht eben diese Religionsordnung annehmen und vorziehen wollten. Die Kirchenhistorie, die gemeine Historie der christlichen Staaten erzählet hier ganz abscheuliche Tragödien [...] Ebenso häufig entbrannte dieser Eifer wider die Juden, die gar sehr von diesen rohen Eiferern verfolgt wurden". - Vgl. auch ders., Ob der Geist des Widerchrist unser Zeitalter auszeichne? Halle 1784, S. 36. Semler, Versuch einer freiem theologischen Lehrart. Halle 1777, S. 653, sowie ders., Unterhaltungen mit Herrn Lavater. Leipzig 1787, S. 165: „compelle eos intrare ist auch des Augustins betrübter und schädlicher Grundsatz, wonach die Kirche eben die Macht der christlichen Regenten zu Hilfe rufen darf und soll, um die Ketzer zum Gehorsam zu bringen." Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 387-460. Semlers Gutachten (1760), das sich um eine historische Widerlegung der gegen die Juden erhobenen Blutbeschuldigung bemüht, ist in seinem Beweisgang genauer analysiert worden; vgl. Udo Arnoldi, Pro Judaeis. Die Gutachten der hallischen Theologen im 18. Jahrhundert zu Fragen der Judentoleranz. Berlin 1993, S. 201-220.

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die seit dem Mittelalter in christlichen Ländern wiederholt stattgefunden haben, ist deshalb so scharf, weil sie ein Verhalten zeigen, das „doch gerade das Gegenteil der christlichen Religion und ihrer Grundwahrheiten" darstellt.14 Mit dem Begriff der „Grundwahrheiten" der christlichen Religion ist die durch Jesus Christus bewirkte Versöhnung und Erlösung, das neue Bewußtsein des von Gott Angenommenseins und das ihm entsprechende Verhalten der Nächstenliebe gemeint.

3. Die Unterstützung der friderizianischen Religionspolitik Im friderizianischen Preußen gab es neben den rechtlich anerkannten drei christlichen Hauptkonfessionen (Luthertum, Calvinismus und Katholizismus) vom Staat geduldete Sekten und kleinere Religionsgemeinschaften, zu denen die jüdischen Gemeinden, die Herrnhuter, die Mennoniten, die Böhmische Brüdergemeinde und die Sozinianer gehörten. Semler hat gegenüber den Andersglaubenden zur Friedfertigkeit, Verträglichkeit und Toleranz aufgerufen, ohne die eigene Überzeugung preiszugeben, daß das Luthertum in der Schriftbegründung seiner Lehren und in seinen Bekenntnissen „dem Wesen des Christentums" am ehesten entspricht.15 Keine der vorhandenen christlichen Konfessionen ist berechtigt, den jeweils anderen den Zugang zur ewigen Seligkeit abzusprechen oder sie mit Anathematismen zu belegen.16 Zum Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit gehört nach Semler auch, daß das Individuum jederzeit das Recht zum Konfessionswechsel besitzt und solche Gewissensentscheidung von kirchlichen oder staadichen Behörden weder beanstandet noch behindert werden sollte.17 Auf das bewußte „Proselytenmachen", d.h. auf die gezielte Abwerbung von Mitgliedern anderer Konfessionen oder Religionsgemeinschaften sollte verzichtet werden.18 Die gebotene Toleranz will Semler nicht auf Angehörige christlicher Kirchen und Gemeinden beschränkt wissen. Sie soll auch den in christlichen Staaten lebenden Juden und Mohammedanern zugute kommen. Infolgedessen sind jene Elemente einer unzulänglichen Gotteserkenntnis und Gottesverehrung, ja Mängel und 14 13

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Semler, Historischtheologische Abhandlungen. Halle 1762, S. 460. Eine sorgfältige Untersuchung zu Semlers trinitarischer Wesensbestimmung des Christentums bietet die Dissertation von Hartmut H. R. Schulz, Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums. Würzburg 1988. Semler, Lebensbeschreibung. Halle 1782, S. 229. Vgl. Semler, Lieber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786, S. 127: „Es kann aber auch gar keine äußerliche Macht dazu rechtmäßig angewandt werden, jemand[en] im Gebrauch seines Gewissens zu bestimmen und ihn zu hindern, gesetzt er glaubt, er müsse die protestantische Lehrart um seiner gewisseren Seligkeit willen vertauschen mit der römisch katholischen oder umgekehrt." Vgl. ebd., S. 128: „Dieser freie Gebrauch des Gewissens [...] enthält den Grund davon, daß verständige Christen gar nicht darauf vornehmlich bedacht sind, ihre äußerliche Religionsgesellschaft mit unzähligen Proselyten zu vermehren."

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Fehler, die wir vom Standpunkt unserer Wahrheitserkenntnis in fremden Konfessionen und in nicht-christlichen Religionen wahrnehmen, kein Grund, den Andersgläubigen den Respekt und die Achtung zu versagen, wenn sie ihren religiösen Glauben in aufrichtiger Frömmigkeit und Gottesverehrung vertreten. Im Rahmen einer sonntäglichen Bibelauslegung hat Semler in einer bemerkenswerten Stellungnahme diese Auffassung vor seinen Hallenser Theologiestudenten im Jahr 1772 dargelegt und bald danach auch publiziert: „Furcht Gottes muß uns bei einem redlichen Papisten, Juden, Quäker, Socinianer etc. allemal schätzbar und verehrungswürdig sein. Die Mängel oder Fehler in ihrer Erkenntnis gehören nicht ihrem Herzen und Willen". Die Befolgung solcher Ermahnung würde, wie Semler im folgenden ausführt, die ganze Welt, das ganze menschliche Geschlecht leichter zur Frömmigkeit, zur wahren Religion und zur gemeinschaftlichen heilsamen Erkenntnis und Verehrung Gottes vereinigen als jene kalte Orthodoxie, so aus den schlechtesten Zeiten ihre Grundsätze entlehnet hat.19

Gleichzeitig hat der Hallenser aber auch entsprechende Aufforderungen an die Gesetzgeber und Inhaber der staatlichen Macht, also an die regierenden Monarchen gerichtet. Denn sie haben die Entscheidung darüber, „ob die vernünftige und christliche Verträglichkeit, Toleranz und Liebe gegen Untertanen von ungleicher äußerlicher Religion in ihren Landen soll befördert oder nach dem Eifer in abstracto, um einiger alter Eiferer willen, soll untersagt werden".20 Dieser Appell verdeutlicht, daß es auf dem Höhepunkt der Aufklärung in Preußen Widerstand gegen eine allgemeine Gewährung von Gewissensfreiheit und religiöser Toleranz gegeben hat. Erheblich verzeichnet wird die historische Wirklichkeit allerdings durch die Behauptung, die Religionspolitik, die Friedrich der Große aus wirtschaftlichen Interessen und aufklärerischer Überzeugung praktiziert hat, sei eine „von oben" administrierte Toleranz gewesen, die „durchweg gegen den Widerstand der Untertanen" ankämpfen mußte.21 Wie die Schriften von Siegmund Jacob Baumgarten, Johann Salomo Semler, Georg Friedrich Meier, Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Christian Wilhelm Dohm und anderen Autoren zeigen, hat es unter den Theologen, Philosophen und Juristen Preußens eine Unterstützung für die Gewährung von Gewissensfreiheit und religiöser Toleranz gegeben. Solche Haltung, welche die zeitgenössische staatliche Religionspolitik unterstützte, ja teilweise sogar weitergehende 19

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Semler, Ascetische Vorlesungen. Halle 1772, S. 137. - Als heutiger Semlerinteipret wird man nolens volens fragen müssen, ob Semlers aktives Eintreten für eine größere Judentoleranz innerhalb einer christlichen Gesellschaft beeinträchtigt worden ist durch sein Verständnis der jüdischen Religion als einer vom Christentum prinzipiell bereits überwundenen Größe. Die hier vorliegende Spannung ist Semler selbst offenbar nicht bewußt gewesen. Semler, Ausfiirliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Halle 1777, S. 76f. Christian Graf von Krockow, Freiheit im neuzeitlichen politischen Denken. Deutschland und der Westen, in: Günter Brakelmann (Hg.), Freiheit konkret. Gütersloh 1979, S. 26.

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Reformen anstrebte, schließt freilich nicht aus, daß sich in konservativen Kreisen und in der Landbevölkerung auch Widerstand regte. Um so mehr war es von Bedeutung, daß nun auf Kanzeln und Kathedern, in Büchern und Zeitschriften das rücksichtsvolle und friedliche Verhalten gegenüber den Minoritäten der Andersglaubenden als Ausdruck christlicher Gesinnung und Nächstenliebe dargestellt und von einflußreichen Gelehrten öffentlich befürwortet wurde. Der Göttinger Altphilologe Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) bestätigt diese Quellenanalyse mit dem Urteil, daß Semler „für Toleranz und Gewissensfreiheit mit männlicher Standhaftigkeit gefochten" habe.22 Der Hallenser hat sich mit seinem Anliegen nicht nur an seine lutherischen Glaubensbrüder gewandt, sondern betont, daß „alle gute[n], geübte[n], denkendefn] Christen zu immer größerer Toleranz sehr viel beitragen" können.23 Gelobt werden von ihm aber auch die europäischen Regenten, welche Toleranzedikte erlassen haben, weil auf diese Weise „alles Gute gewähret [wird], was je durch die christliche Religion in moralischen Menschen nach Gottes Absicht befördert werden soll".24

4. Die Freiheit der Privatreligion und das Wöllnersche Religionsedikt Nach Semlers Überzeugung war es aus staatsrechtlichen Gründen, vor allem wegen der Bestimmungen des Westfälischen Religionsfriedens erforderlich, daß die im Deutschen Reich offiziell anerkannten Religionsparteien an ihren Bekenntnissen festhalten und durch sie auch ihre Verkündigung und ihren Unterricht bestimmt sein lassen. Dies war aber im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß von Aufklärung und Kirchenkritik längst nicht überall der Fall. Als 1788 unter der Regierung des Königs Friedrich Wilhelm II. das sogenannte Wöllnersche Religionsedikt erlassen wurde,25 glaubten manche, das Ende der liberalen friderizianischen Religions- und Kirchenpolitik sei gekommen. Semler urteilt anders. Er hat das Religionsedikt in einer Schrift öffentlich verteidigt, weil er in dessen Bestimmungen keine Einschränkung, sondern eher eine Bekräftigung der bis dahin in

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Johann Gottfried Eichhorn, Johann Salomo Semler, in: ders., Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur. Bd. 5. Leipzig 1793, S. 160. Semler, Freimütige Briefe über die Religionsvereinigung der dreien streitigen Theile im römischen Reiche. Leipzig 1783, Vorrede, S. XVII. Ebd.,S.III. Zum Text des sogenannten Wöllnerschen Religionsedikts vgl. Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen für das Jahr 1788. Jg. 11. Gießen/Marburg 1788, S. 625-639. - Zuverlässig in der Textwiedergabe und leichter zugänglich ist gegenwärüg die photographische Reproduktion des Preußischen Religionsedikts vom Juli 1788 bei Walter Elliger (Hg.), Die Evangelische Kirche der Union. Ihre Vorgeschichte und Geschichte. Witten 1967, S. 188-192.

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Preußen geltenden Religionsfreiheit und Toleranz erblickte.26 Auch spätere Historiker der Rechtsgeschichte Preußens sind der negativen Beurteilung des Religionsedikts entgegengetreten und haben betont, daß dasselbe „besser ist als sein Ruf'. 27 Während die Geistlichen und Lehrer aus rechtlichen Gründen an die Bekenntnisse ihrer Kirche gebunden bleiben, hielt Semler eine Symbolverpflichtung der Laien nicht für erforderlich. Er hat den Begriff einer nicht an die Symbolischen Bücher gebundenen christlichen „Privatreligion" geprägt, die sich nur dem Worte Gottes und dem eigenen Gewissen verpflichtet weiß.28 Mit seiner Rede von der ,Privatreligion" trägt er der geschichtlichen Entwicklung Rechnung, daß das neuzeitliche Christentum nicht nur in einer öffentlichen und konfessionellen Gestalt als „Kirchenreligion" in Erscheinung tritt, sondern auch in einer individuellen privaten Gestalt. Die Freiheit der Privatreligion ist zu respektieren, weil der einzelne in der Bekundung und Bewährung seines Glaubens unvertretbar ist.

5. Die Gefährdung der Glaubensfreiheit durch die Schaffung einer Großkirche In der zeitgenössischen Diskussion über die Pläne einer Wiedervereinigung der getrennten christlichen Kirchen, insbesondere der Vereinigung von Protestantismus und Katholizismus, ist Semler ähnlich wie der Braunschweiger Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem für die Beibehaltung der bestehenden Selbständigkeit der Konfessionen eingetreten.29 Der bloße Wunsch, die christlichen Kirchen zu einen und ihnen eine gemeinsame rechtliche Basis und kirchliche Organisation zu geben, darf nicht ausschlaggebend sein. Vielmehr muß zuvor eine Übereinstimmung in den wichtigen Lehrgrundlagen erzielt werden. Diese aber besteht so lange nicht, als die römisch-katholische Kirche am Tridentinum festhält, und der Protestantismus kei-

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Semler, Verteidigung des Königl. Edits vom 9"" Jul. 1788. Halle 1788. - Semler erklärt, das Edikt fordere, daß sich die Geistlichen an die angenommenen Symbola zu halten hätten, ansonsten aber .jedem für sich die Glaubensfreiheit läßt". Vgl. ebd., S. 27. Otto Hintze, Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preussens, hg. u. eingel. v. Gerhard Oestreich. Göttingen 21967, S. 83. Auch Fritz Valjavec hebt unter Bezugnahme auf Semlers Verteidigungsschrift hervor, daß „die Aufnahme des Religionsedikts [...] ursprünglich nicht so ungünstig gewesen [ist], wie das die späteren Darstellungen vermuten lassen". Vgl. ders., Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschichtliche Bedeutung, in: Historisches Jahrbuch. Jg. 72. München/Freiburg 1953, S. 387. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. VI („Die Freiheit der christlichen Privatreligion") der vorliegenden Monographie. Vgl. hierzu Gottfried Homig, Hindernisse auf dem Wege zur Kirchenvereinigung. Jerusalems Beitrag zum ökumenischen Gespräch der Aufklärungszeit, in: Wilfried Theilemann (Hg.), 300 Jahre Predigerseminar 1690-1990. Riddagshausen, Wolfenbüttel, Braunschweig. Wolfenbüttel 1990, S. 161-166.

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nen Grund sieht, seine Überzeugung von der Schriftgemäßheit der reformatorischen Lehre preiszugeben. Wenn die mancherorts erstrebte Kirchenvereinigung die Rückkehr zum Zustand einer allein geltenden Staatsreligion sein sollte, so entsteht die Gefahr einer Einschränkung der bisher erreichten Gewissens- und Glaubensfreiheit. Aus dem Gespür für diese Bedrohung resultieren Semlers Bedenken.30 Tritt man aber nachdrücklich für die volle Respektierung der Gewissens- und Glaubensfreiheit ein, dann impliziert dies die Bereitschaft, die verschiedenen Konfessionen als Ausdruck unterschiedlicher christlicher Glaubensvorstellungen zu betrachten. Man muß sich also dagegen wehren, daß emeut kirchliche Machtstrukturen etabliert werden und von oben herab eine Vereinheitlichung in den Glaubenslehren und Frömmigkeitsformen erzwungen wird. Aus den Quellen gewinnt man den Eindruck, daß Semlers Bedenken und Vorbehalte gegenüber den zeitgenössischen Plänen zur Kirchenvereinigung prinzipieller Art sind. Sie ergeben sich daraus, daß er die christliche Religion als Religion der Freiheit versteht, die jedem Individuum gestattet, in Ubereinstimmung mit dem eigenen Gewissen und der eigenen Glaubensüberzeugung zu leben. Die Zukunft des Protestantismus ist für ihn nicht als Angleichung an den Katholizismus oder als Unterwerfung unter eine „kirchliche Monarchie" denkbar, die Dogmen und Glaubenslehren vorschreibt und für sich selbst Gehorsam fordert. Sie ist denkbar nur als freiwillige Zugehörigkeit der Glaubenden zu rechtlich selbständigen Konfessionen, welche dem Wachstum an religiösen Erkenntnissen und den individuell verschiedenen Glaubensüberzeugungen den erforderlichen Freiheitsraum gewähren. Das Eintreten für die ,Privatfreiheit" in Glaubensdingen war bei Semler primär neutestamentlich begründet und diente der Absicht, „der christlichen Religion für unsere Zeitgenossen leichter Zugang und eigene, von der Autorität und Tradition unabhängige Überzeugung zu schaffen".31 Aber die Verschiedenheit, mit der die christliche Religion angeeignet wird, hat Semler nicht daran gehindert, an dem konfessionsübergreifenden geistlichen Einheitsgedanken festzuhalten. Denn unabhängig von ihrer unterschiedlichen Kirchen- und Konfessionszugehörigkeit sind und bleiben alle Christen im Glauben an die Heilswirklichkeit der durch Jesus Christus bewirkten Versöhnung und Erlösung miteinander verbunden. Diese geistliche Einheit, deren Haupt Christus ist, gilt es zu bewahren, aber sie erzwingt keineswegs Maßnahmen zu einer äußeren, organisatorischen und rechtlichen Vereinigung aller Christen in einer Großkirche. „In Einem Geiste sollen die Christen vereinigt sein, aber nicht in Einer äußerlichen Gesellschaft, welche alle Namen, allen Unterschied, der doch wirklich bleibt, aufhübe."32 30

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Semler, Freimütige Briefe über die Religionsvereinigung der dreien streitigen Theile im römischen Reiche. Leipzig 1783, S. 84 u. 251. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Theil 4. Halle 1775, S. 101. Semler, Theologische Briefe. Erste Samlung. Leipzig 1781, S. 65.

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Steinbart, Gotthilf Samuel, System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums. Ziillichau 1778. Stemmer, Peter, Weissagung und Kritik. Göttingen 1983. Sträter, Udo, Sonthom, Bayly, Dike und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987 (BHTh 71). Stroup, John, Protestant Church Historians in the German Enlightenment, in: Hans Erich Bödeker u.a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen 1986. Stuhlmacher, Peter, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik. Göttingen 2 1986. Teller, Wilhelm Abraham, Die Religion der Vollkommnern. Berlin 1792. - August Hermann Franke, Siegmund Jacob Baumgarten, Johann Salomo Semler, in: Berlinische Monatsschrift (Juli 1794), S. 1-38. Theologische Berichte von neuen Büchern und Schriften von einer Gesellschaft zu Danzig ausgefertiget. 30. Stück. Danzig und Leipzig 1766. Thielicke, Helmut, Glauben und Denken in der Neuzeit. Die großen Systeme der Theologie und Religionsphilosophie. Tübingen 1983. Tholuck, August, Vermischte Schriften größtenteils apologetischen Inhalts. Bd. 2. Hamburg 1839. [Ulrich, Johann Heinrich Friedrich], Ueber den Religionszustand in den preußischen Staaten seit der Regierung Friedrichs des Großen. In einer Reihe von Briefen. Bd. 3. Leipzig 1779. Unger, Salomo Gottlob, De distinctione inter religionem publicam et privatam nuper a S. V. Semlero proposita, non admittenda. Lipsiae 1786. Valjavec, Fritz, Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschichtliche Bedeutung, in: Historisches Jahrbuch, 72. Jg. München/Freiburg 1953. Vierhaus, Rudolf, Zur historischen Deutung der Aufklärung: Probleme und Perspektiven, in: Walter Hesselbach (Hg.), Judentum im Zeitalter der Aufklärung. Bremen 1977 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 4). - Deutschland im Zeitalter des Absolutismus: 1648-1763. Göttingen 1978 (Deutsche Geschichte, hg. v. Joachim Leuschner. Bd. 6). - (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985. - Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung. Soziales Gefüge. Geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1987. Voltaire [François Marie Arouet], Lettres philosophiques, éd. Gustave Lanson. Paris 1964. Wagenhammer, Hans, Das Wesen des Christentums. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung. Mainz 1973 (Tübinger theologische Studien. Bd. 2). Wagner, Falk, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart. Gütersloh 1986. Walch, Christian Wilhelm Franz, Neueste Religions=Geschichte. Theil 7. Lemgo 1779. Walch, Johann Georg (Hg.), Philosophisches Lexikon. 2. verb. Aufl. Leipzig 1740. Wallmann, Johannes, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt. Tübingen 1961 (BHTh 30). - Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. 2. überarbeitete u. erw. Aufl. Tübingen 1986 (BHTh 42). - Der Pietismus. Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte. Bd. 4. Lfg. Ol). Weigelt, Horst, Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991. - Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert. Göttingen 1988 (AGP 25). Weimar, Klaus, Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen Hermeneutik. Tübingen 1975. Whiston, William, A commentary on the three catholick epistels of St. John. London 1719. Will, Georg Andreas, Geschichte und Beschreibung der Nümbergischen Universität Altdorf. Aalen 1975 [Neudruck der 2. Ausg. Altdorf 1801], Wolff, Christian, Vemünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, in: ders., Gesammelte Werke. I. Abt., Bd. 2, hg. v. Charles A. Corr. Hildesheim/Zürich/New York 1983 [Reprint der Ausg. Halle 1751]. Woodbridge, John D., German Responses to the Biblical Critic Richard Simon: from Leibniz to J. S. Semler, in: Henning Graf Reventlow/Walter Spam/John Woodbridge (Hg.), Historische

311

Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Wiesbaden 1988 (Wolfenbiitteler Forschungen. Bd. 41), S. 65-87. Zeller, Eduard (Hg.), Theologische Jahrbücher. Bd. 1. Tübingen 1842. Zurbuchen, Simone, Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzproblems von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau. Würzburg 1991 (Epistemata. Reihe Philosophie. Bd. 82).

312

Bibliographie Johann Salomo Semlers1

1. Verzeichnis der im Druck erschienenen Schriften Semlers 1.

1745 Specimen examinis critici operum, quae ita feruntur, Macarii. Halae 1745 [24 S.].

2.

1746 Specimen animadversionum in aliquot opuscula graeca Macarii. Halae 1746 [20 S.].

3.

4. 5.

6.

7a. 7b.

8. 9. 10.

1

1747 Anmerkungen zur egyptischen Geschichte im ersten Theil der algemeinen Welthistorie, in: Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie. Herausgegeben von Siegmund Jacob Baumgarten. Erster Theil. Halle 1747, S. 403-442. 1748 Probe von Verbesserung einiger kleinen Feier in der teutschen Ausgabe des Baylischen Namenbuches. Halle [o.J., Vorrede datiert vom 14. April 1748] [56 S.]. Erleuterung der egyptischen Altertümer durch Uebersetzung der Schrift Plutarchs von der Isis und dem Osiris und der Nachricht von Egypten aus Herodots zweitem Buch mit beigefügten Anmerkungen. Nebst einer Vorrede von Siegm. Jacob Baumgarten. Breslau und Leipzig 1748 [292 S.]. De lectionibus variantibus in epistola Iudae. Halae 1748. 1748-1749 Miscellanearum lectionum, in quibus multi scriptores aut emendantur aut illustrantur. Fasciculus I. Norimbergae 1748 [101 S.]. Miscellanearum lectionum, in quibus multi scriptores aut emendantur aut illustrantur. Fasciculus II. Norimbergae 1749 [97 S.]. 1749 Notitiam splendissimae Hesychani Lexici editionis, quae inter Batavos prodire coepit cura S. R. viri Joannis Alberti et specimen animadversionum addiL Halae 1749 [72 SJ. Gedanken von Uebereinkommung der Romane mit den Legenden, Halle 1749 [29 S.]. Vindiciae aliquot Ciceronis locorum ab intentatis emendalionibus; ubi simul manus gypsaüssimae relegantur, in: Miscellanea Lipsensia Nova. Vol. 6, pars 4. Lipsiae 1749, S. 686-695.

Ergänzung der Semler-Bibliographie von Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther. Göttingen 1961 (FSThR 8), S. 249-287, durch zusätzliche bibliographische Angaben bei Hans-Eberhard Heß, Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler. Augsburg o.J. [1974], S. 452f., und Hartmut H. R. Schulz, Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums. Ein Beitrag zur Erforschung der Theologie Semlers. Würzburg 1988, S. 239241. Für wertvolle Hilfe bei der Überprüfung und Vervollständigung der Semler-Bibliographie danke ich Dr. Hartmut H. R. Schulz und Herrn Uwe Rimbach. 313

1750 Vindiciae plurium praecipuaram lectionum codìcis graeci Novi Testam. adversus Guilielm. Whiston Anglum atque ab eo latas leges criticas. Halae 1750 [67 S.]. Pensées hazardées sur quelques préjugés a l'égard des humanitez, a Halle 1750 [16 S.]. Specimen emendationum Glossarli Isidoriani, in: Miscellanea Lipsensia Nova. Vol. 7, pars 4. Lipsiae 1750, S. 717-730. Historische und kritische Erleuterung des sogenannten Canons des Ptolemäus, in: Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie. Herausgegeben von Siegmund Jacob Baumgarten. Dritter Theil. Halle 1750, S. 103-292. Io. Salom. Semleri epistola ad virum summe reverendum amplissimum doctissimum Christoph. August Heumannum qua respondet ad appendicem ad emendationes Livii. Halae 1750 [16 S.].

11. 12. 13. 14.

15.

1751 Vorläufige Anmerkung zu der Zugabe der göttingischen Zeitung zum Augustmonat 1751. Herrn von Leibniz und Herrn D. Baumgartens Hochwürden betreffend. Coburg [O.J., datiert vom 18. August 1751], Commentatio I. historico-critica des ministerialibus. Altdorfii 1751 [35 S.]. Coburgische Zeitungen vom Jahre 1751. Observatio critica de dialecto Alexandrina, quam celeb. Breitingerus pro scripturae c o dicis Alexandrini et Tigurini ratione habet, in: Miscellanea Lipsensia Nova. Vol. 8, pars 1. Lipsiae 1751, S. 40-58. Vertheidigung des Herrn Hof&ath Estor de ministerialibus, wider die Einwendungen, so in der Vertheidigung der Freyheit und Unmittelbarkeit des H. R. R. Ritterschaft gemacht worden [o.O.] 1751 [30 S.].2

16.

17. 18. 19.

20.

1752 Einige zur mittlem Geschichte des berühmten Klosters Banz gehörige Nachrichten. Altdorf 1752.

21.

1753 Sessionis VI. Concilii Tridentini exemplum ex manuscripto exhibet et lectiones simul suas indicat Ioannes Salomo Semler. Halae 1753 [42 S.]. Anmerkung über zwei Stellen in Duranti rationali divinorum officiorum, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1753. Nr. 41, Sp. 689-698. Observationes exegeticocriticae et miscellae praecipue super 2. Timoth. III et IV. Altdorfii 1753 [32 S.]?

22. 23. 24.

1754 Praemissa commentatione in Luc. I. excutiendae eius sententiae, quae Spiritum S. Gabrielem intelligiL Halae 1754 [25 S.].4 Animadversiones quaedam ad Ψαλτήριον, praeeunte Codice Turicensi, in: Miscellanea Lipsensia Nova. Vol. 10, pars 1. Lipsiae 1754, S. 1-7. Beitrag zu der Geschichte der Meinung von einem späteren Ursprung der hebräischen Lesezeichen vor dem Elias Levita, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1754. Nr. 22, Sp. 377-383; Nr. 23, Sp. 393-401. 5

25. 26. 27.

2

3 4 5

Die Schrift erschien anonym. Als Verfasser geben die Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen Semler an (vgl. 68. Stück von 1752, S. 692). Inauguraldisputation in Altdorf; vgl. Semler, Lebensbeschreibung, Theil 2, S. 374. Erneut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta). In einer erweiterten Fassung emeut abgedruckt in: 66a., S. 191-228.

314

1755 Nachricht von einer Handschrift des seltenen Buchs, Conformitates Francisci, so auf der hiesigen Marienbibliothek befindlich und derselben Vergleichung, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1755. Nr. 24, Sp. 383-394; Nr. 25, Sp. 399^107; Nr. 26, Sp. 423-437.®

28.

1756 Commentatio de patriarcharum, ut in Palestina sepelirentur, desiderio. Halae 1756 [23 S.].7 Interpretado Joh. XVI, 12-15. Halae 1756 [16 S.].8 Erleuterung alter Münzen zum siebenten Theil der algemeinen Welthistorie, in: Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie. Herausgegeben von Siegmund Jacob Baumgarten. Vierter Theil. Halle 1756, S. 1-104. Zweite Fortsetzung der Erleuterung alter Münzen zum achten Theil der algemeinen Welthistorie, in: Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie. Herausgegeben von Siegmund Jacob Baumgarten. Vierter Theil. Halle 1756, S. 105-174.

29. 30. 31.

32.

33. 34. 35.

36. 37. 38. 39a.

39b.

6 7 8 9

10

1757 Kurze Vorstellung wider die neue dreifache Paraphrasin über das Hohe Lied. Halle 1557 [64 S.].9 Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit für angehende Studiosos Theologiae. Halle 1757 [232 S.]. Anmerkung über die meisten lateinischen Lebensbeschreibungen der Heiligen, bey Gelegenheit der unächten Beschaffenheit des Lebens des heil. Magnus, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1757. Nr. 18, Sp. 297-310; Nr. 19, Sp. 313-323.10 Programma in memoriam D. S. J. Baumgarten. Halae 1757. Designatio prima argumentorum disputationibus habendis destinatorum. Halae 1757. De auctoritate archaeologiae ad Flavianam exercitationem lipsiensem primam. Halae 1757 [44 S.]. Griechische und Römische Alterthümer, welche der berühmte P. MONTFAUCON ehemals samt den dazu gehörigen Supplementen in zehen Bänden in Folio an das Licht gestellt hat [...] in Deutscher Sprache herausgegeben von M. Jacob Schätzen [...] mit gelehrten Anmerkungen versehen von dem Hochwürdigen und Hochgelahrten Herrn Johann Salomone Semlern. Nürnberg 1757 [422 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 3 S.) - Semlers Anmerkungen], Antiquitates Graecae et Romanae a [...] Bernardo de MONTFAUCON, pluribus olim voluminibus explanatae et schematibus illustratae, nunc autem in compendium redactae et figuris aeneis forma minori exoniatae a M. Johanne Jacobo Schatzio, notas criticas passim adiecit [...] Johannes Salomon Semler. Norimbergae 1757 [388 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 3 S.) - Semlers Anmerkungen],

Emeut abgedruckt in: 65a, S. 59-134. Emeut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta). Emeut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta). Unter dem Titel Nachricht von der Schrift: nötige und gehörige Antwort auf D. J. Sal. Semlers kurze Vorstellung wider die dreifache Paraphrasin über das Hohelied; mit kurzer Beurtheilung in einer erweiterten Fassung emeut abgedruckt in: 65a, S. 229-320. Emeut abgedruckt in: 65a, S. 135-168. 315

40.

Siegmund Jacob Baumgaitens Auslegung der Leidens-, Sterbens- und Auferstehungsgeschichte Jesu Christi nach harmonischer Ordnung der vier Lebensbeschreibungen desselben. Nebst einer Paraphrasis und vierfachen Register. Halle 1757 [608 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 10 S.) -Semlers harmonische Paraphrasis der Leidens-, Sterbens- und Auferstehungsgeschichte Jesu (S. 577-608)].

41a.

41b. 4 le.

41d.

42a.

42b.

42c.

42d.

1757-1762 Johann von FERRERAS, Algemeine Historie von Spanien mit den Zusätzen der französischen Uebersetzung nebst der Fortsetzung bis auf gegenwärtige Zeit. Achter Band. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. Johann Salomon Semlers. Halle 1757 [632 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 21 S.)]. Johann von FERRERAS, Algemeine Historie von Spanien [...] Neunter Band. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. Johann Salomon Semlers herausgegeben. Halle 1758 [638 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 14 S.)]. Johann von FERRERAS, Algemeine Historie von Spanien [...] Zehnter Band. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. Johann Salomon Semlers herausgegeben. Halle 1760 [576 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 13 S.)]. Johann von FERRERAS, Algemeine Historie von Spanien [...] bis auf gegenwärtige Zeit fortgesetzt von Philipp Ernst Bertram. Elfter Band. Mit einer Vorrede D. Johann Salomon Semlers herausgegeben. Halle 1762 [488 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, S. 9-12)]. 1758 Ehrengedächtnis des weiland Hochwürdigen und Hochgelarten Herrn Siegmund Jacob Baumgartens, der heil. Schrift Doctors, ordentlichen öffentlichen Lehrers auf der königlichen preussischen Friedrichsuniversität, des königlichen Seminarii Directors, Ephori der königlichen Freitische, der königlichen Academie der Wissenschaften zu Berlin Mitglied, auch der teutschen Geselschaft zu Jena; gesamelt von D. Johann Salomon Semler. Halle 1758 [148 + 76 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 5f.) - Des Herrn Semlers kurzer Entwurf des Lebens des wohlseligen Herrn D. Baumgartens (S. 67-132) - Des Herrn D. Semlers verfertigtes Programma (S. 1-36)]. Neuer Beitrag zu der Geschichte der Meinungen von den hebräischen Lesezeichen, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1758. Nr. 28, Sp. 465-473; Nr. 29, Sp. 481-492."

43.

44.

11

1757-1760 Centuriae Magdeburgenses seu historia ecclesiastica Novi Testamenti cum variorum theologorum continuationibus ad haec nostra tempora quas excipient supplementa emendationum defensionum illustrationumque ad priores centurias XIII. quorum curam suscipiet qui praefationes etiam singulis voluminibus addet Sigismundus Iacobus Baumgarten Volumen I. Norimbergae 1757 [Darin enthalten: Semlers Zuschrift an den Leser (unpaginiert, 16 S.)]. Centuriae Magdeburgenses seu historia ecclesiastica Novi Testamenti [...] addet Ioannes Salomon Semler Voluminis I. liber II. Norimbergae 1758. Centuriae Magdeburgenses seu historia ecclesiastica Novi Testamenti [...] addet Ioannes Salomon Semler Volumen II. Norimbergae 1759 [Darin enthalten: Semlers Zuschriften an den Leser (unpaginiert, 4 + 24 S.)]. Centuriae Magdeburgenses seu historia ecclesiastica Novi Testamenti [...] addet Ioannes Salomon Semler Volumen III. Norimbergae 1760 [Darin enthalten: Semlers Zuschrift an den Leser (unpaginiert, 16 S.)].

Emeut abgedruckt in: 65a, S. 191-228.

316

45.

46.

47. 48.

49a.

49b.

49c. 49d.

49e.

49f.

49g.

49h.

49i. 49j.

49k.

491.

49m.

Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit, enthaltend eine historische und theol. Erleuterung des alten Ausspruchs oratio, meditatio, tentatio faciunt theologum, in einer Zuschrift an seine Zuhörer, worin er seine Vorlesungen anzeigt. Halle 1758 [174 SJ. Zweiter Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit, worin auf eines unchristlichen und eingebildeten Christiani Sinceri ganz unnützes Schreiben nützliche und für unsere Kirche höchstwichtige Antwort gegeben wird. Halle 1758 [256 SJ. Commentatio ad 2 Corinth. VIII, 9. Halae 1758 [16 SJ. Siegm. Jac. Baumgartens Nachrichten von merkwürdigen Büchem. Zwölfter Band welcher die volständigen Register über alle Bände sowol dieser als auch der Nachrichten von einer hallischen Bibliothek enthält. Halle 1758 [424 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 6 S.)]. 1758-1766 Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie die in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertigt worden. 17. Theil. Genau durchgesehen und mit häufigen Anmerkungen vermehret von S. J. Baumgarten. Halle 1758 [620 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 1-80)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 18. Theil. Genau durchgesehen und mit Anmerkungen vermehret von J. S. Semler. Halle 1760 [656 SJ [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-6) - Semlers numerierte Anmerkungen]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 19. Theil. Mit einer Vorrede begleitet von J. S. Semler. Halle 1759 [703 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-40)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 20. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1759 [724 S J [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-29)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 21. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1760 [664 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-49)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 22. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1761 [697 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-29)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 23. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1761 [678 S J [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-29)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 24. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1762 [660 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-36)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 25. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1763 [717 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-15)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 26. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1764 [700 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-24)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 27. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1764 [690 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-26)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 28. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1765 [662 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-42)]. Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 29. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1765 [706 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-24)].

317

49n.

50.

51.

52a.

52b.

53. 54.

55.

56a.

56b.

56c.

12 13 14

Uebersetzung der Algemeinen Welthistorie [...] 30. Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von J. S. Semler. Halle 1766 [668 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-55)]. 1759 Moralische Betrachtung über die Veränderungen in unseren Gegenden in den nächsten vier Wochen, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1759. Nr. 33, Sp. 537548; Nr. 34, Sp. 553-564. Siegm. Jac. BAUMGARTENS Unterricht von Auslegung der heil. Schrift ehemals für seine Zuhörer ausgefertiget. Neue und mit des sei. Verfassers hinterlassenen eigenhändigen Zusätzen und Anmerkungen vermehrte Auflage. Halle 1759 [262 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 16 S.)]. D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Erbauliche Erklärung der Psalmen. Erster Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. Johann Salomon Semlers. Halle 1759 [1252 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (16 S.) - Semlers Anmerkungen zu Baumgartens Text].12 D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Erbauliche Erklärung der Psalmen. Zweiter Theil. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. Johann Salomon Semlers. Nebst vollständigen Registern. Halle 1759 [1180 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 2 S.) - Semlers Erklärung des 112. Psalms (S. 598-611)].13 Christian Walburg's wohlsehendes Auge eines Christen nach der Ewigkeit. Mit einer Vorrede von Johann Salomo Semler. Halle 1759. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Kurzer Begrif der theologischen Streitigkeiten, zum academischen Gebrauch von neuem mit einer Vorrede von der heutigen Polemik herausgegeben von Johann Salomo Semler. Dritte und vermehrte Auflage. Halle 1759. Abfertigung der neuen Geister und alten Irrthiimer in der Lohmannischen Begeisterung nebst theologischem Unterricht von den leiblichen Besitzungen des Teufels und Bezauberung der Christen, Halle 1759. 1759-1760 D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Evangelische Glaubenslehre. Erster Band. Mit einigen Anmerkungen, Vorrede und historischen Einleitung herausgegeben von D. Johann Salomon Semler. Halle 1759 [948 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-26 und S. 139-144) - Semlers Historische Einleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit von ihrem Ursprung und ihrer Beschaffenheit bis auf unsere Zeiten (S. 34-138)] - Semlers bezifferte Anmerkungen zu Baumgartens Text].14 D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Evangelische Glaubenslehre. Zweiter Band. Mit einigen Anmerkungen, Vorrede und historischen Einleitung herausgegeben von D. Johann Salomon Semler. Halle 1760 [936 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3f.) - Semlers Fortsetzung der historischen Einleitung (S. 4-161)] - Semlers bezifferte Anmerkungen zu Baumgartens Text]. D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Evangelische Glaubenslehre. Dritter Band. Mit einigen Anmerkungen, Vorrede und historischen Einleitung herausgegeben von D. Johann Salomon Semler. Nebst vollständigen Registern. Halle 1760 [946 S.].

Vgl. hierzu Semlers Vorrede, S. 5. Vgl. hierzu Semlers Vorrede, S. 1. Zur genaueren Bestimmung der teils von Baumgarten, teils von Bertram und teils von Semler stammenden Anmerkungen vgl. Semlers Vorrede, S. 21 ff., und den Bericht Herrn Joachim Christoph Bertrams, S. 28f.

318

[Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3) - Semlers Hinleitung in die Dogmatische Gottesgelersamkeit (S. 4-148) - Semlers bezifferte Anmerkungen zu Baumgartens Text].

57a.

57b.

57c.

57d.

57e.

57f.

58.

59.

60.

61.

62. 63. 64.

15 16

1759-1770 Samlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen grössten Theils aus der britannischen Biographie übersetzt und unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. Johann Salomo Semlers herausgegeben. 5. Theil. Halle 1759 [879 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 11 S.)]. Samlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen [...] unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. J. S. Semlers herausgegeben. 6. Theil. Halle 1761 [756 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 7 S.)]. Samlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen [...] unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. J. S. Semlers herausgegeben. 7. Theil. Halle 1762 [758 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 7 S.)]. Samlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen [...] unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. J. S. Semlers herausgegeben. 8. Theil. Halle 1769 [724 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 6 S.)]. Samlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen [...] unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. J. S. Semlers herausgegeben. 9. Theil. Halle 1769 [708 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 8 S.)]. Samlung von merkwürdigen Lebensbeschreibungen [...] unter der Aufsicht und mit einer Vorrede D. J. S. Semlers herausgegeben. 10. Theil. Halle 1770 [704 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 12 S.]. 1760 Abfertigung der neuen Geister und alten Irtümer in der Lohmannischen Begeisterung zu Remberg nebst theologischen Unterricht von dem Ungrunde der gemeinen Meinung von leiblichen Besitzungen des Teufels und Bezauberungen der Christen. Zwote Auflage. Mit einem Anhange von den weitem historischen Umständen vermehret. Halle 1760 [40 + 328+ 112 SJ. Auszug einer Antwort auf eines eingebildeten Schriftstellers pium desiderium, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahre 1760. Nr. 3, Sp. 33-43; Nr. 4, Sp. 49-60; Nr. 5, Sp. 65-76; Nr. 6, Sp. 81-91; Nr. 7, Sp. 97-104.15 Abdruck des Torgischen Buchs aus einer gleichzeitigen handschriftlichen Urkunde nebst einem Auszuge der merkwürdigsten Stücke dieser handschriftlichen Samlung. Mit einer Vorrede herausgegeben von D. Johann Salomon Semler. Halle 1760 [44 + 324 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 1-44)]. Friedrich Eberhard BOYSENS kritische Erleuterungen des Grundtextes der heiligen Schriften Alten Testaments grössten Theils nach den Grundsätzen des Herrn Professor Michaelis. Mit einer Vorrede Herrn D. Johann Salomo Semlers. Erstes Stück. Halle 1760 [248 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 32 S.)]. Widerlegung G. Müller's Nachricht von einer begeisterten Weibsperson. Halle 1760 [88 S.]. WALBURGAS Erklärung des Vater Unser.16 Halle 1760 [Darin enthalten: Semlers Vorrede]. Remarks on the Egyptian History, In the first Part of the Universal History. By Johann Salomon Semler, in: A Suppelement to the English Universal History, Lately published in London [...] The Whole carefully translated from the Original German of the Eminent Dr. Baumgarten. Volume the First. London 1760, S. 105-175.

Emeut abgedruckt in: 65a, S. 321-416. Zitiert nach Semler, 128 (.Verzeichnis meiner Schriften', Abt. V, 1).

319

65a. 65b. 66a. 66b. 66c. 66d.

68.

69. 70. 71.

72.

73.

74.

18 19

1760-1769 Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, zu weiterer Beförderung des Fleisses angehender Gottesgelerten. Halle 1760 [176 S.]. Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik. Zweites Stück. Worin von dem hebräischen Text und den alten Uebersezungen gehandelt wird. Halle 1761 [S. 177-424], Hermeneutische Vorbereitung. Drittes Stück. Worin von dem griechischen Text und Handschriften der Evangelien Beobachtungen vorkommen. Halle 1765 [3% SJ. Hermeneutische Vorbereitung. Viertes Stück. Worin von dem griechischen Text und Handschriften der Briefe u.s.w. Beobachtungen vorkommen. Halle 1769 [400 SJ. 1761 Versuch den Gebrauch der Quellen in der Staats- und Kirchengeschichte der mitlern Zeiten zu erleichtem. Bey Gelegenheit der angefangenen Fortsetzung der Baumgartenschen Kirchengeschichte aufgesetzt. Halle 1761 [160 SJ. Abdruck einiger das Pium desiderium angehenden Briefe, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1761. Nr. 24, Sp. 369-380; Nr. 25, Sp. 385-395; Nr. 26, Sp. 401410; Nr. 27, Sp. 417-423. De vestigiis huius doctrinae in remotiori a nobis Asia vetustissimis. Halae 1761 [16 SJ. Explicado loci Joh. VII, 37-39. Halae 1761 [21 SJ. 19 Siegm. Jac. BAUMGARTENS Erleuterungen der im christlichen Concordienbuch enthaltenen symbolischen Schriften der evangelisch-lutherischen Kirche, nebst einem Anhange von den übrigen Bekenntnissen und feierlichen Lehrbüchern in gedachter Kirche. Zweite und mit Anmerkungen aus dem Vortrage des sei. Verfassers sehr vermehrte Auflage. Halle 1761 [496 + 56 S J [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-34) - Semlers mit S. signierte Anmerkungen]. D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Auslegung der beiden Briefe St. Pauli an die Corinthier mit Anmerkungen und einer Paraphrasi M. Johann August Nösselts öffentlichen Lehrers der heiligen Gottesgelersamkeit nebst einer Vorrede herausgegeben von D. Johann Salomon Semler. Halle 1761 [975 + 96 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-48)]. Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie. Herausgegeben von Johann Salomo Semler. Fünfter Theil. Halle 1761 [428 + 158 SJ [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-8) - Erleuterung der römischen Geschichte aus Kaisermünzen (S. 359-428) - Semlers Übersetzung „Ergänzungen der alten zumal asiatischen Geschichte aus morgenländischen Quellen" (S. 1-58) - Semlers Übersetzung und Auszug aus des Josephus erstem Buche wider den Apion, von dem Altertum des jüdischen Volkes (S. 61-131)]. Ioannes Salomo Semler [...] senatusque academicus [...] indicunt proposita brevi disputatione qua sententía expenditur quae exercitum caelestem deo hymnum dicentem Luc. II, 13.14. non angelos, sed triumphantis cives ecclesiae interpretatur. Halae 1761 [16 SJ.

67.

17

1760-1762 Eigne historische theologische Abhandlungen, nebst einer Vorrede vom Fanaticismo. Erste Samlung. Halle 1760 [416 S.].17 Historischtheologische Abhandlungen. Zweite Samlung. Halle 1762 [440 S.].

Enthält die Nummern 27,28,33,35,44,59. Erneut abgedruckt in: 158 (Programmala académica selecta). Emeut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta).

320

1762 Umständliche Untersuchung der dämonischen Leute oder so genannten Besessenen, nebst Beantwortung einiger Angriffe. Halle 1762 [272 S.]. Anmerkung über die Fortdauer mancher irrigen Meinungen über die Stelle 1. Joh. 5,7, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahre 1762. Nr. 48, Sp. 761-769; Nr. 49, Sp. 777-782; Nr. 50, Sp. 793-802; Nr. 51, Sp. 809-820. Volständiger Auszug aus der Kirchengeschichte der Christen, mit genauer Anzeige der Quellen. Zu Fortsetzung des Baumgartischen Auszugs. Vierter Theil. Halle 1762 [583 S.]. Daniel NEALS Geschichte der Puritaner oder protestantischen Nonconformisten nebst einer Nachricht von ihren Lehren, Versuchen der Kirchenverbesserung, ihren Leiden und dem Leben und Character ihrer vornehmsten Gottesgelehrten. Erster Theil. Von ihrem Ursprünge bis an den Tod der Königin Elisabet 1602. Aus dem Englischen übersetzt. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede Sr. Hochwürden Hrn. D. Johann Salomo Semlers. Halle 1762 [766 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 12 S.)]. D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Auslegung des Evangelii St. Johannis unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von Johann Salomo Semler. Halle 1762 [850 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 1-16)]. Ioann. Salomo Semler [...] De sancto dei non relinquendo in inferís, nec visuro coiruptionem, ad Psalmum XVI, 10. Halae 1762 [unpaginiert, 6. S.].

75. 76.

77.

78.

79.

80.

81a.

81b.

81c.

82.

20

1762-1764 D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Untersuchung Theologischer Streitigkeiten Erster Band. Mit einigen Anmerkungen, Vorrede und fortgesetzten Geschichte der christlichen Glaubenslehre herausgegeben von D. Johann Salomo Semler. Halle 1762 [747 S.] [Darin enthalten: -Semlers Vorrede (S. 3-10 u. 311-317) - Vorläufige Betrachtungen bey der Geschichte der christlichen Glaubenslehren (S. 11-311) - Semlers bezifferte Anmerkungen und in runde Klammern eingeschlossene Zusätze zu Baumgartens Text].20 D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Untersuchung Theologischer Streitigkeiten Zweiter Band. Mit einigen Anmerkungen, Vorrede und fortgesetzten Geschichte der christlichen Glaubenslehre herausgegeben von D. Johann Salomo Semler. Halle 1763 [792 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-13) - Historische Einleitung. Von dem dogmatischen Inhalt der Schriften der sogenannten Rechtgläubigen (S. 17-276) - Semlers in runde Klammem eingeschlossene Zusätze zu Baumgartens Text]. D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Untersuchung Theologischer Streitigkeiten. Dritter Band. Mit einigen Anmerkungen, Vorrede und fortgesetzten Geschichte der christlichen Glaubenslehre herausgegeben von D. Johann Salomo Semler. Halle 1764 [522 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-18) - Historische Einleitung (S. 21-332) - Semlers in runde Klammern eingeschlossene Zusätze zu Baumgartens Text]. 1763 Anmerkungen wider die Schrift Recherches sur l'origine du Despotisme oriental; in einem Glückwünschungsschreiben zu dem Jubelfest Sr. Hochw. Magnificenz Herrn D. und Oberconsistorialrath Burg. Halle 1763 [152 S.].

Zur Bestimmung der von Semler stammenden Anmerkungen und Zusätze vgl. Semlers Vorrede, S. 316f. und Bertrams Vorbericht, S. 318.

321

83.

D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Erklärung des Briefes an die Hebräer mit Herrn Andreas Gottlieb Maschens Anmerkungen und Paraphrasi auch D. Johann Salomon Semlers Beiträgen zu genauerer Einsicht dieses Briefs. Halle 1763 [8 + 150 + 538 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-8) - D. Johann Salomon Semlers Beiträge zu genauerer Einsicht des Briefes an die Hebräer (S. 1-150)].

84. 85. 86. 87a.

87b.

88.

89a. 89b.

91.

92a.

22

1764-1768 Historische und kritische Samlungen über die sogenannten Beweisstellen in der Dogmat i l Erstes Stück, über I Joh. 5,7. Halle und Helmstädt 1764 [429 S.]. Historische Samlungen über die Beweisstellen der Dogmatik. Zweites Stück. Nebst einem Anhange wider Herrn Senior Göze. Halle und Helmstädt 1768 [490 S.]. 1765 Versuch einiger neuen Beobachtungen über einige Stellen des Briefes an die Galater, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1765. Nr. 3, Sp. 41-51; Nr. 4, Sp. 65-75; Nr. 5, Sp. 81-90. Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie. Herausgegeben von Johann Salomo Semler. Sechster Theil. Halle 1765 [182 + 342 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-7) - Semlers Versuch einiger neuen Beobachtungen über die Verschiedenheit der Zahlen vom Alter der Welt zumal in der griechischen Übersetzung (S. 85-148) - Semlers Anmerkungen über einige Stellen in Jacksons chronologischen Altertümern (S. 149-171)].

90.

21

1764 Admonitio de observandis hebraicorum manuscriptorum membranis, quae tegendis aliis libris serviunt. Halae 1764 [24 S.].21 De Patrum quorumdam, έννοια, humana Christi natura impositum fuisse Diabolo. Halae 1764 [21 S.].22 Versuch einer Erläuterung einer alten Spur der Gothischen Uebersetzung. Halle 1764. Algemeine Geschichte der Ost- und westindischen Handlungsgesellschaften in Europa. Erster Theil. Aus dem Englischen übersetzt. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von Johann Salomo Semler. Halle 1764 [600 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 1-6)]. Algemeine Geschichte der Ost- und westindischen Handlungsgesellschaften in Europa. Zweiter Theil. Aus dem Englischen übersetzt. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede herausgegeben von Johann Salomo Semler. Halle 1764 [706 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-6)]. Joh. Jac. WETSTENII prolegomena in Novum Testamentum notas adiecit atque appendicene de vetustioribus latinis recensionibus, quae in variis codicibus supersunt Joh. Sal. Semler cum quibusdam characterum Graecorum et Latinorum in libris manuscriptis exemples. Halae 1764 [686 S.] [Darin enthalten: - Semlers Praefatio (S. III-XXIV) - Semlers Appendix (S. 583-686)].

1765-1766 Institutio brevior ad liberalem eruditionem theologicam. Liber primus. Halae 1765 [162 S.].

Erneut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta). Emeut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta).

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92b.

93.

94.

95.

96. 97. 98. 99. 100. 101.

102. 103.

104.

105.

106a.

23 24 25 26

Institutio brevior ad liberalem eruditionem theologicam. Liber secundus. Halae 1766 [182 S.]. 1766 D. Siegmund Jacob Baumgartens Geschichte der Religionspartheyen. Herausgegeben von D. Johann Salomon Semler. Halle 1766 [1335 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-21)]. Beitrag zur Ablehnung mancher Vorwürfe wider die christliche Religion, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1766, Nr. 17, Sp. 289-296; Nr. 18, Sp. 307-314; Nr. 19, Sp. 321-328; Nr. 20, Sp. 341-346. Genauere Untersuchung der schlechten Beschaffenheit des zu Alcala gedruckten griechischen neuen Testaments. Zur Widerlegung des Herrn Senior Götzens. Nebst kurzer Vergleichung des katholischen Drucks zu Mainz 1753. Halle 1766 [243 S.]. S. J. Baumgartenii Primae Lineae Breviarii antiquitatum christianarum in usum scholarum suarum ductae. Scholia multa addidit J. S. Semler. Halae 1766 [254 S.]. Brevis illustratio loci obscurioris I. Cor. XV, 51. Halae 1766 [19 SJ. 23 De liberali Doctoris S. S. Provincia. Halae 1766 [11 S.].24 De sapienti, quam Paulus secutus fuit, doctrinae oeconomia. Halae 1766 [21 S.].25 Illustratio quorundam quae ad historiam actum apostolorum faciunt. Halae 1766 [14 SJ. 26 Joh. Jac. WETSTENII libelli ad crisin atque interpretationem Novi Testamenti. Adiecta est recensio introductionis Bengelii ad crisin Novi Testamenti atque Glocestrii Ridley dissertatio, de Syriacarum Novi Foederis versionum indole atque usu. Pleraque observationibus illustravit D. Joh. Salomo Semler. Halae 1766 [339 S.] [Darin enthalten: - Semlers Praefatio (unpaginiert, 12 S.) - Semlers Observationes]. 1767 Apparatus ad liberalem Novi Testamenti interpretationem. Illustrationis exempla multa ex Epistola ad Romanos petita sunt. Halae 1767 [212 S.]. Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel in den älteren Zeiten; zur Beförderung des immer bessern Gebrauchs der Kirchenhistorie. Halle 1767 [72 SJ. D. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Auslegung der beiden Briefe Pauli an die Galater, Epheser, Philipper, Colosser, Philemon und Thessalonicher. Mit einigen Beyträgen herausgegeben von D. Johann Salomon Semler. Halle 1767 [1028 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-8) - D. Johann Salomon Semlers Beiträge zum genauem Verstände des Briefes an die Galater (S. 885-963) - D. Johann Salomon Semlers Beiträge zum genauem Verstände des Briefes an die Epheser (S. 964-990)]. Siegmund Jacob BAUMGARTENS Ausführlicher Vortrag der Theologischen Moral. Mit einer Vorrede Herrn D. Johann Salomo Semlers. Halle 1767 [1622 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 1-14)]. 1767-1769 Historiae ecclesiastica selecta capita cum epitome canonum excerptis dogmaticis et tabulis chronologicis. Tomus primus. Halae 1767 [487 SJ.

Emeut abgedruckt in: Emeut abgedruckt in: Emeut abgedruckt in: Emeut abgedruckt in:

158 (Programmata académica 158 (Programmata académica 158 (Programmata académica 158 (Programmata académica

selecta). selecta). selecta). selecta).

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106b. 106c.

107a. 107b. 107c. 107d.

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115. 116.

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Historiae ecclesiastica selecta capita cum epitome canonum excerptis dogmaticis et tabulis chronologicis. Tomus secundus. Secul. VII-XI. Halae 1769 [696 SJ. Historiae ecclesiastica selecta capita cum epitome canonum excerptis dogmaticis et tabulis chronologicis. Tomus tertius. Secul. XII-XV. Halae 1769 [418 + 307 SJ. 1767-1770 Hallische Samlungen zur Beförderung theologischer Gelehrsamkeit herausgegeben D. Joh. Sal. Semler. Erstes Stück. Halle 1767 [160 SJ. Hallische Samlungen zur Beförderung theologischer Gelehrsamkeit herausgegeben D. Joh. Sal. Semler. Zweytes Stück. Halle 1769 [144 SJ. Hallische Samlungen zur Beförderung theologischer Gelehrsamkeit herausgegeben D. Joh. Sal. Semler. Ersten Bandes drittes Stück. Halle 1770 [151 SJ. Hallische Samlungen zur Beförderung theologischer Gelehrsamkeit herausgegeben D. Joh. Sal. Semler. Ersten Bandes viertes Stück. Halle 1770 [142 SJ.

von von von von

1768 Commentatio brevis ad Rom. VIII, 3. Halae 1768 [13 SJ. 27 1769 Paraphrasis Epistolae ad Romanos cum notis, translatione vetusta, et dissertatione de appendice cap. XV. XVI. Halae 1769 [311 SJ. Untersuchung ob die Therapeuten zu den Christen des ersten Jahrhunderts gehören, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr 1769. Nr. 28, Sp. 489-497; Nr. 29, Sp. 513-522; Nr. 30, Sp. 529-539; Nr. 31, Sp. 545-554. Predigten von der Religion und von der heiligen Schrift gewissenhaften Liebhabern und Forschern der Wahrheit durch den Druck mitgetheilt.28 Mit einer Vorrede D. Joh. Sal. Semlers. Halle 1769 [262 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-12)]. Christliche freye Untersuchung über die so genannte Offenbarung Johannis, aus der nachgelassenen Handschrift eines fränkischen Gelehrten29 herausgegeben. Mit einigen Anmerkungen von D. Joh. Salomo Semler. Halle 176930 [314 SJ [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 26 S.) - Semlers bezifferte Anmerkungen]. Alberti SCHULTENSII Versio integra Proverbiorum Salomonis et in eadem commentarius quem in compendium redegit et observationibus criticis auxit Georg. Jo. Lud. Vogel. Praefatus est Jo. Salomo Semler. Halae 1769 [65 + 335 + 32 SJ [Darin enthalten: Semlers Praefatio (unpaginiert, 12 S.)]. 1770 Antwort auf eines Ungenannten beleidigende Recension in den jenaischen gelehrten Zeitungen, von dem wider ihn gerichteten jenaischen letzten Weynachtsprogramma. Nebst einigen neuen Erläuterungen über Röm. 9,5. Halle 1770 [54 SJ. Paraphrasis in primam Pauli ad Corinthios Epistolam. Cum notis et Latinarum translationum excerptis. Halae 1770 [540 S.]. Epistola ad clarissimum Joannem Jacobum Griesbachium de emendandis graecis V. T. interpretibus cum appendice ad programma Ienense. Halae 1770 [95 SJ.

Emeut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta). Anonym erschienen. Der Verfasser ist Friedrich Wilhelm Mascho. Anonym erschienen. Der Verfasser ist Georg Ludwig Oeder. Vgl. Semlers Vorrede zu Friedrich Andreas Stroth, Freymüthige Untersuchungen die Offenbarung Johannis betreffend. Halle 1771 (= 122). 2. Aufl., Halle 1776.

324

117. 118.

119a. 119b. 119c. 119d. 119e. 119f.

120.

121. 122.

123a. 123b. 124a. 124b.

125a.

31 32

Commentatici brevis ad locum Tertulliani de came Christi, cap. XIX. Halae 1770 [17 S.].31 M. J. Ν. Kiefers gerettete Vermutungen über das Compiutisela Ν. Testament. Gegen den Hrn. Senior Götz in Hamburg. Herausgegeben von D. Johann Salomo Semler. Halle 1770 [344 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 8 S.]. 1770-1776 Q. Set Flor. Tertulliani opera. Recensuit Joh. Salomo Semler. Vol. I. Halae 1770 [470 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 12 S.)]. Q. Set. Flor. Tertulliani opera. Recensuit Joh. Sal. Semler. Vol. II. Halae 1770 [424 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 6 S.)]. Q. Set. Flor. Tertulliani opera. Recensuit Joh. Sal. Semler. Vol. III. Halae 1770 [396 S.] [Darin enthalten: Semlers Praefatio (unpaginiert, 2 S.)]. Q. Set Flor. Tertulliani opera. Recensuit Joh. Sal. Semler. Vol. IV. Halae 1771 [436 S.]. Q. Set. Flor. Tertulliani opera. Recensuit Joh. Sal. Semler. Vol. V. Halae 1773 [382 S.] [Darin enthalten: Semlers dissertationum in Tertullianum (S. 219-380)]. Q. Sept. Flor. Tertulliani opera. Indices locorum ss. rerum et latinitatis Tertullianeae cum praefatione Jo. Salomonis Semleri. Vol. VI. Halae 1776 [538 S.] [Darin enthalten: Semlers Praefatio (S. III-XIV)]. 1771 Abhandlung über die rechtmäßige Freiheit der academischen theologischen Lehrart, in bescheidener Antwort auf Herrn Professor Danovs Sendschreiben, auch Beantwortung einiger Schriften über Röm. 9,5. Halle 1771 [266 S.].32 Nachricht von dem Codex Laureshamenis, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen, Nr. 46-48. F. A. STROTH, Freymüthige Untersuchungen die Offenbarung Johannis betreffend wider Herrn Prof. C. F. Schmid in Leipzig mit einer Vorrede Sr. Hochw. des Herrn D. J. S. Semler. Halle 1771 [288 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 12 S.)]. 1771-1772 Commentarli historici de antiquo christianorum statu. Tomus primus. Halae 1771 [356 S.]. Commentarionim historicorum de antiquo christianorum statu. Tomi secundi pars prima. Adjuncti sunt libelli alii vetusti. Halae 1772 [320 S.]. Paraphrasis Evangelii Johannis, cum notis et Cantabrigiensis codicis latino textu. Halae 1771 [404 + 144 S.]. Paraphrasis Evangelii Johannis, cum notis et Cantabrigiensis codicis latino textu. Pars secunda. Halae 1772 [436 S.]. 1771-1773 Johann SLEIDANS Reformations-Geschichte aus dem Lateinischen übersetzt. Genau durchgesehen, mit Courayers und einigen andern Anmerkungen wie auch verschiedenen Urkunden und einer Vorrede herausgegeben von D. Joh. Salomon Semler. Erster Theil. Halle 1771 [704 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-24) - Semlers Anmerkungen zu Sleidans und Courayers Text in der Vorrede (S. 13ff.) - Semlers in Klammern eingeschlossene Zusätze zu Sleidans Text - Anhang einiger Urkunden (zur Reformationsgeschichte) (S. 661-704)].

Erneut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta). Einige Exemplare haben einen .Anhang wegen des letzten Pfingstprogramma, so im Namen der Universität Jena, wegen meiner Erklärung von Röm. 9,5 geschrieben worden."

325

125b.

125c.

125d.

126a. 126b. 126c. 126d. 127. 128.

129. 130.

131.

132.

133.

33 34 35

Johann SLEIDANS Reformations-Geschichte aus dem Lateinischen übersetzt [...] Zweiter Theil. Halle 1771 [716 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-28) - Semlers Anmerkungen zu Sleidans Text in der Vorrede (S. 4ff.) -Semlers in Klammern eingeschlossene Zusätze zu Sleidans Text], Johann SLEIDANS Reformations-Geschichte aus dem Lateinischen übersetzt [...] Dritter Theil. Halle 1772 [664 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 22 S.) - Semlers Anmerkungen zu Sleidans Text in der Vorrede - Semlers in Klammern eingeschlossene Zusätze zu Sleidans Text], Johann SLEIDANS Reformations-Geschichte aus dem Lateinischen übersetzt [...] Vierter Theil. Halle 1773 [244 + 440 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-20) - Semlers Anmerkungen zu Sleidans Text in der Vorrede (S. 4ff.) - Semlers in Klammem eingeschlossene Zusätze zu Sleidans Text - Anhang einiger Urkunden (zur Reformationsgeschichte) (S. 381-440)]. 1771-1775 Abhandlung von freier Untersuchung des Canon; nebst einer Antwort auf die tübingische Vertheidigung der Apocalypsis. Halle 1771 [272 S.]." Abhandlung von freier Untersuchung des Canon; Zweiter Theil. Nebst Beantwortung einiger Recensionen des ersten Theils. Halle 1772 [608 S.]. Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Dritter Theil. Nebst Antwort auf eines ungenannten Naturalisten Sendschreiben. Halle 1773 [567 S.]. Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Vierter Theil. Halle 1775 [460 S.]. 1772 Ascetische Vorlesungen, zur Beförderung einer vernünftigen Anwendung der christlichen Religion. Erster Band.34 Halle 1772 [374 S.]. Zum Andenken einer würdigen Frau Frauen Christina Magdal. Philipp. Semlerin gebornen Döbnerin. Nebst einiger Nachricht seines eigenen Lebens und beigefügtem Verzeichnis sämtlicher Schriften von D. Johann Salomo Semler. Halle 1772 [195 S.]. Commentatio de cavenda molesta sedulitate sacra ad corrigendas quasdam Irenaei et Tertulliani sententias. Halae 1772 [11 S.].3S Animadversionum ad antiquiores scriptores rerum polonicarum specimen illustratur et illa quaestio nupera de Czecho et Lecho, in: Acta Societatis Jablonovianae. Vol. II. Lipsiae 1772, S. 1-62. Uebersetzung des Buchs Massoreth Hammasoreth. Unter Aufsicht und mit Anmerkungen D. Joh. Salomo Semlers. Halle 1772 [269 S.] [Darin enthalten: - Semlers Widmung an Moses Mendelssohn (12 S.) - Semlers Vorrede (16 S.) - Semlers bezifferte Anmerkungen]. 1773 Alex. Gotti. BAUMGARTENII Praelectiones theologiae dogmaticae, praefationem adiecit D. Io., Salom. Semler. Halae 1773 [352 S.] [Darin enthalten: Semlers Praefaüo (unpaginiert, 14 S.)]. Apparatus ad liberalem Veteris Testamenti interpretationem. Halae 1773.

Ist 1776 in einer zweiten, erweiterten Auflage erschienen; vgl. Nr. 143. Ein Zweiter Band ist nicht erschienen. Erneut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta).

326

134a. 134b. 134c.

135. 136.

137. 138.

139. 140.

141. 142. 143.

144.

145.

146a.

36 37

1773-1778 Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Erster Band. Bis 1400. Halle 1773 [668 S.]. Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Zweyter Band. Von 1400 bis 1600. Halle 1774 [692 S.]. Versuch eines fruchtbaren Auszugs aus der Kirchengeschichte. Dritter Band. Des 17ten Jahrhunderts erster Abschnitt. Halle 1778 [578 S.]. 1774 Institutio ad doctrinam Christianam liberaliter discendam, auditorum usui destinata. Halae 1774 [690 S.]. Samuel CLARKE, Die Schrift-Lehre von der Dreyeinigkeit, worin jede Stelle des Neuen Testaments, die diese Lehre angeht, besonders betrachtet, und die Gottheit unsers Hochgelobten Heilands nach den Schriften bewiesen und erklärt wird. Mit einer Vorrede Sr. Hochwürden des Herrn D. Johann Salomo Semlers. Nach der dritten vermehrten und verbesserten Auflage aus dem Englischen übersetzt. Frankfurt und Leipzig 1774 [546 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (unpaginiert, 50 S.)]. 1775 Apparatus ad libros symbolicos ecclesiae Lutheranae. Halae 1775 [440 S.]. Pelagli, sancti et eruditi monachi, Epistola ad Demetriadem cum aliis aliorum epistolis; Dan. Witby tractatus de imputatone divina peccati Adami posterie eius universis im reatum. Recensuit et notas addidit D. Jo. Salomo Semler. Halae 1775 [476 S.] [Darin enthalten: - Semlers Praefatio (unpaginiert, 31 S.)] - Semlers Notae]. Illustratio antiqui carminis ex Evangelio Hebraeorum. Halae 1775 [25 S.].36 De vario et impari vetenim studio in recolenda historia descensus ad inferos. Halae 1775 [33 S.].37 1776 Neue Untersuchungen über Apocalypsin. Dem verdienten Chorherm in Zürich Herrn Breitinger zugeeignet. Halle 1776 [216 S.]. Paraphrasis II. Epistolae ad Corinthios. Accessit latina vetus translatio et lectionum varietas. Halae 1776 [388 S.]. Abhandlung von freier Untersuchung des Canon; nebst Antwort auf die tübingische Vertheidigung der Apocalypsis. Erster Theil. Zweyte vermehrte Auflage. Halle 1776 [333 S.]. Hugo FARMERS Versuch über die Dämonischen des Neuen Testamentes. Aus dem Englischen übersetzt von L. F. A. von Cölln. Nebst einer Vorrede D. Joh. Sal. Semlers. Bremen und Leipzig 1776 [327 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. 3-38)]. Versuch einer biblischen Dämonologie, oder Untersuchung der Lehre der heil. Schrift vom Teufel und seiner Macht Mit einer Vorrede und einem Anhang von D. Johann Salomo Semler. Halle 1776 [359 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 32 S.). - Semlers Anhang (S. 313-359)]. Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen mit einigen vielen Anmerkungen herausgegeben von Johann Salomo Semler. Erstes Stück. Halle 1776 [291 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 26 S.) - Semlers Anmerkungen],

Erneut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta). Erneut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta).

327

146b.

147.

148.

149a.

149b.

149c.

150. 151. 152. 153.

154.

38 39

40 41

Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen; nebst vielen Anmerkungen herausgegeben von Johann Salomo Semler. Zweites Stück. Halle 1776 [364 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 34 S.) - Semlers Anmerkungen], Philosophia scripturae interpres. Exercitatio paradoxa, tertium edita et appendice Joachimi Camerarii aucta, cum notis variis et praefatione D. lo. Sal. Semleri. Halae 1776 [300 S.]. Umständliche Untersuchung der dämonischen Leute oder so genannten Besessenen, nebst Beantwortung einiger Angriffe, mit einem Anhange. Halle 1776.38 1776-1780 Richard SIMONS Kritische Schriften über das Neue Testament. Erster Theil. Welcher die kritische Historie des Textes des neuen Testaments enthält. Aus dem Französischen übersetzt von Heinrich Matthias August Cramer. Nebst einer Vorrede und mit Anmerkungen begleitet von D. Johann Salomon Semler. Halle 1776 [824 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. 3-18) -Zahlreiche, mit * versehene Anmerkungen Semlers].39 Richard SIMONS Kritische Schriften über das neue Testament. Zweyter Theil. Welcher die erste Abteilung von der kritischen Historie der Uebersetzungen des neuen Testaments enthält. Aus dem Französischen übersetzt von Heinrich Matthias August Cramer. Mit einer Vorrede und Anmerkungen von D. Johann Salomon Semler. Halle 1777 [726 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. VII-XII) - Zahlreiche, mit * versehene Anmerkungen Semlers], Richard SIMONS Kritische Schriften über das neue Testament. Dritter Theil. Welcher die zweyte Abtheilung von der kritischen Historie der Uebersetzung des neuen Testaments enthält. Aus dem Französischen übersetzt von Heinrich Matthias August Cramer. Mit einer Vorrede und Anmerkungen von D. Johann Salomon Semler. Halle 1780 [690 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. V-LVIII) - Zahlreiche, mit * versehene Anmerkungen Semlers]. 1777 Versuch einer freiem theologischen Lehrart, zur Bestätigung und Erläuterung seines lateinischen Buchs. Halle 1777 [696 SJ. Ausfürliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen. Seinen Schülern zugeeignet. Halle 1777 [348 SJ. Dispulatiuncula des δεσποσυνοις. Halle 1777 [25 S.].40 Desiderii ERASMI Roterodami Ratio, seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam; recensuit et illustravit J. S. Semler. Halae 1777.41 1778 D. Arthur Ashley SYKES Versuch über die Natur, Absicht und den Ursprung der Opfer. Aus dem Englischen übersetzt. Mit Anmerkungen, Zusätzen und Vorrede von D. Johann Salomo Semler. Halle 1778 [388 SJ [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 36 S.) - Semlers bezifferte Anmerkungen zu Sykes Text

1. Auflage vgl. 75. Zur genaueren Bestimmung der von Semler stammenden Anmerkungen vgl. Semlers Vorrede, S. 15 sowie die Vorrede des Übersetzers, S. 21. Emeut abgedruckt in: 158 (Programmata académica selecta). Eine Neuauflage erschien 1782.

328

- Semlers Zusätze aus einer Examination dieses Essay on the Nature, design and Origin of sacrifices (S. 341-388)].

155.

156. 157. 158. 159. 160.

161.

162. 163.

164.

165. 166.

167.

42 45 44

45

46

1779 Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger. Halle 1779 [452 + 32 S.]. Anhang zur Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten.42 Bekant gemacht von D. Joh. Salomo Semler.43 Halle 1779 [32 S.]. Antwort auf das Bahrdische Glaubensbekenntnis. Halle 1779 [119 S.]. Paraphrasis Epistolae ad Galatas cum prolegomenis, notis, et varietate lectionis latinae. Halae 1779 [451 S.]. Programmata académica selecta. Hic ibi auctiora. Halae 1779 [430 S.].44 Praemissa interpretatione loci in Cerimoniali Byzantino, qui το Γοτθικον commémorât Halae 1770 [16 S.]. Das Bahrdtische Glaubensbekenntnis widerlegt von D. Johann Salomo Semler, nebst den beiden Gutachten der theologischen Facultäten zu Würzburg und Göttingen über das Bahrdtische N. Testament im Auszug, wie dies alles enthalten ist in den Gemeinnützigen Betrachtungen der neuesten Schriften d. J. Viertes Stück, Nro. XCII. Erlangen 1779 [56 S.].45 Paraphrasis des Briefs an die Hebräer. Aus dem Englischen des Arthur Ashley SYKES übersetzt. Mit vielen Anmerkungen von D. Johann Salomo Semler. Halle 1779 [600 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 14 S.) - Semlers numerierte Anmerkungen], Ioann. Salomo Semler [...] De Christo spiritum sanctum per insufflationem cum discipulis suis communicante, ad Ioann. XX, 22. Halae 1779 [unpaginiert, 6 S.]. Ioannis Salomonis Semleri commentatio des daemoniacis quorum in N. T. fit mentio. Editio quarta multo iam auctor. Halae 1779 [126 S.]. 1780 Hrn. Caspar Lavaters und eines Ungenannten Urtheile über Hrn. C. R. Steinbarts System des reinen Christentums. Mit vielen Zusätzen von D. Joh. Sal. Semler. Halle 1780 [174 S.]. D. Joh. Salomo Semlers aufrichtige Antwort, auf Herrn Basedows Urkunde. Halle 1780 [236 S.]. Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger. Andere, verbesserte Auflage. Halle 1780 [432 + 24 S.]. Anhang zur Beantwortung der Fragmente des Ungenanten.46 Bekant gemacht von D. Joh. Salomo Semler. Halle 1780 [24 S.]. Joh. Moritz Schwager, Beytrag zur Geschichte der Intoleranz oder Leben, Meynungen und Schicksale des ehemaligen Doct. der Theologie und reformirten Predigers in Am-

Der Anhang stammt von Johann August Eberhard. Ist 1780 in einer zweiten, verbesserten Auflage erschienen; vgl. 166. Enthält die Nummern 25, 29, 30, 69, 70, 84, 85, 97, 98, 99, 100, 108, 117, 129, 139, 140, 152. Die in 160 genannten Gutachten sind im gleichen Jahr, aber ohne Ortsangabe [Wien ?], zusammen mit den Anweisungen des kaiserlichen Reichshofrats Ignaz von Hofmann unter dem Titel erschienen: Gutachten zweyer theologischen Facultäten der Würzburgischen und Göttingschen auf allerhöchsten Befehl Sr. Kayserlichen Majestät über die Ubereinstimmung Herrn D. Bahrdts zu Heidesheim, mit dem reichsgesetzmäßigen Lehrsystemen ausgefertiget (1779). Der von einem ungenannten Gelehrten (Johann August Eberhard) stammende „Anhang", auf den am Ende der Vorrede hingewiesen wird, ist in mehreren Ausgaben der 2. Auflage nicht enthalten.

329

168. 169.

170.

171a.

171b.

171c.

172. 173. 174.

175a.

175b.

47 48 49

sterdam Balthasar Bekkers meist nach kirchlichen Urkunden. Mit einer Vorrede Hrn. DOCL Joh. Salomo Semlers. Leipzig 1780 [92 + 190 S.] [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. I-LXXXXII)]. De difficultate theologiae provinciae, quaedam liberaliter exponit. Halae 1780 [14 S.]. Neues Elementarwerk für die niedem Klassen Lateinischer Schulen und Gymnasien. Nach einem zusammenhängenden und auf die Lesung klassischer Autoren in den obem Klassen, wie auch auf die übrigen Vorerkenntnisse künftiger Studirenden gründlich vorbereitenden Plane. Herausgegeben von D. Johann Salomo Semler und Christian Gottfried Schütz. Halle 1780. Friedrich Wilhelm Mascho, Predigten von der Religion und von der heiligen Schrift. Mit einer Vorrede des Herrn D. Semlers. Zweyte um die Helfte vermehrte Ausgabe. Hamburg 1780.47 1780-1781 Magazin für die Religion. Erster Theil. Mit Zusätzen und einer Vorrede herausgegeben von D. Johann Salomo Semler. Halle 1780 [400 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 45 S.) - Semlers bezifferte Anmerkungen zu Aufsätzen anderer Verfasser - Semlers Antworten auf den anonymen Aufsatz: Das Christentum des Paulus, entwikkelt bey Gelegenheit des Eybelischen Processes (S. 321-400)]. Magazin für die Religion. Zweiter Theil. Mit Zusätzen und einer Vorrede herausgegeben von D. Johann Salomo Semler. Halle 1780 [398 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 30 S.) - Semlers bezifferte Anmerkungen zu Aufsätzen anderer Verfasser - Semlers Abhandlung: Einwürfe des Celsus wider das Christentum (S. 171-398)]. Magazin für die Religion. Dritter Theil. Mit Zusätzen und einer Vorrede herausgegeben von D. Johann Salomo Semler. Halle 1781 [420 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 10 S.) - Semlers Vorläufige Nachricht zum ersten Aufsatz (S. 3-11) - Semlers bezifferte Anmerkungen zu Aufsätzen anderer Verfasser - Semlers Abhandlung: Fortsetzung der Einwürfe des Celsus, und Antworten des Orígenes (S. 279-380). - Semlers Antwort auf einige vorgelegte Fragen (S. 381-420)]. 1781 Paraphrasis Epistolae Iacobi, cum notis et latinarum translationum varietate. Halae 1781 [280 S.].4* IUustratio carminis Ephes. 1,9.10. Halae 1781 [16 S.]. D. Joh. Salomo Semlers Erklärung auf eine Nachricht im 97sten Stück der gothaischen gelehrten Zeitungen. Halle 1781 [14 S.]. 1781-1782 D. Balthasar BEKKERS bezauberte Welt. Neu übersetzt von Johann Moritz Schwager. Durchgesehen und vermehrt von D. Johann Salomo Semler. Erster Band. Leipzig 1781 [464 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 6 S.) - Semlers bezifferte Anmerkungen am Ende der einzelnen Kapitel].49 D. Balthasar BEKKERS bezauberte Welt [...] Zweiter Band. Leipzig 1781 [474 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 6 S.) - Semlers bezifferte Anmerkungen am Ende der einzelnen Kapitel].

1. Auflage vgl. 111. Vgl. 243. Zur Bestimmung der von Semler stammenden Anmerkungen vgl. Semlers Vorrede, S. 10.

330

175c.

176a. 176b. 177a. 177b. 177c.

178a.

178b.

179.

180. 181. 182. 183.

184. 185. 186. 187. 188. 189.

50 51 52 53

D. Balthasar BEKKERS bezauberte Welt [...] Dritter Band. Leipzig 1782 [716 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 10 S.) - Semlers bezifferte Anmerkungen am Ende der einzelnen Kapitel]. D. Joh. Salomo Semlers Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Erster Theil. Halle 1781 [352 S.]. D. Joh. Salomo Semlers Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Zweiter Theil. Halle 1782 [384 S.]. Theologische Briefe. Erste Samlung. Leipzig 1781 [228 S.]. Theologische Briefe. Zweite Samlung. Worin besonders die neue Apologie der Apokalypsis beantwortet wird. Leipzig 1781 [244 S.]. Theologische Briefe. Dritte Samlung. Nebst einem Versuch über den freien Ursprung der christlichen Religion. Leipzig 1782 [276 S.]. 1781-1785 Neues Elementarwerk für die niedem Klassen lateinischer Schulen und Gymnasien.50 Theil 6. Herausgegeben von D. Johann Salomo Semler und Christian Gottfried Schütz. Halle 1781 [328 SJ. Neues Elementarwerk für die niedern Klassen lateinischer Schulen und Gymnasien.si Theil 11. Herausgegeben von D. Johann Salomo Semler und Christian Gottfried Schütz. Halle 1785 [350 SJ. 1782 Historische Abhandlung über einige Gegenstände der mittlem Zeit bey Gelegenheit eines Aufsatzes, der in München das Accessit erhalten. Dessau und Leipzig 1782 [368 SJ. 32 Versuch eines Diariums über die Oekonomie mancher Insecten im Winter. Halle 1782. Fortsetzung des Diariums über die Oekonomie mancher Insecten im Sommer. Halle 1782 [84 SJ. Sammlungen zur Geschichte der Formschneidekunst in Teutschland; herausgegeben von D. Joh. Salomo Semler. Erstes Stück.53 Leipzig 1782 [166 SJ. Semlers Praefatio, in: Desiderii ERASMI Roterodami, Ratio s. methodus verae theologiae; recensuit et ilhistravit. Halae 1782. 1783 Zusäze zu Lord Barringtons Versuch über das Christentum und den Deismus. Allen innerlichen Christen und tugendhaften Deisten zugeeignet. Halle 1783 [288 SJ. Freimütige Briefe über die Religionsvereinigung der dreien streitigen Theile im römischen Reiche. Erste Samlung. Leipzig 1783 [340 SJ. Zusätze zu Herrn O. C. R. Tellers Schrift über Herrn D. Emesti Verdienste. Halle 1783 [148 SJ. Nachlese zur Bonnetischen Insektologie. Erstes Stück. Nebst Anzeige einiger neuen Beobachtungen. Halle 1783 [166 SJ. Paraphrasis in Epistolam I. Petri, cum latinae translations varietate et multis notis. Halae 1783 [245 SJ. Hugh FARMER'S Briefe an D. Worthington über die Dämonischen in den Evangelien. Mit Zusäzen und einer Vorrede, den Begriff von Inspiration zu bessern, von D. Joh. Sal. Semler. Halle 1783 [340 S J [Darin enthalten:

Enthält das lateinische Lesebuch für den zweiten Cursus oder die siebente Klasse. Enthält das lateinische Lesebuch für den dritten Cursus. Neue, unveränderte Auflage 1794. Ein weiteres Stück ist nicht erschienen.

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190.

191. 192.

193a.

193b.

194a. 194b.

195. 196.

197.

198.

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- Semlers Vorrede (S. XI-XXXX) - Semlers numerierte Zusätze]. Johann KIDDEL'S Abhandlung von Eingebung der heiligen Schrift, mit vielen freiem Zusätzen von D. Johann Salomo Semler. Nebst einem Anhange über das Buch Esther.54 Halle 1783 [328 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. IX-XXXII) - Semlers numerierte Zusätze]. D. Io. Salom. Semleri commentatio de duplici evangelio, Galat. 2,7. Memoriam nati Iesu Christi commendat. Halae 1783 [15 S.]. Cebes Gemälde und Epictet's Handbuch griechisch, nebst einem griechisch-deutschen Wort- und Sach-Register, für Schulen und Gymnasien, herausgegeben von M. J. H. Jacobi. Mit einer Vorrede Sr. Hochwürden des Herrn D. Johann Salomo Semler. Hamburg 178355 [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. VII-XXXX)]. 1783-1784 Thomas TOWNSONs Abhandlungen über die vier Evangelien. Erster Theil. Mit vielen Zusätzen und einer Vorrede über Markions Evangelium; von D. Joh. Salomo Semler. Leipzig 1783 [416 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 52 S.) - Semlers numerierte Zusätze zu Townsons Text]. Thomas TOWNSONs Abhandlungen über die vier Evangelien. Zweyter Theil. Mit Anmerkungen und einer Vorrede von der Freiheit der Christen in allen Kirchen, herausgegeben von D. Joh. Salomo Semler. Leipzig 1784 [288 S.] [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (S. ΠΙ-LXIV) - Semlers numerierte Zusätze zu Townsons Text]. 1783-1786 Versuch christlicher Jahrbücher oder ausführlicher Tabellen über die Kirchenhistorie. Erster Theil. Bis aufs Jahr 900. Halle 1783 [351 S.]. Versuch christlicher Jahrbücher oder ausführlicher Tabellen über die Kirchenhistorie. Zweiter und lezter Theil. Bis aufs Jahr 1500. Halle 1786 [404 SJ. 1784 Novae observationes, quibus studiosis illustrantur potiora capita Historiae et Religionis Christianae usque ad Constantinum M. Halae 1784 [230 S.]. Ob der Geist des Widerchrists unser Zeitalter auszeichne? In freimütigen Briefen zur Erleichterung der Privatreligion der Christen beantwortet von D. Joh. Sal. Semler. Halle 1784 [6+ 38 +212 S.]. Paraphrasis in Epistolam II. Petri et Epistolam Judae, cum vetustae latinae translationis varietate, notis multis et praefatione, ad illustrandam originem catholicae ecclesiae. Halae 1784 [265 S.]. Selbstgeständnisse des Herrn Doktor Semler von seinem Charakter und Erziehung, in: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ o d a Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Carl Philipp Moritz. Zweiten Bandes erstes Stück. Berlin 1784, S. 96-114.56

Der Anhang über das Buch Esther stammt weder von Johann Kiddel noch von Semler, sondern von einem nicht namentlich genannten schweizerischen Gelehrten; vgl. Semlers Vorrede, S. XXXII. 2. Aufl. 1786. Bei dem Semler betreffenden Abschnitt dieser Schrift handelt es sich um Auszüge des Herausgebers aus Johann Salomo Semlers Autobiographie (176a).

332

1785 199. 200.

Beylage zu Henil M. Masii Sendschreiben von D. Joh. Sal. Semler. Halle 1785 [64 S J . Ad illustrem virum Samuel Formey epistola D. Jo. Salomonis Semleri. Adjuncta est narratio de novis, ut videntur, phaenomenis quibusdam mineralibus. Halae 1785 [48 S.].

201.

Zusätze zu der teutschen Übersetzung von Fludds Schutzschrift für die Rosenkreuzer. Halle 1785 [32 + 212 S J . Commentatio ad illustranda capita religionis christianae histórica ex I. ad Timoth. 3,16. Halae 1785 [16 S J .

202.

203. 204.

1786 Neuer Versuch die gemeinniizige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern. Halle 1786 [298 S J . Briefe an einen Freund in der Schweiz über den Hirtenbrief der unbekannten Obern des Freimaurerordens alten Systems. Leipzig 1786 [156 S.].

205.

Ueber historische, geselschaftliche und moralische Religion der Christen. Leipzig 1786 [247 S J .

206.

Vorläufige Antwort auf eines Naturalisten unbillige Prüfung der vertrauten Briefe über die Religion. Halle 1786 [142 S J .

207.

Von ächter hermetischer Arzenei. An Herrn Leopold Baron Hirschen in Dresden. Wider falsche Maurer und Rosenkreuzer. Leipzig 1786 [84 S.]. Ueber ächte hermetische Arzenei, zweites Stück. Zur Verteidigung des Luftsalzwassers wider die Anzeige in der Stettinischen Zeitung und in der Berlinischen Monatsschrift, April. Von Dr. Joh. Sal. Semler. Leipzig 1786 [S. 85-195].

208.

209.

Von ächter hermetischer Arzenei. Antwort auf Herrn Hofrath Karstens Abhandlung. Drittes Stück. Leipzig 1786 [S. 197-348].

210.

An die Herren Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, in: Berlinische Monatsschrift, herausgegeben von F. Gedike und J. E. Biester, VIII. Band. Berlin 1786, S. 174— 179. Parodie auf Lavaters Empfindungen eines Protestanten in einer katholischen Kirche. Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Berlinische Monatsschrift. VIII. Band. Berlin 1786, S. 457-469.

211.

212.

Joh. Conrad MÜLLER, Historisches Handbuch in Abhandlungen und Auszügen von den merkwürdigsten Veränderungen und Schiksalen der christlichen Kirche und der Religion für wissbegierige Lehrer in Volksschulen und für Freunde der Geschichte. Mit einer Vorrede begleitet von D. Joh. Salomo Semler. Erster Band. Leipzig 1786 [348 S J [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. III-XVI)].

213.

D. Io. Salom. Semleri, admonitio de discrimine christianorum, qui historiam Christi discunt Κ Α Τ Α Σ Α Ρ Κ Α et Κ Α Τ Α Π Ν Ε Υ Μ Α . Halae 1786 [20 S J . Historiam Actor. II. seu initia publicae religionis christianae illustrât D. lo. Salomo Semler. Halae 1786 [15 S J .

214.

215a. 215b. 215c. 215d. 216.

1786-1788 Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Erstes Stück. Leipzig 1786 [182 S J . Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Zweites Stück. Leipzig 1787 [179 S J . Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Drittes Stück. Leipzig 1788 [204 S J . Unparteiische Samlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Viertes Stück. Leipzig 1788 [196 S J . Gemeinnützige Aufsätze für alle Stände, von einer Gesellschaft Gelehrten in Halle, herausgegeben von Johann Salomo Semler. Bände 1 - 4 [= 1.-51. Stück]. Halle 17861788.

333

217. 218. 219.

220. 221. 222.

223. 224. 225. 226. 227. 228.

229.

230.

231. 232. 233. 234.

57

1787 Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi. Halle 1787 [164 SJ. Unterhaltungen mit Herrn Lavater, über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie. Leipzig 1787 [471 SJ. Versuch einer neuen Aufgabe über die gemeinnützige Absicht des Erdichters der Geschichte von Siebzig in ihren Uebersetzungen des Alten Testaments aufs genaueste miteinander harmonierenden Dolmetschern, in: Magazin für das Kirchenrecht, die Kirchenund Gelehrten-Geschichte nebst Beiträgen zur Menschenkenntnis überhaupt. Herausgegeben von Georg Wilhelm Böhmer. Erster Band. Göttingen 1787, S. 385-3%. An die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, in: Berlinische Monatsschrift. IX. Band. Berlin 1787, S. 302-306. Litterarischer Beitrag zur Erforschung der Quelle der neuesten Wunderkräfte, in: Berlinische Monatsschrift. X. Band. Berlin 1787, S. 69-76. Des Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogue von der Uebereinstimmung oder Einheit des Glaubens. Mit Zusätzen von D. Joh. Sal. Semler. Leipzig 1787 [227 SJ [Darin enthalten: - Semlers Vorrede (unpaginiert, 46 S.) - Semlers bezifferte Zusätze zum Text des Cusaners]. 1788 Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik und Dogmatik. Erster Beitrag. Halle 1788 [131 SJ. Vertheidigung des Königl. Edikts vom 9"° Jul. 1788 wider die freimüthigen Betrachtungen eines Ungenannten. Halle 1788 [152 SJ. Auch über den vorgeblichen Calvinismus in Göttingen. Sr. Königlichen Hoheit dem Kronprinz von Preussen zugeeignet von D. Joh. Sal. Semler. Halle 1788 [102 S.]. Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. Leipzig 1788 [246 SJ. Schreiben an Hm. Baron von Hirschen zur Vertheidigung des Luftsalzes. Leipzig 1788 [47 SJ. Beitrag zur Berliner Monatsschrift des Januar 1788, in: Magazin für das Kirchenrecht, die Kirchen- und Gelehrten-Geschichte nebst Beiträgen zur Menschenkenntnis überhaupt. Herausgegeben von Georg Wilhelm Böhmer. Zweiter Band. Göttingen 1788, S. 169-182. An H. R. Campe, in: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts. Herausgegeben von E. Chr. Trapp [...] und J. Heinr. Campe. Fünftes Stück. Mai 1788, S. 18-35. Auszug aus dem Neuen Testament mit erläuternden Anmerkungen zum Gebrauch für aufgeklärte Bibelfreunde oder solche, die es werden wollen. Unter der Aufsicht und mit einer Vorrede begleitet von D. Johann Salomo Semler. Erstes Bändchen enthaltend den Auszug aus den vier Evangelien.57 Halle 1788 [231 SJ [Darin enthalten: Semlers Vorrede (S. III-XX)]. Schreiben eines Kandidati Ministerii über das Edikt vom 9ten Jul. an D. J. S. Semler, nebst dessen freymüthiger Antwort. Ein Wort an alle Studiosos theologiae. Halle 1788. An die Herren Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, in: Berlinische Monatsschrift. XII. Band. Berlin 1788, S. 374-378. Anzeige, in: Berlinische Monatsschrift. XII. Band. Berlin 1788, S. 584. Schreiben an den Baron von Hirschen, nebst historischen Bemerkungen über Cagliostro, in: Archiv der Schwärmerey und Aufklärung. Band 2. Stück 1. Hamburg 1788.

Anonym erschienen. Der Verfasser ist ein schlesischer Gelehrter.

334

235.

236. 237. 238.

239. 240. 241. 242. 243.

244.

245. 246.

247. 248.

58 59

Einige Anmerkungen über die verschiedenen Nachrichten von Swedenborgs Charakter, im April der Berlinischen Monatsschrift, in: Archiv der Schwärmerey und Aufklärung. Band 2. Stück 5. Hamburg 1788. [Schreiben] An seine Königliche Hoheit Prinz Ferdinand von Preussen, von Johann Sal. Semler als er dreizehn Grahne Luftgold unterthänigst einschickte. Halle 1788. D. Joh. Sal. Semler hermetische Briefe wider Vorurtheile und Betrügereien. Erste Samlung. Leipzig 1788 [144 S.]. Joh. Sal. Semlers Anmerkungen zu dem Schreiben an Se. Excell. von Wöllner in Herrn D. Erhards „Amalthea", erstem Stück, num. V. Halle 1788. 1789 Erklärung über die neue chemische Untersuchung des Luftgoldes, in: Berlinische Monatsschrift. XIII. Band. Berlin 1789, S. 575. Schreiben an die Herrn Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, in: Berlinische Monatsschrift. XIII. Band. Berlin 1789, S. 576-580. Goldfinderei, in: Berlinische Monatsschrift. XVI. Band. Berlin 1789, S. 179f. Eclogae ex Ciceronis libello de senectute, quibus Fridericianae Magistratum III. suscepturus, commilitonibus se commendai D. Jo. Salomo Semler. Halae 1789 [16 S.]. Umschreibung und Erklärung des Briefes Jacobi. Aus dem Lateinischen frei übersetzt, mit manchen Abänderungen und erweitert herausgegeben. Potsdam 1789 [LXXII u. 466 S.].58 1790 Zu dem Aufsatz: Ueber Religion und Theologie, der im Decemberstück des Berlin. Journals für Aufklärung angefangen worden, in: Berlinisches Journal für Aufklärung. Herausgegeben von A. Riem. Achten Bandes drittes Stück. September 1790, S. 209-255. Erste Samlung von Anzeigen an alle gute Einwohner von Halle, seit den schandvollen Thaten falscher, unwürdiger Studenten, am 21. und 22 Junii. Halle 1790 [8 S.]. Zusatz zur ersten Anzeige von den unruhigen Tagen, 21. und 22. Junius. Halle 1790 [8 S.]. 1791 Einige Betrachtungen über die bisherige Streitigkeit zwischen Christen und Naturalisten, in: Berlinische Monatsschrift. XVII. Band. Berlin 1791, S. 295-312. Ueber die Königs-Probe im neuen teutschen Merkur,59 in: Der Neue Teutsche Merkur vom Jahre 1791, herausgegeben von C. M. Wieland. Bd. I. Weimar 1791, S. 182-192.

Vgl. 172. Folgende Gründe sprechen für die Annahme, daß dieser anonym erschienene Aufsatz von Semler stammt: 1) Friedrich August Wolf erklärt: „Nachmittags [am 24. Februar 1791] ließ er [Semler] sich verschiedenes aus Zeitungen und Journalen vorlesen, und sah mit Vergnügen im Febr. des deutschen Merkurs einen Aufsatz abgedruckt, den er an Wieland anonymisch geschickt hatte; das letzte, was er für den unmittelbaren Druck geschrieben"; vgl. ders., Über Herrn D. Semlers letzte Lebenstage, in: Vermischte Schriften und Aufsätze in lateinischer und deutscher Sprache. Halle 1802, S. 228. - 2) Die Allgemeine deutsche Bibliothek berichtet, daß Semler einen „anonymischen Aufsatz im Februar des Wielandischen deutschen Merkur 1791" veröffentlicht hat; vgl. Bd. 115, S. 496. - 3) Der einzige anonyme Aufsatz, der sich in der Februamummer des Neuen Teutschen Merkur vom Jahre 1791 befindet, ist der oben genannte. - 4) Gedankeninhalt, Ausdrucksweise und Stil dieses anonymen Aufsatzes stimmen mit den Schriften des älteren Semler überein.

335

249.

250.

1792 D. Joh. Salomo Semlers letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion. Mit einer Vorrede herausgegeben von Chr. Gottfr. Schütz. Königsberg 1792 [382 S.]. Paraphrasis in primam Ioannis epistolam cum prolegomenis et animadversionibus. Accessit de lo. Sal. Semlero eiusque ingenio inprimis et meritis in interpretationem ss. scripturarum narratio Ioannis August Noesselti. Rigae 1792 [352 S.].

2. Verzeichnis der unter Semlers Vorsitz verteidigten Dissertationen 251.

1754 Dissertatio historico-theologica De regeneratione monastica ad illustrandos libros symbolicos. Resp. M. C. G. WEISSIG. Halae 1754 [46 S.].60

252.

1756 Dissertatio historico-hermeneutica De VII. regulis Tychonii ad interpretandam S.S. Auct. J. L. F. SYBEL. Halae 1756 [27 SJ.

253.

254.

255.

256.

257.

258.

259.

260.

60

1757 Dissertatio theologica De imagine divina in homine per lapsum perdita. Auct. Th. J. DITMAR. Halae 1757 [40 S.]. Commentatio theologica De actionibus indifferentibus. AucL P. L. CHRYSANDER. Halae 1757 [30 SJ. 1758 Dissertatio theologica De praestantia theologiae acroamaticae prae sic dieta biblica. Auct. J. Th. A. JOCKENACK. Halae 1758 [47 SJ. Dissertatio theologica De argumentis pro animae immortalitate in veteri testamento. Auct. J. A. STELLING. Halae 1758 [36 SJ. Specimen academicum De cautione circa mysticorum términos insolentes ipsisque proprios adhibenda. AucL J. KIRCKHEFER. Halae 1758 [44 SJ. 1759 Commentatio De infelicitate hominum praesenti, teste contra naturalismum, pro illa recuperandae salutis via, quam Christi doctrina ostendit. Auct. R. Fr. O. HEINZELMANN. Halae 1759 [52 SJ. Dissertatio histórica De Christi ad Abgarum epistola. Auct. J. E. Chr. HEINE. Halae 1759 [32 SJ; editio altera. Halae 1768. Dissertatio Sistens coniecturas criticas de aetate codicis Alexandrini. Auct. A. G. JORKE. Halae 1759 [52 SJ.

In freier Übersetzung emeut abgedruckt in 65a.

336

261.

262.

263.

264.

Dissertatici theologica De peccato in spiritum sanctum. Auct. G. Chr. FASTENAU. Halae 1759 [48 S.]. 1760 Commentatio theologica De imagine divina in humana Christi natura. Auct. C. Chr. THIME. Halae 1760 [48 S.]. Dissertatio historico-theologica De mysticarum interpretationum studio ab Aegyptiis patribus maxime repetendo, hodie parum utili. Auct. J. Chr. CÖSTER. Halae 1760 [40 S.]. Dissertatio theologico-hermeneutica De daemoniacis quorum in Evangeliis fit mentio. Resp. Chr. E. BETKE. Halae 1760 [56 SJ; editio altera 1769.61

265.

1761 Dissertatio philologico-theologica Quod graece epistolam ad Hebraeos Paulus exaraverit. Auct. C. G. NEIDEL. Halae 1761 [36 SJ.

266.

1762 Dissertatio historico-ecclesiastica De primis initiis Christianae inter Russos religionis. Auct. J. SCHULTCORDES. Halae 1762 [30 SJ.

267.

1765 Specimen primum Antiquitatum hermeneuticarum ex Tertulliano, quibus N. Test, loca quaedam illustrai)· tur. Auct. J. Fr. KIPP. Halae 1765 [28 SJ.

268.

269.

270.

271.

1767 Dissertatio historico-exegetica De tempore, quo scripta fuerit epistola Pauli ad Galatas. Resp. J. G. A. LETSCH. Halae 1767; editio altera 1768. Dissertatio historico-exegetica De tempore quo scripta fuerit epistola Pauli ad Romanos. Auct. Chr. E. KÜHZE. Halae 1767 [20 SJ. Dissertatio historico-hermeneutica De duplici epistolae ad Romanos appendice capite XV, XVI. Auct. J. B. G. KEGGERMANN. Halae 1767 [24 SJ. Dissertatio historico-exegetica Initia societatis Christianae Antiochiae ad illustrationem actorum XI, 19 seqq. Auct. Fr. W. NOELDECHEN. Halae 1767 [24 SJ.

272.

1768 Dissertatio theologica Loci theologici e Leone M. Pontifie. Roman, collecti. Auct J. J. GRIESBACH. Halae 1768.

273.

1769 Disputatio theologica Rebaptizatos fuisse de quibus agitur AcL XVIIII, V. Auct. J. Fr. BARTHOLD. Halae 1769 [29 SJ.

61

3. Aufl. 1775; 4. Aufl. 1779. 337

274.

275.

276.

277.

1770 Dissertatío hermeneutico-dogmatica In Matth. V, 17. Auct. C. E. BRUN. Halae 1770 [28 S.]. Dissertatío theologico-hermeneutica De discrimine notionum vulgarium et chrístianarum in libris N. T. observando. Auct. Chr. G. SCHWARTZ. Halae 1770 [24 S.]. Dissertatío historico-ecclesiastica De propagata per Bonifacium inter Germanos religione Christiana. Auct. G. D. HANISCH. Halae 1770 [70 S.]. Dissertatío De jure principium circa sacra imprimis Germaniae, praesertim es monumentis sec. XI. derivato. Auct. I. F. DELIUS. Halae 1770.

278.

279.

1772 Dissertatío Carmina quaedam apostolica quibus evidentissime demonstrativ servatorem nostrum Jesum Christum esse verum Deum et verum hominem. Auct. J. S. KLEIN. Halae 1772 [37 S.]. 1775 Dissertatío Carmina quaedam apostolica quibus evidentissime demonstratio servatorem nostrum Jesum Christum esse Paulo auctore verum Deum et verum hominem. Dissertatío secunda. Auct C. G. SCHULTZE. Halae 1775 [27 S J .

280.

1776 Disputatio theologica Quae spiritum sanctum ree te describi personam ostendit, et quasdam alias theses subnexes. Auct Η. O. C. KRUIGER. Halae 1776 [16 S.].

281.

1778 Disputatio theologica De discrimine inter ΣΑΡΚΙΚΟΥΣ et Π Ν Ε Υ Μ Α Τ Ι Κ Ο Υ ! Auct. I. Th. VOGT. Halae 1778 [50 S.].

282.

338

1785 Specimen Illustrationis capitis primi epistolae ad Hebraeos. Auct C. I. SCHOLZE. Halae 1785 [12 S.].

Personenregister

(Verzeichnet sind die Personennamen aus Text und Anmerkungen. Nicht aufgenommen wurden Johann Salomo Semler und Gottfried Hornig) Ammon, Christoph Friedrich von 207

Bengel, Johann Albrecht 30,133,211

Aner, Karl 80,123,252

Bernhold, Johann Balthasar 8

Anton, Paul 46

Benz, Ernst 57

Aretin, Karl Otmar Freiherr von 66

Blanke, Horst Walter 271,286

Aristoteles 25

Boehart, William 62

Arndt, Hans Werner 246

Bogatzky, Karl-Heinrich von 46

Arndt, Johann 46

Boor, Friedrich de 21

Arnold, Gottfried 112,102

Bossuet, Jacques-Bénigne 64

Amoldi, Udo 296

Bretschneider, Karl Gottlieb 207

Augustin, Aurelius 128, 147,258

Brochmand, Jesper Rasmussen 221 Bühler, Axel XIII, 246,266

Bachmann, Hans-Martin 17

Bunyan, John 2,46

Bahrdt, Carl Friedrich 69ff., 75,81f„ 139,

Burmann, Franz 117

141,151,251 Baier, Johann Wilhelm 8,161

Calixt, Georg 162

Barnikol, Ernst 71

Calov, Abraham

Barrington, Lord 202,248

Calvin, Johannes 190

Barth, Karl 84 Basedow, Johann Bernhard

161,276

Carlstadt (s. Karlstadt) 12,146,151,

178

Carmer, Johann Heinrich Kasimir, Freiherr von (Großkanzler) 79

Basilius v. Cäsarea 130

Chladenius, Johann Martin 7

Baumgarten, Siegmund Jacob XII, 1, 4ff.,

Christian Emst, Herzog von Sachsen-

13f„ 16ff., 22, 23ff., 32ff„ 39f., 46f., 67,

Saalfeld 3,6

74,86ff., 92ff„ 97ff„ 103ff„ 109, 111,

Chyträus, David 238

114,116ff., 124ff„ 128,130ff., 136f.,

Clarke, Samuel 133,158

140f„ 152,158,162ff„ 169, 172,178,

Cusa, Nicolaus von (siehe Kues)

198,21 Iff., 225,23 Iff., 242,246ff„ 252ff„ 256f„ 261ff„ 265f„ 268f„ 271, 274f„ 28 Iff., 298 Baur, Ferdinand Christian 208, 279

Danckelmann, Carl Ludolph von (Minister) 9

Baur, Jörg 87,284

Danov [Danius], Ernst Jakob (Prof. in Jena) 38

Bayer, Oswald 84,177

Delitzsch, Franz 216

339

Descartes, René 16,231

Friedrich II. (der Große) 68f., 72f., 298

Diderot, Denis 199

Friedrich Wilhelm I. 74

Dietelmaier, Johann August 8

Friedrich Wilhelm II. 78,299

Dilthey, Wilhelm 81 Dobschiitz, Emst von 258

Gadamer, Hans-Georg 254

Döbner, Christiane Magdalena 6

Galilei, Galileo 232

Döderlein, Christian Albrecht lOlff.

Gass, Wilhelm 87,110

Dörnberg, Wolfgang Ferdinand Freiherr

Gaßner, Johann Joseph 53ff. Gawlick, Günter 59,77,247,295

von (Minister) 79 Dohm, Christian Wilhelm 298

Gerhard, Johann 2,162,211f„ 225 Goethe, Johann Wolfgang von 73

Ebeling, Gerhard 53,259 Ebert, Johann Arnold (Prof.) 41,43

Goeze, Johann Melchior 28,75, 84,62, 85,90,151,210ff.,263,294

Eibenschütz, Jonathan 296

Grote, Heiner 180

Eichhorn, Johann Gottfried 40,82f„

Gruner, Johann Friedrich 22

250ff., 299 Eisenhardt, Ulrich 72

Hach, Jürgen 194

Elliger, Walter 78,299

Hägglund, Bengt 218

Emlyn, Thomas 211,233f.

Hähne, Johann Friedrich (Abt) 41

Erasmus von Rotterdam 29,215,217,

Härle, Wilfried 295

221ff., 233f., 238 Ernesti, Johann August

Hanauer, Josef 53 l,31,37ff.,42,

Hamack, Adolf von 180,259

52, 71,75,83,147, 172,238, 241, 251f.,

Heckel, Martin 293

254

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 208f.

Eulogius 130

Heinemann, Wolfgang 77 Herder, Johann Gottfried 75

Farmer, Hugh 54f„ 168, 197, 241,248, 272

Heß, Hans-Eberhard

Flacius, Matthias 58 Fleischer, Dirk 16,271,286 Force, James E. 235 Francke, August Hermann 8,20ff., 40,

Heussi, Karl 63

46f., 86,96f., 104f„ 119,254 Francke, Gotthilf August 8,22,74,97, 234

Hirsch, Emanuel 196,205

Franz Josias, Herzog von Sachsen-Saalfeld 3 Frey, Christofer 57 Freylinghausen, Gottlieb Anastasius 8 Freylinghausen, Johann Anastasius 87, 116,162,234

Hontheim, Johann Nicolaus von 75

340

10, 27, 33, 86, lOlff.,

107, 110,143,166,196,243,277 Heyne, Christian Gottlob 198 Hinske, Norbert 84,247 Hintze, Otto 300 Hövelmann, Hartmut 277 Hofmann, Ignaz von 75 Horaz, Quintus Horatius Flaccus 236 Houben, Heinrich Hubert 73 Hume, David 231 Hunnius, Ägidius 155,159 Huth, Caspar Jacob 6

Hutterus, Leonhart 161

Lenhammar, Harry 58 Leo X. (Papst) 218,220

Irenäus von Lyon 197

Lessing, Gotthold Ephraim 42,48,55,59, 62, 74,85,142,199,204f„ 210,216,

Jaeger, H. E. Hasso 246

287,295,298,

Jaeger, Friedrich 271

Lessing, Theophil 295

Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 41,

Liebknecht, Wilhelm 180

44f„ 58,62,64ff„ 123,186, 300

Lindner, Benjamin 4 Lipps, Michael A. 124 Lipsius, Justus 2

Kaiser, Otto 71 Kant, Immanuel

16,205,231

Lohse, Bernhard 214

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 81

Lücke, Friedrich 40,251

Karl, Bernhard Peter 112

Lüder, Andreas 254

Karlstadt [Andreas Bodenstein] 129

Luther, Martin 14,23,25ff., 51,57f„ 84,

Karpp, Heinrich 232

98f., 103,11 Iff., 125,128f„ 141,154f.,

Kepler, Johannes 232

157ff„ 172,174,177f„ 182,188,190ff„

Kiddel, Johann 242,248,259,269

200,215,227, 234,237,241,244,256,

Kiefer, Johann Nicolaus 214,217,221f.

259f., 275f., 284,287

Kirn, Otto 73 Klüpfel, Engelbert 155

Madonna, Luigi Cataldi 246

Knapp, Johann Georg 5, 8,103,162

Meier, Georg Friedrich 5,16,246f„ 266,

Koch, Ernst 2 Köhler, Johann David 7

268,298 Melanchthon, Philipp 2, 14, 17, 23ff„ 29f.,

Köster, Beate 234

38,78,103,155, 157ff„ 161,177,227,

Kommerell, Johann Christian 52

256,260,265f., 275,285,287

Koselleck, Reinhart 7,258,271,287

Mendelssohn, Moses 199,298

Kraus, Hans-Joachim 243

Merk, Otto 253

Kremer, Bernd Mathias 292

Michaelis, Christian Benedikt 5,8,22

Kröger, Wolfgang 62

Michaelis, Johann David 52

Krockow, Christian Graf von 298

Miller, Johann Peter 70

Krug, Wilhelm Traugott 205,208

Mirabeau, Honoré Gabriel 199

Krumwiede, Hans-Walter 186

Mosheim, Johann Lorenz von XII, 7,16,

Kues, Nicolaus von 12,76ff„ 182,284

63 Müller, Heinrich [?] 46

Lance, de la (Kardinal) 64

Müller, Johann Daniel 232

Lange, Johann Joachim 74 Lavater, Johann Caspar 14,26, 34, 39, 52ff„ 75,114,126,128,148,157,166, 172, 185, 191,199, 265,270, 273,276, 296 Leibniz, Gottfried Wilhelm 64

Newton, Isaak 235 Niemeyer, August Hermann 12,14f., 36, 71, 82ff„ 243 Nösselt, Johann August 12,15, 22, 36,54, 71,81f., 243

341

Scholz, Oliver R. 247,266

Nowak, Kurt 81

Schräder, Hans-Jürgen 74 Ohst, Martin Orígenes

27,80

Schräder, Wilhelm 74

130,147

Schubert, Johann Ernst

52,84,151,231,

294 Panzer, Georg Wolfgang 234

Schütte, Hans-Walter

Pascal, Blaise 232

Schütz, Christian Gottfried 32, 82,111,

196,205

Peschke, Erhard 21,96f., 104

113,122,149,184,189,198,202,204,

Pfaff, Christoph Matthäus 63

286

Piderit, Johann Rudolf Anton 2 8 , 4 3 f „ 52, 75, 84,151,163,294

Schultze, Harald 214,295 Schulz, Hartmut H. R. XIII, 57,82,136,

Pius VI. (Papst) 69

138,146,150ff„ 169,177,253,284,

Planck, Gottlieb Jacob 250f.

289,295,297

Piaton

2,236

Schwarz, Christian Gottlieb 6 Schwenkfeld, Kaspar 129

Quenstedt, Johannes Andreas

161,214,

Schwöbel, Christoph 194 Scriver, Christian 46

276

Selneccer, Nicolaus

116,275

Semler, Matthias Nicolaus 2

Rambach, Johann Jacob 253 Rautenberg, Christian Günter 4Iff.

Simon, Richard 263

Reimarus, Hermann Samuel

Sonthom, Emanuel 2

59,62,83,

139, 142,145, 150f„ 178,199,237 Rendtorff, Trutz

Reuß, Jeremias Friedrich

Spalding, Johann Joachim 41ff., 62,186 Spam, Walter

196,295 52,84,294

Röpe, Georg Reinhard 216,223f. Röwenstrunk, Gert 69

148,210,263

Spener, Philipp Jakob

4,46,49,86,109,

134,200f. Steck, Karl Gerhard 131

Roos, Magnus Friedrich 52

Steinbart, Gotthilf Samuel 55f.

Rousseau, Jean-Jacques

Stemmer, Peter 235

199,295

Rüsen, Jörn 271

Sträter, Udo 2 Stroup, John 7

Sack, August Friedrich Wilhelm 41ff., 186

Stuhlmacher, Peter 257

Sartorius, Christoph Friedrich 52

Swedenborg, Emanuel 57f.

Scheben, Victor von 69 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 27, 36,40,80f., 202,205ff., 251 Schloemann, Martin 74, 87f., 97,117,236 Schlözer, August Ludwig 232

Teller, Wilhelm Abraham 31,37,39f. 71, 82f., 199,204f„ 251 Tertullian, Quintus Septimius Florens 197

Schmid, Christian Friedrich 42, 52,294

Tetens, Johannes Nicolaus

Schmidt, Martin 97

Theokrit 2

Schmittner, Wolfgang

179,243

Schollmeier, Joseph 44,87

342

199

Tholuck, August 208 Townson, Thomas 188f„ 197,248

147,

Unger, Salomo Gottlob 187

Windheim, Christian Ernst von 6,16 Woodbridge, John 263

Valjavec, Fritz 300

Wöllner, Johann Christoph von 78ff.

Voltaire [François Marie Arouet] 6,199,

Wolff, Christian 4,6,9f„ 16f„ 48,97, 132,

232

247,257 Woltersdorf, Ernst Gottlieb [?] 4

Wagenhammer, Hans 196

Wustmann, G. (Dekan) 73

Wagner, Falk 169 Walch, Christian Wilhelm Franz 52,216, 235f.

Ximénes de Cisneros, Francisco 210,216, 218,220

Walch, Johann Georg 265,267 Wallmann, Johannes 162

Zedlitz, Karl Abraham Freiherr von 69ff.

Weigelt, Horst 53,55

Zeller, Eduard 208

Wet[t]stein, Johann Jakob 117f.

Zollikofer, Georg Joachim 56

Wette, de Wilhelm Martin Leberecht 40,

Zurbuchen, Simone 295

251

Zwingli, Huldreich 129

Whiston, William 6,211,225, 233ff., 263

343