124 51 2MB
German Pages [353] Year 2009
© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525569153 — ISBN E-Book: 9783647569154
Reformed Historical Theology Edited by Herman J. Selderhuis in co-operation with Emidio Campi, Irene Dingel, Wim Janse, Elsie McKee
Volume 6
Vandenhoeck & Ruprecht
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Wilhelm H. Neuser
Johann Calvin Leben und Werk in seiner Frühzeit 1509–1541
Vandenhoeck & Ruprecht
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Vorrede
E. DOUMERGUE gibt dem ersten Band seines vierbändigen Werks den Titel La jeunesse de Calvin. Er umfasst die Jahre 1509 bis 1536. Hingegen behandelt A. GANOCZY in seinem Buch The Young Calvin die Jahre 1523 bis 1538. Die Tatsache, dass er Calvin bis in sein 29. Lebensjahr begleitet, besagt, dass er unter „jung“ die Anfangszeit versteht. Wir entscheiden uns für die Jahre 1509 bis 1541 und für den Begriff Frühzeit. Während A. GANOCZY den ersten Genfer Aufenthalt hinzunimmt, behandeln wir auch die Straßburger Zeit bis zu Calvins Rückkehr nach Genf. Es würde ihr die mittlere Zeit seines Wirkens und die Spätzeit folgen. Beide zeitlich von einander abzugrenzen, gehört nicht zu unserer Aufgabe. Ohne den ersten Band des Briefwechsels kann die Zeit bis zur Vertreibung aus Genf (COR VI. 1) wissenschaftlich nicht mehr dargestellt werden. Neben diesem ausgezeichneten Werk haben wir möglichst alle weiteren Quellen aufgelistet und herangezogen (Kapitel 2). Calvin müssen zugeschrieben werden auch sechs Predigtentwürfe in dem Predigtband des Faber Stapulensis „Épîtres et Évangiles“ (1534/35). Hinzu kommen als neue Quellen aus der Feder Calvins die beiden übrigen Einführungen in der Olivétanbibel (1535) zum Alten Testament und zu den Apokryphen. Endlich sind die von Calvin nicht in die Institutio von 1559 übernommenen Stücke der Institutio von 1539 bisher nie nachgedruckt und untersucht worden. Nimmt man die in der Forschung unbeachtete Auslegung der vierten Seeligpreisung in der Rektoratsrede 1533, die Institutio von 1536, die Confessio fidei de eucharistia (1537) und den lateinischen Katechismus (1538) hinzu, so ergeben sich viele neue Einsichten. Sie ergeben ein neues Calvinbild. Calvin erscheint als suchender, seine Ergebnisse erneut überprüfender, als ein für neue Ergebnisse offener, insgesamt in seiner Frühzeit als ein sich immer wieder wandelnder Theologe. Es ist unser Bestreben, Calvin möglichst oft selbst zu Worte kommen zu lassen, damit der Leser seine Gedanken unmittelbar kennenlernt und abwägen kann. Daher sparen wir nicht mit Zitaten. Für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts sei Herr Professor Dr. Wilhelm Holtmann herzlich gedankt.
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Inhalt
TEIL I Calvin in Frankreich 1509 bis 1534 – die Phasen seiner frühen Entwicklung Kapitel 1: Humanismus und Traditionalismus in Frankreich . . . . . . .
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1. Der erasmische Humanismus in Deutschland und der Schweiz 2. Der französische König und die Pariser Theologische Fakultät 3. Die Hinrichtung des Louis de Berquin im Jahr 1529 . . . . . . . 4. Bedas Streitschrift gegen die „thologisierenden“ Humanisten Erasmus von Rotterdam und Faber Stapulensis (1526) . . . . . 5. Calvins Stellungnahme zur Vulgata im Jahr 1535 . . . . . . . . .
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Kapitel 2: Die Quellen für eine Vita Calvini (bis 1538) . . . . . . . . . . .
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1. Briefwechsel und Druckwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weiteres Material aus Archiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bezas Vita Calvini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3: Jugendzeit und Studium an der Artistenfakultät in Paris (1509–1528) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Calvin in Noyon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Studium der artes liberales in Paris (1523/24–1528) . . . . . 3. Calvins Beziehung zur Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Selbstaussage über seine „subita conversio ad docilitatem“ 5. Calvins conversio und Berufung zum minister evangelii in Bezas Vita Calvini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Conversio und docilitas bei biblischen Personen . . . . . . . .
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27 32 37 38
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42 44
Kapitel 4: Jurastudium und humanistische Studien (1528–1532) . . . .
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1. Studium des Zivilrechts in Orléans (1528–1532) . . . . . . . 2. Humanistische Studien bei Melchior Volmar in Bourges (1530/31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Kommentar zu Senecas Schrift De Clementia (1532) 4. Calvins religiöse Tätigkeit in Paris (1531/32) . . . . . . . . .
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Kapitel 5: Die Rektoratsrede vom 1. November 1533 und die reformatorische Bewegung in Paris im selben Jahr. . . . . . . . . . . . . . .
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A. Der politische Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bündnispolitik des französischen Königs Franz I. und des Landgrafen Philipp von Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Hintergrund der Plakataktion im Oktober 1534 . . . . . . . . . . . .
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B. Calvin unter dem Einfluss des Faber Stapulensis . . . . . . . . . . . . . 1. Die französischen Reformer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Calvin und Faber Stapulensis – der Forschungsstand . . . . . . . . . . . 3. Calvin als Anhänger Fabers in den Kämpfen im Sommer und Herbst 1535 in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71 71 72
C. Die Ereignisse in Paris im Jahr 1533 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Fastenpredigten Gérard Roussels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Theaterstück im Collége Navarra am 1. Oktober 1533 . . . . . 3. Die Indizierung der Schrift der Margarete von Navarra . . . . . . . 4. Die Rektoratsrede des Nikolaus Cop am 1. November 1533 und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Der theologische Gehalt der Rektoratsrede . . . . . . . . . . . . 1. Die fremden Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Bucers lateinische Übersetzung des ersten Teils der Lutherpredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die theologischen Abweichungen von den reformatorischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Urteil der frühsten Biographen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 6: Die Ereignisse in Paris in Calvins Abwesenheit im Jahr 1534 und seine Reisen in diesem Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Rückkehr des Königs im Februar 1534 2. Beda und die königlichen Lektoren . . 3. Die Fastenpredigten im Jahr 1534 . . . 4. Reform der Artistenfakultät . . . . . . . . 5. Die Plakataffaire im Oktober 1534 . . . 6. Calvins Reisen im Jahr 1534 . . . . . . .
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Kapitel 7: Calvins Predigtentwürfe und sein Wirken in Angoulême im Jahr 1534 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 A. Alte und neue Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Calvin in Angoulême . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
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2. Die Predigtentwürfe der Gruppe von Meaux . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Der Evangelisme der Gruppe von Meaux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 B. Die „Épîtres et Évangiles“ als Kontext der Predigten Calvins . . . . 122 1. Die Bekämpfung des Antinomismus in der Edition de Vingles . . . . 123 2. Weitere Korrekturen und Zusätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 C. Die sechs Predigten Calvins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Struktur und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Calvin als Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Polemik in den Predigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Calvin und der Antinomismus der Gruppe von Meaux in den Jahren 1533/34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133 133 134 138 140
TEIL II Calvin in Basel im Jahr 1535 – seine Anfänge als Wegbereiter und Verteidiger der Reformation 1. Die neuen Aufgaben in Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Calvins Emigration nach Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Das Leben incognito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Kapitel 8: Calvins Schrift über die Wachsamkeit der Seele nach dem Tod (Psychopannychia) und Capitos Kritik an ihr . . . . . . . . . . . 147 1. Die Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorrede „Orléans 1534“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Capitos Kritik an Calvins Traktat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Vorrede „Basel 1536“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Calvins Verständnis der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 149 156 157 159
Kapitel 9: Calvins Mitarbeit an der Olivétanbibel (1535) . . . . . . . . . . 160 A. Calvins Vorrede zur Olivétanbibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 B. Die Einführung in das Alte Testament . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verfasserschaft Calvins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einführung zum Alten Testament als Missionsschrift 3. W.F. Capito als Verfasser? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Einführung in das Neue Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
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2. Autorenschaft Calvins – der Nachdruck von 1543 . . . . . . . . . 3. Absage an den Antinomismus der Gruppe von Meaux . . . . . . 4. Die Heilsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift und Glaubensgewissheit
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D. Die Einführung in die Apokryphen des Alten Testaments . . . . . . . 179 1. Gedankengang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Der Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Kapitel 10: Die Verteidigungsschrift an König Franz I. vom 23. August 1535 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Der Anlass der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die geplanten Anfangsgründe des Glaubens (rudimenta) und die Institutio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Calvins Verständnis der Anfangsgründe des Glaubens (rudimenta fidei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Schreiben an Franz I. – Vorrede zur Institutio und Apologie . . 5. Apologie und Polemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die speziellen gegnerischen Angriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Quellen Calvins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 11: Das Basler Opus magnum – die Institutio von 1536 . . . . . 202 A. Cognitio Die et cognitio nostri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Leitmotiv der Institutio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Problem der Gotteserkenntnis der Heiden . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Heilsweg – Gesetz und Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rückblick auf die Einführung in das Neue Testament . . . . . . . . . . 6. Der Zweitakt von cognitio Dei et nostri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das richtige Verständnis der cognitio nostri . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 203 204 205 209 210 210 212
B. Gesetz und Evanglium – die verfehlte Ableitung von Luthers Katechismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 C. Die Erwählungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 D. Theozentrische Erklärung des Herrengebets . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 E. Die Verteidigung der Sakramentslehre gegen Zwinglianer und Katholiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Die Definition der Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
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2. Die falschen Lehren, die die Sakramente herabsetzen (Teil I) . . . . . 3. Die falschen Lehren, die die Sakramente überschätzen . . . . . . . . . 4. Die Deutung des Begriffs Sakramente (Teil II) . . . . . . . . . . . . . . . 5. Calvins Gegenspieler Martin Bucer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Leo Juds Einspruch gegen Calvins Sakramentslehre . . . . . . . . . . . 7. Taufe und Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223 226 227 228 232 233
F. Die christliche Freiheit vom Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 G. Die kirchliche Machtausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 H. Die bürgergerechte Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Suche nach den Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Calvins Definition der politia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Obrigkeit – Gesetz – Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Calvins Humanismus als Quelle seines Obrigkeitsverständnisses
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238 238 240 241 243
Kapitel 12: Calvin und die Herzogin Renata von Ferrara (1536/37) . . 245 1. Der Aufenthalt am Hof zu Ferrara im Jahr 1536 . . . . . . . . . . . . . . 245 2. Der Brief Calvins an die Herzogin Renata im Jahr 1537 . . . . . . . . . 247 3. Die „Zwei Mahnschreiben“ an Du Chemin und Roussel . . . . . . . . 248
TEIL III Der erste Genfer Aufenthalt 1536 bis 1538 Kapitel 13: Die Einführung der Reformation in Genf . . . . . . . . . . . . 253 1. Die Eroberung des Wattlands durch Bern 1536 . . . . . . . . . . . . . . . 2. Calvins Eintreffen in Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der kirchliche Zustand in der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Calvin als Lektor der Heiligen Schrift und Prediger . . . . . . . . . . . . 5. Die Artikel zur Ordnung der Kirche und des Gottesdienstes 1537 . . 6. Die 21 Glaubensartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die dizenniers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253 256 258 260 262 267 268
Kapitel 14: Genfer Catechismus seu Christianae Religionis Institutio . 269 1. Katechismus und zugleich Institutio 1537/38? . . . . 2. Das Leitmotiv Cognitio Dei et nostri . . . . . . . . . . . 3. Der neue Ansatz der Prädestinationslehre . . . . . . . . 4. Die Taufe und die Abwehr der Wiedertäufer in Genf
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Kapitel 15: Die auswärtigen Lehrstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1. Die Disputation von Lausanne (1536) . . . . 2. Der Abendmahlsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Streit mit Pierre Caroli . . . . . . . . . . . . 4. Calvins Ausweisung aus Genf im Jahr 1538
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TEIL IV Calvin in Straßburg 1538–1541 Kapitel 16: Calvins Wirksamkeit in seiner Straßburger Zeit . . . . . . . . 302 1. Calvin und du Tillet – zwei Gefährten im Exil trennen sich . . . . . . 2. Pfarrer der französischen Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Frankfurter Anstand vom 23. April 1539 . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Religionsgespräche von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Verfolgung der Protestanten in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Wechsel zu Bucers Abendmahlsanschauung . . . . . . . . . . . . . .
302 305 310 314 319 324
Kapitel 17: Das literarische Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 1. Der Sadoletbrief (1539) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Institutio christianae religionis von 1539 . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Römerbriefkommentar (1540) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Kleine Traktat über das Abendmahl (1541) . . . . . . . . . . . . . . 5. Calvins Rückkehr nach Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
330 332 341 343 347
Abkürzungen der wissenschaftlichen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
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TEIL I Calvin in Frankreich 1509–1534 – seine Entwicklung unter vielfältigen geistigen Einflüssen
Kapitel 1: Humanismus und Traditionalismus in Frankreich Die geistige Entwicklung des jungen Calvin ist nur zu verstehen, wenn die Auseinandersetzungen zwischen dem Humanismus und der katholischen Orthodoxie in Frankreich beachtet werden. Denn in Frankreich erwuchs dem Humanismus eine kampfbereite und wirksame katholische Opposition. Zieht man zum Vergleich die Lage im deutschen Sprachgebiet heran, so wird die französische Situation deutlich. 1. Der erasmische Humanismus in Deutschland und der Schweiz Erasmus erfuhr bei den östlichen Nachbarn Frankreichs keine grundsätzliche Gegnerschaft, sieht man von dem Streit mit Luther um den freien Willen ab. Vielerorts nahmen gelehrte Männer das Losungswort des berühmten Humanisten „ad fontes“ auf. Die Quellen des Altertums, das heißt, die griechischen Philosophen, die lateinischen Rhetoren und die hebräische und griechische Bibel, werden in den Ursprachen gelesen und ihre Ethik studiert und mit dem Christentum verbunden. Ein gefeierter Humanist ist ein Trilinguus, Beherrscher aller drei Sprachen. Dieses Programm allein musste nicht zum Bruch mit der mittelalterlichen Kirche führen. Viele Humanisten verlassen nicht die katholische Kirche – wie Erasmus selbst und Faber Stapulensis. Es ist bezeichnend, dass sich auf den Religionsgesprächen in Augsburg 1530, in Worms 1540 und Regensburg 1541 auf beiden Seiten humanistisch gebildete Theologen befanden und mittels der erasmischen Formel der doppelten Rechtfertigung einer Einigung nahe kamen. Schwieriger gestaltete sich das Verhältnis zur mittelalterlichen Kirche, wenn Erasmus die Vertreter der Scholastik „Neuerer“ und „Sophisten“ nannte. Sie sind angeklagt, die Theologie zu verderben. Die Losung „ad fontes“ wurde in diesem Fall zur Ausschließlichkeitsformel. Denn nur die „Alten“, die Verfasser der Bibel und die Kirchenväter, sollen Quellen der
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Theologie sein. Die Schulstreitigkeiten zwischen Thomisten, Skotisten und Occamisten erwiesen sich als Schwäche der mittelalterlichen Theologie, denn sie alle wurden der Begriffsspalterei und der Abkehr von den „Alten“ angeklagt. Da auch die Kirchenväter zu den alten Autoritäten gehören, bedeutete die Rückwendung zur Antike nicht unbedingt eine Abwendung von den herkömmlichen gottesdienstlichen Formen und Inhalten, wohl aber Kritik an vielen kirchlichen Auswüchsen. Weil Erasmus den Grundsatz sola scriptura nicht vertrat, fühlten sich nicht alle altgläubigen Theologen an den Universitäten von der Polemik des Erasmus gegen die Sophisten betroffen. Wenn Erasmus schließlich sich in der Schrift Paraclesis für die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache einsetzte, damit sie auch das einfache Volk verstehen kann, so verwirklichte nicht er diesen Plan, sondern Zwingli in Zürich, Luther in Wittenberg und andere.1 Das die Vulgata mit den Übersetzungen der Bibel in die Volkssprache auch ihre Autorität in der Theologie verlor, war nicht zwangsläufig gegeben. Doch erwuchs mit den Drucken in der Ursprache und den neuen Übersetzungen ins Lateinische eine ernsthafte Bedrohung ihrer Autorität, vorausgesetzt, man hielt die Vulgata für eine Hauptbastion katholischer Orthodoxie, die es unbedingt zu verteidigen galt. 2. Der französische König und die Pariser Theologische Fakultät In Frankreich war die Situation grundsätzlich eine andere als etwa in Deutschland und der Schweiz. Das Land wurde durch ein starkes, weil Erbkönigtum, zentral regiert. Dieses konnte die Angriffe auf die Kirche wirksam unterbinden. Hingegen bestanden in Deutschland viele selbständige Territorien (Fürstentümer, Grafschaften, Reichsstädte) unter einem letztlich schwachen Wahlkaiser, der nur über Reichstagsbeschlüsse die Reformation verhindern konnte. Ein wirksames Mittel entstand ihm durch die Reichsacht gegen Luther und seine Anhänger, die im Jahre 1521 in Worms nach dem Erlass der päpstlichen Bannbulle vom Reichstag beschlossen wurde. Beachtenswert ist, dass von nun an die Verfolgung der Irrlehrer, juristisch gesehen, am leichtesten war, wenn man sie als „Lutheraner“ bezeichnete, selbst wenn sie anderen Ursprungs waren und eine andere Theologie vertraten Die folgenden Reichstage führten nur zögernd das Wormser Edikt durch. Auf dem Reichstag zu Nürnberg im Jahr 1532 wurde seine Geltung bis zu einem Religionsgespräch ausgesetzt. Die Evangelischen
1 Vgl. HOLECZEK, H. Erasmus Deutsch, Bd. 1, Die volkssprachige Rezeption des Erasmus von Rotterdam in der reformatorischen Öffentlichkeit 1519–1536, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983.
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genossen in Deutschland in den folgenden Jahren einen gewissen reichsrechtlichen Schutz. In Frankreich gebärdete sich die Theologische Fakultät der Sorbonne als Beschützerin der Rechtgläubigkeit. Sie konnte ihre Beschlüsse durch das „Parlament“, den obersten Gerichtshof, zum Gesetz erheben lassen. Die Vertreter der Sorbonne gingen diesen Weg ungern, denn sie gefährdeten auf diese Weise ihre universitäre Eigenständigkeit. Führer der Theologischen Fakultät war Noël Beda, ein hartnäckiger Vertreter der Tradition. Er wurde im Jahr 1520 Dekan (Syndicus) der Theologischen Fakultät. In dieses Amt wurde er wiederholt bis 1534 gewählt. Ohne Frage war er der einflussreichste Theologe der Fakultät. Nach der Bannbulle gegen Luther war die Fakultät von Herzog Georg von Sachsen um eine Entscheidung gebeten worden. Die „Determination theologorum Parisiensium super doctrina Lutherania“ von 15. April 1521 war Bedas Werk. Melanchthon antwortete mit der Schrift „Adversum furiosum Parisiensium Theologastrorum decretum“.2 Er stellt darin das Schriftprinzip gegen das Traditionsprinzip. Beda war von nun an ein entschiedener Gegner aller Neuerungen. Während Kaiser Karl V. streng katholisch gesinnt war, war König Franz I. Katholik und Förderer des Humanismus zugleich. Seine schöngeistige Schwester Margarete von Navarra war die Beschützerin des führenden französischen Theologen und Humanisten Faber Stapulensis; sie schützte ihn und seinen Schüler Gerard Roussel vor den Angriffen Bedas und seiner Gesinnungsgenossen. Auch stand sie im engen Briefwechsel mit Briçonnet, dem Bischof von Meaux. Dieser hatte seit 1521 Faber und viele seiner Schüler in sein Bistum gerufen, um dort die schriftgemäße Predigt einzuführen und zu fördern. Der König krönte seine humanistischen Neigungen im Jahr 1530 durch die Gründung des „Kollegiums der königlichen Lektoren“ in Paris, auch „Collège de France“ genannt. Die diesem angehörenden vier Lektoren hielten hebräische, griechische und philosophische Vorlesungen. Mit dieser Gründung wollte der König auch ein Gegengewicht gegen die Theologische Fakultät setzen und Bedas Einfluss einengen. Die theologischen Streitigkeiten der Jahre 1520 bis 1534 und über diese Zeit hinaus lassen sich ohne weiteres als einen Machtkampf zwischen Franz I.und Beda begreifen. Am 11. August 1523 fragte der König bei der Fakultät an, ob nicht eine Übersetzung der Bibel in die Volkssprache angebracht sei.3 Fabers Übersetzung der Evangelien ins Französische war am 6. Juni des Jahres erschienen, 2 StA Mel 1, 142–162. 3 Wir folgen der ausgezeichneten Zusammenfassung von BENSE, W.F., Noel Beda’s View of the Reformation, in: Occasional Papers of the American Society for Reformation Research, 1, 1977, 93–107, und der detailierten Darstellung von FARGE, J.K., Orthodoxy and Reform in Early Reformation France. The Faculty of Theology of Paris, 1500–1543, Leiden 1985, 170–208.
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die des übrigen Neuen Testaments folgte am 9. November 1523.4 Die Fakultät beriet sich sogleich und erörterte bei dieser Gelegenheit auch die neuen Bibelübersetzungen aus dem Griechischen und Hebräischen ins Lateinische. Denn durch diese wurde die Fehlerhaftigkeit der Vulgata bewiesen und deren Autorität geschmälert. Bei den Verhandlungen behauptete ein Dominikaner, die kirchlich gebrauchte Vulgata sei eine zumeist inkorrekte Version und nicht die des Kirchenvaters Hieronymus. Beda brachte ihn durch Androhung disziplinarischer Strafen zum Schweigen. Die Fakultät beschloss gegen die Stimmen von drei Doktoren, die neuen Übersetzungen der Bibel ins Lateinische – gemeint sind die des Erasmus und des Faber Stapulensis – seien aus vielen Gründen schädlich und nicht zu tolerieren; sie seien zu verbieten. Ebenso sei mit den Übersetzungen in die Volkssprache zu verfahren. Durch die Registration beim „Parlament“ wurde der Beschuss am 28. August 1523 Gesetz.5 Die Sorbonne ging diesen Weg, wie erwähnt, nur ungern, denn er gefährdete die Selbständigkeit und Autonomie der Universität. Andererseits war der Parlamentspräsident, Lizet, ein Feind aller religiösen Neuerungen. Von der Zensur der Theologischen Fakultät im Jahr 1525 gegen die Predigtentwürfe von Franz I. in Meaux wird noch die Rede sein. Sie fällt in die Zeit der spanischen Gefangenschaft, in der seine Mutter Louise von Savoyen die Regentschaft übernahm. Diese unterstützte das Vorgehen der Theologischen Fakultät. Doch untersagte der König die Verurteilung der Predigtentwürfe in der Volkssprache. Die Auseinandersetzungen zwischen dem französischen König und Noël Beda bzw. der Theologischen Fakultät setzten sich im Jahr 1526 fort und dauerten bis 1535. 3. Die Hinrichtung des Louis de Berquin im Jahr 1529 In diesen Zusammenhang gehört die Hinrichtung des Louis de Berquin.6 Er war befreundet mit Faber Stapulensis und stand im Briefwechsel mit Erasmus. Der König ernannte ihn zu seinem Ratgeber. Er lehnte die Unwissenheit der Mönche und Sorbonnisten ebenso ab wie die Lehre Luthers, von der er sich aber nicht genügend distanzierte. Erasmus erschien ihm als der rechte Reformator. Wie dieser und wollte er eine Reform der Kirche, aber keine Reformation. An die Öffentlichkeit trat er durch Übersetzungen einiger Schriften des Erasmus ins Französische, übersetzte aber auch Luthers 4 S. Anm. 183. 5 Zum Text s. BEDOUELLE, G., Lefèvre d’Étaples et l’intelligence des Ecritures, Genève 1976, 104, Anm. 3 (THR 42). 6 Vgl. den Artikel Berquin, RE3 2, 643–645.
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Schrift De abroganda missa privata. Er schrieb sogar ein Buch Apologia adversus calumniatores Lutheri, alias Speculum theologastrorum, eine Satire auf die Theologische Fakultät, und andere anstößige Schriften. Daraufhin wurde er im Jahr 1523 von der Sorbonne als Ketzer verschrien und als Anhänger Luthers angeklagt. Doch der König verbot eine Untersuchung Berquins und seiner Schriften. Schon im Jahr 1523 hatte der König die Fakultät wissen lassen, dass das Ergebnis einer Prüfung der Schriften des Erasmus ihm vorgelegt werden müsse. Die Prüfungen wurden fortgesetzt, aber die Fakultät verschob die Beschlüsse auf eine spätere Zeit. Sie war gekommen, als der König 1525/26 abwesend war. Berquin hatte insgesamt vier Schriften des Erasmus ins Französische übersetzt. Die Fakultät verdammte am 12. März 1526 37 Sätze aus diesen Schriften. Berquin wurde gefangengenommen und angeklagt. Sein Hinweis, dass sie von Erasmus stammten, den niemand für einen Ketzer halte, half ihm nicht. Weitere Marginalien Berquins aus anderen Schriften kamen hinzu. Sie betrafen u.a. die Rechtfertigung und die Gebete zu den Heiligen. Berquin galt nun als rückfälliger Häretiker und wurde zum Tode verurteilt. Margarete von Navarra wandte sich an ihren Bruder, den König, der in Spanien im Gefängnis saß. Ein entrüsteter Brief Franz I. rettete Berquin erneut. Ein Zeichen dafür, dass der König de Berquin fallen ließ, war die Übersendung der Schrift Duodecim articuli infidelitatis Bedae an die Theologische Fakultät. Als im Jahr 1529 wiederum Anklage gegen de Berquin erhoben wurde, griff der König nicht mehr ein. De Berquin wurde verbrannt; die Theologen triumphierten. Der Fall zeigt, dass in Frankreich zwischen „Lutheranern“ und Humanisten nicht unterschieden wurde. Bedas Schrift aus dem Jahr 1526 bestätigt es. 4. Bedas Streitschrift gegen die „theologisierenden Humanisten“ Erasmus von Rotterdam und Faber Stapulensis (1526) Sein Hauptwerk gegen Erasmus und Faber Stapulensis aus dem Jahr 1526 trug den Titel „Annotationum Natalis Bedae Doctoris Theologi Parisiensis in Iacobum Fabrum Stapulensem libri duo: Et in Desiderium Erasmum Roterodamum liber unus, qui ordine tertius est“. Die zentrale Aussage lautet: Die Gräzisten behaupten, sie überlieferten das Evangelium reiner, als die Kirche und ihre Doktoren es tun. Das habe einen Beigeschmack von Blasphemie gegen Christus und den Heiligen Geist und von verdammenswerter Anmaßung und Stolz. Fabers Übersetzung in die Volkssprache habe zur Folge
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eine Welt voller Häresie, Übertretungen der Gesetze, zahllose Blasphemien gegen die Gottesmutter und andere Heiligen, […] Schisma und Rebellion, und […] Schurkereien dieser Art, die über alle Grenzen anwachsen. O, dass sie (die Multilinguisten) diese Dinge verstünden und Buße täten noch zu diesem späten Zeitpunkt!
Beda ging noch einen Schritt weiter. In der Vorrede unterscheidet er zwei Quellen der Reformation, „die pestartige Lehre“ Luthers und die der „theologisierenden Humanisten“, greifbar in des Erasmus Paraphrasen zum Neuen Testament und den Kommentaren Fabers. Denn sie erachten die Professoren der heiligen Schriften als völlig inkompetent auf ihrem Gebiet, indem sie verkündigen, sie würden alt werden zwischen lediglich philosophischen Lappalien und sophistischen Beweisführungen, die die göttlichen Worte kaum von der (Tür)Schwelle aus begrüssen und die das Lesen der alten Theologen, das heisst, die heiligen Doktoren der Kirche, als völlig ungeeignet betrachten. […] Sie (die Humanisten) wollen selbst für wahre und genuine Theologen gehalten werden und für solche Leute, die natürlich die göttliche und (wie sie sagen) reine Erkenntnis der Theologie aus ihren wahren Quellen entnehmen und nicht aus stehenden Gewässern. Das heisst, […] sie lassen den Wissenschaftszweig der Philosophen und der scholastischen Theologen ausser acht.
Die Lösung müsse sein, dass die Aufgaben der Humanisten und Theologen klarer voneinander geschieden würden und die Aufgabe des Predigens des Evangeliums denen anvertraut würde, die geschult sind in scholastischen Distinktionen und Definitionen und der lateinischen christlichen Tradition verpflichtet seien. Wo liegt die Trennungslinie zwischen humanistischen Studien und der Theologie? Die Humanisten sollen sich auf menschliche Dinge beschränken. Gott missbillige, dass das Volk an heidnische Eleganz gebunden wird, wie der heilige Paulus in seinen Schriften zeige. Die Doktoren, die die elegante Sprache praktizieren, seien nicht an sie gebunden, sondern ihre Schriften stellten diese umso weniger zur Schau, als sie in der Gnade Gottes Fortschritte machen. Die humanistischen Studien spielen also nach Bedas Meinung eine völlig untergeordnete Rolle. Alle theologischen Angelegenheiten können nur von scholastisch geschulten Theologen beurteilt werden. Im August 1526 verbot der König den Verkauf des Buches. Im Juli 1527 beklagte er gegenüber der Theologischen Fakultät die Handlungsweise Bedas und verlangte im September von ihr, sie sollte das Buch prüfen.7 Als der König im Jahr 1529 die Institution der „königlichen Lektoren eingeführt hatte, die zuerst in den Schulanstalten des Studentenviertels zerstreut lehrten, später aber das sogenannte Collège Royal und schließlich
7 BEDOUELLE, G., Lefèvre d’Étaples, 111; vgl. Erasmus an J. Vergara, den Hofkaplan Karl V., am 2. September 1527; Allen VII, 164–165.
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das Collège de France bildeten“8, musste es erneut zum Zusammenstoß kommen, denn die Lektoren für Hebräisch und Griechisch legten auch die biblischen Bücher aus. Die „theologisierenden Humanisten“ waren nun eine akademische Institution in Paris. Sie unterstanden aber nicht der Universität, sondern direkt dem König. Im Herbst 1533 brach der Kampf um die Rechte der königlichen Lektoren offen aus. Er war nur eine Fortsetzung der Kraftprobe zwischen König Franz I. und Beda bzw. der Theologischen Fakultät. Die Nachwirkungen reichten bis ins Frühjahr 1534. Calvin war an diesem Streit beteiligt, denn er studierte im Sommer 1533 am Collège de France. Er hatte sich für die Laufbahn eines humanistischen Gelehrten entschieden und gehörte in den Augen Bedas und der Fakultät gleichfalls zu den „theologisierenden Humanisten“. Die Rektoratsrede vom 1. November 1533 ist unter diesem Aspekt zu betrachten. 5. Calvins Stellungnahme zur Vulgata im Jahr 1535 In der Vorrede zur Olivétanbibel vom Jahr 1535 äußert Calvin sich auch zur Vulgata und zur Übersetzung der Bibel in die Landessprache. Er greift damit in die Diskussion Bedas und der Theologischen Fakultät der Sorbonne mit Erasmus, Faber Stapulensis, Briçonnet, Margarete von Navarra und letztlich auch dem König ein.9 Er schreibt dazu:10 Andere Leute, die als ein wenig gerechter erscheinen wollen, geben vor, dass mit der Vulgata (vulgari usu) das gemeine Volk zufrieden sein müsse. Die [französischen] Übersetzungen würden nicht nur gegen die Wahrheit der Sprache [sc. der Vulgata], sondern auch gegen die Eigenart des Sprechens selbst11 verstossen. Sie müssten sich eher in den Bibliotheken der Gebildeten befinden, als überall in die Hände der Unerfahrenen fallen. Unter denen seien, wie sie sagen, nur wenige, die irgend etwas verstünden; die meisten nähmen Anstoss an dem Ungewöhnlichen (novitas). Was diese Leute beabsichtigen, begreife ich nicht, es sei denn, dass sie alleine weise sein wollen. Da sie nämlich leugnen, dass die reinere Übersetzung (interpretatio) von einigem Nutzen ist, anstatt die jetzt gebräuchliche, an sehr vielen Stellen ganz entstellte [der 8 BOSSERT, A., Johann Calvin, Giessen 1908, 28. 9 ROUSSEL, B., Un privilege pour la Bible d’Olivétan (1535)? Jean Calvin de la polémique entre Alexandre Alesius et Johannes Cochlaeus, in: PETER, R./ROUSSEL, B. (Hg.), Le livre et la Réforme, Bordeaux 1987, 233–261, bezieht die Vorrede auf die Schrift des Schotten Alexander Alesius, der in Wittenberg Zuflucht gefunden hatte, gegen das Dekret der schottischen Bischöfe, das Neue Testament in der Landessprache zu lesen, aus dem Jahr 1533. Hinzu kommt die Entgegnung des Johann Cochläus aus demselben Jahr. Calvin habe beide Schriften gekannt (240). Doch liegt es viel näher, die Vorrede Calvins auf die jahrelangen Auseinandersetzungen Bedas und seiner Anhänger zu beziehen. 10 COR VI,1, 111, Z. 95–109. 11 Ad linguarum veritatem [et] ipsam loquendi proprietatem. Gemeint sein könnten die im 16. Jahrhundert noch bestehende Vielfalt und die Dialekte der französischen Sprache.
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Vulgata], so schmähen sie deutlich den Heiligen Geist [Eph 4,30], dessen (Gnaden-) Gabe die Deutung der Sprachen ist, wie Paulus beteuert [1.Kor 12,10] und fordert, dass es zur Erbauung der Gemeinde beitrage [Eph 4,29].Wenn sie die Gabe selbst verachten, sind sie Frevler. Wenn sie wollen, dass sie unterdrückt wird, damit sie nicht vielen dient, dann sind sie missgünstig und ungerecht. Ich gestehe ein, die (Sucht nach) Neuheiten [Apg 17,20f] ist mehr als widerwertig, weil es viele Bäuche gibt, die nicht ernährt werden, es sei denn sie werden mit Eicheln gefüttert, auch wenn Feldfrucht gefunden wird.
Calvin greift nicht nur die Fehlerhaftigkeit der Vulgata an, sondern mahnt auch zur Erbauung der Gemeinde durch eine verständliche Fassung des Wortes Gottes.12 Das Wirken des Heiligen Geistes werde sonst geschmäht. Wer die scheinbar gerechter Denkenden sind, wird nicht gesagt.
Kapitel 2: Die Quellen für eine Vita Calvini Die Quellenlage für die Beschreibung des Lebens und Werkes des jungen Calvin ist gut. Dies Urteil stützt sich auf die folgenden Fakten (zusammengestellt bis zum Jahr 1536). 1. Briefwechsel und Druckwerke Schon die Tatsache ist bemerkenswert, dass aus den Jahren 1530 bis 1536 ein persönlicher Briefwechsel Calvins erhalten ist, der 19 Stücke umfasst.13 Aus der Frühzeit der anderen Reformatoren gibt es in der Regel nur wenige Briefe. Hinzu kommen die Druckwerke: Zur Verteidigungsschrift seines Freundes Du Chemin zugunsten des Rechtsprofessors Stella mit dem Titel Antapologia schrieb er ein Vorwort (1531). Es folgen der Kommentar zu Senecas Schrift De Clementia mitsamt dem Widmungsschreiben an Claude de Hangest (1532), die (umstrittene) Rektoratrede Cops (1533) und die Vorreden zur Schrift Psychopannychia (1534 und 1536). Neu hinzu kommen sechs Predigtentwürfe, verfasst in Angoulême (1534). Von Calvin stammen 12 Nach der Rektorwahl am 17. Dezember 1531 beschloss die Universität: „An diesem Tag ist verboten worden, die Psalmen Davids in der französischen Fassung von Marot zu lesen (so die Akten der Germanica natio). Da aber einige Leute Häretisches hervorsprossen lassen aus den Gedichten eines Buches, das die Psalmen Davids enthält, ist am 17. Dezember in der Versammlung, gehalten in dem Gebäude der Mathuriner, (beschlossen worden), dass fortan Bücher dieser Art nicht verkauft werden dürfen.“ BULAEUS, Historia universitatis Parisiensis, 6 Bd., Paris 1665– 1673, VI, 234. 13 COR VI, 1.
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nicht nur die lateinische Vorrede zur Olivétanbibel und die Einführung zum Neuen Testament, sondern auch die zum Alten Testament und zu den Apokryphen (1535). Berühmt wird Calvin durch den Brief an König Franz I. von Frankreich (1535). In diesem Jahr beginnt wohl auch die Abfassung der Institutio Christianae Religionis (1536). Die Forschung kann also viele Druckwerke Calvins heranziehen. Hierher gehören auch die späteren Berichte Calvins über seine Frühzeit im Widmungsbrief zum 2. Korintherbriefkommentar, gerichtet an Melchior Volmar (1546), zum 1. Thessalonicherbrief, gerichtet an Maturin Cordier (1550), und natürlich in seiner Autobiographie in der Vorrede zum Psalmenkommentar (1557). Hinzu kommen noch vereinzelte spätere Bemerkungen über seine Jugend. 2. Weiteres Material aus Archiven Es gibt viele Dokumente aus lokalen Archiven, die von großer Bedeutung für die Biographie des jungen Calvin sind. Ihre Bedeutung liegt in ihrem Inhalt und in ihrer genauen Datierung. Denn der erwähnte persönliche Briefwechsel Calvins ist mit dem Mangel behaftet, dass keiner der 19 Stükke eine Jahreszahl trägt. Einige sind sogar ohne Tag- und Monatsangabe. Dies gibt in der Forschung zu vielen Mutmaßungen und Verwirrungen Anlass. Auch wenn einige vom Inhalt her sicher zu datieren sind, bleibt bei den anderen die Ungewissheit. Umso wichtiger sind die folgenden Dokumente. (Die Nachweise über die wechselnden Pfründen Calvins bei LEFRANC, A., La jeunesse de Calvin, Paris 1888, pièces justificatives, 103ff, sind hier im Einzelnen nicht aufgeführt.) Calvins Vater, Gérard Calvin, stirbt am 26. Mai 1531 (LEFRANC, A., La jeunesse, 199). Erste Nennung Johann Calvins als „licencié ès lois“ (doctor iuris utriüsque) am 14. Februar 1532 bei der Regelung des elterlichen Erbes durch Charles Calvin. Am 30. April, 9. Juli 1529, 26. Februar 1530, 10. Mai und 11. Juni 1533 (in Orlèans) und am 4. Mai 1534 wird er in den Akten von Noyon magister [artium] genannt. (LEFRANC, A., La jeunesse, 197–203; vgl. LE VASSEUR, J., Annales de l’eglise cathedrale de Noyon, Paris 1633, 228. No.4; M. DOINEL, Jean Calvin à Orléans, BSHPF XXVI, 1877, 178, Anm. 4). Calvin fungiert für das akademische Jahr (Trimester) als Vertreter des Prokurators der Nation Picardie bei deren Zusammenkunft in Orlèans am 10. Mai und 11. Juni 1533 (DOINEL, M., Jean Calvin à Orléans, BSHPF XXVI, 1877, 179; LEFRANC, A., La jeunesse, 203f; DOUMERGUE, E., Jean Calvin. Les hommes et les choses de son temps, Lausanne 1889, I, 299f).
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Teilnahme Calvins an der Sitzung des Domkapitels in Noyon am 23. August 1533, in der Gebete gegen die Pest angeordnet wurden. (LEFRANC, A., La jeunesse, 200, 107). Bericht über die Rektoratsrede Cops und die Verhandlungen der Universität am 19. November 1533 (Brief Rodorigo Manrique an Ludwig Vives vom 9. Dezember 1533, in: DE VOCHTE, H. (Hg.), Monumenta Humanistica Lovaniensia IV, 1954, 437–441). Am 24. 1. 1534 Tod Briçonnets, des Bischofs von Meaux (CO 21, 193). Calvin legt am 4. Mai 1534 in Noyon seine Ämter nieder, indem er seine Pfründen zurück gibt. (LEFRANC, A., La jeunesse, 201, 44). Gegen Calvins Bruder Charles wird in Noyon am 6. Mai 1534 eine Untersuchung eingeleitet, die noch im Mai eine „irrende Vorstellung“ feststellte (LEFRANC, A., La jeunesse, 201; 19ff). Calvin in Noyon im Gefängnis vom 26. Mai bis 3. Juni und erneut am 5. Juni 1534 (LEFRANC, A., La jeunesse, 201; 44ff, 201). Geschichte der Universität Paris der Jahre 1530 bis 1535 (BULAEUS, Historia universitatis parisiensis, Teil VI, Paris 1673, 226–264). Sie nimmt eine hervorragende Stellung ein, weil Bulaeus aus den Akten der Universität zitiert und insbesondere die Ereignisse des Jahres 1533 dokumentiert. Diese und andere Quellen werden in der Calvinforschung selten oder nicht genügend herangezogen. 3. Bezas Vita Calvini Ein „unentbehrliches Dokument für die Biographie“ Calvins14 ist die Vita Calvini Theodor Bezas (CO 21, 21–173) Sie bringt trotz der sonst guten Quellenlage viele Einzelheiten und sie schildert die Zusammenhänge der Ereignisse. Bezas Lebensbeschreibung Calvins gibt es in dreifacher Form. Zuerst erschien sie als Vorwort zum französischen Josuakommentar (1564), dann in einer Neuausgabe, aber überarbeitet von Calvins Kollegen Nikolaus Colladon (1565), und schließlich lateinisch von Beza stark erweitert und zusammen mit den Epistolae et Responsae Calvins veröffentlicht (1575). Es hat sich die Abkürzung Vita I, Vita II und Vita III eingebürgert, der wir folgen. Ohne Kenntnis der Vita Calvini böte die Biographie des jungen Calvin das Bild eines Mosaiks, bestehend aus vielen Steinchen und vielen Lücken. Sie wäre als Ganzes dementsprechend unvollständig und ungewiss. Da 14 CO 21, 8; auf 17f, heißt es: Gemäss den verschiedenen Rezensionen des Werkes Bezas seien diese eher Lobreden (panégyriques) als Biographien im aktuellen Sinn des Wortes. Im Vergleich zu heutigen Standards mag dies stimmen, schmälert aber nicht ihren Wert als Quelle.
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Beza die Druckwerke aus der Frühzeit Calvins kennt und eingearbeitet hat, sollte seine Vita Calvini in der Forschung nicht als eine Quelle unter anderen behandelt werden, sondern es sollte eingestanden werden, dass sie die Hauptquelle jeder Calvinbiographie ist, insonderheit der des jungen Calvin. Dies gilt umso mehr, weil sie dort, wo sie nachprüfbar ist, zuverlässig ist. Es ist nur konsequent, dieses Urteil auf die ganze Darstellung Bezas auszudehnen. Beza war seit dem Jahr 1558 ein enger Mitarbeiter und Vertrauter Calvins in Genf.15 Als Franzose, der ebenso wie vor ihm Calvin Hausgenosse Volmars in Orlèans und Bourges gewesen war, war er mit den dortigen Verhältnissen wohlvertraut. Dasselbe gilt von Nikolaus Colladon, Calvins Kollege in Genf. Es gibt keinen Grund, ihren Angaben nicht zu glauben. Zudem sind Vita II und Vita III jeweils Erweiterungen der vorangehenden Fassung; sachliche Veränderungen finden sich selten. Auch dies bekräftigt die Zuverlässigkeit der Darstellung. Die folgende Synopse zeigt das Anwachsen und die Abweichungen der drei Lebensbeschreibungen. Sie stellt die hauptsächlichen Aussagen über die Jugend- und Studienzeit nebeneinander und macht zugleich mit wichtigen Texten bekannt. Die lateinische Vita III fügt hinzu: „Sein Vater bestimmte ihn von „Calvin hatte seitdem (seit dem Studium in Paris) eine einzigartige Anfang an für das Theologiestudium, zu dem der Sohn überdies Geistesbegabung und eine ganz hinneigte; er folgerte dies daraus, große Gewissenhaftigkeit, war ein dass jener in zartem Alter schon Feind des Lasters und ganz dem auf ausserordentliche Weise religiDienste Gottes – was auch immer ös war und ein harter Kritiker aller man damals so nannte – zugetan, (und zwar) derartig, dass sein Herz Laster bei seinen Kameraden. Ich erinnere mich, dies von einigen, völlig der Theologie zugewandt auch katholischen zuverlässigen war. Zeugen viele Jahre später, als sein Name berühmt war, gehört zu haben. Deshalb gleichsam für die Das war die Ursache, dass man ihn heiligen Dinge (Kirchendienst) mit einer Pfründe an der Kathedrale bestimmt, hat der Vater eine sogevon Noyon versah. [Vita II + wie er nannte Pfründe durchgesetzt, vom auch ein Pfarrer von Pont l’Evesque Bischof von Noyon in der Kathedrale (verliehen), und später auch war.] Vita I und Vita II:
15 In der Vita III bemerkt Beza zu Calvins Aufenthalt in Paris 1531/32, er habe ihn später häufig den Namen des Kaufmanns Stephan Forge als einen der Anhänger der reineren Religion nennen hören; CO 21, 122.
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die Stelle eines Pfarrers einer Gemeinde in dem benachbarten Ort Pont l’Eveque, in dem der Vater Gérard Calvin geboren war, und von dem er später in die Stadt überwechselte. Es steht fest, dass Johann Calvin, bevor er Frankreich verliess, ohne irgendwelche päpstlichen Weihen empfangen zu haben, einige Predigten für das Volk gehalten hat. Dieser Plan wurde von beiden Jedoch entschloss sich sein Vater, ihn die Rechte studieren zu lassen. aufgegeben, weil sie ihren Sinn geändert hatten. Vom Vater des[Vita II + da er sah, dass sie ein halb, weil die Jurisprudenz ein besseres Mittel war, zu Vermögen sicherer Weg zu Vermögen und und Ehre zu gelangen.] Und da er Ehre zu gelangen, vom Sohn, weil auch selbst seinerseits durch die Vermittlung seines Verwandten und er von seinem Verwandten Pierre Robert Olivétan, der die Bibel aus Freundes, des Magisters Peter Rodem Hebräischen für die französibert, auch Olivetanus genannt, der sche Kirche übersetzte (gedruckt in später die Bibel aus dem HebräiNeuchatel), über die wahre Religischen ins Französische übersetzte (gedruckt zu Neuchatel), schon einen on belehrt wurde und begann, sich Vorgeschmack von der reinen Religi- dem Bibellesen hinzugeben, von den abergläubigen Dingen zurückon erhielt und begann, sich vom zuschrecken und sich von den päpstlichen Aberglauben zu lösen. heiligen Dingen (Gottesdiensten) fernzuhalten. Das war dann neben der aussergewöhnlichen Verehrung, die er seiEr begab sich, um das Zivilrecht zu nem Vater entgegenbrachte, der Grund, warum er darin einwilligte, hören nach Orléans. Dort lehrte damals der sicherlich führende [Vita II + fleissig das Studium der Rechte zu betreiben statt der Theo- unter den Rechtsgelehrten in Frankreich, Petrus Stella. Er machlogie, denn zu der Zeit war die Theologie in allen Schulrichtungen te in kurzer Zeit so überraschende Fortschritte, dass er sehr oft an verdorben,] und nach Orléans zu Stelle der Dozenten trat und mehr gehen.“ für einen Lehrer als für einen Hörer gehalten wurde. Als er wegging, wurde ihm der Doktorgrad ohne „Indessen hörte er nicht auf, sich mit der Heiligen Schrift zu beschäf- Bezahlung dargeboten.“ tigen und zwar
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mit Gewinn und so glücklich, dass alle Gefallen fanden, denen Gott ihr Herz zum Lernen bewegte, so dass es verschiedene Leute gab, die er über die Religion bekannt machte. Sie alle brachten ihm nicht allein eine einzigartige Zuneigung entgegen, sondern waren auch voller Bewunderung über die Gelehrsamkeit und den Eifer, die er hatte.“ [Vita II + Um auf die Zeit seiner Studien zurückzukommen, so gab es glaubwürdige Personen, die mit ihm in Orléans Umgang hatten, die sagen, dass er oftmals bis Mitternacht angestrengt studiert habe, und um dies zu tun, habe er ganz wenig zur Nacht gegessen. Wenn darauf der Morgen anbrach, blieb er noch einige Zeit im Bett und memorierte und wiederholte alles, was er am Abend studiert hatte. Ohne Zweifel haben die Nachtarbeiten seine Gesundheit angegriffen. Aber er nahm diese Stunden für seine hauptsächlichen Studien, um sie ungezwungener und ohne Unterbrechung fortführen zu können. Und ich (Colladon) glaube, dass diese Studien die Grundlage seines großen Wissens waren, das er in der Heiligen Schrift besass, und förderlich für das einzigartige Gedächtnis waren, das er später hatte.“] „Weil die Universität von Bourges überdies im guten Ruf stand durch ihren exzellenten Rechtsgelehrten Andreas Alciati, der dort lehrte, wollte Calvin ihn gern sehen und hören.“
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Dennoch betrieb er gleichzeitig inzwischen das Studium der Heiligen Schrift und machte darin solche Fortschritte, dass diejenigen, die in der Stadt zum Eifer bewegt wurden, die reinere Religion kennenzulernen, oft zu ihm kamen, um sich zu erkundigen. Sie bewunderten sehr seine Gelehrsamkeit und seine Begeisterung.
Es bezeugen auch einige heute noch Lebende, die ihm damals nahe standen und seine Kameraden waren, dass er während dieser Zeit gewohnt war, nachdem er wenig nur am Abend gegessen habe, bis Mitternacht zu arbeiten, am Morgen aber aufzuwachen und, was er gelesen hatte, im Bett ziemlich lange einzuüben und gleichsam zu überdenken, und er litt es nicht, in dieser Meditation unterbrochen zu werden. Durch dieses ständige nächtliche Wachbleiben erlangte er zwar eine gründliche Gelehrsamkeit und ein hervorragendes Gedächtnis, zog sich aber wiederum eine Schwäche des Magens zu, welche zu verschiedenen Krankheiten und zum frühzeitigen Tod führte.“ Es stand damals die Universität Bourges in großem Ansehen, weil aus Italien der beste Rechtsgelehrte seiner Zeit, Andreas Alciati, berufen worden und dorthin gekommen war. Ihn meinte auch unser Johann hören zu müssen.
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Unter anderen Leuten, die er in diesem Fall in Bourges oft besuchte, war ein vortrefflicher Deutscher, der Professor für griechische Literatur mit Namen Melchior Volmar, bezahlt von der Königin von Navarra, Herzogin Berry, den er seinen Meister und Lehrer nennt.“ „Trotz seiner Jugend war er (in Paris) bekannt und wurde verehrt von allen denen, die ein Gefühl für die Wahrheit hatten.“ [Vita II: unter ihnen war Stephan Forge.]
„Zur Zeit, als Herr Cop zum Rektor der Universität ernannt war, wurde Calvin an den (königlichen) Hof gesandt, um ein vorläufiges Urteil niederzuschlagen. Er war dort bekannt und wurde sehr gut aufgenommen von denen, die eine rechte Zuneigung und ein Verständnis für diese Prozesse zeigten.“
Als er nach Bourges übersiedelte, schloss er mit Melchior Volmar wegen dessen Religions und Literaturkenntnissen Freundschaft, einem Deutsche aus Rottweil, der dort damals Professor für griechische Literatur war“ „Von diesem Förderer und Helfer lernte Calvin die griechische Literatur.“ „In Paris wurde er in wenigen Monaten [1531/32] allen bekannt, die der reineren Religion zugetan waren.“ Unter ihnen war Stephan Forge. “Von der Zeit an gab Calvin die übrigen Studien auf und weihte sich ganz Gott mit größter Zustimmung aller Frommen, die damals in Paris geheime Versammlungen abhielten.“ „Aber zu diesem Zeitpunkt [nach der Rede Cops] hat der Herr (die Grausamkeit der Richter) zunichte gemacht durch die Vermittlung der Margarete von Navarra, der einzigen Schwester des Königs Franz, einer Frau begabt mit einem bewundernswerten Geist, nachdem Calvin an ihren Hof (in Paris) gesandt und dort von ihr sehr ehrenvoll empfangen und angehört worden war.“
Es bleibt die Histoire écclesiastique des églises réformées royaume de France (1580) zu nennen. Die Verfasserschaft Bezas wird teils bejaht, teils verneint.16 Sein Bibliograph F. GARDY meint, Beza habe die Herausgabe des Werks überwacht.17 16 Vgl. HEPPE, H., Theodor Beza. Leben und ausgewählte Schriften, Elberfeld 1861, 382. 17 Bibliographie des œuvres théologiques. littéraires, historiques et juridiques de Théodore de Bèze, Genf 1960, 222. Vgl. TRE 5, 768.
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Ein Vergleich mit der Vita Calvini ist nur begrenzt möglich, weil Beza in der Histoire die Reformation im Lande beschreiben will und deutlich an der Beschreibung der Standhaftigkeit der Bekenner und Märtyrer und an dem Versagen der Rückfälligen interessiert ist. Das Werk verdient in einer Biographie des jungen Calvin Beachtung.
Kapitel 3: Jugendzeit und Studium an der Artistenfakultät in Paris (1509–1528) Über die Jugendzeit der meisten Reformatoren ist wenig überliefert. Sie selbst geben, so war es Brauch, nur wenige Erinnerungen weiter. Dies gilt auch für Calvin. Sehr spärlich fließen die Quellen für seine Zeit im Collège de la March und Montaigu. 1. Calvin in Noyon Auskunft über Calvins Familie und Kindheit geben Beza und Colladon Johann Calvin wurde in Noyon, einer berühmten Stadt in der Picardie oder sehr nahe zur Picardie, am 10. Juli im Jahr des Herrn 1509 geboren.Der Vater hieß Gerard Calvin, seine Mutter Johanna Lefranc. Beide Eltern hatten einen ehrenhaften Ruf und waren nicht unbemittelt. Gerard war ein Mann von nicht geringer Urteilskraft und Klugheit und war daher hochgeschätzt bei den meisten Adeligen der Gegend. Das war der Grund, warum sein Sohn [Johann] Calvin in der Familie De Montmor von Jugend an ganz vornehm, aber auf Kosten des Vaters erzogen wurde; diese Familie war dort wegen ihrer edlen Art besonders ausgezeichnet.18 Colladon geht in der Vita II auch auf die Herkunft der Familie und auf Calvins Geschwister ein. Calvin hatte vier Brüder, und zwar war Charles der älteste, der nach dem Tod des Vaters betagt starb. Antoine war sein zweitgeborener Bruder, der noch heute [1565] lebt. Er hat ihn immer begleitet, seit 28 Jahren. Es gab zwei weitere Brüder, von denen der eine auch Antoine hieß, der andre François. Sie starben in jungen Jahren. Was Calvin betrifft, so wurde er Johann genannt und wurde zur heiligen Taufe dargebracht durch einen Domherrn, Jean de Vatines mit Namen. „Sein Vater hiess Gerard Calvin und war in einem Dorf nahe bei Noyon mit Namen Pont l’Evesque geboren, wohnte aber immer in der Stadt Noy-
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CO 21, 121; ebenso in der ersten und zweiten Gestalt der Vita Calvini, CO 21, 29 und 53.
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on. Seine Mutter hiess Johanna Lefrance.“ Im Weiteren folgt Colladon Bezas Angaben.19 Das Widmungsschreiben zum Senecakommentar „an den Prälat Claude de Hangest, Abt von St. Eligius in Noyon“, datiert vom 4. April 1532 in Paris, enthält eine wichtige Information: Warum er das Werk Claude dedizierte und nicht Jean, der im Jahr 1532 Bischof von Noyon wurde, ist nicht bekannt. Vielleicht geschah es, weil Jean sich als Bischof große Freiheiten herausnahm und mit dem Kapitel im Streit lag.20 Calvin schreibt: Ich verdanke Euch alles, was ich bin und was ich habe, und wahrlich noch mehr, weil ich als Junge in Eurem Haus erzogen und in dieselben Studien mit Euch eingeführt wurde, indem ich den ersten Unterricht in Leben und Gelehrsamkeit (litterae) in Eurer überaus vornehmen Familie empfing und davon trage.21 Der Satz erlaubt einen Rückschluss auf die Dauer seiner schulischen Unterweisung, obgleich der Zeitpunkt des Beginns und Abschlusses unbekannt ist. Nun könnte wenigstens die Beendigung des Schulunterrichts aus dem Datum der Übersiedlung nach Paris geschlossen werden. Aber auch diese Jahreszahl steht nicht fest. T.H.L. PARKER macht darauf aufmerksam, dass zwei Jahresangaben möglich sind. Da die Pfründe, die er in Noyon erhielt, auch als eine Art Studienstipendium zu verstehen ist, ist das Jahr 1521 der frühste wahrscheinliche Termin. Die allgemeine Annahme, er habe 1523 mit dem Studium begonnen, basiert auf dem mehrdeutigen Eintrag im Register in Noyon am 5. August 1523, Gerard Calvin habe seinem Sohn erlaubt, Noyon wegen der Pest bis zum 1. Oktober zu verlassen. Der Eintrag ist kein Beweis für den Studienanfang, und zwei Monate sind auch kein Semester.22 Ein Vergleich mit der Studienzeit der anderen Reformatoren hilft weiter. Da diese Männer alle hochbegabt sind, ist ihr Studienablauf mit dem Calvins vergleichbar. Eine Synopse ergibt:
19 CO 21, 53. 20 Vgl. BOSSERT, A., Johann Calvin, 10. 21 CO 5, 8. 22 PARKER, T.H.L., John Calvin, London 1975, 156–158. Siehe Datierung HERMINJARD, A.L, Correspondance des Reformateurs Genève, Paris 1870, Nachdruck Nieukoop 1965, Bd. 2, 279, Anm. 2.
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Frühe Kindheit Luther 7 Jahre (1483–1491) Zwingli 5 Jahre (1484–1489) Melanchthon 6 Jahre (1497–1503 ?) Bullinger 5 Jahre (1504–1509)
Lateinschule
Artistenfakultät
Universitätsgrade
10 Jahre (1491–1501) 9 Jahre (1489–1498)
3 Jahre (1501–1504) 8 Jahre (1498–1506)
Baccalaureus 1502 Magister art.1504 Baccalaureus 1504 Magister art.1506
6 Jahre (Privatunt.) (1503 ?–1509) 10 Jahre (1509–1519)
5 Jahre (1509–1514)
Baccalaureus 1511 Magister art.1514
3 Jahre (1519–1522)
Baccalaureus 1520 Magister art.1522
Die nachfolgenden Berechnungen würden für Calvin als wahrscheinliche Daten ergeben: Calvin 7 Jahre (1509– 1516)
7 (8) Jahre (Privat.) (1516– 1523/24)
4 (5) Jahre (1523/24–1528)
Baccalaureus 1526 Magister art. 1528
Es ergeben sich aus einem Vergleich einige hilfreiche Beobachtungen für den Studiengang Calvins. 1. Kinder wurden um die Wende vom 15./16. Jahrhundert früh eingeschult. Bedenkt man, dass es keine Volkschulen gab, sondern auf den Latein- oder Trivialschulen neben dem Lesen und Schreiben sofort Latein gelehrt wurde, so erscheint die Einschulung heute als unangemessen früh. Es war „im Mittelalter Regel, den Schulbesuch mit dem siebten Lebensjahr zu beginnen.“23 Demnach begann für Calvin etwa mit sieben Jahren, also 1516, der schulische Unterricht. Er erhielt wie Melanchthon Privatunterricht, und zwar mit den Söhnen der Familie de Hangest. 2. Warum die Schulzeit bei Luther, Zwingli und Bullinger neun bis zehn Jahre währte, lag vermutlich daran, dass in den öffentlichen Lateinschulen der Stoff mit viel Strenge eingebläut wurde. „Die Lernmethode auf den Trivialschulen war eine sehr einfache. Es wurde eingepaukt, dekliniert, konjungiert, auswendig gelernt, bis der Stoff endlich sass.“24 Sie erforderte daher viel Zeit. Für Calvin muss die allgemeine Regel gegolten haben: „so vertauschte man im Mittelalter ebenfalls mit etwa 15 Jahren die Lateinschu23 24
BLANKE, F., Der junge Bullinger, Zürich 1942, 11 (Zwingli-Bücherei 22). BLANKE, F., Der junge Bullinger, 17.
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le mit der artistischen Fakultät.“25 Er wird also (wie Zwingli und Bullinger) mit 14 oder auch 15 Jahren die Schule beendet haben. Das heißt, er begann in Paris das Universitätsstudium im Jahr 1523 oder 1524. Der von T.H.L. Parker vorgeschlagene Termin 1521 ist zu früh. Er hätte in diesem Fall viel zu lang die sieben freien Künste studiert. 3. Die Trivialschule sollte auf die Universität, genauer auf das philosophische Vorstudium vorbereiten. Das Trivium bestand aus Grammatik und ein wenig Logik und Rhetorik und sollte die Studierfähigkeit gewährleisten. In der Artistenfakultät wurden die Lateinkenntnisse nachgeprüft und – wenn sie genügten – die Aufnahme beschlossen. Das Trivium der septem artes umfasste also noch einmal und nun intensiv die Grammatik, dazu Dialektik (Logik) und Rhetorik. Der Student musste sich demnach weiterhin in der lateinischen Sprache vervollkommnen. Das Quadrivium (Mathematik, Geometrie, Physik und Astrologie) war dann erstaunlich schnell absolviert, wie die Daten der anderen Reformatoren übereinstimmend bezeugen. Nach zwei Jahren wurde der Grad des baccalaureus artium erworben, spätestens nach vier Jahren der Titel des magister artium. Calvin wird etwa im Jahr 1526 den Grad des baccalaureus artium und spätestens im Jahr 1528 den Grad des magister artium erworben haben. Die Voraussetzung zum Jurastudium war erfüllt. Calvin begann mit ihm sofort in Orléans. Genauere Angaben zu machen, ist nicht möglich, denn die übrigen Quellen schweigen über den Zeitpunkt des Schulunterrichts und der Universitätsstudien. Der Umweg über den Studiengang der anderen Reformatoren führt indessen ein gutes Stück weiter. Über Calvins Jugend wissen wir sonst nicht viel. Es ist anzunehmen, dass er in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit aufwuchs. In der Abhandlung über die Reliquien (1543) macht er sich lustig über die vielen vorhandenen Reliquien der Heiligen Anna, der Mutter Marias. „Unter anderem erinnere ich mich, dass ich einen Teil von ihr in der Abtei von Ourscamp bei Noyon geküsst habe, in der Tat ein großer Festschmaus.“26 Er scheint damals an einer Wallfahrt teilgenommen zu haben. A. LEFRANC, der die Archive in Noyon durchsucht hat, fand viele seine Familie betreffende Fakten verzeichnet. Sie betreffen die Verleihung von Pfründen und die Exkommunikation des Vaters und Bruders. Demnach war ein besonderes Erlebnis für den Zwölfjährigen die Verleihung einer Kaplanstelle. Im Register in Noyon heißt es: Am selben Tag [7. Juni 1521] haben die versammelten Kapläne außerhalb der gewohnten Ordnung, am gewohnten Ort und zur gewohnten Zeit, 25 26
BLANKE, F., Der junge Bullinger, 11. CO 6, 442.
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den demütig bittenden Johann Cauvin, einen jugendlichen Kaplan, der neulich [19. Mai] durch die Domherren (als Kleriker) aufgenommen und installiert worden ist, zu ihrer Co-Kaplanstelle27 [in der Kirche Notre-Dame am Altar La Gésine] zugelassen, nachdem er zuvor zum ersten Mal den gewohnten Eid abgelegt hatte.28 Wie auch immer diese Riten im Einzelnen zu verstehen sind, sie waren für den Zwölfjährigen ein eindrückliches Erlebnis. Dass man sich den jungen Kaplan von nun an als Tonsurträger vorstellen muss29, ist nicht von der Hand zu weisen. Er hatte nun geistliche Pflichten. Am 26. April 1526 ist notiert, dass Charles, der gleichfalls Kaplan war, und Johann nicht zur Versammlung des Generalkapitels erschienen waren.30 Am 27. September 1526 wird Calvin, „Kleriker der Diözese Noyon“, dem Bischof für die fre gewordene Pfarrstelle St.Martin in Martheville präsentiert.31 Er hat sie dann gegen die Pfarrstelle in Pont l’Evesque eingetauscht. Als Calvin zum Studium nach Paris ging, verfügte er über die Einkünfte aus einer Kaplanei und seit 1526 auch über die einer Pfarrstelle; er musste nur seine Vertreter bezahlen. Als Calvin längst Noyon zum Studium verlassen hatte, wurden sein Vater und Bruder in Auseinandersetzungen mit der Kirche verwickelt. A. LANG gibt eine gute Zusammenfassung. Am 27. Juni 1526 wird zum erstenmale, dann weiter am 15. Mai, 30. August und 13. November 1528 gegen Gerhard Calvin vor dem Kapitel verhandelt, weil er über Ausführung der Testamente zweier Kleriker, zu deren Vollstrecker er ernannt war, keine Rechenschaft ablegen wollte. Merkwürdigerweise sind es dieselben Kleriker, durch deren Resignation Karl wie Johannes Calvin ihre Pfründen am Altar Gésine erlangt hatten. Da alle Aufforderungen des Kapitels, sich zu rechtfertigen, ohne Folge blieben, hatte der alte Prokurator sich damit ipso facto die Exkommunikation zugezogen. Doch liessen sich nach seinem Tod die Richter erbitten und sprachen den Verstorbenen los, auf das Versprechen des ältesten Sohnes hin, er werde bis zum Remigius-Tag alle Forderungen erfüllen. Gleichwohl wurde die Sache, wie es scheint, nicht geordnet; vielmehr wurde jetzt auch Karl Calvin in immer heftigeren Streit mit dem Kapitel verwickelt. Schon am 11. Februar 1529 und am 13. Februar 1530 war er zensuriert worden, weil er in dem einen Fall einen Kirchendiener beleidigt, in dem anderen einen Kleriker geschlagen hatte (frappé avec violence).
27 Nach CADIER, Jean, Calvin, 9, besaß Calvin „einen der vier Viertel aus den Einkünften des Altars zu Ehren der gebärenden Jungfrau [genannt Gésine (Virgini puerperae)], der sich in der Kathedrale am Eingang zum Chor befand.“ 28 LEFRANC, La jeunesse, 195. 29 GANOCZY, A. , The Young Calvin, 57. 30 LEFRANC, La jeunesse, 196. 31 LEFRANC, La jeunesse, 196.
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Nach dem Tod des Vaters aber traf auch ihn die Exkommunikation, und als er sich trotzdem zum Subdiakon weihen liess, wurde ihm der Eintritt in die Kirche verboten [1531]. Der Streit zog sich ungeschlichtet durch die folgenden Jahre hin. Im Mai 1534 werden ihm nicht nur Verstöße gegen die kirchliche Disziplin, sondern jetzt – aber auch erst jetzt – sogar eine ‚propositio erronea‘, also wohl eine ketzerische Meinung zum Vorwurf gemacht, gegen die man mit aller Vorsicht vorzugehen beschliesst. Drei Jahre später, am 1. Oktober 1537, starb Karl Calvin, ohne mit der Kirche ausgesöhnt zu sein; ja, er wies die Sterbesakramente ohne Scheu zurück und bekannte offen seine Häresie.32
Eine Wertung der Vorgänge ist schwierig und würde eine lange Untersuchung erfordern. Es wird sich zeigen, dass Johann Calvin sie nicht nur gekannt hat, sondern auch in sie verflochten war (s. Kapitel 6, Abschn. 6). 2. Studium der artes liberales in Paris (1523/24–1528) Beza berichtet, dass Calvin mit den Söhnen der Familie de Montmor zum Studium nach Paris übersiedelte.33 Dass er bei seinem Onkel Richard, einem Schmied, in der Nähe von Saint-Germain-l’Auxerrois gewohnt habe, ist völlig ungesichert. Die Angabe über seinen Onkel Richard stammt aus einer Genealogie der Familie Calvin, verfasst am Ende des 16. Jahrhunderts und ist in sich nicht stimmig.34 Die Angabe über sein Wohnen bei dem Onkel liefert zwar ein anschauliches Bild von Calvins Studienanfängen in Paris, ist aber wohl eine Legende.Calvin wird nicht nur mit den Söhnen de Montmor nach Paris gezogen sein, sondern wird dort auch mit ihnen zusammen gewohnt haben. Darauf deutet der gemeinsame Hauslehrer hin. Mit Calvins Widmungsschreiben zum 2. Thessalonicherkommentar, gerichtet an Maturin Cordier, befinden wir uns nun wieder auf gesichertem Boden. Als mich mein Vater noch als Kind nach Paris schickte, hatte ich erst die Grundkenntnisse der lateinischen Sprache geschmeckt. Dort bist du mir von Gott für kurze Zeit als Präzeptor gegeben worden, der mir die richtige Lernweise so beigebracht hat, dass ich daraufhin bessere Fortschritte habe machen können. Denn du hattest mit grösster Auszeichnung die Oberstufe geleitet. Weil du aber merktest, dass die Schüler in eitler Weise unterrichtet worden waren und sie nur hohle Phrasen, aber nichts Gediegenes mitbrachten, so dass sie von dir von neuem ausgebildet werden mussten, so bist du 32 Die Bekehrung Johannes Calvins, Leipzig 1897, Neudruck Aalen 1972, 6f; LEFRANC, La jeunesse, 16–21; 196–201. 33 CO 21, 29, 54, 121. 34 Text s. P. HENRY, Das Leben J. Calvins, 1844, Bd. 3, 174 (Beilage 16). Vgl. zu dem Problem DOUMERGUE, E., Jean Calvin, I, 6f, Anm. 2.
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in diesem Jahr, dieser Mühe überdrüssig, zur vierten Klasse (Abteilung) herabgestiegen. Dies war dein Plan, aber für mich war es eine aussergewöhnliche Wohltat Gottes, einen solchen einleitenden Unterricht zu bekommen. Freilich durfte ich nur kurze Zeit in den Genuss desselben kommen. Denn durch einen törichten Menschen, nach dessen Willen oder besser nach dessen Laune unsere Studien geleitet wurden, versetzte man uns bald in eine höhere Klasse. Doch hat mich dein Unterricht so gefördert, dass ich meine, die späteren Fortschritte durch deinen Verdienst gemacht zu haben.35 Man kann davon ausgehen, dass die in die höhere Klasse Versetzten („wir“) Calvin und die Brüder de Montmor gewesen sind. Denn damals wurde nicht klassenweise versetzt, sondern auf Grund individueller Prüfungen. Veranlasst hat die Versetzung demnach kein Mitglied der Artistenfakultät, sondern der Betreuer der Knaben, vielleicht der sie begleitende Hauslehrer aus Noyon. Er muss der Meinung gewesen sein, die Lateinkenntnisse seiner Schutzbefohlenen genügten für die nächste Klasse. Von der fortschrittlichen Lehrmethode Cordiers hatte der „törichte Mann“ keine Ahnung. Er vertrat die alte Lehrmethode. Weiter berichtet Calvin, er habe die Grundkenntnisse der lateinischen Sprache in Noyon gelernt. In Paris habe Cordier ihn in der vierten Klasse (oder Abteilung) unterrichtet. Dieser habe gewöhnlich in der Oberstufe (primi ordinis) gelehrt. Die Annahme, dies sei die erste Klasse des Lateinunterrichts gewesen, ist falsch. Es gab keine vier auf einander folgende Lateinklassen. Wie ist die Angabe „Oberstufe“ aber zu verstehen? Nach C. THUROT umfasste die Ausbildung drei Stufen. Die erste betraf das Lesen, Schreiben und die Grundzüge der lateinischen Grammatik. Die zweite die Unregelmässigkeiten und Regelwidrigkeiten der Grammatik, die Syntax und die Versmasse. In der dritten Stufe lernten die Studenten die Logik.36 Gemeint ist mit ordo die Gliederung der Artistenfakultät. Diese Ordnung sah vor, dass zuerst das Trivium durchlaufen werden musste, (lateinische) Grammatik, Rhetorik und Dialektik.37 Dann folgte das Quadrivium, nämlich Arithmetik, Geometrie, Astrologie und Musik. Die Artistenfakultät trug diesen Namen, weil in ihr die septem artes liberales studiert wurden. Erst nach deren Absolvierung konnte der Student in eine der oberen Fakultäten eintreten und Theologie oder Jura oder Medizin studieren. Cordier lehrte also in der Oberstufe, das heisst, Rhetorik oder Dialektik. Wahrscheinlich ist die „vierte Klasse“ als „Abteilung“ zu verstehen. Demnach gab es vier parallele Lateinklassen. Calvins Verwunderung über das Herabsteigen Cordiers in den Anfangsunterricht ist deshalb so groß, weil jener ausgerechnet seine Klasse und nicht eine der drei anderen übernahm. Er sah in diesem Zusammentreffen eine besondere Wohltat Gottes. 35 CO 13, 525f (Nr. 1345), vom 22. Februar 1550. 36 De l’Organisation de l’Enseignement dans l’Université de Paris au Moyen-Age, Paris und Besançon 1850. 37 Vgl. PARKER, T.H.L., John Calvin, 5f, der allerdings die „Stufen“ auf die Lateinklassen bezieht.
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Schliesslich fällt auf, dass Calvin zwischen praeceptor und magister unterscheidet. Cordier nennt er einen Präzeptor. Wo war Mathurin Cordier Präzeptor, und worin bestand seine Lehrmethode? Colladon berichtet: „Unter anderen Präzeptoren38 in Paris hatte er den Magister Mathurin Cordier bei seinem Beginn am Collège de la March.“39 Ebenso schreibt Beza in Vita III: „Er hatte als Präzeptor am Collège de la March Mathurin Cordier.“40 Wie verträgt sich diese Aussage mit Bezas gelegentlicher Bemerkung in Vita I: „Mathurin Cordier, sein Regent am Collège Saint Barbe in Paris“?41 Beza lässt dort Calvins Studien am Collège de la March and Montegue unerwähnt. Zur Erklärung muss das Studienwesen in Paris beschrieben werden.
Um die Fakultäten im Stadtviertel Saint-Victor und auf der Anhöhe SaintGeneviève scharten sich die zahlreichen Kollegien, die früher einfaches Obdach für arme Studenten boten, bald jedoch zu Studienstätten wurden, an denen die Magister lehrten. Endlich schlossen sich in der Nähe der Kollegien und in diesen selbst Pädagogien zusammen, das heisst, Gruppen von Schülern, deren Arbeit ein Präzeptor (Studienlehrer) leitete.42 Ein solcher Magister, der ein Pädagogium leitete, war Cordier. Als „Präzeptor“ musste er nicht zum Collège de la March gehören. Er war offenbar Regent am Collège Barbe, lehrte aber auch am Collège de la March.43 Letztlich bleibt Calvins Bindung an das Collège de la March unklar. Die Vielzahl der Studienmöglichkeiten ist für den heutigen Betrachter verwirrend. Es gab 1. die sogenannten boursiers, Bewohner eines Studentenhauses, 2. die convicteurs, Inhaber eines Freitisches, 3. die caméristes, junge reiche Personen, die unter der Leitung eines Pädagogen in einer eigenen Wohnung arbeiteten, 4. die martinets, freie Externe, 5. die galoches, externe Gecken, Studenten mit 10 oder 20 Studienjahren, genannt nach ihren Überschuhen, die sie gegen den Dreck auf der Strasse trugen.44 Calvin war offenbar Externer, der eine der lateinischen Pädagogien im Collège besucht. Es ist nicht anzunehmen, dass er am streng geordneten Tageslauf der Zöglinge dort teilnahm. Da er Einkommen aus Pfründen hatte, war er finanziell unabhängig. Er musste erst einmal das Ziel der Lateinklasse erreichen, um dann, wie wir annehmen, zum Rhetorikunterricht aufzusteigen. Dieses Ziel erreichte er nach kurzer Zeit. Dies spricht für die Qualität des Lateinunterrichts in Noyon und für seine eigene Intelligenz. Es lohnt sich, Cordier näher zuzuwenden. Er lehrte das Fach Rhetorik45, wie sein im Jahr 1530 erschienenes „Buch über die Verbesserung des entstellten Redens und über die Methode des Sprechens auf Lateinisch“ besagt. A. BOSSERT nennt als Hauptge38 Doumergue, E., I, 59, Anm. 2 liest statt precepteurs personnages. 39 CO 21, 54. 40 CO 21, 121. 41 CO 21, 36. 42 BOSSERT, A., Johann Calvin, 15f. 43 MCGRATH, A.E., A Life of John Calvin, 24: „We know that Cordier was employed as a pedagogue by half a dozen or so collèges de plein exercice, in his personal recollections of his Paris period, published on 6. February 1564. 44 QUICHERAT, J., Histoire de Sainte-Barbe, 1860, I, 76; s. DOUMERGUE, E., Jean Calvin, I, 57. 45 DOUMERGUE, E., Jean Calvin, I, 59.
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danken: „Die Pädagogik Cordiers ging auf einige Grundsätze zurück, die uns heute selbstverständlich scheinen, die aber damals zu verkündigen verdienstvoll war. Er wünschte, dass die Schüler nach ihrem Alter zusammengetan würden, dass der Unterricht im ganzen Verlauf der Studien abgestuft würde und dass die grösste Sorgfalt auf die Elemente zu verwenden sei, von denen seiner Meinung nach der Erfolg alles anderen abhinge. Er war allen strengen Strafen abhold.“46
Denn die gute Latinität war für ihn eine Quelle der Weisheit, aus der man nicht frühe genug schöpfen konnte. Er trennte die schönen Wissenschaften nicht von den guten Sitten. ‚Willst du leicht unterrichten,‘ sagt er zum Lehrer, ‚so beginne mit den Sitten. Fange mit Gott und den himmlischen Dingen an. Lehre die Kinder Christus lieben. Sie können sich nicht selbst überlassen bleiben, sondern bedürfen der Stütze der göttlichen Hilfe.‘47 Da die Rhetorik die Lehre ist, den Menschen zur Tugend zu führen, so kommen die Sätze nicht allzu überraschend. Cordier war offensichtlich Erasmianer.
Colladon fährt fort: Dann lebte Calvin im Collège Montaigu unter einem Präzeptor in einer Abteilung (en classe), einem Spanier; und auch in einer eigenen Wohnung (en chambre) unter einem spanischen Präzeptor, der später ein Doktor der Medizin wurde. Er besass zu der Zeit einen einzigartigen Geist, und dies kam ihm so zu Gute, dass er in wenigen Jahren zum Studium der Philosophie vorrückte.48
Beza übergeht Calvins Status als Kamerist unter einem Präzeptor. Er nennt aber einige neue Fakten: Darauf wechselte er zum Collège Montaigu über und hatte einen Spanier als Lehrer, der nicht ungelehrt war. Als sein eigener Geist, der damals schon sehr geschärft war, von diesem Lehrer verfeinert worden war, machte er solche Fortschritte, dass er die übrigen Gefährten im Grammatikkurs hinter sich liess und zum Studium der Dialektik und zu dem der anderen sogenannten Künste vorrückte.49
Er wurde also von einem Spanier im „Grammatikkurs“ unterrichtet. und stieg schnell zum Fach Dialekt auf. Man möchte annehmen, dass Calvins
46 In der Vorrede zum ersten Buch De corrupti sermonis emendatione et latine loquendi ratione liber, Paris 1530, führt er aus: „Dieses tägliche Auspeitschen entfremdet die jungen ehrbaren Leute derartig den gelehrten Studien, dass sie die Schulen mehr als den Biss eines Hundes oder einer Schlange hassen und dass sie als Galeerensklaven oder Sträflinge zu leben glauben, während die Alten bei ihrer Weisheit mit Vorliebe sich des Wortes Spielhaus bedienten, um den Ort, wo man lehrt, zu bezeichnen. Man soll die Schüler nicht abrichten, sondern sie anleiten, sie so hinleiten, dass sie die lateinische Sprache nicht nur lieben, sondern Genuss an ihr haben.“ BOSSERT, A., Johann Calvin, 17. 47 BOSSERT, A., Johann Calvin, 17. 48 CO 21, 54. 49 CO 21, 121 (Vita III).
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Geist durch die Logik geschärft worden wäre. Doch meldet Beza, dass die Logik oder Dialektik noch vor ihm lag. T.H.L. PARKER hat den Tageslauf der Bursianer nach den Quellen dargestellt. Er kommt zu folgendem Ergebnis: Von vier Uhr an der Morgengottesdienst, gefolgt von einer Vorlesung bis sechs Uhr. Dann war die Messe angesagt. Nach der Messe das Frühstück und dann von acht bis zehn Uhr der große Unterricht (grand classe) mit einer Diskussion in der folgenden Stunde. Um elf Uhr das Mittagessen, das begleitet wurde mit der Lesung aus der Bibel oder aus dem Leben der Heiligen, gefolgt von Gebeten und Klassenbekanntmachungen. Um zwölf Uhr wurden die Studenten über ihre morgendliche Arbeit befragt, aber von ein bis zwei Uhr war Ruhezeit mit Lesen in der Öffentlichkeit. An dieser Stelle überspringen unsere Quellen eine Stunde. Möglicherweise hatten die Studenten frei bis zum Nachmittagsunterricht von drei bis fünf Uhr. Nun war der Abendgottesdienst angesagt, und nach diesem fand ein Gespräch über den Nachmittagsunterricht statt. Zwischen Abendessen, mit begleitender Lesung, und Schlafengehen, um acht Uhr im Winter und neun Uhr im Sommer, war Zeit für weitere Befragung und Andacht in der Kapelle. An zwei Tagen in der Woche wurde frei gegeben zur Erholung.50
Da Calvin Externer war, in einer Wohngemeinschaft mit anderen Studenten lebte, die von einem besonderen Präzeptor geleitet wurde, ist es eher unwahrscheinlich, dass er das harte Leben in der Burse geteilt hat. Doch ist anzunehmen, dass er am gottesdienstlichen Leben teilnahm. Es muss jedoch Missstände gegeben haben. Denn als im Juli 1534 eine Reform der Artistenfakultät beschlossen wurde, wollte man diese im Blick auf die Gottesdienste abstellen und die alte Ordnung wiederherstellen. Es wurde bestimmt: Die Regenten der Collèges sollen gute und keusche Zucht üben mit gutem Schamgefühl und ehrenhafter Würde und vornehmlich ihre Schüler zur Gottesverehrung einladen. Sie sollen auch dafür sorgen, dass die Schüler gezwungen werden, beim (Mess)Opfer anwesend zu sein, gleichfalls die (Horen)Gebete der Christus gebärenden Jungfrau, auch nicht weniger die Busspsalmen, die Heiligenlitanei, die gewohnten Salutationen, nämlich das Salve Regina und andere, die nach altem Brauch in den Collèges gesungen zu werden pflegen, aufzusagen. Auch mit den gewohnten Gebeten zum Allerhöchsten für den König zu beten, auch mit reinem Glauben für alle Verstorbenen. Ausserdem soll nachgeforscht werden, ob an Stelle der Gebete irgendwelche weltlichen Bücher mitgebracht werden.51
Die neuen Bestimmungen sollten nicht nur grobe Missstände abstellen, sondern auch reformatorische Einflüsse abwehren. Sie enthalten keine Gottesdienstordnung, sondern heben bestimmte, bedrohte Teile derselben 50 51
John Calvin, 8. BULAEUS, Historia, VI, 247.
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hervor. Am Anfang stehen daher die Gebete für die Jungfrau Maria. Es folgen die Gebete an die Heiligen und die Salutationen, vor allem das Salve Maria. 3. Calvins Beziehung zur Theologie Da ein Theologiestudium erst nach Absolvierung der sieben freien Künste begonnen werden konnte, hat Calvin nie im eigentlichen Sinne Theologie studiert. Doch trifft diese Feststellung nicht den tatsächlichen Zustand. Denn die sieben freien Künste waren, wie erwähnt, Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das sogenannte Trivium, und auf diese Fächer ausbauend Arithmetik, Geometrie, Musik und Astrologie, das sogenannte Quadrivium. Der entscheidende Punkt ist nun, dass schon im Fach Dialektik, das heißt, in der Logik die Entscheidung fiel, zu welcher theologischen Schule man gehörte. Wurde – vereinfacht gesagt – ein stufenweiser Aufstieg vom Irdischen zum Himmlischen gelehrt, so war man Thomist (gemäß der Theologie des Thomas von Aquin). War das Göttliche grundsätzlich verschieden vom Irdischen, so war man Occamist (gemäß der Theologie des Wilhelm von Occam). Der Scotismus nahm eine Mittelposition ein. Das Theologie– und Gottesverständnis entschied sich also schon im Studium der Dialektik. Calvin besaß also sehr wohl theologische Bildung im Sinne der Scholastik. Zu welcher ‚Schule‘ gehörte er ? Wir wissen es nicht. Die Annahme, er habe bei dem schottischen Theologen John Major studiert, bestätigt sich nicht. Denn jener weilte in jenen Jahren nicht in Paris, wie H.A. OBERMAN herausfand.52 Statt die Stellung des jungen Calvin zu den mittelalterlichen theologischen Systemen zu erkunden, sollte bedacht werden, dass er in der Rektoratsrede von 1533 die Kritik des Erasmus an ihnen aufgreift und ausspricht. Alle scholastischen Theologen seien „Sophisten“53, das heißt, sie zwängen die biblische Botschaft in abstrakte Begriffe ein und wollen durch Begriffsspaltungen ihren Inhalt erheben. Calvin schließt sich der scharfen Ablehnung der Scholastik durch Erasmus an. Gewiss, er muss in einer der scholastischen Systeme unterrichtet worden sein. Aber seine spätere Abwendung von ihnen, ja, seine Bekämpfung der Scholastik bedeutet, dass er 52 Initia Calvini: The matrix of Calvin’s Reformation, 1991, 11 (Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Mededelingen van de Afdeling Letterkunde, Nieuwe Reeks, Deel 54, No. 4) H.A. Oberman bietet einen guten Überblick über alle Versuche seit 1950, Calvin einer mittelalterlichen Schule oder Theologie zuzuordnen. 53 Perditissimi sophistes; StA 1,1, 12, Z. 29. Quis.[…] Sophismatis non dat operam, ut apud homines sit in pretio? 16, Z.23–24. Vgl. Erasmus, Methodus, WELZIG, W., Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften, 3, Darmstadt 1967, 68: (sophisticae praeceptiunculae), 56: (sophisticae cavillationes).
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ihre Begrifflichkeit fortan meidet. Es ist daher zu bezweifeln, dass Calvins Unterweisung in der scholastischen Logik herausgefunden und genauer bestimmt werden kann. Sie wurde überdeckt vom erasmischen Humanismus und dieser vom reformatorischen Denken. 4. Calvins Selbstaussage über seine „subita conversio ad docilitatem“ a. Ad docilitatem Es gibt kaum einen Punkt im Leben Calvins, der so intensiv und so konträr von den Forschern diskutiert worden ist wie seine Bekehrung. Doch ist inzwischen ein Durchbruch gelungen, der die alten Fronten aufgehoben hat. P. SPRENGER, Das Rätsel um die Bekehrung Calvins, hat darauf hingewiesen, dass Calvin in seinem Selbstzeugnis im Psalmenkommentar aus dem Jahr 1557 von einer „subita conversio ad docilitatem“ spricht und nicht von einer conversio ad fidem oder ad puram doctrinam.54 Es ist erstaunlich, dass die Forscher so lange über das Wort „Gelehrigkeit“ hinweggelesen haben. Sie ist, wie zu zeigen sein wird, eine Vorstufe zum Glauben, aber eben doch nicht mehr. Die Gelehrigkeit, zu der Calvin findet, ist eine Gelehrigkeit in der Heiligen Schrift. Ihr genauer Sinn ist noch festzustellen. b. Der Gedankengang des Selbstzeugnisses Calvin behandelt die Bekehrung in einem bestimmten Zusammenhang, der zu beachten ist, will man seine Aussage über die subita conversio verstehen. Er gibt Aufschluss über sein Anliegen und Verständnis. Teil 1: Die Zielangabe: Von Gott aus finsteren Anfängen ans Licht gezogen und gewürdigt, ein Verkündiger des Evangeliums zu sein. Calvin beginnt: Es hat mir sehr genützt, [in den Psalmen] gleichsam wie in einem Spiegel sowohl die Anfänge meiner Berufung, als auch den nachfolgenden Verlauf ihrer Durchführung wahrzunehmen, so dass ich gewiss erkennen würde, was jener hervorragende König und Prophet [David] vollbracht hat; und es ist mir zur Nachahmung vor Augen gestellt. Zwar hält mich nichts zurück, auszusprechen, dass meine Stellung eine weit niedrigere ist [als die Davids]. Gewiss, so wie jener von den Schafhürden zur höchsten Würde des Reiches emporstieg, so hat Gott mich aus den finsteren und dürftigen Anfängen ans Licht gezogen und hat mich eines so ehrenvollen Amtes gewürdigt, dass ich ein Herold und Diener des Evangeliums wurde.55
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Neukirchen 1960 (BGLRK XI). CO 31, 21.
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Zweimal macht Calvin deutlich, dass er zwei verschiedene Perioden seines Lebens beschreiben will. Im ersten Satz unterscheidet er (1.) die ‚Anfänge seiner Berufung‘ und (2.) deren anschließende aktive Umsetzung (‚Durchführung‘). Im zweiten Satz präzisiert er beide Lebensabschnitte und füllt sie mit Inhalt: (1.) Gott ‚zog ihn aus finsteren und dürftigen Anfängen ans Licht‘ und (2.) er wurde ein ‚Herold des Evangeliums‘. Die Verhaftung im Papsttum setzt er an dieser Stelle stillschweigend voraus und nennt sie erst später. Die finsteren und dürftigen Anfänge sind wohlgemerkt ebenfalls eine göttliche Berufung. Calvin denkt diese in Stufen. Es gibt eine niedrige und eine hohe Stufe, die Anfänge und dann das Heroldsamt der Verkündigung des Evangeliums. Beide Stufen bedeuten tiefe Einschnitte in seinem Leben. Auf beide Fragen gibt Calvin im Folgenden Antwort. Er hat verdeutlicht, über welche Themen er sprechen will. Diese Eigenart der Autobiographie ist im Auge zu behalten. Er wird im Folgenden biographische Fakten nennen, aber diese sind nur Teilaussagen und ausgerichtet auf den Endpunkt: Er wird Herold des Evangeliums. Sein Zielpunkt ist der Brief an Franz I. und die Institutio von 1536. Beza will hingegen eine Gesamtbiographie Calvins schreiben. Teil 2: Die Durchführung des göttlichen Plans im Leben Calvins Mein Vater hatte mich noch im zarten Alter für die Theologie bestimmt. Aber als er sah, dass die Rechtswissenschaft durchweg ihren Jüngern das Vermögen vermehrt, hat diese Hoffnung ihn schnell bestimmt, seinen Plan zu ändern. So ist es geschehen, dass ich vom Studium der Philosophie [der freien Künste] weggerufen und veranlasst wurde, die Gesetze zulernen. Obwohl ich nun, um dem Willen meines Vaters zu folgen, versucht habe, alle Mühe auf dies Studium zu verwenden, hat Gott doch – durch den verborgenen Zügel seiner Vorsehung – meinem Lebenslauf eine andere Richtung gegeben.
Was Calvin beschreibt, ist eigentlich nur der Gang seines Studiums. Dieser enthält für sich betrachtet keine Besonderheit. Aber für Calvin ist wichtig, dass der Vater ihn ursprünglich für die Theologie bestimmt hatte. Gott greift nach Calvins Ansicht ein und führt ihn zum Ausgangspunkt, zur Theologie, zurück. Es war ein hartes Eingreifen, denn Calvins Leben war wohlgeplant und verlief in sicheren Gleisen. Es war auch nicht eine Hinwendung zum Studium der Theologie – er hat, wie erwähnt, nie das akademische Theologiestudium absolviert. Vielmehr wird er auf einem anderem Wege zuerst Suchender in der Schrift und dann ein Herold des Evangeliums. Zur Erreichung der ersten Stufe bedurfte es des für menschliche Augen verborgenen Eingriffs der Vorsehung Gottes. Es ist ein hartes Eingreifen Gottes gewesen, so wie ein Pferd gezügelt wird. Wie nämlich beim Pferd der Kopf durch die Zügel in eine andere Richtung gewendet wird, so dreht Gott den jungen Calvin völlig herum und lässt ihn einen neuen Weg gehen. Von sich aus will Calvin es nicht. Gott muss eingreifen. Was Calvin
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meint, ist seine subita conversio. Erneut taucht in dem Begriff das Bild der Wendung auf; es ist eine totale Wendung des Lebens. Nachdem er so auf die Bedeutung seiner Bekehrung hingewiesen hat, kommt Calvin nun auf den Umschwung selbst zu sprechen. Er berichtet über seine subita conversio: Zuerst nämlich, da ich dem päpstlichen Aberglauben hartnäckiger ergeben war, als dass es leicht gewesen wäre, mich aus einem so tiefen Sumpf herauszuziehen, hat Gott meinen Sinn, der für sein Alter schon allzu verhärtet war, durch eine plötzliche Bekehrung zur Gelehrigkeit bezwungen. Nachdem ich daher einen gewissen Vorgeschmack von der wahren Frömmigkeit empfangen hatte, entbrannte ich in einen solchen Eifer Fortschritte zu machen,dass ich die übrigen Studien zwar nicht aufgab, aber doch nachlässiger betrieb. Es war noch kein Jahr vergangen, als alle, die nach einer reineren Lehre begehrten, zu mir, der ich damals noch ein Neuling und Anfänger war, kamen, um zu lernen.56
Calvin beschreibt nun seine anfängliche geistliche Entwicklung mit der subita conversio als Höhepunkt. Sie umfasst vier Stadien. Das erste ist das hartnäckige Verhaftetsein im Papsttum. Das Wort ‚Sumpf‘ gibt anschaulich wieder, dass Calvin der geistliche Tod drohte und er unfähig war, sich selbst zu befreien. Inhaltlich wird dieser Zustand nicht näher erläutert. Doch kann man sich die Irrwege im Papsttum leicht vorstellen. Das zweite Stadium ist eine plötzliche Erleuchtung, die von Calvin näher beschrieben wird. Man wird nicht an eine Parallele zu der Bekehrung des Paulus denken müssen, der vom Pferd geschleudert wird, als er die Stimme des erhöhten Christus vernahm. Es ist aber wie bei Paulus eine unerwartete Bekehrung. Inhaltlich ist es eine „plötzliche Bekehrung zur Gelehrigkeit“ und sie gibt einen „Vorgeschmack der wahren Frömmigkeit“. Beide Begriffe bedürfen noch der eingehenden Erläuterung. Da die subita conversio ad docilitatem der erste Wendepunkt in seinem Leben ist, liegt alles an ihrem richtigen Verständnis. Das dritte Stadium ist der „Fortschritt“, der ihn im nachfolgenden Jahr zum Lehrer anderer Personen werden lässt. Aber er belehrt Menschen, die „nach der reineren Lehre begehren“. Damit fällt der dritte Schlüsselbegriff. Noch immer geht es um die erste Stufe des Glaubens. Er selbst nennt sich dementsprechend einen „Neuling und Anfänger“. Die Worte „Fortschritt“ und „Anfänger“ besagen, dass er das Ziel der reinen Lehre noch nicht erreicht hat. Er muss erst noch einen weiteren Erkenntnisprozess durchmachen, bis er die reine Lehre erkannt hat. Auch der Begriff „reinere Lehre“ ist noch zu untersuchen. 56 CO 31, 21f. SPRENGER, P., Das Rätsel, 10, fügt dem lateinischen Text auch den französischen Text bei. Doch ist dieser keine Hilfe, da die Übersetzung nicht von Calvin stammt. Vgl. J.F. GILMONT, Jean Calvin et le livre imprimé, Genf 1997, 383.
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Das vierte Stadium ist der Besitz der reinen Lehre. Er schreibt: Von Natur aus etwas bäuerisch (schüchtern), habe ich das Studierzimmer und die Musse immer geliebt und suchte damals die Verborgenheit. Sie wurde mir keineswegs gestattet, so dass mir alle Verstecke gleichsam zu öffentlichen Schulen wurden. Schliesslich, während ich einzig im Sinn hatte, unbekannt der Musse zu pflegen, da hat Gott mich auf mancherlei Umwegen herumgeführt, dass er mir nirgends zu ruhen erlaubte, bis ich schliesslich unter dem Widerstreben meiner Natur ans Licht gezogen wurde. In dieser Absicht verliess ich das Vaterland und begab mich nach Deutschland [in die Schweiz], damit ich in einer verborgenen Ecke geheim die mir lange verweigerte Ruhe genösse. Siehe, als ich jedoch unerkannt in Basel mich versteckte, wurden viele fromme Leute in Frankreich verbrannt. [Calvin beschreibt nun die Verfolgung ausführlich.] Da schien es mir, dass mein Schweigen nicht zu rechtfertigen sei gegen dem Vorwurf der Treulosigkeit, wenn ich nicht mutig widersprechen würde.
Darum verfasste er die Institutio.57 Calvin lenkt auf den Anfang seines Selbstzeugnisses zurück. Er wollte in diesem Stadium zunächst nicht öffentlich auftreten und Herold des Evangeliums sein. Dann aber zwingt ihm die Verfolgung der Evangelischen in Frankreich die Feder in die Hand und er verteidigt die Glaubensbrüder durch literarische Veröffentlichungen, die Aufsehen erregten. Erst jetzt ist er im Vollsinn ein Herold des Evangeliums. Seinen Durchbruch zur Erkenntnis der reinen Lehre schildert Calvin nicht. Er muss in dem von ihm angedeutetem Zeitraum liegen. Er selbst ist nur am Problem des geheimen Lehrens und öffentlichen Bekennens interessiert. Nun enthält der Bericht auch biographische Andeutungen und Hinweise. In Orléans und Bourges unterrichtete er die Interessierten, wie noch zu zeigen ist. Aber die Unterweisung in seiner Studienzeit war nur ein Auftakt. Seinen Grundsatz ‚unbekannt der Musse zu pflegen‘, trifft erst auf Angoulême, Basel und sein Eintreffen in Genf zu. Er verweist also auf das Studierzimmer in Angoulême (1534), die Flucht nach Basel (1534/35) und das Leben incognito in Basel (1535). Doch Gott lässt sein Sichverstecken nicht zu. Der Brief an Franz I. und die Institutio (1536) machen ihn der breiten Öffentlichkeit bekannt. Calvin rechnet die vorausgehenden Publikationen zum Wirken im Verborgenen. Beza nennt in seiner Vita Calvini die Rektoratsrede (1533), die Abfassung der Predigten in Angoulême (1534) und die Mitarbeit an der Olivétanbibel (1535). In der Tat sind alle diese Werke anonym erschienen. Nur die lateinische Vorrede zur Olivétanbibel trägt seinen Namen. Umso mehr stechen der Brief an Franz I. und die Institutio hervor, die im Druck seinen Namen und sogar den Herkunftsort im Titel anzeigen. 57
CO 31, 21f.
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c. Zusammenfassung Zu klären bleibt die Datierung der subita conversio ad docilitatem. Es sei nochmals betont, dass sie nach Calvins Aussage den entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben bedeutet. Der Durchbruch zur Öffentlichkeit im Jahr 1536 ist nur ihre Folge, allerdings auch der Zielpunkt seiner Entwicklung. Wann erlebte er die plötzliche Bekehrung zur Gelehrigkeit? Es ist nur eine Frühdatierung möglich, denn die Bekehrung bedeutet nur die erste Stufe, nämlich die zur „reineren Lehre“; Calvin bezeichnet sie nur als einen „Vorgeschmack“ (zur reinen Lehre). Die „Gelehrigkeit“ bezieht sich auf das Bibelstudium. In ihr tut sich Calvin eine neue Welt auf. Für Calvin war es ein umwälzendes Ereignis. Darum nennt er es einen Akt der göttlichen Vorsehung. Bei der genauen Datierung und der Nennung der konkreten Umstände hilft Bezas Vita Calvini weiter. 5. Calvins conversio und Berufung zum minister evangelii in Bezas Vita Calvini Es ist nicht verwunderlich, dass Beza und Colladon den Begriff subita conversio nicht gebrauchen, denn sie wollen eine Biographie liefern und nicht das Eingreifen Gottes in sein Leben schildern. Auch Beza setzt voraus, dass Calvins Leben von der Vorsehung Gottes bestimmt ist, will ihr Wirken aber nicht zum Thema machen. Trotzdem stimmen Bezas und Colladons Berichte mit Calvins Selbstzeugnis überein. Vita I und II greifen offensichtlich auf das Selbstzeugnis zurück, wenn sie das Erlebnis, das sein ganzes Leben veränderte, ebenfalls einen „Vorgeschmack der reinen Lehre“ und ein „Sichlösen vom päpstlichen Aberglauben“ nennen. Sie kennen sehr wohl das Selbstzeugnis, wollen es aber nicht wiederholen. Die wichtigste Einzelheit ist, dass der Name Olivétans genannt wird58, dessen Belehrung bei Calvin zur subita conversio ad docilitatem führt. Colladon schreibt (wie oben schon zitiert): Jedoch entschloss sich sein Vater, ihn die Rechte studieren zu lassen, da er sah, dass diese ein besseres Mittel war, zu Vermögen und Ehre zu gelangen Und da er auch seinerseits durch die Vermittlung seines Verwandten und Freundes, des Magisters Peter Robert, auch Olivetanus genannt, der später die Bibel aus dem Hebräischen ins Französische übersetzte (gedruckt zu Neuchatel) schon einen Vorgeschmack von der reinen Religion erhielt, begann er, sich vom päpstlichen Aberglauben zu lösen. Das 58 SPRENGER, P., Das Rätsel, 21, geht auf den Einfluss Olivétans nicht ein, kritisiert aber P. Wernle, der diesen als Hypothese Bezas abtut. Sprenger hält es, ohne sich auf Olivétan zu beziehen, „für gut möglich, sich die Bekehrung um die Wende des Jahres 1527/28 zu denken“, 79f.
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war dann neben der aussergewöhnlichen Verehrung, die er seinem Vater entgegenbrachte, der Grund, warum er darin einwilligte, fleissig das Studium der Rechte statt der Theologie zu betreiben, denn zu der Zeit war die Theologie in allen Schulrichtungen verdorben, und nach Orléans zu gehen. (Vita II)
Beza (Vita III) folgt Colladons Darstellung, schreibt aber abweichend, Calvin sei „von seinem Verwandten Petrus Robert Olivétan über die wahre Religion zurechtgewiesen“ worden. Dessen Rede muss also sehr eindringlich gewesen sein. Auch rückt Beza Calvins Reaktion näher an Olivétans Ratschlag heran und wird auch konkreter: „Calvin begann, sich dem Lesen der Heiligen Schrift hinzugeben, zurückzuschrecken vor den abergläubigen Dingen (Riten) und sich fernzuhalten von jenen heiligen Dingen (Gottesdiensten).“ (Vita III) Das Studieren der Heiligen Schrift als Folge der Ermahnung entspricht Calvins Selbstzeugnis, denn die Bekehrung zur Gelehrigkeit ist eine solche in und aus der Bibel. Die Wertung bei Colladon, er habe einen „Vorgeschmack“ der reinen Lehre erhalten, lässt Beza fallen. Doch ist die neue Erkenntnis auch nach ihm kein völliger Bruch mit dem Papsttum, sondern sie hat Erschrecken und Zurückhaltung zur Folge. Sie ist ausdrücklich ein „Beginn“. Demnach hat das Gespräch mit Olivétan in Paris stattgefunden, bevor Calvin nach Orléans ging. Es ist auf 1527/28 anzusetzen. Über Pierre Robert oder Pierre Olivet, latinisiert Olivetanus, verkürzt Olivétan, weiß man nicht viel. „Keiner der von ihm geschriebenen, keiner der an ihn gerichteten Briefe ist erhalten geblieben.“59 Es gibt eine Spur, die vielleicht auf Olivétan hinweist und Auskunft über ihn gibt. Martin Bucer schreibt am 1. Mai 1528 an Farel in Aigle: „Ich habe hier einen jungen Mann aus Noyon, der der Verfolgung in Orléans entgangen ist, sich dort mit Literatur (literis) beschäftigte und hierher ausgewandert ist.“ Und: „Du sollst wissen, dass hier kein Franzose weilt. Der Jüngling aus Noyon hat sich vorgenommen, die Sprachen zu lernen, vor allem Griechisch und Hebräisch, in denen er noch nicht sehr kenntnisreich ist.“60 Farel sucht offensichtlich einen Franzosen, der in den alten Sprachen bewandert ist. Olivétan kann gemeint sein, denn er gibt im Jahr 1535 die Übersetzung der Bibel ins Französische heraus. Auch Calvin ist an der Ausgabe beteiligt (s. Kapitel 9). Wenn er Calvin vor dem Papsttum eindringlich gewarnt hat, so kann er in Orléans sehr wohl in Gefahr geraten sein, verfolgt zu werden. Man denke etwa an die Verfolgung der Evangeliumsbewegung in Meaux im Jahr 1525. (s. Kapitel 7). Doch es gibt keine Beweise für die Annahme, Olivétan sei gemeint.
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BOSSERT, A., Johann Calvin, 21. HERMINJARD, A.L., Bd.2, 132f (Nr. 232).
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In Orléans und Bourges folgte dann Calvins Hinwendung zum Humanismus unter dem Einfluss Melchior Volmars (s. Kapitel 4). Seine Abkehr von der Scholastik wurde durch sie verstärkt. Doch bis zum Durchbruch zur reinen Lehre 1534/35 war es noch ein langer Weg. 6. Conversio und docilitas bei biblischen Personen Will man über beide genaueres erfahren, so bieten sich die zahlreichen Stellen in seiner Bibelauslegung an, in denen er „Bekehrung“ und „Gelehrigkeit“ erläutert. Unter ihnen sind diejenigen Bibelstellen zu bevorzugen, in denen biblische Personen docilis genannt werden. Es sind Jakobus und Johannes, die ihren Vater verlassen und Jesus nachfolgen (Mt 4,22), Andreas und Johannes, die Jesus „Rabbi“ nennen (Joh 1,38), Nathanael, der nach dem Messias sucht (Joh 1,46), der reiche Jüngling, der nach der Seligkeit fragt (Mt 19,16), Zachäus, der Jesu Ruf folgt (Luk 19,5f), der Schriftgelehrte, der nach dem größten Gebot fragt (Mk 12,28), die Samariterin, die Jesus einen Propheten nennt (Joh 4,19), der Blindgeborene, der nach dem Menschensohn fragt (Joh 9,36). Aus der Apostelgeschichte kommen hinzu: Die Hörer der Pfingstpredigt, die fragen „Was sollen wir tun ?“ (Apg 2,37), der Kämmerer, der um eine Auslegung von Jesaja 53 bittet (Apg 8,31), Saulus, der fragt „Wer bist du ?“ (Apg 9,5), der gottesfürchtige Hauptmann Cornelius (Apg 10,33), Lydia, die ihr Herz öffnet (Apg 16,14), der Gefängnisaufseher in Philippi, der nach seiner Rettung fragt (Apg 16,30), die Juden und Griechen in Thessalonich (Calvin zieht Apg 17,1–4 und 11–12 zusammen) lesen die Schrift (Apg 17,11), die Gottesfürchtigen in Athen (Apg 17,17).61 Es ist deutlich, dass „Gelehrigkeit“ ein fester Topos ist, wenn der Grad des Glaubens bei biblischen Personen beurteilt werden soll. Calvin bezieht seine eigene Entwicklung in dieses Schema ein. Mehrere Rückschlüsse auf sein eigenes Leben ergeben sich aus diesen Bibelstellen und Calvins Auslegung derselben. Erstens, die aufgeführten Personen sind alle Anfänger im Glauben, ausgenommen Paulus, der plötzlich ein neuer Mensch geworden ist. Sie haben alle den vollen Glauben noch nicht erlangt. Eine Betrachtung der einzelnen Personen erübrigt sich; denn der Tatbestand ist offensichtlich. Zweitens nennt Calvin in den einzelnen Fällen meistens auch das Ziel, den vollen Glauben. In seiner Autobiographie sind es die „wahre Frömmig61 Vgl. NEUSER, H.W., Calvin’s Conversion to Teachableness, Nederduitse Gereformeerde Teologiese Tydskrift 26, 1985, 14–27; revised version: Calvin and Christian Ethics, Grand Rapids 1987, 57–77 (Calvin Studies Society). Die Juden und Griechen in Beröa sind dociles, CO 48, 400 und 401.
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keit“ und die reine Lehre. So nennen Andreas und der andere Jünger des Täufers Jesus einen Rabbi und erkennen noch nicht, dass er der einzige Lehrer der Kirche ist.62 Auch das Bekenntnis des Nathanael ist noch begrenzt, wenn er sagt „Du bist der König Israels“ (Joh 1,49). Er hätte sagen müssen: der König der Welt.63 Zachäus hatte noch nicht den „reinen Glauben“.64 Wenn Jesus zu dem Blindgeborenen sagt: „Du hast ihn (den Menschensohn) gesehen“, dann „wollte Jesus von ihm als Christus anerkannt werden, damit er ihn vom Anfang des Glaubens zur vollen Erkenntnis seiner selbst führte.“65 Der Kämmerer legt schließlich das Bekenntnis ab, Jesus Christus ist der Sohn Gottes (Apg 8,37); er hat einen „vollkommenen Glauben“.66 Die Purpurkrämerin Lydia führt ihr Glaube zur Taufe, ohne dass dieser Schritt besonders gewertet wird. Den Gefangenenaufseher in Philippi führt die Predigt des Evangeliums zum Glauben, das heißt, zur Erkenntnis Christi.67 Die Leute von Thessalonich streben bei ihrem Schriftstudium die Glaubensgewissheit an.68 Die Juden und gottesfürchtigen Griechen in Athen haben noch nicht „den wahren Glauben“.69 In allen diesen Fällen ist die Gelehrigkeit ein Anfang, dem der volle Glaube folgen muss. Drittens erscheinen in Calvins Betrachtung der biblischen Personen oft die Redewendungen, die er bei der Beschreibung seiner eigenen Bekehrung gebraucht. Wenn Petrus zu Pfingsten seinen Zuhörern sagt, „Lasset euch erretten aus diesem verkehrten Geschlecht!“ (Apg 2,40), dann meint er: „Es ist nicht leicht, sofort den Irrtümern abzusagen, mit denen man früher befleckt war. […]. Es ist nötig, heftig aus diesem Sumpf herausgerissen zu werden.“70 Unter den biblischen Personen erleben zwei eine „plötzliche Bekehrung“, Zachäus und Paulus. Calvin gebraucht statt subita das Synonym repente. Zachäus erfährt eine „wunderbare Bekehrung, die plötzlich auftritt.“ Es ist „der Anfang des Glauben“; „er ist noch nicht mit dem reinen Glauben begabt“, sondern mit Gelehrigkeit.71 „Paulus wird auf ungewöhnliche Weise plötzlich in einen neuen Menschen verwandelt.“ Calvin nennt sie nicht Bekehrung, kommt aber sofort auf die unsere zu sprechen. Auch sie kommt nicht aus unserem Suchen Gottes, sondern durch die geheime Kraft Got-
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CO 47, 30. CO 47, 36. CO 45, 563. CO 47, 232f. Co 48, 197. CO 48, 389. CO 48, 400. CO 48, 404. CO 47, 56. CO 45, 563.
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tes.72 Zachäus und wir (nicht Paulus) werden „Gelehrige“. Die Beispiele zeigen, was Calvin unter einer „plötzlichen Bekehrung“ versteht. Sie dauert wirklich nur eine kurze Zeit. Es fällt auf, dass Calvin bei allen anderen Personen nicht von „Bekehrung“ spricht. Jene Personen finden zur „Gelehrigkeit“, die aber von ihm nicht Bekehrung genannt wird. Für die Änderung im Leben des Zachäus verwendet Calvin die Begriff conversio und mutatio.73 Es wäre also falsch, an eine Bekehrung im pietistischen Sinne zu denken. Conversio ist lediglich eine grundlegende Wendung, die das Leben der Betroffenen nimmt. Der Ton liegt auf docilitas und nicht auf conversio. Beide Begriffe müssen also keineswegs sich widersprechen oder in Spannung miteinander stehen. Der heutige Leser verbindet mit dem Begriff conversio allzu leicht einen terminus technicus. Das geschieht auch bei Calvins ‚Bekehrung‘. Sie ist eine Umwandlung, eine Veränderung, eine Umgestaltung. Auch viele der biblischen Personen erhalten einen Vorgeschmack (gustus) des Heils und in ihnen entflammt der Eifer (studium inflammare), Fortschritte (progessus) zu machen. Wenn Andreas Jesus nicht nur Rabbi nennt, sondern auch fragt: „Wo bliebst du zur Nacht?“ (Joh 1,38), dann hat er aus dem Anfangsunterricht einen solchen Vorgeschmack von Christus erhalten, der ihn (und uns) zum Eifer entflammt, fortzuschreiten (proficere).74 Hingegen ist Calvin unsicher, ob der Schriftgelehrte über die Gelehrigkeit hinaus Fortschritte machen wird. (Mt 22,34).75 Die Samariterin, die ins Dorf läuft und die Leute auffordert zu sehen, ob Jesus der Christus ist (Joh 1,28f, hat einen brennenden Eifer, sie ist entflammt von heiligem Eifer.76 Wenn die Zuhörer des Petrus beständig in der Apostel Lehre blieben (Apg 2,42), dann „sind sie unermüdlich eifrig bemüht, durch das Anhören der Apostel Fortschritte zu machen“.77 Die Juden und gottesfürchtigen Griechen in Thessalonich haben einen Vorgeschmack des rechten Gottesdienstes, nehmen mit Eifer das Evangelium an, erforschen es, um ihren Glauben zu stärken, und sie machen darin Fortschritte.78 Zusammenfassend muss gesagt werden: Wenn Calvin biblische Personen oder sich selbst „gelehrig“ nennt, dann versteht er darunter den Anfang einer Entwicklung des Glaubens. Diese Entwicklung erfolgt nach einem bestimmten Schema, denn er verwendet dafür feststehende Redewendungen. Sie ist eine Entwicklung in Stufen. Die erste ist der Vorgeschmack der 72 73 74 75 76 77 78
CO 48, 201f. CO 45, 563–565. CO 47, 30. CO 45, 615. CO 47, 92f. CO 48, 57. CO 48, 396f.
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Frömmigkeit, der zu weiterem Eifer entflammt. Es folgt der Fortschritt in der Erkenntnis. Schließlich wird der volle Glaube oder die wahre Frömmigkeit erlangt Dies Ziel erreichen allerdings nur ein Teil der biblischen Personen. Der reiche Jüngling gehört nicht zu ihnen, und beim Schriftgelehrten ist Calvin unsicher, ob er Fortschritte machen wird. Es ist unnötig zu sagen, dass Calvin selbst das Ziel erreicht hat. Allerdings geht seine Beschreibung der subita conversio, seines weiterführenden Eifers und seines progressus nicht ins Detail. Zieht man jedoch die biblischen Beispiele heran, dann erlangen sie Farbe und Gehalt. Es wird konkret und greifbar, was er mit diesen Begriffen meint. Doch ist noch zu klären, welchen Sinn die Begriffe Gelehrigkeit und gelehrig jedes für sich genommen haben. Gelehrigkeit ist das Ergebnis eines Erlebnisses oder Ereignisses, das, wie das Wort sagt, einen Erkenntnisvorgang herbeiführt. Es ist zu beachten, dass nach Calvins Verständnis immer ein Ereignis oder eine Einsicht vor der docilitas liegt und diese initiiert. Die Gelehrigkeit selbst ist der Anfang einer positiven Entwicklung, das heißt, die erste Stufe zum Glauben. Wenn Andreas, durch die Worte des Täufers veranlasst, Jesus einen Propheten nennt, dann ist das „die erste Stufe zur Gelehrigkeit“.79 Oder: Jesus zeigt der Samariterin ihre Schuld. Deren „Busse ist der Anfang der wahren Gelehrigkeit“.80 Es können auch viele Juden durch die Wunder Jesu zur docilitas kommen (Joh 11,45); es ist „eine Gelehrigkeit, die Lehre Jesu gerne anzunehmen“.81 In Zachäus ruhte bereits ein Samen der Frömmigkeit; Calvin nimmt an, dass er Jesu Lehre vorher schon gehört hatte.82 Auch der Gefangenenaufseher von Philippi wird „durch ein Wunder vorbereitet“.83 Sonst führt aber immer ein Erkenntnisakt zur Gelehrigkeit. Die Johannesjünger sind zuvor vom Täufer unterrichtet worden. Die gottesfürchtigen Griechen sind Proselyten; sie sind Monotheisten und kennen das alttestamentliche Gesetz, so ausdrücklich die Griechen in Thessalonich und Athen.84 Allein Paulus wird von dem erhöhten Christus direkt angesprochen. Calvin nennt das Damaskuserlebnis daher einen Sonderfall.85 In vielen Fällen gibt das Neue Testament nicht zu erkennen, welche Erfahrung der docilitas vorausgeht und sie einleitet. Auch Calvin macht keine Angaben darüber, was seine subita conversio ad docilitatem veranlasst hat. Doch macht Beza in der Vita Calvini darüber Angaben.
79 80 81 82 83 84 85
CO 45, 30. CO 47, 84. CO 47, 270. Semen pietatis; CO 45, 563, und 565. CO 48, 388. CO 48, 396 und 404. CO 48, 202.
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Zuvor ist noch auf Calvins Hang zum Leben in der Verborgenheit, zum Verstecken und zum Schweigen einzugehen. Der Weg von der Gelehrigkeit zum Glauben hat nach Calvins Ansicht als Endpunkt das öffentliche Bekenntnis. Wenn sich in den Texten eine Gelegenheit bietet, auf den Auftrag zum Bekennen und Verkündigen hinzuweisen, dann ergreift er ihn. Nathanael legt (nach dem Maß seines Glauben) ein Bekenntnis ab (Joh 1,49) und wir sollen es auch tun, sonst bleibt der Glaube „begraben“.86 Die Samariterin ruft die Dorfbewohner, zu sehen, ob Jesus der Messias ist (Joh 4,28). „Das ist das Wesen des Glaubens, dass wenn wir in den Besitz des ewigen Lebens gekommen sind, dann wünschen wir, dass auch andere in die Gemeinschaft gezogen werden. Die Erkenntnis Gottes kann nicht begraben und untätig in den Herzen liegen; sie muss bekannt werden bei den Menschen.“87 Die Predigt des Philippus (Apg 8,36) „liess ihn mit frommem Eifer zum äusseren Bekenntnis des Glaubens durchbrechen. Der innere Glaube vor dem Angesicht Gottes genügt ihm nicht, wenn er nicht bezeugt, vor den Menschen ein Christ zu sein.“88 Der Gefängniswärter in Philippi „frohlockte“ (Apg 16,34), das heißt, bezeugte, dass sein Glaube nicht untätig ist. Der Glaube ist nicht tot, sondern lebendig.89 Calvin hat in den Jahren vor der Herausgabe der Institutio dieses Ziel nach eigenen Angaben nur partiell und also ungenügend erreicht. Dem muss genauer nachgegangen werden.
Kapitel 4: Jurastudium und humanistische Studien (1528–1532) 1. Studium des Zivilrechts in Orléans (1528–1532) Die Ortswahl ist leicht zu erklären. Die Universität Orléans besaß alleine die Befugnis, außer dem kanonischen Recht auch das Zivilrecht zu lehren.90 In Paris konnte nur das Kirchenrecht studiert werden. Aus der Ortswahl ist zu entnehmen, dass Calvins Vater ihn Anwalt oder Richter werden lassen wollte, er nicht aber an den Kirchendienst dachte. Beza berichtet in seiner Kirchengeschichte nur kurz über Calvins Jurastudium, ausführlich aber über den Fortschritt der Reformation in der Stadt.
86 87 88 89 90
CO 47, 36. CO 47, 92. CO 48, 196. CO 48, 389f. (BEZA), Histoire ecclésiastique des èglises réformées au Royaume de France, in: BAUM, G./ CUNITZ, E. (Hg.), Bd.1, Paris 1883, Reprint Nieuwkoop 1974, 17, Anm. 1.
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In Orléans (wo damals Pierre de l’Estoile Docteur Regent im Zivilrecht war, mit einer sehr großen Hörerschaft, weil er als der scharfsinnigste Rechtsgelehrte unter allen Doktoren Frankreichs geachtet war) gab es bereits einige Persönlichkeiten, die Kenntnis von der Wahrheit hatten, unter anderen François Daniel, ein Anwalt, und Nicolas Du Chemin, der Schüler in Pension beherbergte.
Auf Calvins Vorrede zur Verteidigungsschrift seines Freundes Du Chemin zugunsten des Rechtsprofessors Stella mit dem Titel Antapologia (1531) geht Beza nicht ein. Er unterlässt es zurecht. Denn die Schrift behandelt lediglich einen Streit zwischen Jurastudenten. A. Albucius hatte in einer Schrift, die 1529 in Basel erschienen war, Alciati gegen Stella verteidigt. Du Chemin fühlte sich verpflichtet eine Antapologia zu Gunsten Stellas zu verfassen. Er bat Calvin, in Paris den Druck zu überwachen. Dieser kommt im März 1531 diesem Wunsch nach, wie seine Vorrede beweist (Paris am 6. März 1531). In ihr verteidigt Calvin Du Chemin gegen Albucius und stellt sich auf die Seite Stellas, jedoch ohne Alciati zu verärgern.91 Wie wenig grundsätzlich Calvins Vorrede ist, beweist der Umstand, dass er nach Bourges überwechselt, um Alciati zu hören. Auch beschäftigt ihn in Orléans intensiv die Verbreitung seines neuen Bibelverständnisses. Darum fährt Beza in seinem Bericht fort: Aber dies (die Erkenntnis der Wahrheit durch Daniel und Du Chemin) war noch gar nichts, bis Johann Calvin […], schon damals ein von Gott auserwähltes Werkzeug, nach Orléans gekommen war, um dort Jura zu studieren. Er empfing die Gnade Gottes, dass er seine beste Stunden dem Studium der Theologie widmete. Er machte darin in kürzester Zeit solche großen Fortschritte, weil er das wissenschaftliche Studium (der rechte) mit diesem Eifer verband. So verbreitete er das Königtum Gottes in mehreren Familien, weil er die Wahrheit niemals in einer gestelzten Sprache unterrichtete – er war schon immer ein Feind davon gewesen – sondern mit einem solchem tiefgründigen Wissen und solcher soliden und ernsthaften Sprache, dass es keinen Zuhörer gab, der nicht entzückt und voller Bewunderung war.92
Aus Beza Bericht geht hervor, dass Calvin die scholastische Lehrweise aufgab und rhetorisch geschickt die Botschaft Jesu verbreitete. Die Abwendung von der Scholastik deutet darauf hin, dass er ein Anhänger des Erasmus von Rotterdam war. Doch die Betonung des Königtums Gottes weist mehr noch auf Faber Stapulensis und dessen Evangelisme hin. Gewissheit ist über den Inhalt seiner Lehre aus Bezas Bericht nicht zu erlangen. Sicherlich war sie bewusst biblisch und auf Verkündigung ausgerichtet. Auch das spricht für den Einfluss des Faber Stapulensis, wie noch zu zeigen sein wird.
91 92
Text s. COR VI, 1, (Nr. 2). (BEZA), Histoire ecclésiastique, Bd. 1, 18.
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2. Humanistische Studien bei Melchior Volmar in Bourges (1530/31) Beza fährt in seinem Bericht in gleicher Weise fort: Zur selben Zeit war ebenfalls Andreas Alciati Docteur Regent an der Universität Bourges, ein Milanese, der als gelehrtester und eloquentester Rechtsgelehrter seiner Zeit eingeschätzt wurde, so dass man von überall herbeieilte, um ihn zu hören. Dies war der Grund, warum auch Calvin dorthin kam. Er traf dort einige Personen, die in der Wahrheit bereits unterrichtet waren, unter ihnen Mönche und Doktoren der Theologie. Insbesondere war es einer, genannt Jean Chaponneau, Mönch in der Abtei Sankt Ambrosius, und ein Jean Michel vom Orden des Heiligen Michael, die, gemessen an jener Zeit, frei predigten.93
Einschneidend und folgenreich für Calvins Werdegang war aber, dass er in Bourges neben dem Rechtsstudium auch humanistische Studien betrieb. Dieser Umstand sollte seine religiöse Entwicklung erheblich beeinflussen. An Melchior Volmar schreibt er im Jahr 1546 im Widmungsschreiben des Kommentars zum zweiten Korintherbrief: Zuerst bedankt er sich bei Volmar für dessen Freundschaft, Liebe und den Eifer, mit dem du mir deine Hilfe zu meiner weiteren Zurüstung anbotest, wovon Gebrauch zu machen mich nur eine Anforderung (vocatio) abhielt, der ich damals Gehorsam schuldig war. Nichts ist stärker in mir als die Erinnerung an jene erste Zeit, als ich, vom Vater geschickt, um das Zivilrecht zu studieren, mit dir als Vorbild und Lehrer, die griechische Literatur mit dem Studium der Gesetze verband. Du lehrtest sie damals und warst deswegen hoch gerühmt. An dir lag es nicht, dass ich keine grösseren Fortschritte machte. Du hättest in deiner Menschlichkeit dich nicht geweigert, deine Hand zum völligen Durchlaufen der Rennbahn zu bieten, wenn mich von ihren Schranken nicht der Tod des Vaters weggerufen hätte. Dafür schulde ich dir nicht wenig, dass ich durch dich mit den Anfangsgründen vertraut gemacht worden bin. Sie waren mir später eine grössere Hilfe.94
Es ist daher falsch, anzunehmen, Calvin habe bei Volmar nur die Anfänge der griechischen Sprache gelernt, wie die meisten Calvinforscher meinen. Wie weit seine Sprachkenntnisse gediehen, die zu dem humanistischen Studium gehörten, ist aus seiner Dedikationsepistel nicht zu entnehmen. Die „Grundkenntnisse“ beziehen sich aber auf die „griechische Literatur“.95 Im Gefolge des Erasmus sind mit dem Begriff die antiken griechischen Schriftsteller gemeint und die griechische Philosophie, insbesondere ihre Ethik. 93 (BEZA), Histoire ecclésiastique, 18f. 94 CO 12, 365 (Nr. 814); COR II, XV, 3f. 95 Volmar hatte in Paris im Jahr 1523 „Homeri Iliados Libri duo, una cum annotatiunculis“ herausgegeben.
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Sie und nicht nur die Sprachkenntnisse sind ihm später eine große Hilfe gewesen. Im nachfolgenden Kommentar zum zweiten Korintherbrief zitiert er Ambrosius, Aristoteles, Chrysostomos, Dionysius Areopagita, Josephus, Origenes und Polybius. Wenn er Volmar seinen „au(c)tor et magister“ nennt, so kann damit gemeint sein, dass jener nicht nur „Vorbild“, sondern auch „Anreger“ für die humanistischen Studien war. So wie jener sich auch persönlich und von Amts wegen (te et officia tua) Calvin widmete. Calvin nennt selbst das Hauptergebnis seiner Studien bei Volmar: Er wird nun ein Humanist, denn er befasst sich mit der griechischen Literatur, die ihn auch später beschäftigte. Calvin bezeichnet das Verhältnis eine Freundschaft (amicitia). Dazu passt, dass Calvin in einem Brief aus dem Jahr 1530 „Melchior“ grüßen lässt.96 Volmar unterhielt in Orlèans und dann in Bourges eine Privatschule und ein Pensionat für Schüler und Studenten. Mit Gewissheit trat Beza am 5. Dezember 1528 in diese Gemeinschaft ein; Volmar nahm ihn mit nach Bourges. Es ist nicht anzunehmen, dass Calvin ihr angehörte. Er war nicht mehr Student im philosophischen Vorstudium, sondern an einer der höheren Fakultäten. Einen entscheidenden religiösen Einfluss hat Volmar nicht auf ihn ausgeübt; der war schon vor seinem Studium in Paris erfolgt. Volmar hatte im Jahr 1527 Paris verlassen, wohl weil er sich zu frei über katholische Glaubensgrundsätze geäußert hatte.97 In dieser Richtung mag auch jetzt sein Einfluss auf Calvin gelegen haben. Beza erwähnt nur sehr unbestimmt Volmars „Religion“. In seinem Brief nennt Calvin keine religiösen Erkenntnisse, die er von ihm empfangen habe. Er wurde aber mit Sicherheit durch ihn zum Humanisten, wie auch die Vita Calvini beweist, in der es heißt: Als Calvin nach Bourges gezogen war, schloss er Freundschaft mit Melchior Volmar, einem Deutschen aus Rottweil, von großem Ansehen in der Religion und Literatur. Er war dort damals Professor für griechische Literatur. Ich (Beza) erinnere mich dieses Mannes sehr gern und das umso lieber, weil ich ihn von frühster Jugend an bis zur Mannbarkeit als einzigen Lehrer gehabt habe, dessen Lehre, Frömmigkeit und übrigen Tugenden und schliesslich seine bewundernswerte Gewandtheit in der Erziehung der Jugend ich niemals genug preisen kann. Calvin hat unter dieser Anregung und Hilfe die griechische Literatur gelernt.
In der ersten Auflage lautet der letzte Satz etwas anders: „Dieser gelehrte Mann (bon personage) sah, dass Calvin einen Mangel hatte in der griechischen Literatur; er tat, was er konnte, um ihn diese zu lehren. Dies war für 96 97
COR VI, 1, 42, Z.23 (Nr. 1). BULAEUS, Historia universitatis,V, 963; vgl. COR, II, XV, XV, Anm. 23.
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ihn eine große Hilfe.“98 Beza bezieht sich deutlich bei seiner Schilderung auf Calvins Schreiben an Volmar. Es ist zu überlegen, ob Volmar aus religiösen Gründen nach Bourges wechselte und deshalb von Margarete von Navarra berufen wurde. Letzteres wird ausdrücklich berichtet. In ihrer Grafschaft Berry waren die des Luthertums Verdächtigen vor Verfolgungen sicher. Margarete bot dort Faber Stapulensis und anderen Zuflucht, wie noch zu zeigen sein wird. Auch Calvin kam in den Genuss dieses Schutzes, gleichwohl, ob er ihn benötigte oder nicht. Wann weilte Calvin in Bourges? Frühster Termin ist Volmars Wechsel von Orlèans nach Bourges, für den allgemein „Ende 1530“ angenommen wird.99 Diese nur grobe Zeitangabe kann auch für Calvins Wechsel angenommen werden. Denn terminus ad quem ist nach dem Brief an Volmar der Tod seines Vaters am 26 .Mai 1531. Doch weilte er schon am 14. Mai an seinem Krankenbett; er rechnete mit seiner Gesundung.100 Schon Ende April 1531 wird er Bourges verlassen haben, wenn er sich am 14. Mai am Krankenbett des Vaters in Noyon befindet. Der terminus a quo ist zu schließen aus der kurzen Zeit, die ihm nach eigener Aussage für humanistische Studien in Bourges verblieben. Denn er schreibt, er habe wegen der Rückkehr nach Noyon nur die Anfangsgründe der litterae Graecae erlernen können. Sein Aufenthalt in Bourges dauerte daher nur vom Herbst 1530 bis ca. Ende April 1531. Nach Bourges gekommen, um Alciati zu sehen und Volmars Vorlesungen zu hören, tat sich ihm eine neue Welt auf, die antike Welt des Griechentums. Die Humanisten erwarteten von der Rückkehr zur Antike, zu ihrer Philosophie und Ethik, die Erneuerung der Gesellschaft, des Staates und der Kirche. Niemand hat dies klarer ausgesprochen als Erasmus von Rotterdam. Es gibt keine Hinweise, dass die Idee der Wiedergeburt der Antike (Renaissance) Calvin schon früher begegnet ist. Von dieser Idee muss beim Senecakommentar noch eingehend die Rede sein. Andererseits hatte sich für Calvin die Welt der Antike schon zuvor aufgetan, wenn auch nur einen Spalt breit. Doch diese Öffnung bot einen überaus bedeutsamen Einblick. Es ist die Entdeckung der Heiligen Schrift. In ihr hatte er „Gelehrigkeit“ erworben. Wie vorher schon in Orlèans verbreitete er seine Bibelkenntnis auch in Bourges, Beza berichtet in der Vita über Calvins religiösen Unterweisungen. „Inzwischen betrieb er dennoch gleichzeitig (mit dem Rechtsstudium) das 98 CO 21, 122, 29f. Nur in der Histoire ecclésiastique, 20, schreibt Beza, Volmar „brachte ihm die griechische Sprache bei“. 99 Z.B. COR II, XV, XV. 100 COR VI, 1, 50f (Nr. 4).
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Studium der Heiligen Schrift und machte darin solche Fortschritte, dass diejenigen, die in der Stadt zum Eifer bewegt wurden, die reinere Religion kennenzulernen, oft zu ihm kamen, um sich zu erkundigen. Sie bewunderten sehr seine Gelehrsamkeit und seine Begeisterung.“ Beza macht eine präzise Aussage: Es war nur die Belehrung in der „reineren Religion“. Er unterstreicht Calvins Eifer. „Inzwischen hielt er auch einige Predigten in der Umgebung von Bourges, in der Stadt Ligniers, in Anwesenheit und mit Zustimmung des Oberhaupts der Gegend.“ 3. Der Kommentar zu Senecas Schrift De Clementia (1532) Der Tod des Vaters befreite Calvin von dessen Forderung, Jurist zu werden. Er beschloss, seine humanistischen Studien, die er in Bourges begonnen hatte, nun intensiv zu betreiben. Nach seiner Übersiedlung nach Paris – der Vater starb am 26. Mai 1531 – muss er sehr bald das anspruchsvolle Projekt in Angriff genommen haben, nämlich einen Kommentar zu Senecas Schrift De clementia zu verfassen. Da die Vorrede vom 4. April 1532 datiert, hatte er mehr als ein Dreivierteljahr für die Ausarbeitung, wenn er sofort begonnen hat. Wahrscheinlich war die zur Verfügung stehende Zeit kürzer. Dies ist darum bedeutsam, weil Calvin den Leser geradezu überschüttet mit Zitaten aus antiken und zeitgenössischen Schriftstellern. Es ist bekannt, dass der spätere Calvin ein sehr schneller Arbeiter war. Doch die Ausarbeitung des Senecakommentars muss ihn zwangsläufig viel Zeit gekostet haben. Andere literarische Aktivitäten Calvins sind in dieser Zeit nicht bekannt. a. Die Senecaausgabe des Erasmus aus dem Jahr 1529 Was veranlasste Calvin, diese Schrift zu bearbeiten und zu edieren? Es sind mehrere Antworten möglich. Erasmus hatte im Januar 1529 eine Neuauflage seiner Edition von 1515 publiziert. Calvin übernahm den Text dieser Ausgabe. In dem neuen Vorwort schreibt Erasmus: Ich meine jedoch, dass ich das Werk so weit gebracht habe, dass ich hoffen kann, wenn eine gelehrtere, glücklichere und mehr Zeit zur Verfügung habende Person dieser Ausgabe einen so großen Zuwachs zukommen lässt, wie wir den früheren Herausgebern zukommen liessen, und Seneca so ausgezeichnet sein wird, dass er mit einem Minimum an Widerwillen und einem Maximum an Frucht gelesen werden kann.101
101 ALLEN, Opus Epistolarum Erasmi, Bd. 8, 30, Z. 188–191 (Nr. 2091). Vgl. PARKER, T.H.L., John Calvin, 26.
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Calvin mag die Worte des Erasmus als Aufforderung verstanden haben, ohne sich von der Bezeichnung „gelehrter“ (als Erasmus) abschrecken zu lassen. Der Basler Humanist hatte am Text nur wenige Anmerkungen angebracht, während Calvin den Leser mit gelehrten Erklärungen geradezu überhäuft.102
Das Werk wurde kein Erfolg. Warum wohl? Die nächstliegende Erklärung ist, dass Calvin laut seiner Vorrede mit der Edition kein humanistisches Programm verbindet. Hingegen diskutiert Erasmus in seiner Vorrede in aller Breite die Frage, ob Seneca ein Christ war und was er glaubte. Er entscheidet: Seneca war ein Heide. Da aber in Seneca sehr viele (Aussagen) vorhanden sind, die unsere Trägheit zum Eifer für die Tugend entflammen können, werden sie scharfe Ansporne enthalten, wenn wir an den ethischen Erfolg denken. Unter ihnen sind nämlich solche Reden und Handlungen, dass sie nach der christlichen Philosophie zwar heftig zu verwerfen sind, für sich gesehen dennoch eine ausserordentliche natürliche Anlage zur Tugend in sich tragen.
So wirft uns das Wort des Sokrates, ‚ich weiss, dass ich nichts weiss‘, Arroganz vor.“ „Und die Tat der Lukretia103, die nach dem höchsten Recht verwerflich ist, empfiehlt uns dennoch einen Eifer für die Keuschheit.“104 Erasmus entwickelt ein Programm. Maßstab ist seine philosophia Christi, die Verbindung von biblischer Lehre mit antiker Ethik. Ein solches Programm fehlt in Calvins Ausgabe. Er geht auf die Frage, ob Se Heide. Hingegen rühmt neca Heide oder Christ war, nicht ein. Seneca ist bei ihm ohne nähere Erörterungen Erasmus Seneca zuerst als Tugendlehrer, weist dann aber auch auf seine Distanz zu den christlichen Hauptlehren hin. Soweit es deshalb die Sitten betrifft, wird Seneca mit grösserer Frucht gelesen, wenn er als Heide gelesen wird, der er auch war. Denn auch im christlichen Sinne regen seine Aussprüche sehr an und sie kränken (den Christen) als solche nicht. Andererseits weicht er von der christlichen Philosophie niemals mehr ab, als wenn er das behandelt, was uns die Hauptsachen sind. Das Hauptstück unserer Religion ist, Gott zu erkennen. Wenn aber jener uns klarmachen will, was Gott ist, so sagt er: ‚Gott ist das All, ist das, was du siehst und nicht siehst.‘ Wie wenn diese ganze Welt gleichsam ein riesiges Lebewesen wäre, dessen Leib den Augen sichtbar; dessen Seele aber verborgen sei. Das wäre dann Gott. Ob ein einziger Gott sei oder es viele Götter gäbe, lässt er in der Schwebe, wiederholt aber immer wieder: ‚Götter und Göttinnen‘. Dann wieder verspottet er diejenigen, die meinen, dass in dieser Welt nichts geschehe, was Gott verborgen bleibe; wie wenn der Elephant sich um die Mücke kümmere. Ob die Seele den Körper überlebe, wird von ihm erörtert, als ob es nicht darauf ankäme, es zu glauben oder nicht. 102 Siehe BATTLES, F.L./HUGO, A.M., Calvin’s Commentary on Seneca’s De Clementia, Leiden 1969 (The Renaissance Society of America, Renaissance Text Series, III). 103 Lukretia erstach sich, als sie von dem Sohn des Tarquinius Superbus geschändet wurde. 104 ALLEN, Bd. 8, 31, Z. 221–231.
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In dieser Weise fährt Erasmus in seinen Erörterungen fort.105 Erasmus fasst zusammen: Die größte seiner vortrefflichen Tugenden sei, dass er den Leser ansporne, nach der Tugend zu streben. Seneca komme in dieser Hinsicht der erste Platz zu.106 Calvin stimmt Erasmus in in der Beurteilung Senecas als Tugendlehrer zu, wie näher zu zeigen sein wird. Aber er stellt ihn nicht dem Christentum gegenüber. Er befolgt den Satz des Erasmus: ‚Seneca wird mit grösserer Frucht gelesen, wenn er als Heide gelesen wird‘. Das würde heißen, er geht auf einen Vergleich Senecas mit dem Christentum nicht ein, wie Erasmus in dem ausführlichen Zitat doch tut. Im Widmungsbrief nennt er als sein Ziel, Seneca gegen andere verteidigen zu wollen. Er schreibt: Ich kann es einfach nicht ertragen, dass der beste Autor (optimus author) von den meisten Leuten beschmutzt und fast nicht geschätzt wird. So dass ich längst gewünscht habe, dass ein vorzüglicher Retter erscheine, der diesen Autor in seiner Würde schützen würde. Wenn ich dies zu einem Teil erreicht habe, dann scheine ich mich der Mühe nicht vergeblich unterzogen zu haben. Erasmus hat in dieser Arena zweimal geschwitzt [gemeint sind die Ausgaben 1515 und 1529], er, der die zweite Zierde der Literatur und ihr erster Liebling ist. Seinen Augen sind gewisse Dinge entgangen – das sei ohne Missgunst gesagt – die von uns zum ersten Mal bemerkt wurden.107
Was heißt, Seneca in seiner Würde schützen? Ohne dem Ergebnis vorgreifen zu wollen, liegt die Meinung nahe: Seneca soll als heidnischer Tugendlehrer gelesen werden und seine Aussprüche nicht immer sogleich christlich kritisiert und interpretiert werden. Mit Calvins Ergänzungen sind nicht die vielen Einzelerläuterungen gemeint, die dazu dienen, den Text dem Leser verständlich zu machen In ihnen verteidigt er Seneca nicht gegen seine Kritiker. Auch will er Seneca nicht alleine als Tugendlehrer darstellen. Dessen überragende Bedeutung für die Bildung moralischer Grundsätze hebt er nicht weniger hervor als Erasmus. Calvin will ihn darüber hinaus als Gelehrten zur Geltung bringen. b. Seneca als Philosoph Es ist schwierig, einen Zugang zu Calvins Kommentar zu finden. Die Zahl und Namen der Autoren zu betrachten, die Calvin heranzieht, ist von geringem Nutzen. Er favorisiert keinen bestimmten Autor und verschreibt sich keiner der antiken Geistesrichtungen. F.L. Battles stellt von Calvins Zeitge105 ALLEN, Bd. 8, 31, Z. 233–246. Eine deutsche Übersetzung bietet KÖHLER, W., Erasmus von Rotterdam. Briefe, Leipzig 1938, 440–444 (Auszug). 106 ALLEN, Bd. 8, 31, Z. 184–187; vgl. HUGO, A.M., Calvijn en Seneca, Groningen, Djakarta 1957, 127. 107 CO 5, 5f. Vgl. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 6.
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nossen heraus Erasmus und Budé, dazu Philippus Beraldus d. Ä. (1453– 1505) als Cicerointerpret und Verfasser des Büchleins über die Aufgabe des Fürsten (De optimo statu libellus), aus der Antike Cicero und Senecas übrigen Werke, dazu griechische und lateinische Autoren.108 Calvin einer einzigen philosophischen Tradition zuzuordnen, sei es dem Stoizismus oder Augustinismus, ist unzutreffend. Der erst 23 Jahre alte Gelehrte bedient sich ganz verschiedenartiger Autoren. Der Umstand, dass Calvin sein Erstlingswerk als Humanist verfasst, muss festgehalten werden, erklärt aber nicht sein besonderes Interesse an der Senecaschrift. Nun könnte seine wiederholte Bezeichnung Senecas als „Philosophen“ lediglich besagen, dass er ihn in die humanistische Tradition einreiht und ihn aus humanistischem Interesse an der Ethik betrachtet. Calvin würde sich in diesem Falle an des Erasmus Begriff der Philosophia Christi anlehnen, allerdings – wie erwähnt – den Bezug auf das Christentum ausser acht lassen. Bei näherem Zusehen ergibt sich aber, dass er den Titel „Philosoph“ anders versteht. In dem Widmungsschreiben führt er aus: „Ich hätte völlig geschwiegen, wenn nicht eine bestimmte schlechte Meinung das Denken vieler Leute ergriffen hätte und sich jetzt das Vorurteil festgesetzt hätte, Seneca habe in der Redekunst (eloquentia) keine Verdienste, in der Philosophia seien sie an Zahl und Bedeutung dürftig, und sie lägen verborgen, unter Fehlern (gleichsam) ertränkt.“109 Calvin nennt Aulus Gellius und Quintilian bei Namen. Dann fährt er fort: Was mich betrifft, so schäme ich mich nicht, in den Mittelpunkt zu stellen, was ich denke; nicht wie eine Religion, durch die ich die Leser binden will. Sie können sich meinem Urteil anschliessen, wenn sie wollen. Andere bilden sich selbst eine Meinung oder übernehmen das Urteil der Schar der Erfahrenen. Ich denke, Seneca war ein Mann von ausserordentlicher Bildung (eruditio) und ausgezeichneter Beredsamkeit (facundia). Welche Kenntnis der Fächer (rerum) gibt es, die jener Genius nicht hat erreichen können? Die Geheimnisse der Natur (naturae mysteria), die sich auf den Teil der Philosophie erstrecken, den die Griechen die Physik nennen, verstand er auf das Beste. Wenn er sich in der Ethik bewegte, beherrschte er sie auf das Vorzüglichste und lief gleichsam in seiner eigenen Arena. Er war in der Dialektik unterrichtet, soweit es zum Ausschmücken der Rede genügte. Die alten Geschichten, soweit sie von Nutzen sein würden, hatte er im Gedächtnis. In der Erinnerung machte er dennoch manchmal Fehler, insofern er allzu nachsichtig war. Seine Rede (sermo) war schlicht und glänzend, sie war seinem Jahrhundert ein Wohlgeruch. Seine Redeweise (genus dicendi) war elegant und blumig, sein Stil 108 The sources of Calvin’s Seneca Commentary, in: BENEDETTO, R. u.a. (Hg.), Interpreting John Calvin. Ford Lewis Battles, Grand Rapids 1996, 65–89. Am Schluss steht eine Liste von 102 Autoren, die Calvin herangezogen hat. 109 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 6.
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mühelos und fliessend, sein Wesen war massvoll, wie es einem Philosophen gebührt.110
Calvin fasst zusammen: „Unser Seneca war der zweite nach Cicero, ein römischer Pfeiler der Philosophie und Redekunst (eloquentia).“111 Aus dem Zitat geht hervor, dass Calvin hier unter Philosophie die Fächer der artes liberales versteht. Spätestens, wenn die Physik ein Teil der Philosophie genannt wird, wird klar, dass das philosophische Vorstudium gemeint ist, das der Student durchlaufen muss, bevor er zu den höheren Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz oder Medizin) aufsteigt. Calvin stellt innerhalb der Fächer der Philosophie die Rhetorik besonders heraus. Seneca, will er sagen, hat in den Fächern der artes liberales ausgezeichnete Kenntnisse. Sie will er in den Anmerkungen herausstellen. Er verschweigt nicht, dass Seneca in der Dialektik (Logik) nur die notwendigen Kenntnisse besitzt und ihm in seinen Geschichtskenntnissen (sie gehören zur Rhetorik) Fehler unterlaufen. Übrigens unterscheidet auch Erasmus, wie erwähnt, zwischen Senecas Lehren im Hinblick auf die philosophia Christi und den menschlichen Handlungen, die „für sich gesehen dennoch eine ausserordentliche natürliche Anlage zur Tugend in sich tragen“. Heidnische Tugenden müssen nicht mit christlichen verglichen werden. Sie haben auch an sich ihren Wert. Nun konnte dieses Programm, verglichen mit dem des Erasmus, keine breite Aufmerksamkeit finden. Humanistisch war es nur in der Betonung der Tugenden. Viele Anmerkungen sind nur philologischer Art. Gewiss, die Verteidigung Senecas war ein wissenschaftliches Programm. Doch der Bezug auf die Fächer der artes liberales musste damals keine Aufmerksamkeit erregen; großes Aufsehen fand die Thematik damals nicht. Der Kommentar konnte daher nur auf begrenzte Beachtung stoßen. Calvins wissenschaftlicher Misserfolg wird seine Ursache in dem begrenzten Programm haben. Es war ein Buch für Spezialisten. Auch gab sich Calvin trotz seiner Jugend sehr selbstbewusst. Der berühmte Namen des Erasmus hat ihn im Blick auf die Edition nicht beeindruckt. A.M. HUGO wird Recht haben: Seine Wahl fiel auf Seneca, weil er den Ehrgeiz hatte, den Fuß auf die Leiter zu setzen, die ihn zu nationalem, vielleicht auch zu internationalem Ruhm als Gelehrter auf diesem Gebiet führen werde.112 c. Seneca und die purior doctrina Doch im Blick auf den Werdegang Calvins ergeben sich aus der gebotenen Analyse wichtige Folgerungen. Ganz richtig wird in der Calvinforschung 110 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 8f. 111 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 10f. 112 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 32*.
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die Ansicht vertreten, dass sich im Kommentar keine reformatorischen Gedanken finden. Die Nennung von nur vier Bibelstellen bzw. Anspielungen auf sie sprechen dafür.113 Zweimal nur erwähnt er „nostra religio“, also die christliche Religion.114 Alle Forscher stehen vor der Schwierigkeit, dass Calvins Schrift keine reformatorischen Gedanken enthalten, obwohl er seit 1528 die Heilige Schrift studierte und Heiligen- und Bilderdienst abzulehnen begann. Warum hinterlässt die neue Gelehrigkeit (docilitas) keine Spuren?115 Eine Lösung schlagen BATTLES/HUGO vor. Sie nehmen an, dass Calvin schon im Herbst 1529 in Bourges angefangen habe, am Kommentar zu arbeiten, ihm aber später nicht genügend Zeit verblieben sei, um die vielen literarischen Nachweise in den Bibliotheken zu sammeln. Die von ihnen erstellte Zeittafel des Jahres 1531 enthält viele Daten, die Calvins anderweitige Beschäftigung belegen.116 Für die Abfassung verblieben ihm die zweite Jahreshälfte 1531 und der Jahresanfang 1532, also die Zeit in Paris, bis im April das Buch im Druck erschien. Da Calvin ein schneller Schreiber war, spricht alles für diese Annahme. Die Feststellung, in dem Kommentar befänden sich keine reformatorischen Gedanken, ist richtig. Doch enthält die Schlussfolgerung, er habe sie nicht gekannt, einen gedanklichen Fehler. Denn Calvin will gar nicht über die Theologie oder über die christliche Frömmigkeit reden. Er klammert sie aus, weil er wie Seneca die heidnischen Tugenden erörtern will. Auch für Erasmus ist dies, wie gezeigt, durchaus eine Möglichkeit. Auch Melanchthon nennt in seinen Initia doctrinae physicae (1549) zwar zu Anfang den biblischen Gott, behandelt aber dann das Weltall remoto Christo.117 Es gibt eine Möglichkeit, Calvins damalige Stellung zur Theologie bzw. zu biblischen Aussagen zu überprüfen. Es sind seine Anmerkungen zu den einzelnen Tugenden, die Seneca erwähnt. BATTLES erstellt eine Liste dieser Begriffe. Es sind die Definitionen der Tugend (virtus), Güte (clementia), Menschlichkeit (humanitas), Hochherzigkeit (magnanimitas), Barmherzigkeit (misericordia), Heuchelei (vitia virtutes imitantia), Sünde (omnes pec113 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 30, 34 (Röm 13,1); 38,35 (Spr 16,14); 94,40 (1 Tim 6,10); 114,2 (1 Petr 2,18). 114 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 30, 34 (CO 5,18); 250 (CO 5,112). 115 SAXER, Ernst, Aberglauben, Heuchelei und Frömmigkeit. Eine Untersuchung zu Calvins reformatorische Eigenart, Zürich 1970, 139–210, untersucht sorgfältig den Seneca-Kommentar. Doch seine These, Calvin lehre die Autorität Augustins kennen, beruht auf zu vielen Rückschlüssen. 116 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 11*. 117 Melanchthons „Initia doctrinae physiae“ (1549) beginnt mit Gott, der prima causa, den Verstandesbeweisen für seine Existenz und der Vorsehung. Es folgt die Lehre von der Welt, den Planeten, der Materie usw. Die Theologie bleibt ausgeschlossen. HARTFELDER, K., Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae, Berlin 1889, 243ff.
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cavimus), Zorn (ira), Seelenruhe (tranquilitas animi), Begierden (cupiditates). Zur Theologie gehören Aberglaube (superstitio), Vorsehung (providentia), Gewissen (conscientia) und Gottheit.118 Wie stellt sich Calvin, wenn sich antike und biblische Aussagen nicht nur überschneiden, sondern Seneca auch dem biblischen Verständnis widerspricht? Dazu müssen die Begriffe im Einzelnen betrachtet werden. Tugend Seneca: „Wie sehr auch die wahre Frucht der Taten darin liegt, sie getan zu haben, so liegt keine Würdigkeit der Tugend ausserhalb derselben. Dennoch ist es hilfreich, ein gutes Gewissen der Inspektion zu unterziehen.“119 Calvin bekräftigt: „Die Tugend ist das höchste Gut und sollte um ihrer selbst willen gesucht werden.“ Er bekräftigt die Bedeutung des Gewissens durch zwei antike Zitate.120 Milde /Güte (clementia) und Menschlichkeit (humanitas) Sie ist Thema der Abhandlung und muss in ihrem Zusammenhang betrachtet werden. Calvin schreibt: „Kunstvoll nimmt sich Seneca vor, so über die Milde zu schreiben, dass Nero in der Beschreibung seiner eigenen Tugend das Bild der Milde erkennt.“121 Seneca: Da keine unter allen Tugenden mehr zum Menschen passt als die Milde, weil keine mehr menschlich ist, ist es eine notwendige Überzeugung nicht allein unter uns, die wir den Menschen als ein soziales Lebewesen betrachten wollen, erzeugt zum allgemeinen Guten, sondern auch unter jenen [Epikuräern], die den Menschen dem Genuss weihen, dass sich alle Worte und Taten auf ihre Nützlichkeit beziehen. Denn wenn der Mensch Ruhe und Frieden sucht, so ist diese Tugend seiner Natur entsprungen, die den Frieden liebt und die Massen zurückhält.122
Calvin: wiederholt lediglich Senecas Aussage: „Clementia ist wahre humanitas.“ und aus ihr hervorgehend die Sanftmut (mansuetudo).123 Die Güte Gottes bleibt unerwähnt. Calvin will nur über den Menschen und dessen Menschlichkeit reden. Das muss keineswegs heißen, dass er an die Güte Gottes nicht glaubt. Er schließt sie lediglich aus der Erklärung des Seneca aus.
118 119 120 121 122 123
BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 125f*. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 18. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 24. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 22. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 76. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 86.
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Ruhe der Seele (tranquillitas animi) Calvin interpretiert sie als Besonnenheit der Seele (moderatio), Gleichmut (aeqeanimitas). „Unser Seneca nennt sie einmal Sicherheit (securitas), ein anders Mal Friede (pax); Die Theologen sagen fast immer Friede.“124 Vielleicht spielt Calvin auf Mt 11,29 an: „So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.“ An dieser Stelle weist er ausnahmsweise einmal auf die Theologie hin. Barmherzigkeit (misericordia) Während die Meinung Senecas zur Tugend biblischen Ansichten nicht widersprechen, ist dies beim Begriff misericordia der Fall. Seneca erörtert die Frage, ob sie eine Tugend sei, wie viele Leute sagen. Aber sie sei ein Fehler (vitium). Man müsse beide, Barmherzigkeit und Grausamkeit, vermeiden.125 Calvin widerspricht Seneca: Sie ist sehr wohl eine Tugend, wie Plinius, Cicero, Juvenal, Horaz, Vergil und Augustin bezeugen.126 Wieder schweigt er über das biblischen Verständnis des Begriffes. Gott Seneca: lässt Nero sagen: „Es sei leicht für ihn, reich zu machen, wen er will, und auszuplündern durch Schicksalsschläge (oder Glücksgöttinen, fortunis), wen er will.“127 Dazu bemerkt Calvin: Deutlich ist, dass der Fürst nichts anderes ist als ein Organ des Schicksals, durch dessen Hand und Dienst er alles wieder umkehren kann. Das Wort Schicksal hat Seneca für Gott gesetzt, was mehr allgemein gebräuchlich ist, als dass es dem eigentlichen Sinn entspricht. Denn es gibt nichts Schicksalhaftes für die, die alles der Notwendigkeit unterordnen.128
Mit dieser Deutung distanziert sich Calvin vom Begriff des Schicksals und setzt für diesen Gott, der der Autor dessen ist, was notwendig geschieht. Gleichzeitig distanziert er sich von der Idee der Schicksalsgöttin. Er bewegt sich damit auf den biblischen Gott hin, geht aber über die philosophische Verbindung von Gott und necessitas nicht hinaus. Zusammenfassend ergibt sich: Da Calvin mit Seneca die dem Menschen innewohnende Menschlichkeit beschreiben will, sind reformatorische Gedanken nicht zu erwarten. Einige Male berührt er „unsere Religion“ und die „Theologie“, geht aber nicht auf sie ein. Es genügt ihm bei seiner Erklärung 124 125 126 127 128
BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 40. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 356. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 359f. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 18. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 32.
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der Senecaschrift, dass dessen Tugendlehre nicht im Widerspruch zur biblischen Wahrheit steht. Es bleibt daher nur die Schlussfolgerung, dass der Calvin des Senecakommentars sehr wohl zugleich der eifrige Bibelleser und Prediger der „reineren Lehre“ ist. Beide stehen unverbunden nebeneinander. Eine Ausnahme muss genannt werden, die aber diesem Ergebnis nicht widerspricht, sondern es bestätigt. In den ersten Sätzen seines Buches rühmt Seneca Neros Aufgabe, die öffentliche Ordnung zu erhalten.129 Calvin bemerkt dazu: „Auch jenes Bekenntnis unserer Religion ‘Es gibt keine Macht (potestas), sie sei denn von Gott. Und die bestehenden Mächte sind von Gott verordnet’, gemäss Röm 13 [1].“130 Das Zitat will keinen Bezug auf die Reformation herstellen, sondern Calvin registriert nur, dass bei Paulus alle obrigkeitlichen Gewalten von Gott kommen, auch die heidnischen. Demnach hat auch Nero einen göttlichen Auftrag. „Calvin zitiert oft Sätze, die sich auf die heidnischen Götter beziehen. Abgesehen von der oben genannten Aussage [zu Röm 13] kommentiert er sie nie als Christ.“131 d. Seneca und die doctrina pura (1535) Drei Jahre später würdigt er in der Einführung zum Alten Testament in der Olivétanbibel Seneca als Tugendlehrer. Doch seine Bedeutung und Zuordnung zum christlichen Glauben hat sich grundlegend geändert. Calvins Aussage muss in ihrem Kontext betrachtet werden: Denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an, Genesis 8 [21]. Wenn das Herz daher böse Begierde ist aus sich selbst, kann es nicht Gutes tun aus sich selbst. Denn es kann sich nicht ändern in eine andere Natur und kann sich nicht anders machen, als es ist. Es sei denn, dass du behaupten willst, dass es Gott sein kann aus sich selbst, und dass es ein Geschöpf gewesen ist für sich selbst. Denn das Gebrechen hat sich nicht in eine Gewohnheit gewandelt, sondern es liegt in der Natur. Ich bekenne wohl, dass Eifer (courage) vorbereitet werden kann (dispose) durch Lesen. Aber er kann sich weder vervollkommnen, noch kann der Leser der Schrift seine Natur ändern aus sich selbst heraus. Wozu dient die Unterrichtung über das Gesetz, wenn nicht, um den göttlichen Willen zu erkennen? Als dazu, zu wissen, was der Schöpfer befiehlt und was er von dir fordert? Höre in dieser Sache auf Seneca, einen Heiden, der unter den alten (Schriftstellern) der grösste und eifrigste Befürworter der Tugend war. Er bekennt, dass die heftigsten Affekte zurückschlügen und sich widersetzten, dass aber die Vernunft uns anleite und von uns alles Gute und Tugendhafte fordere. Daher meint er, dass kein Mensch gut sei, aber das Gute unter den Menschen bei einigen schlechter bestellt sei als bei anderen.132 129 130 131 132
BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 18. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 30. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 131*. DROZ, E., Chemins de l’hérésie, Neudruck Genf 1970, nach 110 (Kopie 2f).
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Zwischen dem Widmungsschreiben aus dem Jahr 1532 und der Einführung zur Olivétanbibel 1535 liegt seine Bekehrung zur pura religio. Seneca und die antiken Philosophen erhalten nun eine ganz andere Bedeutung, weil Calvins Einschätzung der menschlichen Natur eine andere geworden ist. Zuerst führt er aus, dass das menschliche Herz sich aus eigener Kraft nicht ändern kann. Nur Gott kann dies vollbringen. Dann gesteht Calvin ein, dass menschlicher Eifer vorbereitet werden kann und zwar durch Lesen. Er hat dabei den jüdischen Leser des AltenTestaments im Blick (wie in der ganzen Einführung ins Alte Testament).133 Aber auch von diesem frommen Lesen gilt, dass es die menschliche Natur nicht verändern kann. Der Leser kann sich selbst nicht vervollkommnen. Calvin lehrt die Unfähigkeit des Menschen zum Guten, er sei denn durch Gottes Gnade erweckt. Es ist die Absage an den freien Willen. Allerdings kann er Gottes Eingreifen vorbereiten. Beachtet man den Kontext, dann gilt die Zentrierung auf Gottes Wirken und die Möglichkeit, Gottes Eingreifen vorzubereiten, auch für die Lektüre Senecas. Im Kommentar von 1532 spielt der Gottesbezug keine Rolle und die Tugenden sind dem Menschen zugänglich, wenngleich er mit den Begierden kämpfen muss. Es ist nun doch von Bedeutung, dass Melanchthon und Erasmus den Gottesbezug ihrem Lehrbuch der Physik bzw. der Senecaauslegung voranstellen. Melanchthon redet zuerst von dem biblischen Gott und Erasmus bezieht sich im Senecakommentar auf die philosophia Christi. In diesem Begriff sind Antike und Christentum zusammengefasst. Calvin hatte jedoch, wie gezeigt wurde, über den Gottesbezug in seinem Kommentar geschwiegen. Wenn er im Jahr 1535 fortfährt und auf Seneca zu sprechen kommt, so müssen die vorhergehenden Ausführungen auch für jenen gelten: Das heißt, der Mensch kann durch Lesen seine Natur nicht verändern. Der freie Wille, der Voraussetzung der antiken Philosophie ist, wird verneint. Doch baut Calvin eine Brücke zum heidnischen Altertum, wenn er lehrt, dass Lesen zur Veränderung der menschlichen Natur geneigt macht. Es kann der Eifer (zu guten Werken) vorbereitet werden durch das Lesen antiker Schriften. Calvin hält die Tür zur Ethik der Griechen und Römer offen. Wenn er nun auf Seneca zu sprechen kommt, so lobt er ihn als den größten und eifrigsten Befürworter der Tugend. Da Calvin Gen 8,21 auslegt, beruft er sich auf Seneca als Zeugen für die Unfähigkeit des Menschen zum Guten. Dieser beherrscht seine Affekte nicht, sondern sie widersetzen sich, obwohl die Vernunft ihn anleitet, Gutes zu tun und tugendhaft zu leben.134 133 Calvin behandelt die 613 Verbote und Gebote der Praecepta Mosaica affirmativa, von denen Nr. XVIII lautet: Lectio ista Audi Israel, dominus Deus noster dominus unus etc. legendo est bis singulis diebus. Deut. 16 [richtig 6,4ff]. 134 Im Senecakommentar schreibt Calvin: „Die Philosophen nennen Begierde (cupiditas) den Sitz des Begehrens (concupiscentia), der alle Leidenschaften des Herzens (animus) umfasst, dazu
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Die Vernunft der Heiden entspricht dem Lesen der Bibel durch die Juden. Sie bereiten vor, vermögen aber nicht, seine Natur zu ändern. Antike Ethik und christlicher Glaube sind einander nun klar zugeordnet. Es bleibt die Frage zu beantworten, ob Calvin die Senecaschrift auch als Eintreten für die unter Nero verfolgten Christen verstanden hat, wie in der älteren Forschung zumeist, in der neueren aber nicht mehr angenommen wird. Die Konsequenz dieser These ist, dass Calvin gleichfalls für die in Frankreich verfolgten Protestanten seine Stimme erheben wollte.135 Für diese These gibt es weder in Senecas Traktat noch in Calvins Kommentar einen Beweis. Vielmehr verleitet die modernen Betrachter der Titel De Clementia zu diesen Annahmen. Wie gezeigt, wird aber von Seneca und Calvin clementia mit humanitas gleichgesetzt. Und Menschlichkeit ist der Inbegriff aller Tugenden und keineswegs nur Ausdruck der Güte gegen Verfolgte. Die These des Eintretens für Verfolgte passt nicht in den Gesamtrahmen, weder der Schrift Senecas noch des Kommentars Calvins. Nachdem der Senecakommentar im April 1532 erschienen war, bemühte Calvin sich von Paris aus, ihn bekannt werden zu lassen. Da es ein Privatdruck war, musste er, wie er an einen Freund schrieb, die hohen Unkosten wieder hereinbringen. Er bittet ihn, 100 Exemplare möglichst in Orléans zu verkaufen. „Hier habe ich einige Professoren ersucht, Vorlesungen zu halten. In den Schulen von Bourges habe ich einen Freund bewogen, zu öffentlicher Vorlesung das Katheder zu besteigen.“136 Ähnlich lautet sein Brief an Daniel in Orléans, in dem er aber besorgt schreibt: „Damit mein Ruf unverletzt sei, möchte ich, dass du mir zuerst schreibst, mit welchem Beifall oder Kälte man es aufgenommen hat.“137 Nennenswerter Erfolg war Calvin aber nicht beschieden.beurteilt: „Es steht fest, dass er von jenem sehr bedeutenden Schriftsteller (Seneca), mit dem Calvins eigene Sitten völlig übereinstimmten, sehr gefesselt war.“138
jene inneren Affekte (affectus), die der Herrschaft der Vernunft nicht unterworfen sind.“ CO 5, 29; BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 58. Oder: „Sie (die Pythagoräer und Plato) teilen das Herz (animus) in zwei Teile. Den einen Teil machen sie der Vernunft teilhaftig, den anderen nehmen sie von ihr aus. […] In jenem anderen Teil sind die stürmischen Gemütsbewegungen wie Zorn und Begierde (cupiditas), die der Vernunft entgegengesetzt und feindlich sind.“ CO 5, 22, BATTLES/ HUGO, Calvin’s Commentary, 40. 135 Zu Calvins Wahl der Schrift „De clementia“ s. SAXER, E., Aberglauben, Heuchelei und Frömmigkeit, 152–155. 136 COR VI. 1, 67f (Nr. 9). 137 COR VI, 1, 58 (Nr. 7). 138 CO 21, 122.
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4. Calvins religiöse Tätigkeit in Paris 1531/1532 Wie oben festgestellt, arbeitete Calvin nach dem Tod des Vaters am 26. Mai 1531 bis zur Fertigstellung des Drucks am 4. April 1532 an der Ausarbeitung des Senecakommentars. Beza stellt ausdrücklich fest, dass er das Werk in Paris verfasst hat.139 Nach dem Abschluss des Drucks hält er sich einige Zeit in Orléans auf. Zeit und Länge dieses Aufenthalts sind unbekannt. In Orléans lebten seine Freunde Daniel und Du Chemin. Beza berichtet noch mehr über die Abfassungszeit in Paris: Während der wenigen Monate, die Calvin in Paris weilte, wurde er mit allen bekannt, die sich um die reinere Religion bemühten. Zu ihnen gehörte – wie wir ihn später oft erwähnen hörten, nicht ohne das Zeugnis hervorragender Frömmigkeit – der berühmte Kaufmann Stephan, der später um des Namens Christi willen verbrannt wurde. Er hat seinen Namen später im Buch Gegen die Libertiner gerühmt.140
Calvin schreibt dort: „Jedoch kann ich das nicht verheimlichen, was ich durch den seligen Étienne de la Forge erfahren habe, dessen Andenken gepriesen werden muss bei den Gläubigen als das eines heiligen Märtyrers Jesu Christi.“141 Daraus geht hervor, dass der Kaufmann seine Glaubenserkenntnis bereichert hat. Es ist also keineswegs der Fall, dass Calvin während seiner Arbeit am Senecakommentar religiös untätig gewesen ist; ganz im Gegenteil. Damit bestätigt sich die vorstehende Beurteilung des Kommentars. Beza macht in seiner Vita Calvini eine weitere interessante Bemerkung, die sicherlich in die Jahre 1531/32 gehört: „Von der Zeit an gab Calvin die übrigen Studien auf und weihte sich ganz Gott mit größter Zustimmung aller Frommen, die damals in Paris geheime Versammlungen abhielten.“142 Man kann nur raten, was es heißt, ‚sich ganz Gott weihen‘. Widmete er sich nun ganz dem Predigtdienst? Seine Entwicklung in Angoulême (1534) und in Basel (1534/35) geht jedenfalls in diese Richtung. Beza mag wohl auf sie anspielen. Was auch immer diese Entscheidung bedeutet, fest steht, er war in der geheimen Gemeinde bekannt, als er in den religiösen Turbulenzen in Paris im folgenden Jahr Stellung bezog. In diese Zeit gehört wohl auch ein späteres Geständnis Calvins. In der Predigt über 2. Sam 5,12–17 am 1. Juli 1562 bemerkt er: „Und ich kann sagen, dass es jetzt zwanzig oder wohl gar dreissig Jahre her ist, da war ich in jenen höchsten Nöten, dass ich hätte wie tot sein mögen, um diese Ängste, die mir vor Augen standen, zu beseitigen. Zu mindesten hätte ich ge139 140 141 142
CO 21, 122. CO 21, 122/23; Colladon CO 21, 56. CO 7, 160. CO 21, 122, 123.
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wünscht, dass mir die Zunge abgeschnitten wäre, um nur ja nicht das Wort zu sagen.“143 Mit dem „Wort“ meint er „ein Wort des Bekenntnisses“. Die Zeitangabe reicht zurück bis 1532, ist aber von Calvin nicht genau berechnet. Doch bezichtigt sich Calvin in der Predigt nicht des Nikodemismus, das heißt, des Schweigens aus persönlichen Gründen. Der Textzusammenhang zeigt, dass damals die evangelische Gemeinde zu schwach war, einen Angriff der Gegner zu überstehen. Die inneren Nöte waren die, dass er gerne bekannt hätte, es aber um der Gemeinde willen nicht durfte. So wurde er durch die äußeren Umstände zum Nikodemiten. Es kommt für diese Situation nur die Zeit von 1531 bis 1532 in Frage. Calvin muss seine Zugehörigkeit zur heimlichen Gemeinde in Orléans oder Paris im Blick gehabt haben.
Kapitel 5: Die Rektoratsrede vom 1. November 1533 und die reformatorische Bewegung in Paris im selben Jahr Über die Verfasserschaft Calvins besteht immer noch kein Konsens Die meisten Forscher bejahen sie.144 Die Frage soll daher im Mittelpunkt stehen. Die Biographen Calvins äußern sich uneinheitlich. Colladon (1564) berichtet nur von der Rektoratsrede des Nikolaus Cop. Beza (1575) setzt hinzu, „Calvin hat sie geliefert.“145 Bekanntlich liegt sie in einer Teilabschrift von Calvins Hand vor und in einer vollständigen Abschrift von Cops Hand.146 Fest steht, das Original existiert nicht mehr. Es bleibt daher nur der Weg, ihren Inhalt zu prüfen und daraus Schlüsse auf Calvins Verfasserschaft zu ziehen.147 Zuvor soll aber die geschichtliche Situation vor und nach der Rektoratsrede geklärt werden. Sie ist in der Calvinforschung zu wenig beachtet worden. Es gibt viele Berichte über die Vorgänge in Paris in den Jahren 1533 und 1534 die bisher nicht herangezogen wurden. Calvin hat sie in Paris nur 143 Supplementa Calviniana, Bd. I, Neukirchen 1936, 122, Z. 27–29. 144 MÜLLER, K., Calvins Bekehrung, NGWG 1905, 188–255, verneint sie; ebenso GANOCZY, A., The Young Calvin, 80–82. 145 Suggessit eam (sc. Panagiam) Calvinus; CO 21, 123; ebenso in der Histoire ecclesiastique, 25: Cop „prononça une oraison, qui luy avoit esté bastie par Calvin d’une façon tout autre que la coustume n’estoit.“ 146 J. Rott hat herausgefunden, dass das Strassburger Manuskript von Cops Hand ist. Documents strasbourgeois concernant Calvin. ROTT, J., Un manuscrit autographe: la harangue du recteur Nicolas Cop; II. Calvin prébendier de la Cathedrale de Strasbourg, RHPhR 44, 1964, No. 4, 290–325. 147 K. Müller (Calvins Bekehrung) und J. Rott (Documents) gelehrte Analyse der Abweichungen des Genfer und Straßburger Manuskripts voneinander sind für die Frage der Autorenschaft nicht beweiskräftig.
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zum Teil miterlebt, denn er kehrte erst am 16. Juni 1533 von einer Reise zurück nach Paris.148 Nach der Rektoratsrede flieht er nach Angoulême; dort und auf Reisen verbringt er das Jahr 1534. Auch fällt der Name Calvins in den zahlreichen Berichten nicht, ausgenommen in dem des BULAEUS. Mehrere Gründe verlangen ein Eingehen auf die Einzelheiten. Denn die Berichte geben Auskunft über das öffentliche Auftreten der Anhänger des Faber Stapulensis, insbesondere seines Schülers Roussel, in Paris. Calvin berichtet in seinem Brief vom 28. Oktober 1533 über die Angriffe auf Gèrard Roussel und auf seine Beschützerin Margarete von Navarra. Ja, er gehört selbst zu den Fabristen, wie seine Bemerkung „unser G[èrard]“ beweist. Es ist daher notwendig, dass alle Ereignisse, an denen die Vertreter des „Evangelisme“, also der Evangeliumsbewegung, im Jahr 1533 beteiligt sind, durchleuchtet werden. Es sind die Fastenpredigten 1533, die Theateraufführung im Collegium Navarra am 1. Oktober 1533 und die Rektoratsrede am 1. November 1533 und ihre Folgen. Die Berichte nennen zudem Einzelheiten über das Auftreten des Hauptes der Theologischen Fakultät der Sorbonne, Beda, sowie seiner Gefolgsleute gegen die Reformer. Sie sind bei den drei genannten Ereignissen die treibende Kraft der Gegenaktionen. Die Berichte geben sodann Aufschluss über das Eingreifen des Königs und die Haltung des Hofes in dieser Zeit. Man muss bedenken, dass in der Zeit des fürstlichen Absolutismus alle Gewalt beim König lag. Der König verfolgte zu dieser Zeit aber eigene politische Pläne, die sich teils zu Gunsten der französischen Protestanten auswirkten, teils sich gegen sie richteten. Schließlich geben sie Auskunft über die schweren Verfolgungen der französischen Protestanten. Sie erläutern, warum Calvin zweimal geflohen ist, und warum er nun ständig in seinen Schriften auf die Verfolgungen zu sprechen kommt und die Verfolgten zur Standhaftigkeit ermuntert. In immer enger werdenden Kreisen soll zuerst auf die politische Lage, dann auf die Ereignisse in Paris und schließlich auf den theologischen Gehalt der Rektoratsrede eingegangen werden.
148 COR VI.1, 72, Z. 1 (Nr.11), Brief vom 27. Juni 1533 an Daniel.
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A. Der politische Rahmen149 Die politische Situation der Jahre 1529 bis 1534 war für die Evangelischen in Frankreich keineswegs ungünstig. Ausgangspunkt ist die Rivalität zwischen Kaiser Karl V. und König Franz I. 1. Die Bündnispolitik des französischen Königs Franz I. und des Landgrafen Philipp von Hessen Frankreich sah sich von Habsburg umklammert und wollte diese Einschnürung sprengen. Habsburg wiederum wollte freie Hand in Oberitalien haben und fürchtete einen französischen Einfluss auf die deutschen Protestanten, die sich im Jahr 1531 zum Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossen hatten. Zunächst war Habsburg gegenüber Frankreich im Vorteil, denn im Jahr 1529 wurde zwischen beiden Mächten der Frieden von Cambrai geschlossen. Für unseren Zusammenhang sind dessen Bedingungen wichtig: Franz I. verzichtete auf die italienischen und niederländischen Ansprüche und musste sich von seinen Verbündeten lossagen (Geldern und der Grafschaft Mark). Er war Machtpolitiker und daher gewillt, die Abmachungen bei Gelegenheit zu brechen. Zunächst war es sein Plan, die deutschen Protestanten zu gewinnen, die ebenfalls den Kaiser zum Gegner hatten. Denn dieser konnte das Wormser Edikt von 1521 jederzeit an Luther und seinen Anhängern gewaltsam vollziehen. Der Augsburger Reichstag von 1530 hatte zu keiner Einigung zwischen den Parteien geführt; das Wormser Edikt war weiterhin gültig. Als im Jahr 1531 des Kaisers Bruder Ferdinand zum Römischen König gewählt wurde, protestierten die evangelischen Fürsten. Dem Protest schloss sich auch Dänemark und Frankreich an. Im Mai 1532 schlossen Frankreich, Sachsen, Hessen und Bayern einen Subsidienvertrag. Da der Schwäbische Bund, das Instrument Habsburgischer Macht in Süddeutschland, vertragsgemäß auslief und nicht erneuert wurde, griff Hessen militärisch ein und setzte Ulrich von Württemberg wieder als Herrscher in sein Land ein; das Land wurde im Jahr 1534 evangelisch. Die protestantischen Verbündeten hatten große Hilfsgelder von Frankreich erhalten, getarnt als Verpfändung der württembergischen Grafschaft Mömpelgard an Frankreich. Zuvor hatten sich Ende Januar 1534 Landgraf Philipp von Hessen und König Franz I. in Bar-le-Duc getroffen. Es muss nicht besonders hervorgehoben werden, dass die stürmischen Ereignisse in Paris in diese Zeit fallen. König Franz I. konnte nicht gegen die französischen Protestanten vorgehen, ohne die deut149 Wir folgen der Darstellung SEIDELS, K.J., Frankreich und die deutschen Protestanten. Die Bemühungen um eine religiöse Konkordie und die französische Bündnispolitik in den Jahren 1534/35, Münster 1970, 7–15 (RST 102).
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schen Verbündeten zu verprellen. Die Zeit war daher günstig für ein öffentliches Auftreten der Evangelischen in Paris. Doch damit nicht genug. Franz I. wollte weitere Erfolge gegen Habsburg. Dem stand der konfessionelle Gegensatz störend im Wege. Sachsen hatte bei der Bildung des Schmalkaldischen Bundes entschieden den Grundsatz vertreten „Bekenntnis vor Bündnis“ und hatte ihn auch innerprotestantisch gegen die oberdeutschen Zwinglianer und gegen die Schweizer durchgesetzt. Er galt umso mehr im Blick auf die katholischen Mächte. Wollte Franz I. dieses Hindernis beseitigen, so musste er die konfessionelle Spaltung überwinden und – dies war unvermeidlich – auch die kirchlichen Zustände in Frankreich ändern. Die letzten Einigungsverhandlungen zwischen Katholiken und Protestanten hatten auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 stattgefunden. Sie hatten Annäherungen gebracht, waren aber gescheitert. Die Abgesandten des französischen Königs hatten schon 1531 und 1532 den Auftrag, bei den evangelischen Fürsten auf eine religiöse „Union“ hinzuarbeiten. Der Gesandte des Landgrafen wiederum sollte in Frankreich ein gemeinsames Kolloquium vorschlagen. Wir wissen nichts über den Fortgang der Verhandlungen. Sicher ist aber, dass Franz I. zu dieser Zeit für kirchliche Reformen offen war, und sei es nur aus politischen Gründen. Er ließ demgemäß den Evangelischen in Frankreich größere Freiheiten und entzog den Gegnern, der Theologischen Fakultät in Paris, seine Unterstützung. Im Oktober 1533 traf er sich in Marseille mit Papst Clemens VII., um ihn auf seine Seite zu ziehen. Versprechungen, gegen die Protestanten vorzugehen – wie von den Protestanten befürchtet – machte er nicht. Vielmehr verkündete der französische Abgesandte Langley am 5. Mai 1534 vor der eidgenössischen Tagsatzung, der Papst sei zu Reformen bereit und „zur Übereinstimmung mit einigen Meinungen derer, die sich in Deutschland Evangelische nennen. Diese Meinungen zeigen jedoch, dass sie nicht zuwiderhandeln dem wahren Sinn des Wortes und des Geistes Gottes.“ Melanchthon ließ sich überreden, ein Consilium ad Gallos anzufertigen, das am 1. August 1534 fertiggestellt war. Es hielt den Kern der reformatorischen Lehre fest, zeigte sich aber in Bezug auf Papst und Kirchengewalt nachgiebig. Im Blick auf die Messe könne er nichts raten. Am 30. August stimmte Bucer in Straßburg dem Ratschlag zu. Die Aussichten auf eine Einigung schienen gut zu sein. 2. Der Hintergrund der Plakataktion im Oktober 1534 Die „affaire des placards“ beendete die Hoffnungen. In der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1534, von Samstag auf Sonntag, wurden an zahlreichen Ecken in Paris und in einigen Städten der Provinz wie Rouen, Orléans, Blois, Tours, Amboise Plakate angeschlagen mit dem Titel „Wahrhaftige Artikel über die schrecklichen, gewaltigen und unerträglichen Missbräuche
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der päpstlichen Messe, erfunden direkt gegen das Heilige Mahl unseres Herrn, den alleinigen Mittler und alleinigen Retter Jesus Christus. Ein Exemplar wurde an die Schlafzimmertür des Königs angeheftet.“150 Das Plakat enthielt eine scharfe Polemik gegen die Messe. Die Frage nach den religiösen und politischen Motiven ist unterschied erörtert worden. Welchen Zweck verfolgte die Plakataffäre? SEIDEL folgt der Darstellung Crespins in Histoire des Martyres. Demnach hätten Gemeindeglieder aus Frankreich auf religiöse Unterweisung gedrängt und deswegen einen Boten in die Westschweiz gesandt. Eine fanatische Minderheit habe daraus eine organisierte Propagandaaktion gemacht, obwohl Courant und andere in Paris widerrieten.151 P. IMBART DE LA TOUR meint, die Annäherung zwischen den (französischen) Reformern und den (deutschen) gemäßigten Lutheranern, also die geplanten Einigungsgespräche, seien die Ursache der Plakataffäire gewesen. Die Zwinglianer, das heißt, französische Flüchtlinge um Farel, hätten zu diesem Mittel gegriffen, „um durch eine Aufsehen erregende Provokation wachzurütteln“. Er nennt den Verfasser, Marcourt in Neuchatel, „der vielleicht angestossen wurde durch eine gewisse Anzahl Leute in Paris. Ganz gewiss konnte nichts besser die öffentliche Gewalt und das Volk erregen, als dieser Verlauf der Beschimpfung.“152 S. SKALWEIT meint, Marcourt habe „ein allgemeines missionarisches Motiv“ geleitet. Dafür spricht dessen Vorrede in der Schrift „Petit traicté tres utile et salutaire de la saincte eucharistie de nostre Seigneur Jesuchrist“ vom November 1534, in der er den Plakatanschlag verteidigt.153 Ein politischer Grund habe nicht vorgelegen. Immerhin zieht auch SKALWEIT in Betracht: „Das zeitliche Zusammentreffen der ‚affaire‘ mit dem Beginn der Unionsverhandlungen ist so auffällig, dass die Vermutung nahe liegt, es sei von den Gegnern einer religiösen Verständigung absichtlich herbeigeführt worden. Dass es in beiden Lagern solche gab, war nur 150 SEIDEL, K.J., Frankreich und die deutschen Protestanten, 47. 151 Ebd., 48f. 152 Les origins de la Réforme, Bd. 3, Paris 1914, 553f. Marcourt hatte 1533 oder 1534 eine Schrift herausgegeben „La déclaration de la Messe, le fruict d’icelle, la cause et le moyen pourquoy et comment on la doibt maintenir“ (usw.) (in 8°). In diese Zeit gehört auch die anonyme, undatierte Schrift „De la Tressaincte Cene de nostre Seigneur Jesus et de la Messe qu’on chante communement“, die in Basel gedruckt ist und das Format 16° hat, das heisst, die für Frankreich bestimmt war. HIGMAN, F.M., Les débuts de la polémique contre la messe: de la tressaincte cene de nostre seigneur et de la messe qu’on chante communement, in: PETER, R./ROUSSEL, B. (Hg.), Le livre et la Réforme, Bordeaux 1987, 35–92 (mit Textabdruck). 153 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 224–229 (Nr. 485). Er stellt dem armen Volk die Schriftgelehrten gegenüber, die die Schlüssel zur Erkenntnis besitzen, aber weder eintreten, noch andere hinein lassen (Luk 11,52). „Dafür haben wir jetzt ein deutliches Beispiel bei unseren Lehrern in Paris. Sie verteidigen, dass niemand sich in ihren (beruflichen) Handlungen kühn auf das Griechische oder Hebräische berufen soll, bei schwerer Strafe durch die dazu Bestimmten. Dadurch erzeigen sie sich als offene Feinde der bonae litterae.“
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natürlich.“154 Doch gebe es keinen Beweis, dass die Aktion gegen Melanchthons Gutachten gerichtet war. S. SKALWEIT merkt aber an, dass schon am 27. August der französische Flüchtling Morelet du Museau in Basel sein Missfallen am Consilium schriftlich Bucer mitgeteilt habe. SEIDEL fügt dem hinzu: Bucer habe sofort Myconius in Basel informiert, der sein Wissen an Morelet weitergab. Am 17. August hatte er Ambrosius Blarer das Gutachten geschickt und ihn gebeten, es auch Herzog Ulrich von Württemberg zu zeigen. Die mit dem Gutachten verbundene Sensation blieb sicherlich nicht auf diesen Kreis beschränkt.155 Auch hatte Morelet an Bucer geschrieben: Melanchthon bemüht sich umso mehr um Eintracht, je mehr er alle in verderblichen Irrtum führt. Aber der Herr lebt, der nicht duldet, dass die Seinen zu Fall gebracht werden. Er trägt Sorge für den ganzen Handel und wird sein Reich bei den Seinen unverfälscht durchsetzen, auch wenn Papst und Könige sich einigen, was ich nicht annehme.156
Es liegt nahe, dass Morelet und seine Freunde den Kampf gegen Konkordiengespräche selbst in die Hand genommen haben und das Plakat verbreiteten. Das Ergebnis ist, dass SKALWEIT und SEIDEL keinen konkreten geschichtlichen Anlass für die Plakataffäre in Betracht ziehen. Das Datum der Aktion, der 17./18. Oktober, wäre demnach ein Zufall. Hingegen sieht P. IMBART DE LA TOUR den Anlass in den Vereinigungsverhandlungen, was Crespins Schilderung nicht ausschließt. Dieser Anlass liegt nahe, wenngleich ein Beweis fehlt. Das Auftreten Langleys auf der eidgenössischen Tagsatzung mag die Gegner aufgeschreckt und zum Druck des Plakats veranlasst haben. Und Melanchthons Consilium mag Marcourt in seinem Vorgehen bestärkt haben, zudem dieser sich zu einer Einigung über das Abendmahl nicht äußern wollte. Doch muss es eine seit langem geplante Aktion gewesen sein. Anders ist der Anschlag der Plakate gleichzeitig an vielen Orten nicht zu erklären. Nun macht aber P. IMBART DE LA TOUR den Fehler, von einer Annäherung zwischen den französischen Reformern und den gemäßigten deutschen Lutheranern zu sprechen. Die französischen Abgesandten Langley, Guillaume du Bellay und der ehemalige Straßburger Arzt Ulrich Geiger, auch Chelius genannt, verhandelten jedoch in Deutschland und der Schweiz nicht 154 Die „Affaire des placards“ und ihr reformationsgeschichtlicher Hintergrund, Reformanta Reformanda, Festschrift für H. Jedin, Bd. 1, Münster 1965, 453f. 155 SEIDEL, K.J., Frankreich und die deutschen Protestanten, 32. 156 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 200 (Nr. 476). Am 16. September schreibt er klarsichtig an Bucer: „Ich sehe, dass einige Fürsten [Franz I.] das Ihre suchen, und nicht was Christi ist. Sie begehren einen Bund einzugehen und gegenseitige Freundschaft mit den deutschen Fürsten und Städten zu schliessen.“ HERMINJARD, A.L.,Bd. 3, 206 (Nr. 478).
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als Reformer, sondern als Beauftragte des französischen Königs. Sie mögen persönlich Anhänger von Reformen gewesen sein,157 aber sie handelten in erster Linie im politischen Auftrag. Die französischen Reformer waren nicht sie, sondern der Kreis von Meaux um Bischof Briçonnet und Faber Stapulensis und ihre Gemeinden.158 B. Calvin unter dem Einfluss des Faber Stapulensis 1. Die französischen Reformer Eine ganz andere Erklärung für die Plakataktion nennt Johannes Sturm im Brief an Melanchthon. Sie verdient Beachtung, weil mit Sturm ein Kenner der französischen Politik zu Wort kommt. Er bringt den Kreis von Meaux ins Spiel, wenn er Melanchthon gegenüber als Grund der Plakataktion angibt, einige „in Raserei verfallene Menschen bei uns […] meinten, es genüge nicht, dass die Anfänge erfreulich verlaufen, und sie fürchteten, vielen von ihrer Partei geschehe zu wenig, wenn sie nicht […] Königreich und Volk in Verwirrung setzen würden.“159 Demnach waren die Evangelischen in Frankreich gespalten. Die eine Partei wollte ein entschiedeneres Vorgehen, die anderen nicht. Zu der zweiten Partei gehörte der Kreis von Meaux. Sein Grundsatz war, wie noch auszuführen ist, dass das Evangelium schriftgemäß zu predigen sei, aber die altgewohnte kirchliche Frömmigkeit nicht angetastet werden soll. Der Bischof von Meaux, Briçonnet, wandte sich im Jahr 1523 an die Geistlichen seiner Diözese und warnte sie vor denen, die das Evangelium missbrauchten. Sie verachten das Evangelium, wenn sie predigen, es gäbe kein Fegefeuer, und demzufolge müsse man nicht für die Toten beten, man müsse die Jungfrau Maria und die Heiligen nicht anrufen. Farel verließ daraufhin Meaux, weil ihm die Halbherzigkeit der Reformen missfiel. Es wird zu zeigen sein, dass dieses Verbot eingehalten wurde, auch in der Rektoratsrede vom 1. November 1533. Einerseits hatte die Predigtbewegung einen reformatorischen Ansatz, andererseits wollte sie nur eine innerkirchliche Reformbewegung sein, die wichtige katholische Lehren und Zeremonien nicht anrührte. Faber Stapulensis kam über ein sola fide nicht hinaus. Dies wurde in der Schweiz schon früh bemerkt. Farel hatte Roussel im Jahr 1524 aufgefordert, eine öffentliche Disputation zu veranstalten. Der
157 Siehe SEIDEL, K.J., Frankreich und die deutschen Protestanten, 123–136; Kapitel VI „Die Vertreter des ‚Reformisme‘ und die Haltung de Königs“. 158 Auch K.J. Seidel verfällt dem Fehler, die Politiker und Margarete von Navarra für die Reformisten zu halten; s. vorige Anmerkung. 159 HERMINJARD, A.L. Bd. 3, 266 (Nr. 498).
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antwortete ausweichend.160 Im Jahr 1526 berichtet Toussain dem Oekolampad in Basel, er habe mit Faber und Roussel geredet. „Sie mögen Wissende sein, solange sie wollen, warten, hinhalten und sich verstellen: Das Evangelium kann aber nicht ohne das Kreuz gepredigt werden.“161 Zum Ertragen der Verfolgungen ermahnt auch der Brief Farels an den Pariser Kaufmann de la Forge vom 25. April 1534. Er ist ein halbes Jahr vor der Plakataffaire geschrieben, die de la Forge auf den Scheiterhaufen brachte. „Christus allein ist unser rechter Schatz im Himmel. Wenn wir ihn durch wahren Glauben haben, kann uns nichts weggenommen werden, nichts gestohlen werden, wie sehr sich alles gegen ihn erhebt.“ In dieser Weise fährt Farel fort, zur Standhaftigkeit zu ermahnen.162 Gegen den Kreis von Meaux und die zögernden Evangelischen richtet sich wahrscheinlich in erster Linie die Plakataktion der reformierten Westschweizer. 2. Calvin und Faber Stapulensis – der Forschungsstand In der neueren Calvinforschung wird in der Regel betont, dass Calvin ein Anhänger des Faber Stapulensis gewesen ist. „Aber das (sc. Roussels späterer Rückfall in den Katholizismus) hindert doch nicht, dass aus einer seiner Predigten im Jahr 1533 oder aus der durch ihn entfachten evangelischen Bewegung zuerst ein Samenkorn in die Seele Calvins hineinfiel, das dann in raschem Wachstum gar bald über den Meister hinaus sich entwickelte.“ (A. LANG)163 Oder: „Calvin was […] apparently still a moderate Fabrisian reformer.“ (A.E. MCGRATH)164 Oder zurückhaltender: „Daniel and Calvin were among the admirers of the Fabrist Roussel, who should not be called ‘a complete Protestant as far as dogma is concerned’.“ (A. GANOCZY)165 Oder: Die Rektoratsrede zitiert Erasmus und Luther. „Der übrige Teil atmet den Geist Fabers.“ (W.F. DANKBAAR).166 Hingewiesen wird auf den Humanismus des Faber Stapulensis. Er steht in Parallele zum Humanismus des Erasmus und beinhaltet die Rückkehr zur Antike, zu den hebräischen und griechischen Quellen und vor allem zur Bibel. Auf die Theologie Fabers wird aber selten eingegangen und schon gar nicht überlegt, was dessen Einfluss für die theologische Entwicklung Calvins bedeuten könnte. Viele Calvinbiographen fragen nur nach dem Einfluss der Reformatoren oder des Erasmus auf Calvin, nicht aber auf den 160 Roussel an Farel am 4.Juli 1524; HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 237 (Nr. 104). 161 Am 26. Juli; HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 447 (Nr. 181). 162 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 166–168 (Nr. 462). 163 Die Bekehrung Johannes Calvins, Neudruck Aalen 1972, 40 (SGTK Bd. II,1). 164 A Life of John Calvin, Oxford 1990, 72. 165 The Young Calvin, 78. 166 Calvin. Sein Weg und sein Werk, Neukirchen 21966, 21f. Er hält allerdings Calvin nicht für den Verfasser.
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Fabers (A. BOSSERT, J. CADIER, F. WENDEL, W.J. BOUWSMA). Immerhin macht ein Ereignis die Forscher nachdenklich, Calvins Gespräch mit der Schwester Daniels im Kloster im Juni 1533. Es „offenbart einen profunden religiösen Fabristischen Geist.“ (A. GANOCZY)167. A. LANG findet diese Deutung nicht überzeugend. Er schildert aber zutreffend Fabers Theologie und urteilt zurückhaltend: Doch man sagt, Calvin sei vorerst nur ein Protestant nach der Weise Le Fèvres geworden, der sich äusserlich dem Katholizismus anpasste und nur eine gewisse Neigung zum Bibelstudium und ein gewisses Mass von Erkenntnis besass. Indes wenn dem wirklich so war, so hat der Jüngling seine innere Herzensstellung so gut verborgen, dass der Historiker sie nicht mehr erfassen kann.168
T.H.L. PARKER beschreibt Fabers Theologie ausführlich und zutreffend, bemerkt aber nur, dass Melchior Volmar in Bourges sein Schüler war, der sich inzwischen von dessen Reformismus abgewandt und der Reformation genähert habe; eine Bezug zu Calvin fehlt.169 Ebenso skizziert B. COTTRET das Denken Fabers, Briçonnets und anderer Mitglieder der Gruppe von Meaux, stellt aber dann nur fest, dass im Herbst 1533 Calvin „sich eindeutig auf die Seite jener Partei geschlagen“ habe.170 Wenn A. LANG erklärt, dass der Historiker den Einfluss Fabers auf Calvin nicht mehr erfassen kann, so ist dies Urteil überholt. Denn erstens zitiert Calvin in der Rektoratsrede vom 1. November 1533 Melanchthon zur vierten Seligpreisung betreffend die Gerechtigkeit und nimmt damit zur Rechtfertigung Stellung. Zweitens verfasst er in Angoulême 1534 Predigtentwürfe, die sich in der Ausgabe der „Épîtres et Évangiles“ Fabers vom selben Jahr wiederfinden. In Fabers Predigtentwürfen zeigt sich dessen Antinomismus, der für die Praxis der Frömmigkeit Calvins in dieser Zeit richtungsweisend ist. Drittens bekämpft Calvin in der Einleitung zum Neuen Testament der Olivétanbibel im Jahr 1535 diesen Antinomismus und bricht mit dem Evangelisme der Gruppe von Meaux. In der genannten Ausgabe der „Épîtres et Évangiles“ von G. BEDOUELLE und F. GIACONE wird die Theologie der Entwürfe ausführlich analysiert.171 Das Gesamturteil lautet: „Die Predigten präsentieren eine einfache Theologie, zentriert auf das Wesentliche und bisweilen vereinfachend.“ (S. XLV) Die Analyse ist zutreffend, übergehen aber die oftmalige Bezeichnung des 167 The Young Calvin. 72f; ebenso IMBART DE LA TOUR, P., Calvin, 28. A. Ganoczy beruft sich auf WERNLE, P., Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren, Bd. 3, Tübingen 1919, 559, und MÜLLER, K., Calvins Bekehrung, 202. 168 Johann Calvin, Leipzig 1909, 3f, 17. 169 John Calvin, XIV–XVII, 18. 170 Calvin, 79–84, 98. 171 JACQUES LEFEVRE D’ÉTAPLES et ses disciples, Épîtres et Évangiles pour les cinquante et deux dimanches de l’an, Leiden 1976, XLII–LIV.
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Gesetzes im Alten Testament als „altes Gesetz“ (loi ancienne, vieile loi, loi de Moise) und im Neuen Testament als „neues Gesetz“ (loi nouvelle, loi de grâce, loi de Jésus-Christ) nicht beachtet. Die Hervorhebung des Gebotes der Nächstenliebe und des Wirkens des Geistes hätte auffallen müssen. Trotzdem ist die kritische Ausgabe der „Epistres et Evanglies“ ein sehr hilfreiche Quellenedition, wie zu zeigen sein wird (Kap. 7). 3. Calvins als Anhänger Fabers in den Kämpfen im Sommer und Herbst 1533 in Paris Im Frühjahr 1533 ist Calvin in Orléans noch offiziell für die juristische Fakultät tätig gewesen, denn am 10. Mai und 11. Juni 1533 leitete er Versammlungen der Picardischen Nation als „jährlicher Vertreter des Prokurators“. Diese Zusammenschlüsse nach Landsmanschaften waren offizielle Gremien der Universität. Mehr wissen wir über Calvins Tätigkeit in Orléans nicht. Am 16.Juni 1533 traf er wieder in Paris ein.172 In der Stadt herrschte Hochspannung zwischen den religiösen Parteien. Denn seit Ostern tobten bereits die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des Faber Stapulensis und der theologischen Fakultät, die einen unterstützt von Margarete von Navarra, die anderen angeführt von Beda. Calvin war nicht nur Zuschauer, er beteiligte sich auch aktiv an ihnen. In der Stadt angekommen, beabsichtigte Calvin, die Griechischvorlesungen des Pierre Danès zu hören.173 Das Collège de France, das der König für die humanistischen Studien und als Gegengewicht zur Theologischen Fakultät gegründet hatte (s. Kapitel 1), war die gegebene Anlaufstelle des jungen Humanisten. Welche weiteren Pläne er damit für die Zukunft verband, ist unbekannt. Die Ereignisse durchkreuzten jede weitere persönliche Planung. Zu dieser Zeit betätigte sich Calvin auch als Rechtsanwalt. Die bereits oben erwähnte Angabe Bezas (Vita I und II) lautet: Zur Zeit, als Herr Cop zum Rektor der Universität ernannt war, wurde Calvin an den (königlichen) Hof gesandt, um ein vorläufiges Urteil niederzuschlagen. Er war dort bekannt und wurde sehr gut aufgenommen von denen, die eine rechte Zuneigung und Verständnis für diese Prozesse zeigten.
Der Zeitpunkt ist ziemlich genau datierbar. Cop war am 10. Oktober zum Rektor gewählt worden. Er versuchte noch am 19. November in einer Versammlung der Universität alle Anschuldigungen zurückzuweisen, wenn172 COR VI. 1, 72, Anm. 1 (Nr. 11). 173 COR VI,.1, 73f (Nr. 11).
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gleich vergeblich. In dieser Zeit wurde Calvin aus juristischen Gründen an den königlichen Hof geschickt. Es muss nun auf die spätere Schilderung der Ereignisse (Kapitel 5) vorgegriffen werden. Vertreter des Königs waren in der Zeit der Abwesenheit Franz I. der Herzog von Navarra und seine Frau Margarete. Beza bezieht sie in die Ereignisse ein, wenn er in seinem erweiterten Bericht in Vita III, nun im Anschluss an Cops und Calvins Flucht, schreibt: Aber zu dieser Zeit hat der Herr (die Grausamkeit der Richter) zunichte gemacht durch die Vermittlung der Margarete von Navarra, der einzigen Schwester des Königs Franz, einer Frau begabt mit einem bewundernswerten Geist, nachdem Calvin an ihren Hof gesandt und dort von ihr sehr ehrenvoll empfangen und angehört worden war.
Die Angabe „zu dieser Zeit“ muss nicht auf Cops und Calvins Flucht bezogen werden, sondern kann auch weiter zurückliegen. Um welches Gerichtsverfahren es sich handelte, ist unbekannt. Es werden Glieder der gerade erwähnten geheimen Gemeinde betroffen gewesen sein. Calvin hatte Erfolg; Durch Vermittlung der Margarete wurde der Grausamkeit der Richter für diesmal ein Ende gesetzt. Der Bericht passt durchaus zu dem Ablauf der damaligen Vorgänge. Das Bild Calvins im Herbst 1533 erhält durch den Bericht neue Konturen. Er setzt sich juristisch für die Verfolgten ein. Der Margarete von Navarra war er bekannt, wahrscheinlich durch deren Beichtvater Robert Roussel. Sie entpfängt ihn am Hof, hört ihn an und setzt sich für den Angeklagten erfolgreich ein. Calvin war also in Paris viel bekannter und aktiver, als bisher in der Forschung angenommen. Vorrangig ist aber die Frage: Wie stand Calvin in dem Halbjahr, das er 1533 in Paris verbrachte, zur Reformation? Die Antwort verlangt, eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Sie bestimmt das Gesamtbild Calvins. Drei Ereignisse in dieser Zeit sind von höchster Bedeutung Erstens besuchte er gleich nach seiner Ankunft in Paris, am 22. Juni, Daniels Schwester im Augustinerkloster und führte mit ihr ein Seelsorgegespräch über die bevorstehende Ablegung des Klostergelübdes. Er berichtet: Man hätte meinen können, es handele sich für sie um ein Puppenspiel, wenn sie vom Gelübde hörte. Ich wollte sie davon nicht abbringen, denn dazu war ich ja nicht gekommen. Aber ich ermahnte sie mit ein paar Worten, sie solle ich doch nicht überheben im Vertrauen auf die eigene Kraft, dass sie nicht zu kühn ein Gelübde für sich ablege, sondern alles abstellen auf die Kraft Gottes, in dem wir Leben und sind.174
Kein Wort fällt gegen die katholischen Mönchsgelübde. Calvin ermahnt nur als guter Fabrist, sich nicht auf die eigene Kraft zu verlassen. 174 COR VI. 1, 73, Z.15–18, Nr. 11.
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Zweitens, seine Teilnahme an der Kapitelversammlung in Noyon am 23. August 1533. Den Hinweis gibt Calvins Brief an Bucer vom 4. September, geschrieben in Noyon; eine Jahresangabe fehlt. Fest steht, dass Calvin einmal mehr in seiner Vaterstadt war. Der Inhalt des Briefes gibt keinen Aufschluss über das Datum. Doch muss es der 4. September des Jahres 1533 gewesen sein.175 Denn im Register des Kapitels in Noyon findet sich der Eintrag: „23. August 1533. Jean Cauvin erscheint mit anderen Kaplänen in der Kapitelversammlung, um Gebete gegen die Pest, die wütete, anzuordnen.“176 Es kann sich um eine Messe und Bittprozession gehandelt haben. Wieder findet man Calvin noch in das katholische Kirchenwesen eingebunden. Drittens, am 1. November 1533 begann die von Calvin entworfene Rektoratsrede traditionell mit dem Ave Maria. Die Auslegung der Seligpreisungen zitiert Luther und Melanchthon., trägt in sie aber, wie noch zu zeigen ist, den faberschen Antinomismus ein. Vorausblickend ergibt sich: Erst nach seiner Flucht aus Paris änderte er seine Haltung. Am 4. Mai 1534 gab er seine Pfründe in Noyon zurückgab. Er war nun 25 Jahre alt und konnte zum Priester geweiht werden. Er entschied sich, kein Geistlicher zu werden. Die in Angoulême 1534 verfassten sechs Predigten dokumentieren das Ende der faberschen Trennung von Evangeliumspredigt und Kirchenreform. Es gehört zu den methodischen Fehlentscheidungen in der Calvinforschung, dass die Forscher einhellig der Regel folgen, bei Calvins Durchbruch zur reformatorischen Erkenntnis sei beides miteinander verbunden, das öffentliche Bekenntnis des Glaubens und die Absage an die katholischen Zeremonien. Diese Regel trifft für die Evangeliumsbewegung der Gruppe von Meaux nicht zu. Für sie gilt, reformatorische Erkenntnis und Tat können auseinander treten. Calvin kann der Schwester Daniels von der Ablegung des Klostergelübdes nicht abraten, aber sie zur rechten inneren Einstellung ermahnen, im Herbst 1533 das sola fide vertreten und dennoch an der Prozession in Noyon teilnehmen, und in der Rektoratsrede auf den Glauben dringen, aber gleichzeitig den Antinomismus vertreten. Erst die Einführungen in der Olivétanbibel (1535) sind klar reformatorisch. C. Die Ereignisse in Paris im Jahre 1533 Der Kampf um die Reformation der Kirche bestimmt dieses Jahr. Zentrum der Auseinandersetzungen ist Paris. 175 COR VI. 1, Nr. 25. Der Brief ist ins Jahr „[1536 ?]“ datiert. 176 LEFRANC, La jeunesse, 200; vgl. GANOCZY, A., The Young Calvin, 76.
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1. Die Fastenpredigten Gérard Roussels Besonders instruktiv ist der Bericht Johann Sturms an Bucer vom 23. August 1533.177 Beda ist am 26. Mai gezwungen worden, mit zwei Theologen seiner Partei ins Exil zu gehen, und dies auf königlichen Befehl. Und, weil dies neu ist, will ich die ganze Angelegenheit, wie sie geschehen ist, erklären. Die Königin von Navarra hatte schon einige Jahre lang Gérard Roussel in ihrer Begleitung. Er lebte, zusammen mit Jakob Faber, vor nicht langer Zeit in Verbannung in Strassburg. Durch Vermittlung der Königin sind beide in ihr Vaterland zurückgerufen worden. Faber ist bei den Aquitaniern [in Nerac] und dort geschützt vor der Tyrannei der Theologen. Roussel begleitet die Königin und hat in den Monaten April und Mai dem Volk im königlichen (Schloss) gepredigt, unter großem Zulauf und Zustimmung der Leute, aber unter den Schmähungen der Theologen. Zuerst ist er beim König angeklagt worden, von dem sie verspottet und an den Kanzler verwiesen wurden. Von ihm sind sie in gleicher Weise schimpflich zum Bischof geschickt worden; dieser hat sie offen geschmäht. Sie haben auch den ersten Präsidenten (der theologischen Fakultät) angegriffen. Dieser hat, als er den Plan des Königs erkannt hatte, obgleich er ein Freund der Sorbonne ist, dennoch die Sache fallen lassen. Sobald also diese Thersites178 von aller Hilfe verlassen waren, und die, die können, nicht wollten, und die, die ihnen gewogen waren, nicht Beistand zu leisten wagten, da begannen sie die Stimme zu erheben gegen Häretiker und Lutheraner, haben auch den König mit seiner Schwester und den Bischof öffentlich getadelt, weil sie durch ihr Schweigen billigten, so zu sein wie diejenigen, welche sie verteidigten. Alles dieses ist an den Bischof und an die Königin von Navarra gelangt. Beda beunruhigte inzwischen durch Briefe seine Wortführer, gleichsam auf Beschluss der Theologen, dass sie nicht aufhören sollen, in ihren Volksreden das Volk aufzustacheln. Zuletzt begann das Volk auch zu schwanken und zu drohen. Die Drucker beleidigten auf ihren Schaugerüsten, in Schriften und Bildern, und im Theaterspiel die Königin, und alles beginnt unruhig zu werden. Inzwischen haben die Theologen Artikel zusammengestellt. Der König von Navarra, auf Betreiben seiner Frau (Margarete), und der Bischof beunruhigen den König, verschärfen die Angelegenheit, sie erneuern das Gedächtnis an Berquin und an jene (begangene) Grausamkeit, und behaupten, das Verbrechen des Aufstandes [gegen den König] bestünde. Es hat dem König gefallen, dass Beda mit seinen Wortführern und Gérard Roussel, jeder in seiner Behausung, gleichsam in privater Bewachung gehalten werden, damit die Häresie untersucht wird und auch der Aufstand, der gegen den König angezettelt zu sein scheint. Im Blick auf die Häresie ist wegen der Forderung der Theologen wenig geschehen. Sie verlangen nämlich, dass die Häresie auf ihre eigene Weise untersucht wird, und das wäre die Form des Gerichts, die sie gegen Berquin und andere eingerichtet haben. Sie geschieht nämlich so, dass keine Ankläger, sondern nur zu Vermutungen Neigende und Inquisitoren der häretischen Verkehrtheit auftreten, damit sie frei seien zur Bestrafung, auf welche Weise auch immer 177 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 73–75 (Nr. 422). 178 Ein hässlicher, verleumderischer Grieche vor Troja.
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Gericht gehalten werde. Diese Forderung verwarf wiederum der König und er behielt sich das Urteil über die Häresie vor, bis er zurückkehre. Denn damals war er schon in Lyon, um sich zum Gespräch mit dem Papst zu begeben. Den Aufstand wollte er untersuchen und bestrafen. Zu dieser Zeit haben auch die Theologen ihre aufgestellten Artikel dem König überreicht. Weil der König sehr verbittert war, lachte er gleichsam wie über das Vieh der Arcadier.179 Er ist darauf nach Paris zurückgekehrt. Befragt worden sind die, die Predigten gehalten haben, auf welche Erlaubnis hin und auf wessen Befehl sie das Volk beunruhigt und den König beleidigt hätten. Sie antworteten: ‚im Konsens und mit Zustimmung unserer Lehrer‘. Als die Theologen die Gefahr merkten, verneinten sie dies. Schliesslich erfuhr man, dass alles dieses von Beda angefacht worden ist. Sofort sind Briefe der Königin beigebracht worden. Das Parlament, um Rat gefragt, hat bestätigt, dass Beda und die drei übrigen Männer bei erster Gelegenheit in die Verbannung gingen, dass sie inzwischen, in Abwesenheit des Königs, nicht zurückgerufen wurden. Sie waren abwesend, zwei Tagereisen von Paris entfernt. Ich habe von zuverlässigen Leuten erfahren, dass des Königs Gesinnung sei, Beda niemals zurückkehren zu lassen. Ausser dem Greis Priamos [?] und einigen anderen gibt es niemand, der jenen phrygischen Priestern180 günstig gestimmt ist. Die jüngeren Theologen beginnen jetzt verständig zu werden. Gérard Roussel ist von jener Besonnenheit, dass bei weitem der grösste Teil derer, die ein vernünftiges Urteil haben, auf ihn ihre Studien und Wünsche ausrichten.
Sturms Bericht ist sicherlich nicht frei von Tendenzen. Er war damals nicht nur Lektor für Rhetorik am Collége Royal, sondern hatte auch eine Stelle in der Kanzlei des königlichen Beraters Guillaume du Bellays, des Bruders des Bischofs von Paris, Jean du Bellay.181 Er war also gut unterrichtet und kannte die politischen Hintergründe genau. Er stand auf Seiten der Reformer, war aber zugleich politisch gebunden. Seine Darstellung bestätigt, dass der König gegen Roussel nicht vorgehen wollte, Beda und seine Gefährten ihm aber im Wege standen. Was Roussel gepredigt hat, ist nahezu unbekannt. Nur in dem Brief Florent Wilsons an (Cromwell) aus Paris vom 25. April (1533) werden Angaben zum Inhalt gemacht. Er berichtet: Beda und andere Theologen nennen drei Sätze aus der Fastenpredigt Roussels. Aus ihnen errichtet er ein „Gebäude der Häresie“. [1.] ‚Den Reinen sei alles rein‚‘ [Tit 1,15] und daher sei die Auswahl der Speisen abergläubig. [2.] Gleich wie eine Magd, die das Brot ihrer Herrin mit unreinen Händen berührt, den Unwillen der Herrin erregt, so beleidigen wir Gott, wenn wir, was
179 J. Samnazaros veröffentlichte im Jahr 1504 die Dichtung „Arkadia“. Mit ihr begannen die europäischen Schäferromane, die die Utopie einer Natur und Gesellschaft schildern. Vgl. Art. Utopie I, TRE 34, 468. 180 Die phrygische Tonart ist im Altertum eine heftig aufregende Tonart. 181 Art. Sturm, Johann, TRE 32, 281, Z. 11–25.
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immer wir tun, ohne Glauben und ohne reines Gewissen tun. [3.] Gleich wie es einer Ehefrau nicht erlaubt ist, das Testament des Ehemanns zu ändern, Zusätze oder Weglassungen vorzunehmen, oder es durch irgendeine Erklärung oder Glosse zu interpretieren, so ist es auch der Kirche nicht erlaubt, die heilige Schrift nach ihrem Gutdünken umzugestalten und neu zu gestalten.182
Nun ist zu beachten, was Roussel tatsächlich gesagt hat. Seine Sätze haben die Sorbonnisten lateinisch wiedergegeben (hier kursiv gesetzt). Demnach stammt der Zusatz zum ersten Satz nicht von ihm. Er ist Schlussfolgerung der Gegner. Roussel hat das Fasten nicht ‚abergläubig‘ genannt. Als guter Fabrist hat er es unangetastet gelassen. Beda und seine Gefährten ziehen diesen naheliegenden Schluss. Roussel hat den Zuhörern vielmehr gesagt, sie müssten sich reinigen. Im zweiten Satz erläutert er es mit einem Gleichnis: Was ohne Glauben und reinem Gewissen geschieht, beleidigt Gott. Im dritten Satz hat Roussel offenbar auf die zahlreichen Fastengebote in der Bibel hingewiesen. Die kirchlichen Zusätze (Fastentage usw.) seien nicht bindend. Demnach hat Roussel gegen Äußerlichkeiten beim Fasten gepredigt und betont es komme auf das reine Herz, das heißt, auf den Glauben an. Es ist verständlich, dass das Volk von Paris aufhorchte und zusammenströmte. Die Gegner interpretieren die Predigten in gewohnter Weise als Häresie. Man gewinnt von Wilsons Bericht an Cromwell einen guten Eindruck, wie gespannt die Atmosphäre in der Fastenzeit 1533 in Paris war. Der zweite Bericht ist sehr lebendig und stammt von dem Straßburger Studenten Peter Schriesheimer, den er am 28. Mai 1533 an J. Bedrot in Straßburg schickt.183 Er lautet: Mein Lehrer, ich habe eine neue und unerhörte Sache vernommen. Vier Vorsteher der Theologischen Fakultät und also deren Säulen, Koryphäen der ganzen Sorbonne, wurden durch ein Dekret des Königs gezwungen in die Verbannung zu gehen. […] Der König konnte hier einige Monate vor dem Beginn der Fastenzeit [2. März] nicht abreisen. Nach dem Karneval, nachdem zuvor viele königliche Gastmähler stattgefunden hatten, die das Volk Banquets nennt, zog er mit dem Erstgeborenen [Dauphin Franz] und anderen Fürsten und Kardinälen, die dem Hof folgten, fort, weit entfernt in die Picardie. Doch blieb der König von Navarra mit der Königin [Margarete] hier
182 Beda und andere Doktoren „have noted three or four articles on which they say he [Roussel] intends to built a house of heresy, viz. omnia sunt munda mundis, and therefore this delectus ciborum should be superstitious. Sicut ancilla contrectans panem dominae suae immundis manibus, offendit dominam, sic nos deum quicquid operemur sine fide et conscientia munda. Sicut non licet uxori mutare, augere vel imminuere vel commentatione aliqua aut glossa in hunc et illum sensum trahere testamentum mariti, sic nec licere Ecclesiae sacras literas sic pro arbitrio suo fingere ac refingere.“ Letters and Papers, foreign and domestic, of the reign of Henry VIII., Bd. 5, London 1880, 99f (Nr. 212), Neuauflage: Vaduz 1965. Die angegebene Jahreszahl 1531 ist zu berichtigen. Der Brief ist im weiteren nur wortweise entzifferbar. 183 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 54–61, Nr. 418.
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in der Stadt. Auf Betreiben des Königs hat Gérard Roussel im Louvre öffentlich gepredigt; er ist meines Wissens dem Capito wohlbekannt, denn er erwähnt ihn im Brief an die Königin, der dem Hoseakommentar vorangestellt ist. Dieser Gérard, sagte ich, hat vor einer solchen Menge das Wort Gottes gepredigt, dass fast keine Predigt gehalten wurde, in der nicht vier- oder fünftausend Leute anwesend waren. Dreimal war er gezwungen, den Ort zu wechseln. Es fand sich nämlich kaum ein Ort, an dem er angemessen predigen konnte und der genügend Raum hatte. Er predigte aber täglich während der ganzen Fastenzeit in Anwesenheit des Königs und der Königin. Wie du dir jetzt leicht vorstellen kannst, haben unsere Theologen täglich Rat gepflogen und sich und die Menge der Schriftgelehrten und Pharisäer versammelt, dass sie ihn zähmten. Aber zuerst wagten sie nicht so ohne weiteres, gegen den König zu streiten und sich gegen ihn zu stellen. Schliesslich haben de Picart mit einigen anderen Doktoren, die für hochstehend gehalten werden, nicht gezögert, in Predigten öffentlich gegen den König loszuziehen und ihn zu beschimpfen, indem sie ihn bisweilen des Luthertums und der Häresie verdächtigten, indem sie nämlich auf die Autorität der Sorbonne pochten. Dann haben sie auch versucht, einen Tumult zu entfachen und das Volk anzustacheln, es nicht zu dulden, dass diese pestilenzische Häresie Wurzeln schlage. Der König [von Navarra], dass ich es mit wenigen Worten zu Ende führe, hat kurz nach Ostern [13. April] befohlen, dass sie wie Gefangene in ihren Häusern gehalten werden, und nicht hinausgingen, oder es würde ihnen Gewalt angetan. So ist unser guter Beda gezwungen, ziemlich lange in seinem Montaigu zu bleiben. Andererseits habe ich ihn dennoch kurz darauf auf seinem Maultier reiten sehen. Die Angelegenheit ist schliesslich an den König gelangt. Da sie nicht Rechenschaft von ihrem Tun abgelegen konnten, und auch nicht beweisen konnten, was sie daher geplappert hatten, ausserdem gänzlich von dem Gegner widerlegt wurden, erging der Beschluss, dass alle zusammen verbannt würden und sie sich Paris in einem Umkreis von zwanzig Meilen niemals nähern dürften (so höre ich), wenn nicht der König es erlaubt habe. Einige sagen, sie seien dauernd verbannt. Das ist gewiss, wenn sie erreicht haben, dass sie wieder in die Stadt hineingelassen werden, müssen sie ohne Zweifel eine große Summe Geldes zahlen. Schon am Samstag oder Sonntag [24./25. Mai] ist zuerst diese Kunde von dem königlichen Dekret, soviel ich weiss, verbreitet worden. Am Dienstag, als ich nach Mittag im Begriff war, in die Vorlesung [Johann] Sturms zu gehen, habe ich eine große Menschenmenge vor dem Collège Montaigu gesehen, welche erwartete, Beda fortgehen zu sehen. Alle gingen schliesslich enttäuscht wieder nach Hause. Gestern sei er aber gewiss fortgezogen, wie einige mir heute bestätigten. Die Theologen bleiben Tag und Nacht von ihrer Arbeit fern. Sie haben; wie ich höre, einen Boten zum König geschickt, der um die Gnade bittet, dass etwas von der Strafe erlassen werde. Ich höre unterschiedliche Meinungen und Urteile der Leute. Die einen bemitleiden den vortrefflichen Beda,. teils weil sie meinen, es sei unwürdig, dass er solche Beschwernisse auf sich nehmen soll, und auch wegen seiner großen Gelehrsamkeit und Gründlichkeit in der Theologie, die er nach ihrer Überzeugung besitzt, teils weil sie bedenken, dass für einen Menschen von so edlem Herkommen die Verbannung so
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hart zu erleiden sein muss. Ich höre andere in Freude frohlocken. Es gibt wieder andere, die es gar nicht bekümmert. […] Die Namen derer, denen allein es zuzuschreiben ist, sind folgende: Zuerst Beda, dann jener de Picart, einen Franziskaner und einen vom Orden der Maturiner. Täglich werden Zettel pro und contra angeschlagen. Am Sonntag, bevor etwas vom Dekret des Königs zu hören war, ist nicht weit von meiner Wohnung ein Zettel angeschlagen worden, der ziemlich lang ist, in schräger lateinischer Druckschrift, aber in rhytmischen Versen französisch verfasst, in denen aufs Schönste und farbig alle jene Theologen abgebildet sind, und ausser jenen vier, auch zwei andere, nämlich der, der im Collége Navarra Theologie lehrt, und den sie [Pierre] Cornu nennen. Viele Schüler begannen schon zusammenzuströmen, von denen die einen verstohlen lächelten, andere schrieen, der Verfasser sei ein Häretiker. Schliesslich zerriss es ein Eiferer, ich weiss nicht, wer es war. Gestern ist ein anderer Zettel angeschlagen worden, dem früheren ganz unähnlich. Er zog heftig los gegen die lutherischen Hunde. Viele haben ihn abgeschrieben. Als ich es sah, habe ich ihn auch abgeschrieben; es mag hier folgen. Ich weiss, du hast jemanden, der ihn dir zugänglich macht. Den ganzen Tag blieb er unbehelligt und ist nicht so schnell beseitigt worden wie der frühere. Der Wortlaut ist: Ins Feuer, ins Feuer mit dieser Gotteslästerung, die uns Tag und Nacht peinigt ! Sollst du darunter leiden, dass sie beleidigt die Heilige Schrift und ihre Verlautbarungen? Willst du die vollkommene Wissenschaft verbannen, um lutherische Schmähungen zu unterstützen? Fürchtest du nicht Gott, dass er erlaubt, dich und die Deinen, die in Blüte stehen, in Gefahr zu bringen? Paris, Paris, edle Blume, unterstütze den Glauben an Gott, den man verletzt, oder sonst ein Blitzschlag und Sturm wird auf dich niedergehen, ich warne dich. Lasst uns alle den ruhmreichen König bitten, dass er diese verdammten Hunde niedermache, so dass es keine Erinnerung mehr an sie gibt und auch keine an ihre alten verfaulten Knochen. Ins Feuer, ins Feuer ! Das ist ihre Bestimmung ! Lasst uns sie mit Recht verurteilen ! Gott hat es erlaubt. Heute ist wiederum ein anderer angeschlagen worden (den ich aber nicht gesehen habe, ich hörte es aber als gewiss von anderen.). In ihm ist namentlich jener Prediger erwähnt, den ich oben nannte [Roussel]. Der König von Navarra ist noch in der Stadt, wird sich aber in kurzem zum französischen König begeben, der, wie es heisst, in Lyon ist. Alles sieht danach aus, dass ein Tumult droht. Einige heucheln grössten Eifer und rufen die Justiz an, dass sie die Todesstrafe an jenen verwünschten Häretikern vollzieht und sie völlig ausrottet.
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Die Berichte stimmen im Wesentlichen über die Vorgänge überein. Sturm ist natürlich der besser Informierte. Einen dritten Bericht über die Ereignisse im Frühjahr 1533 in Paris liefert der Humanist Bartholomäus Henrici (Latomus) im Brief an Melanchthon am 24. Juni 1533.184 Vor vier Jahren ist Berquin, ein edler Mann und Vorkämpfer der Wahrheit, verbrannt worden [17. April 1529], andere haben die Verbannung erlitten; vor einem Jahr sind viele in Toulouse verbrannt worden, und unter ihnen waren viele gelehrte und berühmte Männer. Der Bischof von Meaux [Briçonnet] ist mit seiner ganzen Kirche sehr gefährdet, aber der Herr lebt noch und lässt die niedersinkende Wahrheit mächtig erstarken. Gérard Roussel, ein gelehrter und frommer Mann, ist nun Stadtgespräch. Er ist vor einigen Jahren ausgepfiffen worden, ist aber jetzt wieder auf die Bühne zurückgekehrt.185 Nachdem er die sophistischen und philosophischen Künste in den Schulen gelernt und sie (auch) gelehrt hat, und mit großem und einzigartigen Lob mit der griechischen und lateinischen Literatur vertraut gemacht ist, hat er sich dem Studium der Theologie zugewandt, in dem er so Fortschritte machte, dass das, was andere verheimlichten oder nicht verstanden, er nicht nur in den Schulen, sondern auch in den Predigten vortrug, so dass er die Todesgefahr auf sich genommen hat und die Gefahr, mit Verbannung bestraft zu werden. Nun also, nachdem ich gesagt habe, weshalb er vertrieben worden ist, ist er unter dem Schutz der Königin von Navarra zurückgerufen worden. Sie ist die Schwester des französischen Königs, eine Frau so sehr der Religion ergeben, dass sie mit Recht unter die antiken Halbgöttinnen gezählt werden muss. Dieser Mann also ist dieser Frau aufs löblichste für die (wie man sie nennt) Beichte da, das heisst, für die Erkenntnis der Wahrheit und christlichen Zucht, und er ist unter ihrem Schutz sicher und hat den König und viele hohe Adelige nicht nur gegen sich, sondern sie sind ihm auch gewogen. Die Theologen stören und beunruhigen ihn; dadurch ist diese Sache in Bewegung gekommen. Er hat in der vergangenen Fastenzeit [Beginn am 2. März] gepredigt, nicht in einer städtischen Kirche, weil dies wenig sicher war, sondern im königlichen Schloss [Louvre], das an der Seine gelegen ist, zwar im entferntesten, aber berühmtesten Teil der Stadt. Gepredigt hat er in Gegenwart des Königs [von Navarra] und des ganzen Hofes unter gewaltigem Zulauf der Leute. Die Angelegenheit hat die Theologen so empört, dass sie versucht haben, einen Tumult zu erregen, und sie haben insgeheim andere Prediger ihrer Partei angestiftet, die feindlich auftraten und nicht duldeten, dass der katholische Glaube auf irgendeine Weise, gemeint ist die theologische Autorität, gefährdet werde. Da sie massloser, als angemessen ist, und auch nach dem Wegzug des Königs [Franz I.] in andere Teile [des Landes]186 aufrührerisch handelten, gleichsam als wäre dieses Verbrechen der Gottlosigkeit im Kopf des Königs entbrannt, und sie dazu das Volk durch versteckte Reden aufhetzten, haben sie nach 184 ThStuKr 75, 1902, 140–147. 185 Am 13. Dezember 1524 entzog Briçonnet Roussel das Recht zu predigen. Im Jahr 1526 floh Roussel nach Strassburg. Im Jahr 1533 erlaubte ihm König Franz I. nach Paris zurückzukehren. S. Art. Roussel, Gérard, RE 3 17, 179. 186 Am 5. März war er in Nantouille bei Meaux; HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 55, Anm. 7.
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Ostern [13. April] den Gérard nicht nur durch Drohungen auf das Schärfste, sowie durch ihre Anklage beschuldigt, dass Noël Beda, der Anführer jener Partei, und zwei andere, die aufrührerisch gepredigt hatten, auf Befehl des Königs [von Navarra] verhaftet und in Gewahrsam genommen wurden. Nach wenigen Tagen, während die Angelegenheit beraten wurde, weil der König [Franz I.] abwesend war, wurden ihnen befohlen, auszuwandern, und Beda ist zusammen mit seinen Genossen nach drei Tagen ins Exil gegangen unter großer Trauer und Verzweiflung der Theologen, so sehr, dass ein gewisser Veteran (soweit mir bekannt ist) in Krankheit verfallen ist und von solchem Wahnsinn gequält wurde, dass er, als er einige Nächte hindurch nach ebendemselben Gérard gerufen hatte, nicht sterben konnte, so dass ein Bild in seiner Gestalt vor seinen Augen verbrannt worden ist. Gérard, der zu Beginn bei einem Ratsherrn bewacht wurde, ist, nachdem seine Gegner ins Exil gegangen waren, von der Königin wieder eingesetzt worden, so dass er frei und ungestört sein wird, so dass, wenn die Theologen etwas in der Sache betreiben wollen, er ihnen antwortet, dass er nicht danach trachte, dass Gewalt geschehe oder nicht Recht gesprochen werde. Doch sind alle stumm, soviel ich sehe, und ruhig und wagen nicht zu streiten, erschreckt nach meiner Meinung durch die Vorentscheidung, weil sie glauben, dass es fruchtbarer sei, in der Sorbonne zu disputieren als auszuwandern. Gérard erleidet gewiss Hass bei vielen, sowohl vom unerfahrenen Volk wie bei denen, die Beda anhängen, aber er erträgt es bisher ohne Schaden und, wie ich meine, er wird es ertragen unter dem Schutz nicht so sehr der Umstände, als dem der Königin, die nicht duldet, dass er bedroht wird. Die Theologen rühmen sich so sehr ihrer eigenen Autorität (welche schon begonnen hat, angegriffen zu werden) dass sie beklagenswert sind und keine Hoffnung zu haben scheinen, als die auf den Untergang der Königin, eine Hoffnung, die auf der nahe bevorstehenden Niederkunft beruht, oder auf irgendeiner großen und heftigen Zeitenwende, weil durch den Verlauf der Dinge ihnen alles zugrunde zu gehen scheint.
Antwort möge er senden „entweder an Gérard, über den ich eben erst geschrieben habe, oder an Andreas de Govea, den (professor) primarius des Collège [Saint] Barbe, bei dem ich mich jetzt aufhalte.“ Nach dem Humanisten und Politiker und nach dem Studenten referiert hier der humanistische Hochschullehrer. Sie alle unterstützen die Reformen und stimmen in ihren Berichten im Wesentlichen überein. Doch haben die Darstellungen unterschiedliche Facetten. Melanchthon berichtete Spalatin über den Brief. Er beabsichtige, ihn drukken zu lassen. Spalatin soll dem kurfürstlichen Hof darüber berichten.187 2. Das Theaterstück im Collége Navarra am 1. Oktober 1533 In der Forschung ist der Bericht Calvins viel beachtet worden. Es genügt, den Inhalt kurz wiederzugeben. Die Theateraufführung der Schüler des 187 CR 2, 658f. (Nr. 1120); kürzer berichtet er an Johann Hess, CR 2, 658 (Nr. 1119), vgl. MBW 2, Nr. 1348 und 1349.
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Collège de Navarre am 1. Oktober ist gegen den Kreis von Meaux gerichtet. Denn auf der Theaterbühne sitzt Margarete von Navarra und ist mit Spinnen beschäftigt. Eine furchterregende Megäre (Megaera ist Anspielung auf „M.G.R“ d.h. Magister Gérard Roussel) hält ihr eine Fackel vor, so dass sie Rocken und Spindel fallen lässt. Sie bekommt „evangelia“ in die Hand gedrückt, über die sie zur Furie wird.188 Mit den „Evangelien“ ist der Druck gemeint, den Faber Stapulensis im Sommer 1523 in französischer Sprache hatte ausgehen lassen.189 Louise de Savoie und ihre Tochter Margarete hatten laut Vorrede den Druck unterstützt. Die Satire richtet sich also gegen das Lesen des Neuen Testaments in der Volkssprache, gegen den „Evangelisme“ und gegen des Königs Schwester. Die Theateraufführung steht in einem größeren Zusammenhang. Zum einen ereignete sich eine solche Ärgernis erregende Theateraufführung nicht zum ersten Mal. Am 23. Dezember 1531 fand eine Versammlung der Universität statt, auf der der Prokurator beklagte, dass in einer Kommödie ein bestimmter Lehrer gesagt habe, für ein Pariser Gymnasium seien durch ein Monster die Grundlagen entworfen worden, durch welche Worte Magister Natalis Beda hinreichend bezeichnet ist. Es ist beschlossen worden, dass nach dem Autor der Fabel geforscht wird.190
Zweitens ist zu beachten, dass schon der Protest Bedas und seiner Gefährten, gerichtet gegen die Fastenpredigten Roussels, einem Anhänger des Faber Stapulensis galt. Der Protest war vergeblich. Offensichtlich schlugen die Sorbonnisten am 1. Oktober mit der Theateraufführung zurück. Sie wollten erneut Roussel treffen und mit der Indizierung der Schrift der Margarete die Beschützerin des Kreises von Meaux. Auch Calvin gehörte zu diesem Kreis. Denn im Anhang seines Briefes an seinen Freund Daniel in Orléans vom 27. Oktober 1533 fügt er seinem Bericht hinzu: „Ich schicke eine andere Kurzfassung unseres G. […] Hüte die Kurzfassung, damit du sie nicht sorglos verbreitest.“191 Es wird allgemein angenommen, dass die Abkürzung heißt „unser G[erard Roussel]“. Das Wort „unser“ zeigt an: Calvin war ebenfalls Fabrist. Dafür spricht auch eine spätere Aussage: Als er sich im Jahr 1537 gezwungen sah, gegen die Übernahme eines Bischofsamtes durch Roussel zu protestieren, spricht er von den „Resten deiner früheren Frömmigkeit, die, wie ich vertraue, in dir beständig zurückgeblieben sind. Diese Frömmigkeit, versichere ich der Wahrheit gemäss, ist einst von mir mit ungemeiner Frucht und nicht ohne 188 COR VI, 1, 76f (Nr. 12). 189 Fabers Vorrede zu den Evangelien datiert vom 8. Juni, die zum übrigen Neuen Testament vom 6. November 1523; Bd. 1, 132–138 (Nr. 69) und 159–169 (Nr. 79). 190 BULAEUS, Historia universitatis parisiensis, VI, 234. 191 COR VI, 1, 83, Z. 18f und 25 (Nr. 13).
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Bewunderung betrachtet worden.“192 Calvin bekennt, ein Anhänger des Faber Stapulensis gewesen zu sein. Dieser Umstand verdient höchste Beachtung. Calvin bezieht aber nicht nur für Roussel Stellung, sondern er polemisiert auch gegen die scholastischen Theologen, wenn er berichtet: „Man fand [bei Hofe], es sei für die Zügellosigkeit der Leute, die auf neue Dinge insistieren, ein ganz böser Präzedenzfall, wenn eine solche Ruchlosigkeit ungestraft bliebe.“193 Die Neuerer sind schon bei Erasmus nie die Protestanten, sondern immer diejenigen, die mit der Scholastik die alte Kirche verlassen und neue Lehren eingeführt haben. Fünf Tage später heißen sie in der Rektoratsrede „Sophisten“. Das Argument, der Brief lasse nicht ahnen, dass wenige Tage später eine große Abrechnung mit den Scholastikern folgen wird, ist unzutreffend. Johann Sturm gibt den Vorgängen am 1. Oktober eine eigene Deutung, wenn er Mitte Oktober Bucer von der Theateraufführung berichtet. Auch unsere Theosophisten hören nicht auf, gegen Gott zu streiten. Neulich hat im Gymnasium Navarra ein neuer und von den Musen begeisterter Dichter die Königin auftreten lassen, die sich in den Unterricht des Teufels begeben hat, zusammen mit einem Opfer darbringenden, den er Megaera nannte, in Anspielung auf den Namen des M[agister] Gérards. Aufgeführt wurden die Spiele unter dem ausserordentlichen Beifall der Theologen. In diesen Tagen ist der Leiter des Collège [de Navarre] und Doktor der Theologie [Pierre Cornu] ins Gefängnis abgeführt worden, ein mächtiger Mann und König der Philosophen. Andere stehen in derselben Gefahr. Die Angelegenheit gerät dahin, dass, auch für die zweckmässig Schweigenden, diese sich obendrein zugrunde richten. Zum Beweis habe ich die meisten und besten Gründe.194
Sturm, der wohl informiert ist, nennt aber die Gründe nicht. 3. Die Indizierung der Schrift der Margarete von Navarra Was das „zweckmässige Schweigen“ bedeutet, zeigt ein zweites Ereignis, das auch Calvin in seinem Brief anspricht. Margaretes Schrift „Spiegel der sündigen Seele“ war 1531 anonym erschienen. Aber im Jahr 1533 wurde das französische Buch in Paris erneut publiziert unter dem Titel „Der Spiegel der allerchristlichsten Prinzessin von Frankreich, Königin von Navarra, Herzogin von Alençon und Berry. Spiegel einer sündigen Seele.“ Es ist eine mystische Schrift, in der aber beispielsweise das „Salve Maria“ umgewandelt ist in ein „Salve Jesu Christi“. Trotz des im Titel deutlich hervorgehobenen Ranges der Verfasserin war die Schrift auf den Index gesetzt worden. König Franz I. verlangte Auskunft über die Orthodoxie seiner Schwester. 192 CO 5, 282. 193 COR VI. 1, 77, Z. 18–20 (Nr. 12). 194 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 94 (Nr. 432).
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Der Rektor Cop rief am 24. Oktober die vier Fakultäten zusammen und klagte die Urheber des Verbots an. Drei Fakultäten lehnten jede Verantwortung ab. Es wurde beschlossen, einen Entschuldigungsbrief an den König zu schicken. Es ist an den König geschrieben worden, jenes Buch sei niemals von der Universität verdammt worden und es sei auch nicht beabsichtigt. Wenn es aber von irgendwelchen Leuten getadelt worden sei, zu Recht oder zu Unrecht, dann müssten die den Fall untersuchen und vertreten, die dies angefangen hätten, da sie alle dieser Sache unkundig wären.195
Gemeint sind die Theologen. Die Angelegenheit blieb an der Theologischen Fakultät hängen. Immerhin war die Schrift ohne ihre erforderliche Erlaubnis erschienen. Auf der Fakultätsversammlung am 27. Oktober erklärten 55 der anwesenden Doktoren, nichts von der Verurteilung gewusst zu haben. Der Pfarrer Le Clerc, Doktor der Sorbonne, galt als der Schuldige. Er erklärte, er habe der tugendhaften und frommen Königin nicht nahe treten wollen. Die offensichtlich gewollte Provokation endete mit der Niederlage der Verursacher. Zugleich zeigt sie sowohl die Macht des Königs wie die gegensätzlichen Stimmungen an der Sorbonne. Der König entzog daraufhin der Theologischen Fakultät das Ernennungsrecht der Prediger in Paris und übertrug es auf den Bischof.196 Dies bedeutete einen erheblichen Machtverlust der Fakultät. 4. Die Rektoratsrede des Nikolaus Cop am 1. November 1533 und ihre Folgen Am 10. Oktober 1533 wurde Nikolaus Cop, Bakkalaureus der Medizin und Regens am Barbarakolleg, zum Rektor der Sorbonne gewählt. Seine berühmte Universitätsrede hielt der Rektor am 1. November 1533. Sie muss als Gegenschlag der Fabristen gegen die Theateraufführung verstanden werden. Die Untersuchungen wegen der Indizierung des „Spiegels einer sündigen Seele“ war erst am 8. November beendet und verlief für die Reformer günstig. Da griffen Nikolaus Cop und im Hintergrund stehend Calvin die Theologen der Sorbonne, die der Rede zuhörten, öffentlich an. Er nennt sie Sophisten, die nichts zu sagen wissen über den Glauben, nichts über die Liebe Gottes, nichts über die wahren Werke. Den Zuhörern ruft er zu: „Ich bitte euch alle, die ihr hier zugegen seid, ertraget nicht länger gleichmütig diese Häresien, diese Schmähungen gegen Gott!“197 195 BULAEUS, Historia, VI, 238. 196 SCHURHAMMER, G., SJ, Franz Xaver. Sein Leben und seine Zeit, Bd. 1, 183. Vgl. auch GANOCZY, A. , The Young Calvin, 76–79; A.E. MCGRATH, A Life of John Calvin. 63f. 197 StA 1,1, 14, Z. 1–2.
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Der Student Rodrigo Manrique, Neffe des Erzbischofs von Sevilla, sandte am 9. Dezember einen ausführlichen Bericht an seinen Lehrer Ludwig Vives in Brügge. Er ist gut unterrichtet und sympathisiert mit den Reformern, insbesondere mit den königlichen Lektoren des Collège de France. Den juristischen Rahmen erklärt aber besser BULAEUS nach den Akten der Universität. Sein Bericht sei daher vorangestellt. Am Tag Allerheiligen hielt der Rektor Magister Nicolaus Cop einen öffentlichen Vortrag. Er ist von den Franziskanern angeklagt worden, einige häretische Sätze geäussert zu haben und er ist namentlich von ihnen nicht bei der Universität, sondern beim Senatsgericht verklagt worden. Deshalb hat Cop am 19. November bei den Mathurinern eine Universitätsversammlung abgehalten und die Angelegenheit dort erläutert. Es ist darüber nicht ohne Tumult beraten worden. In den Akten der medizinichen Fakultät steht: ‚Am 19. November ist die Universitär bei den Mathurinern wegen zwei Angelegenheiten zusammengerufen worden. Die eine ist wegen des Unrechts, das der Universität angetan worden ist und das nicht gering geschätzt werden darf. Die zweite ist wegen Unrecht und Demütigungen. Zum ersten Punkt hat der Rektor das Unrecht dargelegt, das ihm von den Franziskanern angetan worden ist, da sie seiner Rede bestimmte Sätze entnommen hätten, die er am Fest Allerheiligen gehalten hatte. Er leugnete, dass es seine Sätze seien. Einen von diesen hat der Rektor jedoch eingestanden (falsch zu sein). Dann aber sei er zum Höheren Richter geladen worden, um sich für die Sätze zu verantworten, ohne Öffentlichkeit und unter Missachtung der Jurisdiktion der Universität. Derselbe Richter hat dennoch vorgetragen, dass sich die Universität als Beschützer der unrechten Taten zeige, die in der Universität geschehen, und sich als Förderin in dieser Angelegenheit erweise. Wahrlich ein Tumult hat in jener Versammlung geherrscht, und mit Schaudern berichte ich (Bulaeus): ‘Ungern erträgt die (medizinische) Fakultät das Unrecht, das der ganzen Universität angetan ist, dass nämlich die Sache an den Höheren Richter gebracht wird, ohne Öffentlichkeit und als die höchste Behörde (sich ausgebend). Und deshalb beschliesst die Fakultät, gleich wie ihre Ankläger und die Höheren Richter die Demütigungen ausgedehnt haben, werden sie geladen, vor der Universität in dieser Sache zu erscheinen.‘ Die (Vertreter der) Nationen haben Unterstützung und Beifall zugesagt, ohne alle Kränkung und allen Nachteil. Der Rektor wagte aber nicht, die Sache zum Abschluss zu bringen. Es leisteten nämlich die Fakultäten der Theologie und Jurisprudenz Widerstand. Da er nämlich die Gefangennahme befürchtete, hielt er sich von der Öffentlichkeit fern und rüstete sich nicht, vor dem Senatsgericht zu erscheinen. Davon beunruhigt, versammelte sich die Artistenfakultät – nachdem auch der Procurator die französische Nation zusammengerufen hat – und sie beriet im Haus St. Julia über das Rektoratssiegel und dessen Notwendigkeit. Doch da die Abstimmungen keine Übereinstimmung ergaben, wurde nichts beschlossen. In der Tat begann Cops Glaube verdächtig zu sein. Auch geschah dies, weil man der Ansicht war, dass sein Vater Wilhelm Cop, der Hausarzt des Königs, (im Glauben) nicht wirklich verständig sei, und weil man erfuhr, dass Cop selbst mit Häretikern Umgang hatte. Als man entdeckte, dass er geflohen war, hat deshalb der Bailiff (Vogt) Johann Morinus nach Calvin,
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der damals im Collegium Fortet weilte, und auch nach anderen Cop Nahestehenden geforscht, um sie zu ergreifen. Aber sie entschlossen sich, ähnlich wie Cop, zur Flucht.198
Calvin galt also als Häretiker. Im Fall, dass Bulaeus später den Begriff eingetragen hat, wird doch deutlich, dass die Reformer in Paris das Spiel verloren hatten. In einer Versammlung der Universität voller Tumulte am 19. November kann Cop sich nicht durchsetzen. Auch ein späterer Rettungsversuch der Mediziner und der Studentenschaft der Natio Gallica misslingt. Cop und seine Freunde müssen fliehen, denn ihnen droht Gefängnis und Verurteilung. Die Gegner behaupten das Feld. Der Student Manrique kennt die juristischen Hintergründe nicht, sein Bericht ist aber voller Leben und Informationen. Sowohl Bulaeus wie auch er schildern, was Calvin selbst damals aus nächster Nähe erlebt hat. Es lohnt sich darum, den umfangreichen Bericht zur Kenntnis zu nehmen.199 Da ich früher angekündigt habe, ich werde berichten, was hier vor sich geht, will ich mit wenigen Worten darstellen, wie es, zuweilen vom Ernsthaften bis hin zum Spassigen reichend, erzählt werden kann. Du weisst, wie ich meine, dass jener gelehrte und gebildete Arzt [Nikolaus] Cop aus Basel, wie man sagt, erfolgreich in der Auslegung der Bücher des Galenus ist. Es bleibt [für das Rektoramt] unter allen Vertretern der liberi artes Nikolaus Cop (unter denen er deswegen glücklich begabt ist, weil sie nur in unterschiedlichen Disziplinen gelehrt sind) als medizinischer Kandidat übrig, der sowohl einen großen Namen hat in Bezug auf die aristotelischen Bücher, als auch in Bezug auf höchste (Rede-)Gewandtheit. Vor einigen Monaten hat er versucht, mit der Ehre – wie man hier sagt – des Rektorats geehrt zu werden; er hat sich nicht wenig um sie bemüht. Sie ist friedlich und willkommen [am 10. Oktober] auf ihn übertragen worden. Im Trimester geschah es – denn nicht länger währt diese Würde, die von vielen so begehrt ist – dass das Fest Allerheiligen herankam, und er nach alter Sitte eine Rede gehalten hat in [der Kirche in] dem Franziskanerkloster. Diese Rede war fürwahr gelehrt und mit nachfolgender Unruhe verknüpft. Er ging also in ihr sowohl scharf gegen die scholastischen Bücher an, als insbesondere gegen die Sophisten, da er lehrte, nichts beziehe sich (bei ihnen) auf die Religion, nichts auf die guten Werke, nichts auf die guten Sitten; zugleich hatte er einige gefährliche und skandalöse Sätze eingestreut, nämlich dass wir sola fide gerettet werden, und jenes Pauluswort ‘Der animalische Mensch weiss nichts vom Geist Gottes‘ [1. Kor. 2,14] wäre falsch interpretiert worden. Damit hat er die Franziskaner beunruhigt und, nachdem jener sie verlassen hat, haben sie die Sätze sofort zur Entscheidung vor das höchste Senatsgericht gebracht. Jener (Cop) ist nach der Rede nach Hause zurückgekehrt, jedoch erregt, weil er hörte, dass die Angelegenheit vor die Theologen gebracht wurde und vor deren ersten Präsidenten mit Namen [Pierre] de Cornibus, der das Amt eines ehrwürdigen Beichtvaters der Franziskaner ausübt. 198 BULAEUS, Historia, VI, 238f. 199 DE VOCHT, Henry (Hg.), Monumenta Humanistica Lovaniensia IV, Louvain 1954, 437– 441. Die Ereignisse schildert nach dieser Quelle SCHURHAMMER, G., SJ, Franz Xaver, 181–189.
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Weil nun der Rektor meinte, nichts in der Rede sei von ihm verkehrt gesagt, bereitete er wiederum eine zweite Rede vor, von der er hoffte, er werde sie vor den Theologen halten. Der Vorsitzende des höchsten Senatsgerichts erkundigte sich sorgfältig über die Angelegenheit und fand, nichts anderes (sei gesagt worden), als was von den Franziskanern vorgebracht worden war. Schon begann die Angelegenheit, die (bisher) geheim ablief, öffentlich verhandelt zu werden. Jene suchten Zeugen gegen den Rektor. Als der dies bemerkte, rief er [am 19. November] alle Vertreter der Pädagogik (artes liberales), die Fakultäten, Dekane und Prokuratoren in der Kirche des heiligen Mathurin zusammen, wo er damit begann, von Amts wegen den Anlass für seine Einberufung der Sitzung den aufmerksamen Zuhörern zu nennen, und sodann gegen die Verleumder vorzugehen, von denen nur zwei [de Cornibus und ein Franziskaner] anwesend waren. Später begann er mit seiner Rechtfertigung und mit vielfältigen Worten die feindliche Meinung, die sie von ihm hatten, zu zerpflücken. Er begann die sechs Sätze zu wiederlegen, die nach ihrer Aussage von ihm vorgetragen worden seien. Aus den Sätzen revidierte er nur jenen Ausspruch des Paulus, von dem ich oben gesprochen habe. Auch führte er Zeugen für seine Auffassung an, nämlich den alten Rektor, der vor ihm im Amt war. Dieser stand auf und bemühte sich, die dem Rektor entgegengehaltenen Sätze zu erschüttern und zu entkräften und ihm – wegen der durch Gewohnheit alten und langen Freundschaft, welche er mit dem hochwürdigen Rektor gepflogen hatte – ein (gutes) Zeugnis auszustellen. Auch er revidierte nichts, ausgenommen jenen Satz bei Paulus. Jener Mann, von dem ich gerade sprach, ist Pariser. Daraufhin wandte sich die Rede (Cops) gesondert an die Prokuratoren und Dekane der Fakultäten, damit, was in dem Fall zu tun sei, eine jede Fakultät entscheiden würde. Denn der Rektor fügte vorsichtig und schlau in seine Rede ein, dass die Angelegenheit und der Fall sich nicht nur auf eine private Person, sondern auf die gesamte Universität beziehe. Die vier Provinzen (Nationen) stimmten also zuerst ab, nämlich Frankreich, Normandie, Deutschland und Brüssel. Sie beschlossen, dass künftig, weil es zugleich Sache der Universität war und eine Rechtsverletzung vorlag, (nämlich) dass sie (die Nationen) jenes prächtigen Amtes beraubt werden, niemals die (Rektorats)Rede bei den Franziskanern gehalten werde. Sie haben auch beschlossen, dass der Prozess auf öffentliche Kosten geführt werde. Jene Verleumder sollen auswandern und in eine freigewählte Verbannung fern der Universität gebracht werden. Nach dieser Zustimmung wandte sich der Rektor an die Theologen, Juristen und Mediziner in der Annahme, sie würden ähnliche Zusagen machen. Aber die Sache verlief anders. Denn die Theologen stimmten nicht zu, weil es sich um eine Angelegenheit des Glaubens handele. Die Juristen gaben dieselbe Antwort. Die Mediziner jedoch, aus deren Gemeinschaft Cop stammte, stimmten dem zu, was die Nationen meinten. Dann dankte der Rektor in einer bewundernswerten Rede und forderte, dass die Verleumder sofort ins Exil geführt werden. Als er geendet hatte, erhob sich de Cornibus und rechtfertigt sich und das Kloster gänzlich. Es sei nämlich niemals von einem der Mönche die Sache an das Senatsgericht gegeben worden. Aber weil schon die Meinung bestand, von den Franziskanern stamme diese Lüge, forderte er, dass die
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Sätze dem öffentlichen Notar der Universität übergeben würden, und dies mit wohlwollender Hilfe des hochwürdigen Rektors. Er hatte noch nicht geendet, siehe, da verlangte ein anderer Franziskaner mit den Händen (winkend) wohlwollende Aufmerksamkeit. Er sagte, er sei Regens bei den Franziskanern und müsse gehört werden. Er sagte dasselbe, was de Cornibus gesagt hatte, in einer Rede nach der Weise des Dun Scotus. Es kommt die Zeit zur Beschlussfassung. Dieses Amt liegt dem Rektor ob, dass er nach allen Antworten und Forderungen das Wort nahm zum Beschluss. Aber die Fakultät der Theologen verbietet einen Beschluss, weil es sich um eine Sache des Glaubens handele. Die Artistenfakultät fordert die Beschlussfassung, anderenfalls gehe das Recht der Artistenfakultät völlig verloren. Nach vielen unnützen und mannigfachen Kämpfen und Streitigkeiten fasst der Rektor schliesslich keinen Beschluss. Er kehrt fast um die zwölfte Stunde (mittags) nach Hause zurück. Am nächsten Tage [20. November] wird der Rektor vor das Senatsgericht geladen. Er empfängt die Boten und bereitet sich zum Weggehen vor. Als er schon auf dem Weg war, sieht er zwei Männer, die ausführlich streiten, ob er auf das Mandat des Senats dorthin eile, oder ob schon die Stunde gekommen sei, zu der das Senatsgericht auseinander gegangen ist [und er also gefangen genommen werden soll]. Der Rektor erkennt daraufhin das Anzeichen und unheilvolle Vorzeichen. Er verlässt die Boten und kehrt nach Hause zurück. Er erscheint nicht vor dem Senatsgericht, sondern ergreift das Siegel der Universität und sucht einen Schlupfwinkel auf. So wünscht man bis auf diesen Tag zu wissen, was mit ihm geschehen ist. Zurück bleibt also eine von ihrem Rektor verlassene und im Stich gelassene Universität. Man erwartet täglich, dass eine (Neu)Wahl erfolgt. Das Eigentum des Rektors und seine ungeheuer große Bibliothek sind vom königlichen Fiskus beschlagnahmt worden; sie sollen demnächst verkauft werden.
Der letzte Abschnitt beruht deutlich auf Hörensagen. Manrique ist aber offensichtlich bei der Versammlung der Universität am 19. November anwesend gewesen. Er gibt einen sehr lebendigen Bericht. Die Rede vom 1. November hat er offensichtlich nicht gehört, denn was er über sie anführt, ist keine Inhaltsangabe der Rede, sondern sind die Anklagepunkte der einzelnen Sätze. Während die Stichworte der gehaltenen Rede, wie berichtet, sind: Sophisten, Glaube, Liebe, Werke, lautet Manriques Bericht anders. Er sei nochmals wiedergegeben: Er (Cop) ging in der Rede sowohl scharf gegen die scholastischen Bücher an, als insbesondere gegen die Sophisten, da er lehrte, nichts beziehe sich (bei ihnen) auf die Religion, nichts auf die guten Werke, nichts auf die guten Sitten; zugleich hätte er einige gefährliche und skandalöse Sätze eingestreut, nämlich dass wir sola fide gerettet werden, und jenes Pauluswort ‚Der fleischliche Mensch weiss nichts vom Geist Gottes’ sei falsch erklärt worden.
Wenn Manriques Bericht auf den Sätzen der Anklage beruht, kann man versuchen, die (leider nicht erhaltenen) Sätze zu rekonstruieren. Diese brin-
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gen nach gängiger Manier zuerst den beanstandeten Satz, auf den dann die Anklage und die Verdammung folgt.200 Stimmt diese Annahme, dann sind die Sätze rekonstruierbar. Die Rektoratrede zitieren die Ankläger zudem deshalb nicht wörtlich, da sie sie auch nur vom Zuhören kannten. Wir setzen den betreffenden Satz der Concio academica voran und lassen die Zensur der Sorbonne folgen. Die Sätze müssen etwa gelautet haben: [1.] Die philosophia christiana „legt den Willen Gottes dar, der von allen Philosophen lange erforscht, aber nie genügend ergründet worden ist“.201 – Dies ist gegen die scholastischen Bücher gerichtet und also häretisch. [2.] „Diesen Fehler (Gesetz und Evangelium nicht zu unterscheiden) begehen die ganz verderblichen Sophisten, die um des Kaisers Bart streiten und sich zanken.“202 – Bei den Sophisten „bezieht sich nichts auf die Religion“; das ist häretisch. [3.] Die Sophisten „tragen nichts über den Glauben, die Liebe Gottes und die wahren guten Werke vor.“203 – „Bei den Sophisten bezieht sich nichts auf die Werke“; das ist häretisch. [4.] „Die Sophisten schmähen alles, machen alles wankend und zwängen alles in ihre Gesetze, das heisst, in ihre Sophistereien ein.“204 – „Sie beziehen nichts auf die guten Sitten“; das ist häretisch. [5.] Die philosophia christiana lehrt, „dass allein die Gnade Gottes (sola gratia) die Sünden vergibt“.205 – Cop lehrt, „dass wir allein durch den Glauben (sola fide) gerettet werden“; das ist gefährlich und skandalös. [6.] „Ich (Cop) weiss genau, dass der fleischliche Mensch nicht weiss, ob er Hass verdient oder Liebe“ [Pred 9, 1]. Paulus sagt, ‚Der fleischliche Mensch versteht nicht, was göttlich ist, aber der geistliche Mensch beurteilt und versteht alles.‘ [1. Kor 2,14f] Wer das leugnet, stösst das ganze Evangelium um“ (usw.).206 – „Prediger 9,1, ‚Der Mensch weiss nicht, ob er des Hasses oder der Liebe würdig ist.‘, ist auf den fleischlichen Menschen bezogen; das Bibelwort ist häretisch ausgelegt.
200 Siehe die Censura der Theologischen Fakultät der Sorbonne an den Epistolae et Evangelia der Diözese Meaux aus dem Jahr1525, die 48 Sätze (propositiones) enthält; s. Kap. 7, A. 3. 201 StA 1,1, 10, Z. 21–22. 202 StA 1,1, 12, Z. 29–30. 203 StA 1,1, 12, Z. 30–32. 204 StA 1,1, 12, Z. 3 und 14. Z. 1. 205 StA 1,1, 10, Z. 22–23. 206 StA 1,1, 18, Z .36–37 und 20, Z. 1–2.
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Cop verneinte vor den Versammelten, wie erwähnt, dass die Sätze von ihm stammen würden. Aber er zieht die Aussage des letzten Punktes am 19. September zurück. Es gibt für diese Auslegung einen naheliegenden Grund. In der Rektoratsrede ist Melanchthons Römerbriefkommentar die Vorlage gewesen. Dort war zu lesen: Die Gegner nehmen die Bedingung des Gesetzes zu Hilfe, das heisst, die Bedingung unserer Würdigkeit. […] Sie verdrehen diesen Spruch Salomos und verstehen ihn falsch, ‘Der Mensch weiss nicht, ob er des Hasses oder der Liebe würdig ist.’ [Pred 9,1] Das heisst, das ganze Evangelium zu verdrehen und zu zerstören und Christus wieder zu begraben (usw.).207
Cop (oder Calvin) zitiert diesen Satz Melanchthons, hatte ihn aber verändert. Melanchthon hat weder geschrieben, ‘Der fleischliche Mensch’ usw., noch hatte er das Wort 1. Kor 2,14f hinzugesetzt. Die Bezeichnung des Menschen als „fleischlich“ war ein Eingriff in seinen Text. Cops Gegner haben einfach nur auf die falsche Zitierung hingewiesen und ihn gezwungen, sich zu korrigieren. Ein alter Streitfall wurde hier ausgetragen. Melanchthon hatte sich schon in den Loci communes von 1521 zu dem Bibelwort Pred 9,1 ausführlich geäußert und gegen die Gegner Stellung bezogen.208 Er hatte auch Mühe, es reformatorisch zu verstehen. Leider ist Cops Rede vor den Vertretern der Universität am 19. November nicht erhalten. Es ist zu vermuten, dass auch Calvin an der Richtigstellung der Sätze der Gegner beteiligt war. Des Bulaeus Darstellung macht klar, dass Cop sich seiner Haut wehren musste, nachdem die Gegner Sätze aus seiner Rede herausgerissen und an das Gericht gegeben hatten. Der Begriff Sophisten und seine heftigen Anklagen gegen die Anwesenden konnte er nicht leugnen. Seine Berufung auf die Jurisdiktion der Universität wurde aber nicht von allen Fakultäten getragen. Sein Antrag (laut Manrique), die Ankläger zu verbannen, war ein Hieb in die Luft. Er ging schon deshalb ins Leere, weil der Theologe und Beichtvater der Franziskaner, de Cornibus, erklärte, die Anzeige beim höchsten Gericht stamme nicht von den Franziskanern; der Regens des Klosters bestätigte dies. Wahr oder unwahr, Cop hatte keine greifbaren Gegner mehr. Nun konnte er keinen Beschluss der Universität mehr herbeiführen. Er und die Reformer hatten endgültig verloren, Zwar hielt der Student Manrique die Franziskaner für die Schuldigen, das heißt, de Cornibus und andere Theologen werden die Ankläger gewesen sein. Nochmals sei darauf hingewiesen, dass Calvin in die Ereignisse eng verflochten war. Bulaeus berichtet, dass der Vogt nach Calvin und anderen, die 207 Mel StA V, 35, Z. 21f.26 und 36, Z. 3. 208 Mel StA II, 1, 119, Z. 17–121, Z. 32. StA V, 35, Anm. 27, wird die Auslegung des Bonaventura und des Thomas von Aquin nachgewiesen.
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Cop nahestanden, gesucht habe, um sie gefangen zu nehmen. Aber sie flohen wie Cop selbst. Colladon und Beza fügen an: Als der Bailiff im Kolleg Fortet erschien, konnte er nur Papiere und Briefe beschlagnahmen, deren Inhalt Calvins Freunde belasteten.209 Aus welchem Grund Cop das Universitätssiegel mitnahm, ist unklar. Doch es muss einen Rechtsakt betroffen haben. Bucer schrieb am 8. Januar 1534 an Ambrosius Blarer Der französische König hat in seinem Königreich mit schwersten Verfolgungen begonnen. Der eine der Söhne Cops, gewählt zum Rektor, hat der Sitte gemäss eine Rede gehalten. Weil er in ihr einiges Wenige über den rechtfertigenden Glauben eingestreut hatte, kam er durch die Theologen in solche Bedrängnis, dass er sich zur Flucht entschied, nachdem er sich am Siegel der Universität durch Unklugheit vergriffen hatte. Eine große Versammlung veranlasste in Paris, dass durch einen Herold verkündigt wurde, 300 Goldstücke seien für den bestimmt, der den flüchtigen Rektor lebendig oder tot herbeischaffe.210
Wie gefährlich die Lage für die Evangelischen war, zeigte sich in der Folgezeit. Am 19. Dezember kam die Verfügung des Königs. Er führte die Ereignisse auf die verfluchte häretische Sekte Luthers zurück und verlangte, dass unnachsichtig gegen die Ketzer vorgegangen werde. Schon am 20. Dezember wurden zwei Lutheraner verhaftet; ihre Zahl stieg binnen einer Woche auf über fünfzig. Ein Edikt befahl, dass jeder, der durch zwei Zeugen der lutherischen Irrlehre überführt sei, mit dem Feuertod bestraft werde. Unter den Gefangenen waren auch die Prediger Roussel, Corauld und Bertaut.211 Beda und Picart kehrten am Ende des Jahres nach Paris zurück.212 Die Reformationsversuche schienen gründlich gescheitert zu sein. Bucer fährt in seinem Bericht an Ambrosius Blarer vom 8. Januar fort: Gefangen genommen waren über 50 Menschen, als der, der es uns berichtete, dort die Freiheit erlangte – es sind seitdem 18 Tage (vergangen). Auch ist ein Edikt verlesen, dass jeder, der durch zwei Zeugen als Lutheraner überführt wird, sofort zu verbrennen sei. Die Angelegenheit ist der spanischen Inquisition nicht unähnlich. Jener meint, dass jetzt in Paris über 300 Menschen gefangen genommen seien. Denn da durch den dortigen Bischof, der von ganzem Herzen der Frömmigkeit gewogen ist, ferner durch den König und die Königin von Navarra, die eine Schwester des französischen Königs ist, und durch einige andere Vornehme es geschehen ist, dass in Abwesenheit des französischen Königs öffentlich einige Leute Christus gepredigt haben und sie alle freier reden. Sie sind jetzt angeklagt worden und in schwere Bedrängnis geraten. Bisher wird nur gegen die Unbedeutenden gewütet. Geh’ nun und sage, der Papst sei nicht wachsam. So werden wir uns durch das Blut der Heiligen auf der herodiani209 210 211 212
CO 21,56 und 123. HERMINJARD, A.L., Bd.3, 129f (Nr. 445). HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 146, Anm. 2 (Nr. 451). HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 159, Anm. 2.
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schen Hochzeit [zwischen des Königs Sohn Heinrich von Orleans und des Papstes Nichte Katharina von Medici] einen glücklichen Ausgang versprechen.213
Ohne Frage hatte Calvin allen Grund, aus Paris zu fliehen und sich zu verbergen. Ein Vergleich mit der Plakataffaire im Jahr 1534 liegt nahe. Die Verfolgungen sind in beiden Fällen die gleichen gewesen. Doch war die Rektoratsrede ein Versuch, vor den versammelten Professoren der Sorbonne, das heißt, angesichts der feindlich gesonnen Vertreter der Theologischen Fakultät und des Kirchenrechts, aber auch der Anhänger von Reformen die reformatorischen Grundsätze öffentlich zu proklamieren. Die Plakataffäre hingegen war ein schroffer Affront gegen die Messe, das Herzstück katholischen Gottesdienstes. Die Rektoratsrede konnte der König vielleicht noch dulden, war sie doch bibelgebunden und deutlich gegen die Scholastik der Sorbonne gerichtet. Die Plakataffaire bedrohte die Staatsreligion. D. Der theologische Gehalt der Rektoratsrede Mit ihr kommt Calvin endlich eingehend zur Sprache. Wie ist die Rede theologisch einzuordnen? 1. Die fremden Quellen Die Methode des Vergleichens mit anderen, mit Sicherheit von Calvin stammenden Schriften wird erschwert durch den Umstand, dass die Rede unselbständig ist. Der Verfasser beginnt mit einer Betrachtung der „philosophia Christi“, wie sie Erasmus von Rotterdam in einer seiner Vorreden zum Neuen Testament, der „Paraclesis“, erörtert.214 Es folgen Ausführungen zu den Seligpreisungen (Mt 5,1–12), die viele Zitate aus Martin Luthers Predigt über diesen Text aus dem Jahr 1522 enthalten. Bisher unbekannt ist, dass der wichtige Abschnitt über die Rechtfertigung und Heilsgewissheit, Gesetz und Evangelium, also der eigentlich reformatorische Teil dem Römerbriefkommentar Melanchthons aus dem Jahr 1532 entnommen ist. Calvin
213 SCHIESS, T., Briefwechsel der Brüder Thomas und Ambrosius Blaurer, Bd. 1, Freiburg 1908, 460 (Nr. 390) und HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 129–131 (Nr. 445). Blaurer gab die Nachricht am 20. Januar 1534 an Bullinger weiter, HBBW 4, 45f (Nr. 317). Bucer berichtet „In Paris geschehen ausserordentliche Dinge. Zu Anfang hatte der König, veranlasst durch eine päpstliche Bulle gegen die Lutheraner, über 50 Menschen gefangen nehmen lassen. Unter ihnen waren einige Gelähmte [Barthélemus Milon], die auf Betten ins Gefängnis gebracht wurden.“ Milon war schon am 13. November verbrannt worden. HBBW 4, 117 (Nr. 352). 214 WELZIG¸ W. (Hg.), Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Lateinisch und Deutsch, Bd. 3, Darmstadt 1967, 2–37.
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zitiert das einleitende „Argumentum“215, verändert es aber. Hinzu kommt die Anleihe bei anderen berühmten Männern. Man bedenke jedoch: Es ist Calvins erstes theologisches Werk; der Verfasser ist gerade 24 Jahre alt. Die drei Quellenstücke der Rede sollen zunächst näher betrachtet werden. A. LANG stellt die betreffenden Texte aus des Erasmus Paraphrasen bzw. aus Luthers Predigt denjenigen der Concio academica synoptisch gegenüber.216 Um den Kontext sichtbar werden zu lassen, werden unten auch die Luther– und Melanchthontexte dem betreffenden Teil der Rektoratsrede konfrontiert. a. Philosophia christiana Die Ausführungen über sie füllen den ersten einleitenden Teil. Wörtlich zitiert Calvin die „Paraclesis“ nur an zwei Stellen, die inhaltlich unerheblich sind.217 Dies bedeutet, dass er den Begriff der philosophia christiana aufgreift, um ihn der scholastischen Philosophie – wie bereits erwähnt – entgegenzusetzen. Der erasmische Begriff dient der Polemik. Zweitens dient er als Aufhänger, um die reformatorischen Gedanken zu entfalten. Die Kenner unter dem Katheder Cops müssen sofort die Quelle des Begriffes philosophia christiana erkannt haben, denn die theologische Fakultät lag im literarischen Streit mit Erasmus (s. Kap. 1, Abschn. 4). Zudem kritisiert auch Erasmus in der Paraclesis die Scholastik, weil sie den Nutzen und die Einfachheit, die die philosophia Christi dem einfachen Volk verständlich macht, negiert und alles kompliziert macht. Calvin nimmt den Gedanken auf, wenn er die Scholastiker Sophisten nennt. Bei ihm war der Begriff der philosophia christiana nicht nur eine geschickte akademische Anknüpfung, sondern auch eine bewusste Provokation. Die Zensur der Gegner behandelt deshalb nur den Eingangsabschnitt der Rektoratrede. Auf sie muss nicht nochmals eingegangen werden. Calvin folgt dem Vorbild des Erasmus, wenn er den Lobpreis der philosophia christiana anstimmt. Sie ist den Menschen von Christus gegeben. Doch Calvin füllt den Begriff anders als der große Humanist. Die nachfolgenden Gedanken sind neu. Die in der philosophia christiana gebotene Glückseligkeit ist eine ganz gewisse (certissima). Wir erkennen durch diese Philosophie und wir glauben, dass wir Kinder Gottes sind. Gott übermittelte sie den Menschen, indem er Mensch wurde. Heute zeigt er seine Liebe durch sein Wort an. Er vergibt die Sünden sola gratia, heiligt die Herzen durch den Heiligen Geist und bringt ewiges Leben. Auf den ersten Blick 215 Mel StA V, 33, Z. 8–35, Z. 17. 216 LANG, A., Die Bekehrung Johannes Calvins, Aalen 1972 (Neudr.) SGTK 2, Heft 1, 46, 49–52. 217 LANG, A., Die Bekehrung Johannes Calvins, 46. Die eine betrifft den Begriff felicitas, die andere admirabile genus philosophiae.
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scheint diesen Zusätzen ein reformatorisches Programm zugrunde zu liegen, das in diesem einleitenden Abschnitt angekündigt wird. Doch dieser Eindruck täuscht, wie zu zeigen sein wird. b. Die Lutherpredigt Da die Perikopenordnung zum Tag Allerheiligen die Seligpreisungen Mt 5,1–12 als Text vorsah, war Calvins Rückgriff auf Luthers Predigt über diesen Text sinnvoll.218 Wie gelegen sie ihm kam, wird sich zeigen. Sprachlich bestand keine Schwierigkeit, denn Martin Bucers Übersetzung ins Lateinische aus den Jahren 1526 und 1530 lag vor, verlegt von dem Straßburger Drucker Herwagen.219 Die Übersetzung trifft den Sinn gut; nur wenige Besonderheiten treten auf (siehe den Exkurs). Zuerst sei der Gedankengang der Concio academica und der Lutherpredigt verglichen. Concio academica Einleitung Philosophia Christi Gebet und Ave Maria Der Scopus Unterschied von Gesetz und Evangelium Die Wortklauberei der Sophisten ist gesetzlich Die Gebote der Seligpreisungen erklären die des Mose genauer, sind aber mit dem Evangelium verbunden Der versprochene Lohn ----Erste Seligpreisung: die „ geistlich Armen“ ----Das erste Gebot der „Alten“ -----
Luther ------------Zwei Fragen Unterschied von Gesetz und Evangelium ----Evangelium und Gebote?
Der verheissene Lohn Beichte, sieben Todsünden Erste Seligpreisung Seligpreisungen und Gebote Erste. Seligpreisung / 1. Gebot Zweite Seligpreisung / 5. Gebot
218 WA 10 III, 400–407. 219 Conciunculae quaedam M. Lutheri in deiparae virgini et aliquot Divis festos dies, nuper e populari linguia latinae factae. Quarum catalogum versa pagella ob oculos ponit. Argentorati, Anno M.D.XXVI. Siehe WA 10 III, XXVI, CLXVIII. Der deutsche Abdruck WA 10 III, 400–407 notiert in den Anmerkungen unter der Sigla „Cq“ Bucers Abweichungen.
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Concio academica ----Christus: Sich keiner Kreatur hingeben Die Sophismen sollen Ansehen geben Sich allein auf den Geist stützen --------Vierte Seligpreisung „hungern nach der Gerechtigkeit“ Das Evangelium gibt Gewissheit, das Gesetz nicht Ps 32,1; Röm 3,27f, 4,1–3: Gerecht gesprochen wegen Christus Gesetz und Evangelium --------Siebte Seligpreisung „die Friedfertigen Der weltliche Friede Die Wurzel der Zwietracht ist die Feindschaft mit Gott Statt des Schwertes das Wort gebrauchen Achte Seligpreisung „Verfolgung erdulden“ In der Antike Um der göttlichen Gerechtigkeit willen Gebet
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Luther Dritte Seligpreisung / 5. Gebot ------------Zweite Seligpreisung Dritte Seligpreisung Vierte Seligpreisung [Melanchthon] „ „ „ Fünfte Seligpreisung Sechste Seligpreisung Siebte Seligpreisung ------------Achte Seligpreisung -------------
Der Vergleich zeigt, dass Luther alle acht Seligpreisungen auslegt, Calvin nur vier. Geht man den einzelnen Abschnitten Calvins entlang, so ergibt sich folgendes Bild. 1. Die Einleitung über die philosophia Christi fehlt bei Luther. Sie ist eine Zusammenfassung der „Paraclesis“ des Erasmus, angereichert durch biblische Gedanken, die später bei der Auslegung der Seligpreisungen weiter ausgeführt werden. Es fehlt bei Luther auch das Gebet mit dem Ave Maria.
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2. Der Abschnitt über Gesetz und Seligpreisungen ist Luthers Predigt entnommen. Die Anordnung ist geändert, aber die Hauptpunkte werden von Calvin zitiert. 3. Die Auslegung der ersten Seligpreisung ist von Calvin selbständig gestaltet. 4. Die Auslegung der vierten Seligpreisung hält sich eng an die Auslegung Melanchthons zu Röm 3 und 4 (Rechtfertigung) im „Argumentum“ zum Römerbriefkommentar von 1532, ist aber auch selbständig gestaltet. 5.Die Auslegung der siebten und achten Seligpreisung ist bei Luther recht kurz. Calvin legt sie im Blick auf die Verfolgungen in Frankreich aus. 6. Das Schlussgebet fehlt bei Luther. Summa: Das Abweichen von den Reformatoren erfolgt bei der 1. und 4. Seligpreisung und ist sorgfältig zu betrachten. Exkurs: Bucers lateinische Übersetzung des ersten Teils der Lutherpredigt (Die kursive Schrift bezeichnet Bucers Abweichungen von Luthers Text, der in Klammern beigefügt ist, oder einen Zusatz Bucers.) Das Evangelium ist nichts anderes als frohe Botschaft (gut Geschrei) und heilbringende (gute) Predigt von Christus, auf welche Weise nämlich der Herr von Gott dem Vater geschickt ist, damit er allen Hilfe bringe und Heil vermittle (tue) dem Körper wie der Seele, zeitlich wie ewig. So dass es bei weitem eine andere Predigt ist als des Gesetzes und der Gebote. Wenn zwar das Gesetz befiehlt, droht und verlangt, das Evangelium ist aber auf keine Drohungen bedacht, treibt nicht an, sondern lädt sanft und liebevoll zu Christus ein und stellt die (mit den) allerverlockendsten und köstlichsten Verheissungen vor unsere Augen. Mose befiehlt: Seid gütig, anderenfalls verliert deine Seele das Heil. Aber das Evangelium bietet mit sanften Worten Gnade, Gunst und Barmherzigkeit Gottes an und sendet zu Christus, von dem wir die Kraft empfangen, dem Gesetz genug zu tun. Also ist das ganze Evangelium deutlich (allein) nichts anderes als frohe Botschaft und Beifall verdienende Botschaft von Christus, der allen mit Hilfe und Rat nahe ist und von uns nichts als Zensor (mehr) verlangt, sondern nur liebevoll anlockt. Weiter wird aus diesem Evangelium Anlass zur Frage gegeben, warum nicht hier auch das Evangelium sich ähnlich sei (solches tue). Denn es scheint sich an dieser Stelle um Gebote zu handeln, wie wir nämlich Arme im Geist, Friedfertige und Barmherzige sein sollen. Es kommt auch zum Vorschein, dass Lohn denen angeboten (verheissen) wird, die so handeln. Und es sagt das Evangelium dort, ‚ihrer wird das Königreich der Himmel sein‘. Ebenso, ‚sie werden das Erbe der Erde gewinnen (besitzen)‘, so auch die übrigen Seligpreisungen. Da wir dennoch nach Lohn nicht trachten sollen, sondern wir uns rein umsonst um gutes Bestreben (fromm zu sein) bemühen, nicht zu unserm Nutzen, sondern nur im Blick auf Gott, nicht aus Furcht vor Strafe und Hölle, sondern geleitet von der Ehre Gottes und dem Wohl des Nächsten. Diese zwei Fragen habe ich deshalb gestellt, damit ihr in dem Evangelium grössere Kraft sammelt und ihr einseht, euch besser in ihm darauf zu stützen, was nichts anderes (an allen Enden) in ihm ist als die Botschaft und Predigt von Christus.
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Deshalb ist zuerst zu bemerken, dass hier das Evangelium nichts befiehlt, wahrlich wie an allen Stellen den einen Christus besingt (von ihm schreit), und gleichsam überall seine Wohltaten und Hilfen abbildet. So tut es auch an dieser Stelle. Wie er nämlich den Blinden das Sehen wiedergegeben hat, die Toten auferweckt, die Lahmen leicht zu laufen befähigt hat, nicht anders hält er auch an dieser Stelle sein Wohlgefallen vor Augen, nämlich dass er uns das Gesetz erklärt und sein wahres Verständnis vorgetragen hat, was wohl als Wohltat unter anderen unstreitig an erster Stelle steht. Wenn nämlich diese Wohltat genannt wird, dass er den (leiblichen) Blinden die fleischlichen Augen geöffnet hat, den Lahmen den Gang wiedergegeben hat usw., wieviel grösser ist dieses Amt, das der gedankenlosen Seele die Augen erleuchtet (und lehrt sie) und ihr die Gebote Gottes klar macht, wodurch sie sich ungehindert zum Heil begeben kann (dass sie desto besser selig werden). Er erklärt auch in diesem Kapitel das fünfte Gebot Mose, ‚den Alten ist gesagt, du sollst nicht töten.[…] Ich aber sage euch,‘ ihr sollt allen Zorn aus der Brust beseitigen, sollt ein friedliches Herz haben, in keinem Werk, in keinen Worten und Gesten ein zorniges Gemütes zeigen gegen den Nächsten. Dieses Evangelium stellt die Güte Gottes also und seine Wohltaten vor Augen. Was aber ist zu antworten auf die zweite Frage, dass denen Lohn verheissen wird, die solches tun? Darauf ist genug geantwortet in dem Sermon vom ungerechten Mammon. Nämlich die Verheissungen sind hinzugesetzt nicht gleichsam als Zusage des Verdienstes, der von uns zu verdienen sei, sondern als gewisse anlockende und schmeichelnde Anreize, durch die Gott uns Liebe zum guten Handeln (fromm zu sein) einpflanzt (lustig macht) und das aus sich selbst heraus folgen wird, auch von uns nicht gesucht werden soll, sondern umgekehrt ein ganz gewisser Begleiter guten Handelns ist. Wie die Hölle ein Begleiter schlecht geführten Lebens ist, die den schlechten Bestrebungen folgt, auch wenn sie nicht gesucht und erwartet wird, wie der Geschmack dem Wein folgt, so ist auch das ewige Leben hier verheissen. Nicht dass wir uns darum um Frömmigkeit bemühen müssen, damit wir den Kampfpreis (Belohnung) erhalten, sondern dass jener Lohn, der uns vorgehalten wird, eine Verlockung und Einladung sei, wodurch wir mit grösster Lust eine gewisse Redlichkeit des Lebens (Frömmigkeit) gut heissen und Gott ehren und loben. Daher muss sie aus sich selbst als Vergeltung für ein aufgewendetes Werk folgen. Dadurch, dass er uns so liebevoll säugt und einlädt, wird uns der geneigte und väterliche Willen Gottes vorgehalten, gleichsam auf einem Bild zu sehen. Aber dies ist zu jenen zwei Fragen geantwortet, damit ihr wisst, dass das Evangelium wie an allen anderen Orten Christi Gnade und Wohlgefallen den Augen nahe bringt und (er) das wahre Verständnis des Gesetzes hier lehrt, und Mose recht erklärt wird. Dem sind angehängt die süssesten Verheissungen, ganz wie Honig, dass er uns herbeilockt und schmeichelnd einlädt, Sanftmut und Barmherzigkeit zu pflegen. Nun wollen wir sehen, wie diese acht Seligpreisungen auf die zehn Gebote sich erstrecken und sie erklären und dem Verstand leicht machen. Ihr wisst, wie gewisse schlechte rohe Schwätzer (sie) die acht Seligpreisungen in die Beichte hineinziehen.
Es erweist sich, dass Bucer den Text wörtlich zu übersetzen versucht. Calvin lernt den echten Luther kennen. Was nimmt er auf und was lässt er fort?
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c. Melanchthons Römerbriefkommentar von 1532 Der Rückgriff auf Melanchthons Kommentar ist in der Forschung bisher nicht erkannt worden.220 Es muss auf diese Quelle Calvins besonders eingegangen werden, da er sich zugleich von ihr theologisch distanziert. Die vierte Seligpreisung gibt das Stichwort: „hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“. Calvin nimmt sie als Anlass, seine Lehre von Gesetz und Evangelium zu entfalten. Er zitiert die Zusammenfassung dieser Lehre, die Melanchthon im Vorwort (Argumentum) zum Römerbriefkommentar von 1532 bietet. Der Untertitel lautet dort „Prolegomena über die Rechtfertigung“. 2. Die theologischen Abweichungen von den reformatorischen Quellen a. Gesetz und Evangelium bei Melanchthon und Calvin (Der lateinische Text soll die Abhängigkeit von Melanchthon beweisen, die Synopse den beiderseitigen Gedankengang erklären.) Concio academica (1533)221 4. Seligpreisung Nec mirum [1] siquidem certas illorum conscientias [2] evangelium Dei reddit de remissione peccatorum, [3] de amore Dei, an sint accepti Deo.
Römerbriefkommentar (1532)222 Prolegomena über die Rechtfertigung [Scopus] Alia res agitur, videlicet, [1] quomodo conscientiae possint reddi certae [2] quod habeamus remissionem peccatorum, [3] quod Deus sit nobis propitius, quod simus accepti Deo [etc.]
Die Probe mag zunächst für den Beweis der Abhängigkeit Calvins genügen.
[Die Definition fehlt in der Concio]
Zu Anfang pflegt man sichere Definitionen und Hypothesen vorzutragen. I. Die gesamte Schrift besteht aus zwei Teilen, Gesetz und Verheissung der Versöhnung.
220 MÜLLER, K., Calvins Bekehrung, 239–241, verweist bereits auf die melanchthonische Begrifflichkeit in der Concio academica hin und besonders auf das Argumentum zum Römerbriefkommentar, ohne jedoch daraus Konsequenzen zu ziehen. 221 StA 1.1, 18, Z. 7–25. 222 Mel StA V, 34, Z. 2–35, Z. 4.
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[Der 1.Teil fehlt in der Concio.]
[2] Welcher Kultus, welche Frömmigkeit und welche Religion kann bei einem zweifelnden Gewissen bestehen ? Paulus heißt uns im Brief an die Römer, alle Zweifel des Gewissens niederzuschlagen mit der ausführlichen Begründung, dass die Versöhnung und Rechtfertigung nicht von unserer Würdigkeit, auch nicht von unseren Verdiensten abhängt. […] [Röm 3,24 und 26f] […] Aber was konnte klarer gesagt werden, als was er zu Beginn des Kapitels 4 geschrieben hat.
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[1] Das Gesetz ist die Lehre, die von uns vollkommenen Gehorsam gegen Gott verlangt, oder befiehlt, wie wir sein sollen, was wir tun und lassen sollen, und verdammt, die nicht so sind. [2] Die Verheissung der Sündenvergebung, der Rechtfertigung und des ewigen Lebens ist die, die die Vergebung und Rechtfertigung um Christi willen durch Barmherzigkeit, nicht um des Gesetzes noch um der Erfüllung des Gesetzes willen. Und diese Verheißung ist das Besondere des Evangeliums und wird zu Recht Evangelium genannt. […] Die Verheißung würde ungewiss werden, wenn sie von der Bedingung des Gesetzes abhängen würde. […]Weiter, da wir niemals dem Gesetz vollkommen gehorchen, müssen wir zweifeln, ob wir Gott gefallen. Die Verheißungen sind ganz klar (clarissima) und stehen bei Paulus im Kapitel 4.“
Calvin folgt auch im Weiteren wörtlich den Ausführungen Melanchthons. Ohne Frage hatte er Melanchthons Argumentum bei der Abfassung vor sich liegen Der dreifache Skopus stimmt überein. Es tauchen bei der Beschreibung von Gesetz und Evangelium dieselben Vokabeln auf. Am auffallendsten ist der Rückgriff auf Röm 4 und die Bezeichnung dieses Bibelabschnittes als clara bzw. clarissima. Es bleibt die Frage offen, warum Calvin aus Melanchthons Gedankengang einen ganzen Abschnitt weg lässt. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn beide im Folgenden über das Gesetz sprechen.223
223 StA 1, 1, 18, Z. 28–32; StA Mel 5, 35, Z. 6–11.
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Concio academica [1] Das Gesetz erwähnt die Barmherzigkeit Gottes, aber unter der entschiedenen Bedingung: wenn es erfüllt wird. Das Evangelium lehrt uns etwas Neues, was das Gesetz nicht bieten kann, auf welche Weise wir gewiss werden sollen, dass Gott uns gewogen ist. Das Evangelium verheißt die Sündenvergebung und Rechtfertigung umsonst.
Melanchthon [1] Auch das Gesetz belehrt über die Barmherzigkeit; es bezeugt, dass Gott barmherzig ist, fügt aber die Bedingung [der Erfüllung]des Gesetzes hinzu. Da aber niemand dem Gesetz genug tut, ist es notwendig zu zweifeln, ob wir die Barmherzigkeit erlangen, da wir viel mehr urteilen, Gott zürne uns. Und nicht anders urteilt das Gewissen jedes Menschen.
Calvin weicht in seinem Gedankengang an zwei Stellen von dem Melanchthons ab. Erstens bietet bei ihm das Evangelium „etwas Neues“. Das Neue ist nicht die Barmherzigkeit – sie lehrt auch das Gesetz – sondern dessen Bedingungslosigkeit. Das Neue ist auch die Heilsgewissheit. Doch kennt Melanchthon einen Zweifel durch das Wirken des Gesetzes, nämlich dass Gott zürnt. Calvin lehrt den Zorn Gottes nicht. Er erwähnt nur das an sich „zweifelnde Gewissen“.224 Nicht zufällig lässt er Melanchthons Definition des Gesetzes fort. Es ist der grundlegende Satz: Das Gesetz verdammt die, die ihm nicht genug tun, so dass Gott ihnen zürnt. Die zweimalige Auslassung weist darauf hin, dass er im Gefolge des Faber Stapulensis Antinomist ist. Zum selben Ergebnis führt Calvins Rezeption des Luthertextes. b. Gesetz und Seligpreisungen bei Luther und Calvin Luther erörtert zuerst den Unterschied von Gesetz und Evangelium. Jede Seligpreisung nennt in ihrer zweiten Hälfte die Verheißung, also das Evangelium. Befremdlich ist nun, dass Luther jeder Seligpreisung ein Gebot des Dekalogs zuordnet. Auf diese Weise wird das Verhältnis von Gesetz und Evangelium thematisiert. Doch wirkt Luthers Auslegungsweise künstlich herbeigeführt. Er behilft sich, indem er zur zweiten und dritten Seligpreisung die Verse Mt 5,21–26 heranzieht („Den Alten ist gesagt, ihr sollt nicht töten“). Er konstruiert auch ein Gebot zur ersten Seligpreisung: Das erste Gebot sei dort ausgelegt.225 Weitere Parallelen zwischen Dekalog und Seligpreisungen zieht er nicht. Wichtig ist nun, dass Calvin die Auslegungsweise übernimmt, die Seligpreisungen auf den Dekalog zu beziehen. Zuerst sei der Gedankengang Luthers aufgeführt: Luther schreibt226: 224 StA 1, 1, 18, Z. 11–13. 225 WA 10 III, 400–403, Z. 2. 226 WA 10 III, 400, Z. 3–401, Z. 13 und 401, Z. 27–403, Z. 2; Conciunculae 57r–58r und 58r–59r.
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Zwei Fragen habe er gestellt, nämlich ob die Seligpreisungen Gebote seien und wie die Zusage des Lohns zu verstehen sei. Die Antwort auf die erste Frage lautet, die Seligpreisungen befehlen nicht, sondern besingen Christus und seine Wohltaten. Die Blinden sehen (usw.) „Nicht anders hält Christus auch an dieser Stelle (Mt 5) sein Wohlgefallen (uns gegenüber) vor Augen, nämlich dass er uns das Gesetz erklärt hat und sein wahres Verständnis vorträgt, was wahrlich als Wohltat unter anderen sicherlich an erster Stelle steht.“ Er betont nochmals: „damit ihr wisst, dass das Evangelium (Mt 5) wie an allen anderen Stellen Christi Gnade und Wohltat nahe bringt und das wahre Verständnis des Gesetzes hier lehrt, und Mose recht erklärt wird.“ Und später: „Wenn nämlich die acht Seligpreisungen die Erklärung des Dekalogs sind (so deshalb), damit dieser sicher und bündig erklärt wird.“ Während Calvin der Bezugnahme auf die Seligpreisungen folgt, weicht er von dieser Auslegung Luthers erheblich ab: Die Gebote, die bei Mose nicht klar genug beschrieben sind, lehrt Christus an dieser Stelle klarer. […] Für alle sei es daher unzweifelhaft: Christus stellt an diesem Ort des Evangeliums, wie auch an den übrigen, uns seine Gnade und seine Güte vor Augen, wie das Gesetz zu verstehen sei und Mose recht ausgelegt werde.227
Calvin übernimmt auch im zweiten Satz Luthers Text. Aber der erste enthält eine Kritik am Dekalog, die Luther nie erhoben hätte. Luther setzt an den Geboten nicht aus, sie seien „nicht klar genug“, sondern er stellt lediglich fest, sie seien negativ gefasst, während Christus sie positiv auslege. Die Gebote behalten also ihre Bedeutung. Das ist bei Calvin offensichtlich nicht der Fall. Dies sei an dem einzigen Beispiel näher betrachtet, das Calvin anführt. Es betrifft die erste Seligpreisung, ‚selig sind die Armen im Geist‘. Also beachtet bitte, ihr Christen, Gottes einzigartige Wohltat uns gegenüber ! Er lässt uns nicht länger im Dunklen schlafen, sondern er erweckt uns aus tiefem Schlaf. Das Angefangene und Unfertige verfeinert und vervollkommnet er. Die ‚Alten‘ hatten das Gebot, sie sollten keine anderen Götter haben. Da sie sich in höchster Unwissenheit bewegten und des Geistes nicht teilhaftig waren, haben sie gemeint, es müsse nur von den Bildern verstanden werden, dass sie keines für Gott halten und anbeten würden. Das ist nicht ganz für gottlos zu halten. ‚Die Bilder der Heiden aus Silber oder Gold sind ihrer Hände Machwerk. Sie haben einen Mund und sprechen nicht.‘ [Ps 115,4f] Wahrlich, da diese (Merkmale) sehr wahr und sehr sicher sind, befriedigen sie dennoch nicht. Der Herr wünscht vielmehr ein Herz, das sich an keine andere Sache oder Kreatur hingibt. (usw.)228
227 StA 1, 1, 14, Z. 15f und 16, Z. 2–5. 228 StA 1,1, 16, Z. 8–18.
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Die Gebote Moses sind also „angefangen und unfertig“, Christus „verfeinert und vervollkommnet“ sie. Ja, noch mehr: Die Zeit vor Christus ist Schlaf im Dunkeln; jetzt erweckt er aus tiefem Schlaf. Erneut zeigt sich: Calvin ist Antinomist; er ist Anhänger des Faber Stapulensis. Zur Bekräftigung sei ein Zitat Fabers angeführt. Dieser schreibt in der Vorrede zum Druck der Evangelien in französischer Sprache im Jahr1523: Das einfache Volk kann nicht in seiner Sprache das Evangelium Gottes lesen. Sind nicht die Christen, die Kinder Gottes, in der schlimmen Lage, nicht zu lesen das neue Gesetz, das Gesetz des Lebens und der Gnade, so wie die Juden das alte Gesetz haben, dessen Diener sie sind? Werden wir so schlimm dastehen in unserem (neuen) Gesetz wie die Juden in dem ihrigen noch zu dieser Zeit? Welche unter ihnen kann man nicht fragen nach einer Stelle ihres alten Gesetzes, welche sie nicht sofort beantworten können? Und dennoch steht geschrieben von den Christen bei Jeremia (31, 33) Gott der Herr sagt: ‚Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres geben und werde es schreiben in ihr Herz‘. Und welches Gesetz ist gemeint, wenn nicht das evangelische Gesetz, die Schriften des Neuen Testaments?229
Für Faber ist das mosaische Gesetz das Gesetz der Juden, während das Gesetz des Evangeliums das der Christen ist. Unten wird noch weiter darauf einzugehen sein. 3. Das Urteil der frühsten Biographen Colladon schreibt: „Die Gelegenheit für Unruhen bestand, als der genannte Rektor Cop in einer Rede, die (wie es üblich war) ungefähr am sogenannten Fest Allerheiligen gehalten wurde, über die Angelegenheit der Religion weiter (reichend) und reiner sprach, so dass der Gerichtshof (Parlament) es nicht als gut erachtete.“230 Der Komparativ „weitergehend und reiner“ schränkt ein; die gebotene Lehre war nicht „rein“. Beza berichtet im Jahr 1575 genauer: Nach allgemeinem Brauch hielt Nikolaus Cop, Rektor der Pariser Akademie, am 1. November (1533) eine Rede. An diesem Tag wurde von den Päpstlichen die Allerheiligste (Maria) gefeiert. Calvin hat diese Rede geliefert, in welcher reiner und offener als sie vorher gewohnt waren, über die Religion geredet wurde.231
„Reiner und offener“ bedeutet, dass auch Beza die Rede noch nicht für reformatorisch hielt. Damit stimmt die vorstehende Analyse überein. Beza und Colladon geben allerdings keine Begründung für ihre Beurteilung. Aus dem Umstand, dass Beza in der Vita I die Rede gar nicht erwähnt und Col229 HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 138 (Nr. 69). 230 CO 21, 56. 231 CO 21, 123.
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ladon in der Vita II Calvins Name nicht nennt, sondern nur die Vita III von beidem berichtet, zieht K. MÜLLER den Schluss, dass Calvin gegenüber seinen Gefährten in Genf sehr zurückhaltend war.232 In Wahrheit sprachen alle erst in dieser Weise über das Ereignis, weil die Rede nicht reformatorisch war. Dies wurde auch deutlich vergemerkt. Calvin hat wahrscheinlich auch den Nachdruck der „Epistles et Evangiles“ Fabers in Genf aus dem gleichen Grund verhindert, wie noch zu zeigen ist.
Kapitel 6: Die Ereignisse in Paris in Calvins Abwesenheit im Jahr 1534 und seine Reisen in diesem Jahr 1. Die Rückkehr des Königs im Februar 1534 Bucer schreibt am 3. Februar 1534 an Ambrosius Blarer:233 Über den Franzosen [Franz I.] haben wir Milderes erfahren. Mit dem Rektor verhält es sich so, wie ich geschrieben habe, mit den anderen nicht ebenso. Die Königin von Navarra widersteht den Versuchen der Bösen standhaft. Nun befindet sich der Landgraf bei dem Franzosen [Treffen am 17. Januar 1534 in Bar-le-Duc], was uns äüsserst beschwerlich ist. Was ist das anderes, als nach Ägypten zu gehen?
Bucer scheint die Pläne des Landgrafen zur Besetzung Württembergs nicht zu kennen. Diese Verhandlungen haben aber die Änderung im Verhalten des Königs gegenüber den Protestanten veranlasst. Anfang Februar kehrte Franz I. nach Paris zurück. Am 28. Februar schreibt Myconius aus Basel an Bullinger, er habe am Tag zuvor einen adeligen, im evangelischen Bekenntnis bewährten Franzosen getroffen, der ihm berichtete: Was der König treibt, weiss man nicht. Dies steht für mich fest, er will dem Evangelium nicht übel und, während er sich verstellt, verstellt er sich aus keinem anderen Grunde, als dass er es wegen der Päpstlichen in seinem Königreich anders nicht kann. Wenn er es nicht tut, dann um Teile Italiens zu besitzen, wie er es wünscht. Du wirst sehen, was an Freundschaft mit dem Papst und den Päpstlichen übrig bleibt. Was ich sage, hat sich bereits vollauf hinsichtlich der vier Personen234 bewiesen, die in Paris gefangen gehalten wurden und bisher wegen des Evangeliums im Gefängnis sind. Denn er hat sie gerettet, während Beda sie den Flammen übergeben wollte. Dann zwang er Beda, dass er sich mit ihnen persönlich treffen musste, um seine Unwissen-
232 Calvins Bekehrung, 231. 233 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 131, Anm. 11. 234 Gérard Roussel, Élie Corauld, Bertaut und ein Unbekannter. HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 146, Anm. 2.
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heit zu zeigen, so dass er in großer Schande abtrat. Er hat schimpflich sein Geschwätz in Bezug auf die Schrift Gottes gezeigt.235
Der Berichterstatter beschreibt die Politik Franz I. zutreffend. Er muss gute Beziehungen zu den Männern am Hof haben. Die Freilassung der evangelischen Prediger beweist, dass der König zu seiner europäischen Politik zurückgekehrt ist. Der Tumult um die Rektoratsrede Cops unterbricht nur für kurze Zeit die Erreichung seiner Ziele. Die Verfolgungen sind nur ein Zugeständnis an die Traditionalisten im „Parlament“ und in der Sorbonne. Nach seiner Rückkehr nach Paris erwartet den König eine Machtprobe mit Beda und seinen Gesinnungsgenossen. Bulaeus gibt in seiner Universitätsgeschichte Auskunft über die Ereignisse.236 2. Beda und die königlichen Lektoren Cops Rede gab Anlass, gemäß Bedas Grundsätzen vorzugehen. Der Student Manrique fährt in seinem Brief an Vives fort: Vergessen habe ich, über die griechischen Studien (literis Graecis) zu berichten. Nach dem Verschwinden des Rektors werden alle Vorsteher der Collèges im Obersten Gericht zusammengerufen. Von den Richtern (consules) wird verhandelt, dass alle Griechischstudien gänzlich aufgehoben werden und die Professoren schweigen sollen. Von diesen steht einer auf und sagt: ‚In der Tat, meine Herren, wenn ihr die Griechischstudien bis auf die Wurzeln ausreisst, was soll im Gottesdienst mit dem Kyrie eleison geschehen?‘ Dennoch hat man inzwischen verboten, dass, bis der König zurückkommt, die Werke weder Melanchthons, noch des Stapulensis, noch des Erasmus öffentlich in Vorlesungen behandelt würden. Sodann beraten sie auch darüber, dass nicht Terenz, nicht Plautus, auch nicht viele Werke des Aristoteles in Vorlesungen studiert werden sollen, zudem auch Cicero. Aber Gott wird ihnen eine Grenze setzen. Deshalb muss darum gebetet werden, dass er uns einen gesunden Verstand und einen rechten Geist gebe.
„Dem Latomus, dem Toussain und dem Danès verbot das Gericht (Senat), wie ich jetzt erst erfuhr, die griechischen Vorlesungen.“ Die Beschlüsse richteten sich gegen das Collège de France, das der König zur Förderung des Humanismus geschaffen hatte. Auseinandersetzungen waren unvermeidlich. Noch vor der Rückkehr des Königs erschienen im Lateinischen Viertel Maueranschläge, in denen die Professoren ihre Vorlesungen ankündigten: Guidacerius und Vatable über die Psalmen; Paradies über die Sprichwörter Salomonis, Danès über ein Buch des Aristoteles. Es ist anzumerken, dass die Schriften des Aristoteles auch Unter235 HBBW, 4, 74 (Nr. 331). 236 Siehe die Darstellung von SCHURHAMMER, G., Franz Xaver, Bd. 1, 189–191.
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richtsstoff in der Artistenfakultät waren. Die königlichen Lektoren leisteten also Widerstand bzw. sie setzten den bisherigen Brauch fort. Der Syndicus der Theologischen Fakultät reichte eine Eingabe beim Gerichtshof (Parlament) ein des Inhalts, dass keine Vorlesungen über die Heilige Schrift ohne Erlaubnis der Fakultät zu gestatten seien. Die Professoren seien Grammatiker und Rhetoriker ohne theologisches Studium. Der Präsident des Parlaments rief die Professoren am 14. Januar zu sich und setzte für den nächsten Tag eine Aussprache in seiner Gegenwart an. Beda führte dort aus, er wolle die königlichen Professoren nicht hindern, hebräische und griechische Vorlesungen zu halten. Aber er fürchte, sie würden die Vulgata in Misskredit bringen, die die Kirche seit 1100 Jahren approbiere. Humanisten wie Erasmus und Lefèvre und andere hätten die Bibel in ihren Übersetzungen zu verbessern versucht und damit der Christenheit Schaden zugefügt. Sie können Zweifel an der kirchlichen Übersetzung bei den Zuhörern erregen. Falls das Gericht den Lektoren die Schriftauslegung erlaube, dann soll es ihnen verbieten, die Vulgata zu tadeln, und ihnen gebieten, alles zu unterlassen, was die lutherische Sekte fördern könne. Der Verteidiger (der Lektoren) führte an, man habe bei ihnen keine glaubenswidrigen Ausführungen gefunden. Der König habe ihnen den Lehrauftrag erteilt, das genüge. Seit vier Jahren schon hätten jene die Heilige Schrift ausgelegt. Darüber habe sich bisher niemand beklagt. Darauf wurde geantwortet, die Schrift habe nicht nur einen verbalen, sondern auch einen mystischen Sinn. Sie sei ohne Theologie nicht zu erklären. Auch schleiche die lutherische Sekte umher und verspritze ihr Gift. Darum habe das Parlament auch neue Übersetzungen verboten. Das Parlament möge den König um die Entscheidung bitten, ob die Lektoren fähig seien, die Schrift auszulegen und zu übersetzen; er möge ihnen verbieten, in ihren Vorlesungen gegen die Vulgata zu reden. Der König unternahm aber gegen die Lektoren nichts. Bedas Vorstoß war gescheitert. 3. Die Fastenpredigten im Jahr 1534 Wieder kam die Fastenzeit heran. Myconius berichtet Bullinger am 8. April:237 Es währte die Unruhe, bis der König vom Gespräch mit dem hessischen Fürsten zurückkehrte. Dann ist nämlich wieder alles ruhig geworden; und nicht allein dies, sondern alles ist voller bester Hoffnung. Denn ein Augustinermönch [Corauld] predigt das Evangelium nahe dem Schloss Louvre unter großem Zulauf des Volkes. Im 237 Am 8. April 1534. HBBW, 4, 117f (Nr. 352); HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 160–162 (Nr. 459); ein ähnlicher Bericht von Berchtold Haller an Bullinger vom 21. März 1534; HBBW, 4, 94 (Nr. 340).
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Schloss selbst lehrt ein bärtiger Karmelitermönch ganz frei Christus. Er ist aus Italien und vom Papst seiner Nichte [Katharina von Medici] mitgegeben worden, damit er sich um sie kümmere. Die Königin, des Königs Schwester, leitet die Nichte des Papstes. Die namhaftesten Leute besuchen täglich jene Predigten. Zwei Bischöfe, der von Paris [Jean du Bellay] und von Senlis [Guillaume Petit] hören wegen des Luthertums kaum zu. Neulich haben D. vom St. Jean de Lateran, Vatable, Toussain und Danès, würdige Männer, und ebenso drei oder vier gleichermassen sehr gelehrte Mitglieder der medizinischen Fakultät sich als Schüler Christi zu erkennen gegeben, indem sie täglich die Predigten hören. Es klagte neulich der Sophist de Picart über die Predigt: ‚Bei uns geschieht es, dass ich niemand ausser alten Mütterchen um mich sehe. Die Leute gehen zum Schloss Louvre‘.
Die Situation des Jahres 1533 wiederholte sich also. Beda schrieb nun an den Papst und klagte, der König unterstütze die Häretiker. Aber Clemens VII. sandte den Brief an Franz I. weiter. Dieser ließ Bedas Papiere im Collège Montaigu beschlagnahmen und Beda am 1. September 1534 gefangensetzen.238 Beda war also selbst dem Papst suspekt, wie ein Ereignis aus dem Vorjahr beweist. Der Mittelsmann zu Erasmus, Cognatus, hatte am 1. März 1533 an Amerbach in Basel geschrieben: Die Pariser Theologen haben die Bücher [des Kardinals] Cajetans durchsucht und ihnen einige Artikel als Irrtümer entnommen. Sie haben sie mit Widerlegungen versehen und an den Papst gesandt. Aber der summus pontifex ist ihnen zuvorgekommen und hat ihnen bei Strafe der Exkommunikation untersagt, irgend etwas über Cajetan im Volk zu verbreiten. Ich übersende die Artikel zusammen mit dem vollständigen Pasquil.239
Noch im Juni 1535 war Beda im Gefängnis.240 Der König war zu sehr Humanist, um gegen seine Lektoren in der Frage der Bibelauslegung vorzugehen. Auch wollte er den Einfluss der Theologische Fakultät und des Eiferers Beda beschneiden. 4. Die Reform der Artistenfakultät Vermochten die Theologen gegen die königlichen Lektoren nichts auszurichten, so besannen sie sich nun auf ihr Recht der Selbstverwaltung. Am 3. Juli 1534 trat die Generalversammlung der Sorbonne zusammen und
238 HERMINJARD, A.L., 3, 272, Anm. 7; vgl. SCHURHAMMER, G., Franz Xaver, 191. 239 HARTMANN, A. (Hg.), Die Amerbachkorrespondenz, Bd. 4, Basel 1953, 190 (Nr. 1723). Anm. 2: „Beide Stücke sind erhalten: UB Basel, Autographa lit. C.“ 240 Ammerbachkorrespondenz, Bd. 4, 291, Anm. 4 (Nr. 1857).
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ordnete die Artistenfakultät neu bzw. sie bestätigte die alte Ordnung. SCHURHAMMER fasst den Bericht des Bulaeus zusammen.241 Den Lateinlehrern wurde eingeschärft, sie hätten die Jugend in den Anfangsgründen der Wissenschaft zu unterweisen und die Dialektik den Dialektikern zu überlassen. Die Dialektiker aber sollten im ersten Jahr die Schüler im Disputieren üben und dafür nach altem Brauch disputierbare Fragen diktieren; in Logik und Physik aber sollten fortlaufend der Text des Aristoteles erklärt werden, ohne jedoch die üblichen Disputationen zu vernachlässigen.
Diese Anordnung enthält keine Besonderheiten. Allerdings fällt auf, dass die drei Anfangsfächer Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das sogenannte „Trivium“, streng auf ihre eigentliche Aufgabe begrenzt werden. Weder gehört zur Grammatik Griechisch und Hebräisch, noch sollen auf humanistische Weise klassische griechische und lateinische Schriftsteller gelesen und deren Ethik gelehrt werden. Die Rhetorik bleibt ungenannt; die Humanisten pflegten sie zur Einprägung der Moral. „Dialektik den Dialektikern“ ist entweder eine selbstverständliche Anweisung, oder es verbergen sich hinter den Dialektikern die Theologen. Darauf weist hin, dass die aristotelische Logik und Physik traktiert werden soll, also die Grundlage der Dialektik. Da diese auch die Metaphysik und also die Gotteslehre umfasst, entschied sich hier die Zugehörigkeit zur Schule des Thomismus, Skotismus oder Okkamismus.242 Oder es konnte hier alle Metaphysik geleugnet und die biblische Gotteslehre entfaltet werden im Sinne des „Luthertums“. Dies alles sollte vermieden werden. Die Abgrenzung vom Luthertum und Humanismus wird im weiteren Bericht bestätigt. Die unsittlichen Schriften der Häretiker, welche die Jugend an Leib und Seele verderben, seien zu entfernen; keine des Luthertums verdächtige Person sei zu dulden, und man forsche bei den Studenten nach, ob sich unter ihnen sittenlose Kameraden befänden, die verdächtige Bücher hätten und andere zu verführen suchten. Die Schüler sollten in guter Zucht und zu einem ehrbaren, sittenreinen Leben angehalten werden, und die Professoren an erster Stelle sollten sie zum Gottesdienst einladen. Die Studenten aber sollten verpflichtet werden, der Messe beizuwohnen und die Tagzeiten U[nserer] L[ieben] Frau sowie die sieben Busspsalmen und die Allerheiligenlitanei zu beten; und das Salve Regina und die übrigen Gebete, die man nach altem Brauch in den Kollegien singe, seien nicht zu unterlassen. Ferner solle man besonders ausserordentliche Gebete für den König, für die Unversehrtheit des Glaubens und für alle Verstorbenen verrichten und zusehen, dass die Schüler statt der Gebetbücher nicht weltliche Bücher mit zum Gottesdienst brächten.
241 SCHURHAMMER, G., Franz Xaver, Bd. 1, 197f. 242 GANOCZY, A., The Young Calvin, 59f.
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Es folgen Anordnungen allgemeinen Inhalts. Die Studenten seien unter schwerer Strafe anzuhalten, Latein zu reden. Man solle ihnen nicht erlauben, ohne Aufsicht das Kolleg zu verlassen, und die Professoren sollten mit gutem Beispiel vorangehen und sich nicht in Ballspielhäusern und anderen unpassenden Orten oder gar in den Kneipen herumtreiben. Sie sollten nicht mit langen Bärten Vorlesungen halten, keine zu kurzen Kleider oder durchbrochene Ärmel, sondern die übliche Regententracht und in der Schule das übliche Professorenabzeichen (capitia), die Schüler aber und die nichtgraduierten Lehrer sollten zum Unterschied von den graduierten den Gürtel über dem Scholarenkleid tragen.
Ob das energische Durchgreifen der Universität Erfolg hatte, ist nicht bekannt. Dem Zugriff des Königs waren die Reformen entzogen. Zudem verordnete die Universität nur, was zuvor Gesetz war, insbesondere in Bezug auf die „Lutheraner“. 5. Die Plakataffäre im Oktober 1534 Erneut berichtet Sturm dem Melanchthon am 6. März 1535:243 Ich habe dir im vorigen Jahr beschrieben, wie glücklich wir dastehen, wie wohl auf des Königs Billigkeit zu hoffen ist. Wir gratulierten uns damals wechselseitig. Aber an dieser günstigen Lage haben sich bei uns in Raserei verfallene Menschen vergriffen. Denn im Oktober – weil sie meinten, es genüge nicht, dass die Anfänge erfreulichen verlaufen, und weil sie fürchteten, vielen von ihrer Partei geschehe zu wenig, wenn sie nicht aus schlauen, wie es ihnen schien, vielmehr aber, wie die Sachlage zeigt, aus ganz törichten und aufrührerischen Überlegungen Königreich und Volk in Verwirrung setzen würden. – Schmähschriften über die kirchlichen Ordnungen, über die Messe und die Eucharistie haben sie gleichzeitig fast in ganz Frankreich bei Nacht an allen Ecken angeschlagen, zum gewaltigen und schrecklichen Aufschrei, auch an das Zimmer des Königs, wodurch sie noch gewissere und auch noch mehr Verderben bringende Gefahren verursachten. Denn das Volk ist dadurch verwirrt worden, das Denken vieler erschreckt, die Obrigkeit erbittert, der König entflammt, strenge gerichtliche Untersuchungen sind verordnet worden, nicht unverdient, wenn in dieser Sache wenigstens Mass gehalten würde. Einige der Mitwissern sind ergriffen und bestraft worden, einige sich rechtzeitig Rettende sind geflohen. Die meinten, die Gefahr bestehe für sie nicht, und die nicht befleckt waren durch dieses Verbrechen, sie wurden ebenfalls der Strafen teilhaftig. Denunzianten und Anzeige Erstattende wurden öffentlich aufgeboten. Es ist erlaubt, zugleich Zeuge und Ankläger in dieser Sache zu sein. Nicht grundlos ist, was ich schreibe, und es verhält sich so, dass ich nicht alles schreibe, und nicht so schreibe, wie es die ganz jammervolle Lage erfordert. Achtzehn sind verbrannt worden, viele erwartet dieselbe Strafe. Die Gefahren breiten sich 243 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 267–270 (Nr. 498); CR Mel. 2, 855–859 (Nr. 1262).
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täglich mehr aus, und es gibt keinen, der vornehm ist und (deshalb) nicht Schmähungen und Untersuchungen befürchten muss, und der nicht vom Schmerz über die unwürdigsten Schauspiele ergriffen wird. Unsere Gegner herrschen, und das umso mehr, als sie gerechte Gründe zu haben scheinen, so dass sie in den zu unterjochenden, heftig erregten Angelegenheiten die Oberhand haben.
Anschließend macht Sturm eine gedankliche Wende. Ihre Hoffnung sei, dass dem Volk die Brutalität missfalle und der König gutem Rat folge. Die Brüder du Bellay hätten ihn bewegt, die gefangenen Deutschen freizulassen. Barnabas de Vorè habe mit dem König über Melanchthon gesprochen, der wünsche, dass er nach Paris komme, um mit ihm zu reden. De Vorè werde ihm die Angelegenheit persönlich erklären. Der König sandte Melanchthon am 28. Juni ein Einladungsschreiben. Am 16. Juli erließ er eine Generalamnestie, die Sakramentierer ausgenommen. Am Tag zuvor wurde Beda in einem Kloster interniert. Der Weg zu Ausgleichsverhandlungen war frei. Spricht Sturm im Brief an Melanchthon als Diplomat, so der Student Konrad Gessner im Brief an Bullinger am 27. Dezember 1534 als Betroffener. Ich habe Paris verlassen und bin am 9. Dezember nach Strassburg gekommen, zum einen, weil ich von Tag zu Tag höhere Ausgaben hatte, zum andern, weil ich es nicht mehr aushielt, Zuschauer bei einer so großen Tyrannei zu sein, von der ihr, wie ich annehme, zuvor gehört habt. […] Von einigen Unbesonnenen sind französischsprachige Schmähschriften, die dem Vernehmen nach in Neuchatel gedruckt sind, angeschlagen worden. Viele halten Farel und einen Augustinermönch für die Autoren. Thema war die Ablehnung des Missbrauchs der Messe und der Gegenwart des Leibes [Christi] in der Eucharistie. In derselben Nacht [17./18. Oktober] sind sie auch in Paris, Orléans oder Genebi [??] und an die Tür des königlichen Schlafzimmers [in Abwesenheit des Königs] angeschlagen worden. Dies war das Signal zum Krieg. Unzählige sind gefangen gesetzt worden. Ein Gerücht geht um, es seien 300 oder mehr. Auf neue und unerhörte Art wurden sie lange und elendig gefoltert, verbrannt, die Zungen herausgerissen, Hände abgehackt. Weiter sind unendliche (Anklage)Listen auf gestellt worden mit den Namen derer, die gefangen genommen werden sollen. Doch sind bisher zwei Studenten – es ist jetzt der vierte Tag – zu uns gekommen und haben sich dem durch die Flucht entzogen, auch eine sehr vornehme Frau mit Dienern und Adeligen. Sie sagen, nur zehn seien bisher verbrannt worden, der König käme zurück nach Paris, das Gericht (Senat) erwarte dessen Urteil, da die Zahl der Gefangenen so groß sei. Nachdem ich solche Schrecklichkeiten und Abscheulichkeiten nicht mehr sehen noch hören will, nachdem ich passende Gefährten für die Reise gefunden habe, bin ich abgereist. Bevor dies begann, schätzten alle deine Bücher, so dass es zum Staunen war. Sie kauften sie eifrig und sprachen von dir mit grösster Verehrung. Aber jetzt, da fast jedes einzelne Haus durchsucht wird, übergeben sie alle Werke der Frommen teils dem Feuer, teils werfen sie sie in die Seine. Ich und ein gelehrter Spanier, die wir
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viele Bücher besassen, wurden schliesslich von dem Gastwirt entdeckt, der uns nur bei sich behalten wollte, wenn wir die Angelegenheit einem Geistlichen vorlegten, der uns freisprechen würde. Wir bewirkten, dass sie bei dem Bruder des Bischofs [Renè du Bellay] verhandelt wurde, der damals sein Vertreter war und dem Evangelium günstig gesonnen ist. So kamen wir davon. Aber er selbst ist gefangengesetzt worden. Denn an seinen Bruder, den Bischof von Paris, obwohl man weiss, dass er evangelisch ist; wagen sie sich noch nicht heran.244
Am 25. Januar 1535 wurde in Paris an allen Strassenecken eine Liste der 73 „Lutheraner“ durch Ausruf bekannt gemacht, die aus Paris geflohen waren, damit sie persönlich (vor Gericht) erschienen. Wenn sie nicht erscheinen würden, wäre dies eine Beeinträchtigung des Falles, und sie würden aus dem Königreich verbannt, ihr Hab und Gut konfisziert und zum Scheiterhaufen verurteilt. Eine Liste mit 51 Namen ist erhalten, die V.-L. BOURILLY und N. WEISS publiziert haben.245 Unter ihnen sind Pierre Caroli, der Augustiner Jean Corauld, Clement Marot, Mathurin Cordier und viele Buchhändler und Buchdrucker. Nicht geflohen war und zum Scheiterhaufen verurteilt wurde der reiche Kaufmann Étinne de la Forge. Er wurde am 15. Februar 1535 bei dem Friedhof Saint-Jean verbrannt. Ein Bericht besagt: Nachdem er ehrenvoll öffentlich Abbitte vor (der Kirche) NotreDame geleistet hatte, „schwebte er an einem Galgen und wurde erdrosselt und dann verbrannt, ungeachtet dass durch seinen Schrei klar war, dass er noch ganz lebendig war.“246 Die neue Art des Verbrennens bestand darin, dass der Verurteilte an einem Galgen über dem Scheiterhaufen hochgezogen und mehrmals wieder ins Feuer herab gelassen wurde; er wurde „gebraten“.247 Calvin verdankte de la Forge viel und muss von der Kunde seines Sterbens sehr betroffen gewesen sein. Verfolgungen wurden aus vielen Städten Frankreichs gemeldet. Angesichts der schrecklichen Verurteilungen, die bei geringstem Verdacht erfolgten, verließen Du Tillet und Calvin Frankreich. 6. Calvins Reisen im Jahr 1534 Ende Januar 1534 trafen sich Franz I. und Philipp von Hessen. Nach der Rückkehr des Königs nach Paris trat dort Ruhe ein, wie Myconius berichtet. Dies zeigte sich auch daran, dass Bedas Vorgehen gegen die königlichen Lektoren erfolglos blieb. Die Protestanten blieben unbehelligt bis zur Pla244 HBBW, 4, 457–459 (Nr. 497); HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 235–239 (Nr. 488). 245 DU BELLAY, Jean, Les protestants et la Sorbonne, BSHPF 53, 1904, 125–128. 246 BOURRILLY, V.-L./WEISS, N./DU BELLAY Jean, Les protestants et la Sorbonne, BSHPF 53, 1904, 133. 247 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 237, Anm. 10f.
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kataffäre im Oktober. Calvin nutzte diese Zeit der Ruhe vor Verfolgungen, indem er von Angoulême aus Reisen unternahm. Die neueren Lebensbeschreibungen Calvins beginnen die Aufzählung der Reisen mit der Notiz: Im April besuchte er Faber Stapulensis in Nerac. Doch berichtet Colladon lediglich: Während er in Sangtonge lebte, reiste er nach Nerac, um den hochgeachteten Jacques Lefèvre d’Etaples zu sehen. Er hatte die Kinder des Königs Franz unterrichtet, war sehr alt, doch war er von der Sorbonne verfolgt worden und hatte sich deshalb in jenes Gebiet zurückgezogen. Der Greis war erfreut, Calvin zu sehen und sich mit ihm zu bereden.
Beza nennt Einzelheiten der Verfolgung Fabers und wertet das Zusammentreffen sehr hoch.248 Da die Lebensbeschreibungen vom April ausgehen, lassen sie die Reise nach Noyon im Mai folgen. A. GANOCZY stellt fest, dass Calvin von Nerac nach Noyon 650 bis 700 Kilometer, wahrscheinlich zu Pferd, zurückgelegt habe.249 Für die Annahme, auf die Reise nach Nerac sei die nach Noyon gefolgt, fehlt der Quellenbeleg. Vielmehr fährt Beza in seiner Vita Calvini fort: Calvin kehrte einige Zeit danach (aliquanto) nach Paris zurück, gleichsam durch Gottes Hand dorthin aufgerufen. Es war nämlich dorthin jener gottlose Servet gekommen, der damals schon sein Gift gegen die heilige Dreiheit verbreitete. Dieser suchte nichts mehr als ein heuchlerisches Gespräch an einer verabredeten Stelle und Zeit. Calvin wartete lange (und dies nicht ohne große Lebensgefahr, weil er damals gezwungen war, sich wegen der entfachten Wut der Gegner zu verbergen), aber er wartete vergeblich. Jener zeigte sich nicht einmal Calvin.250
Colladon beschreibt den Vorgang ausführlicher: Einige Zeit danach [sc. seinem Besuch in Nerac] kam Calvin nochmals nach Paris, zeigte sich aber nicht allzu sehr in der Öffentlichkeit, weil es nicht für ihn sicher war. Soviel ist gewiss, da Michael Servet zu der Zeit begann, seine Irrtümer auszustreuen, weigerte sich Calvin nicht, mit ihm zu sprechen, um zu versuchen, ihn davon abzubringen oder sogar sich mit ihm zu einigen und ihn durch das Wort Gottes zu widerlegen Dazu wurde verabredet, dass sich beide zu einer bestimmten Uhrzeit in einem bestimmten Haus in der Rue S. Antoine träfen. Calvin tat dies, nicht ohne Gefahr für seine Person. Aber genannter Servet erschien nicht, obgleich er lange Zeit auf ihn wartete.251
248 CO 21, 57 und 123. Margarete von Navarra berichtet dem Kurfürsten Friedrich II. von der Pfalz von einem Gespräch, das sie mit Faber kurz vor seinem Tod (1537) geführt habe. In ihm beklagt Faber, dass er das Evangelium vielen Menschen rein gepredigt habe, die dafür den Tod erlitten hätten. DOUMERGUE, E., Jean Calvin, Bd. 1, 402f; CADIER, Calvin, 51f. 249 The Young Calvin, 85. 250 CO 21, 123f. 251 CO 21, 57.
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Später hat Calvin in der Refutatio Servets berichtet: „Als er in Paris war, hat er mir drei Fragen geschickt, gleichsam sein Spiel (mit mir) treibend, damit ich sie erklärte. Dass ihm meine Antwort nicht genügte, wunderte mich nicht.“252 Es ist anzunehmen, dass dieser Briefwechsel auch ins Jahr 1534 gehört. Servet hatte schon in Basel im Oktober 1530 Oekolampad gegenüber antitrinitarische Gedanken geäußert und entschiedenen Widerspruch erfahren. Das Treffen mit Faber und dann vergeblich mit Servet muss vor der Plakataffäre im Oktober stattgefunden haben. Denn während der nachfolgenden grauenhaften Verfolgungen hat sich Calvin sicherlich nicht nach Paris gewagt. In Jahr 1534 verfasste er die Schrift gegen den Seelenschlaf (Psychopannychia). Da er sie im folgenden Jahr umgearbeitet hat, ist die Erstfassung unbekannt. Nur die Vorrede mit dem Datum „Orlèans 1534“ ist erhalten. Aus ihr geht hervor, dass die Gegner ihre Lehre nur mündlich oder durch heimliche Traktate verbreiteten; ihre Namen sind unbekannt. Ein Rückschluss auf das genaue Datum seines Aufenthaltes in Orleans ist nicht möglich. Es bleibt als festes Datum der 4. Mai 1534, an dem Calvin in Noyon seine Pfründe zurückgab. Warum er auf die Einnahmen verzichtete, ist unklar.253 Er war gerade 25 Jahre alt geworden und hatte damit das Alter erreicht, Priester zu werden. Doch war mit dieser Altersgrenze kein Zwang verbunden, sich zu entscheiden.254 Daher liegt nahe, dass er den Zeitpunkt nutzte, mit der römischen Kirche zu brechen. Die erwähnte Vorrede zur Psychopannychia aus dem Jahr 1534 enthält einen Abschnitt, der sich zur kirchlichen Einheit äußert. Ich will das Thema ohne jeden Hass behandeln, ohne irgend jemandes persönliche Beleidigung. Kurz gesagt, ohne freches Lästern, damit keiner zurecht klagen muss, er sei verletzt oder im Geringsten beleidigt. Freilich kann man heute einige Leute finden, die leidenschaftlich bewegt sind, mit rasender Lust zu zerpflücken, zu beissen und zu verhöhnen. Wenn du sie nur mit den Fingerspitzen berührst, schreien sie kläglich: ‚Die Einheit der Kirche wird zerrissen und die Nächstenliebe verletzt‘. Die Antwort an sie lautet: ‚Erstens, wir anerkennen keine Einheit als die in Christus, keine Nächstenliebe als die, dessen Band er selbst ist. Der Hauptpunkt ist also, die Nächstenliebe so zu bewahren, dass der Glaube bei uns heilig und unversehrt bleibt. Zweitens, damit diese Disputation durch keinen Verstoss gegen die Nächstenliebe durchgeführt werden kann, sollen sie nur solche Ohren mitbringen, wie ich die Sprache gebrauche gemäss meinem Vorsatz‘.255
252 CO 8, 481. 253 GANOCZY, A., The Young Calvin, 86, hält es auch für möglich, dass das Kapitel Calvin aus familiären Gründen zur Aufgabe der Pfründen zwang. 254 HWANG, J.-U., Der junge Calvin und seine Psychopannychia, Frankfurt, Bern, New York, Paris 1991, 84. 255 CO 5, 171/72.
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Die Erwähnung „einiger Leute“, die selbst heftig polemisieren und, wenn sie angegriffen werden, die Kircheneinheit und die Nächstenliebe in Gefahr sehen, sind offensichtlich nicht die Wiedertäufer, sondern katholische Theologen.256 Die Anabaptisten bewegte nicht die äußerliche Einheit der Kirche. Doch wer auch immer gemeint ist, Calvin setzt der äußeren Einheit die Einheit in Christus entgegen und verlangt, dass die Nächstenliebe mit dem Glauben übereinstimmt. Das Zitat aus dem gleichen Jahr, in dem auch die Zurückgabe der Pfründen erfolgte, beweist, dass er in der Tat mit der römischen Kirche gebrochen hat. Doch ist damit nicht mehr als die Bedeutung dieses Schrittes für Calvins Entwicklung geklärt. Der Eintrag im Register der Kathedrale von Noyon lässt übrigens offen, ob Calvin persönlich bei dem Verzicht anwesend war. Sein Bruder Charles, der schon vorher für die Verwaltung der Pfründe tätig war, kann ihn vertreten haben.257 Doch belassen wir es bei der Annahme, dass er damals nach Noyon gereist ist. Es ist nicht möglich, die Reihenfolge festzulegen, in der Calvin im Jahr 1534 die Orte Nerac, Noyon, Orlèans, Paris, bereiste. Doch wird er sich von Nerac nach Paris begeben haben. Auch wird der Ausgangspunkt Angoulême gewesen sein. Sieht man von Noyon ab, so ist auch der Zeitpunkt ungewiss. Er wird jedoch die Reisen vor der Plakataffaire im Oktober 1534 unternommen haben. Florimund de Raemonds Erzählung über die Zusammenkünfte der Evangelischen in Poitiers und Calvins führende Rolle unter ihnen, ist unzuverlässig.258 Auf ihn als Berichterstatte soll in einem Exkurs eingegangen werden, bevor Calvins literarische Tätigkeit in Angoulême betrachtet wird. Exkurs: Florimond de Raemond Die neueren Calvinbiographien schöpfen ihre Angaben über Calvins Aufenthalt in Angoulême hauptsächlich aus dem Werk des Florimond DE RAEMOND, L’Histoire de la naissance progrez et decadence de l’heresie de ce siecle, Bd. 1, 1623, 802. Dieser kennt eine Fülle von Einzelheiten, die 256 HWANG, J.-U., Der junge Calvin, 111: „Wir glauben, dass Calvin eine dramatische Situation konstruiert, um eigenes geharnischtes Benehmen zu rechtfertigen.“ Die genannten Vorwürfe erheben jedoch zum Beispiel Beda und die Theologische Fakultät der Sorbonne in ihrer Zensur der Épîtres et Évangiles (s. Kap. 7) im Jahr 1525. Sie nennt nicht nur häretisch, sondern auch „schismatisch“ das sola scriptura, das die Auslegung der „katholischen Doktoren“ (Prop. II.) und die „kirchlichen Konstitutionen“ (Prop. XIII) ausschliesst oder diese eine „jüdische Knechtschaft“ nennt (Prop. IX), oder die „katholischen Auslegungen der Heiligen Schrift“ verachtet. Zu sagen, der Glaube ohne Nächstenliebe sei kein Glaube, sei häretisch (Prop. XX). SCREECH, Épîtres et Évangiles, 42, 43, 44, 51. 257 HWANG, J.-U., Der junge Calvin, 84f. 258 L’Histoire de la Naissance, Progrèz et Décadence de l’Herésie de ce siècle, VII, 1623, 906. Vgl. CADIER, Calvin, 54–56.
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sonst unbekannt sind. Wenn auch der Quellenmangel die Forscher nach diesem Werk greifen lässt, so muss doch in Betracht gezogen werden, dass der Verfasser dauernd gegen Calvin polemisiert. Dies erweckt bereits Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Angaben. Auch sollte man in der Forschung nicht einzelne genehme Details aufgreifen und übernehmen, sondern des Verfassers Mitteilungen insgesamt betrachten. Die wichtigsten sind folgende: – Als Student „von Gestalt ausgetrocknet und schmächtig besass er einen immer witzigen, anschaulichen und kraftvollen Verstand. Er war schlagfertig und kühn in seinen Angriffen Er fastete viel, schon in jungen Jahren, sei es wegen seiner Gesundheit und um seine Migränen zu bekämpfen, unter denen er ständig litt, oder um geistig freier und beweglicher zu sein, damit er die Leistungen seines Gedächtnisses und seine Fähigkeiten beim Schreiben und Studieren verbessern könne.“ Der Verfasser beruft sich auf Beza, der von oftmaligen zweitägigen Fasten und von Magenbeschwerden berichtet.259 Woher die übrigen Nachrichten stammen, bleibt unklar. Sie scheinen Ausschmückungen zu sein. – Drei Jahre habe Calvin bei Louis du Tillet in Angoulême geweilt.260 Er habe du Tillet ein wenig Griechisch beigebracht und wurde in Claix der Kleine Grieche genannt.261 – „Angoulême war die Schmiede, auf deren Amboss dieser neue Vulkanus seine seltsamen, seither veröffentlichten Ansichten schmiedete. Denn hier hat er erstmals das Netz gesponnen, mit dem er die Christenheit überrumpeln wollte, seine Institutio, die man den Koran oder eher noch den Talmud der Ketzerei nennen sollte.“262 – „Calvin erfreute sich allgemeiner Schätzung und Achtung und war von allen geliebt, denen die geistigen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit etwas bedeutete. Er pflegte in seine Äusserungen und Ansprachen Bemerkungen über die Religion einzustreuen und schoss immer ein paar Pfeile gegen das Ansehen und die Überlieferungen der Kirche ab. „Er traf sich mit Chaillou, dem Prior von Bouteville, mit dem Kaplan von Bassac, mit Herr von Torsac und seinem Bruder, dem Präsidenten de La Place.“ In Girac (bei Angoulême) redete er mit ihnen über die Absichten seiner Institutio, […] er las ihnen Kapitel seines Buches vor, über den Aufbau und den Gedankengang“ (usw.).263 – „Calvin verbrachte mehrere Jahre in Angoulême. Äusserlich trug er immer die Maske eines Katholiken. Er ging zur Kirche, aber so selten wie möglich. Das Domkapitel berief ihn einige Male zu einer lateinischen Predigt vor der versammelten 259 885. 260 883. 261 Ibid. 262 Ibid. 263 884. Verbürgt ist nur das Zusammentreffen mit Pierre de la Place, der im Jahr 1550 an Calvin schrieb: „Ich vergesse nicht, wie du mich durch deinen Umgang und deine Gelehrtheit besser gemacht hast, als wir noch in Angoulême waren.“ CO 13, 681 (Nr. 1425).
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Synode, wie das üblich war, genannt das Mahl. Dies geschah zwei oder drei Male in der Kirche St. Pierre. Während seines Aufent halts in Angoulême tat er in der Religionsausübung nichts, was gegen die katholische Religion verstiess, keine Ermahnung [Predigt], kein Gebet“ (usw.).264 – „Lefèvre schloss sich den Ansichten Calvins mehr an [als Roussel]. Er wollte ihn aber bremsen, weil er befürchtete, dieser feurige Geist bringe sonst alles in Unordnung. Daher gab er ihm den Rat, seine Überzeugungen auf Melanchthon auszurichten.“265 – In Poitiers hielt Calvin den ersten evangelischen Gottesdienst.266
Vieles in den Berichten ist „Sage“, „so dass es heute kaum noch möglich ist, Dichtung und Geschichte zu scheiden.“267 Schon die Bemerkung ist falsch, Calvin sei mehrere Jahre in Angoulême geblieben. Hingegen bezeugt La Place später in einem Brief an Calvin: Ich werde nie vergessen, wie durch den Umgang mit dir und durch deine Gelehrsamkeit, als wir in Angoulême zusammen waren, du mich besser gemacht hast, und wie ich dir täglich mehr und mehr schuldete. Und ich sehe nicht genugsam, was ich in diesem sterblichen Leben für die Unsterblichkeit empfangen habe.268
MERLE D’AUBIGNÉ, J.H., Geschichte der Reformation in Europa zu den Zeiten Calvin’s, Bd. 3, Elberfeld 1865, 3–19, gebraucht unkritisch die Schilderung Florimond de Raemonds und schmückt sie weiter aus.
Kapitel 7: Calvins Predigtentwürfe und seinWirken in Angoulême im Jahr 1534 A. Alte und neue Quellen 1. Calvin in Angoulême Nachdem genügend nachgewiesen worden ist, dass Calvin schon in Paris ein Anhänger des Faber Stapulensis war, ist dem Umstand nachzugehen, dass er in Angoulême ein Mitarbeiter Fabers an dessen Predigtentwürfen wurde. Denn Colladon berichtet in seiner Biographie Calvins aus dem Jahr 1564 in französischer Sprache:
264 809. 265 922. 266 892. Der ausführliche Bericht s. CADIER, Calvin, 54f. 267 KAMPSCHULTE, F.L., Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf, Bd.1, Leipzig 1869, 246. 268 Petrus de la Place an Calvin o.D.; CO 13, 681; Nr. 1425.
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Von Paris ging Calvin fort, um in Angoulême zu bleiben. Und er lebte bei einem jungen Mann aus reichem Hause, der dort eine Pfründe hatte. Und es ereignete sich, dass dieser junge Mann ihn bat, einige Muster für christliche Predigten und Ermahnungen zu schreiben. Sie sollten in gemein(verständlich)er Sprache durch bestimmte Pfarrer (Cures) in den dortigen (Pfarr)Bezirken vorgetragen werden, um den Leuten einen Vorgeschmack von der wahren und reinen Erkenntnis ihres Heils durch Jesus Christus zu geben.269
Beza hat den Text in seiner lateinischen Biographie aus dem Jahr 1575 gekürzt. Louis du Tillet ist bei ihm ein „Freund“, die „kurzen christlichen Ermahnungen“ werden von den Gemeindepfarrern „im Gottesdienst“ vorgetragen, „um die Leute allmählich für das Studium der zu erforschenden Wahrheit zu gewinnen.“270 Der Text Colladons ist vorzuziehen, denn er nennt Calvins Predigten „Muster für christliche Predigten und Ermahnungen“ und schränkt deutlich ein: Sie geben nur eine Vorgeschmack der reinen Erkenntnis. Doch macht auch Beza diesen Vorbehalt: Calvin wollte die Zuhörer „allmählich“ gewinnen. Es ist nun verwunderlich, dass die Calvinforschung von diesen Angaben keine Notiz genommen hat.271 Es wurde auch kein Versuch unternommen, diese Musterpredigten zu finden. 2. Die Predigtentwürfe der Gruppe von Meaux Nun war aber im Jahr 1524272 ein Band solcher Musterpredigten erschienen, mit dem Titel „Epistolae et Evangelica secundum usum Diocoesis Meldensis“ – Epistel und Evangelien wie sie in dem Bistum Meaux verwendet werden. Dieser Titelanfang wird in der Zensur der Pariser Sorbonne vom 6.
269 CO 21, 56f. 270 CO 21, 123. 271 Eine Ausnahme bilden E. STÄHELIN, Johannes Calvin, Bd.1, Elberfeld 1863, 32 (LASRK IV,1) und PARKER, T.H.L., John Calvin, 31. 272 Das Datum ist dem Brief Anémond de Cocts an Farel in Montbéliard, datiert Basel 2. Sept. 1524, zu entnehmen: „Ich habe Wattenschnee aufgefordert, dir 200 ‚Orationes’ zu schicken mit 50 ‚Epistolae’.“ (HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 281) Im Brief J. Vaugreis’ an Farel vom 29.Aug. 1524 steht, er habe de Coct 200 „Pater“ und 50 „Epistolae“ gesandt. (HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 279) Mit „Orationes“ oder „Pater“ ist Farels Schrift gemeint „Pater noster, et le Credo en francoys“, gedruckt in Basel im August 1524. (Art. Farel, TRE 11, 31, Z.46f) Vaugreis bzw. de Coct senden Farel also frischgedruckte Exemplare seiner Schrift. Was ist mit „Epistolae“ gemeint? HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 279, Anm. 5, vermutet eine unbekannte Schrift Farels gegen Erasmus. Doch ist der Plural „Epistolae“ auffallend. Es wird der Erstdruck der „Épîtres et Évangiles“ gemeint sein. Wenn dieser ebenfalls bei Simon du Bois in Paris gedruckt ist, wie die beiden späteren Ausgaben, dann ist er aus Frankreich eingeführt worden. Der Basler Drucker Konrad Resch, Vaugreis und Wattenschnee hatten in Paris (und Lyon) einen bekannten Buchladen. Die beiden Letztgenannten waren Buchhändler. (P.G. BIEENHOLZ, Basle and France in the Sixteenth Century, Genf 1971, 27–36, 92) Sie können Farel mit dem Predigtbuch seiner Gefährten in Meaux beliefert haben.
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November 1525 genannt.273 Der Titel der Predigten war allerdings französisch und sein genauer Wortlaut ist unbekannt, denn es ist kein Exemplar der ersten Ausgabe erhalten.274 Wahrscheinlich ist er aber identisch mit dem späteren Titel: „Épîtres et Évangiles des cinquante et deux dimenches de l’an“. Es sind insgesamt vier Auflagen des Buches bekannt, die ersten drei sind ohne Angabe des Druckortes und des Jahres erschienen, offensichtlich um der Zensur zu entgehen. Die Drucktypen weisen jedoch zwei Drucke als von Simon du Bois publiziert aus, einen als Edition des Pierre de Vingles. Die vierte Auflage stammt aus der Druckerei des Etienne Dolet in Lyon 1542.275 Nun enthalten die „Epistel und Evangelien“ in der Ausgabe des Pierre de Vingle zwei wichtige Besonderheiten. Der Titel lautet: „Epistel und Evangelien der 52 Sonntage des Jahres und mit kurzen und sehr nützlichen Erklärungen derselben, die notwendig und tröstlich sind für alle gläubigen Christen“. Diesem Titel ist erstens hinzugesetzt (siehe beiliegende Kopie276): „durchgesehen und vermehrt durch Leute, die gelehrt sind in der heiligen Schrift. Sie enthalten die Predigten der ersten (Auflage) mit Zitaten [d.h. mit dem Wortlaut der Predigttexte], die (bis jetzt) gefehlt haben.“ Der Text des Titels nennt, wenn er fortfährt, die zweite Besonderheit: „zusammen mit einigen anderen Predigten, die neu hinzugefügt sind, wie Ihr sie auf den folgenden Seiten (aufgeführt) findet.“ Über die Änderungen in der Neuausgabe des Pierre de Vingle werden im Titel also zwei Angaben gemacht. Die frühere Ausgabe ist „durchgesehen und vermehrt“ worden durch gelehrte Bibelausleger, und es sind sechs neue Predigten hinzugekommen (siehe die Inhaltsangabe in der zweiten Kopie277). Die Bedeutung dieser Titelangaben besteht nun darin, dass die sechs Predigten von Calvin stammen. Er könnte zudem einer der Schriftkundigen sein, die die früheren Predigten korrigiert haben. Wenn diese Annahme zutrifft, stammen die sechs Predigten aus dem Jahr 1534, wie sich aus den Angaben Colladons ergibt. Der Drucker Pierre de Vingle hat sie spätestens 1535 gedruckt. Er war im Jahr 1531 aus Lyon nach Genf geflüchtet und hatte später in Neuchâtel-Serrières eine Druckerei 273 Die Zensur ist abgedruckt bei SCREECH, M.A , Jacques Lefèvre d’Étaples et ses disciples. Épîtres et Évangiles pour les cinquante et deux sepmaines de l’an. Facsimilé de la première édition Simon du Bois, Genève 1964, 41–51 (THR LXIII); zit. SCREECH. Sie ist dem Text an der betreffenden Stelle beigegeben in BEDOUELLE, G./GIACONE, F., Jacques Lefèvre d’Étaples et ses disciples. Épîtres et Évangiles pour les cinquante et deux dimanches de l’an. Text de l’édition Pierre de Vingle, Leiden 1976, LIIIf, zit. BEDOUELLE/GIACONE. 274 Die Seitenangaben in der Censura stimmen mit keiner der bekannten Ausgaben der „Épîtres et Évangiles“ überein. Es muss also eine frühere Ausgabe geben. 275 BEDOUELLE/GIACONE, XXVI. 276 BEDOUELLE/GIACONE, LXIII. 277 BEDOUELLE/GIACONE, 366–391. Die Kopie LXIV.
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eröffnet. Im Jahr 1536 starb er.278 Der Druckort lag in der Schweiz und also außerhalb des Einflussbereichs der Sorbonne. Die Änderungen an dem Text des Simon du Bois können also im Sinn der Reformation erfolgt sein. Wenn Calvin an ihnen beteiligt war, wirft dies Licht auf seine theologische Entwicklung. Dasselbe gilt für die sechs Predigten Calvins. Den Korrekturen und Zusätzen im ursprünglichen Text und den neuen Predigten muss daher mit Sorgfalt nachgegangen werden, denn sie füllen eine Lücke in der frühsten theologischen Entwicklung Calvins. 3. Der „Evangelisme“ der Gruppe von Meaux Der dortige Bischof Guillaume Briçonnet279 wollte die Predigt in seiner Diözese fördern und berief dazu 1521 Faber Stapulensis (Lefévre d’Etaples) nach Meaux. Es folgten ihm Schüler und Freunde. Genannt seien Guillaume Farel280, François Guasteblé genannt Vatable281; Gèrard Roussel282, Pierre Caroli283, Michel d’Arande u.a.284 Den Franziskanern verbot der Bischof im Jahr 1524 die Predigt in seiner Diözese ohne seine Erlaubnis.285 278 BLASER, F., Dokumente zur Druckgeschichte aus dem Staatsarchiv Luzern, Gutenberg-Jahrbuch 1937, 140. BEDOUELLE/GIACONE, XXVI, nennt den „Herbst 1532“ für die Flucht nach Genf. 279 S. Art. Briçonnet, Guillaume, TRE 7, 187–190. 280 Farel kam um 1512 mit Faber Stapulensis in Berührung; er schloss sich ihm an. Wahrscheinlich um 1521 kam es zu einer stärkeren Annäherung. Farel predigte in Meaux und bekennt, refomatorische Gedanken von jenem empfangen zu haben. Doch entzog ihm auf Anklage einiger Mönche hin der Bischof 1523 die Predigterlaubnis; Farel ging nach Paris. Da er die halbherzigen Reformen der Gruppe von Meaux ablehnte, schloss er sich der Reformation an, die er entschieden vertrat. S. Art. Farel, Guillaume, TRE 11, 30f. 281 Vatable hat Faber Stapulensis jahrelang mit seinen hebräischen Sprachkenntnissen unterstützt. Im Jahr 1530 berief ihn der König zum Professor für Hebräisch an das Collegium Trilingue, dem Collège des Lecteurs ‚Royaux. Er hat die katholische Kirche nicht verlassen. 282 Roussel (Rufus) hatte in Paris im Jahr 1520 die Vorlesungen des Faber Stapulensis gehört, der seine Schüler die Bibel im Originaltext studieren und die biblischen Texte und römischen Dogmen mit der überlieferten Auslegung vergleichen liess. Als Faber im Jahr 1521 nach Meaux ging, folgte ihm Roussel und versah dort eine Predigerstelle. Im Jahr 1524 entzog ihm der Bischof die Predigterlaubnis, wohl aus Angst vor dem Angriff der Sorbonne. Im Jahr 1525 floh er mit Faber nach Strassburg, als Marguerite d’Angoulême, des Königs Schwester, sie nicht mehr beschützen konnte. Dort lernte er die Reformation kennen, die allerdings noch nicht offiziell eingeführt war. Im Jahr 1533 erlaubte ihm der König, nach Paris zurückzukehren, wo er mit seinen Predigten großes Aufsehen erregte. Dort lernte ihn Calvin kennen. Roussel wollte wie Faber nur eine Reform der Kirche, keine Reformation. Die äusseren Zeremonien hielten beide für nebensächlich; beide blieben in der katholischen Kirche. Art. Roussel, Gérard, RE3 17, 178–180. 283 „Caroli war Lefèvre nach Meaux gefolgt. Er wurde von der Pariser Fakultät verschiedener Ketzereien bezichtigt, musste fliehen und erhielt mit anderen bei Marguerite eine Anstellung als Priester in Alençon, wo er bis 1533 blieb. Dann setzte er sich nach Genf ab und wurde der erste reformatorische Prediger in Lausanne“. VAN T’SPIJKER, W., Calvin, Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 2001, 107 (Fasz. J 2). 284 BEDOUELLE/GIACONE, XVIII. 285 VON POLENZ, G., Geschichte des französischen Calvinismus in seiner Blüthe, Bd.1, Gotha 1857, 262, Anm.
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Es sei noch einmal daran erinnert, dass Calvin im Jahr 1533 zu diesem Kreis gehört hat. Roussel war eingeladen, als Prediger der Königin Margarete von Navarra die Fastenpredigten im Louvre zu halten. Die täglichen Predigten erregten Aufsehen und waren ein großer Erfolg des Kreises von Meaux. Noël Bedier griff zu dem erprobten Mittel der Zensur. Er stellte eine Liste der Aussagen Roussels zusammen, die er als häretisch bezeichnete. Aber Beda konnte sich nicht durchsetzen. Er hatte schon viele Jahre zuvor gegen den Kreis von Meaux gekämpft. Die Zensur war gerichtet gegen die „Epistel und Evangelien für zweiundfünfzig Wochen des Jahres“. Der Name des Autors oder der Autoren findet sich in den Drucken nicht. Als Verfasser galt Faber Stapulensis. Denn Beda schreibt: „Die Autoren dieses Buches waren (wie gesagt wird) Jacobus Faber und seine Schüler“.286 Im Beschluss des Parlaments vom 14. Februar 1543, diese und andere Schriften zu verbrennen, heißt es: „Les Cinquantedeux Dimanches, composés par Fabre Stapulense“.287 Der Stil des Werkes ist ganz einheitlich, so dass nur an einen Verfasser zu denken ist. Es ist im Jahr 1524 entstanden. Am 6. Juli 1524 schrieb Faber aus Meaux an Farel: Du glaubst kaum, mit welcher Glut Gott die Sinne der einfachen Leute an einigen Orten entfacht hat, sein Wort liebzugewinnen, nachdem die französischen Bücher des Neuen Testaments herausgebracht sind. […] In unserer ganzen Diözese wird jetzt an den Feiertagen und auch meistens am Sonntag dem Volk der Epistel(text) und das Evangelium in der Volkssprache verlesen und, wenn der Gemeindepfarrer eine Ermahnung (Predigt) hält, fügt er sie dem Epistel(text) oder dem Evangelium oder beiden hinzu.288
Die zweifache Bibellesung im Gottesdienst in der Volkssprache bedeutete eine große Neuerung. Wie sehr die Lesung in der Volkssprache als Fortschritt empfunden wurde, zeigen die nachfolgenden Sätze Fabers: Der Bischof erlaubt nun Gérard (Roussel), […] täglich, vor Leuten beiderlei Geschlechts, den Dienst der Auslegung, indem er in der Frühe eine Stunde lang die Briefe des Apostels Paulus, die in der Volkssprache herausgegeben sind, erklärt, nicht an Stelle der Predigt, sondern in der Weise, dass er die Lesung erläutert.289 286 BEDA, N., Annotationes (s. Anm. 58): Libri autem illius authores (ut dicitur) fuerunt Jacobus Faber, et ejus discipuli. 287 SCREECH, Épîtres, 18, Anm. 10. Jean Lecomte d’Etaples berichtet, er habe in Meaux an dem Buch mitgearbeitet; ebd. 11. 288 Vix crederes, postquam libri gallici Novi Organi emissi sunt, quanto Deus ardore simplicium mentes, aliquot in locis, moveat ad amplexandum verbum suum. […] Nunc in tota diocesi nostra, festis diebus, et maxime die dominica, legitur populo et epistola et evangelium lingua vernacula; et si paroecus aliquid exhortationis habet, ad epistolam aut evangelium, aut ad utrumque adjicit. HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 220f (Nr. 103). 289 „Commisit (episcopus) Girardo, […] provinciam interpretandi populo promiscui sexus, quotidie una hora manè, epistolas Pauli lingua vernacula aeditas, non concionando, sed per modum lecturae interpretando.“ HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 222.
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Es war nur noch ein Schritt, dass Musterpredigten über diese Texte erarbeitet wurden. Die Unfähigkeit der Geistlichen, die Bibel auszulegen, erforderte dies. Am 6. Juli 1524 waren die „Épîtres et Évangiles“ offensichtlich noch nicht erschienen, aber der „Zensur“ der Sorbonne vom 6. November 1525 lagen sie vor. In ihr werden dem Buch 48 Irrtümer nachgewiesen.290 Noël Beda wirft dem Buch im Jahr 1526 vor: „Fast auf jeder Seite der Ermahnungen (Predigten) wird geeifert, dem Volk sei nichts zu predigen als das Evangelium“.291 Daher wird die Bewegung von Meaux in der Forschung auch „Evangelisme“, Evangeliumsbewegung genannt. B. Die „Épîtres et Évangiles“ als Kontext der Predigten Calvins Die Analyse des Titels der Edition Pierre Vingles (1534 oder 1535) hatte ergeben, dass zwei Veränderungen in ihr vorgenommen worden sind. Erstens wurde „durch schriftkundige Leute“ der ursprüngliche Text der Predigten durchgesehen und durch Zusätze vermehrt“. Zweitens sind sechs neue Predigten beigegeben. Es ist für die Beurteilung der Predigten Calvins notwendig, die Ausgabe Pierre de Vingles genauer zu durchforschen, denn sie bildet den Gesamtrahmen. Das Ziel ist, den theologischen Standort der Ausgabe zu ermitteln. Dies geschieht in zwei Schritten. Zuerst werden die Korrekturen vom Jahr 1534 an den früheren Ausgaben festgestellt. Der Forscher ist in der glücklichen Lage, die Korrekturen genau verfolgen zu können, denn Bedouelle/Giacone haben sie im Text de Vingles vermerkt. Sie legen den Antinomismus der vorausgehenden Editionen offen. Die Eingriffe der Korrektoren zeigen naturgemäß auch deren theologische Einstellung. Sie vertreten den reformatorischen Standpunkt. Es gibt keinen Hinweis, dass Calvin zu ihnen gehört hat. Es werden Bearbeiter in der Schweiz gewesen sein. Es gab, wie der Titel besagt, mehrere Korrektoren. M. Shimura vermutet die Mitwirkung Farels.292 Der zweite Schritt ist die Analyse der Predigtentwürfe Calvins. Sie gibt Antwort auf die Frage, ob Calvin in Angoulême noch Anhänger des Faber Stapulensis ist. 290 Sie sind zusammengestellt von SCREECH, M.A., Épîtres et Évangiles pour les cinquante et deux sepmaines de l’an. Facsimilé de la première édition Simon du Bois, Genève 1964, 41–51. An ihrem Ort im Text auch bei BEDOUELLE/GIACONE, Épîtres. 291 BEDA, Noël, Annotationes in Jacobum Fabrum Stapulensem libri duo, Paris 1526, Bl. CXIX r/v: … passim et omni fere eundarum exhortationum pagina declametur nihil esse populo preter evangelium predicandum. Abgedruckt bei SCREECH, Épîtres, 18, Anm. 9. Der Artikel „Evangelismus“, TRE 10, 686–690, zählt zum Evangelisme hingegen alle Reform- Bewegungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 292 La crise de l’Evangélisme français, 1525 ou l’Evangélisme radical, in: NEUSER, W.H., (Hg.), Calvinus sacrae scripturae professor, Grand Rapids 1994, 244.
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1. Die Bekämpfung des Antinomismus durch die Redaktoren Der beste Beleg für das Urteil, die „Épîtres et Évangiles“ lehrten einen Antinomismus, sind die Korrekturen in der Ausgabe de Vingles. Sie betreffen die folgenden Themen. a. Das Gesetz. Eine grundsätzliche Korrektur liegt dann vor, wenn durch einen Zusatz der Sinn eines Satzes völlig geändert wird. Dies geschieht mehrmals bei den Aussagen über das Gesetz. Im alten Text steht: zu Röm 13,11b („Unser Heil ist nun näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden“): „Denn das alte Gesetz ist vergangen und der Tag des neuen, welcher der Tag Jesu Christi ist, ist gekommen, die Nacht der Sünde ist vergangen und der Tag der Gnade ist näher gekommen“ (usw.). Den Korrektoren fehlt die Auslegung des „gläubig werden“. Sie fügen zu Beginn den Gedanken ein, dass wir fest glauben, dass wir ohne Verdienst gerettet und vor Gott gerechtfertigt werden. „Folglich ist jetzt die dunkle, finstere Nacht des Buchstabens“ des alten Gesetzes vergangen (usw. wie zuvor).293 Aus der generellen Aufhebung des Gesetzes ist die gegenwärtige Aufhebung des Gesetzes als Mittel der Rechtfertigung im paulinischen Sinn geworden. Das wird durch weitere Korrekturen. bestätigt: In der früheren Auflage lautet ein Satz zur Anfrage des Täufers [Mt 11,1–6]: „und er zeigte ihnen (sc. der Menge) durch ein Bild, dass das alte Gesetz zugebunden und fertig ist zu sterben.“ Nach den Worten „altes Gesetz“ wird eingefügt „(das gemäss dem (Wort des) heiligen Paulus an die Gal [3,24] unser Ausbilder und Leiter zu Christus ist)“.294 Das Gesetz ist also nicht veraltet. Den Begriff „altes Gesetz“ vermeiden die Korrektoren nicht: Das alte Gesetz sei nur den Juden verkündet worden, das Evangelium aber werde gepredigt in der ganzen Welt.295 Doch stellen sie durch einen weiteren Zusatz fest, dass der Herr „durch das göttliche Gesetz wie durch einen klaren Spiegel (wenn es gründlich verstanden wird) unsere Kraftlosigkeit [usw.] zeigt“.296 Oder: Wenn die Vorlage „das Amt, das den Tod bringt“, nämlich das Gesetz, (2. Kor 3,7) auf den Missbrauch der Juden bezieht, so fügen sie hinzu: „jedoch dass das Gesetz Gottes, richtig verstanden, uns unsere Sünde und Verdammung zeigt“.297 Es ist also au0ch heute gültig. Der bisherige Text fragt, indem er Gal 3,19 wiedergibt: „Wozu ist denn das Gesetz verfasst, da wir durch es 293 BEDOUELLE/GIACONE, 2, Z. 14–27. 294 Par figure en soy il leur monstroit que l’ancienne loy (laquelle selon sainct Paul aux Galathes a estre nostre instructeur et conducteur à Christ) estoit liée et preste à mourir. BEDOUELLE/ GIACONE, 17, Z. 8–12. 295 Zu Mk 16,14–20; BEDOUELLE/GIACONE, 201, Z. 27–32. 296 BEDOUELLE/GIACONE, 258, Z. 13–15. 297 BEDOUELLE/GIACONE, 291, Z. 29–31.
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nicht gerechtfertigt sind? Der heilige Paulus antwortet: Wegen der Übertretung. Es ist durch die Engel gegeben in die Hand des Mittlers Mose, um dem Volk Erkenntnis zu geben von seinen Übertretungen“ (usw.) Nach dem Wort „Mittler“ und vor „Mose“ ist als Korrektur eingefügt: „das heisst, in der Kraft Jesu Christi, bekannt gemacht durch den Gesetzgeber“ Mose.298 Es wird also der Beschränkung des Gesetzes auf Mose entgegengetreten. Mose ist der Gesetzgeber, nicht der Mittler; das Gesetz ist kräftig durch Christus, das heißt, um zu Christus hin zu führen. Unmissverständlich ist der Zusatz: „Zwei Dinge sind notwendig zum Heil, Erkenntnis unseres Unvermögens durch das Gesetz, um uns niederzuwerfen und uns gründlich zu demütigen, und das Wissen, was wir erwarten müssen und erhoffen durch Christus.“299 Den Korrektoren fehlt deutlich in den Predigten der usus elenchticus legis, das Gesetz, das auch heute die Sünde aufdeckt und zu Christus treibt. Faber Stapulensis lehrt deutlich einen Antinomismus, dem diese Zusätze entgegenwirken sollen.300 Der häufige Begriff „altes Gesetz“ bleibt unangetastet. Da bei Faber Stapulensis das alte Gesetz vor allem die Zeremonialgesetze (Beschneidung, Opfer usw.) sind, ist es in der Tat veraltet, denn sie entfallen im neuen Bund. Aber der Dekalog entfällt bei Faber ebenfalls. Den Antinomismus bestätigt der Umstand, dass Faber Stapulensis den Begriff „evangelisches Gesetz“ einführt. Es ist das Gebot der Nächstenliebe. Zur Bibelstelle Röm 12,6–16 über die „brüderliche Liebe“ wird erklärt: „Der heilige Apostel Paulus will in dieser Briefstelle uns ermahnen, die brüderliche Liebe (dilection) und (Gottes)Liebe (amour) anzuziehen, ohne welche das evangelische Gesetz nicht erfüllt werden kann.“ (Röm 13,8; Gal 5,14; 6,2).301 „Nicht ohne Grund wird in den Briefen des heiligen Paulus wiederholt gesagt, dass das Ende des Gesetzes (fin) die Liebe ist. [Röm 10,4; richtig: die Erfüllung, siehe Röm 13,8] Denn wo die Liebe vollkommen ist [Joh 15,9–11; 1. Joh 2,5], da muss man das Gesetz nicht mehr halten.“302 „Das Gesetz geht vorüber, das Evangelium ist ewig.“303 Der Gegensatz altes Gesetz und neues Gesetz durchzieht die ganze Predigtanleitung. Die Folge ist, dass Altes und Neues Testament auseinander treten. Zum Einzug Jesu in Jerusalem (Joh 12,12–19) werden unter Zuhilfenahme der synoptischen Parallelen Eselin und Eselsfüllen auf Juden und Heiden gedeutet. Sie werden repräsentiert von Petrus und Paulus (vgl. Gal 2,8).Die 298 BEDOUELLE/GIACONE, 297, Z. 37–38. 299 BEDOUELLE/GIACONE, 328, Z. 33–36. 300 Man vergleiche dazu Fabers Ausführungen über das „alte“ und „neue Gesetz“ in der Vorrede zum Neuen Testament vom 8. Juni 1523; HERMINJARD, A.L., 1, 138. Das „evangelische Gesetz“ ist das Neue Testament. 301 BEDOUELLE/GIACONE, 62, Z. 24f. 302 BEDOUELLE/GIACONE, 75, Z. 13–15; zu Röm 13,8–10. 303 BEDOUELLE/GIACONE, 291, Z. 25; zu 2. .Kor 3,4–9.
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Korrektoren lassen diese Ausdeutung stehen, setzen aber hinzu: Das vor Jesus hergehende und ihm nachfolgende Volk stimmen denselben Lobgesang an. Das ‚Volk‘ bezeichnet das Alte und das Neue Testament.304 b. Kreuz und Auferstehung Wenn das Gesetz das Liebesgebot ist, dann stellt sich die Frage nach der Bedeutung von Kreuz und Auferstehung. Genügt es nicht, den erhöhten und gegenwärtigen Herrn zu predigen? Zu Lk 2,35 heißt es ursprünglich: „das Schwert, das heißt, sein Wort (welches das Schwert des Lebens ist) wird durch ihre Seele dringen“. Eingefügt wird: das heißt, „das Wort vom Kreuz, das Wort des Evangeliums (parolle evangelique), das niemals ohne das Kreuz ist, das göttliche Wort, das ist das Schwert des Lebens, das tiefer durchdringt als kein scharfes Schwert [Hebr 4,12]“.305 Zu Mk 16,1–7 wird breit die Geschichte der Frauen und Jünger am Ostermorgen erzählt. Sie läuft auf die Frage hin: Wer wälzt uns den Stein vom Grabe ? Es ist der Stein der Bedrängnisse und Trübsale. Den Korrektoren genügt dies nicht. Sie warnen im Zusatz vor einer fides historica, „dass er gestorben und dann auferstanden ist“. Er hat uns durch seinen Tod und seine Auferstehung freigesprochen. Das stellt Paulus gut dar, wenn er sagt Röm 4,28, ‚Christus ist gestorben für unsere Sünden und auferstanden für unsere Rechtfertigung‘. Diese Worte, müssen wie eingedruckt in unsere Herzen sein, dass der Tod – nicht das Leben, nicht die Welt, nicht die Hölle, nicht sie müssen unsere Erinnerung noch gefangen nehmen. Und auf diese Worte (ungeachtet der menschlichen Vernunft) müssen wir alle uns gründen, kräftigen und verlassen.
Die Botschaft ist, dass der Auferstandene die Jünger „Brüder“ nennt. Das ist, wie wenn ein König den Dieb so benennt.306 Toussain schreibt an Oekolampad am 26. Juli 1526 über Faber und Roussel: „Sie mögen Wissende sein, wie sie es wollen, wünschen, ausstreuen und vorgeben; das Evangelium kann nicht gepredigt werden ohne das Kreuz.“307 Mit dem Kreuz ist sowohl die Verfolgung wie die Botschaft vom Kreuz gemeint. c. Demut Zu Röm 12,16b–21 betont der alte Text, dass niemand sich für größer und vollkommener halte als die anderen. In diesem Zusammenhang fällt das Wort „sich demütigen“ und zwar wie ein Wurm und nicht wie ein Mensch (Ps 22,7).Gestrichen wird von den Korrektoren „Ist dies nicht, meine 304 305 306 307
BEDOUELLE/GIACONE, 152, Z. 37–40. BEDOUELLE/GIACONE, 43, Z. 13–15 und Anmerkung. BEDOUELLE/GIACONE, 157, Z. 34–158, Ende. HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 447.
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Freunde, ein Beispiel großer Demut?“ Stattdessen fügen sie einen Verweis auf Christus an: Zum einen die Bibelstelle Gal 3,13 („Er hat uns erlöst von dem Fluch [des Gesetzes],da er zum Fluch wurde für uns.“) und des weiteren „Christus hat uns erfüllt gegenüber seinem Vater mit sehr glücklichem Segen. Welch ein Beispiel der gründlichsten Demut, voll der brennendsten und vollkommenen Nächstenliebe !“308 Oder: In der Menschwerdung Jesu Christi ist die Gottheit „durch große Demut herabgestiegen von dem Berg“ ihrer gewaltigen Kraft. Dies wird korrigiert in: „durch große Barmherzigkeit und Güte herabgestiegen nicht allein in Seele und Geist, sondern er hat auch abgeworfen seinen himmlischen und göttlichen Leib, wie der heilige Paulus wohl bestätigt (Kol 2,9). Das heißt, herabgestiegen von dem Berg.“ (Mt 8,1).309 Eine Theologie der vorbildlichen Demut ist erneut abgewehrt. Die Bibelstelle Phil 2,5–11 gibt im alten Text Anlass, über die Demut zu sprechen. „In dem heutigen Episteltext unterrichtet uns der heilige Paulus über die Demut und reizt uns an zu ihr.“ Christus ist dafür „Vorbild“. Sein „Erniedrigen“ wird dann in Begriffen geschildert, die zur Nachahmung anregen. Er, „von Ewigkeit her wahrer Gott“, nahm Knechtsgestalt an bis zu „einem sehr schimpflichen Tod am Kreuz“. Die Korrektoren lassen dies stehen, fügen aber einen Abschnitt an, der den Aufruf zur menschlichen Demut durchbricht. „Wir entdecken uns dann, arme Geschöpfe, stolz und eitel, wenn wir den Abgrund der tiefen Demut des souveränen Herren aller Herren schauen, der sich demütigt unter die Macht der Sünder, unter den Tod, unter den Satan, unter die Sünde und Verdammung, die er besiegt hat zu unserem Heil.“310 Christi Demut ist nicht mehr bloßes Vorbild, sondern Inbegriff der Erlösung. d. Heiligung Das Liebesgebot bedeutet, dass der Glaubende sein Leben heiligt. Der Bibeltext Tit 2,11–15 (Predigttext am Tag der Beschneidung Christi) beschreibt die Folgen der Gnade: Absage an die Sünde und Leben in Frömmigkeit; Christi Sterben erlöst und reinigt. Der ursprüngliche Text lautet: Die geistliche Beschneidung „der Nachkommen Abrahams, überflutet von Sünde und Schmutz und allen Begierden und weltlichen Wünschen, heißt, dass wir in dieser Zeit rein, lauter, gerecht und erfüllt von der Frömmigkeit Gottes sind, welches der wahre Dienst im Glauben ist, der Gott geleistet werden muss.“ Der Satz wird von den Korrektoren gestrichen und so ersetzt, dass nun die Nachkommenschaft Abrahams auf Christus bezogen wird: 308 BEDOUELLE/GIACONE, 68, Z. 19–69, Z.8 und Anmerkung 70. 309 BEDOUELLE/GIACONE, 72, Z. 23–27 und Anmerkung 73. 310 BEDOUELLE/GIACONE, 149, Z. 13–17.
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alles. was zu ihr gehört, hat er ganz geheiligt, was an Verderbnis seinen Freunden geschieht, hat er nämlich durch seine allerheilige und reine Geburt entfernt und hat getilgt die Vergiftung und Unreinheit unserer Verfehlung durch seine Unschuld, unsere Lüge durch seine Wahrheit, durch seine heilige Taufe unsere Taufe, durch seinen sehr schweren und machtvollen Tod den unseren, durch seine völlig neue Auferstehung die unsere, und wie auch in unendlichen vielen ähnlichen Fällen.311
Zu Lk 2,22–32 (Beschneidung im Tempel) wird die ursprüngliche Deutung abgelehnt, sie geschah „mehr, um zu heiligen alle Anwesenden, als (selbst) geheiligt zu werden“, und statt dessen gelehrt, „nicht um im Tempel geheiligt zu werden, der er der Heiligende (sanctificeur) der anderen ist, sondern um zu heiligen alle Anwesenden“312
e. Gottesgemeinschaft Zu Joh14,23–31 („Wer mich liebt, der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ usw.) stellt sich die Frage, was heißt, „der Vater und Jesus Christus wohnen in ihnen“? Eine Stelle im Text beginnt: „Gott liebt uns daher, der Fürst dieser Welt [V. 30] ist nicht in uns. Denn der Vater Jesu Christi wird mit uns sein.“ Zwischen beide Sätze ist eingeschoben: Doch so, dass der ewige Vater und sein Sohn Jesus werden mit uns sein, wenn sie uns sagen wollen und uns wissen lassen, dass die Weisheit, Güte und Kraft, Gottes in uns wohnt und wir uns ganz in seine Anordnung und in seinen Willen übergeben und einfügen, indem wir sagen: Dein Wille geschehe. Hingegen sollen wir erkennen, dass, was in uns wohnt, ist nicht mehr Vermögen als vielmehr Tod, Sünde, Hölle, Satan und alles andere Böse, was wir sagen und denken können (usw).313
Die mystische Vereinigung mit Gott wird aufgelöst in die mit seinen Wohltaten. f. Ergebnis Die Korrekturen ergeben ein abgerundetes Bild. Der alte Text enthält die typischen Merkmale des Antinomismus. Wo die Korrektoren grundsätzliche Streichungen und Zusätze anbringen, widersprechen sie immer wieder diesem antinomistischen Denken. Es ist keineswegs auffällig, dass alle Bibelstellen auf Christus bezogen werden. Dies ist ein Merkmal des Neuen Testaments. Aber das Alte Testament ist im frühen Text nicht einbezogen. Es ist das Gesetz der Juden. Christus wiederum ist Vorbild der Demut, ist Stifter des evangelischen Gesetzes der Nächstenliebe, ist Beispiel der vollständigen Heiligung. Der auferstandene, lebendige Christus wird gepredigt. 311 BEDOUELLE/GIACONE, 45, Z. 15–21, und Anmerkung 47. 312 BEDOUELLE/GIACONE, 96, Z .2–4 und Anmerkung 97. 313 BEDOUELLE/GIACONE, 213, Z.3–9.
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Dass der Mensch Sünder ist, wird nicht verschwiegen, aber das Kreuz wird eher beiläufig erwähnt. Es ist nicht Inbegriff unserer völligen Sündenverhaftung und daher Wendepunkt zu unserer Erlösung. An allen diesen Stellen müssen die Revisoren verbessern und streichen. Die vorstehende ausführliche Analyse ist dadurch gerechtfertigt, dass Calvin seit der Olivétanbibel von 1535 zu einem radikalen Bekämpfer des Antinomismus wird. Die ‚Épîtres et Évangiles‘ und ihre Redaktion sind Ursache und Hintergrund dieses Kampfes. Ja, er distanziert sich von da an nicht nur von seinen früheren Freunden, sondern von seiner eigenen Vergangenheit. 3. Weitere Korrekturen und Zusätze Sie betreffen nicht den Antinomismus und sind auch weniger ausführlich. Doch tragen sie dazu bei, die Situation klären, in der Calvins neue Predigten erschienen. a. Die Glaubensgewissheit Sie fehlt in den bisherigen Auflagen nicht, wird aber nun hervorgehoben. Zum Beispiel beginnt die Auslegung vom Mt 15,21–28 (Kanaanäerin): „Das heutige Evangelium vergegenwärtigt uns den festen (ferme) Glauben und die große Demut der kanaanäischen Frau“.314 Doch legt der Text diese Aussage nahe. Die Korrektoren bekräftigen deutlich diesen Aspekt: Wir haben einen „festen und lebendigen“ Glauben.315 Gottes Verheißung ist „fest und unveränderlich“.316 Das treue Wort (parolle fidele) 1. Tim 1,15 wird erklärt als „ganz gewiss und wahrhaftig“.317 Zu Ps 8,8 wird hinzugesetzt: „O, wenn wir durch festen Glauben dieses glaubten“.318 Das Wort „Ihr seid meine Zeugen“ Joh 15,27 wird erklärt: „Denn es ist gewiss (certain), dass Gott lebt“; dies gilt in „Drangsal, Kreuz und Marter, sei es zum Tod oder zum Leben“.319 Der Heilige Geist „macht uns beständig und bekräftigt uns in allem“320 Gegenüber allen menschlichen Lehren besitzt das Wort Gottes „Gewissheit und Wahrheit“.321 Deutlich wird die Gewissheit auf das Wort Gottes und auf den Glaubens bezogen. Sie sollen ganz gewiss sein. Doch kommen Aussagen zur Gewissheit in den korrigierten Predigten nicht sehr oft vor. Wo sie vorkommen, sind sie reformatorisch gemeint. Ihre 314 315 316 317 318 319 320 321
BEDOUELLE/GIACONE, 128, Z. 15–16. BEDOUELLE/GIACONE, 2, Z. 28. BEDOUELLE/GIACONE, 29, Z. 28. BEDOUELLE/GIACONE, 86, Z. 14. BEDOUELLE/GIACONE, 202, Z. 25–26. BEDOUELLE/GIACONE, 206, Z. 15–17. BEDOUELLE/GIACONE, 212, Z. 18. BEDOUELLE/GIACONE, 270, Z. 3.
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Betonung mag auch herbeigeführt haben, dass viele Zusätze in der Ausgabe de Vingles das Thema Verfolgung und Unterdrückung behandeln. Treten sie ein, so bedarf der Glaube der Festigkeit und muss das Wort Gottes ganz verlässlich sein. Doch ist das Thema Verfolgung auch den vorausgehenden Ausgaben nicht fremd.322 b. Apologie und Polemik Sicherlich sind die Zusätze über die Gewissheit und Beständigkeit eine Reaktion auf die Zensur der Sorbonne. Diese richtet sich gegen den Glauben an Gottes Wort (Propositio 2, 3, 7, 8, 21, 24, 30, 31, 45)323 und bestreitet, dass allein der Glauben an Christus zum Heil genügt (Propositio 1, 16, 22, 39, 42, 44, 45, 46, 47). Fast die Hälfte aller Urteile richtet sich gegen die reformatorischen Grundsätze, Heilsmittel sei das gepredigte Wort und sola fide iustificamur. Die Korrektoren setzten ihnen das Gewisssein in diesen Grundsätzen entgegen. Hinzu kommt, dass sie das oftmalige sola (seul) der Vorlage durch zusätzliche Nennungen des „allein“ verstärken. Dies geschieht bei den Themen Glauben an das Evangelium324 und an Christus.325 Zum Beispiel: Man soll Christi heiliges Wort predigen ohne irgend eine Änderung (vgl. Deut 4,2). Zusatz: „denn es allein kann uns retten.“326 Oft wird nur hinzugefügt Gott allein, seine Güte allein oder solus Christus oder sola gratia.327 Beispielsweise: „Wir erkennen, dass alle Wohltaten Gottes zu uns kommen durch seine Gnade allein, ohne unser Verdienst, anderenfalls, sagt der heilige Paulus, wird die Gnade keine Gnade sein“ (Röm 11,6).328 Eine Übersicht über die 48 Propositionen der Zensur nennt die genannten Themen und weitere Vorwürfe und Anklagen. Sie verteidigen – die Anrufung der Engel, anderer Geschöpfe, der Gottesmutter und Heiligen (Propositio 5, 6, 18, 35) – die Gültigkeit der kirchlichen Feste, Riten und Anordnungen (Propositio 9,10, 33, 34) – die Verdienstlichkeit der Werke (Propositio 11, 12, 14, 17, 27, 28, 38, 41) – den freien Willen (Propositio 23, 37) – die menschlichen Satisfactionen (Propositio 43) 322 BEDOUELLE/GIACONE, 33, Z. 23–34, Z. 16 (wo mit Mat 23,34–9 das Thema vorgegeben ist). 185, Z. 20–25; 282, Z. 19–35. Auch im alten Text werden zu Mt 58,23–27 die Verfolgungen breit erörtert: 77f.; auch 240, Z. 3–7. 323 Die Propositionen sind abgedruckt bei SCREECH, 41–51. 324 BEDOUELLE/GIACONE, 46, Z. 41; 223, Z. 13; 270, Z. 4. 325 BEDOUELLE/GIACONE, 34, Z. 23; 254, Z. 15. 326 BEDOUELLE/GIACONE, 14, Z. 2–4. 327 BEDOUELLE/GIACONE, 15, Z. 3; 22, Z. 23; 26, Z. 28; 49, Z. 26; 99, Z. 41.43; 102, Z. 34; 174, Z. 30; 318, Z. 6; 323, Z. 29. 328 BEDOUELLE/GIACONE, 318, Z. 5–7.
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– die menschlichen Traditionen (Propositio 13, 15, 36, 48) – die volle Gottheit Jesu (Propositio 25) – die Unterscheidung von Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe (Propositio 19, 20) – die Autorität der Vulgata. Die Pariser Zensur verurteilt die Äußerung der „Épîtres et Évangiles“, „Bethania“ sei eine verfälschte Lesart; richtig sei „Bethabara. (Die Vulgata lies Joh 1,28 „Bethania“.) Propositio 4 urteilt, diese Äußerung sei skandalös. Doch die Korrektoren erwidern, es gebe noch mehr verfälschte Schriftstellen „durch die Nachlässigkeit, Saumseligkeit und Ignoranz vieler“ (Abschreiber?).329 Auffällig ist die Kluft zwischen den in der Zensur zitierten Aussagen der „Épîtres et Évangiles“ und den Schlussfolgerungen der Sorbonne. Wenn die Predigten die menschlichen Lehren ablehnen, dann zieht die Zensur daraus die Folgerungen, die kirchlichen Anordnungen seien gemeint (Propositio 13). Oder wenn die Predigten die Rolle der Engel bei der Erlangung des Heils verneinen, dann setzt die Zensur hinzu, die Anrufung der Kreatur, der Gottesmutter und die Verehrung der Heiligen sei gemeint. (Propositio 5) Die Predigten gebrauchen allgemeine Begriffe, die Zensur zieht daraus konkrete Schlussfolgerungen. Die Predigten vermeiden zumeist Namen, die Zensur nennt sie und hat damit sicherlich Recht. Die bewusste Zurückhaltung der Predigten lässt die Zensur nicht gelten, sondern deckt die (nach ihrer Meinung) Häresien und Irrtümer auf. c. Fabers stillschweigende Kritik an katholischen Lehren Es gibt auch eine stillschweigende Kritik Fabers. Darauf weist die Untersuchung M. SHIMURAs hin.330. Er stellt heraus, dass anders als in den damaligen gängigen Gerichtsverhandlungen die „Épîtres et Évangiles“ das Purgatorium nicht erwähnen. Zur Wiederkunft Christi in Herrlichkeit (Lk 21,25– 33) heißt es von den Ungläubigen: „O weh, was werden sie anders machen? Sie werden zu spät sein in ihrer Reue, zu spät im Glauben […] Sie, die sie ein einziges Wort des Richters hören, haben dort nicht mehr als den ewigen Tod.“331 Oder zu Joh 16,16–22 (die Jünger werden nach dem Weggang zum Vater Jesus sehen) wird die Glaubensgewissheit gelehrt: „[…] an alle Glaubenden, dass körperlich zu sterben und von der Welt zu scheiden heißt, geistlich und im Geist des Vaters zu gehen.“332 Oder über den Reichen 329 BEDOUELLE/GIACONE, 23, Z. 36–38. 330 La crise de l’Evangélisme français, 1525 ou l’Evangélisme radical, NEUSER, W.H. (Hg.), Calvinus sacrae scripturae professor, Grand Rapids 1994, 240–244. M. SHIMURA unterscheidet leider nicht die frühen Editionen von der Vingles und kann daher nicht die unpolemische Predigtweise der ersteren herausarbeiten. 331 BEDOUELLE/GIACONE, 11, Z. 31–33. 332 BEDOUELLE/GIACONE, 185, Z. 7–9.
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Mann und den Armen Lazarus (Lk 16,19–31): „An jenem Ort (der Pein) gibt es keine Hilfe; er ist schuldig, die Gerechtigkeit zu sehen.“333 Die kirchliche Lehre hätte an diesen Stellen das Purgatorium erwähnt. Als nächstes erwähnt SHIMURA, dass die Verehrung der Heiligen fehlt. Zum Tag des heiligen Stephan ist zu lesen: „Der Tag ist genannt nach dem heiligen Stephan. Nicht dass dieser nicht der Tag Jesu Christi wäre, seines und unseres Herrn Feiertag und Verehrung.“ „Der heilige Stephan ist sein Diener.“ Stephanus rief Gott an, und nicht Engel, Mose oder andere. „Und man darf nicht Engel oder andere Kreaturen anrufen.“334 H. MEYLAN hatte zuvor schon angemerkt, dass Faber selten über die Kirche rede, über die Anrufung der Heiligen schweige, wiewohl er oft die Märtyrer erwähne (z.B. Stephanus), von der Jungfrau Maria zwar mit Respekt spreche, aber auch nicht mehr sage, er ungern über die Sakramente rede, nie über das Messopfer und die Rolle der Priester, und schon gar nicht über den Papst.335 Es sind dies einige Stellen, an denen die Predigten zwar deutlicher werden, doch ihre Kritik immer noch nicht klar aussprechen. Es ist Position bezogen, aber der Missbrauch wird nicht genannt. Über ein Christus und sein Wort „allein“ kommt nicht hinaus. Diese Haltung des Faber Stapulensis ist geschichtlich zu erklären. Bischof Briçonnet führte zwar sein Programm der Verkündigung des Evangeliums in seiner Diözese strikt durch, aber die altgewohnte kirchliche Frömmigkeit wollte er erhalten bzw. im Blick auf die äußerliche Kirchlichkeit keinen Anstoss erregen. Er verfasste am 15. Oktober 1523 ein Schreiben an die gläubigen Christen seiner Diözese, in dem er vor Luther und seinen Büchern warnte; diese Pestilenz sei auszurotten.336 Am selben Tag wandte er sich an die Geistlichen und warnte vor denen, die das Evangelium missbrauchen. Sie verachten das Evangelium, wenn sie predigen, es gäbe kein Fegefeuer, und demzufolge müsse man nicht für die Toten beten, müsse man die Jungfrau Maria und die Heiligen nicht anrufen.337 Faber Stapulensis hält in den „Épîtres et Évangiles“, wie erwähnt, diese Grenze ein. Er lehrt das solus Christus und beachtet in der Auslegung das Fegefeuer und die Heiligen nicht. Aber er polemisiert auch nicht gegen sie. Es ist wahrscheinlich, dass er dies nicht aus Vorsicht tut, sondern dass es seiner Überzeugung entspricht. Denn im Brief an H.-C. Agrippa vom 20. Juni 1519 äußert er sich zu dessen Thesen über die Heilige Anna. Er 333 BEDOUELLE/GIACONE, 232, Z. 28–29. 334 BEDOUELLE/GIACONE, 31 Z. 19–20 und 22; 32, Z. 28–29. 335 LEFEVRE D’ETAPLES, Les thèmes théologiques des Épîtres et Évangiles des 52 dimanches, in: L’humanisme français au début de la renaissance, Paris 1973, 190f (Colloque International de Tours). 336 HERMINJARD, A.L.,Bd. 1, 153–155 (Nr. 77). 337 HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 157 (Nr. 78).
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mahnt ihn zu kämpfen, „nur um die Wahrheit zu beschützen und die Verehrung der Gottesgebärerin Maria und ihrer Mutter, die seligste Anna“.338 Im Kommentar zu den vier Evangelien (1522) argumentiert er verklausuliert: Wenn ihr euch Jesus Christus nähert, und wenn ihr glaubt, dass ihr ihm nahe seid durch die Güte eines anderen, dann nähert ihr euch falsch.[…] Wenn die, die mehr um Vertrauen in die Vermittlung der hochverehrten Jungfrau oder aller Heiligen, welche sie auch seien, als in der Vermittlung Jesu Christi allein bitten, dann bitten sie nicht recht. […] Wenn sie es tun bloss durch Demut, indem sie alle ihr Vertrauen in den Vater der Barmherzigkeit und in Jesus Christus, seinen Sohn, setzen, bitten sie recht.339
Im Sinne der Reformation war dies inkonsequent und halbherzig und dies umso mehr, als in den „Épîtres et Évangiles“ Christus, sein Wort und seine Erlösung allein zu predigen sind und alle menschlichen Zusätze ausgeschlossen werden. d. Polemik bei den Korrektoren Es stellt sich die Frage nach der Polemik in der Auflage de Vingles. Wie verhalten sich die Korrektoren ? In der Edition de Vingles werden statt einer allgemeinen Kritik die Übelstände bei Namen genannt. In welchem Maße dies geschieht, zeigen einige Beispiele. Zu Joh 10,1–10 wird die Autorität der Laien angesprochen: „Von ihm (Christus) und durch ihn ist jedem Christen unwiderrufliche Autorität gegeben, zu urteilen, […] ob dies dem Evangelium konform ist oder nicht“.340 Zu Lk 11,27 (der Seligpreisung der Maria setzt Jesus die Seligkeit derjenigen entgegen, die sein Wort hören und bewahren) „Denn die Heiligkeit der Jungfrau Maria, auch nicht die aller Engel, nicht des Allerheiligsten des Paradieses werden uns nützen, wenn sie nicht durch das Wort Gottes ergeben geehrt, […] im Gedächtnis behalten und betrachtet wird.“341 Zu Mk 16,14–20 werden Zusätze gemacht: Unser Gott, der Herr Jesus Christus hat befohlen, dass man predige „das Evangelium (kein anderes Gesetz und keine andere Lehre)“ durch die ganze Welt „aller Kreatur, das heißt, öffentlich, offenkundig, offen, an jedem Ort und jedem Platz gleichermassen“.342 Oder: Das geschieht durch die Macht der Predigt und die Kraft des Evangeliums, „nicht körperlich durch Feuer oder durch Schwert“.343 Oder: Es sind 338 339 340 341 342 343
HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 53. Zu den Bibelstellen Mt 15,21ff; Lk 21,5[?]; HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 53, Anm. 8. BEDOUELLE/GIACONE, 224, Z. 3–5. BEDOUELLE/GIACONE, 135, Z. 19–21. BEDOUELLE/GIACONE, 201, Z. 27–30. BEDOUELLE/GIACONE, 237, Z. 23–24.
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reißende Wölfe „(sie treiben Handel mit den Sakramenten und dem Wort Gottes“).344 Es sind nicht eben viele Stellen (in 108 Predigten), die die Missstände bei Namen nennen. Andererseits ist viel Polemik in Predigten nicht zu erwarten. Es erhebt sich nun die Frage, wie stellt sich Calvin in den sechs Predigten und dann ein Jahr später in der Einführung zum Neuen Testament zum Antinomismus, zur Glaubensgewissheit und zur Apologie und Polemik? C. Die sechs Predigten Calvins 1. Struktur und Inhalt Die Predigten ordnen sich auf den ersten Blick in die bestehende Ordnung des Kirchenjahrs ein. Die Zensur der Sorbonne bezeichnet sie, wie erwähnt, „ad usum diocesis Meldensis“. Dies bedeutet wohl: nach der Perikopenordnung des Bistums Meaux. Doch sind es Predigten zu besonderen Gedenktagen im Jahr. Die Überschriften nennen sie. (1.) „Für das Fest der Geburt unserer Frau (Maria) – 8. September, (2.) „für das Fest Allerheiligen“ – 1. November, (3.) „für das Fest der Gemeinschaft der Heiligen und zunächst: Von einem oder mehreren Aposteln und Evangelisten“ – viele Daten sind hier möglich, (4.) „für einen oder mehrere Märtyrer“ – z.B. Timmotheus Martyr, 24. Januar; 40 Märtyrer, 10. März, (5.) „für einen Bekenner“, (6.) „für das Fest der (Kirch)Weihe“ (siehe beiliegende Kopie). Die neuen Predigten sollen die insgesamt 128 Lesungen und Auslegungen zum Kirchenjahr, die Simon du Bois abgedruckt hatte, ergänzen. Die Einordnung in die liturgische Ordnung machte sie unauffällig für die französische Zensur. Betrachtet man jedoch die angegebenen Bibeltexte, so verschiebt sich die Sachlage. Themen sind nun: (1.) Die Abstammung Jesu (Mt 1,1–17), (2.) die Seligpreisungen (Mt 5,1–12), (3.) der Hass der Welt (Joh 15,17–25), (4.) Gleichnis vom sterbenden Weizenkorn (Joh 12,24–26), (5.) Gleichnis von der Wachsamkeit (Mk 13,33–37), (6.) der Zöllner Zachäus (Lk 19,1–9). Die thematische Auswahl ist auffällig. Selbst wenn es die Texte zu den angegebenen Gedenktagen nach der Perikopenordnung sind, behandeln sie doch inhaltlich zum Teil andere Themen. (1.) Statt über Maria wird über Christus gepredigt. (2.) Statt über die Heiligen über die Heiligung. (3.) Die wahren und falschen Bischöfe und Pfarrer. (4.) Martyrium um des Glaubens willen. (5.) Die Aufgabe des Bekennens. (6.) Statt über die Weihe der Kirche über die des Herzens. Es sind Themen ausgewählt, die für die Evangelischen aktuell sind: Maria, alle Heiligen, Bischöfe und Pfarrer, Notwendig344 BEDOUELLE/GIACONE, 270, Z. 12–13.
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keit des Martyriums, offenes Bekenntnis, Kirchweihe. Es soll Klarheit geschaffen werden über die die Gemeinden betreffende dringende Probleme. Die sechs Predigten unterscheiden sich grundsätzlich von den vorausgehenden Predigten. Es sind Predigten für die sich formierenden evangelischen Gemeinden und die einzelnen Glaubenden in feindlicher Umwelt. Die Themen sind sorgfältig ausgesucht, auf passende katholische Gedenktage bezogen und als Ausgangspunkt die zu ihnen gehörenden Bibeltexte genommen. Die Texte werden in der ersten und letzten Predigt auch ausgelegt. Die übrigen liefern lediglich die gesuchten Stichworte. Sie alle sind Themenpredigten – ausgenommen vielleicht die über den Zöllner Zachäus – ausgewählt aus aktuellem Anlass. 2. Calvin als Verfasser Zum Beleg für die Verfasserschaft Calvins bleibt methodisch nur übrig, einen Vergleich mit einer anderen, fast zeitgleichen Schrift Calvins vorzunehmen. Es bietet sich dafür die Einführung in das Neue Testament an, die er nur wenige Monate später für die Olivétanbibel in Basel verfasst hat. Es soll daher nach gleichen Gedankengängen und gleichen auffallenden Begriffen in den beiden Schriften gesucht werden. a. Gotteserkenntnis der Heiden 1534: Gesetz und Propheten haben angekündigt, „das heisst, zu wissen von dem von allen Menschen so erwartete und so ersehnte Jesus, dem ewigen König, dem Retter der ganzen Welt.“345 1535: Die Einführung ins Neue Testament behandelt in aller Breite die Gotteserkenntnis der Heiden auf Grund von Röm 1 und 2, Apg 14 und 17. b. Gottes Eigenschaften 1534: „denn gewiss ist Gott niemand anders als die höchste Güte, höchste Milde und unendliche Barmherzigkeit, der sich uns mitteilen will“346 Oder: „Aus diesem Grund ist er zu uns herabgestiegen, um uns die Lieblichkeit, die Güte, die Milde und Barmherzigkeit seines Vaters zu erklären.“347 1535: „Dennoch wollte der Herr der Barmherzigkeit, der nicht einfach liebt, sondern selbst Liebe und Mildtätigkeit ist, noch immer in seiner grenzenlosen Güte den lieben, der der Liebe nicht würdig ist.“348 Oder: „seine unendliche Güte und Milde gegenüber den Menschen“349 345 346 347 348 349
BEDOUELLE/GIACONE, 367, Z. 13–15 (von uns kursiv gesetzt). BEDOUELLE/GIACONE, 375, Z. 32–34. BEDOUELLE/GIACONE, 375, Z. 47–49. StA 1, 1, 37, Z. 7–9. StA 1, 1, 37, Z. 45.
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c. Die alttestamentlichen Verheißungen. 1534: „von welcher Nachkommenschaft er (Christus) sei. Gewiss von Juda, von David, von Salomo usw., damit man das wahre Geschlecht kennt, aus dem er kam, und den Ort, von dem er war.“350 1535: Die Propheten legten vollständig dar, „von wem er geboren werden solle, in welcher Zeit, an welchem Ort“. (usw.)351 1534: Abraham-Verheißung (Gen 22,18; 12,3) „Und diese Verheissung ist erneuert und durch Schwur unwiderruflich an David bekräftigt worden“ (2. Sam 7,11–13).352 1535: Verheißung an Abraham (Gen 22,18; 12,3) und Isaak (Gen 26,4) „Und diese Verheissung ist danach oftmals angezeigt, wiederholt und bekräftigt worden durch das Zeugnis verschiedener Propheten.“353 d. Christologie 1534: Jesus Christus „als seinen Herrn, seine Braut, seinen Gott zu empfangen“(Zachäus).354 1535: „Jesus Christus sei sein Gott, Herr und Meister“ (Werke der Schöpfung).355 1534: Christus, „der in die Welt herabgestiegen ist.“356 1535: Christus, vom Vater gesandt und zur Erde herabgestiegen.357 e. Bezeugen (tesmoigner), bekräftigen (confirmer) Es sind Begriffe, die Calvin oft gebraucht und die typisch für seine Sprache sind. 1534: „Diese Verheissung ist erneuert und durch Eid unwiderruflich an David bekräftigt worden“ (par jurement irrevocable confirmee)358 1535: „Und dieser Bund ist bestätigt und gültig gemacht durch glaubwürdige Mittel, durch Testament und Bezeugung“ (confirmeée et passée soubz instruments autentiques, du testament et tesmoignage)359 1534: Die Märtyrer heißen „tres heureux tesmoings de Jesuchrist“360, abgeleitet von Lk 21,3. („Das wird euch widerfahren zu einem Zeugnis“)361. In 350 BEDOUELLE/GIACONE, 367, Z. 22–23 (von uns kursiv gesetzt). 351 StA 1,1, 41, Z. 27–29 (von uns kursiv gesetzt). 352 BEDOUELLE/GIACONE, 367, Z. 19–20 (von uns kursiv gesetzt). 353 StA1,1, 41, Z. 25–27. 354 BEDOUELLE/GIACONE, 390, Z. 22 (von uns kursiv gesetzt). Maria ist Mutter ihres Gottes, ihres Schöpfers, ihres Retters und Erlösers; 368, Z. 45. 355 StA 1,1, 46, Z. 34–35 (von uns kursiv gesetzt). 356 BEDOUELLE/GIACONE, 383, Z. 333–334. 357 StA 1,1, 53, Z. 27f; vgl. 41, Z. 9. 358 BEDOUELLE/GIACONE, 367, Z. 19–20. 359 StA 1,1, 38, 12–14. 360 BEDOUELLE/GIACONE, 383, Z. 6–7.
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diesem Zusammenhang erscheint tesmoignage de verité, tesmoignage de sa parolle, tesmoigner verité u.a.362 Car testnoig sanct Paul.363 In der Predigt über Zachäus findet sich: wie das Evangelium bezeugt (comme tesmoigne l’evangile).364 1535: In der Einführung zum Neuen Testament erscheinen: confirmée par le tesmoignage (Propheten), plus confermer […] de ce grand Messiah, ratifie et confermée par sa mort (Christus), par plusieurs tesmoignages (Propheten), par certains et indubitables tesmoignages, grand tesmoig en nous coeurs usw.365 f. Bezeugen (testifier) 1534: Sainct Paul testifie366 Die Römerin Lucretia bezeugt (testifier) ihre Integrität.367 1535 En telles promesses annoncees et festifiees. Dieu testifiè (Mt 3,17). Nichts im Himmel und auf Erden, das nicht bezeugt (testifiè) hätte (usw.).368 g. Gewiss (certain), sehr gewiss (trescertain) Die Begriffe erscheinen oft. 1534: Gewiss ist die Verheißung, das Pauluswort, die Schrift, die Propheten, die Evangelisten, die Apostel, die Wahrheit des Evangeliums, die Lehre (tres veritable et certain), usw. 1535: Das Vertrauen, die Hoffnung, die Verheißungen Gottes, das Evangelium (trescertain et manifest), die Wahrheit usw. Hierher gehören auch: Jesaja und Sacharia reden amplement et certainement369, certains et indubitables tesmoignages.370 h. Der Glaube (foy) ist sicher (ferme), treu (fidele), lebendig (vive). 1534: la simple et ferme foy (Elisabeth)371; ferme et vive foy (Märtyrer)372; foy fidele (Ruth)373.
361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373
BEDOUELLE/GIACONE, 376, Z. 16. BEDOUELLE/GIACONE, 383, Z. 3, 8, 11. BEDOUELLE/GIACONE, 373, Z. 9. BEDOUELLE/GIACONE, 389, Z. 12–13. StA 1,1, 40, 22–24; 42, 15–16; 44, 4–5;44, 20; 44, 22; 44, 30. BEDOUELLE/GIACONE, 373, Z. 2. BEDOUELLE/GIACONE, 382, Z. 15–16. StA 1,1, 42, 8; 44, 27–28; 46, 34. StA 1,1, 42, 4–5. StA 1,1, 44, 22. BEDOUELLE/GIACONE, 369, Z. 10. BEDOUELLE/GIACONE, 383, Z. 13. BEDOUELLE/GIACONE, 369, Z. 30.
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1535: la vive foy (durch das Hören und Erkennen des Evangeliums)374; la foy et certitude der promesses de Dieu […] la vive foy (durch das Evangelium).375 Obgleich die sechs Predigten (1534) und die Einführung ins Neue Testament (1535) thematisch sehr verschieden sind, gibt es auffällige Übereinstimmungen. Am meisten überzeugt die häufige Betonung der Gewissheit des Wortes Gottes und des Glaubens. Sie wird mit vielen, unterschiedlichen Begriffen ausgedrückt. Die Korrektoren des Edition de Vingles, von denen gleiches zu erwarten wäre, gehen – wie gezeigt – sparsam mit der Betonung der Gewissheit um. i. Ergebnis Die sechs Predigten und die Einführung gehören deutlich zusammen. Der Verfasser der Einführung, Calvin, ist auch der Verfasser der Predigten. Doch ist der Verfasser der Predigten auch identisch mit dem Verfasser der Rektoratsrede vom 1. November 1533? Denn bekanntlich zitiert er dort Luthers Predigt über die Seligpreisungen von 1522, übersetzt von Martin Bucer ins Lateinische im Jahr 1526. In seinen Predigten übernimmt er aus Luthers Predigt zur ersten Seligpreisung das Zitat Ps 62,11.376, zur fünften Seligpreisung den Verweis auf die fünfte Bitte des Herrengebetes, zur sechsten Seligpreisung den ganzen Gedankengang, der nur wenig ausgeschmückt ist, und zur siebten Seligpreisung ebenfalls die Hauptgedanken.377 Es ist unwahrscheinlich, dass zwei Autoren fast gleichzeitig nach derselben Quelle greifen. Noch überzeugender ist die Übereinstimmung, wenn Calvin auf das Martyrium zu sprechen kommt. In der Rektoratsrede erklärt er zur achten Seligpreisung „Selig sind, die Verfolgung erleiden“, Regulus und Sokrates kannten die Gerechtigkeit Gottes nicht und hatten nur ihren eigenen Ruhm vor Augen. Doch selig sind nur die, die um der göttlichen Gerechtigkeit willen Verfolgung erleiden.378 In der Predigt über die Märtyrer erscheint derselbe Gedankengang. Die Römerin Lukrezia starb für die irdische Wahrheit. Aber für die Wahrheit des Evangeliums, die alle anderen Wahrheiten übersteigt, starben die heiligen Märtyrer.379 Die Verfasser müssen identisch sein.
374 375 376 377 378 379
StA 1,1, 48, 37. StA 1,1, 48, 36–37. BEDOUELLE/GIACONE, 373; Conciunculae quaedam M: Lutheri, 59r. BEDOUELLE/GIACONE, 375f; Conciunculae quaedam M: Lutheri, 62 r/v. StA 1, 1, 23, Z. 9–21. BEDOUELLE/GIACONE, 382f.
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3. Die Polemik in den Predigten a. Maria Der erste Vers von Mt 1,1–17 „Dies ist das Buch von der Abstammung Jesu Christi“ veranlasst Calvin, von dessen Ankündigung zu sprechen und nicht von Maria. An Hand vieler Bibelworte werden seine Heilstaten aufgezählt. Maria wird erst bei ihrem Lobgesang (Lk 1,54f.) und bei dem Samen der Frau, der der Schlange den Kopf zertritt (Gen 3,15), erwähnt. Zu dem Wort „Siehe, von nun an sollen mich selig preisen alle Kindeskinder“ (Lk 1,48) wird das Lob Marias in den höchsten Tönen angestimmt. Es endet, „Du bist die Mutter, du bist das Mädchen, du bist die Schwester, Ehefrau und liebe Freundin deines Gottes.“380 Die Worte der Elisabeth zeigen die glaubende Maria. (Lk 1,42–45). Dann wird kritisch festgestellt, dass die Schrift keine Auskunft gibt; „von wem, oder wann, wie oder an welchem Ort sie geboren wurde“.381 Man sollte nicht so viel von ihrer leiblichen Geburt sprechen. „Denn es ist offenbar, dass sie nicht geheiligt und vollkommen schön wurde, sondern dass Gott sie zu seinem Wohlgefallen ausgesucht hat.“382 Calvin wird polemisch: „Diese Angelegenheit, (die Ehre des Schöpfers der Schöpfung beizumessen), ach!, an zu vielen Orten lässt man sie zu, was durch eine kindische, weibliche und abergläubige Ehrerbietung geschieht, oder besser gesagt, durch eine satanische Illusion,“ durch unersättlichen Geiz und erbärmliche Habsucht.383 b. Heilige. Die acht Seligpreisungen Mt 5,1–12 werden einzeln und nacheinander ausgelegt. „Geistlich arm“ sind die, die Verfolgung und Anfechtungen erleiden. Die „Sanftmütigen“ werden das verheißene Land, das Paradies besitzen. Die „Weinenden“ werden getröstet, denn Gott wird alle Dinge wenden. Die „Gerechtigkeit“ ist die Gerechtigkeit des Glaubens, durch den wir vor Gott gerechtfertigt sind. „Barmherzigkeit erlangen“ heißt, Gott verfährt mit uns, wie wir mit unserem Nächsten verfahren. „Gott schauen“ meint nicht die Schau der himmlischen Majestät durch die Heiligen im Paradies, sondern die Schau der unendlichen Güte Gottes. Die „Friedfertigen“ sind die, die den Frieden unseres Mittlers haben, und den Frieden verkündigen. „Verfolgung erleiden“ heißt Geduld haben. „Der Lohn im Himmel“: Dennoch, lasst uns Gott so sehr lieben um seinetwillen (nicht um seiner Güter willen oder in anderer Hinsicht), wie es die scheinheiligen (benoistz) Heiligen gemacht 380 381 382 383
BEDOUELLE/GIACONE, 368, Z. 46–47. BEDOUELLE/GIACONE, 370, Z. 10–12. BEDOUELLE/GIACONE, 370, Z. 19–20. BEDOUELLE/GIACONE, 370, Z. 25–27.
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haben, die zu ihrer dauernden Übung jetzt für alle Ewigkeit im Paradies ihren Herrn und Gott loben, verehren, lieben, der gepriesen sei in Ewigkeit.384
Calvin lässt nicht alle Heiligen gelten, sondern nur die, die Gott (Christus) um seiner selbst willen lieben. Die anderen nennt er scheinheilig, weil sie Lohn erwarten und geschäftlich denken. An welche Heilige Calvin denkt, bleibt unklar. c. Bischöfe, Priester und Hirten. Der Text über den Hass der Welt (Joh 15,17–25) veranlasst Calvin, sofort mit der Kritik zu beginnen. Es gibt wahre und falsche Propheten, Apostel und Evangelisten. Hieronymus folgend unterscheidet er vier Arten von Aposteln.385 Zuerst die von Jesus und Gott, dem Vater, selbst Berufenen; sie stoßen wie er auf Hass. Zweitens die mittelbar Berufenen wie damals die Apostelschüler, „und jetzt alle guten Bischöfe, Priester und Pastoren“, denen das Evangelium zu predigen übertragen ist. (Der Leser denkt sogleich an die Gruppe von Meaux.) Wer dieser Aufgabe nicht nachkommt, ist wie ein Baumstumpf oder toter Stein Calvins Kritik geht noch weiter. Diese Amtsbezeichnungen stehen für den gehorsamen Dienst am Evangelium, „nicht für die zeitliche Herrschaft“. Seine Polemik steigert sich bei der dritten Gruppe. Es sind die durch Gunst, menschliche Zuneigung, Verwandt– oder Bekanntschaft, durch fleischliche Liebe und andere auf unordentliche Weise Ausgewählten. Die vierte Gruppe ist weder von Gott noch von Menschen ausgewählt; es sind „falsche Propheten, Hunde, verschlagene Arbeiter“ (2. Kor 11,13; Phil 3,2).Wir sollen beten, dass Gott uns von so großen Holofernes, Pharaonen, Antiochi und Neros befreit. Calvin beschreibt anschließend ausführlich die wahren Prediger. Noch einmal klagt er an: „Jetzt sind von allen Seiten Räuber, Diebe und Mörder mit Gewalt eingedrungen, […] welche Jesus Christus ganz verjagten und Leib und Seele der Seinen tyrannisierten. Wir wohnen inmitten der Hölle und sehen es nicht.“ Bei dieser harschen Kritik darf nicht vergessen werden, dass es für Calvin auch gute Bischöfe, Priester und Hirten gibt. d. Märtyrer. Calvin spricht zuerst dem freiwilligen In-den-Tod-Gehen die höchste Zeugniskraft zu. Dafür gebe es viele Beispiele in der griechischen und römischen 384 BEDOUELLE/GIACONE, 376, Z, 35–38. 385 Hieronymus nennt zu Gal 1,1 vier Arten, die Calvin zitiert und mit Erläuterungen auffüllt. Doch findet sich auch bei Hieronymus zur ersten Art „Jesaja […] und alle anderen“. Zur zweiten Art fehlt „durch das Mittel oder Amt“ der Menschen. Zur dritten Art nennt Hieronymus „cum hominum favore et studio“, allerdings „sed redempto favore vulgi in sacerdotium subrogari.“ Zur vierten Art zitiert er nicht die „Hunde“(Phil 3,2). PL 26, 312.
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Geschichte. Doch werde dort nur die weltliche Ehre verteidigt. Sie ist eine irdische Wahrheit. Die christlichen Märtyrer bezeugten die himmlische Wahrheit mit ihrem Tod. Dies Zeugnis wird ausführlich beschrieben. e. Bekenner. Der Text Mk 13,33–37 („Wachet und betet“). Aufgabe des Bekenners ist es, seinen Nächsten zu belehren und zu unterweisen, indem er allein Jesus Christus bekennt. Damit setzen sich die Bekenner größten Gefahren aus. Die andere Gefahr ist, dass der „Feind“ Zwietracht unter den Weizen sät (Mt 13,25). Calvin wendet sich also nun an die Glaubenden. Der Feind streut menschliche Phantasien, verschiedene Meinungen und Träume unter die (Auslegung der) Heilige(n) Schrift. Es sind Dinge, die nur schlecht mit der Schrift in Einklang zu bringen sind. Der eine redet so, der andere anders. Sekten, Abspaltungen, Uneinigkeiten und Streit folgen. Calvin nennt als Ursache, nicht „einfach an Christus glauben zu wollen, und ohne die Annahme und das Bekenntnis seiner Lehre hinzuzufügen“. Wer ist gemeint? Mangelndes Bekenntnis weist auf Nikodemiten hin. f. Kirchweihe. Zuerst legt Calvin den vorgegebenen Text über Zachäus, Lk 19,1–9, aus. Des Zachäus Sündersein als Zöllner – die Begierde, Jesus zu sehen – sein Herabsteigen vom Baum – der Ruf Jesu – die Änderung des Herzens – die Heiligung des Lebens. Dann auf die Kirchweihe eingehend: Das wahre Haus Gottes ist das Herz, ist Tempel des Geistes Gottes zu sein. Dieses Evangelium muss an jedem Tag vorgetragen werden, „ungehindert dessen, dass keine Erwähnung getan ist, weder von Steinen, noch vom Altar, damit man als das wahre Haus Gottes nur das Herz, die Seele und das Denken kennt“. 4. Calvin und der Antinomismus der Gruppe von Meaux in den Jahren 1533/34 Oben wurde nachgewiesen, dass Calvin zu dieser Gruppe gehörte und im Auftrag du Tillets, der auch ihr angehörte, die Predigtentwürfe verfasst hat. Es bleibt die Frage, ob er auch theologisch ihr angehörte und ihren Antinomismus geteilt hat. Der Begriff Gesetz erscheint in den Predigten nicht. Nun äußern sich auch die vorangehenden 128 Predigten nur zum Gesetz, wenn der Predigttext es erfordert. Das war in den sechs Predigten nicht der Fall. Es kommt hinzu, dass Calvin in ihnen nur zu Glaubenden spricht und zwar deren Anfechtung, nicht aber ihren Weg zum Glauben erörtert. Eine Ausnahme ist die Predigt über Zachäus. In den Text wird von ihm vieles hineingelesen. Erstens, er habe sich als Zöllner als armer Sünder betrachtet. Er habe sich
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als unwürdig erachtet, Jesus in sein Haus aufzunehmen. Zweitens die „Schnelligkeit seines Herzens“, denn er stieg eilends vom Maulbeerbaum herab. Dieser hat schöne Blätter, trägt aber keine Früchte. Drittens hat er aus der Wohnung des Teufels und der Sünde einen Tempel des heiligen Gottes gemacht; er wurde von Jesus Christus geheiligt. Viertens hat Jesus ihn durch sein Barmherzigkeit gerufen, und er hat sofort zugestimmt. Exegetisch war diese Auslegung falsch. Aber Calvin fügt zu jedem dieser Punkte eine Anwendung auf „uns“ an. Um der Adressaten willen, die glauben, erfolgt diese Auslegung. Trotzdem ist auffallend, dass die Mahnung des Gesetzes und die vor Rückfall fehlen. Der Anfang ist vielmehr die „Demut“ und das Ende die „Heiligung“. Dies ist die Begrifflichkeit des Antinomismus. Dafür spricht auch, dass Jesus und sein Evangelium in Calvins Predigten unterschieden werden.386 In der Ausgabe des Simon du Bois steht sowohl die Formel Jesuchrist et son evangile387 wie auch, aber seltener, l’evangile de Jesuchrist.388 Die Korrektoren verwenden diese Formeln nicht, lassen sie aber stehen. Damit verbunden ist die Betonung der mystischen Gemeinschaft mit Christus. Wir sind ein Leib in Christus (Röm 12,5) und Gott wohnt in uns.389 „Er wollte uns ernähren, um uns ihm einzuverleiben.“390 Gal 2,20 wird zitiert („Christus lebt in mir“).391. Diese Formeln finden sich auch in den 128 Predigten: „Der Herr Gott […], der in uns wohnt“.392 Nach dem Zusammenhang ist Christus gemeint. Das kann auch der Fall sein, wenn Calvin wie erwähnt, diesen Satz schreibt. Er erörtert, ob Zachäus würdig war, „seinen Gott zu sehen“.393 Jener wollte „seinen Herrn, seine Braut, seinen Gott empfangen“.394 Diese Christusgemeinschaft geht über das paulinische Denken hinaus. Es ist Christusmystik. Calvin, so muss man schließen, steht im Bannkreis des „Evangelisme“ von Meaux, seines Antinomismus und seiner Mystik. In welchem Maße dies der Fall war, ist schwer zu sagen. Colladon hat recht, wenn er die Predigten einen „Vorgeschmack“ der reinen Lehre nennt. Es gibt auch einen Hinweis, dass die Predigtsammlung später Calvin nicht mehr gefiel. Am 29. September 1542 beantragte der Drucker Jean Michel vor dem Genfer Rat die Druckerlaubnis für ein Buch mit dem Titel „52 Sonntage“. „Beschluss 386 387 388 389 390 391 392 393 394
BEDOUELLE/GIACONE, 381, Z. 13; 391, Z. 27–28 (doctrine evangelique). BEDOUELLE/GIACONE, 8, Z. 15f; 22, Z. 50; 33, Z. 16; 282, Z. 15. BEDOUELLE/GIACONE, 215, Z. 8/9; 309, Z. 31. BEDOUELLE/GIACONE, 369, Z. 3. BEDOUELLE/GIACONE, 383, Z. 33f. BEDOUELLE/GIACONE, 390, Z. 49f. BEDOUELLE/GIACONE, 213, Z. 7–8. BEDOUELLE/GIACONE, 389, Z. 29–30. BEDOUELLE/GIACONE, 390, Z. 22.
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(des Rates), dass es geprüft werden soll.“ Am 17. Oktober erfolgte der Entscheid. „Es ist dazu beschlossen worden, dass es nicht zur großen Erbauung (der Gemeinde) ist, dass das genannte Buch wiederhergestellt (das heißt, wieder gedruckt) werden soll.“ Ein heutiges Urteil lautet: „Das Buch ist nicht mehr veröffentlicht worden besonders wegen der Feindschaft Calvins.“395 Im nächsten Jahre hat Calvin sich vom Kreis von Meaux gelöst, wenngleich Anklänge an dessen Denken bleiben. So die Benennung Christi als Gott (s.o.). Es gibt zwei Beweise für Calvins Sinnesänderung in der Einführung zum Neuen Testament in der Olivétanbibel. Erstens verweist die Anrede auf bestimmte Adressaten. „An alle Liebhaber Jesu Christi und seines Evangeliums“ (A tous amateurs de Jesus Christ et de son evangile396). Sie richtet sich an die Gruppe von Meaux, denn die Unterscheidung der Person Christi von seinem Evangelium ist, wie gezeigt, typisch für sie. Faber Stapulensis überschreibt seine Vorrede zum Neuen Testament vom 6. November 1523: „An alle Christen und Christinnen, Gruss in Jesus Christus, wahre Erkenntnis und Liebe seines Wortes!“397 In einer der Predigten der Edition de Vingles findet sich sogar die Bemerkung, Jesu Wort richte sich à tous amateurs de l’evangile.398 Die Formel steht im Text der Korrektoren, die sonst die Unterscheidung Jesu und seines Evangeliums nicht verwenden. Kannten sie Calvins Einführung ins Neue Testament? Mit dieser Anrede tritt Calvin als Korrektor, nun aber nicht der Predigten, sondern der Gruppe von Meaux auf. Was er an ihnen (und an seinen eigenen Predigten) auszusetzen hat, wird aus dem Titel des Zweitdruckes von 1543 deutlich. „Deux Epistres, l’une demonstrante comment nostre Seigneur Iesus Christ est la fin de la Loy, et la somme de tout ce qu’il faut cercher en l’escriture. Composée par M.I. Calvin“399 Calvin will also über Christus und das Gesetz schreiben. Dem Antinomismus ist damit der Kampf angesagt. Werden aber Gesetz und Evangelium zwar unterschieden, aber auf einander bezogen, dann fällt auch der Christomonismus und die Christusmystik fort. Christus ist nun das Ziel (fin) des Alten Testaments und der Mittler zwischen Gott und Mensch. Notwendig tritt sein Werk in den Mittelpunkt und nicht mehr seine Person. Die „Summe“ der Schrift wird nicht zufällig in den Begriffen Testament und Evangelium zusammengefasst; diese werden erläutert.400 Fragt man nach der Ursache des Sinneswandels, so können die Korrektoren der Edition de Vingles der Anlass gewesen sein. Sie haben wiederholt 395 396 397 398 399 400
SCREECH, 26; siehe CO 21, 303. CO 9, 79; StA I, 1, 34f. HERMINJARD, A.L., Bd. 1, 159 (Nr. 79). BEDOUELLE/GIACONE, 179, Z. 4f. Bibliotheca Calviniana 43/8; vgl. CO 9, LXIII. StA 1, 1, 47, Z. 44–49, Z. 37.
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die bleibende Gültigkeit des Gesetzes als Zuchtmeister auf Christus hin (Gal 3,24) in den Text eingefügt. Doch kann auch ein reformatorisches Lehrbuch die Erkenntnisquelle gewesen sein. In dem fast gleichzeitigen Widmungsschreiben an König Franz I. zitiert er Melanchthons Loci communes von 1522 (s.u.). Oder aber Calvins eigene Bibellektüre war die Ursache. Spuren des Evangelisme finden sich weiterhin in seinen Schriften.
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TEIL II Calvin in Basel im Jahr 1535 – seine Anfänge als Wegbereiter und Verteidiger der Reformation
1. Die neuen Aufgaben in Basel P. WERNLE begnügt sich in seiner Schrift „Calvin und Basel bis zum Tode des Myconius 1535–1552“ im Blick auf Calvins Aufenthalt im Jahr1535 mit einer Auflistung der Namen der Personen, denen er in Basel begegnet ist oder möglicherweise begegnet sein kann. Es kommen außer dem Hebraisten Sebastian Münster und dem Gräzisten Simon Grynäus fast nur Franzosen in Frage. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Calvin incognito in Basel gelebt habe.1 Von Münsters Rolle bei der Abfassung der Einführung in das Alte Testament, die in der Olivétanbibel von 1535 abgedruckt ist, wird unten noch die Rede sein. Auch das Verhältnis zu Grynäus muss eng gewesen sein. Denn Calvin schreibt in der Dedikationsepistel zum Römerbriefkommentar, die er Grynäus widmete, sie hätten in Basel „freundschaftlich über die beste Weise der Schrifterklärung“ diskutiert.2 Angesichts des zurückgezogenen Lebens Calvins in Basel ergibt sich die Aufgabe, die in Basel verfassten Schriften und seinen Briefwechsel umso genauer zu betrachten, um ein Bild von seinem damaligen geistigen und theologischen Standpunkt zu gewinnen. Er verfasste drei Schriften. Einen Traktat über die Wachsamkeit der Seele (Psychopannychia) nach dem Tod. Er ist bereits in Orléans 1534 verfasst und soll in Basel gedruckt werden. Theologische Einführungen in die drei Teile der Bibel. Sie erscheinen noch 1535 mit seinem lateinischen Vorwort in Olivétans französischer Bibel. 1 Tübingen 1909, 6. P.G. BIETENHOLZ, Basle and France in the Sixteenth Centrury. The Basle Humanists and Printers in Their Contacts with Francophone Culture, Genève 1971, 58ff, listet die französischen Emigranten und Besucher Basels im Jahr 1535 auf. Er nennt Calvins Leben dort „the state of near-anonymity in which Calvin spent the year of 1535 among the Bâlois“ (94). Und: „Such prestigious contacts were denied to the young Calvin and probably he would not have cared for them.“ (95). 2 CO 10b, 402; Nr. 191.
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Eine Verteidigung der verfolgten französischen Protestanten. Das Widmungsschreiben an König Franz I. vom 23. August 1535. Absicht und Zielsetzung der drei Werke charakterisieren Calvins damaliges Denken und Handeln. Mit ihnen erweist sich Calvin als Wegbereiter und Verteidiger der Reformation. 2. Calvins Emigration nach Basel Zuerst seien die Biographien betrachtet. Beza (Vita I) berichtet in aller Kürze, Colladon weitet den Bericht aus (Vita II): Angesichts des armseligen Zustandes des französischen Königreichs in Hinsicht auf die Religion beschloss Calvin, dieses zu verlassen, um ungestörter und nach seinem Gewissen zu leben Er verliess Frankreich im Jahr 1534 mit dem genannten jungen Mann [du Tillet], bei dem er in Angoulême wohnte. Aber bevor er Frankreich verliess, verfasste er im selben Jahr in Orléans ein Buch mit dem Titel Psychopannychia, das heisst, das Schlafen und geradezu der Nachtzustand [richtig: das Wachsein] der Seelen. Damit widerlegt er den Irrtum einiger Leute, die meinen, dass die Seelen nach dem Tod der Leiber bis zum Tag des Jüngsten Gerichts schlafen.3
Bezas Darstellung in Vita III knüpft an die schweren Verfolgungen an, die auf die Plakataffäre im Oktober 1534 folgten. (Er korrigiert stillschweigend den Übersetzungsfehler Colladons.) „Calvin nahm diesen Zustand wahr und beschloss, Frankreich zu verlassen, nachdem er zuvor in Orléans jenes ausgezeichnete Buch herausgegeben hatte, dem er den Titel Psychopannychia gab. Es ist gegen den Irrtum jener Leute gerichtet, die lehren, dass die Seelen, nachdem sie von den Körpern getrennt sind, schlafen, ein Irrtum, der von den ältesten Zeiten an wiederholt worden ist. Den Beschluss fasste er mit jenem Mann zusammen, bei dem er, wie berichtet, in Angoulême gewohnt hatte.“4 Beza meldet weiter: In dieser Art die Lage betrachtend, […] beschloss Calvin, aus Frankreich wegzuziehen. Er fasste den Beschluss zusammen mit jenem Mann, mit dem er, wie berichtet, eine lange Zeit in Santonge zusammengelebt hatte. Sie nahmen den Weg nach Basel durch Lothringen. Nahe der Stadt Metz gerieten sie in grösste Schwierigkeiten. Einer der Knechte raubte treulos das Geld der beiden. Er sattelte das kräftigere der Pferde und floh so plötzlich, dass er durchaus nicht ergriffen werden konnte. Sie hatten so ganz unvorbereitet alles Reisegeld verloren. Sie erreichten Strassburg und dann Basel, da sie von dem anderen Knecht endlich zehn Goldstücke geborgt erhielten.5 3 4 5
CO 21, 57. CO 21, 124. CO 21, 124.
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Beza und Colladon werden diese Episode aus dem Munde Calvins erfahren haben. Aus den Biographien geht hervor, dass Calvin in Orléans die Schrift Psychopannychia verfasste und sie mit einer Vorrede versah, die erhalten geblieben ist. Mit du Tillet verließ er nach der Plakataffäre im Oktober 1534 Frankreich. Sie reisten über Straßburg und werden noch im selben Jahr in Basel eingetroffen sein. Der Aufenthalt Calvins in Basel kann also ziemlich früh angesetzt werden.6 Ein weiterer Umstand ist wichtig. Beza und Colladon behaupten nicht, es sei nach Calvin in Frankreich gefahndet worden, obwohl dies nicht auszuschließen ist. Als Grund geben sie lediglich an, Calvin habe mehr Ruhe (zu seinen Studien) haben wollen und ohne die Gewissensskrupel leben wollen, die ihm der katholische Gottesdienst und die abergläubigen Zeremonien bereiteten. Von irgendwelchen geplanten reformatorischen Aktivitäten ist bei den Biographen nicht die Rede. Sie führen ganz persönliche Beweggründe für die Flucht an. Beza und Colladon schöpfen aus Calvins Autobiographie im Psalmenkommentar, wo es heißt: Ich verliess auch meine Heimat und reiste nach Deutschland, in der Absicht, in einem unbekannten Winkel verborgen die mir seit langem versagte Ruhe zu geniessen. Aber siehe da, als ich incognito in Basel lebte, geschah es, dass in Frankreich eine Menge frommere Leute verbrannt wurden (usw.).7
Calvin fühlte demnach anfangs noch nicht den Auftrag in sich, Wegbereiter und Verteidiger der Reformation zu sein. Dies änderte sich bald. 3. Das Leben incognito Zum Leben in Basel incognito gehört schließlich sein Gebrauch von Pseudonymen. Ein Brieffragment an einen Unbekannten [1534 ?] trägt die Unterschrift „Passelius“. Pierre de la Place, ein Bekannter Calvins aus der Zeit in Angoulême, gebraucht das Pseudonym ebenfalls im Brief an ihn im Jahr 1540.8 Der Sinn ist nicht bekannt. Dann nennt ihn Capito in dem noch ausführlich zu besprechenden Brief [Ende 1534/Anfang 1535] „Martianus Lucanius“. „Lucianus“ ist ein Anagramm aus „Calvinus“, das er selbst auch im Brief an Christoph Fabri am 11. September (1535) gebraucht.9 Im Straß6 Conrad Gessners Bemerkung im Brief an Bullinger vom 24. Dezmber 1534 passt nicht auf Calvin und du Tillet. Er schreibt: „Hier (in Strassburg) sind vor 4 Tagen zwei Studenten angekommen. Sie sind den Franzosen durch Flucht entkommen.“ COR VI, 1, 101. Ein Chorherr und ein Lizentiat der Jurisprudenz werden kaum Studenten genannt worden sein. 7 CO 31, 23. 8 COR VI. 1, 90f (Nr. 16). 9 COR VI, 1, 101, 104 (Nr. 19) und 115, 117 (Nr. 22).
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burger Briefwechsel aus dem Jahr 1538 mit du Tillet in Paris heißt Calvin „Charles de Espeville“, nach dem Dorf bei Noyon.10 Vielleicht wollte Calvin du Tillet durch den Gebrauch eines Pseudonyms schützen. Der Grund für den Gebrauch so vieler falscher Namen ist nur schwer herauszufinden. Wahrscheinlich wollte er in Basel lediglich unerkannt und ruhig leben, wie er in seiner Autobiographie schreibt. Vor Verfolgung war er in Basel fraglos sicher. Umso auffälliger ist, dass die lateinische Vorrede zur Olivétanbibel mit seinem vollen Namen unterzeichnet ist.
Kapitel 8: Calvins Schrift über die Wachsamkeit der Seele nach dem Tod (Psychopannychia) und Capitos Kritik an ihr (1534/35) 1. Die Quellenlage Zum Thema gibt es nur vier gesicherte Quellen, Calvins Vorrede „Orleans 1534“, die zweite Vorrede „Basel 1536“, die undatierte Stellungnahme Wolfgang Capitos, des Straßburger Reformators, zur Drucklegung der Schrift und eine Bemerkung im Brief vom 11. September (1535) an Christoph Fabri. Das Werk trägt im Druck 1542 den Titel „Psychopannychia 1534. Vivere apud Christum. Non dormire animis sanctos, qui in fide Christi decedunt, assertio“.11 – „Die Wachsamkeit der Seele. Erklärung, dass die Heiligen, die im Glauben sterben, bei Christus leben und dass sie in Bezug auf ihre Seelen nicht schlafen.“ Doch der erste Entwurf von 1534 ist nicht überliefert. Er könnte auch einen anderen Titel getragen haben. Denn Calvin nennt im Brief an Fabri vom 11. September [1535] „mein Büchlein über die Unsterblichkeit der Seele“.12 Beide Titel widersprechen sich nicht. Mit Sicherheit geht aus der zweiten Vorrede von 1536 hervor, dass Calvin den ursprünglichen Text überarbeitet hat. In welchem Masse dies geschah, ist unbekannt. Jedenfalls darf nicht für die erste Vorrede der bekannte Text von 1542 vorausgesetzt und befragt werden. Ob er für die zweite Vorrede von 1536 heranzuziehen ist, ist gleicherweise unbestimmt. Jedenfalls sind die beiden Vorreden „Orléans 1534“ und „Basel 1536“ genau zu analysieren, um Anlass und Inhalt der Schrift herauszufinden. Dabei ist zu beachten, dass sie eine Einheit bilden, denn beide werden gemeinsam im Jahr 1542 als Einleitungen zur Schrift Psychopannychia abgedruckt. Calvin ist
10 11 12
COR VI, 1, 313, 318 (Nr. 57), 409, 412 (Nr. 75), 447 (Nr. 85). CO 5, 164–232. COR VI, 1, 117, Z. 1f (Nr. 22).
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also der Meinung, dass sie sich ergänzen oder die eine die Vorstufe zur anderen im Verständnis der Seele ist. Hinzu kommt der Brief Capitos an Calvin in Basel. Er wird in der Forschung nicht genügend beachtet. Doch bedarf er der genauen Betrachtung, denn Capito nimmt Einfluss auf Calvin und hat auch Erfolg, denn der Traktat wird vorläufig nicht gedruckt. Möglicherweise hat Calvin nach dem Verlassen Frankreichs in Straßburg das Manuskript Capito gezeigt und um eine Stellungnahme gebeten.13 Damit ist aber die Auflistung der Quellen noch nicht beendet. Wie erwähnt, berichten die Biographen, Beza und Colladon, nur mit knappen Worten übereinstimmend, dass Calvin im Jahr 1534 in Orléans die Schrift Psychopannychia veröffentlicht habe. Colladon setzt, wie erwähnt, hinzu: „Damit widerlegt er den Irrtum einiger Leute, die meinen, dass die Seelen nach dem Tod der Leiber bis zum Tag des Jüngsten Gerichts schlafen.“ Damit stellt sich die das ganze Quellenmaterial beherrschende Frage: Wer sind die genannten „einige Leute“? Gegen wen ist die Schrift gerichtet? In der Forschung herrscht Unsicherheit, ja Rätselraten. Nun ist aber eine Quelle übersehen. Nicolas des Gallars, Pfarrer in Genf, hat im Jahr 1552 „Ioannis Calvini opuscula“ veröffentlich, darunter auch die Psychopannychia. Er gibt im Vorwort, also noch zu Lebzeiten Calvins, wichtige Auskünfte über dessen Veröffentlichungen. Er beginnt mit der Psychopannychia. „Wie die (Feinde), die aus der Gruppe der Anabaptisten entstanden sind, eine neue Art einführten, um die Seelen zu töten. Sie gaben den Rat, sie könnten auf diese Weise die Erdichtung des Fegefeuers beseitigen, wie wenn durch einen Irrtum der andere beseitigt werden kann. Mit diesen Feinden ist er zuerst in Orléans zusammengestoßen und hat durch offenkundige Zeugnisse aus der Schrift ihr Irresein widerlegt“14 Damit ist der Schlüssel zu den Vorreden 1534 und 1536 gegeben. Die Feinde sind die Täufer, ihr Irrtum der Seelentod und ihr Ziel die Beseitigung der Lehre vom Fegefeuer. Dies ist im Folgenden in Betracht zu ziehen.
13 Terminus a quo kann Ende 1534/Anfang 1535 sein. Doch ist auch ein späterer Zeitpunkt möglich (Siehe COR VI, 1, 101f (Nr. 19). Ob der Brief nach der Vorrede „Orléans 1534“ oder nach derjenigen „Basel 1536“ verfasst ist, spielt für den Inhalt keine Rolle. 14 CO 5, IX. „Quemadmodum ii qui ex Anabaptistarum genere exorti novum necis genus animis inferebant, suadentes se hoc modo purgatoii figmentum sublaturos: ac sie error errore tolli posset. Cum iis primum Aureliae congressus, tam apertis scripturae testimoniis eorum deliria confutavit.“ HWANG, J.-U., Der junge Calvin und seine Psychopannychia, Frankfurt 1991, übersieht in seiner gründlichen Untersuchung diese Stelle.
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2. Die Vorrede „Orléans 1534“ Sie argumentiert auffallend unbestimmt, ist langatmig gehalten und ergeht sich in Andeutungen, wie man es bei Calvin nicht gewohnt ist. Bei genauem Zusehen ergeben die Andeutungen aber doch ein verständliches Bild. Konkret steht im ersten Absatz, dass „vor langer Zeit“ einige fromme Männer mit ihm gesprochen und „bald darauf“ von ihm eine öffentliche Stellungnahme verlangt hätten. Wer diese Männer waren, ist unbekannt. Es können nur Franzosen gewesen sein, es sei denn, es war Melchior Volmar in Orléans und Bourges, auf den der Plural aber nicht passt. Konkret ist der Anlass: Calvin soll „die Zügellosigkeit derer bezähmen“, die „heute, gleichzeitig unwissend und Unruhe verursachend, den Seelenschlaf oder den Seelentod behaupten“. Wer diese Leute sind, wird ebenfalls nicht gesagt, doch muss es sich um zwei Gruppen handeln. Seelenschlaf und Seelentod sind unterschiedliche, ja, sich widersprechende Lehren. Die Streitpunkte sind jedenfalls genannt. Die Meinung beider Gruppen werden von Calvin verschieden bewertet. Der Seelenschlaf wird von ihm als Irrtum eingestuft, der Seelenmord aber als Tollheit und ist streng zu bekämpfen. Schließlich macht er deutlich, dass die Beteiligten ganz unterschiedlicher Art sind. Es gibt Unerfahrene und weniger Geübte, aber auch „genugsam Gebildete, die oberflächlich diesen Gegenstand angerührt haben.“ Er scheint sie schonen zu wollen. Denn es gibt zwar „die Unverschämtheit derer, die diesen Schlaf unter dem Volk ausgebreitet haben“, aber er wolle sich an die Mahnung des Paulus halten, Maß zu halten (Röm 12,3). Die Beteiligten sind also in verschiedenem Maße in die Debatte einbezogen und sie gehören ganz verschiedenen Ständen und Bildungsgruppen an. Es muss also nach verschiedenen Seiten gesucht werden, um genaueres zu erfahren. a. Der Seelenschlaf Calvins Bericht ermöglicht, in die Entstehung des Streites Licht zu bringen. Zuerst „war mir nichts als Gemurmel und heiseres Geräusch zu Ohren gekommen.“ Das Feldlager der Gegner, ihre Waffen und Ausflüchte seien ihm unbekannt gewesen. Die Gegner hätten noch nicht den Kampfplatz betreten. Das habe sich verändert, als die Lehren sich ausbreiteten. Denn zunächst plauderten zwar einige verworren, dass die Seelen der Verstorbenen schlafen würden, definierten aber nicht genau, was unter dem Schlaf zu verstehen sei. Später erschienen die Seelenmörder, die Leute, die geradezu die Seelen ermorden, ohne sie zu verwunden. Meines Erachtens ist sowohl der Irrtum der einen nicht zu dulden als auch die Tollheit der anderen streng zu zügeln.
Fragt man, was Calvin in der Vergangenheit über den Seelenschlaf Konkretes gehört oder gelesen haben kann, so ist an Zwinglis Schrift In catabapti-
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starum strophas elenchus (1527) zu denken. Damit tauchen erstmals die Wiedertäufer auf. Die übrigen deutschen Bemerkungen gegen den Seelenschlaf bei Zwingli und Bullinger kommen aus sprachlichen Gründen nicht in Frage.15 Beide äußern sich nur kurz zum Seelenschaft. Ebenso wird ihm Luthers, Karlstadts und anderer deutscher Theologen Zustimmung zum Seelenschaft unbekannt geblieben sein.16 Doch Verbreiter dieser Lehre gab es auch in Calvins naher Umgebung. Im Brief vom 15. September 1523 an Margarete, des Königs Schwester, tröstet sie der Bischof von Meaux, Briçonnet, durch den Verweis auf den Seelenschaft. Die Seelen der Glaubenden erhielten einen „köstlichen Schlaf“ (savoureux dormir).Und Margarete selbst veröffentlichte 1533 in zweiter Auflage den Spiegel einer sündigen Seele (Le miroir de l’âme pécheresse). Dort spricht sie vom Tod, der „meinen sanften Schlaf beweint“. „Die Seele kann vom Tod nichts spüren: sie ist unsterblich und ewig. Indem sie den toten Leib belebt, steht sie mit ihm im Einklang. Indem sie sich vom Leib trennt, ist ihr Leben unbeherrscht und ändert sich nach ihrer Natur.“17 Wenn Calvin im zweiten Abschnitt der Vorrede über die Ausbreitung der Lehre vom Seelenschlaf spricht, dann scheint er auf Briçonnet und Margarete Bezug zu nehmen Auf sie trifft seine Aussage zu: „Einige plaudern verworren, dass die Seele der Verstorbenen schlafen würden, definieren aber nicht genau, was unter dem Schlaf zu verstehen sei.“ In der Tat sind die Seelen nach dem Tod bei beiden sehr aktiv. Der Eindruck entsteht, dass er Leute wie Briçonnet und Margarete von Valoir schonen will. Jedenfalls werden die Anhänger des Seelenschlafs milder behandelt als die des Seelentods. b. Der Seelentod Wenn Calvin anschließend auf den Seelentod zu sprechen kommt, wird sein Ton scharf. „Später erschienen die Seelenmörder, die Leute, die geradezu den Seelen die Kehle durchschneiden, ohne sie zu verwunden.“ Er ergeht sich anschließend nochmals über den Umstand, dass die Verbreiter der Lehre (vom Seelentod ?) nicht zu fassen sind. Es gäbe Flugschriften, die er nicht kenne. Er habe von Freunden Notizen erhalten. Aber die Gegner verbreiteten ihre Lehre durch Zischen und Plappern. Seine Rechenschaft des Glaubens (1. Petr. 3,15) müsse trotzdem erscheinen. Die eigenartige Lage entsteht, dass Calvin die Flugschriften der Gegner nicht kennt, wohl aber die Notizen von Freunden. Diese sind uns bekannt.
15 16 17
HWANG, J.-U., Der jungeCalvin, 123f. Ebd., 119f. Ebd., 121ff.
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Denn Freunde haben ihm das Werk Alfonsi de Castros, Adversus omnes Haereses (1534) zukommen lassen, die er eingesehen hat und zitiert. Seine Quelle ergibt sich aus der folgenden Synopse. Vorrede 1534 „Dieses Übel ist nicht jetzt zum ersten Mal geboren, weil wir ja lesen, dass gewisse Araber die Urheber dieser Lehre gewesen seien: sie rühmen sich, dass die Seele zusammen mit dem Leib sterben und am Tag des Gerichts beide auferstehen würden. [Marg.: Eus[ebii] ecc[lesiasticae] histor[icae] l[iber] 6. c.26. Augu[stini] lib[ri] de here[sibus] c.83 in dec[imo] l[ibro] dist[inctio] 16]
Alfonsi de Castro, Adversus omnes haereses „Die sechste Häresie besagt, dass die Seele des Menschen gleichzeitig mit dem Leib zugrunde geht. Und diese Häresie ist bis jetzt in zwei Sekten geteilt. Sie sagen gewissermassen, dass die Seelen gleichzeitig mit dem Leibern zugrunde gehen, aber später in der Auferstehung wieder mit dem Leibern auferweckt werden. Dieser Irrtum ist (wie Euseb lib[er] VI, historiae ecclesiasticae, ca. XXVI sagt) in den Gebieder Araber entsprungen. Aber weil ja Eusebius keinen Autor derselben benennt, sagt der heilige Augustinus im libr[um] de haeresibus, cap. 83, dass wir diese Häretiker die Arabischen nennen können18, mit welchem Namen sie von den Späteren, die über die Häretiker geschrieben haben, benannt werden.19 Durch die Disputation des Origenes, der sie persönlich anredete, sind sie nach dem Zeugnis des Eusebius schnell wieder zur Besinnung gekommen.20
18 AUGUSTIN, De heresibus, lib.1, 83: Itaque hos haereticos, quoniam nullum eorum ponit authorem, Arabicos possumus nuncupare. PL 42, 46. Arabici, PL 42, 25. 19 LUTZENBURGUS, Bernhardus (Lützenburger, B.), Catalogus haereticorum omnium, Paris 1522, auf den de Castro oft verweist, erwähnt die Arabici; 31526, fol. e1v; HWANG, J.-U., Der junge Calvin, 106. 20 AUGUSTIN, De heresibus, lib. 1, 83; PL 42, 46: in sexto libro ponit Eusebius, narrans eam (haeresim) exstitisse in Arabia. […] Sed hos disputatione Origenis praesentis et eos alloquentis, celerrime dicit fuisse correctos. BERNHARDUS LUTZEMBURGUS, Catalogus hereticorum, 1526, e1v, und CASTRO, A. de, Adversus omnes haereses, 1537, 44r, wiederholen den Satz.
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Und lange Zeit danach vertrat Johannes, der römische Bischof, diese Lehre; den die Pariser Schule zum Widerruf trieb. [Marg.: Ioan. 2 de quo Gers[onus] in sermo[ne] pasch[ae] priore] Nun waren einige Jahrhunderte hindurch die Funken beruhigt, sind aber neulich, von einigen Täufern angefacht, wieder aufgewirbelt worden.“
Andere (Häretiker sagen, es sei so, dass die Seele im Tod des Menschen mit dem Leib zu Grunde gehe, und dass sie niemals später zu- rückkehre. Auf Grund dessen erscheinen sie auch als solche, die die Auferstehung leugnen.
[…] Dies ist der Irrtum der Saduzäer gewesen, welchen Irrtum ich übergehen würde, wenn nicht ein anderer ihn später wieder zum Leben erweckt hätte. Weil ich aber beschlossen habe, mich allein mit jenen Häresien zu beschäftigen,welche nach Christi Kommen entstanden sind, und nicht jene Sekten, die vor der Ankunft Christi aufgetreten sind, wie auch der Heilige Vater Augustinus es in seinem Buch De haeresibus getan hat. Hermann Rissvich, ein Holländer also, den ich oben schon erwähnt habe21, hat nach den Saduzäern diesen Irrtum zum Leben erweckt. Ergo stimmen die Häretiker, auch wenn sie unter sich gespalten sind, dennoch darin überein, dass sie sagen: Die Seele geht mit dem Tod des Menschen gleichzeitig zu Grunde. Daher sind sie mit ein und demselben Schwert (zum Tode) zu bringen.22
Die Geschichte der Lehre vom Seelentods beginnt Calvin mit den Worten, „weil wir ja lesen“. Der Betrachter bezieht dies auf die nachfolgenden Quellenangabe, nämlich die Historia ecclesiastica des Euseb und auf die Schrift De heresibus Augustins. Doch kann dies nicht stimmen, denn Euseb schreibt lediglich, in Arabien haben sich (uns) fremde Autoren gezeigt (alieni authores exstiterunt).23 Augustin wiederholt die Angabe unter ausdrücklicherBerufung auf Euseb: Diese Häresie habe sich in Arabien gezeigt
21 Im Abschnitt „Engel“ schreibt de Castro, dass der Urheber des Irrtums, die Engel seien nicht erschaffen worden, weder gute noch schlechte, sei der Holländer Hermannus Rissvich gewesen, einer der Täufer (qui Christum semel professi sunt in baptismo). Er war vielen Irrtümern verfallen (er leugnete die Hölle, fol. 143r B, und dass die Materie, aus der die Welt erschaffen ist, nicht von Gott gemacht sei, sondern coaetenus, fol 166v/167r F/A). Nachdem er Busse getan und widerrufen hatte, ist er 1502 zum dauernden Gefängnis verdammt worden. Als er aus dem Gefängnis entkam, wurde er rückfällig und plapperte Schlimmeres als zuvor. Gefangen genommen, wurde er 1503 zum Feuertod verurteilt. (fol 40v C/E) 22 Adversus omnes haereses, fol.40v C/E. 23 PG 20, 598.
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(exstitisse).24 Calvin schreibt aber, „gewisse Araber seien die Urheber (autores) dieses Dogmas gewesen“.25 Er folgt A. de Castros Angabe in Adversus omnes haereses, Paris 1534: „Dieser Irrtum ist (wie Eusebius lib. VI, historiae ecclesiasticae ca, XXVI sagt) in Gebieten Arabiens entstanden (exorsus est).“26 Eine zweite Beobachtung stützt diese Annahme. Calvin übernimmt von de Castro die falsche Angabe Eusebius, Historia ecclesiastica Kapitel XXVI (richtig: XXXVII). Hingegen erwähnt er nicht den Hinweis auf die Lehre vom Seelentod bei dem Täufer Rissvich, wohl deshalb, weil dieser längst tot ist. Calvin verweist nur auf ihm unbekannte Vertreter der Lehre in der Gegenwart. Der Hinweis Calvins, Papst Johann XXII (die Marginalie schreibt fälschlich „Joan 2“) habe diese Lehre, nämlich „dass die Seele zusammen mit dem Leib sterbe und am Tag des Gerichts beide auferstehen“, auf Betreiben der Pariser Schule widerrufen, ist gut belegt. Der französische König rief am 19. Dezember 1333 eine Kommission aus Kardinälen und Theologen zusammen, die den Papst veranlasste, am 3. Januar 1334 zu widerrufen. Allerdings betraf dessen Lehre die Gottesschau (viso dei). Diese erfolge „in der Auferstehung der Toten, nicht aber schon der Seele für sich, getrennt vom Leib“, das heißt nach dem Tod. Ob Johannes XXII das Sterben der Seele mit dem Tod gelehrt hat, ist unsicher. Doch befindet sie sich nicht schon bei Gott.27 Belegt ist auch die Marginalie „Gerson habe Johann ‚2’ in seiner ersten Osterpredigt“ erwähnt. Denn in der Basler Ausgabe der Werke Gerson von 1518 heißt es: „Friede sei mit euch. Er wiederholt es Lukas 23 [richtig: 24, 36] und Johannes 20 [19, 21, 26]. […] Daneben, weil obendrein, erscheint die falsche Lehre Papst Johann XXII, die verdammt worden ist unter dem Schall der Hörner und Trompeten vor dem König Philipp, deinem Onkel, durch die Pariser Theologen.“28 Woher Calvin diese Informationen hatte, ist bislang ungewiss.29
24 PL 42, 46. 25 CO 5, 169f. 26 Ich benütze die Ausgabe Köln 1537, dort fol. 44r B. HWANG, J.-U., Der junge Calvin, entgeht, dass das Buch de Castros Calvin vorgelegen hat; er benutzt die Ausgabe Köln 1543, Paris 1543 (344). 27 DENZINGER/SCHÖNMETZER, Enchiridion Symbolorum, 331965, 295f. 28 Opera omnia, hg. von Lud. Hornken et al., Basel 1518, Bd.4, fol. xxxvi H. Vgl. HWANG, J.-U., Der junge Calvin, 106. Ohne die beiden Gegenpäpste zählte man Johann XX. 29 Im Brief an Sadolet (1539) wiederholt er die Anschuldigung in folgender Weise: Der Kardinal hatte zur Bestreitung der Gebete für die Toten bemerkt: „Meinen sie, dass die Seelen der Menschen zusammen mit ihren Leibern zugrunde gehen? Dies scheinen sie anzudeuten.“ (OS I, 451) Calvin entgegnet: „Du solltest den bissigen Ausspruch fallen lassen, mit dem du uns züchtigst, als würden wir meinen, die Seelen gingen mit den Leibern zugrunde. Wir überlassen solche Philosophie gerne euren grössten Päpsten mitsamt ihrem Kardinalskollegium. Von ihnen ist sie
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Es ist nun Gelegenheit, Des Gallas Auskunft über den Sinn der Lehre vom Seelentod einzufügen. Sie war demnach keine Spekulation, sondern hatte zum Ziel, der Lehre vom Fegefeuer die Grundlage zu entziehen. In der Tat ließ sie eine Reinigung der Seele im Fegefeuer nach dem Tod nicht zu. Doch wie Des Gallas richtig bemerkt, man kann nicht einen Irrtum durch einen anderen aufheben. c. Die Mahnung an einen Freund Schließlich geht Calvin auf den Einwand ein, durch die Rechenschaft seines Glaubens werde die Einheit der Kirche zerbrochen und die Liebe beschädigt. Dieser Einwand gibt nur aus katholischem Munde einen Sinn. Fragt man, wo Calvin mit der Lehre Roms in Konflikt gerät, dann bleibt nur die Lehre vom Fegefeuer übrig. Wie oben dargelegt, hatte Bischof Briçonnet im Jahre 1523 für seine Diözese verfügt, das Fegefeuer, die Gebete für die Toten und die Anrufung Marias und der Heiligen dürften nicht geleugnet werden. Und Shimura hatte festgestellt, dass in den „Épîtres et Évangiles“ das Fegefeuer kritisiert worden sei, indem es stillschweigend, aber offensichtlich übergangen sei. Beleg sind das Gleichnis vom Reichen Mann und armen Lazarus und andere biblischen Geschichten.30 Calvin reagiert in der Vorrede von 1534 in der Weise. „Darauf ist zu antworten: Erstens, wir anerkennen keine Einheit ausser in Christus, und keine Liebe, ausser wenn Christus selbst das Band der Liebe [Hos. 11,4 Vulg.] ist. Zweitens ist dieses Prinzip der Liebe beizubehalten, damit unser Glaube heilig und unversehrt bleibe. Drittens kann diese Disputation ohne Verletzung der Liebe durchgeführt werden“ (usw.). Die Antwort entspricht dem Christozentrismus der Gruppe von Meaux. Wer ist der „Freund“, den Calvin mahnt, „dass du sicher und unberührt in grösster Umsicht und Mässigung feststehst“. Als Adressat kommt jeder Franzose aus Calvins Umgebung in Frage. Bestimmte Namen zu nennen, würde auf Vermutung beruhen. Indessen muss der Angesprochene von dem „Tumult um nichtige Ansichten“ betroffen gewesen sein, also von der Diskussion um Seelenschaf oder Seelentod, sonst müsste er nicht ermahnt werden. Weiter kann Calvins Bemerkung helfen, dass bei dem Tumult „die Taumelgeister [Jes 19,14] die kirchliche Ruhe stören.“ Ist damit die kirchliche Ruhe eines katholischen Klerikers gemeint?31 Hinter dieser Deutung steht die Annahme, dass es im Jahr 1534 in Frankreich noch keine evangelischen Gemeinden gegeben habe. Im strengen Sinn gab es sie auch nicht. sehr treu schon vor vielen Jahren praktiziert worden und hat auch heute noch nichts von ihrer Anhängerschaft eingebüsst.“ (OS I, 473) 30 La crise de l’Evangelisme français ou l’Evangelisme radical, in: NEUSER, W.H. (Hg.), Calvinus sacrae scripturae professor, Grand Rapids 1994, 243. 31 Vgl, HWANG, J.-U., Der junge Calvin, 116.
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Aber es ist zu bedenken, dass der Bischof von Meaux, Briçonnet, in seinen Gemeinden regelmäßig das Evangelium predigen ließ und den Franziskanern das Predigen ohne seine Erlaubnis verboten hatte. Er berief neue Prediger und veröffentlichte die Predigtentwürfe der „Épîtres et Évangiles“, um eine biblische Verkündigung zu fördern. Die Bewegung wurde zurecht „Evangelisme“ genannt. Gemessen daran gab es sehr wohl evangelische Gemeinden, wiewohl erst im Aufbau. Die Mahnung Calvins an den Freund, festzustehen im Tumult derer, die die kirchliche Ruhe stören, ist verständlich, wenn sie auf das Bistum Meaux und auf Gemeinden dieser Art bezogen wird. Auch wenn im Unklaren bleibt, wer die „Taumelgeister“ sind, so bieten die „Épîtres et Évangiles“ doch Gelegenheit, zu prüfen, wie das Sein nach dem Tode verstanden wurde. Über den Seelenschlaf schweigen die Texte, doch zur Unsterblichkeit der Seele gibt es direkte oder indirekte Aussagen. Zu Lk 2,21 (Beschneidung Jesu): „Die große Beschneidung wird sein, wenn Gott alles Böse und alle Sünde trennen wird von den Seelen, wenn er sie bekleidet mit Unsterblichkeit, sie zum Ebenbild macht der Engel und seligen Geister.“32 Gemeint ist: im Jüngsten Gericht. Es wird also nicht die Lehre einer schöpfungsmäßigen Unsterblichkeit der Seele vertreten, das heißt, aller Menschen. Auf die einen wartet das ewige Leben, auf die anderen die ewige Verdammnis. Welcher Zustand nach dem Tod bzw. vor dem Gericht besteht, bleibt unbeantwortet. Tod und Gericht werden offenbar in eins gesetzt. Zu Phil 1,6: Der Tag Jesu Christi ist der Tag des Dahinscheidens eines jeden Menschen und, allgemein gesprochen, dies ist der Tag des Gerichts, an dem jeder empfängt nach seinem Glauben oder Unglauben, an dem sie den Weg gehen werden des Glaubenden, das ewige Leben, und des Nichtglaubenden, den ständigen Tod.33
Die Predigtentwürfe bevorzugen den Gegensatz ewiges Leben/ewiger Tod.34 Doch sind einigemale die Begriffspaare in den betreffenden Bibeltexten schon vorgegeben.35 Auch können die Begriffspaare Tod/Verdammnis und Leben/Heil auftreten.36 Über ein Leben nach dem Tod im Sinne Calvins spricht nur die Auslegung zu Joh 16,16–22.
32 BEDOUELLE/GIACONE, 48 (9 B). 33 Perpetuelle mort; BEDOUELLE/GIACONE, 346 (61 A). 34 Zu Lk 21,25–33; Joh 3,16–21; Röm 13,11–14; BEDOUELLE/GIACONE, 11 (2 B), 217 (38 B), 1 (1 A). 35 Zu Joh 8,51, Röm 6,19–23; BEDOUELLE/GIACONE, 146 (25 B). Zu Mk 16,14–20 ist Seligkeit und Verdammnis vorgegeben; BEDOUELLE/GIACONE, 201 (35 B). 36 Zu Lk 16,1–9, Lk 19,41–44, Eph 4,23–28; BEDOUELLE/GIACONE, 276 (48 B), 282 (49 B), 330 (58 A).
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Und er gab ihnen gewiss eine wichtige Unterweisung zum Trost gegen den Tod, wenn er ihnen sagt ‘Und über eine kleine Zeit werdet ihr mich nicht sehen, denn ich gehe zu meinem Vater’. Das gab er ihnen zur Unterweisung und auch für alle Glaubenden, die leiblich sterben und aus dieser Welt scheiden; es heisst, geistlich zu gehen und im Geist des Vaters. Und er zeigte es wohl, wenn er sterbend sagt, ‘Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist’ [Lk 23,46]. O, dieser Tod muss erwünscht sein und ein großer Trost für alle Glaubenden, wissend, wenn sie sterben, ist es kein Sterben, sondern leben im Geist und gehen zum Vater.37
Die Beispiele zeigen, dass die „Épîtres et Évangiles“ eine Unsterblichkeit der Seele nicht lehren, ja, dass sie an der Frage nicht interessiert sind. Sie wollen die Menschen ansprechen und auf den Weg des Heils führen. Dies genügt ihnen. 3. Capitos Kritik an Calvins Traktat 38 Der Straßburger Theologe gibt eingangs vor, nur eine Probe (gustus) des Werkes gelesen zu haben, weil die Schrift schwer zu entziffern sei. Sie gefalle ihm sehr. Der Verdacht besteht, dass er diesen Grund vorgibt, weil er den Inhalt nicht diskutieren will. Er missbilligt sie nicht. Aber Capito wendet ein, der Stoff sei für Streitigkeiten geeignet, „weil er auf beiden Seiten (Sekte und Gemeinde) ausserhalb der Analogie des Glaubens [Röm 12,6] behandelt wird.“ Er betreffe also nicht das Wesen des Glaubens. „Die sicherste Weise, die bedrängten Kirchen zu beraten, ist, wenn man ihnen Christus ganz genau vor Augen malt [Gal 3,1].“ Dazu gehört offensichtlich nicht die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bzw. des Seins nach dem Tode. Calvin möge über einen Stoff schreiben, der mehr Beifall verdient. Obgleich Capito die Ablehnung der Drucklegung in höfliche Worte kleidet, ist sie klar und eindeutig. Der Traktat erbaut die Gemeinde nicht. Auch Capito setzt voraus, dass es in Frankreich evangelische Gemeinden gibt. Doch übt er Kritik an ihrem Verhalten. Aus seinem Brief sind wichtige Vorbehalte zu erfahren. Es sind bedrängte Kirchen und sie haben „glänzende Autoren“. Doch fürchte er, dass durch Calvins Traktat ihr Eifer zum Glauben, den sie bisher gepflegt haben, nicht gesteigert wird, und dass sie abgehalten werden vom Eifer für die Frömmigkeit. Sie tragen das Kreuz ohnehin mit Widerwillen Als er im Jahr 1528 den Hoseakommentar herausgab, hätten ihn französische Freunde veranlasst, ihm ein Widmungsschreiben an Margarete von Navarra voranzustellen. Heute wollen sie lieber, dass er Ruhe gebe und nicht ihre Ruhe störe. Mit den glänzenden Auto37 38
BEDOUELLE/GIACONE, 185 (32 B). COR VI, 1, 102–104 (Nr. 19).
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ren werden Faber Stapulensis und Gérard Roussel gemeint sein, die Capito von ihrem Straßburger Aufenthalt her kannte. Sie lassen, wie auch Briçonnet, das Evangelium verkündigen oder verkündigen es selbst, fürchten aber jeden Einschnitt in den katholische Kultus. Denn dieser würde Verfolgungen nach sich ziehen. Vielleicht spielt Capito hier auf das Fegefeuer an. Capito tröstet sich mit der Hoffnung, „die Zeit wird ein volleres Verständnis der Heiligen Schrift lehren.“ Und an Calvin gewandt: „Die bedrängte Lage der französischen Kirchen erfordert, dass sie von allen Streitigkeiten ferngehalten werden.“ Wenn Calvins Vorrede Zweifel zurückließ, ob er zu den französischen Gemeinden spreche, so beseitigt der Brief Capitos ihn. Capito sieht den Traktat vor allem gegen sie gerichtet. Calvin ist seinem Rat gefolgt, den Traktat nicht drucken zu lassen. 4. Die Vorrede „Basel 1536“ Calvins Brief an Fabri in Neuchatel vom 11. September 1535 gibt Auskunft über die Neufassung des Traktats De animarum immortalitate.39 Calvin nennt es ein „neues Buch“. Die frühere Fassung „enthielt mehr meine Überlegungen zu gegnerischen Materialien, als bestimmte und geordnete Zusammenstellungen, auch wenn es eine bestimmte Form der Ordnung gab“. W. BALKE hat herausgefunden, dass der Traktat im Jahr 1542 in zwei Teile gegliedert ist, die symmetrisch einander zugeordnet sind, einen apologetischen und einen polemischen.40 Der erste enthält das biblische Material, der zweite greift die Gegner an. Die anfängliche Fixierung auf die Gegner hat er aufgegeben, das heißt, er hat den nun ersten Teil ausgearbeitet und den jetzt zweiten hintenan gestellt. Da er den Inhalt der neuen „bestimmten und geordneten Zusammenstellung“ nicht verrät, bleibt die neue Textgestalt im Unklaren. Das neue Thema, verglichen mit der Vorrede von 1534, ist die Autorität des Wortes Gottes. Es nimmt den ersten Teil der neuen Vorrede ein. Calvin argumentiert jetzt theologisch. Hingegen erscheinen die Begriffe Seelenschlaf, Seelentod und Unsterblichkeit der Seele nicht mehr. Sie werden vorausgesetzt. Der Leser wird zum Sprachrohr, wenn er Calvin „im Namen Gottes und unseres Herrn Jesus Christus“ anfleht, die ungeschmälerte Urteilskraft und den Geist, der gleichsam als Sitz der Wahrheit bereit steht, zu gebrauchen. 39 COR VI,1, 115–118 (Nr. 22). 40 Calvijn en die Doperse Radikalen, Amsterdam 1977, 24; vgl. HWANG, J.-U., Der junge Calvin, 179–182.
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Die Wahrheit herauszufinden, ist also eine Angelegenheit der Vernunft. Denn einige Leute sind bestrebt, Neuigkeiten zu hören (Apg 17,21). Aber Gottes Wort, das „jetzt aufs Neue an den Tag gebracht ist“, besteht seit Anfang der Welt und wird immer bestehen bleiben. Es ist also eine Sache der Vernunft, dem Wort Gottes zu vertrauen. Das Wort Gottes ist die Lehre des Heils, ist die Stimme des Lebens. Es gibt nur eine Stimme, nämlich die aus dem Mund Gottes. „Heisst das denn Christus kennenzulernen, ohne das Wort Gottes jeden beliebigen Lehren, auch den wahren, das Ohr zuzuwenden?“ Das heißt, auf Calvins Traktat angewandt, es gibt Menschen, die auf der Suche nach Christus sich den Lehren vom Seelenschaft oder Seelentod zuwenden, ohne das Wort Gottes zu befragen.“Diejenigen hingegen, wenn sie das Wort angenommen haben, durchforschen sie die (heiligen) Schriften, ob es sich so verhielte“ (Apg 17,11). Die Bibel dient ihnen als zusätzliche Vergewisserung. Es deutet alles daraufhin, dass Calvin damit den ersten Teil des Traktats begründen will. Dieser Deutung entspricht, dass der zweite Teil der Vorrede Angriffe auf die Gegner enthält. Sie gebärden sich, wie wenn sie auf dem Dreifuß der Pythia Orakel verkündigen. Sie suchen sogar Rat aus den Prophezeiungen (oracula) Gottes zu gewinnen, um ihre Irrtümer zu verteidigen. Calvin nennt sie Sekten, Unkraut, Gift usw. Er spart nicht mit Polemik. Die Adressaten sind dieselben geblieben. Es sind die nicht wenigen Gebildeten (boni viri), die zur Abwehr des Gegners nicht. gerüstet sind, und der nichtsnutzige Haufen der Täufer. Die Letztgenannten sind die eigentlichen Gegner. Er antwortet auch auf den Brief Capitos, wenn er den Vorwurf zurückweist, er habe einen Streit um nichts angezettelt. Nachdem er eine Theologie des Wortes Gottes entwickelt hat, kann er sich in seinem Vorgehen bestätigt fühlen. Eine direkte Bezugnahme auf die französischen Gemeinden enthält die zweite Vorrede nicht. Die Vorrede bezeugt, dass Calvins Ziel die Christuserkenntnis ist. Calvin hat die Mahnung Capitos beherzigt, den Franzosen Christus vor Augen zu malen. Es ist anzunehmen, dass sein Traktat jetzt die abschließende Form bekommen hat. Das heißt, er hat wahrscheinlich jetzt das „Leben bei Christus“ nach dem Tode in den Text eingefügt. Das Vivere apud Christum beherrscht den endgültigen Titel. Damit hat der Traktat jetzt ein seelsorgerliches Gepräge und Gewicht erhalten.
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5. Calvins Verständnis der Seele Calvin hat möglicherweise auch eine Stellungnahme zu zeitgenössischen Häresien beabsichtigt. Er kann die Bulle „Apostolici regiminis“ des 5. Laterankonzils vom Jahr 1513 gekannt haben. J.-U. HWANG fasst sie zusammen: „Hierin wurden drei Thesen als Häresien verurteilt: Erstens, dass die vernünftige Seele sterblich sei; zweitens, dass die Seele in allen Menschen nur eine sei; drittens, dass ein Teil von Philosophen die beiden Thesen mindestens philosophisch als wahr betrachten.“41 Die erste These betraf, um Calvins Begriff zu gebrauchen, den Seelenmord. Hinzu kam, dass der Italiener Pietro Pomponazzi im Jahr 1516 den Traktat „De immortalitate animae“ herausgab, in dem er im Sinne des Aristoteles behauptet, die vernünftige Seele sei vom Leib nicht zu trennen; sie sei also sterblich.42 Ob Calvin wirklich den Konzilsbeschluss und die Häresie des Pomponazzi gekannt hat, ist nicht beweisbar. Nach Calvins Vorrede 1536 muss auch das Verständnis der Seele dem Wort Gottes gemäß sein. Es sei daher ein Vorgriff auf den Text von 1542 vorgenommen, von dem ungewiss ist, ob er im Jahr 1536 schon vorlag. Wir beschränken uns auf den Schöpfungsbericht. Die Exegese und der Gedankengang Calvins sind einfach und leicht zusammenzufassen. Er findet das Wort anima (Nephesch) mehrmals in der Schöpfungsgeschichte. Die Tiere sind erschaffen zu „einer lebendigen Seele“ (Gen 1,20, 21, 24 und 30), und auch der Mensch ist zu einer „lebendigen Seele“ erschaffen (Gen 2,7b). Aber der Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht darin, dass Gott den Menschen selbst aus Erde geformt hat, während von den Tieren gilt, „die Erde bringe hervor“ (Gen 1,24). Vor allem hat Gott ihm den Lebensodem eingeblasen. Der göttliche Lebensodem macht das Besondere der menschlichen Seele aus; sie ist daher im Unterschied zum Tier unverweslich und unsterblich. Bei den Tieren bedeutet eine „lebendige Seele“ ihr „Leben“, wie Calvin zuvor als eine unter den biblischen Verwendungen des Begriffs ausführt: Seele ist eine Metapher für Leben.43 Und bei ihnen ist Seele bzw. Leben auf den Leib begrenzt, bei dem Menschen nicht, weil er – wie gesagt – von Gott „geformt“ ist und er dem Menschen seinen Atem eingeblasen hat. Zum Beweis wird in der Psychopannychia auf Apg 17,25 verwiesen: „Wir wissen, dass der Geist ein Hauch und Wind ist, und die Griechen ihn in dieser Hinsicht Odem (ʌvoȘv44) nennen.“45 Dass der Mensch Ebenbild Gottes ist (Gen 1,26). wird in Gen 2,7 näher ausgeführt. 41 Der junge Calvin, 165. 42 HWANG, J.-U., Der junge Calvin, 167. 43 CO 5, 178f. 44 „Apg 17,25 ist ʌvoȒ wie häufig in der LXX (–> 451, 34ff) der Lebensodem, den der Schöpfer allen schenkt.“ ThWB 6, 452.
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Doch der Beweggrund, warum Calvin diese Auslegung der Schöpfungsgeschichte vorlegt, ist genauer auszumachen. Zu Beginn des zweiten Teils der Psychopannychia nennt er als ersten und grundlegenden gegnerischen Einwand: „Sie (die Opponenten) entgegnen zunächst, dass dem Menschen von Gott keine andere Seele eingeflösst ist als die, die er gemeinsam hat mit den Tieren. Ihnen allen weist die Schrift in gleichem Masse eine lebendige Seele zu.“ Die Gegner sind also die Leugner der unsterblichen Seele des Menschen. Sie berufen sich auf das Schriftzeugnis. Calvin entgegnet: Ich gestehe ein, dass die lebendige Seele den Tieren mehr als einmal (in der Schrift) zugeschrieben ist, weil auch sie ihr eigenes Leben leben. Jedoch anders leben sie, anders lebt der Mensch. Eine lebendige Seele hat der Mensch, durch die er versteht und erkennt. Die Tiere haben eine lebendige Seele, die ihrem Leib Gefühl und Bewegung gibt. Da also die Seele des Menschen Vernunft, Verstand und Wille besitzt, Kräfte, die dem Leib nicht zuerteilt sind - ist es nicht verwunderlich, dass sie ohne den Leib bestehen und nicht zugrunde gehen wie bei den Tieren, die nichts haben als ihre leiblichen Empfindungen ?46
Calvins Beweggrund ist also die Verteidigung der Heiligen Schrift gegen die Leugner der unsterblichen Seele. Sie ist Grundlage der Lehre von dem Wachsein der Seele nach dem Tod. Philosophische Gründe und die Verteidigung der kirchlichen Lehre vom Fegefeuer werden bei den gegnerischen Thesen mitgespielt haben. Doch bewegen sie ihn nun dazu, das Verhältnis Tier/Mensch näher zu bestimmen. Ohne zu zögern, folgert er aus dem Begriff „lebendige Seele“, dass Tier und Mensch verschiedene Seelenkräfte besitzen. Calvin entwickelt aus Gen 1und 2 eine biblische Anthropologie. Sie ist die Grundlage, von der aus die weiteren Einwände der Gegner zurückgewiesen werden, bis hin zum Seelenschlaf und Seelentod.
Kapitel 9: Calvins Mitarbeit an der Olivétanbibel (1535) Calvins Beiträge zur Olivétanbibel sind die Vorrede und die drei Einführungen in das Alte Testament, in das Neue Testament und in die Apokryphen des Alten Testaments. Von ihnen haben zwei ihn zweifellos zum Autor, denn die Vorrede trägt seinen Namen und die Einführung ins Neue Testament erscheint im Jahr 1543 als Neudruck mit seinem Namen. Für die beiden übrigen Einführungen muss der Beweis seiner Autorenschaft erbracht werden. Nun sind alle vier Stücke nicht allgemeingehaltene Einleitungen für jedermann. Vielmehr sind sie alle thematisch gebunden. Die Vorrede erbringt 45 46
CO 5, 179, Z. 38f. CO 5, 201, Z.31–202, Z. 3.
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den Beweis, dass die Bibel keines königlichen Druckprivilegs bedarf. Die Einführung ins Alte Testament ist eine Missionsschrift zur Gewinnung der Juden und knüpft an die Schrift „Mitzwoth gadol“ an, die Sebastian Münster im Jahr 1533 hebräisch und lateinisch publiziert hat. Die Einführung ins Neue Testament trägt im Nachdruck 1543 die zutreffende Überschrift „Wie der Herr Jesus Christus das Ende des Gesetzes ist und Summe alles dessen, was man in der Schrift suchen muss“. Sie enthält eine Widerlegung des Antinomismus des Faber Stapulensis und also eine Absage an seine eigene frühere Theologie. Schließlich die Einführung in die Apokryphen bekennt sich zur veritas hebraica des Hieronymus, das heißt, nur die Schriften in hebräischer Sprache gehören zum Alten Testament und nur ihr Inhalt ist gewiss Gottes Wort; die Apokryphen sind aber griechisch verfasst und ihr Wahrheitsgehalt ist ungewiss. Ohne Frage sind alle zugleich geeignet, Einführungen in die jeweiligen Bibelteile zu sein. Vor allem die Einführungen ins Alte und Neue Testament erklären die zentrale Botschaft der Bibel. A. Calvins Vorrede zur Olivétanbibel47 Seine Praefatio zur Olivétanbibel, die im Juli 1535 erschien, ist älter als die zur Psychopannychia „Basel 1536“. In dieser belehrt er die Leser, dass die Lehre von der Seele eine biblische Begründung erfordert. Abschwächend kann er sagen, dass die Bibel den Glaubenden zur Vergewisserung diene (s.o.). Da die Vorrede von 1536 das Leben nach dem Tod bei Christus (apud Christum vivere) belegen will, ist sie seelsorgerlicher gehalten als die Bibelvorrede. Denn diese ist voller Polemik. Sie greift die Theologen an, die den Laien die Bibel in der Volkssprache vorenthalten. Es sind gottlose Stimmen48, grausame Hirten, sie behaupten, sie sprächen nicht mit eigenem Mund, sondern gleichsam wie die Pythia auf dem Dreifuß, verkaufen sie Rauch, sie sind Tempelräuber (sacrilegi), missgünstig und feindlich.49 In 47 COR VI, 1, 105–113 (Nr. 20); englische Übersetzung: BATTLES, F.L., Institutes of the Christian Religion [1536], Grand Rapids 21986, appendix IV; französische Übersetzung: ROUSSEL, B., Un privilège pour la Bible d’Olivétan (1535)?, in: PETER, R./ROUSSEL, B. (Hg.), Le livre et la Réforme, Bordaux 1987, 244–256 (258–261 auch der lateinische Text). 48 Die theologische Fakultät der Sorbonne wandte sich aus diesem Grunde im Jahr 1526 gegen Erasmus und Faber Stapulensis, COR VI, 1, 108, Anm. 5. In Dresden erschien 1533 ein Traktat „An expediat laicis legere Novi Testamenti Libros lingua vernacula? Ad serenissimum Scoticae Regem Iacobum V. Disputatio imter Alexandrum Alesium Scotum et Johannem Cochlaeum Germanum.“. ROUSSEL, B., Un privilège pour la Bible d’Olivétan (1535)? Jean Calvin et la polémique entre Alexander Alesius et Johannes Cochlaeus, in: PETER, R./ROUSSEL, B. (Hg.), Le livre, 239. Calvin kann leicht den Streit aus französischen Quellen kennengelernt haben. 49 COR VI, 1, 108, Z. 25; 100, Z. 69f; 111, Z. 85–87; 112, Z. 106f.
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Basel trägt Calvin erstmals eine scharfe Polemik gegen die römischen Widersacher vor. Nicht zufällig entzündet sie sich am Zugang aller Menschen zur Bibel. „Privilegia“ ist nicht nur die Druckerlaubnis, sondern auch die Schutzzusage, drei Jahre lang das Buch verkaufen zu können und so die Investition des Buchdruckers zu sichern.50 Calvin zeigt, dass die Bibel keinerlei Privileg bedarf. Er greift aber auch in den herrschende Streit ein und antwortet auf fünf gegnerische Einwände. Erstens, dem einfachen Volk sollten die göttlichen Geheimnisse nicht bekannt gemacht werden, sie sind unerfahren in den akademischen Künsten, sind ungebildet. Calvin hält dem entgegen, dass Personen aus vielen Ständen in der Bibel von Gott zur Verkündigung berufen werden. Entscheidend sei, dass jemand „von Gott gelehrt“ sei (Jes 54,13; 1. Thess 4,9). Die Bibel (Apg 21,9) und Kirchenväter lassen auch Frauen an der Verkündigung teilnehmen. Zweitens bestünde die Gefahr, dass das gemeine Volk in seinem einfachen Denken das Unverstandene verdreht und Gift statt Nahrung schluckt. Calvin entgegnet, das Evangelium sei eine Kraft Gottes für Juden und Griechen (Röm 1,16). Zum Ärgernis und zur Torheit werde allein Christus (1. Kor 1,23). Drittens, es sei besser, das Volk in Gehorsam zu halten statt in Belehrung. Calvin entgegnet, erneut unter Berufung auf einige Kirchenväter, die göttliche Lehre sei die beste Medizin gegen die Häresie. Viertens werde das Volk unbändig und hochmütig, wenn es einen Geschmack an der heiligen Schrift empfange. Dazu Calvin: Unbändig nennen sie es, wenn das Volk nicht an ihren Lippen hängt wie an der Prophezeiung (der Pythia) auf dem Dreifuß. Wahrscheinlich enthält der Einwand der Gegner eine Anspielung auf den Täuferaufstand in Münster vom Jahr 1534, denn Calvin kontert übermäßig hart: Ihre Geheimnisse (arcana) enthielten soviel Schamlosigkeit wie die Baccanalien der Fruchtbarkeitsgötter. Fünftens: Einige, die als ein wenig gerechter erscheinen wollen, geben vor, dass nur mit dem gewöhnlichem Brauch (vulgari usu) das gemeine Volk zufrieden sein müsse. Gerechter erscheinen sie Calvin deshalb, weil sie dem Volk die Bibel zugestehen, wenn auch nur in der lateinischen, dem Volk unverständlichen Sprache der Vulgata. Wie bereits oben erklärt, gaben sich die Theologen an der Sorbonne damit eine schwere Blöße, denn sie verteidigten eine unzulängliche, fehlerhafte Bibelübersetzung gegen den humanistischen Ruf „Auf zu den Ursprachen!“ (ad fontes). Calvin legt sodann die Schwächen der Vulgata an den Tag (s. Kap. 1, Abs. 5).
50
S. COR VI, 1, 107, Anm. 1; ROUSSEL, B., Un privèlege, 234, Anm.3.
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Es ist festzustellen, dass Calvin in seinen Ausführungen dem berühmten Ausruf des Erasmus in der Einleitungsschrift Paraclesis zum griechischen Neuen Testament entspricht. Jener schreibt: Die Philosophia Christi ist für jeden zugänglich. Christus will, dass seine Mysterien so weit wie möglich verbreitet werden. Ich möchte, dass alle Weiblein das Evangelium und die paulinischen Briefe läsen. Dass sie in alle Sprachen übersetzt würden! Dass doch der Bauer daraus sänge bei seinem Pflug und der Weber sich daraus vorsummte an seinem Webstuhl, dass mit solchen Geschichten der Wanderer sich den Weg kürzte.51
Die Olivétanbibel erfüllt diese Aufforderung, Es verwundert auch nicht, dass Calvin sich wie Erasmus für die Frauen besonders einsetzt. So grundsätzlich Calvin die Bedeutung der Bibel für die Christen und ihre Übersetzung und Verbreitung in der Volkssprache behandelt, so sehr ist er sich bewusst, am Anfang einer neuen Epoche der Kirchengeschichte zu stehen. Erstmals reflektiert er den Umbruch, der mit der Reformation erfolgt ist. Er sieht in der sichtbaren Zuwendung zur Bibel Gott am Werk. Ich fordere nur dies, dass es dem gläubigen Volk erlaubt sei, seinen Gott sprechen zu hören, und von ihm als Lehrenden zu lernen. Er will vom Kleinsten bis zum Grössten erkannt werden [Jer 31,34]. Es wird verheissen, dass alle Gottgelehrte sein werden [Jes 54,13; 1.Thess 4,9].) Er lehrt Wissen und gibt das Gehörte zu verstehen denen, die entwöhnt sind von der Milch, denen, die von der Brust abgesetzt sind [Jes 28,9]. Er gibt Weisheit den Kindern [vgl. Mt 11,25]. Er befiehlt, dass den Armen das Evangelium verkündet wird [vgl. Mt 11,5]. Da wir sehen, dass Menschen aus allen Ständen in der Schule Gottes Fortschritte machen, erkennen wir Gottes Wahrheit, der von seinem Geist sagt, dass er ausgegossen werde über alles Fleisch [Joel 2,28; Apg 2,17].52
Calvin ist der Meinung, dass in seiner Zeit die Verheißungen Gottes in Erfüllung gehen. „Wir sehen (videmus), dass Menschen aus allen Klassen Fortschritte machen in der Schule Gottes.“ Gewiss, Calvin spricht nur vom Fortschritten. Aber diese sind eine sichtbare Erfüllung der Zusagen Gottes. Calvin spricht im Präsens: Gott lehrt (docet), Gott gibt das Gehörte zu verstehen (facit intellegere), wir sehen (videmus), wir erkennen (agnoscimus). Nun könnte die Geschichtsdeutung auch humanistisch, im Sinn des Erasmus gemeint sein. Doch wäre dann von der Renaissance des Altertums die Rede, von den Ideen der Griechen und Römer und von der Rückkehr zur Bibel. Calvin sieht jedoch die biblischen Verheißungen erfüllt, nach denen Gott selbst lehrt und zu belehren befiehlt. Der Anbruch des Goldenen Zeit-
51 CLERICUS, J. (Hg.), Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia … Lugduni Batavorum LB V, 140 C; s. HUIZINGA, J., Erasmus, deutsch von Werner Kaegi, Basel 1951, 124. 52 COR VI, 1, 109, Z. 41–48.
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alters53 wird nicht erwartet. Kurze Zeit später, in der Vorrede „Basel 1536“, wird er eine knappe Formel gebrauchen: Das Wort Gottes sei „jetzt aufs Neue an den Tag gebracht.“ (s.o.). Es gibt aber auch Hinweise auf ein humanistisches Geschichtsbild Calvins. Wenn die Kirchenväter mahnen, die Bibel zu lesen, dann gehören sie zum reineren Zeitalter (purior illo seculo). Der Komparativ bedeutet eine Minderung gegenüber dem saeculum purum, der Urchristenheit. Er schreibt: Weil Chrysostomos verlangt, dass das Lesen der heiligen Schrift für das einfache Volk notwendiger sei als für die Mönche, weil es in den verschiedenen Wogen der Sorgen und Geschäfte in den Schiffbruch geschleudert wird, und weil es sofort weg von diesem Zeitalter gerissen wird, was geschieht, wenn sie nicht diesen Anker festhalten? […] In jener reineren Zeit (der Kirchenväter) bestand dies(e Gefahr) noch nicht so, sondern durch viele Jahre hindurch hat später diese Freiheit (des Lesens) gegolten, bis dann das zuchtlose und in seinen Begierden versunkene Volk aus seiner Liederlichkeit und Trägheit heraus diese Art des Studiums (der heiligen Schrift) verwarf. Jetzt aber, wo sie wiederhergestellt zu werden beginnt, taucht diese Tyrannei wieder auf, die das Volk von dem allgemeinen Guten abhält.54
Demnach ist die biblische Zeit das saeculum purum. Schon die Zeit der Kirchenväter ist depraviert zum nur reineren Zeitalter. Es folgt die völlige Depravation, die sich bis in die Gegenwart noch gesteigert hat. „Jetzt“ beginnt die reformatio gegen den Widerstand der Gegner. Melanchthon hat dieses Geschichtsbild in seiner Wittenberger Antrittsrede im Jahr 1519 klassisch ausgeführt.55 Calvin konnte sie ohne weiteres auf die Kirchengeschichte und speziell die Reformation übertragen. Es bleibt nur die Frage, ob er die Kirchenväter ebenso hoch wie Melanchthon geschätzt hat. Die Vorrede zur Olivétanbibel deutet darauf hin. Er schließt mit dem Lob auf den Übersetzer, Olivétan. Doch fällt auf, dass er die Übersetzung, gemessen an der fehlerhaften Vulgata, nur eine interpretatio purior nennt.56 Wie er Fabri schreibt, hat er Olivétan eine Durchsicht des Textes des Neuen Testaments angeboten.57 Seine Zurückhaltung im Vorwort ist also überlegt geschehen.
53 Siehe NEUSER, W.H., Der Ansatz der Theologie Philipp Melanchthons, Neukirchen 1957, 80–82 (BGLRK IX). 54 COR VI, 1, 109, Z. 57–65. 55 Vgl. NEUSER, W.H., Der Ansatz, 19–26. 56 COR VI. 1, 111, Z. 102. 57 COR VI. 1, 116 (Nr. 22).
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B. Die Einführung in das Alte Testament Es ist der Forschung entgangen, dass die Einführung eine Auseinandersetzung mit der Schrift des Rabbi Moses ben Jacob de Coucy „Sefer Mitzwoth hagadol“ (Großes Buch der Gebote) ist.58 Die praefatio des Mose ben Cozi oder Coucy ist vor den praecepta affirmativa ins Lateinische übersetzt unter der irreführenden Überschrift „Praefatio Sebastiani Munsteri in librum praeceptorum affirmativorum“ (e8a).59 Die Beachtung dieser Schrift lag eigentlich nahe, denn sie wird am Ende der Einführung zum Alten Testament namentlich genannt. Beweis für Calvins Kenntnis der Schrift ist schon die Nennung der Seele als Laterne (lucerna) in beiden Dokumenten und ebenfalls die Zitierung der wahrlich auffälligen Bibelstelle Dtn 22,6–7 „Lass den Vogel laufen, der auf seinen Eier brütet“ (Praecepta affirmativa Nr. LXV) durch Calvin. Außerdem nimmt die Einführung augenfällig die theologischen Begriffe auf, die Moses ben Jacob de Coucy in der Vorrede gebraucht. Diese Einsicht hat zur Folge, dass die bisherige Erörterung der Autorenschaft Calvins überholt ist. Die Forscher waren geteilter Meinung, ob der Gedankengang calvinisch sei oder nicht. Zieht man die Vorrede de Coucys heran, so zeigt sich, dass die Einführung ins Alte Testament eine Missionsschrift ist. Der Verfasser will die Juden zum christlichen Glauben führen. 1. Die Verfasserschaft Calvins Die Einführung ins Alte Testament ist auch aus weiteren Gründen Calvin zuzuschreiben. Dem Verfasser ist nicht nur de Courcys Schrift bekannt, denn er zitiert aus ihr, wie erwähnt, ausgefallene Stellen, sie trägt auch Calvins Handschrift, wie ein Vergleich mit anderen Aussagen Calvins beweist.
a. Die Erschaffung der Seele Sie wird in gleicher Weise beschrieben wie in der Psychopannychia 1542, wenngleich kürzer:
58
Der Titel des lateinischen Teils lautet: CATALOGVS OMNIUM PRAECEPTORVM LEGIS et tredecim numerantur, cum succincta Rabinorum expositione et additione traditionum, quibus irrita fecerunt mandata dei. Haec Sebast[ianus] Munsterus utriusque linguae Latinae et Hebraicae studiosis legenda impartit. BASILEAE EXCVDEBAT HENRICVS PETRVS. (Am Ende:) BASILEAE EXCVDEBAT HENRICVS PETRVS MENSE MARTIO AN[NI] M.D.XXXIII. (Bibliotheca Palatina V 1697 (ebr: 24) fich 4606) Eine genaue Beschreibung des Druckes bietet J. PRIJS, J. ergänzt von B. PRIJS, Die Basler Hebräischen Drucke (1492–1866), Olten und Freiburg i. Br. 1964, Nr. 37. 59 Auf den Verfasser der Schrift, auf die lateinische Übersetzung durch Sebastian Münster und die hebräisch/lateinische Drucklegung durch ihn in Basel 1533 hatte mich im Jahr 2002 Professor S.G. BURNETT hingewiesen, dem ich herzlich danke. MOSAICAE, QVAE AB HEBRAEIS SEXcenta
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Adam war anfangs aus Erde gemacht worden (Gen 2,7a) gleich den Tieren, so viel den Leib betrifft. Im Blick auf seinen anderen Teil (sc. die Seele) war er unsterblich geschaffen worden, denn Gott der Herr blies ihm die Seele oder den Geist des Lebens ein (Gen 2,7b). Diese Seele ist unsterblich, denn sie steht über der (übrigen) Schöpfung und über dem Stand der verweslichen Dinge und ist göttlich eingehaucht. Davon kommt es, dass die heidnischen Dichter die Seele einen Teil des göttlichen Odems nennen.60 Und der Apostel, der heilige Paulus, sagt: Wir sind der göttlichen Natur teilhaftig (Apg 17,28).
„Allerdings ist der letzte Satz eher von den Wiedergeborenen gesagt, die den Geist Christi empfangen haben.“ Auch in der Psychopannychia wird Apg 17,25 auf die Wiedergeborenen bezogen.61 Die Exegese von Gen 2,7 und Apg 17,25 ist in beiden Fällen dieselbe. b. Das Seneca-Zitat In der Einleitung zum Alten Testament wird Seneca zitiert, dessen Schrift De clementia Calvin kommentiert und 1532 ediert hatte. Die Lehre vom Gesetz dient dazu, zu wissen, was der Schöpfer befiehlt und was er von dir fordert. Höre in dieser Sache auf Seneca, einen Heiden, der unter den alten (Schriftstellern) der grösste und eifrigste Befürworter der Tugend war. Er bekennt, dass die heftigsten Affekte zurückschlügen und sich widersetzten, dass aber die Vernunft uns anleite und von uns alles Gute und Tugendhafte fordere. Daher meint er, dass kein Mensch gut sei, aber das Gute unter den Menschen bei einigen schlechter bestellt sei als bei anderen.
Calvin unterscheidet zwei Aussagen Senecas: 1. „Er bekennt, dass die heftigsten Affekte zurückschlagen und sich widersetzen, dass aber die Vernunft uns anleite und von uns alles Gute und Tugendhafte fordere.“ Calvin bezieht sich deutlich auf eine Stelle in Senecas Schrift De clementia und zwar auf seine eigene Auslegung einer Bemerkung Senecas, in der er „die friedlichsten Herzen“ erwähnt. Dazu Calvin: Pythagoras und Plato teilten die Seele in zwei Teile, den vernünftigen und den vernunftslosen. „In jenen zweiten Teil verlegen sie die stürmischen Gemütsbewegungen, Zorn und Begierden, die der Vernunft entgegengesetzt und feindlich sind.“62 Auch an einer anderen Stelle kommentiert Calvin: „Jene inneren Affekte sind der Herrschaft der Vernunft nicht unterworfen.“63 Das Gute und Tugendhafte sind von ihm oft gebrauchte Begriffe.
60 61 62 10–14. 63
„Gott gibt allen Leben und Odem“, Apg 17,25. CO 5, 179, Z. 42f. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary on Seneca’s De clementia, Leiden 1969, 40, Z. BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 58.
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Calvin schreibt in der Einführung zum Alten Testament: 2. „Daher meint Seneca, dass kein Mensch gut sei, aber das Gute unter den Menschen bei einigen schlechter bestellt sei als bei den anderen.“ Bei Senecas Bemerkung in De clementia „Wir haben alle gesündigt“ (usw.) verweist Calvin auf eine ähnliche Stelle hin in Senecas Schrift De ira: „Das sollt ihr wissen, es gibt so viele Übertretungen wie es Menschen gibt.“ Calvin setzt hinzu: „Offenbar sind die Übertretungen aller Menschen nicht gleich oder sich ähnlich. Dennoch haben wir alle gesündigt.“64 Statt von der Sünde geht Calvin in der Zusammenfassung vom Guten aus. Es ergibt sich, dass Calvin offensichtlich beidemal sich selbst zitiert. Es ist unwahrscheinlich, dass ein anderer, der als Autor der Einleitung in Frage käme, die Sätze Calvins aus De clementia anführen würde. Die beiden angeführten Punkte mögen als Beweis für die Verfasserschaft Calvins genügen. Der dritte betrifft sein systematisches Denken und seine Theologie als ganze. 2. Die Einführung zum Alten Testament als Missionsschrift Es kann nur ein indirekter Beweis für die Verfasserschaft Calvins sein. Doch ist der logische Gedankengang und die konsequente Gliederung zu beachten, mit der die Schrift Mitzwoth gadol zu einer christlichen Missionsschrift umgearbeitet ist. Die nachfolgende Einleitung zum Neuen Testament wird wieder diese meisterhafte Systematik aufweisen, die für Calvin kennzeichnend ist. a. Die Vorlage de Coucys Rabbi Moses ben Jacob de Coucy hat „Das große Buch der Gebote“ im Jahr 1293 verfasst. Er will in der Vorrede den Leser überzeugen, dass der Schöpfer sich über den Sünder erbarmt, wenn er ihm das Gesetz gibt. De Coucy entwirft eine Heilsgeschichte des Gesetzes, die von der Schöpfung bis zum Tag des Gerichts reicht, vorausgesagt durch den Prophet Maleachi. Sie verläuft in fünf Abschnitten. 1. Die Schilderung eines Schöpfungsmythos. Gott erschafft die Engel und wilden Tiere mit entgegengesetzten Naturen. Mit der Erschaffung des Menschen verbinden sich beide Naturen, nämlich den Schöpfer zu erkennen, lieben und ehren (wie die Engel) und das Dichten und Trachten zum Bösen (Gen 6,5) (wie die unvernünftigen Tiere). 2. Nach dem Sündenfall kommt es zur unversöhnlichen Zwietracht zwischen beiden Naturen. Es ist der Streit zwischen Fleisch und Geist. Dieses begehrt, was ihm angenehm ist, jener hält am Studium des Gesetzes und am Gebet fest. Wenn 64
BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 128.
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der Geist herrscht, ist der Mensch ein verständiges Geschöpf, doch das böse Trachten des Fleisches verdient die Hölle. 3. Dieser Gefahr zu entgehen, hat Gott dem Menschen das Gesetz gegeben. Er hat ihm viele Wohltaten erzeigt und viele Wunder vor Augen gestellt, damit die Last des Herrn (Mal 1,1) ihm leichter werde und er Trost im Gesetz finde. Er kämpft gegen den inneren Feind und lehnt die Erreger äußerer Reize ab. 4. Damit er fest im Glauben bleibe, hört er (im Gesetz) Gott vom Himmel sprechen, damit er weiss, er gehorcht nicht den Geboten der Menschen, sondern denen Gottes. Der Helfershelfer des Gesetzes ist Mose. Nach ihm kamen viele Propheten, die in Formen, Rätseln und Gleichnissen sprachen. Der letzte, Maleachi, mahnt, das Gesetz müsse bleiben bis zu (dem neuen) Elia (Mal 3,22f); er predigt den großen Tag des Herrn (Mal 3,19). Deut sagt, „Bewahrt alle meine Gebote“ (Dtn 4,2). Das Bewahren geschieht durch ein entschlossenes Herz und die Durchführung des Gesetzes. Doch gelten die Gebote nicht mehr, die außerhalb des gelobten Landes nicht erfüllt werden können (wie Opfer usw.). b. Calvins Bezugnahme auf die Schrift Mitzwoth gadol Es ist als gesichert anzunehmen, dass Calvin in Basel in Verbindung mit Sebastian Münster stand und auch, dass er an Hand des Mitzwoth gadol Hebräisch lernte. Die zweisprachige Ausgabe sollte das Lernen erleichtern. Im Titel heißt es: „Sebastian Münster hat die Schrift in lateinischer und hebräischer Sprache hervorgebracht, damit sie von den Studenten gelesen werden soll.“ Doch wie dem auch sei, de Coucys Vorrede muss ihn angeregt haben, aus der Anleitung zur Gesetzesfrömmigkeit eine christliche Missionsschrift zu machen. In der Vorrede an den frommen Leser versichert Münster, aus keinen anderen Gründen die Schrift herauszugeben, „als dass ich allen bekannt zu machen begehre, in wie viel Wahnsinn und Finsternis jenes Volk gefallen sei“.65 Calvin geht den umgekehrten Weg. Er betont das mit den Juden Gemeinsame. Das besagt schon die Anschrift: „Gruss an unsere Bundesgenossen, das Volk des Sinaibundes“. Die Begrenzung auf das Alte Testament ermöglicht ihm die Anrede der Juden als „Bundesgenossen“. Auch vermag er an der Vorlage anzuknüpfen, weil das Ringen um Sündenerkenntnis und Heil dort tief verwurzelt ist. Endlich ist das Gesetz dort auch Träger der Gnade und nicht nur ein strenges Gebot. Die meisten der von de Coucy verwandten Begriffe gehörten zur zentralen biblischen Verkündigung. Mission ist für Calvin daher ein langsames, aber entschiedenes Führen der Juden von den gemeinsamen Grundlagen hin zur Christusbotschaft. Während Sebastian Münster das Verstocktsein der Juden 65
Vgl. PRIJS, J., ergänzt von PRIJS, B., Die Basler Hebräischen Drucke (1492–1866), 66.
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herausstellt66, versucht Calvin ihnen klarzumachen, dass der Glaube an Christus folgerichtig und logisch ist. Der systematische Aufbau der Einführungsschrift gibt Einblick in die Anleihen, die Calvin bei de Coucy macht. (Die übernommenen Begriffe sind kursiv gesetzt.) Gruss an unsere Bundesgenossen, das Volk des Sinaibundes I. Zielangabe: Die wahre Erkenntnis Gottes und seines Wortes erlangen 1. Erste Stufe der Seligkeit: Furcht Gottes 2. Zweite Stufe: Erkenntnis Christi als Messias II. Der Krieg zwischen Fleisch und Geist 1. Chephez – Gefallenhaben am Gesetz des Herrn (Ps 1,2) 2. Yezer Hara – das böseTrachten des menschlichen Herzens (Gen 6,5; 8, 21; Röm 2,7f) 3. Fleisch, Seele und Geist Gottes 4. Adams Sündenfall 5. Der Krieg zwischen Fleisch und Geist 6. Schöpfungsordnung: Leib und Seele III. Der volkommene Gesetzesgehorsam 1. Von ganzem Herzen (Dtn 6,5) 2. Eifer durch Lesen des Gesetzes 3. Psalm 1, 2: Gotteserkenntnis und Gottvertrauen IV. Der Mensch im Zwiespalt 1. Das Gesetz deckt die Sünde auf 2. Die Verheissungen des Gesetzes und des Bundes 3. Mose, der Mittler des Bundes V. Der neue Bund 1. Der Mittler des neuen Bundes 2. Der Geist Christi reinigt wirklich 3. Christus ist die vollkommene Erlösung und Gerechtigkeit und der wahre Sohn Davids VI. Ist das Gesetz aufgehoben? 1. Der Hauptteil des Gesetzes ist ins Herz geschrieben – das neue Gesetz 2. Talmudisten: Gültig sind nur noch einige Zeremonialgesetze Schlussgebet Es sind naturgemäß die Abschnitte I bis IV und VI, in denen auf die Vorrede de Coucys und auf die praecepta affirmativa zurückgegriffen wird. Der Abschnitt I enthält die Zielangabe. Ausgehend von Dtn 6,2, der Furcht Gottes (praecepta affirmativa III) und der von de Coucy erwähnten Erkenntnis Gottes wird hingeleitet zu Christus, dem wahren Messias. Der Abschnitt V enthält das neutestamentliche Zeugnis, das die christliche 66
Siehe ebd.
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Heilsgeschichte abschliesst. De Coucys Heilsgeschichte ist aufgegriffen und in eine neue, christliche Reihenfolge gebracht. c. Die Einleitung zum Alten Testament eine Missionsschrift Aus christlicher Sicht betrachtet, ist der Schöpfungsmythos der Vorlage aufgegeben. Doch ist die Beschreibung des Menschen zwischen Gut und Böse beibehalten, ja, mit Gen 6,5 und 8,21 zu einem Hauptpunkt der Beweisführung gemacht. Es überrascht der Satz über den Fall Adams und die unversöhnliche Zwietracht der beiden Naturen, der jedoch eine Einfügung Münsters in den lateinischen Text ist.67 Calvin wird von ihr nichts gewusst haben, greift den Gedanken aber in seiner Einführung auf. Er unterstreicht die Verlorenheit des Menschen. Ja, Calvin verschärft sie noch. Das Fleisch ist bei de Coucy das Begehren nach dem Angenehmen und das Trachten nach den Gelüsten des Leibes. Calvin verbindet mit dem Fleisch auch Wollust, Eitelkeit, Begierden des Leibes usw. Er setzt aber hinzu: „in sie taucht das Fleisch ganz unter“. Oder: „Das Fleisch schliesst den Geist das ganze Leben hindurch aus“. Der zweite Hauptpunkt ist bei ihm die Wirksamkeit des Gesetzes. Calvin verschärft es: Das Gesetz verlangt „vollkommenen“ Gehorsam. Es deckt nur die Sünde auf und es verurteilt, errettet aber nicht. Calvin führt den primus usus legis ein, die Anklage des Gesetzes. Es bleibt für den Menschen nur die Rettung durch den Messias Christus, den Mittler des Neuen Bundes. Calvin erläutert dies den Juden im fünften Abschnitt unter vielfältigem Rückgriff auf das Alte Testament. Zuvor verweist Calvin mit Genugtuung auf Aussagen der Ausleger des Talmuds (Talmudisten), „dass das Gesetz abgetan werden muss unter der Regierung Christi, ausgenommen das Buch Ether“.68 Gemeint ist wohl „unter der Regierung des Gesalbten“.Wahrscheinlich ist lediglich das Wort Messias übersetzt. Auch sagen sie, die Zeremonialgesetze (wie die Opfer) können Juden außerhalb ihres Landes nicht einhalten. An dieser Stelle führt Calvin den Verfasser des Buches Mitzwoth gadol und Bachai über das Deuteronomium an; sie sagen, das Gesetz sei wegen des bösen Herzens willen gegeben. Calvin betont, das Gesetz (als Heilsweg) sei unter Christus aufgehoben, da es seinen Zweck erfüllt habe. Sein Anliegen kommt noch einmal klar zum Ausdruck, wenn er zusammenfasst: „Gewiss würden sie, wenn sie sich mit dem Gesetz beschäftigen und es erforschen, beschämt und erschrocken über sich selbst sein, (und zwar) wegen der Sünde, die vorhanden ist und dem Menschen anhängt. Sie würden ihrer eigenen Tugend und Kraft misstrauen und würden am Ende 67 68
Siehe PRIJS, J., ergänzt von PRIJS, B., Die Basler Hebräischen Drucke (1492–1866), 67. Die Quelle ist unbekannt.
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streben nach dem verheissenen Heil, und würden es zum Geschenk erhalten wie wir, die wir glauben und erkennen.“ Ohne Frage entwickelt er seine Gedanken konsequent auf dieses christliche, missionarische Ziel hin. 3. W.F. Capito als Verfasser ? a. Das Grußwort Die Adresse gibt Rätsel auf. „V.F.C. an unsere Verbündeten und Bundesgenossen vom Berg Sinai“. Was bedeutet „V.F.C.“ ? Es sind viele Lösungen vorgeschlagen worden: Volfgangus Fabricius Capito (im Französischen und Lateinischen ist W immer V) – Viret Farel Calvin – Votre Frère Calvin – Votre Frère Chrétien 69. Ausgeschlossen ist, dass der Verfasser den Brudernamen gebraucht, wenngleich er den Juden freundlich gesonnen ist. Er will sie ja erst zum christlichen Glauben hinführen. Für „Wolfgang Fabricius Capito“ sprechen sich B. ROUSSEL70, R. WHITHE71, J. M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY72 und A. DETMERS73 aus. In der Tat trägt das Titelblatt zu Capitos Hoseakommentar (1528) die Namensangabe „V.F.Capito“. Doch ist es schwer erklärbar, dass Capitos Schrift, da er kein Französisch sprach, aus dem Lateinischen ins Französische übersetzt worden sei. Das Argument, die anderen Deutungen seien „weitgehend spekulativ und ohne jede Analogie“74, trifft nicht zu. Denn für „Viret, Farel, Calvin“ spricht, dass in Olivétans Vorrede nur drei Zeitgenossen bei Namen genannt werden: Saunier, Viret und Farel mit hebräischen Tarnnamen.75 Hinzutritt die lateinische Vorrede des „Johannes Calvinus“. Auch war unter den Beteiligten bekannt, dass die Einleitung zum Neuen Testament von Calvin stammt. In diesem Fall wäre die Tarnung in der Einleitung zum Alten Testament fortgesetzt worden. Daher ist die Auflösung des Kürzels in „Viret, Farel Calvin“ die wahrscheinlichste. Zudem erscheint die Anrede „an unsere Verbündeten und Bundesgenossen“ nicht bei Capito, wohl aber später bei Calvin. In der Institutio ist sie Bezeichnung der Väter des Alten Bundes. In der Ausgabe von 1539 steht „foederatos“76 und in der Institutio von 1559 „foederatos“ und „consortes“77. Doch sind alle Lösungsversuche letztlich bloße Vermutungen. Übrig bleibt nur die inhaltliche Beweisführung. 69 HWANG, J.-U., Der junge Calvin, 139, Anm. 201. 70 François Lambert, Pierre Caroli, Guillaume Farel, 40f. 71 An Early Reformed Document, WthJ, 53, 1991, 95. 72 Calvin und die Juden – eine offene Frage?, 183, Anm. 3. 73 Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin, Stuttgart 2001, 268–276 (Judentum und Christentum 7). 74 Reformation und Judentum, Stuttgart 2001, 275. 75 Olivétanbibel, Apologie du translateur, *IIIa, *Va. 76 CO 1, 801, cap. XI. 77 Inst II, 10, 1; OS III, 403, Z. 5–11.
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b. Römer 11,25 „Den entscheidenden Hinweis für die Verfasserschaft der Vorrede [durch Capito] gibt jedoch die Frage der endzeitlichen Rückkehr der Juden.“ (A. Detmers)78 Jedoch spricht die Einleitung an der betreffenden Stelle gar nicht von dem Volk des alten Bundes. Vielmehr heißt es: „und weil das fleischliche Israel nicht mehr dem Königtum dieses Königs David gehorchte, gibt es ein anderes israelitisches Volk, welches der Prophet Jeremia im Kapitel 33 [6ff] beschreibt. Aber wann wird es zurückkehren? Wenn die Fülle der Heiden wird eingetreten sein [Röm 11,25].“679 Es ist also an das geistliche Volk Israel gedacht. Capito bezieht die Aussage hingegen ausdrücklich auf das „fleischliche Israel“.80 c. Capitos Stellung zu den Juden Es gibt einen weiteren Grund, der gegen die Verfasserschaft Capitos spricht. Capito ist den Juden im Hoseakommentar nicht freundlich gesonnen. „Electissima vasa sunt, qui per orbem, Antichristi tyrannidem premuntur, Papistae, Iudaei, Turcae, Tartari, et id genus.“81 Juden unterdrücken Christen und zählen daher zum Antichrist. Capitos Bezeichnung der Juden als “Nachbarn“ (vicini) ist lokal und nicht theologisch gemeint.82 d. Die Hebräischkenntnisse Zwar wird in der Olivétanbibel nicht zwischen den Buchstaben Sin und Schin unterschieden (also nicht Ha Schegal sondern „Hasegel“, die Geschändete). Auch werden He und Chet mit „H“ wiedergegeben (also nicht Chephez sondern „Hephez“, die Begierde). So weist es das Alphabet am Schluss aus (fol. nn vi b). Die Doppelung „Me-Meribah, das heißt, Wasser des Trotzens“ (Ex 17,7; Ps 95,8) kann jedoch kein Druckfehler sein, sondern zeugt von Sprachunsicherheit. Trotzen, hadern heißt „ribah“, und nicht „Meribah“. Auch fällt auf, dass „Mitzvoth“ verschrieben ist: „Mithvoth“, das heißt, der Buchstabe Sade ist weggelassen. Das Alphabet am Schluss transskribiert „Zade z“ und „Thau th“. Capito, der ein ausgewiesener Hebraist war, wären diese Fehler nicht unterlaufen. Calvin war hingegen ein Anfänger im Hebräischen.
78 Reformation und Judentum, 272. 79 Von uns hervorgehoben. Zum französischen Text s. DETMERS, A., Reformation und Judentum, 273, Anm. 124. 80 Im Hoseakommentar. Zum Text s. DETMERS, A., Reformation und Judentum, 273. 81 In Hoseam prophetam, 27a, zu Hos 1,9. 82 DETMERS, A., Reformation und Judentum, 272, Anm. 120, zitiert Capito zu Hos 2,25. Vide optime lector, quam hebraei sint vicini vero. Der Vordersatz lautet aber: ita Israelitis adiungentur plurimae gentes. (In Hoseam prophetam, 65b); es ist also die örtliche Nähe gemeint.
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Die Tatsache, dass der Verfasser der Einleitung und Capito „hebräische Fachbegriffe im laufenden Text“ zitieren (A .Detmers83), spricht nicht gegen Calvin. Abgesehen vom gegebenen Anlass streut auch er später hebräische Begriff und Buchstaben in den Text seiner Kommentare ein. e. Die Kenntnis der rabbinischen Schriftsteller Einleitung und Hoseakommentar „verwiesen beide auf dieselben jüdischen Exegeten und auf den Talmud.“ (A.Detmers)84 Das trifft nicht zu, denn Capito kennt die Hauptquelle nicht, die Schrift Mitzwoth gadol. Auch spricht die Einleitung nicht vom Talmud, sondern generalisierend von Talmudisten. Calvin war indessen die Schrift Mitzwoth gadol durch Sebastian Münsters Übersetzung in lateinischer Sprache zugänglich. Woher er den Inhalt des Pentateuchkommentars des Bacharja ben Ascher kannte, der seit 1492 in mehreren Ausgaben hebräisch erschienen war, ist allerdings unbekannt.85 Es ist als erstes an Sebastian Münster zu denken. C. Einführung in das Neue Testament 1. Überblick Das Grußwort zu Beginn richtet sich nicht einfach an die Christen, sondern an diejenigen, „die Christus und sein Evangelium liebhaben“. Es ist eine Zielangabe, gerichtet, wie aus dem Text hervorgeht, zuerst an alle Menschen, das heißt, nach der Schöpfung an die Heiden. Sie sollen für das Evangelium gewonnen werden. Die Bibelstellen Gen 1–11, Röm 1–2, Apg 14 und 17 sind die Textgrundlage. Hinzu kommen zweitens die Juden; 83 Reformation und Judentum, 274f. 84 Reformation und Judentum, 275. 85 Das schwierige Problem, was mit „Mithvoth gadol“ gemeint ist, und welcher „Bachai“ das Deuteronomium ausgelegt hat, hat erstmals E. REUSS in seinem Artikel „Fragments“ im Jahre 1865 gelöst (ReTh, 3, 1865, 241, Anm. 2). „Vers la fin, l’auteur cite un livre dont le titre est Mithuoth gadol. Je mets l’absurditè de ce titre sur le compte de L’imprimeur et je suppose qu’il est question du Sefer Mitzvoth gadol, traité sur les commandements de la Loi, de Joseph ben Jacob Cozzi, auteur du treizième siècle, et imprimè à Venise en 1522. – Ensuite il cite Bachai zur Deutèronome. Ce doit ètre le célèbre commentateur Bekhai ben Asher, de Saragosse, dont le Biour sur la Tora avait déjà plusieurs fois été imprimé avant l’époche d’Olivetan.“ E. DROZ, Chemins de l’héresie, 113, Anm. 38, hat eine andere Quelle: „François Secret, Les Kabbalistes chrétiens de la Renaissance, Paris, 1964, 44 à 70, traite surtout de la Kabbale, sujet de son travail. Il a eu la grande obligance d’identifier pour nous les deux ouvrages cités par Calvin à la fin de son discours. Sepher Mitvos Gadol, ou grand livre des Préceptes, Venise, 1522, et la commentaire des livres mosaiques par Bechai, Venise, 1526.“ WHITE, R., An Early Reformed Document, WthJ 53, 1991, 97, 105, findet die Auflösung an Hand des Hoseakommentars Capitos (1528): Sefer Mitzvot Gadol of Moses ben Jacob of Coucy, Commentary on the Pentateuch by Bahya ben Asher, Eliezer ben Hyrcanus. DETMERS, A., Reformation und Judentum, 275, Anm. 131, folgt R. White.
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geschildert wird Ex 2–20 (Befreiung aus Ägypten bis zum Sinaibund). Gemeint sind drittens die Christen, die an Christus glauben; es sind insbesondere die Christen in der Verfolgung in Frankreich. Viertens werden die Könige und Herrscher, die katholischen Bischöfe und Priester ermahnt, dem Evangelium zu folgen (statt Christen zu verfolgen). Die Einleitung ist also sowohl eine Missionsschrift, wie auch eine Verteidigungsschrift der Reformation und der verfolgten Christen. Als Missionsschrift behandelt sie die Heilsgeschichte vom Alten zum Neuen Testament, als Mahnschrift erklärt sie das reformatorische Evangelium in aller Breite. In ihrer zweiten Eigenschaft entspricht sie Calvins Brief an König Franz I., der der Institutio 1536 voransteht. Die Richtigkeit dieser Interpretation ergibt sich nicht nur aus dem Inhalt, sondern auch aus dem Separatdruck von 1543. Er trägt die Überschrift „Comment nostre Seigneur Iesus Christ est la fin de la Loy, et la somme de tout ce qu’il faut cercher en l’escriture“.86 Die Einleitung zum Neuen Testament enthält daher zwei Teile, einen heilsgeschichtlichen und einen systematischen: (I.) „Wie unser Herr Jesus Christus das Ende (oder: die Erfüllung) des Gesetzes ist.“ (II.) „Die Summe alles dessen, was man in der Schrift suchen muss“. Den Abschluss bilden (III.) Ermahnungen. Die Einleitung zum Neuen Testament setzt demnach bei dem Thema an, mit dem die Einleitung zum Alten Testament endet. 2. Die Autorenschaft Calvins – der Nachdruck 1543 Die Einleitung in der Olivétanbibel nennt keinen Autor. Der Nachdruck von 1543 hingegen setzt dem Titel den Namen hinzu. Deux Epistres, l’une demonstre comment nostre Seigneur Iesus Christ est lafin de la Loy, & la somme de tout ce qu’il faut cercher en l’escriture. Composée par M. I. Calvin. [Der zweite Brief ist eine Trostschrift Virets an die Verfolgten.] [Genève, Jean Girard] 154387 Der Nachdruck von 154388 enthält vier inhaltliche Abweichungen vom ursprünglichen Text: 1. Ein Satz zur Übersetzung des Neuen Testaments ins Französische ist fortgefallen (da der Nachdruck aus der französischen Bibel herausgelöst ist). 2. Statt dessen ist ein Absatz über den Begriff Neues Testament eingefügt.89 3. Vor der Ermahnung an die Könige und Herrschen86 PETER, R./GILMONT, J.-F., Bibliotheca Calviniana. Les oeuvres de Jean Calvin publiées au XVIe siècle, Bd. 1, Genève 1991, 43/8 (THR 255); CO 9, LXIII. 87 Ebd. 88 CO 9, 791–818. 89 Siehe CO 9, 801, Anm. 1 und 2.
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den sind die christologischen Aussagen erheblich erweitert.90 4. Ebenso ist erweitert die Ermahnung an die Könige.91 Über die Autorenschaft Calvins kann also kein Zweifel bestehen. 3. Die Absage an den Antinomismus der Gruppe von Meaux Die Adresse am Eingang „An alle Liebhaber Jesu Christi und seines Evangeliums“ (A tous amateurs de Jesus Christ et de son evangile92) ist auffallend. Sie geht über eine allgemeine Anrede hinaus und richtet sich besonders an die Gruppe von Meaux, Für sie ist die Unterscheidung der Person Christi und seines Evangeliums typisch.93 Der Grund für diese Anrede findet sich in dem Nachdruck von 1543. An ihre Stelle tritt der Titel „Zwei Briefe, der eine zeigt an, wie unser Herr Jesus Christus das Ende (Ziel) des Gesetzes ist […] verfasst durch Meister Johann Calvin“. Calvin will also das Verhältnis Jesu Christi zum Gesetz erörtern. Er legt dar, dass Christus das Ziel (nicht das Ende) des Gesetzes ist. Dem Antinomismus ist damit der Kampf angesagt. Denn Gesetz und Evangelium werden in ihrer Wirkung miteinander verbunden. Der Christomonismus und die mystische Vereinigung mit Gott entfallen. Das heißt, im Jahre 1535 hat sich Calvin vom Kreis von Meaux gelöst, wenngleich Anklänge an dieses Denken bleiben, z.B. die Benennung Christi als Gott. Notwendig tritt dessen Werk in den Mittelpunkt und nicht mehr die Person. Die „Summe“ der Schrift wird nicht zufällig an den Begriffen Testament und Evangelium erklärt und erläutert.94 Fragt man nach der Ursache des Sinneswandels, so kann der Anstoß von den Korrektoren der Edition de Vingles gekommen sein. Sie haben wiederholt die bleibende Gültigkeit des Gesetzes als Zuchtmeister auf Christus hin (Gal 3,24) in den Text eingefügt. Doch kann auch ein reformatorisches Lehrbuch die Erkenntnisquelle gewesen sein. Calvin zitiert in dem Widmungsschreiben an König Franz I. Melanchthons Loci communes von 1522 (s.u.). Bekanntlich ist ein Hauptthema Luthers und Melanchthons die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Oder Calvins eigene Bibellektüre war die Ursache. 4. Die Heilsgeschichte Ein Aufriss der Einführung ins Neue Testament verdeutlicht das Problem. Die Adressaten I. Die Gotteserkenntnis der Heiden 90 Siehe CO 9, 815. 91 Siehe CO 9, 817 und 819. 92 CO 9, 791. 93 In einer der Predigten des „Évangiles et Épîtres“ findet sich die Bemerkung, Jesu Wort richteten sich à tous amateurs de l’evangile, BEDOUELLE/GIACONE, 179, Z. 4f. 94 StA I, 1, 47, Z. 44–9, Z. 37.
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1. Erschaffung des Menschen nach Gottes Ebenbild 2. Sündenfall 3. Gott bereute, den Menschen erschaffen zu haben (Gen 6,6) 4. Der gefallene Mensch hatte trotzdem die Möglichkeit, Gott zu erkennen. II. Die Gotteserkenntnis der Juden 1. Befreiung aus Ägypten (Ex 2) 2. Bundesschluss am Sinai (Ex 20) III. Der neue Bund 1. Die Blindheit und Verstocktheit der Juden 2. Der Götzendienst der Heiden 3. Der neue Bund und ein Mittler waren nötig, um Juden und Heiden Gott nahe zu bringen. „Mittler war unser Herr und Heiland Jesus Christus.“ 4. Die Verheißungen vom Abraham an bis zur Erfüllung des Gesetzes. IV. Die Summe dessen, was in der Schrift zu suchen ist 1. Der Begriff Testament 2. Das Evangelium von Jesus Christus a. Seine biblischen Zeugen vermitteln Gewissheit b. Die Elemente und Werke der Schöpfung sind Zeugen 3. Die heutigen Christen sollen des Neuen Testaments beraubt werden; Martyrium 4. Könige und Prinzen sollen das Evangelium fördern. 5. Bischöfe und Prinzen sollen die Predigt des Evangeliums unterstützen.
Das Problem ist der Übergang vom Alten zum Neuen Testament bzw. Bund. Calvin möchte eine ununterbrochene, übergangslose Heilsgeschichte lehren. Seine eigenen Worte verraten, dass dies ohne Bruch nicht möglich ist. Um nun die Menschen, Juden wie Heiden, Gott näher zu bringen, war es nötig, einen neuen Bund zu schaffen, fest sicher und unverletzlich. Um ihn einzurichten und zu bestätigen, war ein Mittler nötig, der mit seinem Eintreten sich zwischen die beiden Parteien stellte, um sie zu versöhnen. Ohne diesen würde der Mensch immer unter Gottes Zorn und Unwillen verbleiben und hätte kein Mittel, um sich aus dem Fluch, dem Elend und der Verwirrung wieder zu erheben, in die er gestürzt war. Er war unser Herr und Heiland Jesus Christus (usw.).
Die Schwäche dieser Argumentation liegt in der Beschreibung des neuen Bundes: Er bringt die Menschen Gott näher. Die Einzigartigkeit des neuen Bundes bleibt unbeachtet. Ebenso klingt die Ableitung des neuen Bundes und des Mittlers aus des Menschen Elend – siehe des zweimalige „es ist nötig“ – zwar logisch, berücksichtigt aber nicht die Einmaligkeit der Christusoffenbarung. Sie macht Gottes Handeln berechenbar. Die Ableitung erfolgt „remoto Christo“ (unter Absehung von Christus). Er wird erst im Schlusssatz genannt als Ergebnis der logischen Ableitung. Diese Logik erinnert an Anselm von Canterburys Schrift „Cur deus homo?“ Darin entwickelt Anselm die Notwendigkeit, dass Gott Mensch wur-
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de. Er argumentiert auch „remoto Christo“. Nun will Calvin nicht beweisen, dass Gott Mensch werden musste. Er will nur die Kluft zwischen altem und neuem Bund füllen und sie einebnen. Diese Kluft gibt es seiner Meinung nach nicht, wenn man die Heilsgeschichte soteriologisch versteht. Calvin will dem Leser den Ablauf der biblischen Geschichte als leicht verständlich, durchsichtig und zwingend vor Augen führen. Der Leser soll sich dieser Logik nicht entziehen können und auf diese Weise zum Glauben an Christus kommen. Um die Heiden zu überzeugen und zugleich den biblischen Boden nicht zu verlassen, zieht er alle zur Verfügung stehenden Beweise heran. Die Gottesebenbildlichkeit lehren auch die griechischen Dichter, wenn sie sagen „Wir sind seines (Gottes) Geschlechts.“ (Apg. 17,28) Alle Menschen betrifft die Urgeschichte Gen 1 bis 9. Aus ihr zitiert er Gen 6,6 („den Herrn gereute, dass er den Menschen geschaffen hatte“). Alle Menschen betrifft aber auch Gottes Zusage nach der Sintflut: „Ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt“ (8,21). Daraus wird der wichtige Schluss gezogen: Gott ist Barmherzigkeit, Liebe, Milde, grenzenlose Güte, Sanftmut und Geduld. Calvin ist hierin deutlich von Bullingers Römerbriefkommentar von 1532 abhängig, der fast dieselben Gottesprädikate aus Röm 1,20 ableitet: „Gott selbst ist Bestand (subsistentia) aller Dinge, allmächtig, wahr, ewig, gut, weise und gerecht.“ Oder: „Das Weltgebäude besteht in Gott, es ist geschaffen durch seine Macht und Weisheit, es wird regiert durch Gerechtigkeit und Wahrheit, es ist schön und nützlich durch seine Güte.“95 Den Gottesprädikaten entspricht bei Calvin derBezug auf die Naturpsalmen. „Denn die Vögel besangen Gott (Ps 104,12), die Tiere riefen ihn an (Ps 147,9), die Elemente zittern vor ihm (Ps 98,7–8), die Berge rufen ihm ein Echo zu (Ps 114,7), die Flüsse und Quellen warfen ihm zärtliche Blicke zu (vgl. Ps 74,15), die Gräser und Blumen lächeln ihn an.“ Calvin vertritt gegenüber den Heiden eine natürliche Theologie, die biblisch gedeckt ist. Er zieht die jüdische Missionstheologie heran, wenn er Röm 1 und 2, dazu Apg 14,15-17 zitiert. Die Einführung in das Neue Testament ist ebenso wie die in das Alte im ersten Teil eine Missionsschrift. Bedeutet die Heilsgeschichte einen geschichtlichen Längsschnitt, so ist der zweite Teil ein dogmatischer Querschnitt, der die Hauptbegriffe erörtert. Doch das Lehrhafte geht sofort in seelsorgerlichen Zuspruch über. In bewegenden Worten schildert Calvin den Christen und Christinnen, wel-
95 S. 17v. Bullinger beruft sich auf Ps 19,2. Die Zitate bringt auch PARKER, T.H.L., Commentaries on the Epistle to the Romans 1532–1542, Edinburgh 1986, 104f. Zu Röm 1,16 zählt Bullinger auf, Gott sei „robur, maiestas, veritas, iusticia, misericordia“. „Per quem (Christum) declaravit pater potentiam, veritatem, iusticiam denique et misericordiam suam mundo“ (14r).
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chen großen Nutzen sie aus dem Evangelium haben. Er ist das Martyrium wert. Auf alle Polemik gegen das Handeln der katholischen Könige und Prinzen verzichtet er, obgleich er zuvor von den Verfolgungen gesprochen hat. Auch die Bischöfe und Pastoren sucht er zu gewinnen. Zwar ist Bischof Briçonnet im Vorjahr verstorben, doch hofft Calvin offensichtlich, dass dessen Predigtreform weitergeht. 5. Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift und Glaubensgewissheit Eigenartig ist die Verbindung juristischer und theologischer Aussagen im Text der Einführung. Spricht hier der Jurist Calvin, der meint, die Glaubwürdigkeit der Schrift herauszustellen zu müssen? Oder liegt ihm daran, die kanonischen Schriften gegen die Apokryphen abzugrenzen? Die anschließende Einführung in die Apokryphen gibt weiteren Aufschluss. Es handelt sich um folgende Sätze. Gott hat das Volk Israel zu seinem Volk gemacht, das ihn alleine anerkennen soll. „Und dieser Bund ist bestätigt und gültig gemacht durch glaubwürdige Urkunden (confirmée et passèe soubz instruments authentiques), durch Testament und Zeugnis (testament et tesmoingnage), die er ihnen gegeben hat.“96 „Testament und Zeugnis“ werden etwas später erklärt: Und wie der Messias so oft im Alten Testament (Vieil Testament) durch mehrere Zeugnisse der Propheten (par plusieurs tesmoingnages des Prophetes) verheissen worden war, so ist auch durch sichere und unbezweifelbare Zeugnisse (parcertains et indubitables tesmoingnages) erklärt worden, Jesus Christus und kein anderer sei der, der kommen sollte und erwartet wurde.97
Diese Stelle wird anschließend wesentlich ausgeweitet: „Denn Gott, der Herr, hat durch seine Stimme und seinen Geist, durch seine Engel, Propheten und Apostel, ja durch alle seine Schöpfungswerke uns dessen so genügend gewiss gemacht (suffisamment certains)“, usw.98 Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Als erstes hat der ewige Gott durch seine eigene Stimme, die ohne jeden Zweifel (sans quelque doubte) die unwiderrufliche Wahrheit (verité irrevocable) ist, bezeugt (testifié) und gesagt:“ (Mt 3,17).99 Über den neuen Bund heißt es: „Um nun die Menschen, Juden und Heiden, Gott nahe zu bringen, war es nötig, einen neuen Bund zu schaffen, fest, 96 97 98 99
StA 1, 1, 38, Z. 12–14. StA 1, 1, 44, Z. 20–22. StA 1, 1, 44, Z. 23–25. StA 1, 1, 44, Z. 27f.
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sicher und unverletzlich (certaine, assurèe et inviolable). Um ihn einzurichten und zu bestätigen (establir et confirmer), war ein Mittler nötig“ usw.100 Von diesem Bund heißt es später: „Aber dies hier ist das Neue und ewige Testament (Bund), da Jesus Christus dessen Mittler gewesen ist; er hat es bestätigt und bekräftigt (ratifié et confermé) durch seinen Tod.“101 Die folgende Einführung in die Apokryphen wird zeigen, dass Calvin die Verbindung von Schrift und Glaubensgewissheit beibehalten, jedoch später aufgegeben hat. D. Die Einführung in die Apokryphen des Alten Testaments102 Die Verfasserschaft Calvins ergibt sich aus dem Inhalt der Einführung. Daher soll dieser zuerst untersucht werden. 1. Gedankengang Calvin macht es den Lesern leicht, die Quelle seines Wissens herauszufinden, denn er nennt nicht nur seine Gewährsmänner, allen voran den Kirchenvater Hieronymus, sondern er führt auch die betreffenden Schriften namentlich an. Bei der Menge der Zitate stellt sich die Aufgabe, herauszufinden, welches darüber hinaus seine eigene Meinung und Beurteilung ist. Es wird nachstehend dem Gedankengang der Einführung gefolgt.
a. Die Unterscheidung von kanonischen Schriften und Apokryphen Nach Hieronymus gibt es den hebräisch verfassten Kanon des Alten Testaments und die sogenannten Apokryphen. Die hebräischen Schriften sind von allen als verbindlich angenommenen und werden öffentlich gelesen. Die Apokryphen haben ihren Namen daher, dass sie im Geheimen gelesen und abseits (extra nos) stehen. Hieronymus trennt kanonische und apokryphe Bücher nach der Sprache. Seiner Meinung nach sind die apokryphen Schriften auch einst hebräisch verfasst worden, ausgenommen das Buch Sapientia, weil hier der Stil griechisch ist. Es würde schwierig sein, den hebräischen Text wiederherzustellen. Calvin beendet den Abschnitt mit einer eigenen Zusammenfassung. „Wir haben die Apokrypen abgetrennt und beiseite gesetzt, um sie besser zu 100 StA 1, 1, 40, Z. 1–4. 101 StA 1, 1, 44, Z 2–5. 102 Eine deutsche Übersetzung findet sich in NEUSER, W.H., Calvins Stellung zu den Apokryphen des Alten Testaments, in: BRECHT, M. (Hg.), Text – Wort – Glaube. Studien zur Überlieferung, Interpretation und Autorisierung biblischer Texte, Kurt Aland gewidmet, Berlin/New York 1980, 311f (AKG 50).
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unterscheiden und um kenntlich zu machen, aus welchen Büchern das Zeugnis als bindend angenommen werden muss und aus welchen nicht.“ Es geht Calvin um das „Zeugnis“ der alttestamentlichen Schriftsteller und nicht um den blossen Text. Schon früh erscheint diese bleibende Eigenart seines Schriftverständnisses. b. Hieronymus über die Autorität der apokryphen Schriften Calvin zitiert zuerst des Hieronymus Urteil über das Buch Judith: „Die Autorität des Buches Judith erscheint nicht (Hieronymus: „weniger“) geeignet und genügend, um die Dinge zu bekräftigen, die im Streit plötzlich auftreten.“ Danach zitiert Calvin des Hieronymus Aussage über die apokryphen Schriften: „Und allgemein sagt Hieronymus über alle apokryphen Bücher, dass man sie lesen kann zur Erbauung des Volkes, aber nicht um die Auitorität der kirchlichen Lehren bekräftigen zu wollen.“ Allerdings verallgemeinert Calvin die Aussagen des Kirchenvaters. Hieronymus schreibt nämlich: „Die Kirche liest Judith, Tobias und die Bücher der Makkabäer, rechnet sie aber nicht unter die kanonischen Schriften. Die Bücher Jesus Sirach und Sapientia soll man lesen zur Erbauung des Volkes, nicht aber zur Bekräftigung der Autorität kirchlicher Lehren.“ Hieronymus hebt die Bücher Jesus Sirach und Sapientia deutlich hervor. c. Die Unterscheidung der kanonischen und apokryphen Schriften Auffällig ist das nachfolgende Urteil über zwei Stellen im Corpus Iuris Canonici. Er führt sie an, schiebt sie aber beiseite. Die eine Aussage betrifft das kirchliche Recht, die biblischen Schriften zu beurteilen. Was damit genau gemeint ist, erklärt die von ihm angeführte Stelle im Decretum Gratiani. dass nämlich die frühsten Synoden die Autorität beanspruchten, Lehre zu bewachen und zu verwerfen, und dass die Kirchen die apokryphen Schriften festlegten. Die zweite Stelle besagt, dass man die apokryphen Schriften liest, sie aber nicht allgemein (im Gottesdienst) liest. Genau betrachtet besagt die Stelle, dass man in den Apokryphen Nützliches findet, aber sie keine kanonische Autorität haben. Calvins Zusammenfassung der genannten Stellen im Decretum Gratiani trifft zu. Er will aber auf das kirchliche Recht, die Schrift zu beurteilen oder die Apokryphen festzustellen, nicht eingehen. Er ist sich bewusst, dass die Begründung der Schriftautorität Probleme aufwirft. Calvin zeigt einen Ausweg, wie die kanonischen und apokryphen Schriften zu unterscheiden sind, ohne auf das Urteil der Kirche zurückzugreifen. Der Text der Apokryphen sei an mehreren Stellen verdorben und verfälscht. Dies beweist nach seiner Meinung ihre Nichtzugehörigkeit zum alttestamentlichen Kanon. Calvin schreibt: „Et non sans cause (les livre Apocry-
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phes ne soient point approuvez) car quelz ayent este corrompus et falsifiiez en plusieurs lieulx“.103 Als Beleg führt er die Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea an. Jener sagt an der von Calvin angegebenen Stelle, dass einige der apokryphen Schriften von Häretikern verfasst worden seien. Die Häresie ist für Calvin offensichtlich der Beweis, dass einige Apokryphen verfälscht und verdorben sind. Zusätzlich führt er danach zwei Einzelfälle an. Zuerst verweist er auf die Makkabäerbücher. Deren Verdorbenheit und Verfälschung „in bestimmten Punkten“ sei heute bekannt. Calvin genügt zum Beweis die Tatsache, dass das 1. Makkabäerbuch in hebräischer, das zweite in griechischer Sprache vorliegt, wie er unter Berufung auf Hieronymus feststellt. Er urteilt: Das zweite Buch ist suspekt und weniger verbindlich. Aber dasselbe gilt vom 1. Makkabäerbuch. Denn das 3. und 4. Buch Esra104 hält der Kirchenvater Hieronymus für Träume. Und Josephus stellt fest, dass der Stoff der Geschichte von 1. Makkabäer und von 3. Esra (in den Kapiteln 12 und 13) hergeleitet wird. Er hält die Bücher 3. und 4. Esra für apokryph, weil sie vom Ende der Prophetenzeit – Nehemia wird im Jahr 445 Mundschenk des Königs Artaxerxes I. (465–425 v.Chr.) – bis in seine Gegenwart (geb.37/38 n.Chr.) reichen und eine genaue Prophetenliste fehle. Aus der Unzulänglichkeit folgert Calvin, dass die genannten Schriften „apokryph“ sind. Ihnen fehlt die claritas scripturae. Calvin zieht daraus die Konsequenz: „Wenn du also von irgendeiner Sache, die deinen Glauben begründet, Gewissheit erlangen möchtest, so trachte danach, durch die lebendige und kräftige Schrift dorthin zu gelangen.“ Das heißt für die apokryphen Schriften des Alten Testaments: Sie sind im Blick auf den Glauben und seine Begründung unwirksam, kraftlos und ungewiss. Sie besitzen keine Autorität, auch nicht durch die Kirche. d. Die Glaubensgewissheit Die Worte „durch die Schrift“ sind sinnvoll, ja, selbstverständlich, wenn sie gegen die Apokryphen gerichtet sind. Sie sind das Ergebnis der vorangehenden Überlegungen und Beweise. Doch verbindet Calvin mit den Worten 103 Leo Jud schreibt in der Vorrede zu seiner deutschen Übersetzung der Apokryphen 1529: „wiewol die exemplaria, uss denen wir sy getolmetschet, vast falsch und wirrig gsin sind“. NEUSER, W.H., Die Reformierten und die Apokryphen des Alten Testaments, in: MEURER, S. (Hg.), Die Apokryphenfrage im ökumenischen Horizont, Stuttgart 1989, 85 (Die Bibel in der Welt 22). 104 Die Zählung als 3. und 4. Buch Esra hängt von der Vulgata ab, die die kanonischen Bücher Esra und Nehemia das 1. und 2. Buch Esra nennt (TRE 3, 296, Z. 20f). Die Vulgata muss zur Zeit Calvins auch das 3. und 4. Buch Esra enthalten zu haben, denn in der Ausgabe (Sixto-)Clementina (1592) erscheinen beide im kleingedruckten Anhang nach dem Neuen Testament mit dem Vermerk, dass sie extra seriem canonicorum librorum stehen, gemeint ist das Gebet Manasses und 3. und 4. Esra (TRE 3, 293, Z. 48–50).
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„durch die Schrift“ die Gewissheit des Glaubens bzw. der Dinge, die den Glauben begründen. Diese Gewissheit belegt er durch den Hinweis auf die Personalinspiration der Propheten und Apostel. Er führt dazu treffende Bibelworte an: 1. Petr 1,10–12 und 2. Petr 1,19. In den Propheten war der Geist Gottes, aus dem sie weissagten. Und: Das prophetischeWort ist sicherer und ein Licht, das aufgeht an einem finsteren Ort. Ein Hinweis auf 2. Tim 3, 16fehlt. Der letzte Teil spricht aber nicht mehr von der Glaubensgewissheit, sondern von der Sicherheit menschlichen Urteilens. Calvins Hinweis auf die Juristen beweist den Themawechsel. „Auch die Juristen, die Sorge tragen, dass durch ihre Meinung das menschliche Recht gesichert und begründet wird, sagen, dass sie sich schämen, ohne Gesetz zu reden.“ Im logichen Schluss a minore ad maiorem geht Calvin vom menschlichen Gesetz auf das „Gesetz des lebendigen Gottes“ über. Christen müssen eine Abscheu haben, es nach ihrer Phantasie und unsicherem Urteil zu beurteilen. Calvin verfällt in die Wir-Form. Der Gegensatz von ungewiss und gewiss beherrscht nun den Gedankengang. Wir sind gegründet auf dem Fundament der heiligen Propheten und Apostel, wo Christus der sichere Eckstein ist (Eph 2,20). So lassen wir die unsicheren Dinge fahren und folgen den gewissen. Wir werfen Anker an einem sicheren Ort. Die Einführung endet mit Ermahnungen in der Wir-Form. Glaubensgewissheit und sicheres Urteilen in Glaubensdingen gehen in einander über. Calvin lässt sich von dem Problem der Apokryphen leiten, deren Mängel er rational begründet. Gewissheit des Glaubens und Sicherheit in Glaubensdingen trennt er nicht. Das bestimmt im Jahr 1535 sein Denken. 2. Der Verfasser Die Einführung enthält keinen Verfassernamen, aber sie trägt deutlich die Handschrift Calvins Sie zeigt sich erstens in der auffallenden Fülle juristischer Termini und zweitens in der Verbindung von Glaubensgewissheit und Sicherheit des Schriftzeugnisses. Beides ergibt die Untersuchung des Gedankengangs. Bestätigt wird dieser Befund durch einen Vergleich mit den vorangehenden Schriften. a. Die Schriften der Jahre 1534 und 1535. Gemeint sind Calvins sechs Predigtentwürfe aus dem Jahr 1534, verfasst in Angoulême, und die Einführung in das Neue Testament in der Olivétanbibel aus dem Jahr 1535105. Eine Auflistung ergibt:
105 StA 1, 1, 27–57.
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Bekräftigen, bestätigen (confirmer), bestätigen (ratifier), bezeugen (témoigner) 1534: „Diese Verheissung ist erneuert und durch Eid unwiderruflich an David bekräftigt worden“ (par jurement irrevocable confirmee).106 1535: „Und dieser Bund ist bekräftigt und gültig gemacht durch glaubwürdige Mittel, durch Testament und Bezeugung“ (confirmeée et passée soubz instruments autentiques, du testament et tesmoignage).107 1535: „Um nun die Menschen, Juden und Heiden, Gott nahezubringen, war es nötig, einen neuen Bund zu schaffen, fest, sicher und unverletzlich (certaine, assurèe et inviolable). Um ihn einzurichten und zu bestätigen (establir et confirmer), war ein Mittler nötig“ usw.108 Und später: „Aber dies hier ist das neue und ewige Testament (Bund), da Jesus Christus dessen Mittler gewesen ist, er hat es bestätigt und bekräftigt (ratifié et confermé) durch seinen Tod.“109 1535: In der Einführung zum Neuen Testament erscheinen: confirmée par le tesmoignage (Propheten), plus confermer […] de ce grand Messiah, ratifie et confermée par sa mort (Christus), par plusieurs tesmoignages (Propheten), par certains et indubitables tesmoignages, grand,tesmoig en nous coeurs usw.110 Nun muss festgehalten werden, dass bezeugen ein biblischer Begriff für das Verkündigen ist. Aber in Verbindung mit juristischen termini geht bezeugen über das biblische Verständnis hinaus. Es wird zum juristischen bezeugen. Gewiss (certain), sehr gewiss (trescertain): Beide Begriffe erscheinen oft. 1534: Gewiss ist die Verheißung, das Pauluswort, die Schrift, die Propheten, die Evangelisten, die Apostel, die Wahrheit des Evangeliums, die Lehre (tres veritable et certain), usw. 1535: Das Vertrauen, die Hoffnung, die Verheißungen Gottes, das Evangelium (trescertain et manifest), die Wahrheit usw. Hierher gehören auch: Jesaja und Sacharia reden amplement et certainement111, certains et indubitables tesmoignages112. Der Begriff gewiss (certain) geht über die Glaubensgewissheit hinaus. Er betrifft auch die Bibel und einzelne Verfasser. Die Heilige Schrift, ihre Verfasser und ihr Inhalt werden wie juristische Dokumente, Zeugen und Inhalte behandelt. 106 107 108 109 110 111 112
BEDOUELLE/GIACONE, 367, Z. 19–20. StA 1, 1, 38, Z. 12–14. StA 1, 1, 40, Z. 1–4. StA 1, 1, 44, Z. 2–5. StA 1, 1, 40, Z. 22–24; 42, Z. 15–16; 44,Z. 4–5; 44, Z. 20; 44, Z. 22; 44, Z. 30. StA 1, 1, 42, Z. 4–5. StA 1, 1, 44, Z. 22.
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b. Die Einleitung zu den Apokryphen Wie gezeigt, finden sich dieselben Begriffe auch in diesen. Die juristischen Gedanken treten sogar verstärkt auf. Die Abgrenzung gegen die Apokryphen verleiten offensichtlich vermehrt zu juristischer Argumentation. „Wir haben sie (die Apokryphen) abgetrennt und beiseite gesetzt, um sie besser zu unterscheiden und kenntlich zu machen, damit man weiss, aus welchen Büchern das Zeugnis als bindend angenommen werden muss (que lon sache desquelz le tesmoignage doibt refire receu) und aus welchen nicht.“ Es werden direkt juristische Grundsätze zum Vergleich herangezogen: „Auch die Juristen, die Sorge tragen, dass ihre Meinung durch das menschliche Recht bekräftigt und begründet wird (confermer et establir), sagen, dass sie sich schämen, ohne Gesetz zu reden.“ Christen, die ohne das Gesetz des lebendigen Gottes sind, „beurteilen alle Dinge nach ihrer Fantasie und unsicherem Urteil (a sa fantasieet iugement incertain)“. Mit dem Gesetz des lebendigen Gottes ist die Heilige Schrift gemeint. Sie ist gewiss und unentbehrlich wie ein menschliches Gesetz. Die Schlussfolgerung im Blick auf die Apokryphen lautet: „So lassen wir die unsicheren Dinge fahren, um den gewissen zu folgen (delaisserons les choses incertaines pour suyure les certains)“. Wie in den Predigtentwürfen und in der Einleitung zum Neuen Testament werden die Zuverlässigkeit der biblischen Schriften und die Gewissheit des Glaubens miteinander verbunden. Der juristische Hintergrund erscheint in der Einleitung zu den Apokryphen sogar noch deutlicher als in den beiden vorausgehenden Schriften. Eine Eigenheit seines damaligen Denkens zeigt sich. An Calvins Autorenschaft kann kein Zweifel bestehen. c. Die Einleitung zu den Apokryphen 1546113 In der Einleitung zu den Apokryphen in der Genfer Bibel von 1546, die Calvin zugeschrieben wird, finden sich dieselben Gedanken und Termini wie in der Einleitung zu den Apokryphen. Es ist nur weniges verändert worden: 1. Des Hieronymus Betonung der veritas hebraica – die Apokryphen sind griechisch verfasst – steht nun im Schlussabschnitt. Hieronymus wird nicht mehr so ausführlich zitiert. An den Anfang ist die Inspiration durch den Heiligen Geist gerückt; die Inspiration der Propheten und Apostel wird nicht mehr ausdrücklich genannt. Die Heilige Schrift besitzt nun Gewissheit. Calvin hat gelernt, dass die unterschiedliche Sprache der kanonischen Schriften und der Apokryphen nur ein zusätzliches Argument ist.
113 Eine deutsche Übersetzung bietet NEUSER, W.H., Die Apokryphen des Alten Testaments, 312.
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2. Der Gedanke der „authentischen Urkunde“ (in der Einleitung zum Neuen Testament) wird verstärkt: Die Apokryphen sind Privatschriften und nicht rechtsgültig, die Schriften des Kanons sind öffentliche Urkunden wie vom Notar ausgefertigt und besiegelt und also rechtsverbindlich. Calvin bietet hier ein anderes, eindrücklicheres Beispiel aus dem Rechtswesen. 3. Die Einschätzung der Apokryphen ist die gleiche geblieben: Sie sind nicht zu verachten und enthalten gute und nützliche Lehre – die vom Heiligen Geist gegebenen Schriften haben den Vorrang vor menschlichen Schriften – die Apokryphen enthalten Lehre zur Auferbauung (Eph 4,12), sind aber kein „genügendes Zeugnis“.
Kapitel 10: Die Verteidigungsschrift an König Franz I. vom 23. August 1535 1. Der Anlass der Abfassung Das Datum des 23. August [1535] zeigt die Vollendung der Schrift an. Als sie zusammen mit der Institutio im Druck erscheint, nennt die Druckermarke den Monat März 1536.114 Allgemein wird angenommen, dass an einen separaten Druck für die Frankfurter Buchmesse (7.–22. September) gedacht war, der aber nicht stattfand. Der erste und dritte Satz schließen jedoch diese Annahme aus. Dort schreibt Calvin: „Als ich erstmals Hand an dieses Werk legte, Erlauchtester König, dachte ich an nichts weniger als daran, dass ich etwas schriebe, was später Eurer Majestät vorgelegt werden sollte.“ Und: „Von dieser meiner Absicht redet ja das Buch selbst als ein Werk, das zu schlichtem, einfachen Unterricht bestimmt ist.“ Das „Werk“ oder „Buch“ ist die Institutio, deren Entstehung oder Planung hier vorausgesetzt ist. An einen Separatdruck kann also damals nicht gedacht sein. Calvin fährt fort, von den Verfolgungen zu sprechen. Sie waren es, die Calvin zur Feder greifen ließen. Denn am 4. August 1535 hatte Farel von Genf aus eine lange Klageschrift an die Schweizer und Deutschen ausgehen lassen, in denen die neusten Verfolgungen der Waldenser angeprangert werden. Da sie als Anlass für das Schreiben Calvins an den König vom 28. August in Frage kommt, sei der Anfang zitiert. Wir haben nicht ohne schwerste Seelenqual die Heimsuchungen, die Plünderungen von Hab und Gut, Exile, Gefängnisse, ausgesuchten Folterungen und unerhörten 114 OS III, S. VI und 30, Anm. 1. Die französischen Ausgaben behielten das Datum (ebenfalls ohne Jahreszahl) bei; die Ausgabe von 1551 verwechselt das Datum mit derjenigen von Calvins Vorrede an den Leser vom 1. August (1539). Die späteren lateinischen Ausgaben datieren „1536“.
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Hinrichtungen vernommen, durch die überall in Frankreich die frommen Brüder bedrängt und über ihre Kräfte zerfleischt wurden. Aber es gibt nichts, was uns trauriger macht als jene Bluttaten gegen die Brüder […] in der Provence und jene grausame Verfolgung, die wir ohne Tränen nicht vernehmen und mitteilen können.115
Auch im Schreiben an Franz I. beklagt Calvin auf den ersten Seiten heftig die Verfolgungen und beschreibt sie näher. Die gesunde Lehre bringt die Wahnsinnigen (furiosi) so in Wut, dass sie Euer Reich heute mit Feuer und Schwert verwirren. Ich bekenne ohne Scheu, dass hier die Summe dieser Lehre zusammengestellt ist, welche sie nach ihrem Geschrei mit Gefängnis, Exil, Ächtung und Scheiterhaufen bestrafen und zu Land und Wasser ausrotten wollen.
„Gewalt ist es, gegen jene Lehre ohne Verhör Bluturteile zu fällen, Betrug, unverdient des Aufruhrs und des Frevels zu beschuldigen.“116 2. Die geplanten Anfangsgründe des Glaubens (rudimenta) und die Institutio Bevor auf das Schreiben an den König näher eingegangen wird, muss das literarische Vorhaben Calvins analysiert werden. Was ist mit Anfangsgünden gemeint? Calvin erwähnt im zweiten Satz sein ursprüngliches Vorhaben. Ich hatte nur im Sinn, bestimmte Anfangsgründe vorzutragen, durch die zur wahren Frömmigkeit geformt werden diejenigen, welche von einigem Eifer für die Religion berührt werden. Aber diese Arbeit (labor), die mich zum Schwitzen brachte, nahm ich vor allem für unsere Franzosen auf mich, von denen sehr viele, wie ich sah, hungern und dürsten nach Christus, sehr wenige aber auch nur mit einer bescheidenen Kenntnis von ihm vertraut waren. Dass ich diese Absicht hatte, dafür spricht das Buch selbst, ist es doch auf eine schlichte und einfache Form der Belehrung zugeschnitten.
Der Gedankengang ist der folgende: Calvin hatte (Plusquamperfekt!) ursprünglich vor, rudimenta abzufassen. Zum ursprünglichen Plan gehören auch die Franzosen als Adressaten. Die rudimenta für sie (hunc laborem) hatten ihm viel Mühe gemacht. Erst jetzt kommt Calvin auf die Institutio (liber ipse) zu sprechen (Praesens!). Auf sie verweist Calvin zum Beweis, dass er eine schlichte und einfache Form der Belehrung abfassen will. Die Frage ist: In welchem Verhältnis stehen Anfangsgründe (rudimenta) und Institutio zueinander? Die Antwort ist leicht zu finden, wenn man nur Calvins Worte genau betrachtet. Erstens: Ausgeschlossen ist, dass die Anfangsgründe in der Institutio ausgeführt werden. Rudimenta und Institutio verbindet nur die schlichte 115 HERMINJARD, A.L., Bd. 3, 327f (Nr. 521). 116 OS III, 9, Z. 18–23, 10, Z. 7–9.
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und einfache Form der Belehrung. Zweitens: Ausgeschlossen ist auch, dass rudimenta und Institutio die selben Adressaten haben. Von Adressaten spricht nur sein Plan der rudimenta.117 Steht die strikte Unterscheidung von rudimenta und Institutio fest, dann ergeben sich für die rudimenta die wichtige Schlussfolgerung, dass Calvin zwei Stufen kennt. Er nennt sie selbst. Die erste Stufe sind die „Anfangsgründe“, die zweite die „wahre Frömmigkeit“. Die erste betrifft „die vom Eifer für die Religion Berührten“, die zweite die wahren Frommen. Auf die Franzosen bezogen: Die erste Stufe sind die vielen Franzosen, die hungern und dürsten nach Christus, die zweite die wenigen, die „auch nur eine bescheidene Kenntnis von Christus haben“. Entscheidend ist, dass beide Stufen aufeinander bezogen sind. Die von einigem Eifer für die Religion Berührten werden „geformt“ zur wahren Frömmigkeit. Die religiosi haben schon so viel Kenntnis, dass sie bald zu pii werden können. Die Religiösen gehören nicht zur Masse der Nichtwissenden, das einfache Volk. Sie sind „viele“ mit Eifer Suchende. Die Frommen sind „wenige“, selbst wenn man nur eine „bescheidene Kenntnis von Christus“ zu Grunde legt. Das Ergebnis lautet: Calvin hatte ursprünglich vor, nur Anfangsgründe (rudimenta) abzufassen. Dann aber entschloss er sich, die Lehre der verfolgten Evangelischen in leicht fasslicher Form vorzutragen. Dies geschieht in der Institutio. Aus dem dargebotenen Zitat geht hervor, dass die Kenntnisse der Anfangsgründe dazu dienen, die wahre Frömmigkeit zu erreichen. Das Ziel, die wahre Frömmigkeit, ist der Glaube, die rudimenta sind eine Wegestation zu diesem Ziel hin. Die rudimenta gewinnt man durch Belehrung; sie sind ein Unterrichtsstoff. Die Adressaten der Belehrung in den Anfangsgründen des Glaubens sind Menschen, die einigen Eifer für die Religion zeigen. Es gibt also religiosi und wahre Glaubende.
117 Die eingehendste Untersuchung der Sätze bietet D’ASSONVILLE, V.E., Der Begriff „doctrina“ bei Johann Calvin – eine theologische Analyse, Münster/Hamburg/London 2001, 74–96 (Rostocker Theologische Studien 6). Trotz neuer Einsichten macht er den Fehler, die Adressaten der rudimenta auch für die der Institutio zu halten (93). Wenn er Calvins unterschiedliche Beschreibung der Adressaten der rudimenta betrachtet, sieht er in deren Erkenntnisstand sogar den Anlass der Institutio (87, 94). Die rudimenta beschreibt er zutreffend als Vorstufe des Glaubens, mit H.W. SIMPSON („grondbeginsels“) und W. VAN’T SPIJKER („eerste onderricht“) auch als Anfangsgründe (82 Anm. 327). Zwar zieht er auch alle späteren Aussagen der Institutio zur Erklärung heran, doch standen ihm für die Deutung der rudimenta als Anfangsgründe des Glaubens nicht (wie uns) alle Bände der CO auf CD zur Verfügung: INSTITUUT VOOR REFORMATIEONDERZOEK (Hg.),Calvini Opera Database 1.0, Apeldoorn.
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3. Calvins Verständnis der Anfangsgründe des Glaubens (rudimenta fidei) Um das Gesagte zu bekräftigen und Calvins Denken in Stufen weiter auszuführen, sollen auch seine späteren Erklärungen des Begriffs rudimenta herangezogen werden. a. Religiosi Die zu Anfang im Schreiben an Franz I. genannten Menschen sind solche, die „vom Eifer für die Religion berührt sind“. Die Apostelgeschichte spricht von „religiosi Graeci“ und „religiosi Judaei“ (Apg 17,4 und 17,17). Luther übersetzt die Bibelstellen mit „Gottesfürchtige“. Einige Beispiele zeigen, was Calvin unter ihnen und zwar im Zusammenhang mit rudimenta versteht. Apg 17,4:„Einige der Juden liessen sich überzeugen und schlossen sich Paulus und Silas an, auch eine große Menge von gottesfürchtigen Griechen.“ Diese gottesfürchtigen Griechen in Thessalonich beschreibt Calvin so: Weil sie sich die Anfangsgründe (rudimenta) der Frömmigkeit angeeignet hatten, waren sie dem Reich Gottes näher als die anderen, die sich immer im abergläubigen Schmutz gewälzt hatten. Es fragt sich, woher die Griechen die Gottesfurcht hatten, dass sie sich, von Gott verzaubert, der gottlosen Irrtümer und dem Wahnsinn völlig enthielten, wie Paulus Eph 2,12 lehrt. Doch muss man wissen, von welchen Orten auch immer die Juden vertrieben waren, dort hatten sie einigen Samen der Frömmigkeit ausgestreut und einen Geruch der reineren Lehre verbreitet.118
Sie lernten nun von Paulus (Apg 17,3), „dass Christus leiden musste und von den Toten auferstehen, und dass dieser Jesus […] ist der Christus.“ Da Calvin die Verse 11 und 12 nicht auf Beröa bezieht, sondern auf Thessalonich, versteht er sie als Nachwirkung der Predigt des Paulus an diesem Ort.119 Calvin schreibt: Nach dem Weggang des Paulus, wurde offenbar, wie wirksam und fruchtbar seine Predigt gewesen war. Denn diejenigen, die auch nur die Anfangsgründe (rudimenta) der Frömmigkeit geschmeckt hatten, machten trotzdem in seiner Abwesenheit Fortschritte und übten sich in der fortlaufenden Lesung der Schrift.120
118 CO 48, 395f. 119 Es hat den Anschein, dass Calvin darum die religiosi Graeci (V. 4) und die graecae mulieres honestae et viri (V. 12) identifiziert, damit bei beiden Gruppen Anfangsgründe und volle pietas festgestellt werden kann. Im anderen Fall wären die Griechen in Beröa sofort zum Glauben gekommen. 120 CO 48, 399.
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In Athen „redete Paulus zu den Juden und den Gottesfürchtigen (religiosi) in der Synagoge und täglich auf dem Markt zu denen, die sich einfanden.“ (Apg 17,17) Dazu Calvin: Dann führte Paulus sein zweiter Schritt [von den Juden fort] zu den Heiden, die einen Vorgeschmack der Lehre vom Gesetz besassen, wenn sie auch noch nicht auf rechte Weise mit der wahren Frömmigkeit vertraut waren. Sie verehrten dennoch den Gott Israels und, da sie lernbegierig waren, verschmähten sie nicht, was sie aus Mose und den Propheten zu wissen ausgesucht hatten. Weil aber solche Gelehrigkeit (docilitas) der Zugang zum Glauben war, aber keineswegs ein Anfang des Glaubens, würdigte der Geist sie des ehrenvollen Titels, der den ersten Anfangsgründen (prima rudimenta) nur leichthin beigegeben, eigentlich auf den wahren Gott hinführt, sie werden nämlich Gottesfürchtige (religiosi) genannt.121
Über die ungenügenden Anfangsgründe hinaus führt sie die Verkündigung des wahren Gottes durch Paulus. Nikodemus, der bei Nacht zu Jesus kam, ist „ohne Zweifel ein von Gottesfurcht (religio) und Gewissen bewegter Mensch“.122 Er sagt: „Rabbi, wir wissen, dass du bist ein Lehrer, von Gott gekommen, denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott sei mit ihm.“ (Joh 3,2) Doch steht Nikodemus bei Calvin nur für die ungläubigen Schriftgelehrten. Er erklärt die Rede von der Wiedergeburt so: „Da überall in der Schrift die Erneuerung der Gesinnung erscheint, und da diese nur eine der ersten Anfangsgründe (prima rudimenta) des Glaubens ist, steht fest, wie unglücklich die Schriftgelehrten damals in der Schriftlektüre bewandert waren.“ Die in der Religion bewanderten sind also Menschen mit den Anfangsgründen des Glaubens. Was aber sind bei Calvin diese Anfangsgründe? b. Rudimenta Der Ausdruck rudimenta ist für Calvin ein feststehender Begriff. Er hat bei ihm immer denselben Sinn. Über sein Verständnis gibt grundsätzlich Aufschluss die folgende Bibelstelle: „Jesus sagt zu ihm (Thomas): Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6) Dazu erklärt Calvin gleich wie im Schreiben an Franz I.: „Mir scheint, ‚Wahrheit‘ wird für die Vollkommenheit des Glaubens genommen, gleich wie der ‚Weg‘ für den Anfang (initium) und die Anfangsgründe (rudimenta).“123 Die rudimenta sind also eine Stufe im Erkenntnisprozess der Gottesfürchtigen (religiosi), nicht aber schon der Glaube. Wie sieht diese Stufe aus und in welchem Verhältnis steht sie zur Vollkommenheit des Glaubens? Am deutlichsten wird das von Calvin Gemein121 CO 48, 404. 122 CO 47, 52. 123 CO 47, 324.
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te, wenn er bei der Auslegung alttestamentlicher Texte auf rudimenta zu sprechen kommt. Vier Stellen seien genannt. „Und es sagte Jehova zu Mose: Gehe zum Volk und heilige sie heute und morgen und sie sollen ihre Kleider waschen.“ (Ex 19,10) Nachdem er von den Anfangsgründen (rudimenta) gesprochen hat, führt Calvin aus: „Denn der Ritus der Reinigung hat im Gesetz das alte Volk erinnert, dass niemand Gott anders gefallen kann, als dass er Sühne in Christi Blut sucht und sich bemüht, sich von dem Schmutz des Fleisches zu reinigen.“124 „Sie sollen mir ein Heiligtum machen, dass ich unter ihnen wohne.“ (Ex 25,8) Calvin stellt fest, dass ein Zeremonialgebot vorliegt, deren Autor Gott ist. „Aber Gott hat auch durch Anfangsgründe (rudimenta), welche er seinem Volk geboten hat, die frommen Seelen gleichsam durch Stufen höher erhoben.“125 Die Anfangsgründe beruhen auf der Verheißung, „dass ich unter ihnen wohne“. Wie nicht anders zu erwarten, verweist sie auf Christus. „Nicht nur aus den Aposteln, sondern auch aus den Propheten kann man lernen; sie verweisen die Glaubenden überall auf das Königtum des Messias. Deutlicher ist dennoch die Erklärung aus dem Evangelium zu erlangen, wo Christus als Sonne der Gerechtigkeit aufleuchtet.“ (usw.)126 Das Sittengesetz, der Dekalog, bedarf einer solchen Reflexion nicht, weil in Gal 3,24 der Bezug auf Christus hergestellt wird. Doch stellt Calvin in der Institutio (1543) ganz allgemein über den Unterschied von Altem und Neuem Testament fest: Paulus vergleicht nämlich die Juden mit unmündigen Kindern, die Christen mit reiferen Jünglingen. [Gal 4,1ff] Was soll denn aber in Bezug auf sie im Regiment Gottes ungeordnet sein, wenn er die Juden in den Anfangsgründen (rudimenta) festhält, die dem Mass ihres Alters entsprechen, uns aber in dem kräftigeren und männlicheren Unterrichtsfach unterwies ?127
Wieder sind die Anfangsgründe die niedrigere Stufe zum Christsein. Am ausführlichsten ist seine Auslegung von Jer 31,34 „Und nicht mehr wird jemand seinen Bruder weiterhin lehren: ‘Erkenne Jehowa!’ Denn sie alle werden mich erkennen vom Kleinsten unter ihnen bis zum Größten, sagt Jehowa; denn ich werde ihnen ihre Sünden verzeihen und ihrer Verkehrtheiten nicht mehr gedenken.“ Dazu schreibt Calvin: ‚Erkennet Jehowa!‘ Wir sehen, dass der Prophet ihnen also Erkenntnis verheisst, dass sie nicht weiterhin ABC-Schützen sind. Denn der Satzteil ‚Erkennet Jehowa‘ bezeichnet die ersten Anfangsgründe (prima rudimenta) des Glaubens oder der himmlischen Lehre. Denn wenn wir schauen, wie groß die Ungebildetheit des alten Volkes 124 125 126 127
CO 24, 199. CO 24, 404. CO 24, 405. OS III, 435, Z. 27–32; Inst II, 11, 13.
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war, dann waren sie Elementarschüler. Heute hat der Kleinste unter den Glaubenden darin Fortschritte gemacht, dass er klarer erkennt, was sich auf die Summe des Heils bezieht, als die Leute, die damals nicht zur Allgemeinheit gehörten.128
Calvin nennt im Folgenden das Reich Christi, Gott sehen in der Person Christi, den Versöhner, Gottes Erscheinen in seinem eingeborenen Sohn usw. Es ist nicht nur die Verheißung der klaren Belehrung, sondern auch der Gottesname Jehowa, der die Bezeichnung des Erkenntnisstandes des alttestamentlichen Volkes als „erste Anfangsgründe“ rechtfertigt. Im Neuen Testament können rudimenta und fides direkt aufeinander folgen. Ihre Zueinanderordnung zeigen die folgenden Beispiele (in biblischer Reihenfolge): „Siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ usw. (Mt 15,22) Dazu Calvin: „Obwohl diese Frau nicht zur Herde des Herrn gehörte, hatte sie doch schon einen gewissen Vorgeschmack an Frömmigkeit bekommen. Denn wenn sie die Verheißungen gar nicht gekannt hätte, hätte sie Christus nicht Sohn Davids nennen können. […] Wir müssen festhalten, dass der Glaube sich immer an dem Wort Gottes entzündet und seinen Beginn aus wahren Anfangsgründen (vera rudimenta) hat, wie er immer an ein gewisses Licht des Wissen gebunden ist.“129 Ob die Frau zur Christuserkenntnis kommt, wird nicht gesagt. „Jesus sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart.“ (Mt 11,25) Dazu Calvin: Wenn Christus auch der demütige Lehrer der Niedrigen ist, und dies auch der erste Anfangsgrund des Glaubens (primum fidei rudimentum) ist, damit sich nicht einer weise dünke, so handelt es sich hier nicht um eine freiwillige Verkehrtheit, sondern Christus steigert die Gnade des Vaters in der Weise, dass er sich nicht zu gut war, und er bis in den tiefsten Schmutz hinabstieg, um die Armen aus dem Kot aufzurichten.
Die Klugen lassen sich jedoch nicht herab zur docilitas.130 Der erste Anfangsgrund ist also, Christus als den demütigen Lehrer zu erkennen, der zweite ist, ihn als Retter aus dem tiefsten Schmutz zu verstehen. Schwierigkeiten bereitet die Geschichte vom Schächer am Kreuz. „Und der Räuber sprach: Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.“ (Lk 23,42) Dazu Calvin: Der Räuber kommt hier plötzlich weiter als alle Apostel und die übrigen Jünger, auf deren Unterweisung der Herr selbst so viel Mühe verwandt hatte. Nicht nur das, er 128 CO 38, 694. 129 CO 45, 457. 130 CO 45, 318.
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betet Christus am Kreuz als König an. […] Gewiss, wenn er vom rechten Glauben erfüllt gewesen wäre, wenn er vorher vieles über Christi Amt gehört hätte, wenn er auch durch Wunder darin bestärkt worden wäre. […] Von den ersten Anfangsgründen her ergriff er nun am verfluchten Kreuz das Heil und den himmlischen Ruhm. Das ist mehr als wunderbar gewesen.131
Die ersten Anfangsgründe (prima rudimenta) müssen darin bestehen, dass er zu Jesus, dem Mitgekreuzigten, von dessen Reich spricht. Aber Calvin hält es für unerklärlich, wie jener die Anfangsgründe gelernt habe. Doch hält er das Schema des Minimalwissens und der hinzukommenden Christuserkenntnis aufrecht, spricht aber dem Räuber den Glauben zu. Es handelt sich hier um einen Grenzfall. „Da gingen Petrus und der andere Jünger heraus und kamen zum Grabe.“ (Joh 20,3) Dazu Calvin: Es konnte nicht ausbleiben, dass ihre Frömmigkeit sie trieb, Christus zu suchen. Es blieb also ein Same des Glaubens in ihren Herzen erhalten, doch war er eine Zeitlang erstickt, so dass sie gar nicht wussten, was sie besassen. […] Aus diesem Samen erwuchs dann schliesslich der wahre und reine Glaube, der das Grab verliess und zur himmlischen Herrlichkeit Christi emporstieg. Wenn die Schrift über die Anfangsgründe des Glaubens (rudimenta fidei) spricht, dann sagt sie, Christus wird in uns geboren und wir wiederum in Christus.132
Der Eifer, mit dem Petrus und Johannes Christus suchten, waren Anfangsgründe des Glaubens; erst nach der Auferstehung Jesu glaubten sie wirklich. „Jesus sprach zu ihnen (den Emmausjüngern): Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Taten und Worten vor Gott und allem Volk.“ (Lk 24,19) Dazu Calvin: Unsicher ist jedoch, ob Kleopas aus eigener Unwissenheit weniger ehrenvoll von Christus gesprochen hat, als sich gebührt hätte, oder ob er mit bekannten Anfangsgründen (rudimenta) beginnen wollte, um Stufe für Stufe höher hinauszusteigen. Jedenfalls rechnet er kurz darauf Christus nicht mehr nur einfach unter die Propheten, sondern er sagt [V. 21], er und andere hätten an ihn als Erlöser geglaubt.133
„Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Wort der Schrift (Jes 53,7f) an und predigte ihm (dem Eunuchen) das Evangelium von Jesus.“ Dieser begehrte die Taufe.(Apg 8,35f) Calvin kommt zu dem Schluss: „Wenn der Eunuch durch die (Belehrung in den) Anfangsgründe(n).in wenigen Stunden bis dorthin geführt worden ist, muss sich die Trägheit derjenigen schämen, die den Glauben, den sie durch Belehrung in 15 oder 20 131 CO 45, 774. 132 CO 47, 428. 133 CO 45, 804.
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Jahren empfangen haben, innerlich verborgen gehalten haben.“134 Voraussetzung von Seiten des Eunuches ist nur, dass er gelehrig (docilis) ist.135 Calvin ist der Meinung, „wo Christus erkannt wird, steht für uns die Summe des Evangeliums fest.“136 Das Evangelium ist in dem Bekenntnis des Eunuchen zusammengefasst, „Ich glaube, dass Jesus Christus ist der Sohn Gottes.“ Daraufhin wird er getauft (Apg 8,37f). „Alsbald predigte Paulus in den Synagogen (in Damaskus) von Jesus, dass er der Sohn Gottes sei.“ (Apg 9,20) Dazu Calvin: Gewiss ist, Paulus wäre nicht so rasch unterwiesen worden durch die Bemühung des Ananias. Sondern sobald er die Anfangsgründe (rudimenta) aufgenommen hat aus dem Mund eines Menschen, ist er göttlich emporgehoben worden zu erhabeneren (Einsichten). Lukas berührt kurz die Summe der Predigt, wenn er anzeigt, Christus sei der Sohn Gottes. In gleicher Weise lässt er bald darauf folgen, dass er sei der Christus [V. 22]. Verstehe aber den Paulus so, dass er das wahre Amt Christi bespricht aus dem Gesetz und den Propheten, und dass er gleichzeitig gelehrt hat das, was vom Messias verheissen und zu erhoffen war, sei in Christus gekommen. Dies nämlich zeigen die Worte an, wenn es heisst, Paulus habe gepredigt, Christus sei der Sohn Gottes.137
„Cornelius war fromm und gottesfürchtig mit seinem ganzen Hause und gab dem Volk viele Almosen und betete immer zu Gott.“(Apg 10,2) Dazu Calvin: „Übrigens hatte er, so freigebig, sich den Juden als jemand ausgewiesen, der mit ihnen in der Religion übereinstimmte. Daher sagt Lk wenig später (V. 22), er habe einen guten Ruf bei allen Juden. Er war mit geringen Anfangsgründen des Glauben (tenua fidei rudimenta) vertraut“ (usw.).138 Paulus predigte in Antiochia. „So sei euch nun kundgetan, liebe Brüder, dass euch durch ihn (Jesus) Vergebung der Sünden verkündigt wird; und in all dem, worin ihr durch das Gesetz des Mose nicht gerecht werden konntet, ist der gerecht gemacht, der an ihn glaubt.“ (Apg 13,38f.) Dazu Calvin: Dies sind die Anfangsgründe unsres Glaubens (fidei nostrae rudimenta) die in den Schulen der Philosophen am wenigsten gelehrt werden: das ganze menschliche Geschlecht ist verdammt und von Sünden beladen, in uns ist keine Gerechtigkeit, die uns mit Gott versöhnt, die einzige Hoffnung des Heils besteht in seiner Barmherzigkeit, indem er uns umsonst freispricht, sie (die Menschen) bleiben aber angeklagt, wenn sie nicht zu Christus fliehen und in seinem Tod die Sühne von unseren Sünden suchen.139 134 135 136 137 138 139
CO 38, 196. CO 38, 191. CO 38, 195f. CO 48, 209. CO 48, 224. CO 48, 305.
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Anschließend geht Calvin noch auf die Zeremonialgesetze des Mose ein; Christus vermag, was sie nicht leisten. Die Athener, die auf dem Areopag versammelt sind, sind Heiden und treiben Götzendienst. Ein Anknüpfungspunkt an ihr Denken und Handeln bietet sich nicht. Vielmehr widerspricht Paulus ihnen: „Gott, der die Welt gemacht hat, […] lässt sich nicht von Menschenhänden dienen.“ (Apg 17,24f) Dazu Calvin: Dieselbe Frage, die eben zum Tempel gestellt wurde, kann nun zu den Zeremonien aufgeworfen werden. Es scheint nämlich, dass das, was Paulus an den heidnischen Riten verdammt, kann auf den Kultus des mosaischen Gesetzes übertragen werden. Aber die Antwort ist nicht schwierig, weil die Glaubenden die Verehrung Gottes niemals eigentlich in Zeremonien verlegen, sondern sie meinen, sie sind nur Stützen, durch die sie sich in ihrer Unsicherheit stützen. […] Durch solche Anfangsgründe [Opfer von Vieh usw.] gefördert, haben sie immer die geistliche Verehrung Gottes betrachtet.140
Will Calvin auch die heidnischen Riten als Anfangsgründe (des Glaubens) werten? Seine Rede endet mit der Verkündigung der Auferstehung Christi (V. 31). „Apollos war unterwiesen im Weg des Herrn und redete brennend im Geist und lehrte richtig von Jesus, wusste aber nur von der Taufe des Johannes.“ (Apg 18,25) Dazu Calvin: Mit dieser Lobrede scheint wenig übereinzustimmen, dass Lukas bald darauf hinzufügte, er habe nur die Taufe des Johannes gekannt. Doch dieser letztere Satzteil ist nur an Stelle einer Berichtigung hinzugesetzt. Indessen stimmen beide Teile leicht miteinander überein. Weil er die Lehre des Evangeliums beherrschte, weil er auch wusste, dass der Erlöser der Welt gekommen ist, und da er auch von der Gnade der Versöhnung gut und richtig unterrichtet war, war er dennoch nur von den Anfangsgründen des Evangeliums (evangelii rudimenta) berührt.141
Calvin kann aber auch unsicher sein, ob jemand die rudimenta erreicht. „Publius nahm uns auf und beherbergte uns drei Tage freundlich.“ (Apg 28,7) Die Malteser hatten Paulus wegen seines Wunders Gott genannt. Calvin dazu: Diese Aufnahme war eine große Ehre, weil Publius in der Person des Paulus Christus als Gast aufgenommen hatte. Als Übermass kam dennoch hinzu, dass Paulus mit der Gabe der Heilung versehen war. […] Man weiss daher nicht, ob Publius die Anfangsgründe des Glaubens geschmeckt hat, wie meistens die Wunder die Ungebildeten und Ungläubigen zur docilitas führen.142 140 CO 48, 412. 141 CO 48, 436. Fast mit denselben Worten beurteilt Calvin die Jünger in Ephesus, die nichts vom Heiligen Geist wussten und nur die Johannestaufe kannten. (Apg 19,3), CO 48, 441. 142 CO 48, 563.
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Calvin ist sich also unschlüssig, ob bei Publius die Anfangsgründe zu finden sind, die zur Erkenntnis Christi führen. c. Ergebnis Das vorgelegte Material gibt Aufschluss über Calvins Verständnis des Begriffs rudimenta. Es erklärt, was er unter den Anfangsgründen des Glaubens versteht, die er ursprünglich abfassen wollte, bevor er mit der Ausarbeitung der Institutio begann. Erstens, Calvin denkt die Entstehung des Glaubens in Stufen (gradus). Im Verhalten des Menschen gibt es die Bereitwilligkeit, sich belehren zu lassen (docilitas), aus der der Glaube erwächst. Calvin gebraucht oft das Wort docilis. Das Material, das zu seiner „Bekehrung zur Gelehrigkeit“ gehört, wurde im Kapitel drei vorgelegt. Doch auch der Wissensstand erfolgt in Stufen. Einige Menschen besitzen die Anfangsgründe des Glaubens, andere die ganze Wahrheit, das heißt, die „Vollkommenheit des Glaubens“, welche die höchste Stufe ist. Zweitens, fragt man, warum Calvin das Gläubigwerden in einzelne Teile zerlegt, so ist es gewiss nicht ein Interesse an der Psychologie. Vielmehr stellt er große Anforderungen an den Glauben der Menschen. Er lässt eine Anfangserkenntnis nicht als „wahre Frömmigkeit“ gelten. Oder genauer gesagt: Er nimmt die biblischen Berichte ganz ernst und will sie genau und zutreffend auslegen. Die angeführten biblischen Bekehrungsberichte verlangen eine Unterscheidung dieser Art. Da er immer die Anwendung auf den Zuhörer im Blick hat, kommt ihm die Methode der Glaubenserkenntnis in einzelnen Stufen gelegen. Er übernimmt sie in seine Verkündigung und Unterweisung. Drittens, die Beispiele haben alle eins gemeinsam: Die Anfangsgründe bestehen immer aus alttestamentlichen oder jüdischen Erkenntnissen. Am deutlichsten ist dies natürlich bei den Beispielen aus dem Alten Testament. Das Zeremonial– und Sittengesetz wird in Christus erfüllt. Der neue Bund übersteigt den alten Bund (Jer 31). Für das Neue Testament gilt dasselbe. Wenn Calvin Anfangsgründe des Glaubens feststellt, dann geschieht dies bei Juden oder bei Menschen, die von jüdischer Frömmigkeit beeinflusst sind. Zu Zeiten des irdischen Jesus ist es die kanaanäische Frau und der Schriftgelehrte Nikodemus, sind es Petrus und Johannes, die zum Grab eilen, und die Emmausjünger. Schon bei der kanaanäischen Frau, einer Heidin, kommt Calvin aber in Erklärungszwang. Er setzt hinzu, dass sie jüdisch beeinflusst war, denn sonst hätte sie Jesus nicht Sohn Davids genannt. Und um die Möglichkeit heidnischer Anfangsgründe auszuschließen, setzt er hinzu: „Wir müssen festhalten, dass der Glaube sich immer an dem Wort Gottes entzündet und seinen Beginn aus wahren Anfangsgründen (vera rudimenta) hat, wie er immer an ein gewisses Licht des Wissens ge-
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bunden ist.“ Calvin gesteht, die Anfangserkenntnis des Schächers am Kreuz nicht erklären zu können. Dass die rudimenta immer aus alttestamentlichen oder jüdischen Erkenntnissen stammen, gilt auch für die Missionstätigkeit in der Apostelgeschichte. Ein klassischer Fall ist der Eunuch aus Äthiopien. Auch Paulus hält seine erste Predigt in der Synagoge in Damaskus, nachdem er von Ananias die Anfangsgründe des Glaubens gelernt hat. Doch ist er schnell zur vollen Erkenntnis gelangt. Die Gottesfürchtigen in Thessalonich (Apg 17,4) und in der Synagoge und auf dem Markt in Athen (Apg 17,17) wissen von dem Gott Israels. Ihre Beziehung zur Synagoge erklärt die Anfangsgründe ihres Glaubens. Calvins Bemerkung macht alle Erklärungen überflüssig, „von welchen Orten auch immer die Juden vertrieben waren, dort hatten sie einigen Samen der Frömmigkeit ausgestreut und einen Geruch der reineren Lehre verbreitet.“ Trotzdem machen die Anfangsgründe des Cornelius Schwierigkeiten (Apg 10,2). Er ist Heide und zeichnet sich durch Almosengeben aus. Wieso er nach Calvins Meinung mit den Juden in der Religion übereinstimmte, bleibt unklar. Viertens, das Ziel der Anfangsgründe des Glaubens ist immer die Erkenntnis Christi und seines Erlösungswerkes. Wenn die alttestamentlichen Zeremonial– und Sittengesetze oder der Alte Bund auf Christus verweisen, dann führen sie zu ihm ihn. Calvin erklärt zu Mt 11,3, dass bei allen Juden sich die rudimenta finden, dass Christus kommen soll.143 Der Eifer, mit dem Petrus und Johannes zum Grab Christi liefen, waren Anfangsgründe des Glaubens; „sie suchten Christus“. Oder: Die Emmausjünger suchten den Erlöser. Oder: Apollos (Apg 18,25) glaubte an den Erlöser, aber da er nur die Johannestaufe kannte, wurde sein Glaube auf Anfangsgründe zurückgestuft. Das Ziel der Christuserkenntnis verbindet alle aufgeführten Beispiele. Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Zusammengehörigkeit der Anfangsgründe des Glaubens und der Christuserkenntnis bietet die Geschichte von der Begegnung des Kämmerers aus Äthiopien mit Philippus. Der Eunuch betet in Jerusalem im Tempel an und liest den Propheten Jesaja, den er nicht versteht. Er hat die rudimenta fidei. Dann predigt ihm Philippus „das Evangelium von Jesus“. Das Taufbekenntnis, „Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist“, und die Taufe bezeugen den Glauben. Die Zusammengehörigkeit der Anfangsgründe mit dem Glaubens zeigt sich darin, dass Calvin kurz gesagt die Anfangsgründe rudimenta fidei nennt. Fünftens, es bleibt die Frage zu beantworten, wie denn die Heiden zum Glauben finden. Haben sie keine Anfangsgründe des Glaubens? An Cornelius kann Calvin nur tenua fidei rudimenta wahrnehmen und postuliert einfach die Übereinstimmung mit den Juden in der Religion. Den Klugen 143 CO 45, 299.
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ist Christus verborgen (Mt 11,25), aber die Unmündigen haben nach Meinung Calvins erste Anfangsgründe des Glaubens, wenn sie Christus als den demütigen Lehrer der Niedrigen erkennen. Ein Bezug auf das Alte Testament und die Juden fehlt. in diesem Fall. Calvin setzt nur hinzu: „Christus steigert die Gnade des Vaters in der Weise, dass er sich nicht zu gut war, und er bis in den tiefsten Schmutz hinabstieg, um die Armen aus dem Kot aufzurichten.“ Calvin nennt, wie oben gezeigt, die Wahrheit die höchste Stufe. Den Inhalt der Wahrheit nennt er in der Auslegung der Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38).144 Er erklärt: Wahrheit gilt den Menschen als etwas Alltägliches. Gott dagegen bezeugt, sie sei etwas viel Erhabeneres, als dass der Geist des Menschen sie erfassen kann. Dasselbe geschieht auch in anderen Dingen. Die hauptsächlichen Stücke der Theologie sind: die Verfluchung des Menschengeschlechts, die Verdorbenheit der menschlichen Natur, die Tötung des Fleisches, die Erneuerung des Lebens, die bedingungslose Versöhnung durch ein einziges Opfer, die Anrechnung der Gerechtigkeit, durch die der Sünder von Gott angenommen ist, die Erleuchtung durch den Geist.
Calvin will deutlich auch von den Heiden sprechen. Er verweist Juden und Heiden auf die Lehren, die Thema sowohl im Alten wie im Neuen Testament sind. Die Begriffe Messias und Christus erscheinen nicht. Doch kommt er anschließend auf die rudimenta fidei zu sprechen. Weil diese Lehren dem gewöhnlichen Denken zuwiderlaufen, weisen die Menschen sie mit Verachtung zurück. Wenige machen daher in der Schule Gottes Fortschritte, weil kaum jeder Zehnte gefunden wird, der sich an den ersten Anfangsgründen (prima rudimenta) versucht. Warum aber, wenn nicht deshalb, weil sie ihre eigenen Gedanken zum Massstab für Gottes verborgene Weisheit machen?
Die rudimenta sind die Erkenntnis der Sünde und Gnade aus der Bibel, ohne besonderen Bezug auf das Alte Testament. Es gibt also auch Anfangsgründe für die Heiden. Sechstens, die Heiden sind gemeint, wenn Calvin die Anfangsgründe unseres Glaubens nennt, denn die heutigen Leser entstammen nicht dem Judentum. Das biblische Zitat sei noch einmal wiederholt. Paulus predigte in Antiochia. „So sei euch nun kundgetan, liebe Brüder, dass euch durch ihn (Jesus) Vergebung der Sünden verkündigt wird; und in all dem, worin ihr durch das Gesetz des Mose nicht gerecht werden konntet, ist der gerecht gemacht, der an ihn glaubt.“ (Apg 13,38f) Dazu Calvin: Dies sind die Anfangsgründe unseres Glaubens (fidei nostrae rudimenta) die in den Schulen der Philosophen am wenigsten gelehrt werden: das ganze menschliche Geschlecht ist verdammt und von Sünden beladen, in uns ist keine Gerechtigkeit, die uns 144 CO 47, 405f.
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mit Gott versöhnt; die einzige Hoffnung des Heils besteht in seiner Barmherzigkeit, indem er uns umsonst freispricht. Sie (die Menschen) bleiben aber angeklagt, wenn sie nicht zu Christus fliehen und in seinem Tod die Sühne von unseren Sünden suchen.145
Auch für die Heiden ist die Erkenntnis der eigenen Verlorenheit Anfangsgrund des Glaubens und das Evangelium das Ziel. Zu Ex 19,10 hatte Calvin „das Waschen der Kleider“ auf die Sühne durch das Blut Christi bezogen (siehe oben). Dort erörtert er auch die Anfangsgründe unseres Glaubens. Wie sehr auch der Glaube, weil er doch die dargebotene Versöhnung und den Geist der Wiedergeburt umfasst, uns alleine wirklich reinigt, so steht dem dennoch am wenigsten entgegen, dass nicht die Furcht Gottes vorausgeht, die durch das Wort einen Platz in unseren Herzen bereitet (2. Kor 7,1; Apg 15,9; Röm 10,16). Und eigentlich gesprochen muss der fromme Lerneifer, Demut und Ehrfurcht als Anfang des Glaubens bewertet werden, weil von diesen Anfangsgründen (rudimenta) an Gott beginnt, dass der Glaube durch bestimmte Fortschritte in uns seinen Anfang nimmt.146
Mit den Fortschritten meint er den Weg zur Christuserkenntnis. Zusammenfassend ist über die Anfangssätze des Schreibens an Franz I. zu sagen: Klargestellt ist durch das vorgelegte Quellenmaterial, dass die Anfangsgründe (rudimenta) die erste Stufe des Glaubens sind, auf die der volle Glaube folgen muss. Wenn Calvin die Anfangsgründe nennt, ist immer der rechtfertigende Glaube mitgemeint. Calvin hatte also ursprünglich vor, in einem Buch die Entstehung des Glaubens von den Anfängen her darzustellen. Es ist dazu bestimmt, „das Hungern und Dürsten nach Christus bei vielen Franzosen“ zu stillen. Damit ist weiterhin gesagt, dass es in französischer Sprache abgefasst werden sollte. Das geplante Buch rückt also in die Nähe der französischsprachigen Einführung in das Neue Testament, mit der es inhaltlich übereinstimmt. Es sollte aber nicht an eine Bibelübersetzung gebunden sein und sich nicht wie deren Adressaten an die Glaubenden richten. Ebenso ist an den französischen Katechismus von 1537 zu denken. In ihm sind die Stufen des Glaubens pädagogisch kurz und knapp beschrieben. Fragt man, warum das geplante Buch nicht abgefasst worden ist, so liegt die Erklärung am nächsten, dass die Christenverfolgung im Herbst 1535 eine Verteidigungsschrift an den König zu schicken notwendig machte. Sie sollte sich an die Öffentlichkeit richten und musste daher in lateinischer Sprache erscheinen. Aus dem gleichen Grund wurde die dazugehörige Institutio lateinisch abgefasst.
145 CO 48, 305. 146 CO 24, 199.
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4. Das Schreiben an Franz I. – Vorrede zur Institutio und Apologie Im letzten Abschnitt definiert Calvin sein Vorhaben: Er habe die Feindschaft der Ankläger dargelegt, ich fürchte sogar, allzu ausführlich. Denn diese Vorrede hat nun schon fast das Ausmass einer förmlichen Apologie erreicht. […] Doch haben wir das feste Vertrauen, des Königs Gunst wiedererlangen zu können, wenn Ihr nur einmal mit Ruhe und Wohlwollen unser Bekenntnis hier lesen wollt, das nach unserer Absicht zur Verteidigung vor Eurer Majestät dienen soll.
Calvin bezeichnet das Schreiben als Vorrede oder Einleitung, gemeint ist zur Institutio. Es ist weiterhin eine Schutzschrift, eine Apologie, gegen die Anklagen der Feinde. Das Bekenntnis (confessio) zur Verteidigung (defensio), das der König lesen soll, ist wiederum die Institutio. Es bleibt die Kennzeichnung des Schreibens an Franz I. als Apologie. Dem entspricht die Inhaltsangabe. I. Die Absicht der Institutio 1. Der ursprüngliche Plan, Anfangsgründe des Glaubens abzufassen, wurde aufgegeben. Stattdessen soll die Lehre in schlichter Form in der Institutio dargeboten werden. 2. Die Verfolgung der Evangelischen ist der Anlass, die Summe ihrer Lehre vorzulegen. II. Allgemeine Verteidigung 3. Die evangelische Lehre ist von den Gerichten ohne Anhörung verurteilt worden. Dem König wurde gesagt, sie zerstöre die staatliche Ordnung. 4. Er, Calvin, selbst beabsichtige keine private Verteidigung, um in sein Vaterland zurückkehren zu können, sondern er verteidige die Sache Christi. 5. Die gemäßigten Gegner urteilen fälschlich, man müsse nur mit dem Irrtum der Unerfahrenen Nachsicht haben. Der König sei aber der Wahrheit verpflichtet. 6. Das Bekenntnis des Glaubens. 7. Die falschen Lehren der Gegner. III. Verteidigung gegen gezielte Anklagen 8. Die evangelischen Irrtümer a. Die evangelische Lehre sei neu. b. Sie sei ungewiss. c. Sie sei nicht durch Wunder bekräftigt. d. Es fehle bei den Evangelischen der Konsens mit den Kirchenvätern. e. Das Gewohnheitsrecht. f. Sie lägen im Kampf mit der Kirche. g. Ihre Lehre verbreite Aufruhr. 9. Appell an den König.
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5. Apologie und Polemik Wenngleich Calvin beabsichtigt, in der Institutio das Bekenntnis breit zu entwickeln, so enthält doch auch das Schreiben an Franz I. einen kurzen Bekenntnistext. Der Anfang sei hier zitiert. Es bleibt uns vor Gott nichts, womit wir uns rühmen könnten, als allein seine Barmherzigkeit, durch die wir ohne unser Verdienst das Heil erworben haben; vor den Menschen nichts als unsere Schwachheit, deren Eingeständnis bei ihnen als Gipfel der Schmach gilt. Unsere Lehre aber muss über alle Herrlichkeit der Welt erhaben dastehen, unbesiegbar über alle Macht. denn sie ist nicht unser, sondern des lebendigen Gottes und seines Christus, den der Vater zum König eingesetzt hat, dass er ‚herrsche von Meer zu Meer, von den Flüssen bis an die Enden des Erdkreises‘ (2. Kor 10,17) (usw.).
Kennzeichnend ist die soteriologische Ausrichtung und die Hervorhebung der Königsherrschaft Christi. Es folgt die Abgrenzung von der Lehre der Gegner. Sie „erheben ein Angstgeschrei, auf diese Weise würde – ich weiss nicht was für ein – blindes Licht der Natur, würden erfundene Vorbereitungen [zum Heil], freier Wille, Verdienste untergraben. „Warum führen sie mit solcher Wut und Verbissenheit ihren Kampf für die Messe, das Fegefeuer, die Wallfahrten und dergleichen Windbeuteleien?“ Calvin spart nicht an Polemik gegen diese und andere Lehren.
6. Die speziellen gegnerischen Angriffe Es empfiehlt sich, der Charakterisierung und Zusammenfassung des Schreibens durch A. Ganoczy zu folgen. Es ist „ein Appell an den falsch informierten König, damit er besser informiert wird“.147 Calvins Denken ist nicht abstrakt, sondern es ist beherrscht von beidem, einer lebendigen Hingabe an Christus und einem apostolischen Verlangen, das Evangelium zu verkündigen. Ferner weiss es um den Ruhm Gottes, ist streng christozentrisch ausgerichtet und basiert solide auf der Bibel. Wir entdecken in seinem Denken eine tiefgründige kirchliche Einfühlsamkeit zusammen mit einer ernsthaften Sorge um Gesetz und Ordnung.148
Das christozentrische Lehren erweist sich sofort bei der ersten Anklage, die evangelische Lehre sei neu. Sie könne nur neu sein bei denen, die Christus und sein Evangelium nicht kennen. Calvin setzt Lehre und Evangelium gleich, denn die Lehre ist streng biblisch ausgerichtet. Da Lehre für Calvin 147 The Young Calvin, 100. 148 The Young Calvin, 102.
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nicht Dogmatik, sondern Verkündigung ist – er denkt dynamisch und nicht statisch149 – teilt er die gedanklichen Voraussetzungen der Gegner nicht. Auch das Schlussverfahren in der sechsten Anklage, durch das die Evangelischen in die Enge getrieben werden sollen, nämlich die Kirche sei entweder lange Zeit tot gewesen, oder sie stritten gegen die Kirche, wird christozentrisch beantwortet. Die Kirche lebe, solange Christus zur Rechten des Vaters regiere. Dem möglichen Einwand, er lehre nur eine ecclesia visibilis, hält Calvin entgegen, Christus sei immer bei den Seinen (Mt 28,20), und die Klage des Elia, er sei alleine übrig geblieben (1. Kön 18,22). Die äußere Form und der Prunk gehörten nicht zum Wesen der Kirche. Calvin zitiert die notae ecclesiae aus Artikel X der Confessio Augustana. Die zweite Anklage, die evangelische Lehre sei ungewiss, widerlegt Calvin überraschend durch den Hinweis auf die Märtyrer, die keine Furcht vor dem Schrecken des Todes kennen. Er verweist damit auf die Erfahrungen der Gegenwart. Die dritte Anklage ist heutigem Denken fremd. Calvin macht das katholische Suchen nach Wundern in der Gegenwart lächerlich und verweist auf die biblischen Wunder. Die vierte Anklage lautet, es fehle der evangelischen Lehre der Konsens mit den Kirchenvätern. Ihr begegnet Calvin mit der Beweisführung, dass viele Kirchenväter dem jetzigen katholischen Kultus widersprächen. Er nennt den Gebrauch goldner Kelche und Schüsseln, die Fastengebote, das Betteln der Mönche, die Bilder Christi und der Heiligen in den Kirchen, den Totenkult, die Annahme, der wahre Leib Christi sei im Abendmahl anwesend, das Abendmahl in einer Gestalt (Cyprian und der Papst Gelasius im Corpus Iuris Canonici verlangten den Gebrauch des Kelches, aber das Konzil von Konstanz 1415–1418 dekretiere das Abendmahl sub una specie) und das Zölibat bereits verheirateter Priester. Augustin verlange für umstrittene Entscheidungen klare Schriftzeugnisse. Woher Calvin die Kirchenväterzitate hat, ist unklar. Er überrascht schon in der Schrift De clementia mit seiner ungeheueren Belesenheit. Die fünfte Anklage beruft sich auf das Gewohnheitsrecht. Der Jurist ist angesprochen. Er dreht die Frage um und verweist auf die schlechten Gewohnheiten; es seien Übel, an die man sich gewöhnt habe. Der letzte Angriff ist der gefährlichste. Die Gegner erheben den Vorwurf, die evangelische Lehre verbreite Aufruhr. Calvin kann dies nicht leugnen. Er schiebt die Schuld auf den Satan, der immer tätig wird, wenn das Wort Gottes verkündigt wird. Die Wiedertäufer, Sekten und dogmatischen Streitereien seien die Folge. Die Gegner versuchten den Glaubenden die Schuld zu geben. Doch sei auch Elia vorgehalten worden, Israel ins 149
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V.E., „doctrina“, 95f.
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Verderben zu stürzen (1. Kön 18,17), Christus sei des Aufruhrs bezichtigt worden (Lk 23,14) und die Apostel der Aufwieglung des Volkes (Apg 24,5). Calvin erweist sich als ein geschickter Disputant und als ein geübter Theologe, der vom Evangelium her denkt und dessen Fehlen den Gegnern immer wieder vorhält. 7. Die Quellen Calvins Es genügt der Nachweis nicht, dass die von Calvin angesprochenen Lehren auch von bestimmten katholischen Theologen vertreten wurden. So wertvoll diese Nachweise in den kritischen Ausgaben sind, so fallen viel mehr ins Gewicht die Schriftsteller, die Calvin zitiert hat. Welche sind diese? Da Calvin im Abschnitt über den Konsens mit den Kirchenvätern die Quellen in Klammern beifügt, ist davon auszugehen, dass er die angegebenen Schriften studiert hat. Unter ihnen stechen Augustin, Cassidors Historia tripatita und das Decretum Gratians mit seinen Kirchenväterzitaten hervor. Aus den zeitgenössischen Quellen zitiert er Melanchthons Loci communes von 1522. Er hat also diese lutherische Schrift gekannt. Bei der schwierigen Frage nach dem lumen naturale holt er sich Hilfe bei dem Wittenberger. Er zitiert mehrmals Wilhelm Budé, De transitu Hellenismi ad Christianismum, Paris 1534. J. BOHATEC meint, unter den „gemässigten Theologen“ seien Robert Ceneau, der Bischof von Avranches, Almosenpfleger der Königin Mutter (Appendix ad coenam dominicam, 1534), Kardinal Sadolet (Commentarius in epistolam S. Pauli ad Romanos, 1535) und W. Budé zu verstehen. Überzeugende Zitate aus den Schriften der Erstgenannten bringt BOHATEC allerdings nicht bei. Ihn interessiert, dass Calvin sich in diesen Fällen gegen Humanisten wendet, zu denen er selbst sich auch gerechnet hat.150
Kapitel 11: Calvins Basler Opus magnum – die Institutio von 1536 Sie umfasst sechs Kapitel, die den Titel tragen vom Gesetz, Glaube, Gebet, von den Sakramenten Taufe und Abendmahl, den übrigen (falschen) Sakramenten und von der Freiheit (vom Gesetz), von kirchlicher Gewalt und zivilem Regiment. Nun beginnt die Institutio aber nicht mit dem Gesetz Gottes, obwohl das erste Kapitel den Titel De Lege trägt. Der Auslegung
150 Budé und Calvin, Graz 1950, 128f.
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des Dekalogs sind Prolegomena vorgeordnet151 – um einen Ausdruck heutiger Dogmatik zu gebrauchen. In ihnen wird das theologische Leitmotiv ‘cognitio Dei et cognitio nostri’ erörtert, dessen Erklärung Calvin an den Anfang der Institutio stellt. Es melden sich erste Zweifel, ob Calvin der Gliederung der Katechismen Luthers folgt, die weder Prolegomena noch zwei polemische Schlusskapitel enthalten. Die Prolegomena bestimmen zudem Gestalt und Inhalt der folgenden katechetischen Stücke. Es sind dies der Dekalog, das apostolische Glaubensbekenntnis, das Herrengebet und die Einsetzungsworte der Taufe und des Abendmahls. A. Cognitio Dei et cognitio nostri 1. Das Leitmotiv der Institutio Um die Bezeichnung „Leitmotiv“ zu rechtfertigen, sei eine Vorüberlegung angestellt. Es besteht in der Forschung kein Konsens über das Wesen der Theologie Calvins. Gewiss, die Suche nach der „Zentrallehre“ ist aufgegeben worden. Die Prädestinationslehre steht (wie bei Beza) nicht im Mittelpunkt. Sie wird erst im Buch 3 der Institutio 1559 behandelt. Nun hilft es aber nicht weiter, für die Theologie Calvins auf die Institutio zu verweisen. Sofort wird nämlich weiter gefragt, welche Institutioausgabe gemeint sei. Sie alle unterscheiden sich in der Anordnung der Lehrstücke und im Umfang. Die Erstausgabe aus dem Jahr 1536 umfasst sechs Kapitel, die von 1539 17 Kapitel, die von 1543 21 Kapitel und die letzte von 1559 sogar 80 Kapitel. Verweist man auf die Letztausgabe, weil sie sein reifes Alterswerk sei, so steht man wieder am Anfang der Überlegung. Denn die Stofffülle lässt nicht weniger nach dem Leitgedanken seiner Theologie suchen als bei den vorangehenden Ausgaben. Es wird zu zeigen sein, dass das Leitmotiv, cognitio Dei et cognitio nostri, diese Lücke füllt. Das Leitmotiv gibt nämlich Auskunft über die Struktur seines theologischen Denkens und über seine Darstellungsmethode. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Prolegomena allen Ausgaben der Institutio vorangestellt werden. Dies spricht für ihr theologisches Gewicht. Zudem nennt Calvin diesen Anfangsabschnitt „summa fere sacrae doctrinae“, in den späteren Ausgaben „summa tota fere sapientiae nostrae“. Zwar sagt Calvin einschränkend „nahezu die Summe der heiligen Lehre“ – es sind also noch andere Lehrstücke denkbar. Doch wird fast das Ganze (summa) der heiligen Lehre behandelt. Calvin setzt bestärkend hinzu: „Die beiden 151 OS I, 37, Z.8–41, Z. 23. In Zeile 17 sind acht Worte ausgelassen. Der Satz muss heißen: Idque iure illi deberi, ut singula pro naturae suae ratione illi serviant.
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Teile, Gotteserkenntnis und Erkenntnis unserer selbst, müssen hier und jetzt dargestellt werden“ (in präsentia discendum). Es überrascht, dass die Prolegomena in der Calvinforschung nicht mehr Beachtung gefunden haben.152 Worin besteht ihre Eigenart? 2. Die Gliederung Der Eingangsteil ist nicht leicht zu durchschauen, weil zwei Themen in ihm abgehandelt werden. Einmal „die Erkenntnis Gottes und unserer selbst“, zum anderen der Aufriss einer Heilsgeschichte. Wichtig ist: Beide Themen sind miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Dies soll durchsichtig gemacht werden. Die Prolegomena haben drei Teile. Teil 1. Unter der Überschrift „Die Erkenntnis Gottes“ werden zuerst in einem kurzen Abschnitt vier Gottesprädikate aufgezählt. Es folgt Teil 2. Die Erkenntnis unserer selbst.153 Unter der Überschrift „Um zu einer gewissen Kenntnis unserer selbst zu kommen, muss vorher Folgendes festgehalten werden“. Der 2. Teil besitzt den größten Umfang. Mehrere Punkte fallen an ihm auf. Erstens, auf die statische „Gotteserkenntis“ folgt die akthafte „Kenntnis unserer selbst“. Das heißt, die „notitia nostri“ ist eine Zielangabe, die von uns erreicht werden muss. Zweitens, die cognitio nostri ist ausdrücklich eine gewisse, feste Erkenntnis (certa cognitio). Eine Steigerung liegt vor. Die cognitio dei ist offenbar keine feste Erkenntnis oder sie wird es erst, wenn die cognitio nostri hinzukommt. Letzteres ist der Fall, denn laut dem Eingangssatz bilden beide „zwei Teile“; sie gehören also zusammen. Drittens, erst mit der cognitio nostri beginnt die Heilsgeschichte. Diese ist ein Heilsweg – Calvin gebraucht viermal das Wort via154. In diesen Weg wird auch die cognitio dei einbezogen. Genau genommen ist Inhalt des Teils 2, wie noch zu zeigen ist, beides, die Gotteserkenntnis und die Erkenntnis unserer selbst. Der Abschnitt ist lang und ausführlich, weil an Hand der biblischen Heilsgeschichte der menschliche Heilsweg beschrieben wird. Der Teil 3 behandelt ganz ausführlich den Übergang vom Gesetz zur Gnade in Christus.155 Die cognitio nostri ist nun Erkenntnis unserer Bedürftigkeit und die notitia Dei ist Erkenntnis seiner Langmut.156 Das Heilswerk Christi wird zuvor ausführlich geschildert. Mehrere Fragen sind zu beantworten. 152 Eine Ausnahme bildet EBELING, G., Cognitio Dei et hominis, in: Lutherstudien, Bd. 1, Tübingen 1971, 221–272; siehe NEUSER, W.H., Calvins Theologisches Leitmotiv „cognitio Dei et nostri“ in der Institutio von 1536, in: BOER, E.A. DE V./D’ASSONVILLE, V.E. (Hg.), Ad Fontes, Festschrift vir L. F. Schultze, Bloomfontein 2004, 28–50 (Acta Theologica Suppl. 5). 153 OS I, 37, Z. 31–39, Z. 34. 154 OS I, 38, Z. 8, 39, Z. 22, 40, 6 und 41, Z. 22. 155 OS I, 39, Z. 35–41, Z. 23. 156 OS I, 41, Z. 3 und 19f.
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3. Das Problem der Gotteserkenntnis der Heiden Die nachfolgende Synopse enthält das Quellenmaterial. Es umfasst auf der einen Seite die vier Gottesprädikate und auf der anderen Seite ihre Zitierung und Berücksichtigung in der Beschreibung des Heilsweges. Cognitio Dei Zuerst, dass wir durch festen Glauben für begründet halten, Gott ist unendliche Weis- heit, Gerechtigkeit, Güte, Barmherzigkeit, Wahrheit, Kraft und Leben. So dass es gera- 0dezu keine andere Weisheit, Gerechtigkeit, Güte, Barmherzigkeit, Wahrheit, Kraft und Leben gibt (Ba 3[12–14]; Jak 1 [17]). Und was auch immer man von diesen erblickt, ist von ihm (Spr 16 [1–4 und 9]).
Cognitio nostri Unser aller Vater Adam ist zum Ebenbild und zur Ähnlichkeit Gottes geschaffen worden (Gen 1 [27]). Das heisst, er ist versehen mit Weisheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit [usw.]. (OS I, 38, Z. 1–3)
Und eigendlich reitzt dieses geschriebene Gesetz, nämlich als Zeugnis des natürlichen Gesetzes, unser Gedächtnis öfter an und schärft ein, was wir nicht gründlich genug gelernt haben, solange nur das natürliche Gesetz im Inneren lehrt. Nämlich dass Gott der Schöpfer ist, unser Herr und Vater [5. Mose 32,6]. Aus diesem Grund gebührt ihm von uns Ruhm, Ehre und Liebe. (S. 39, Z. 44–40, Z. 2) Zweitens, sämtliche Dinge im Himmel und auf Erden sind zu seinem Ruhm erschaffen (Ps 148 [1–14], Dan 3 [28f]). Und es gebührt ihm zurecht, dass jedes einzelne Ding nach der Art seiner Natur, ihm diene, auf seinen Befehl achte, zu seiner Majestät em- porblicke und ihn durch Gehorsam als den Herrn und König anerkenne (Röm 1 [20f]).
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Cognitio Dei Drittens, er ist ein gerechter Richter, und wird deshalb gegen die ein strenger Rächer sein, die von seinen Geboten abweichen werden, und die nicht in allem seinem Willen willfährig gewesen sind, die anderes gedacht, gesagt, und getan haben, als was sei- nem Ruhm dient (Ps 7 [9–12], Röm 2 [6–8]).
Cognitio nostri Weiter, da Gott ein gerechter Bestrafer der Verbrechen ist, müssen wir anerkennen, dass wir dem Fluch verfallen sind und das Urteil des ewigen Todes verdienen. (38, Z. 39–41)
Weiter, da es nicht in unserer Kraft oder Fähigkeit liegt, zu leisten, was wir dem Gesetz schulden, müssen wir an uns ver- zweifeln und anderswo Hilfe suchen und erwarten. Viertens, er ist barmherzig und Sind wir in diese Demut und Erlangmütig, der die Elenden und niedrigung hinabgestiegen, dann Armen, die zu seiner Milde ihre erscheint uns leuch- tend der Herr Zuflucht nehmen und sich in seinen und bietet sich uns freundlich, Schutz begeben, gütig annehmen milde, sanftmütig und nachsichtig wird, und der zu schonen und zu dar, wie geschrieben steht: „Er vergeben bereit ist, wenn sie Verwidersteht dem Hoffärtigen, aber gebung von ihm begehren, der zu dem Demütigen gibt er Gnade“ Hilfe eilen und Beistand bringen (Jak 4 [6], 1.Petr 5 [6]). Und zuerst, will, wenn sie seine Hilfe erflehen, wenn wir seinen Zorn vertrauensder behüten will, wenn sie alles voll durch Bitten abwenden und Vertrauen auf ihn setzen und grün- Verzeihung erflehen, bewilligt er den (Ps 103 [3f, 8–13], Jes 55 [6], sie zweifellos, erlässt das, was Ps 25 [1–11], Ps 85 [3–5, 10]). unsere Sünden verdienen würden und nimmt uns in Gnaden an. Zweitens, wenn wir seine helfende Hand erflehen, in der gewissen Überzeugung, dass wir, mit seinen Hilfsmitteln ausgerüstet, alles vermögen. Er wird uns nach seinem guten Willen ein neues Herz gegeben, durch das wir wollen, und neue Kraft, durch die wir vermögen, seine Gebote zu befolgen (Hes 36 [26f]). (40, Z. 7–26)
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Wie kunstvoll der Aufbau dieser Prolegomena ist, zeigt sich daran, dass zur Abfolge zu den drei Teilen (siehe Gliederung) vier Querverbindungen zwischen diesen Teilen hinzukommen. Die Stationen des Heilsweges bzw. der Heilsgeschichte beziehen sich wörtlich auf die vier anfangs genannten Gottesprädikate. Die vorstehende Synopse verdeutlicht es. Doch steckt diese von Calvin vorgenommene Verbindung voller Probleme. Im Folgenden soll der Eigenart des Eingangsteils weiter nachgegangen und sie aufgedeckt werden. Zuerst seien die vier Gottesprädikate analysiert. 1. Die vier Gottesprädikate weisen erneut auf die Abhängigkeit von Bullingers Römerbriefkommentar hin (s. Kap. 9 C 4). Doch hat Calvin ihre theologische Bedeutung weiterentwickelt. 2. Wenn Gott der Inbegriff alles Guten ist und es von allen Menschen erkannt werden kann, so entspricht dem heilsgeschichtlich die Gottesebenbildlichkeit und Gottähnlichkeit Adams. Gemeint ist Adam vor dem Fall. 3. Erst im zweiten Punkt fällt das Wort Schöpfung: Alles ist zu Gottes Ruhm geschaffen. Statt auf den Menschen als Geschöpf wird auf das Universum verwiesen. Als Belege nennt Calvin in der Einführung zum Neuen Testament die Naturpsalmen.157 Dem entspricht heilsgeschichtlich das Wort Dtn 32,6, in dem Gott der Schöpfer, Vater und Herr genannt wird. 4. Die Kennzeichnung Gottes als des Richters ist der dritte Punkt, er wäre heilsgeschichtlich aber der zweite. Denn als Nachkommen Adams bringen wir nur böse Affekte hervor, „die unter das Gericht Gottes fallen“. Hingegen kennt die natürliche Gotteserkenntnis keinen Sündenfall und kann daher das Gericht Gottes nur auf seine „Gebote“ beziehen. 5. Die Barmherzigkeit, Langmut, Milde, Güte, Vergebung und Hilfe Gottes sind nicht statisch gedacht wie die vorausgehenden Gottesprädikate, sondern sie sind an Bedingungen geknüpft. Sie gelten nur, wenn die Menschen „zu seiner (Gottes) Güte Zuflucht suchen“ usw. Die zahlreichen Belegstellen aus den Psalmen zeigen, dass nicht Heiden diese Gotteserkenntnis haben, sondern die Glaubenden des Alten Testaments. Heilsgeschichtlich gesehen stehen sie vor dem Übergang vom Gesetz zum Evangelium, wie der Zusammenhang in der zweiten Spalte beweist. Die Verbindung der Gotteserkenntnis auch der Heiden mit dem Heilsweg von Adam bis zu Christus ist nach Calvins Auffassung also möglich. Da Adam nach dem Ebenbild Gottes erschaffen ist, hat er eine Gotteserkenntnis, die derjenigen der Heiden, welche von Natur aus eine gewisse Kenntnis haben. entspricht. Calvin nennt zum Beweis drei Bibelstellen und hält die angegebenen Gottesprädikate damit für bewiesen. Dass die Heiden eine 157 In der Einführung ins Neue Testament der Olivétanbibel (1535) zählt Calvin auf, es loben Gott die Vögel (Ps 104,12), die Tiere (Ps 147,9), die Elemente (Ps 98,7f), die Berge (Ps 114,7). StA1, 1, 36, Z. 18–37 par.
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allgemeine Gotteserkenntnis haben, nimmt er ebenso an wie seine Zeitgenossen. Die Heiden haben sogar eine Erkenntnis ihrer Schuld. In den Heilsweg schiebt Calvin die Bemerkung ein: „Damit die Menschen darüber (sc. über ihre Todesverfallenheit) nicht im Unklaren sind, hat der Herr in aller Herzen das Gesetz eingeschrieben und gleichsam eingeprägt (Röm 2 [15]). Dies ist aber nichts anderes als das Gewissen, welches in unsrem Inneren Zeuge dessen ist, was wir Gott schulden, und uns vorhält, was gut und böse ist, und uns anklagt.“ (usw.)158 Aber die Heiden wissen nichts von einem Sündenfall. Die Gottesprädikate erwähnen nur den „strengen Richter“ derer, „die von seinen Geboten abweichen.“ Ausblick. Calvin wird später die vier Gottesprädikate nicht mehr voranstellen, weil er eine Gotteserkenntnis vor dem Sündenfall nicht mehr lehren will. Ein Jahr nach dem Erscheinen der Institutio von 1536, nun im Dienst der Genfer Kirche, verfasst er einen Katechismus, den er 1538 ins Lateinische übersetzt.159 Alle menschliche Gotteserkenntnis steht von nun an unter dem Vorzeichen der Trennung von Gott. Der Katechismus von 1537 ist wiederholt als Zusammenfassung der Institutio von 1536 bezeichnet worden, aber er ist dies nicht. Calvin hat inzwischen die Systematik geändert. Der Beweis, dass er die Heiden unbedingt gewinnen und in den Heilsprozess einbinden will, ist der Satz zu Beginn des dritten Teils. Er sei nochmals wiederholt. „Und eigentlich reizt dieses geschriebene Gesetz, nämlich als Zeugnis des natürlichen Gesetzes, unser Gedächtnis öfter an und schärft ein, was wir nicht gründlich genug gelernt haben, solange nur das natürliche Gesetz im Inneren lehrt.“ Das Naturgesetz ist also nur eine erste Stufe zum geschriebenen Gesetz, dem Dekalog. Das vierte Gottesprädikat formuliert demgemäß die Vorstufe zu dem, was das biblische Gesetz heilsgeschichtlich bewirkt, nämlich demütige Erniedrigung und Flehen um Hilfe. Dass Calvin das vierte Gottesprädikat und die heilsgeschichtliche Wirkung des Gesetzes inhaltlich so nahe zusammenrückt, ist als missionarischer Eifer um die Gewinnung der Heiden zu verstehen. Indessen, er muss den Heiden eine Einsicht in Gottes Barmherzigkeit und Langmut zugetraut haben. Die angeführten biblischen Belege aus dem Alten Testament decken eine theologische Inkonsequenz auf.
158 OS I, 39, Z. 7–11. 159 Institution et confession de foy dont on use en l’eglise de Geneve (1537) und Catechismus seu christianae religionis institutio ecclesiae Genevensis (1538). Text: COR III, 2, 1–121. Vgl. NEUSER, W.H., Calvins theologisches Leitmotiv ‚Cognitio Dei et nostri‘ in der Institutio von 1536, 49.
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4. Der Heilsweg – Gesetz und Gnade Nachdem die Vorstufe, die natürlichen Gotteserkenntnis, analysiert ist, soll Calvins Verständnis der Heilsgeschichte bzw. des Heilsweges zu Ende geführt werden. Die Heilsgeschichte greift die wichtigsten Ereignisse der Bibel auf bis zur Erlösung durch Christus. Allerdings werden nur die wichtigsten Stationen hervorgehoben. Diese sind: Adams Erschaffung zum Ebenbild Gottes und der Sündenfall (Gen 1–3). Dann fehlen die Urgeschichte (Gen 4–11) und die Abraham–, Isaak– und Jakobgeschichten (Gen 12–50). Statt dessen wird die Sündenverhaftung der Nachkommen Adams und ihre dem Gericht Gottes Verfallenheit breit behandelt. Die Heilsgeschichte setzt erst wieder mit der Gesetzgebung am Sinai ein (Ex 20) – nicht ohne zuvor, wie erwähnt, zu betonen, dass das Gesetz den Menschen ins Herz geschrieben ist (Röm 2,15). Das Gesetz bleibt das alleinige Thema bis zum Ende des alten Bundes. Es spricht Verheißungen aus, aber auch Verfluchungen. Es verheißt Lohn und droht Strafe an. Calvin hebt hervor, dass dem Gesetz vollkommener Gehorsam geleistet werden muss. Daran scheitern die Menschen. Der usus elenchticus legis, die Aufdeckung der Sünde und der Verlorenheit durch das Gesetz, wird breit geschildert. Calvin geht aber nicht von Römer 7 aus, wie etwa Melanchthon es in den Loci ommunes von 1521/22 tut.160 Er bevorzugt Gal 3 und also den Gedanken, dass nur die vollkommene Erfüllung des Gesetzes vor dem Fluch bewahrt und den Mensch leben lässt (Gal 3; 10; 12). Der Mensch kann nur verzweifeln. Eine weitere Besonderheit Calvins ist, dass auf das Verzweifeln sofort die neue Hoffnung folgt. Da wir nicht leisten können, „was wir dem Gesetz schulden, müssen wir an uns verzweifeln und anderswo Hilfe suchen und erwarten.“ Den melanchthonischen Dualismus von Gesetz und Evangelium kennt er nicht. Bei ihm erscheint keine Kluft zwischen beiden, zwischen Verzweiflung, von der unklar bleibt, wie der Mensch sie aushalten kann, und Errettung. Bei Calvin (siehe Synopse) sucht der Verzweifelte sofort nach Hilfe und erwartet sie. Er steigt in Demut (vor Gott) herab und erfleht Hilfe. Dann erscheint der Herr und bewilligt sie. Mit einem Bibelwort schlägt Calvin die Brücke: „Gott widersteht dem Hoffährtigen, aber dem Demütigen gibt er Gnade.“ Tatsächlich gehört bereits zur alttestamentlichen Gotteserkenntnis das Wissen um Gottes Barmherzigkeit und Verzeihung (siehe das 4. Gottesprädikat). Es wirkt sich nun aus, dass zum Gesetz Fluch und Verheißung gehören. Gesetz und Evangelium bilden keinen Dualismus, sondern beide enthalten Gnade, wenngleich in ganz verschiedenem Maße. 160 Mel StA II, 1, 77, Z. 12–78, Z. 4.
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Der tertius usus legis (nämlich in renatis) beendet den Gedankengang (siehe Synopse). Durch Gottes Gnadenhandeln „vermögen wir, seine Gebote zu befolgen“. Es folgt in der Institutio folgerichtig die Auslegung des Dekalogs. Calvin verwendet die lateinischen Begriff nicht, meint aber, was sie besagen. 5. Rückblick auf die Einführung in das Neue Testament Auch in der nur wenig älteren Einführung in das Neue Testament (1535) werden zahlreiche Eigenschaften Gottes aufgezählt. Es werden dort die gleichen Prädikate genannt wie in der Institutio. Doch ist die Heilsgeschichte anders verstanden. Gen 1 bis 11 schildert die Geschichte der „Heiden“. Die dort berichteten Ereignisse sind Teil einer natürlichen Theologie. Da Gott den Menschen zwar aus dem Paradies vertreibt, ihn aber leben lässt, zeigt er Barmherzigkeit, Sanftmut, Geduld usw.161 Es wird deutlich, woher Calvin diese Begriffe im Teil 1 der Prolegomena der Institutio genommen hat. Auch wird deutlich, wie Calvin zu der Überbewertung der Eigenschaften Gottes kommt. Da sie in der Institutio nicht der Urgeschichte Gen 1 bis 11 entnommen sind, sondern als eigenständige Gottesprädikate ausgegeben werden, führen sie in Punkt vier über die selbstgesetzte Norm der natürlichen Gotteserkenntnis hinaus. Zwar berücksichtigt der Rückgriff auf Gen 1 bis 11 in der Olivétanbibel den Sündenfall, doch fehlt dort für die Gottesprädikate der biblische Beleg. Calvin hat diesen Ansatz einer natürlichen Theologie in den nachfolgenden Institutioausgaben fallen lassen. 6. Der Zweitakt von cognitio Dei et nostri Erst jetzt kann das zweite, wichtige Thema behandelt werden, Calvins theologische Methode. Sie ergibt sich bereits aus der Gliederung. Die Summe der heiligen Lehre hat zwei Teile: cognitio Dei et cognitio nostri. Teil 1 Die allgemeine Erkenntnis Gottes 1. Gott ist unendliche Weisheit, Gerechtigkeit, Güte, Barmherzigkeit, Wahrheit, Kraft und Leben. (OS I, 37, Z. 10–15) 2. Schöpfer, Herr und König (37, Z. 15–19) 3. Gerechter Richter (37, Z. 19–24) 4. Gott ist barmherzig, langmütig, gütig, vergebend, helfend. (37, Z. 24–30) Teil 2 Die gewisse Erkenntnis unserer selbst 161 NEUSER, W.H., Calvins theologisches Leitmotiv, 39–41.
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1. Adam ist zur Gottesebenbildlichkeit erschaffen, versehen mit Weisheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit. (OS I, 38, Z. 1–3) 2. Sie ist unkenntlich geworden durch den Sündenfall, der Unwissenheit, Verfehlung, Ohnmacht, Tod und Gericht zur Folge hat. (38, Z. 4–16) 3. Als Nachkommen Adams bringen wir böse Affekte hervor, die unter das Gericht Gottes fallen. (38, Z. 16–29) 4. Als Geschöpfe Gottes sollen wir seiner Ehre und seinem Ruhm dienstbar sein, bleiben aber seine Schuldner. (38, Z. 30–39) 5. Da Gott ein gerechter Richter ist, verdienen wir das Urteil des ewigen Todes. (38, Z. 39–39, Z. 7) 6. Aus dem natürlichen Gesetz ist zu lernen, was wir Gott schulden und was gut und böse ist. (39, Z. 7–13) 7. Weil der Mensch blind ist in Eigenliebe, hat der Herr uns das geschriebene Gesetz gegeben, durch das wir belehrt werden über die vollkommene Gerechtigkeit. (39, Z. 13–19) 8. Diese besteht darin, dass wir ganz in Gott wurzeln (usw.). (39, Z. 19–21) 9. Die Lehre von der Gerechtigkeit zeigt uns, wie weit wir vom rechten Weg entferntsind. (39, Z. 21–22) Teil 3 Der Weg des Heils 10. Wir müssen einen anderen Weg des Heils suchen, den der Sündenvergebung und Erneuerung. (40, Z. 5–6) 11. Dies alles schenkt Gott in seinem Jesus Christus, damit wir unter seiner Leitung zum ewigen Leben geführt werden. (40, Z. 21–41, Z. 12) Die Liste ist nur ein Auszug aus dem Text. Sie zeigt, wie konsequent Calvin den Zweitakt von Gotteserkenntnis und Erkenntnis unserer selbst durchführt.
Calvins Methodik ergibt sich jedoch nicht erst aus der Durchführung im zweiten und dritten Teil. Vielmehr nennt er sie bereits im Eingangssatz: „Die Summe der heiligen Lehre besteht nahezu aus diesen beiden Teilen, aus der Erkenntnis Gottes und unserer selbst.“ Demnach sind beide Teile einerseits zu unterscheiden, gehören aber andererseits zusammen. Sie sind heterogen und müssen deshalb getrennt betrachtet werden, aber sie sind auch zwei Teile eines Ganzen, die zusammengehören. Sie bilden demnach einen Zweitakt von Tun Gottes und Antwort des Menschen. Das Possessivpronom nos oder noster fehlt im Teil eins. Die cognitio Dei ist unpersönlich gefasst, denn alle Menschen besitzen sie. Doch fragt es sich, ob wirklich alle Heiden zu ihr Zugang haben. (siehe das vierte Gottesprädikat). Bei näherem Zusehen ist dieser Zweitakt auch schon im Teil 1 zu erkennen. Auf die Gottesprädikate folgt jeweils ein Bezug auf den Menschen: „wo immer man sie (die Prädikate) erblickt“, oder „dass jedes (Ding) ihm diene“, oder „die von seinen Geboten abweichen“ oder „die Elenden und Armen“.
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7. Das richtige Verständnis der cognitio nostri Calvins Denken im Zweitakt ist aber erst in seiner Eigenart erfasst, wenn sein Begriff der cognitio nostri geklärt ist. Die meisten Forscher übersetzen sie mit „Erkenntnis des Menschen“ oder „Selbsterkenntnis“ und übersehen die Besonderheit Calvins.162 Er verwendet nämlich nicht die 3. Person Singular, sondern die 1. Person Plural (siehe oben die Synopse). Die Übersetzung kann nur lauten „Erkenntnis unserer selbst“.163 „Selbsterkenntnis“ würde im Lateinischen lauten cognitio sui ipsius und entspräche dem Orakel von Delphi, an dem geschrieben stand: Gnoti seauton – Man erkenne sich selbst! Calvin erwähnt die Selbsterkenntnis in der Institutio von 1559 und setzt dagegen die cognitio nostri als die wahre Erkenntnis.164 Anders als Zwingli sagt Calvin auch nicht homo, sondern durchgehend nos. Nur im Abschnitt, der beginnt „die Schrift nennt uns alle Söhne des Zorns“, wechselt er zwischen nos und homines.165 Es ist dies eine Ausnahme. Worin besteht der Unterschied zwischen cognitio hominis und cognitio nostri? Nun, die eine Formel spricht über Sünde und Gnade sachlich, die andere persönlich, die eine denkt dogmatisch, die andere predigend und missionarisch. Die eine versteht die Institutio als Lehrbuch, die andere als Katechismus für Erwachsene. Calvin will unbedingt die persönliche Betroffenheit festhalten; die Erkenntnis ist ganz persönliche Erkenntnis. Die cognitio nostri ist akthaft zu verstehen, sie ist Antwort auf den Zuspruch der Predigt. Nicht zufällig wird die Institutio 1536 von mehreren Zeitgenossen ein Katechismus genannt.166 Auch Calvin selbst verwendet diesen Ausdruck.167 Die Begriffe Erkenntnis des Menschen und Selbsterkenntnis würden einem statischem Denken entsprechen und die Lehre rein sachlich verstehen. B. Gesetz und Evangelium – die verfehlte Ableitung von Luthers Katechismus Alle bisherigen Calvinforscher sind der Meinung, Calvin habe bei der Abfassung der Institutio wesentliche Stücke aus dem Kleinen Katechismus Luthers übernommen. Der hauptsächliche Gesichtspunkt ihrer Behauptung ist die Reihenfolge von Gesetz und Evangelium, die Calvin dann in der 162 Z.B. EBELING, G., Cognitio Dei et hominis, 221–272. 163 F.L. BATTLES, F.L., Institution of the Christian Religion 1536, Atlanta 1975, 20, übersetzt richtig: Knowledge of ourselves. 164 Inst. II, 1, 1; OS III, 228, Z. 10 und 20. 165 OS I, 38, Z. 44f. 166 Der Basler Drucker J. Oporinus an Calvin am 25. März 1537; COR VI. 1, 188, Z. 10 (Nr . 35). Weitere Beispiele dort Anm. 6. 167 Calvin an Pinet am 1. Oktober 1538; CO 10b, 261 (Nr. 144).
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Institutio von 1539 umkehren wird in Evangelium und Gesetz. Hinzu kommt die Abfolge Dekalog, Credo, Herrengebet und die Einsetzungsworte von Taufe und Herrenmahl. Schließlich habe Calvin bei der Auslegung des Dekalogs die Formel: „Wir müssen Gott über alle Dinge fürchten und lieben“ aus Luthers Kleinem Katechismus übernommen. Keins dieser Argumente überzeugt jedoch. Zuerst sei die letztgenannte Formel betrachtet. Luther beginnt die Auslegung aller Gebote mit der Formel: „Wir sollen Gott fürchten und lieben“.168 Calvin lässt diesen Satz bei der Auslegung des zweiten und vierten Gebotes biblischer Zählung aus. Der Grad dieser Übereinstimmung überrascht. Doch steht Calvin offensichtlich in einer anderen Tradition, wie schon seine Polemik gegen das Weglassen des Bilderverbots und gegen die Teilung des zehnten Gebots biblischer Zählung beweist. Er bekämpft diese Einteilung, bevor er die zweite Tafel des Dekalogs erklärt. Nun hat Luther diese Formel nicht selbst entwickelt, sondern sie Melanchthons Loci communes von 1521/22 entnommen. Schon T. KOLDE bemerkt zur Stelle, dass Luthers Formel „wohl auf Melanchthon zurückzuführen sein wird“.169 Wie oben bereits bewiesen, hat Calvin die Loci communes von 1522 zitiert und also gelesen. Melanchthon schreibt: Die drei ersten Gebote – du sollst keine fremden Götter haben, du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen, gedenke, dass du den Sabbat heiligst – hat ohne Zweifel Christus erklärt durch das Gesetz ‘Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und in deinem ganzen Gemüt’. Man sieht also, es besteht ein Unterschied zwischen den drei Gesetzen, auch wenn sich alle auf dasselbe beziehen, nämlich auf die wahre Verehrung Gottes. Dass man zuerst keine fremden Götter haben soll, bezieht sich eigentlich auf die Affekte, dass wir nichts lieben und nichts fürchten ausser Gott und nicht vertrauen auf unsere Kräfte, Stärke, Klugheit, Gerechtigkeit oder irgendeine Kreatur, sondern allein auf die Güte Gottes.
Und später: Die Tat des ersten Gebotes ist: Gott zu vertrauen, zu lieben und zu fürchten Gott. […] Das zweite Gebot warnt, den Namen Gottes nicht unbesonnen zu gebrauchen, und (gebietet) mit klaren Worten, wir sollen bei dem Gebrauch des Namens Gottes Vertrauen, sowie Furcht und Liebe zu Gott beweisen.
Beim Sabbatgebot verwendet Melanchthon die Formel nicht. Die übrigen Gebote legt er nicht aus.170 Deutlich greifen Luther und Calvin auf Melanchthon zurück, der die Formel der Bibelstelle Dtn 6,5 und 13 entnommen hat. Luther setzt hinzu 168 BSLK 507–509. 169 Die Loci communes Philipp Melanchthons in ihrer Urgestalt, Erlangen/Leipzig 21890, 122, Anm. 1. 170 Mel. StA II, 1 46, Z. 14–25, 47, Z. 8–9 und 14–16; von uns kursiv gesetzt.
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„über alle Dinge“ und knüpft wohl bei Melanchthons Warnung an, die Dinge der Schöpfung über die Furcht und Liebe zu Gott zu stellen. Calvin formuliert „über alles“ (super omnia) und meint damit das Vertrauen auf eigene Kraft (usw.). Calvin unterscheidet auch von Luther, dass er Melanchthons Begriff des „Vertrauens“ aufgreift. Wie bereits im Zusammenhang mit der cognitio Dei et nostri erwähnt, endet jener Abschnitt mit dem Hinweis auf den usus elenchticus legis und den tertius usus legis. Melanchthon bleibt daher nichts anderes übrig, als nun den Dekalog auszulegen. Der große Unterschied zu Luthers Enchiridion besteht darin, dass dieser nur das anklagende Gesetz behandeln will. Dem Urteil, es bestehe in der Gliederung eine Abhängigkeit Calvins von Luther, ist der Boden entzogen.171 Die Auslegung der Gebote beginnt anders als in Luthers Kleinem Katechismus mit der Erklärung des Vorspruchs „Ich bin der Herr, dein Gott“ (usw.). In der Gegenwart, so Calvin, bedeutet der Zuspruch: „Eben diese Macht beweist Gott noch täglich, indem er seine Auserwählten […] aus der […] Sündenknechtschaft loskauft“ usw. Beide Male ist Evangelium im Gesetz. Während in Luthers Katechismen das Kapitel vom Gesetz mit der Auslegung der Gebote endet, lässt Calvin noch die Rechtfertigungslehre folgen. Natürlich ist nicht nur von Gottes Forderung die Rede, sondern auch von der Vergebung. Als Beispiel sei zitiert: „Diese Befreiung von der Herrschaft des Gesetzes, die einer Freilassung gleichkommt, erlangen wir nun, wenn wir im Glauben die Barmherzigkeit Gottes in Christus ergreifen.“172 Diese Andersartigkeit Calvins setzt sich fort. Der letzte Teil nach der Auslegung der Gebote weist folgende Gliederung auf: (1.) Das Doppelgebot der Liebe wird von Christus in der Bergpredigt ausgelegt; es führt daher zu unserer Verdammung. Die Gebote Christi sind keine evangelischen Ratschläge und keine Regeln nur für Mönche. (2.) Wir besitzen von uns aus keine Gerechtigkeit. Calvin bekämpft die Verdienstlichkeit der Werke, den Erwerb der Gerechtigkeit durch eigene Genugtuung und überverdienstliche Werke (opera supererogationis). (3.) Die Lossprechung von der Macht des Gesetzes durch den Glauben an die Barmherzigkeit Gottes in Christus. Calvin kämpft gegen die Lehre von einer einmaligen Sündenvergebung für vergangene Sünden und anschlie171 Nach dem Erscheinen des Enchiridions 1529 breitete sich dessen Einteilung aus. Sie wird übernommen von Jakob Otther, Ein kurze innlytung, 1530, und von Bonifatius Wolfhart, Catechismus, 1533. Auch Leo Juds, Catechismus, 1534, und sein Kürzerer Katechismus, wahrscheinlich 1535, beginnen nach einer kurzen Einleitung über die Verheißung des Bundes Gottes an Abraham mit dem Gesetz. Aus sprachlichen Gründen hatte Calvin keinen Zugang zu den genannten Katechismen. 172 OS I, 58, Z. 40–43.
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ßende eigene Suche nach Gerechtigkeit. (4.) Der Glaube ist entleert, wenn Rücksicht genommen werden muss auf die Werke; dem kleinmütigen Glauben steht der gewisse Glaube gegenüber. (5.) Eine lange Summa folgt über Christi Gerechtigkeit. (6.) Der dreifache Gebrauch des Gesetzes (triplex usus legis): zur Überführung des Sünders, für das Gemeinwesen, für die Gläubigen. (7.) Auslegung von 1. Kor 3,11 und 1. Kor. 1,18 und 30. Calvin begegnet dem Vorwurf, die Protestanten schafften die guten Werke ab. Es ist keine Frage, dass Calvins Ausführungen nichts gemein haben mit Luthers Auslegung des Dekalogs oder Melanchthons Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Calvin im Kapitel De lege – um Luthers und Melanchthons Formulierung zu gebrauchen – sowohl das Gesetz wie das Evangelium behandelt. Wirft man noch einen Blick auf die abschließende Erläuterung des dreifachen Brauches des Gesetzes, so fällt auf, dass bei Calvin der erste Brauch nicht nur an die Ungerechtigkeit ermahnt, sondern auch einen positiven Aspekt hat. Alle Menschen sollen „einsehen lernen, dass es Gottes Hand allein ist, die sie hält und nicht fallen lässt“.173 Der usus politicus legis beruht auf der Furcht vor der Strafe Gottes. „Nichtsdestoweniger ist eine solche erzwungene und abgenötigte Gerechtigkeit notwendig für das menschliche Gemeinwesen.“174 Ein Chaos wird verhütet. Der usus legis in renatis bewirkt einen willigen und freudigen Gehorsam gegen Gott. Es bleibt die Frage, was Calvin im zweiten Kapitel De fide lehrt. Er erörtert das Wesen des Glaubens. Es gibt zwei Formen des Glaubens. Erst die zweite ist „diejenige, welche sich nicht mit der Überzeugung begnügt, dass ein Gott und ein Christus sei, sondern die den Glauben an Gott und Christus uns vermittelt, wobei wir in Wahrheit ihn selbst als unseren Gott und Christus anerkennen.“ Der Glaube ist ein persönlicher Glaube. Nachdem die Trinität erörtert ist, legt er das Apostolikum aus. Das Wort Evangelium fällt nicht. Luther verwendet es im dritten Artikel: „Der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen“ (usw.).175 Es überrascht, wie unbeeindruckt Calvin von Melanchthons Gedankengang in den Loci communes 1521/22 ist, die er doch gekannt hat. C. Die Erwählungslehre Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie im Glaubensbekenntnis im Abschnitt von der Kirche behandelt wird. Calvin teilt das Credo in vier Artikel. „Die Kirche ist das Volk der Erwählten Gottes.“ Die Bindung der Er173 OS I, 61, Z. 37f. 174 OS I, 62, Z. 23f. 175 BSLK 512, Z. 2f.
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wählung an die Kirche, die Calvin in der Institutio von 1539 aufgibt, gibt der Erwählungslehre einen konkreten und praktischen Bezug. Sie ist tief verwurzelt im Leben der Gläubigen. Doch sind Erwählung und Glaube nicht identisch. Calvin erwähnt zweimal, doch eher nebenbei, dass die Erwählung „durch die ewige Vorhersehung Gottes“ geschieht, die „unwandelbar“ ist.176 Die Kirche ist daher nicht die erwählte Kirche, sondern Schauplatz der Erwählung. Diese feine Unterscheidung hat zur Folge, dass Calvin gezwungen ist, immer in zweifacher Weise von Erwählung und Kirche zu sprechen. Zum einen identifiziert er, wie erwähnt, beide: „Die Kirche ist das Volk der Erwählten Gottes.“ Zum anderen gibt es Menschen, „die nicht zu den Gliedern der vorhandenen Kirche gehören“.177 Calvin hat Mühe, beiden Sätzen gerecht zu werden. Die Identifizierung von Erwählung und Kirche ist für ihn ein wichtiger Glaubenssatz, aber eben kein sichtbarer Beweis. Denn: „Die Menschen, die den anderen voranzustehen scheinen, gehen oft zugrunde. Gottes Augen sehen allein, wer bis zum Ende beharrt“.178 Andererseits lehrt Calvin (noch) keine ecclesia invisibilis, wenngleich er am Schluss zu dem Satz „Wir glauben eine Kirche“ hinzusetzt: „Geglaubt werden nur die Dinge, die durch unsere leiblichen Augen nicht gesehen werden können.“179 Demzufolge hat die Erwählungslehre zwei Teile. Zuerst führt Calvin die Glaubensgewissheit auf Grund der Erwählung breit aus. Er beginnt mit der ‘Goldenen Kette’ Römer 8,30. Erwählung erfolgt über Berufung, dann Rechtfertigung bis hin zur künftigen Verherrlichung. Calvin macht jedoch einen Vorbehalt. Wenn die Heilige Schrift diesen Ordo lehrt, passt sie sich unserem Verständnis an (accommodare). Die Beschreibung trifft nämlich auf Erwählte und Nichterwählte zu. Zunächst aber betont er, dass die Glaubenden ihrer Erwählung gewiss sein sollen. Ihr Heil ruht auf festen Pfeilern, die wohl wanken, aber nicht fallen können. „Vergeblich würde von uns geglaubt, es gäbe eine allgemeine Kirche, wenn nicht jeder glauben würde, er sei ein Glied derselben.“180 Im zweiten Teil erschwert die Dialektik die Darstellung, wer als Erwählter angesehen werden kann und wer nicht. Der Rückzug auf die Feststellung, allein Gott wisse es, kann nicht durchgehalten werden, weil es in der Kirche offensichtlich Glaubende und Nichtglaubende gibt. Calvin rekurriert auf die „täglichen Ereignisse“. Mehrmals lehrt er ein Einerseits und schränkt es ein durch ein Andererseits. „Denn einerseits ruft Gottes Güte diejenigen auf den (rechten) Weg zurück, die scheinbar die verdorbensten 176 177 178 179 180
OS I, 86, Z. 28; 87, Z. 14f. OS I, 89, Z. 40f. OS I, 89, Z. 1ff. OS I, 91, Z. 28f. OS I, 88, Z. 36ff.
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und gewiss beklagenswerten Menschen waren. Und diejenigen, die anderen voran festzustehen schienen, gehen oft zugrunde.“181 Oder Jesu Wort vom Lösen und Binden (Mt 18,18): „Es folgt daraus nicht, von uns könne durchschaut werden, wer zur Kirche gehört und wer ihr fremd ist.“182 Das Wort gilt nur den Glaubenden. Oder: Die Schrift nennt Merkmale zur Unterscheidung. Es sind diese notae das Bekenntnis des Glauben, ein beispielhaftes Leben und die Teilnahme an den Sakramenten. „Menschen dieser Art verraten sich alle durch ihre (fehlenden) Kennzeichen als solche, die nicht zu den Gliedern der vorhandenen Kirche gehören.“183 Aber doch nur der „gegenwärtigen“ Kirche. Es steht nicht sicher fest, dass sie verworfen sind. Calvin führt als Beispiel an, „wenn jemand in seiner Bosheit fest entschlossen ist und die Wahrheit bekämpft, um das Evangelium zu unterdrükken, den Namen Gottes auszulöschen und sich dem Heiligen Geist widersetzt.“184 Calvin scheint an Paulus zu denken, der nach seiner Bekehrung sich eben nicht dem Heiligen Geist widersetzt (Apg 9,17). Paulus ist ein Beispiel für Gottes mächtiges Eingreifen. Zu der Dialektik und dem angeführten Beispiel passen Calvins Ausführungen über die Kirchenzucht. In diesem Sinn sind die Ausschliessungen aus der Kirche (Exkommunikationen) aufzufassen. Nicht als sollten durch sie diejenigen von der Hoffnung auf das Heil ausgeschlossen werden, die vor den Augen der Menschen aus der Herde der Kirche ausgeschlossen werden, sondern sie sollen durch sie gezüchtigt werden, bis sie aus dem Schmutz ihres früheren Lebens zurückkehren auf den (rechten) Weg.185
Der Grundtenor der Erwählungslehre Calvins lautet: Gott ist barmherzig, und die Glaubenden sollen daher Hoffnung für die Außenstehenden hegen. Diese Hoffnung geht so weit, dass er jede Gewaltanwendung gegen Andersgläubige ablehnt, ausdrücklich auch die gegen Türken und Araber. Da er in der Institutio von 1539 den Satz wieder streicht, ist über Calvins Beweggründe zu dieser Äußerung viel gerätselt worden. Doch wird vergessen, dass ähnliche Aussprüche in der Frühzeit bei Luther und Melanchthon nicht nicht selten sind. Calvin konnte in Melanchthons Schrift Didymi Faventini adversus Thomam Placentium pro Martino Luthero theologo oratio (1521) lesen: Auch über die Türkenkriege musste er (Plascentius) reden, über die er so vieles sagt, um bei uns Missgunst gegen Luther zu erregen, obgleich Luther nichts anders gesagt hat, als dass es fromm wäre, dass wir dieTürken zuvor bessern, als dass wir gegen sie 181 182 183 184 185
OS I, 88, Z. 43, 89, Z. 2. OS I, 89, Z. 4ff. OS I, 89, Z. 36ff. OS I, 90, Z. 12ff. OS I, 90, Z. 40–43.
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mit dem Schwert wüten. Weil dies nicht gottlos gesagt ist, was ist es, was ich untersuchen soll? Zudem, wie viel christlicher wäre es, durch die Predigt des Evangeliums sie zur Frömmigkeit zu verlocken, als sie durch Krieg zu zwingen.186
Luther hatte im Jahr 1519 in der Schrift Resolutio Lutheriana super propositione sua decima tertia de potestate papae geschrieben:“Warum gehen diejenigen nicht zu den Türken, die meinen, dass das Wort ‚weide!‘ [Joh 21,15–17] auf sie allein sich beziehe?“187 Die erdrückende Türkenherrschaft in Ungarn und die tiefgreifende Änderung der Erwählungslehre in der Institutio von 1539 machten diese Überlegungen bald überflüssig. Dem entspricht eine zweite Eigenart der Erwählungslehre. Vergleicht man sie mit seiner späteren Prädestinationslehre, so ist festzustellen, dass jetzt schon alle Hauptbegriffe erscheinen. Es seien genannt: Erwählung Gottes, ewiger Ratschluss, Providenz, Erwählte, Verworfene, vor Grundlegung der Welt (Eph 1,4), Beharren bis ans Ende. Der große Unterschied besteht darin, dass Calvin in der Institutio von 1536 keine doppelte Prädestination lehrt. „Die Erwählten sind in Christus durch die göttliche Güte erwählt vor Grundlegung der Welt.“188 Der Erwählungslehre in Eph 1 wird nichts hinzugesetzt, weder die Verwerfung, noch das decretum aeternum. Des Paulus Worte in Röm 9 über die doppelte Prädestination werden bei der Behandlung der Kindertaufe erwähnt, aber bezeichnenderweise nur die Erwählung, nämlich „dass aus dieser Altersgruppe vom Herrn die ‘Gefäße der Barmherzigkeit’ (Röm 9,23) erwählt werden“.189 Calvin kennt in der Institutio von 1536 nur eine göttliche Erwählung.190 Er warnt, „wir sollen nicht töricht in die geheimeren Urteile Gottes eindringen“191 Oder: „Es ist nicht unsere Aufgabe, über die übrigen Menschen zu urteilen, ob sie zur Kirche zählen oder nicht, und die Erwählten von den Verworfenen zu unterscheiden.“192 Calvin spricht mehrmals von den Verworfenen, erwähnt aber nur einmal nebenbei, „durch seinen ewigen Ratschluss“ erwählt oder verworfen.193 Er bevorzugt die Bezeichnung Fremde, Aussenstehende usw.
186 Mel StA 1, 135, Z. 34–136, Z. 4. 187 W 2, 225. Vgl. auch Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1520); W 7, 140. Weitere Aussprüche Luthers dieser Art, s. HOLL, K., Luther und die Mission, Gesammelte Aufsätze 3, Tübingen 1928, 236. 188 OS I, 86, Z. 17f. 189 OS I, 135, Z. 34f. 190 In früheren Untersuchungen wird die Verwerfungslehre nicht ausgeschlossen. Vgl. BARTH, P., Die Erwählungslehre in Calvins Institutio 1536, in: Theologische Aufsätze Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, 437; JACOBS, P., Prädestination und Verantwortung bei Calvin, Neukirchen 1937, 61f. 191 OS I, 90, Z. 35. 192 OS I, 88, Z. 37f; auch 87, Z. 43–88, Z. 2. 193 OS I, 88, Z. 2f.
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Ein Lehrsystem der Prädestination kennt er noch nicht.194 Auch rekurriert er nicht auf eine ecclesia invisibilis und verwendet den Begriff der Heuchler nicht. Entscheidend für seine anfängliche Auffassung ist, dass alle Nichtglaubende der Güte Gottes empfohlen werden. D. Theozentrische Erklärung des Herrengebets Auch in seinen späteren Auslegungen des Unser Vater hebt Calvin hervor, dass die sechs Bitten in zwei Teile gegliedert sind. „Die ersten drei Bitten sind recht eigentlich für Gottes Ruhm bestimmt. […] Die drei übrigen tragen für uns Sorge.“195 Wenn hier die These einer theozentrischen Auslegung des Herrengebets vertreten wird, dann bezieht sich diese naturgemäß auf die drei ersten Bitten. Nun steht ihr klar entgegen, dass Calvin die Anrede „Unser Vater“ christologisch auslegt. Gott ist unser Vater nur um Christi willen. Der Beter ist ein Christ. Wenn Calvin allerdings die Worte auslegt „der du bist im Himmel“, dann betont er: Wahrlich, weil unser Verstand anders Gottes unaussprechlichen Ruhm in seiner Grobheit nicht erfassen konnte, so ist dieser durch das Wort Himmel bezeichnet worden, durch das nichts erhabeneres oder vollkommeneres an Majestät in unseren Blick kommen kann. Daher ist es, wie wenn gesagt wäre, er ist mächtig, erhaben und unfassbar.196
Zum ersten Mal wird hier der Majestät Gottes die Unfassbarkeit durch den Menschen gegenübergestellt. Oder wichtiger noch: Es gibt den „unaussprechlichen Ruhm“ Gottes und den Ruhm, den Calvin nicht müde wird, den Betern vorzuhalten, damit er beachtet wird. Nun ist der unfassbare Ruhm Gottes und das Rühmen des Beters theologisch nicht auffallend. Calvin wird Zeit seines Lebens beide unterscheiden und beide lehren. Auffallend ist nur, dass der Name Christi in der Erklärung der Bitten nicht erscheint.197 Sie ist theozentrisch im ausschließenden Sinne. Da in den Prolegomena die cognitio Dei et nostri ebenfalls zunächst remoto 194 BUESS, E. Prädestination und Kirche in Calvins Institutio, bemerkt zur Institutuio von 1536: „Als Leib Christi ist die Kirche das Offenbarwerden der Erwählung, als Erwählung in Christus ist die Erwählung das Geheimnis und der Grund der Kirche. Calvin weigert sich hier, diesen Kreis gegenseitiger Bestimmung und Bedingung zu verlassen. Wohl weiss er schon jetzt, dass die Prädestination insofern sie auch Nicht-Erwählung und also Verwerfung bedeutet, über die Kirche hinausführt; dass die Kirche, indem sie wesenhaft auf die Welt bezogen ist, über die Erwählung hinausweist. Aber er zögert hier, dieser transzendentierenden Bewegtheit der beiden Grössen nachzugeben.“ (ThZ 12, 1956, 349) 195 OS I, 104, Z. 35–37. 196 OS I, 108, Z. 8–13. 197 Während Calvins Auslegung eine „theozentrische Akzentuierung“ aufweist, bezieht Bullinger in seiner Erklärung die ersten drei Bitten auch auf Christus. OPITZ, P., „Dein Reich komme“ – Variationen reformierter Unservater-Auslegung, in: Calvin im Kontext der Schweizer Reformation, Zürich 2003, 257–259.
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Christo gelehrt werden, muss demselben Phänomen in der Auslegung des Herrengebetes genauer nachgegangen werden. Dort steht, wie dargelegt, die Christuserkenntnis am Ende. Hier erscheint das Christuszeugnis nur am Anfang bei der Erläuterung des Vaternamens. Die erste Bitte betrifft den Namen Gottes. In der Institutio von 1539 wird unterschieden: „Der Name Gottes wird hier verwandt, wie er unter den Menschen genannt wird.“198 Es gibt also auch einen den Mensch nicht bekannten Namen Gottes. Der Name bezeichnet in der Institutio von 1536 seine Werke und ist daher den Betern zugänglich.199 Für den Namen Gottes setzt Calvin bewusst seine Majestät. Es wird zweierlei Majestät unterschieden. „Es ist nicht gemeint, die Majestät werde in Gott selbst geheiligt, der bei sich (apud se) nichts zunehmen noch abnehmen kann“. Es gibt also auch eine Majestät apud nos. Gemeint ist, „dass sie von allen Menschen heilig gehalten, das heißt, wahrlich erkannt und gepriesen werde.“200 Ebenso gibt es den Ruhm Gottes apud se: „Möchte es kein Ding geben, in dem nicht sein Ruhm eingegraben ist.“ Der Ruhm zeigt sich (apud nos) in seinen Werken. „Was auch immer Gott tut, dass alle seine Werke als ruhmreich erscheinen.“201 In der Erklärung der zweiten Bitte ist nur der Bau des Reiches Gottes auf Erden Gegenstand der Betrachtung. Hingegen ist der Wille Gottes in der dritten Bitte zum einen Gottes freies Ermessen (arbitrium), mit dem er alles ordnet und gestaltet. Zum andern ist es der Wille Gottes, dem die Menschen gehorchen sollen. Welches dieser Wille ist, setzt Calvin offenbar als bekannt voraus. Die Unterscheidung von zweierlei Name, Majestät und Ruhm Gottes in der ersten und des Willens Gottes in der dritten Bitte könnte als unerheblich abgetan werden. Gewichtig ist nur der Verzicht auf das Christuszeugnis, das bei allen drei Bitten leicht hätte genannt und expliziert werden können. Das Neue Testament geht ausführlich auf den Namen Christi, das Reich Christi und den Willen Christi ein. Unerheblich ist die doppelte Bedeutung der Gottesprädikate deshalb nicht, weil deutlich an die Liste der Gottesprädikate gleich zu Anfang der Institutio angeknüpft wird. Die Aufzählung sei hier nochmals wiederholt: „Erstens, Gott ist unendliche Weisheit, Gerechtigkeit, Güte, Barmherzigkeit, Wahrheit, Kraft und Leben.“ „Zweitens, das Universum […] ist zu Gottes Ruhm geschaffen, und daher gebührt ihm zurecht, dass jedes einzelne Ding […] ihm dienen soll, seine Herrschaft beachtet, seine Majestät verehrt, ihn durch Gehorsam als Herrn und König anerkennt.“ Es sind dies die ersten beiden der vier Gottesprädikate, die von allen Menschen erkannt 198 199 200 201
OS IV, 352, Z. 26 (1539). OS I, 108, Z. 27. OS I, 108, Z. 24–27. OS I, 108, Z. 28.
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werden können. Ein Vergleich zeigt, dass Calvin diese Gottesaussagen nun wiederholt. Die Auslegung der ersten Bitte beginnt: „Mit dem Namen Gottes wird hier seine Vollmacht angezeigt, die aus allen seinen Kräften besteht, wie seiner Macht, Weisheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit, Denn darin zeigt sich Gott groß und wunderbar, dass er weise, barmherzig, mächtig, wahrhaft usw. ist.“ Die Fortsetzung, „dass seine Majestät von allen Menschen heilig gehalten, das heisst, wahrlich erkannt und gepriesen werde“202, entspricht dem zweiten Prädikat, das auch seinen Ruhm umschließt. Ohne Frage wiederholt Calvin die beiden ersten Punkte der natürlichen Gotteserkenntnis. Es wird auch klar, warum bei der Auslegung der Bitten der Name Christi nicht auftaucht. Die Erklärung kann nur lauten: Wie zu Beginn in der Heilsgeschichte bildet das Vater Unser die erste Stufe zum Christusglauben. Calvin macht Ernst mit der Einsicht, dass im Herrengebet der Name Christi nicht erscheint. Die Anrufung des Vaters ist nur die Vorstufe zur Anrufung Christi. Das Herrengebet richtet sich an Gott den Herren. Dies ist in der Auslegung durchgehend der Titel Gottes. Mit anderen Worten: Calvin argumentiert theozentrisch, wie schon zu Beginn der Institutio. Blickt man auf die späteren Auslegungen des Herrengebets, so ist festzustellen, dass Calvin auch dort den Namen Christi zu nennen vermeidet, sieht man von der Auslegung der Anrede Unser Vater ab. Aber er wiederholt später nicht die Rede von „deus a se“, der von den Menschen unabhängig ist. Er streicht die Sätze über Gottes Reich und Regierung über die Verworfenen. Er will sichtlich die Bitten des Unser Vater dem Beter näherbringen. Am deutlichsten wird dies, wenn er nun die Bitte „Dein Reich komme“ als das Absterben und Lebendigwerden (mortificatio und vivificatio) des Menschen beschreibt. Die dogmatischen Überlegungen treten nun zurück und die seelsorgerlichen Aspekte erhalten den Vorrang.203 E. Die Verteidigung der Sakramentslehre gegen Zwinglianer und Katholiken Die Kapitel über die Sakramente, Taufe und Abendmahl, stechen dadurch hervor, dass in ihnen polemisiert wird. Calvin nimmt zum Abendmahlsstreit Stellung. Diese überraschende Tatsache verlangt ein sorgfältige Analyse. 1. Die Definition der Sakramente. Calvin legt zwei unterschiedliche vor. Beide Definitionen legen seine Abhängigkeit von Melanchthons Loci communes von 1521/22 offen. Ein Vergleich beweist es. 202 OS I, 108, Z. 24–27. 203 Nähere Ausführung dazu siehe NEUSER, W.H., „Einübung in der Frömmigkeit“. Calvins Auslegung des Herrengebets, RKZ Nr. 3, 1986, 75–77.
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Calvin Das Sakrament ist ein äußeres Zeichen (signum) durch das der gute Wille Gottes gegen uns vergegenwärtigt (repraesentare) und be-zeugt (testificare) wird, um der Schwachheit unseres Glaubens aufzuhelfen. Es kann auch anders definiert werden, so dass es lautet: Es ist ein Zeugnis (testimonium) der Gnade Gottes, das uns durch ein äußeres Symbol deutlich zu erkennen gegeben wird. Dadurch verstehen wir auch: Niemals ist das Sakrament ohne vorausgehende Verheißung (promissio), sondern es wird vielmehr jenem Zeugnis gleichsam als Anhang (appendix) beigefügt, zu dem Zweck, dass das Sakrament die Verheißung selbst bestärkt und versiegelt (firmare atque obsignare) und sie uns gleichsam augenscheinlicher (testatior) macht.204
Melanchthon Das Evangelium, sagen wir, ist die Verheißung (promissio) der Gnade. Fernerhin gehören ganz nahe zu den Verheißungen die Zeichen (signa). Sie werden nämlich in der heiligen Schrift an Stelle von Siegeln (sigilli vice) den Verheißungen beigefügt. Die Zeichen sollen nämlich sowohl an die Verheißungen erinnern, wie auch gewisse Zeugnisse (certa testimonia) des Willens Gottes gegen uns sein und bezeugen (testare), wir werden gewiss empfangen, was Gott verheißen hat.205
Auch wenn Calvin zumeist den Begriff sacramentum gebraucht, Melanchthon aber den des signum, so ist die Abhängigkeit Calvins von den Loci communes nicht zu übersehen. Nicht die Sätze, aber die verwandten Begriffe stimmen überein. Melanchthon und Calvin meinen mit Zeichen und Sakramenten das gleiche. Sie bauen die Definition auf den Worten Verheißung – Anhang bzw. Beifügungen zu den Verheißungen – Zeugnisse des Willens Gottes gegen uns – Zeichen bzw. Symbol auf. Entscheidend ist jedoch, dass der Zweck der Sakramente bzw. der Zeichen die Stärkung und Vergewisserung des Glaubens ist. Es ist deutlich, dass Calvin sich zu den Wittenbergern hält und nicht zu den Zwinglianern, die die Sakramente auf den Gegensatz innerlich/äußerlich aufbauen. Die Sakramente haben bei den Wittenbergern Gabecharakter, bei den Zürchern nicht. Dabei liegt Calvins Interesse deutlicher als bei Melanchthon darauf, der Schwachheit des Glau204 OS I, 118, Z. 7–11. 205 Mel StA II, 1, 14, Z. 25–141, Z. 4.
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bens zu Hilfe zu kommen. Sie ist sein hauptsächliches Thema, das er im Folgenden gegen falsche Lehren verteidigt. Es bleibt die Frage zu beantworten, warum Calvin zwei Definitionen vorlegt bzw. worin ihr Unterschied besteht. Das Zeugnis der Gnade Gottes ist bei beiden der Ausgangspunkt. Die erste Definition hebt die Stärkung des schwachen Glaubens durch dieses Zeugnis hervor. Doch will Calvin nicht nur ein Wortgeschehen beschreiben. Der Begriff vergegenwärtigen (repraesentare) weist über das Sakrament als Siegel, das heißt, als Besiegelung des Wortes hinaus. Deshalb geht die zweite Definition auf den Zeichencharakter des Sakraments ein. Es wird „die Gnade Gottes uns durch ein äußeres Symbol deutlich zu erkennen gegeben“. Das Sakrament macht also eine Aussage, die in dem Zeichen selbst liegt. Oder genauer gesagt: Verheißung und Symbol ergänzen sich inhaltlich. Calvin wird im umfangreichen Teil I die erste Definition erläutern und die zweite im kürzeren Teil II. Doch werden erst die Abschnitte über Taufe und Abendmahl den Teil II vervollständigen. Sie müssen daher herangezogen werden. 2. Die falschen Lehren, die die Sakramente herabsetzen (Teil I) Die Gegner sind „Schwätzer“ mit ihrem „albernen Gerede“. Eine Namensnennung erfolgt nicht. Doch geht Calvin in der Weise vor, dass er zuerst ausführlich den gegnerischen Einwand zitiert und ihn dann beantwortet und widerlegt. Er zählt sieben zwinglianische Fehldeutungen auf. Wir folgen Calvins Reihenfolge. Aus den Zitaten der Gegner bzw. seiner Antwort ergibt sich ohne Schwierigkeit, welche Gegner („Schwätzer“) gemeint sind. (1.) Calvin: „Das Sakrament ist ein Zeugnis der Gnade Gottes“: Der Einwand (Bucers) lautet: Wir wissen, dass das Wort Gottes der wahre Willen Gottes ist. Daher kann das nachfolgende Sakrament nichts Neues lehren. Seine ganze Kraft liegt im Wort. Ist ein Siegel unbekannt, dann kann es eine Urkunde nicht bestätigen. Antwort Calvins: Siegel an öffentlichen Urkunden bekräftigen, was geschrieben ist. Ohne das Pergament, das heißt, die Urkunde, bedeuten die angehängten Siegel nichts. Paulus gebraucht Römer 4,11 das Bild des Siegels. Augustin nennt das Sakrament ein sichtbares Wort.206
206 OS I, 118, Z. 28, 119, Z. 19. Bucer in der Schrift Apologia (1526) 12b (Text auch in LANG, A., Der Evangelienkommentar Martin Butzers und die Grundzüge seiner Theologie, Leipzig 1900, 245: „Gleich wie der Glaube hervorgerufen wird durch den Geist, so wird er vermehrt und gestärkt – durch den Geist als Vater – durch das Verdienst Christi und ganz und gar nicht gegeben und gefördert durch den Gebrauch der Sakramente. Würden diese Zeichen irgendwie Glauben an das Wort Gottes stärken, so würdest du diese Zeichen Gottes nicht kennen, es sei denn, du hättest zuvor Glauben an das Wort. Wenn es eine neue Urkunde des Kaiser gibt mit
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(2.) Calvin: „Die Gnade ist ein äußeres Zeichen des guten Willens Gottes“. Einwand (Bucers): Dem widerspricht, dass auch die Gottlosen es empfangen. Antwort Calvins: In der Konsequenz wäre dann auch das Evangelium kein Zeugnis der Gnade, ja, auch Christus wird den Menschen von Gott dargeboten, an den doch nicht alle glauben. Wahrhaft empfangen wird die Gnade allerdings nur von denen, die Wort und Sakrament in gewissem Glauben empfangen. Diese stärken unseren Glauben.207 (3.) Calvin: „Die Schwachheit des Glaubens“. Einwand (Zwinglis): Wenn der Glaube gut ist, kann er nicht besser werden. Glaube muss unerschütterlich und unwandelbar sein. Antwort Calvins: Die Vollkommenheit des Glaubens ist nie von Menschen erreicht worden. Die Apostel bitten, ‘Herr, mehre unseren Glauben’ (Lk 17,5). Die Gegner sollen ihr eigenes Gewissen daraufhin prüfen.208 (4.) Calvin: „Von ganzem Herzen glauben“. Einwand (Bucers): Philippus nennt diesen Glauben dem Kämmerer gegenüber als Bedingung für die Taufe (Apg 8,37). Antwort Calvins: Der Vater des besessenen Kindes ruft, ‚Ich glaube. Herr, hilf meinem Unglauben!‘ (Mk 9,24). Auch Glaube, der noch in den Anfängen ist, ist ein guter Glaube. Glaube muss täglich wachsen.209 (5.) Calvin. „Das Wirken des (heiligen) Geistes“.210 Einwand (Bucers): Wenn der Glaube durch die Sakramente (per sacramenta) wächst, ist der heilige Geist vergeblich gegeben. Antwort Calvins: Zugestanden ist, dass der Glaube das eigentliche und vollständige Werk des Geistes ist. Aber das hebt die drei Stufen des Wirkens Gottes nicht auf: Unterricht durch Gottes Wort – Stärkung durch die Sakramente – Erleuchtung der Sinne durch den
einem unbekannten Siegel […] dann wird niemand durch ein bestimmtes Siegel, das er zuvor nicht gesehen hat, dazu gebracht werden, dieser Urkunde Vertrauen zu schenken.“ 207 OS I, 119, Z. 29, 120, Z. 6. Bucer, Evangelienkommentar (1530), 18r, Z. 43–50 (auch LANG, A., Der Evangelienkommentar Martin Butzers, 418): „Auf welche Weise kann Getauftsein oder am Abendmahl teilgenommen zu haben ein sicheres Zeugnis der göttlichen Gnade sein, wenn bei beiden die Frommen mit den Gottlosen sie gemeinsam haben?“ 208 OS I, 120, Z. 7–19. Zwingli, Commentarius (1525) (Z. 3, 761, Z. 25–28): „Wenn aber dein Glaube nicht anders zu Ende geführt ist, als dass er des zeremoniellen Zeichens bedarf, dann ist er kein Glaube. Glaube ist der, durch den wir uns auf die Barmherzigkeit Gottes unerschütterlich, fest und unzerreissbar stützen, wie es viele Stellen bei Paulus belegen.“ 209 OS I, 120, Z. 19–35. Bucer, Evangelienkommentar (1527), fol. 17r, Z. 9–14; auch LANG, A., Der Evangelienkommentar Martin Butzers, 413: „Mehr Licht bringt in die Taufe, was wir über Philippus Apostelgeschichte 8 [35–37] lesen. Er antwortete dem Kämmerer, nachdem dieser das Evangelium gehört hatte und um die Taufe bat: ‚Wenn du aus ganzem Herzen glaubst‘. Nachdem jener bekräftigt hatte, er glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes sei, hat er ihn getauft. Was sonst können wir demjenigen bringen durch die Taufe, der mit seinem ganzen Herzen an Jesus Christus glaubt, als ihn der Zahl der Christen hinzuzufügen und ihn in sie aufzunehmen?“ 210 „Gott lässt uns im Fleische das erblicken, was Sache des Geistes ist.“ OS I, 118, Z. 26f.
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heiligen Geist. Beispiel ist der Baum des Lebens, von dem Adam aß und damit die Verheißung der Unsterblichkeit verlor.211 (6.) „Der Ruhm Gottes“. Einwand (Zwinglis): Der Ruhm geht auf die Geschöpfe über, wenn ihnen den Sakramenten große Kraft zugeteilt wird.212 Antwort Calvins: Den Geschöpfen wird keine Kraft zugelegt, denn Gott gebraucht sie nur als Mittel und Werkzeuge. Gott ist der Gebieter aller Dinge, der durch das Brot unseren Leib ernährt, durch die Sonne die Welt erleuchtet und durch das Feuer erwärmt. Unser Vertrauen bezieht sich nicht auf die Sakramente, sondern auf den guten Willen Gottes.213 (7.) „Die Deutung des Begriffes Sakrament“. Einwand (Zwinglis): Sakrament bezeichnet ein hinterlegtes Pfand oder den Eid der Soldaten. Calvin fügt aus seinem Kommentar zu De Clementia (1532) hinzu: Sakramente werden genannt auch die Toga mit Purpursaum und der Ring bei den Römern als Zeichen des Standes. Antwort: Die Kirchenväter haben, wenn sie den Begriff Sakrament gebrauchen, nicht an die Deutung der lateinischen Schriftsteller gedacht. Calvin dreht Melanchthon folgend das Beispiel um: Ursprünglich ist der Eid des Feldherrn gemeint, mit dem er den Soldat in seine Schar aufnimmt. Das Sakrament ist also Gottes Gabe an die Menschen. Doch will er auch die andere Deutung annehmen, lehnt aber ab, dass das, was bei den Sakramenten an zweiter Stelle steht, an die erste gerückt wird.214 Es liegt auf der Hand, dass Calvin sich nur gegen zwinglische Deutungen wendet und sie zurückweist, nicht aber gegen lutherische Einspruch erhebt. Vielmehr gehen seine Definitionen von den Loci communes des frühen Melanchthon aus. Diese sind vor dem Abendmahlsstreit verfasst und haben sich in der Folgezeit in Bezug auf die Sakramente nicht geändert. Umso auffallender ist, dass er auf Luthers Argumente im Abendmahlsstreit nicht eingeht. Vielleicht kannte er sie im Jahr 1535 noch nicht, wie er auch Zwinglis zentrale Argumente nicht erwähnt. Er will nur seine These vertei211 OS I, 120, Z. 36–121, Z. 17. Bucer, Evangelienkommentar (1527), 18v, Z 1–11; der Text auch bei LANG, A., Der Evangelienkommentar Martin Butzers, 419: „Wenn unsere Gewissen beginnen, mit Furcht zu erzittern, dann sind wir keineswegs dabei, uns auf die Zeichen zu berufen, sondern oft auch vergeblich auf das äussere, unbezweifelbare Wort Gottes, die Gnade Christi und unseres besten Vater, die seine Güte erstrahlen und hören lässt. Dann ist der heilige Geist notwendig, um uns zu stärken, den der Gott allen Trostes [Röm 15,5] zur rechten Zeit wehen lässt. Ihm allein lasst uns Ehre geben.“ 212 ZWINGLI, Commentarius 1525 (Z.3, 760, Z. 3f). 213 OS I, 121, Z. 27–33. 214 OS I, 122, Z. 4–22. Zwingli, Commentarius 1525 (Z. 3, 758, Z. 20–24) über den Begriff Sakrament: „Schliesslich spricht man vom militärischen Sakrament, durch das die Soldaten verpflichtet sind, ihrem militärischen Führer zu gehorchen gemäss dem Kriegsrecht oder den Gesetzen. Denn auch die Kriege haben Gesetze, wenn auch eigener Art. Denn die regulären Gesetze schweigen unter den Waffen. Jedenfalls steht nicht fest, dass Sakramente bei den Alten für eine heilige und geheimnisvolle Sache angesehen werden.“
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digen, dass durch das Sakrament der schwache Glaube gestärkt wird. In den Abendmahlsstreit will er offensichtlich nicht eingreifen. Wenn seine Position im Abendmahlsstreit, der im Jahr 1535 nicht beendet war, bestimmt werden soll, so liegt seine Denkweise näher bei Luther und Melanchthon als bei Zwingli und Bullinger. Dieses Ergebnis wird erhärtet, wenn auf Bucers Evangelienkommentar von 1527 näher eingegangen wird. 3. Die falschen Lehren, die die Sakramente überschätzen Calvin zählt zwei weitere falsche Lehren auf. (8.) „Den Sakramenten sind geheime Kräfte beilegt“. Begründung: „Die Sakramente rechtfertigen und gewähren Gnade, sofern ihnen nicht der Riegel der Todsünden vorgeschoben wird“. Antwort Calvins: Die so lehren, lehren eine Gerechtigkeit ohne Glauben und stürzen damit die Seelen in Verwirrung und ins Gericht.215 (9.) „Den Sakramenten haftet eine verborgene Kraft an“. Begründung: „Mit den Sakramenten wird die Gnade des heiligen Geistes ausgeteilt, so wie Wein in der Kanne zum Trinken enthalten ist.“ Antwort Calvins: Die Meinung dieser zweiten Gruppe ist nicht so verderblich, aber sie irrt auch. Denn die Sakramente dienen nur dazu, Gottes Wohlwollen gegen uns zu bezeugen. Darüber hinaus richten sie nichts aus, wenn nicht der heilige Geist unsere Herzen öffnet.216 Wer ist in diesen Fällen der falschen Lehren gemeint? Calvin nimmt mit der ersten Abgrenzung den Satz Melanchthons in den Loci communes auf: „Niemand soll den Scholastikern folgen, die durch einen schrecklichen Irrtum die Rechtfertigung den Zeichen zuschreiben.“217. Der Wittenberger selbst spricht auch von der „Kraft der Sakramente“, die nach Meinung der scholastischen Schulen die Zeichen des Alten Testaments nicht kennen. Sie schreiben aber den Sakramenten des Neuen Testaments die Kraft zu Rechtfertigen zu.218 Calvin schließt sich lediglich der evangelischen Kritik an der Scholastik an. Wen er im zweiten Fall, einer nicht so schädlichen Lehre, im Auge hat, ist unklar. Wahrscheinlich hat er nur Bucers Zitat im Johanneskommentar219 215 OS I, 123, Z. 9–124, Z. 3. Die Gegner siehe Anm. 50. 216 OS I, 124, Z. 3–17. 217 Mel StA II, 1, 144, Z. 6–8. 218 Mel StA II, 1, 141, Z. 4–8. Gemeint sind Duns Scotus, In sent. IV, dist. 1, q 6. 10, Opp. 16, 222. Gabriel Biel, In sent. IV, dist. 1, q 3, art.1. 219 BUCER, Johanneskommentar (1528), 141r, zu Joh. 6, 51–63; der Text auch bei LANG, A., Der Evangelienkommentar Martin Butzers, 456f: „Da jeder beliebige sieht, dass es eine Erdichtung der Menschen ist, was jene gleichsam als Axiome verkündigen, das von uns gepredigte Wort und die Sakramente seien Werkzeuge und Mittel der göttlichen Gnade. Es kann nicht bezweifelt werden, dass dies albernes Zeug ist. Ich meine, dass nichts diesen Lehrsätzen würdiger ist, als was
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missverstanden. Jener wendet sich gegen die lutherische Meinung, die Worte ‚Dies ist mein Leib‘ seien durch die Redeform der Synekdoche zu erklären. So werde die Kanne als Wein bezeichnet, obwohl der Wein in der Kanne enthalten ist. Calvin aber nimmt das Beispiel der Kanne mit Wein wörtlich. Demnach hat Calvin die lutherische Lehre nicht im Blick. Es liegt wohl ein Irrtum vor. Dafür spricht, dass dieser Absatz220 in den späteren Institutioausgaben entfällt. Calvin streicht sonst nach Möglichkeit keinen Textteil. 4. Die Deutung des Begriffs Sakramente (Teil II)221 Calvin hatte den Begriff Verheißung in der Anfangsdefinition in den Mittelpunkt gestellt, erwähnte ihn aber im Teil I nur nebenbei. Er holt dies nun nach, wenn er das Wort Sakrament erläutert. Er stellt die Ausführungen unter den Titel „die Wahrheit der Verheißungen“. Er will beweisen, dass die Tauf– und Abendmahlszusagen sich in der Form dieser Sakramente wiederfindet. Oder, wie er in der zweiten Definition erklärt: Dass „das Zeugnis der Gnade Gottes uns durch ein äußeres Symbol deutlich zu erkennen gegeben wird“. Er macht dazu einen langen Umweg, bis er zu Taufe und Abendmahl gelangt. Denn er greift zurück auf das bei ihm beliebte Schema der Heilsgeschichte. Verheißungen durchziehen von Adam bis Christus Altes und Neues Testament. Deutlich ist er abhängig von Melanchthons Loci communes 1521/22, der schreibt: „Durcheile, wenn es dir gefällt, die ganze heilige Schrift und entnimm das Wesen der Zeichen den heiligen Geschichten.“222 Melanchthon zählt auf: das Gebot der Beschneidung an Abraham, die Sonnenuhr des Hiskia, der Tau auf den Fellen des Gideon, des König Ahas Ablehnung eines Zeichens (Jes 7,13). Das letztgenannte Beispiel lässt Calvin beiseite, da der Prophet Jesaja zwar eine Verheißung als „Zeichen“ ausspricht (Jes 7,14), aber kein sichtbares Zeichen setzt. Er fügt dieser Aufzählung hinzu: Das Essen Adams und Evas vom Baum des Lebens, dazu der Regenbogen für Noah. Es sind natürliche Zeichen, während Gideon und Hiskia Wunderzeichen zu sehen bekommen. Wenn Calvin dann die Reinigungs– und Opfergebote der Juden hinzufügt, so bilden sie den Übergang zu Taufe und Abendmahl. Diesen Zeremonien sind immer Verheißunjene darauf aufbauen, wie jene (Redeweise der) Synekdoche, durch die sie die Worte des Herrn ‚Dies ist mein Leib’ interpretieren wollen. Sie sagen das Brot der Danksagung sei so der Leib Christi, wie von der Kanne voller Wein gesagt wird, sie sei der Wein. So wie wir zu einem neuen Gast sagen: Nimm hin, dies ist der Wein, mit dem ich dich empfange.“ A. Lang fügt in der Anm.1 das entsprechende Zitat aus dem Johanneskommentar des Brenz an. 220 OS I, 123, Z. 32, 124, Z. 17. 221 OS I, 124, Z. 18, 125, Z. 20. 222 Mel StA II, 1, 142, Z. 20f.
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gen beigefügt; sie sprechen nicht aus sich selbst. Wenn aber Verheißungen beigegeben sind, so findet sich deren Inhalt in der Form der Sakramente wieder. Die Sündenvergebung in der Reinigung durch das Wasser. Die geistliche Erneuerung durch das Gerettet werden aus dem Wasser (Römer 6). Die Erlösung durch die Erinnerung an den Tod Christi beim Brechen des Brotes und Trinken des Weins im Abendmahl. Während die alttestamentlichen Zeichen nur Schatten des Zukünftigen sind, sind Taufe und Abendmahl klarer als diese, denn Christus ist von Gott sichtbar gemacht worden. Es ist hier schon vorweggenommen, was in den Abschnitten von Taufe und Abendmahl breiter ausgeführt ist. 5. Calvins Gegenspieler Martin Bucer Zunächst muss aber noch die Auseinandersetzung um das Sakrament (Teil I) zu Ende geführt werden. Die von Calvin genannten sieben Fehlinterpretationen beziehen sich, wie gezeigt, auf Zwinglis Commentarius, hauptsächlich aber auf Bucers Aussagen. Doch kann noch genauer bezeichnet werden, welche Schrift des Straßburgers gemeint ist. Es ist der Evangelienkommentar Bucers von 1527. Denn dort greift jener die nichtzwinglischen Sakramentsaussagen an. Calvin fand sich bei der Lektüre zurecht angegriffen und zum Widerspruch herausgefordert. Sei es, dass er daraufhin seine anfangs zitierten Definitionen abfasste, sei es, dass diese bereits ausgearbeitet waren und er Bucers Ausführungen zu den Sakramenten gegen Melanchthon als Angriff auf seine eigene Position auffasste. Bucer, damals noch Zwinglianer, war sein Hauptgegner. Dieser widerlegt Melanchthons Deutung der Sakramente in seinem Evangelienkommentar von 1527.223 Zum Beweis soll Bucer ausführlich zu Wort kommen. Bucer beginnt seine Polemik in der Auslegung von Mt 3,6 („sie liessen sich taufen“) mit der Feststellung: „Es besteht kein Zweifel, dass Menschen nicht nur in früheren Jahrhunderten, sondern auch in unserem nicht wenig über die Taufe geirrt haben.“224 Bucer ergreift also die Gelegenheit, falsche Lehren zu bekämpfen. Zuerst behauptet er, „niemand leugnet, dass die Getauften durch die Taufe in die Herde Christi aufgenommen werden. Es 223 Wenn Calvin Bucers Evangelienkommentar von 1530 vor Augen gehabt hätte, dann hätte er Bucers Widerruf kennengelernt. Zum Beispiel,“Bisher habe ich, wenn diese Sakramente Siegel des göttlichen Willens uns gegenüber genannt werden, dies keineswegs verdammt.“ (Enarratio 1530, Bd.1, 19r; LANG, A., Evangelienkommentar, 421, dort kursiv gesetzt). Wörtlich wird Bucers Begründung stimmen, doch hatte er zuvor jeden Gabecharakter der Sakramente verneint. Da er in der Vorrede von 1530 die Marburger Artikel verteidigt und erläutert, musste er einlenken. Aus der Vorrede wäre Calvin genau über den Verlauf des Abendmahlsstreites informieret worden. 224 Enarrationum in evangelia Mattaei, Marci, et Lucae, libri duo, Argentorati 1527, Bd.1, 49r; LANG, A., Evangelienkommentar, 411.
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gibt aber solche, die streiten, wozu die Taufe eingesetzt ist.“225 Auf deren Meinung will er im Punkt zwei eingehen. Im Punkt eins werden zunächst die Bibelstellen vorgeführt und aus seiner Sicht ausgelegt. Die exegetische Begründung soll nicht nochmals wiederholt werden. Dann aber kommt der Abschnitt, gegen den sich Calvins Ausführungen zumeist richten. „Der andere Irrtum ist erst neulich entstanden. Von den meisten (sc. Theologen) wird behauptet, die Taufe sei ein gewisses Zeugnis des göttlichen Willens gegenüber dem Getauften und werde unter die Zeichen gezählt, die durch Wunder (wie wir lesen) bestimmten Leuten gegeben sind, um ihren Glauben zu stärken, so wie der Schatten auf der Sonnenuhr des Hiskia zurückgestellt wurde und wie einmal trocken, einmal nass das Fell des Gideon war und ähnliches. Durch das Wunder halten sie diese Zeichen für kaum einer anderen Sache gleich, und durch den Gebrauch dieser Zeichen werde das Gewissen getröstet und gestärkt.“226 Mit dieser Beschreibung können nur die Loci communes 1521/22 gemeint sein. Luther und seine Anhänger kennen keine allgemeine Sakramentslehre. Damit zugleich war auch Calvins oben zitierte Definition angegriffen. Mit der Ablehnung jeder anderen Ableitung des Sakramentsbegriffs muss Zwinglis Deutung der Sakramente als Pflichtzeichen gemeint sein. Bucer hebt einseitig die alttestamentlichen Wunderzeichen hervor und wendet sich gegen die Ableitung der Taufe von ihnen. Er fährt fort: „Niemand möge empört sein über das, was ich glaube und schreibe. Ich zweifele nicht daran, es ist ein Irrtum, und sie können dadurch allmählich die Seelen der Arglosen wegführen von der Bewunderung Christi und sie mehr geneigt machen für die zu verehrenden Zeichen.“227 Doch das Urteil stehe bei den Brüdern. „Erstens, die Schrift empfiehlt uns unter diesem Begriff (Sakrament) nicht unsere Zeichen oder die Taufe. Freilich drängt sie uns sehr wohl ganz ausdrücklich etwas auf, durch das sie trösten und unseren Glauben aufrichten kann, und wodurch das verwirrte Gewissen gestärkt wird. Denn alle Dinge in dieser Schrift sind bestimmt zu unserer Belehrung, damit durch Geduld und Trost der heiligen Schriften wir Hoffnung haben.“ Es folgen Sätze über das Heilswerk Christi. „Was nicht aus der Schrift entnommen ist, da sie alles Gute lehrt, 2.Tim 3 [16], ist sicherlich ein Irrtum.“228 Calvin musste sich aufgefordert fühlen zu einem eingehenden Schriftbeweis.
225 226 227 228
Enarrationum, Bd.1, 49v; LANG, A., Evangelienkommentar, 412. Enarrationum, Bd.1, 54r; LANG, A., Evangelienkommentar, 417f. Enarrationum, Bd.1, 54r; LANG, A., Evangelienkommentar, 418. Enarrationum, Bd.1, 54r, 54v; LANG, A., Evangelienkommentar, 418.
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Zweitens, auf welche Weise kann Getauftsein oder am Abendmahl teilgenommen zu haben ein sicheres Zeugnis der göttlichen Gnade sein, wenn bei beiden die Frommen sie mit den Gottlosen gemeinsam haben? Ich frage, wenn jemand durch die Schwachheit des Glaubens an der Gnade Gottes zweifelt, willst du ihn wirklich bestärken, indem du ihn an Taufe und Abendmahl erinnerst? Ich frage mutig weiter: ‚Kannst du Gott angenehm sein, nachdem du getauft und am Abendmahl teilgenommen hast? Sind sie gewisse Zeugnisse des göttlichen Wohlwollens gegen dich? Wenn nun sein Gewissen von Furcht erfüllt ist, würde er bald antworten: ‘Wie können sie gewisse Anzeichen der göttlichen Gnade mir gegenüber sein, wenn ich sehe, dass, wenn sie mit vielen Gottlosen geteilt werden, schädlich sind für eine nicht kleine Zahl von ihnen?229
Da keiner unter den Zwinglianern so intensiv nach Glauben und Unglauben beim Empfang der Sakramente fragte wie Bucer, ist er nicht zufällig der Gesprächspartner Calvins, wenn es um die Stärkung des schwachen Glaubens geht. Schliesslich, es besteht ein genügend sichtbarer Unterschied zwischen jenen Wundern – des zurückgestuften Schattens, des Felles, des Roten Meers und anderen dieser Art – und den sakramentlichen Zeichen, die durch kein Wunder dargestellt werden. Wie ebenso gewiss ist, dass die Frommen, die innerlich vom Geist belehrt sind, nicht zweifeln, sie seien wirklich durch die Taufe in die Herde Christi aufgenommen, wirklich des Leibes und Blutes Christi teilhaftig, und würden durch diese Zeichen an die göttliche Gnade erinnert und dadurch auch getröstet. Dass diese Zeichen gleichsam als Zeugen der göttlichen Gunst und ebenso die Wunder, beide gleich in der Bestärkung der Seelen, die Unschlüssigen im Gewissen aufzurichten vermögen, ist nicht bloss ungewiss, sondern wird mit Gefahr sogar für den Glauben an Christus behauptet, welcher zwangsläufig abgeschwächt wird, wenn jenen äusseren Dingen unter Ausschluss der heiligen Schriften beigemessen wird, was Christus zukommt und dem tröstenden Geist, den jener vom Vater ausschickt. Wenn unsere Gewissen mit Furcht zu erzittern beginnen, dann sind wir keineswegs dabei, uns auf die Zeichen zu berufen, sondern oft auch vergeblich auf das äussere, unbezweifelbare Wort Gottes, die Gnade Christi und die unseres besten Vaters, die seine Güte erstrahlen und hören lässt. Dann ist der heilige Geist notwendig, um uns zu stärken, den der Gott allen Trostes [Röm 15,5] zur rechten Zeit wehen lässt. Ihm allein lasst uns Ehre geben. Er will in aller Trübsal und allen Versuchungen uns überreichlich trösten, auch wenn wir uns niemals an die Zeichen erinnern. Viel einleuchtender und gewisser ist, was Paulus schreibt in 2. Kor 1 [21f]: ‚Gott ist es, der uns fest macht samt euch in Christus und uns gesalbt und versiegelt und in unsere Herzen als Unterpfand den Geist gegeben hat.‘ Er gibt unzerbrechliches Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder und Erben Gottes sind, Röm 8 [17]. Was benötigen wir darüber hinaus als Tröstung?230
229 Enarrationum, Bd.1, 54v; LANG, A., Evangelienkommentar, 418. 230 Enarrationum, Bd.1, 55r; LANG, A., Evangelienkommentar, 419.
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Im Folgenden behandelt Bucer nur die Taufe. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Calvins Ausführungen in der Institutio von 1536 die zwinglische Sakramentslehre nicht nur korrigieren, sondern scharf zurückweisen wollten. Ernennt sie ein albernes Gerede gewisser Schwätzer, alberne und kraftlose Einwände und einen Irrtum. Auch steht fest, dass sich seine Einwände hauptsächlich gegen ein einziges Schriftstück richten, nämlich Bucers Enarrationum in evangelia Matthaei, Marci et Lucae, libri duo (1527). Dort entwickelt Bucer seine Sakramentslehre und prangert alle anderen Auffassungen – für ihn ungewöhnlich – als Irrtum an. Für Calvin war dies umso mehr eine Herausforderung, als Bucer offensichtlich Melanchthons Loci communes von 1521/22 angreift. Calvin hatte schon früher das Werk des Wittenbergers zitiert und ist auch jetzt von dessen Definition der sakramentalen Zeichen abhängig. Als Quellen kommen daneben auch Zwinglis Commentarius de vera et falsa religione (1525) in Frage (siehe Einwand 3, 6 und 7). Mit Sicherheit hat er Bucers Apologia (1526) gekannt (siehe Einwand 1). Es ist unsicher, ob er das Beispiel vom Wein in der Kanne (s. Einwand 9) dem Johanneskommentar Bucers entnommen hat. In Frage kommt auch Bucers Apologia (1526)231 und auch der Johanneskommentar 1528 des Johann Brenz232. Die hier gegebene ausführliche Darstellung rechtfertigt sich nur daraus, dass der Abendmahlsstreit der Hauptstreitpunkt auf evangelischer Seite war und den Protestantismus spaltete. Calvins Stellung in ihm kommt daher große Bedeutung zu. Die Bedeutung ist umso größer, als Bucer mit der Wittenberger Konkordie (1536) die Seiten wechselte. Er wird nun Befürworter Luthers und der Annahme der Konkordie in der Schweiz. Damit wird Bucer zum Gegner der Zürcher. Dies wird Calvin und Farel in der Genfer Zeit noch beschäftigen. Es sei nur schon daran erinnert, dass Bern in dieser Zeit eine Annäherung an Bucer und Luther vollzieht. Von Bern wiederum ist Genf in hohem Maße politisch abhängig. Die Berner Sakramentsriten aber werden in Genf zu einem der Gründe, Farel und Calvin zu entlassen. Davon wird noch ausführlich die Rede sein. Schaut man nochmals voraus, so wird Calvin nach seiner Entlassung Prediger und Lehrer in Straßburg und Mitarbeiter Bucers werden. Wie wird sich das Verhältnis nach dem anfänglichen Zerwürfnis gestalten? Die vorstehende Ausführlichkeit ist daher berechtigt.
231 BACKUS; I. (Hg.), Enarratio in evangelion Iohannis, Martini Buceri Opera latina, vol.II, 270, Anm. 259. 232 S. 122v, siehe das Zitat bei LANG, A., Der Evangelienkommentar Martin Butzers, 457, Anm. 1.
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6. Leo Juds Einspruch gegen Calvins Sakramentslehre Aus Zürich kam bald nach dem Erscheinen der Institutio 1536 eine Entgegnung zu Calvins Absage an die zwinglische Sakramentsauffassung. Der Inhalt zeigt, dass Leo Jud kaum als Privatmann spricht, sondern er das Sprachrohr der Zürcher Prediger ist. Zwar ist der Brief überaus höflich abgefasst, und es wird freundlich um Belehrung gebeten. Eine Antwort scheint nicht gegeben worden zu sein. Calvin wirkte zu diesem Zeitpunkt schon in Genf. Dort versuchte Bucer Farel und ihn zu Luthers Auffassung herüberzuziehen. Zu Anfang zählt Jud die beanstandeten Stellen auf. Nicht immer hat er Calvin genau verstanden. Zum Beispiel bekräftigen seiner Meinung nach bei Calvin die Sakramente den Glauben, aber sie besiegeln ihn nicht. Es konzentrieren sich Juds Einwände auf das Verständnis des „Siegels“ und am Schluss auch auf das des Glaubens. Sie behandeln also einen zentralen Punkt. Es folgt eine dogmatische Gegendarstellung, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. Sie sei darum vollständig zitiert.233 „Wahrlich, dass die Sakramente den Glauben oder die Verheissung besiegeln oder bekräftigen, das scheint mir völlig absurd zu sein. Denn erstens meine ich, der heilige Geist sei es, der in unseren Herzen den Glauben und die Verheissung besiegelt, und zweitens vermag nicht eine geistliche Sache oder der Geist durch irgendeine körperliche Sache oder durch eine Kreatur bekräftigt oder versiegelt zu werden. Auch vermag dies drittens nicht das äussere Wort, noch viel weniger vermögen es die Sakramente. Worte sind nämlich dazu bestimmt, damit sie uns über den Willen Gottes belehren und über seine Gnade und sein Wohlwollen. Übrigens wird alle Predigt vergeblich sein, wenn nicht der Geist die Herzen erleuchtet hat, damit ständig wahr ist „Niemand kommt zu mir, der Vater ziehe ihn denn“ [Joh 6,44]. Was du viertens über die Versiegelung der Dokumente anführst, scheint aus einem doppelten Grunde nicht zuzutreffen: Weil die Siegel, die zeitliche Sachen sind, die Urkunden besiegeln, die ebenfalls zeitlich sind. Die Sakramente sind wahrlich körperliche Sachen, die Verheissungen aber und der Glaube sind geistliche und ewige Sachen. Fünftens besiegeln Siegel alle Schriftstücke, denen sie angehängt sind. Sakramente aber werden von vielen ohne Frucht empfangen und bekräftigen ihnen nichts, es sei denn, wir wollen sagen, es wäre eine Kraft in ihnen enthalten, wie die Sakramente überall dargeboten und ausgeübt werden. Dieses verneinst du völlig in deiner Erklärung und du tust es zurecht. Sechstens, Paulus nennt die Beschneidung ‚sfragida‘ [Röm 4,11] und er scheint mir diesen Begriff für Zeichen oder Bezeichnung (signaculum) genommen zu haben, wie auch ein alter Ausleger [sc.die Vulgata] den Begriff mit signaculum wiedergegeben 233 COR VI. 1 126, Z. 13–55 und 70–78.
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hat und nicht mit Zeichen.(signum). Oder der Apostel hat eine Metapher gebraucht bei diesem Begriff. Das weisst du selbst; denn häufig geschieht es, dass man den Sakramenten zuschreibt, was der wichtigere Teil bei den Sakramenten ist.“ Siebtens, der Aussage Calvins, dass der Glaube niemals vollkommen sein kann, sondern die Bestärkung von Gott kommt, stimmt Jud bei. „Aber die Vermehrung des Glaubens schreiben wir Christus zu und nicht den Sakramenten. Das sehen wir bei Petrus, der kurz nach seinem Eid (sacramentum) [Mt 26,33] seine Schwachheit zeigt, bis Christus ihn barmherzig anblickt, und ihm der himmlische Geist erneut gegeben wird [Mt 26,69–75; Lk 22,61; Joh 20,22].“ Nach der eingehenden Darstellung des Gegensatzes zwischen Calvin und Bucer bedarf der Brief keiner weiteren Erklärung mehr. Leo Jud erweist sich als echter Zwinglianer. Der Gegensatz zwischen Calvin und den Zwinglianern ist ein grundsätzlicher, wie der zweite und vierte Punkt ausweisen. Es tun sich zwei verschiedene Lager auf. Leo Jud ist bei seiner Meinung geblieben, wie sein großer Katechismus von 1534 und sein kleiner von 1541 beweisen.234 In der Vorrede zu seinem lateinischen Katechismus berichtet er, „ich habe die hauptsächlichen Abschnitte exzerpiert“, gemeint ist aus Calvins lateinischem Katechismus von 1538.235 Die Sakramentslehre gehört nicht zu ihnen. 7. Taufe und Abendmahl Die Tauf– und Abendmahlslehre entspricht ganz dem Sakramentsbegriff. Calvin wehrt zunächst die Meinung (Zwinglis) ab, „die Taufe sei nichts anderes als ein Zeichen und Merkmal, durch das wir unsere Religion vor den Menschen bekennen“.236 Vielmehr nennt er „als sichereste Regel der Sakramente: Wir sollen in leiblichen Dingen die geistlichen erblicken und erkennen, weil es dem Herrn gefallen hat, durch solche Gestalt sie zu vergegenwärtigen.“237 Er fasst zusammen: „Der Gebrauch des Sakraments besteht aus zwei Teilen. Zuerst werden wir über die Verheißungen des Herrn belehrt, dann bekennen wir unseren Glauben vor den Menschen.“238 Wie bei der Erklärung des Sakraments stellt er dem Abschnitt über die Taufe eine doppelte Definition voran. Sie ist ein Symbol, das aus sich heraus aussagekräftig ist, und sie ist bekräftigende Botschaft der Sündenverge234 LANG, A., Der Heidelberger Katechismus und vier verwandte Katechismen, Leipzig 1907, druckt den kleinen Katechismus ab; GOOSZEN, M.A., De Heidelbergsche Catechismus, textus receptus, met toelichende teksten, Leiden 1890, 128–132, druckt die Texte der Sakramentslehren in den beiden genannten und die des lateinischen Catechismus (ohne Jahreszahl) ab. 235 LANG, A., Der Heidelberger Katechismus, XXXIf. 236 OS I, 127, Z. 18f. Zwingli, De peccato originali, Z. 5, 392, Z. 24–30. 237 OS I, 133, Z. 4–7. 238 OS I, 127, Z. 5f.
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bung. „Die Taufe wird uns von Gott vorgestellt zu einem Symbol unserer Reinigung und zur Beurkundung derselben. Oder wie wir zutreffender erklären: Sie wird uns in Gestalt eines Boten gesandt, durch den Gott uns bekräftigt, dass alle unsere Sünden getilgt sind“ (usw.).239 Die Verkündigung hat dabei den Vorrang. Wenn Calvin anschließend die Taufaussagen des Neuen Testaments durchgeht, so bevorzugt er augenscheinlich Röm 6 („mit Christus begraben werden in den Tod […], damit wir in der Neuheit des Lebens wandeln“). Neben dem Gedanken der Reinigung steht also derjenige der mortificatio und vivificatio. Der Letzgenannte ist verbunden mit dem der Christusgemeinschaft, die Calvin wiederholt hervorhebt. Mit der Taufe als Verkündigung leitet er die Verteidigung der Kindertaufe ein. Der erste und wichtigste Punkt ist auch für sie die Gültigkeit der Verheißung. Wie steht es aber mit dem Glauben? Calvin vertritt konsequent die Meinung, auch die Kleinkinder besitzen Glauben. Er lehrt zu diesem Zeitpunkt noch wie Luther und Melanchthon die fides infantium. Bei der Begründung gerät er in die übliche Beweisnot. Die Begründung reicht vom Gebot der Beschneidung (Gen 17,10f) und vom Kinderevangelium (Mt 19,14) bis hin zur Erwählung, das heißt, „dass aus dieser Altersgruppe vom Herrn die ‘Gefässe der Barmherzigkeit’ (Röm 9,23) erwählt werden.“240 Calvins frühe Erwählungslehre spiegelt sich in dieser Auslegung wider. Er wird diese Begründung der Kindertaufe sehr bald fallen lassen. Auch das Abendmahl ist Gabe und Aufgabe. „Wir nennen es Herrenmahl oder Danksagung, weil wir in ihm geistlich mit der Güte des Herrn genährt werden und wir ihm für seine Wohltat Dank sagen.“241 Die Darstellung hat daher zwei Teile. Die Gabe steht voran. Wie bei der Taufe bekräftigt das Abendmahl einerseits die Verheißung, die in den Einsetzungsworten gegeben ist. Eine theologische Vorentscheidung fällt hier bereits, weil er nicht den ersten Teil der Einsetzungsworte zitiert, sondern „Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut“ (Lk 22,20; 1. Kor 11,25). Die Erlösung durch den Kreuzestod Christi ist die Zusage, die im Abendmahl bekräftigt wird. Andererseits drücken Brot und Wein aus, dass im Abendmahl eine Nahrung zum Leben gegeben wird. Calvin spricht von einem Entsprechungsverhältnis. „Von den körperlichen Dingen, welche uns in den Sakramenten vorgestellt werden, müssen wir durch eine Analogie zu den geistlichen hingeführt werden.“242 Calvin erweist sich als ein systematischer
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OS I, 127, Z. 10–14. OS I, 135, Z. 33f. OS I, 136, Z. 39f. OS I, 138, Z. 6f.
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Theologe, denn die Lehren von den Sakramenten, von der Taufe und vom Abendmahl, haben dieselbe Struktur. Trotzdem enthält die Abendmahlslehre Eigenheiten. Erstens fällt auf, dass nicht Leib und Blut näher betrachtet werden, sondern die Person Christi und ihre Taten im Mittelpunkt stehen. Die ganze Fülle soteriologischer Aussagen werden zur Erklärung des Abendmahls herangezogen. Dies beginnt mit „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,48) und „Wer von ihm essen wird, lebt in Ewigkeit“ (Joh 6,51). Alles, was durch sein Sterben, Auferstehen und seine Himmelfahrt den Menschen zu Gute kommt, wird auf das Abendmahl bezogen. Deren „Kraft“ wird im Abendmahl empfangen. Zweitens vertieft Calvin die Hervorhebung Christi und seiner Wohltaten, wenn er die Christusgemeinschaft betont. Die Stärkung und der Trost im Abendmahl führen zu einer engen Beziehung zu Christus. „Weil wir erkennen, wie Christus ist so in uns und wir sind umgekehrt so in ihm eingeleibt [1. Joh 3,24; 1. Kor 10,16], dass, was sein ist, wir unser nennen, und was unser ist, als das seine ansehen dürfen.“243 Dies hat drittens zur Folge, dass der Abendmahlsstreit nach Calvins Meinung unnötig ist. Es lohnt sich einige Sätze zu zitieren. Wenn man diese Kraft des Sakramentes nach Gebühr untersucht und erwogen hätte, dann hätte man genug und noch darüber hinaus (zu bedenken) gehabt, von woher uns Genüge geschieht. Es wären jene schrecklichen Zänkereien nicht entbrannt, mit denen seit längerer Zeit und noch in unseren Tagen die Kirche elend gequält wird. Denn neugierige Menschen wollten näher herausfinden, auf welche Weise der Leib Christi im Brot sei. Einige Leute haben, um sich als scharfsinnig zu erweisen, zu dem einfachen Schriftwort den Zusatz gemacht, der Leib Christi sei real und wesenhaft (realiter et substantialiter) gegenwärtig. Andere Leute sind noch darüber hinaus gegangen: Der Leib Christi habe dieselbe Ausdehnung, wie er am Kreuz gehangen habe. Wieder andere haben sich die ungeheuerliche Wesensverwandlung (Transsubstantiation) ausgedacht. Andere meinen, das Brot selbst sei der Leib. Andere denken, der Leib sei unter dem Brot. Andere lehren, nur das Zeichen und die Redeweise vom Leib (figura) werde vor Augen gestellt.244
Welche sechs Ansichten sind von Calvin gemeint? (1.) Johann Eck fordert in den 404 Artikeln (1530) von den Zwinglianern die Anerkennung des Begriffs ‘realiter’; der Abendmahlsartikel der Apologie des Augsburger Bekenntnisses (1531) verwendet das Wort ‘substantialiter’.(2.) Paschasius Radbertus lehrt in einem Traktat von 844 die Einheit des eucharistischen und historischen Leibes Christi. (3.) Durch das 4. Laterankonzil 1215 wird die Transsubstantiation zum Dogma erhoben. (4.) Luthers Betonung des ‚est‘ in seinen Abendmahlsschriften. (5.) Gemeint ist die Formel „sub spe243 OS I, 137, Z. 12–14. 244 OS I, 139, Z. 5–16.
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ciebus panis et vini“ des 4. Laterankonzils 1215; der deutsche Artikel 10 des Confessio Augustana 1530 lehrt „unter der Gestalt des Brots und Weins“. (6.) Zwinglis Verständnis des Abendmahls als (bloßes) Zeichen und der Einsetzungsworte als eine Redeweise vom Leib Christi, nämlich als „bedeutet“ (significat). Die Auflistung zeigt, dass Calvin alle damals umstrittenen Deutungen der Präsenz des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl vor Augen hat. Gemeint sind ebenso die Scholastiker wie Luther und Zwingli. Er distanziert sich sodann von ihnen allen. Denn er fährt fort: Es muss allerdings eine wichtige Sache sein, wenn mit solchen Streitworten und Gemütsbewegungen darüber verhandelt wird. So wird nämlich allgemein geurteilt. Doch die so denken, merken nicht, dass an erster Stelle gefragt werden muss, wie Christi Leib, der für uns dahingegeben ist, und wie sein Blut, das für uns vergossen ist, unser werden. Das heisst in Wahrheit, den ganzen gekreuzigten Leib besitzen und aller seiner Güter teilhaftig werden. Nun hat man dies, auf das doch so viel ankommt, ausser Acht gelassen, ja, vernachlässigt und beinahe totgeschwiegen. Man hat um die eine spitzfindige Frage auf Leben und Tod gestritten: Auf welche Weise wird der Leib von uns verzehrt?245
Calvin wirft den Parteien im Abendmahlsstreit vor, nicht die Wohltaten Christi als Gaben des Abendmahls beachtet zu haben. Der zentrale Satz lautet: „den ganzen gekreuzigten Leib besitzen und aller seiner Güter teilhaftig werden“. Wurde oben zuerst herausgestellt, dass die Person Christi im Mittelpunkt steht und nicht Leib und Blut, so schreitet Calvin nun konsequent weiter und stellt den zweiten Teil der Einsetzungsworte heraus. Er macht sich nicht nur frei von der Diskussion um die Art und Weise der Gegenwart des Leibes und Blutes Christi, sondern formuliert eingehend die geistliche Nahrung im Abendmahl. Er bezieht eine selbständige Position im Streit und stellt sich zugleich ausserhalb des Streites. Die vierte Eigenart ist die Gleichsetzung von Leib und Fleisch Christi. Calvin hält Joh 6 für einen Abendmahlstext. Die Gleichsetzung lag nahe, denn Joh 6,51 entspricht den Einsetzungsworten: „Dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt.“ So kann Calvin die Begriffe austauschen: „Sein Leib [!] ist eine wahre Speise und sein Blut der (wahre) Trank“ (Joh 6,55). Nun wäre dieser Umstand noch nicht der Erwähnung wert, wenn Calvin nicht mit dem Leib bzw. Fleisch Christi die Teilnahme unseres Fleisches an seinen Heilstaten verbinden würde. Unser Heil ist nur wirklich und unbezweifelbar, wenn das Fleisch Christi uneingeschränkt wahr ist. Die Frage nach der Beschaffenheit des Leibes Christi wird zu einer soteriologischen Frage. Ein Zitat zeigt, was Calvin meint.
245 OS I, 139, Z. 16–27.
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Wie Christus unser wahres Fleisch angelegt hat, als er von der Jungfrau geboren wurde, so hat er auch in unserem wahren Fleisch gelitten, als er für uns genug tat, so hat er auch bei der Auferstehung eben dasselbe Fleisch angenommen und ist in den Himmel aufgefahren. Das ist nämlich die Hoffnung unserer Auferstehung und des Aufstiegs in den Himmel, dass Christus auferstanden und aufgefahren ist. Weiter, wie schwach und hinfällig würde diese Hoffnung sein, wenn nicht dieses unser Fleisch in Christus wahrlich auferstanden und in das Himmelreich eingegangen wäre?
Mit dem Leib bzw. Fleisch Christi verbindet Calvin die Realität des Heils. Nun wäre auch dieser Gedankengang folgenlos, wenn Calvin ihn nicht auf Christi Leib bzw. Fleisch im Abendmahl übertragen hätte. Er wird zum Vertreter des räumlichen und körperlichen Verständnisses des Leibes und Bluts Christi. In der Abendmahlschristologie (sessio ad dexteram Dei) ist er Melanchthonianer oder Zwinglianer, doch nicht wie bei Zwingli auf Grund von Überlegungen der Vernunft, sondern um der wahren Menschheit Christi und unserer Erlösung und Auferstehungshoffnung willen. In einem umfangreichen Abschnitt wird er zuerst die Ubiquitätslehre Occams bekämpfen. Eine Anspielung auf Luthers Lehre fehlt, doch ist er mitgemeint. Sodann greift er „die etwas klügere“ Lehrweise Biels an, der im Abendmahl den verherrlichten und unsterblichen Leib Christi dargeboten sieht. Doch ist dieser ein wahrer Leib? Calvin ist gezwungen, des Auferstandenen Kommen durch verschlossene Türen (Joh 20,19) als Wunder zu erklären. Im Parallelbericht Lk 24,39 sagt Christus in der Tat, er habe „Fleisch und Gebein“. Calvin beharrt darauf, dass Christi Leib immer eine bestimmte Ausdehnung hatte und räumlich umschlossen war. Oder: Um es lehrhaft auszudrücken sagen wir: Leib und Blut Christi werden wirklich und wirksam (vere et efficaciter) mitgeteilt, aber nicht auf natürliche Weise. Damit bezeichnen wir nämlich: Nicht die Substanz des Leibes selbst oder der wahre natürliche Leib Christi wird dort gegeben, sondern alle Wohltaten, die Christus in seinem Leib uns gewährt hat. Dies ist die Gegenwart des Leibes, die der Begriff Sakrament erfordert.
Calvin weist nochmals auf die Gabe des Mahls nach Joh 6 hin. „Denn unser Fleisch wird von seinem unsterblichen Fleisch lebendig gemacht und nimmt gewissermaßen an seiner Unsterblichkeit teil.“ Dieser Zusammenfassung Calvins muss nichts mehr hinzugesetzt werden. In der Institutio von 1539 wird der Abschnitt völlig umgearbeitet werden. Er schließt das Kapitel mit der Erklärung des Abendmahls als Gemeinschaft der Christen untereinander. Es ist Danksagung und Band der Liebe. Abgewehrt werden die Verehrung der Abendmahlselemente, die Verweigerung des Laienkelchs und das Messopfers. Beachtung verdient seine Aufforderung, das Abendmahl möglichst häufig zu feiern. Das nachfolgende Kapitel 6 über die falschen Sakramente enthält die zuerwartende heftige Ablehnung. Den fünf römisch-katholischen Sakramenten fehlen der Einsetzungsbefehl und die Verheißung.
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F. Die christliche Freiheit vom Gesetz Das Gesetz hört nicht auf, die Glaubenden zu belehren (tertius usus legis). Doch trägt es zur Rechtfertigung nichts bei. In Christus sind wir frei vom Gesetz. Das betrifft auch die vom Gesetz geforderte Vollkommenheit. Der Christ steht in der Gnade. Dann wendet sich Calvin dem Problem des Ärgernisgebens zu. Es gibt zwei Arten. Vor den einen Ärgernissen muss man sich hüten, die anderen können unberücksichtigt bleiben. Die einen betreffen die Schwachen, die zu ertragen sind (Röm 14,13f, 20f). Die anderen betreffen die Forderung, den Nächsten mit Milch zu ernähren (1. Kor 3,2). Calvin zieht die Folgerung für seine Zeit, wenn er feststellt, das Messopfer ist Gift und nicht Milch. G. Die kirchliche Machtausübung Die Ablehnung der angemaßten geistlichen Gewalt der römischen Kirche enthält keine überraschenden Gedanken. Auch sie betrifft die Freiheit von Gesetzen. Denn es darf kein Zwang auferlegt werden, von dem wir in Christus befreit sind. Die einzige kirchliche Vollmacht, die Calvin gelten lässt, ist die Vollmacht zu erbauen und nicht zu zerstören (2. Kor 10,8; 13,10). Er wird von nun an nicht aufhören, die Erbauung der Gemeinde als Norm hinzustellen. Sie geschieht durch das Wort Gottes. Konzilien und Traditionen sind kein Gegenbeweis. H. Die bürgergerechte Regierung Calvins Verständnis dieses letzten Abschnittes steht und fällt mit seiner Deutung der Überschrift De politica administratione. Er gebraucht im Titel und im Text die Termini politicus bzw. politia. Sie erscheinen in der Institutio von 1536 mehrmals. Sieben Mal verwendet er das Wort politica, davon vier Mal im Abschnitt De politica administratione, Sechzehn Mal erscheint politia, davon acht Mal im hier betrachteten Abschnitt. Es ist erforderlich, sich über Calvins Verständnis der Begriffe Klarheit zu verschaffen. Anderenfalls wird sein Obrigkeitsverständnis missverstanden. 1. Die Suche nach den Quellen Wie kommt Calvin dazu, den griechischen Begriff politia zu einem Hauptbegriff für die Lehre von der Obrigkeit zu erheben? Zuerst ist festzustellen, dass Calvin nicht bei den betreffenden Bibelstellen anknüpft. Deren Aussage zielt darauf hin, dass die Glaubenden in der Welt „ohne Heimatrecht, [und] keine Bürger“ sind.246 Calvin spricht hingegen vom irdischen Bürgerrecht. Er sammelt möglichst viele Stellen zum Beweis, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist. 246 ThWNT VI, 535; Apg 22,25 und 28; Eph 2,12; Phil 3,20, 1. Petr 2,11.
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Auch die vorliegenden Übersetzungen helfen nicht weiter. Die einfache Übersetzung „politische“ Regierung würde nur einen modernen Begriff für ein griechisches Wort setzen. O. WEBER übersetzt „bürgerliche Ordnung“, B. SPIESS „Verfassung“, W. VAN’T SPIJKER „De burgerlijke Regering“247, F.L. BATTLES „Civil Goverment“248, H.W. SIMPSON „Staatsadministrasie“249. Es zeigt sich, dass die Übersetzungen beträchtlich auseinander gehen. Auffallend ist jedoch, dass mehrere Übersetzer politica mit „bürgerlich“ wiedergeben. Sie sind sich offensichtlich bewusst, dass „polites“ im Griechischen „Bürger“ heißt. Ein Blick in ein griechisches Lexikon verdeutlicht die Bedeutung in der Antike. Aus ihm geht hervor, dass politeia mit einem einzigen Wort nicht wiederzugeben ist, sondern dass der Begriff eine große Bandbreite hat. „Politeia“ ist „1. der Stand und die damit verbundenen Rechte des Bürgers, d.h. Bürgerrecht“. „2. das Verhalten eines Bürgers als Glied des Staates in Bezug auf denselben, seine politischen Grundsätze, die Art, wie er Angelegenheiten des Staates betreibt, Staatsverwaltung“. „3. Staatsverfassung“.250 Kurz gesagt, politeia sind die Bürgerrechte und Bürgerpflichten gemäß der öffentlichen Ordnung. Den genannten Übersetzungen fehlt demnach der Hinweis auf das Bürgerrecht und die Bürgerpflicht. Erst dann ergibt sich eine Brücke zu „Verfassung“ bzw. „Staatsverfassung“. Die Bedeutung von politia zerfällt bei dem Doppelbegriff nicht mehr in einzelne, heterogene Sachverhalte, sondern diese bilden eine Einheit. Dem Lexikon zufolge umfasst politeia das Bürgerrecht, das Verhalten des Bürgers als Glied der Allgemeinheit und die den beiden entsprechende öffentliche Ordnung. Der Titel ist daher zutreffend wiederzugeben mit „die bürgergerechte Regierung“ oder „Regierung gemäss dem Bürgerrecht“ oder „Bürgerrecht und -pflicht als Teil der Regierungsform“. Es soll gezeigt werden, dass dieses auch das Verständnis Calvins ist, und es soll seine Quelle aufgewiesen werden. Eine Übersetzungsmöglichkeit muss zuvor noch ausgeschlossen werden, will man den Begriff politia sachgerecht wiedergeben. Die Reformationszeit kennt den Begriff des Staates nicht. Mag auch Machiavelli die oberitalienischen Stadtrepubliken mit Recht ‘lo stato’ nennen, weil sie schon eine straff organisierte Machteinheit darstellen, die Vorstellung einer unsichtbaren Macht über den Bürgern fehlt dem 16. Jahrhundert. Der Staat ist Obrigkeit. Dieser heute veraltete Begriff vermag vorzüglich das Staatsgefühl der Reformationszeit auszudrücken. Der Staat ist das Gemeinwesen, an dessen 247 248 249 250
Institutie 1536, Houten 2005, 294. Institution of the Christian Religion, Atlanta 1975, 284. Onderwysing in die Christelike Godsdiens, Potchefstroom 1980, XIV. JAKOBITZ, K./SEILER, E.E., Griechisch-deutsches Wörterbuch, Leipzig 1876.
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Spitze ganz konkret, ganz persönlich und mit großer Machtfülle ausgestattet der oder die Herrscher stehen. Die Menschen der damaligen Zeit denken in dem Dualismus von Obrigkeit und Volk. Wenn Calvin in der Institutio von 1536 gelegentlich die Begriffe status und politia miteinander verbindet, dann ist nicht der Staat gemeint, sondern die Form oder Gestalt des Bürgerrechts.251 Der Begriff Staat muss daher bei der Erläuterung der Lehre Calvins von der Obrigkeit vermieden werden. Seine Verwendung setzt modernes Denken voraus. Calvin gebraucht im vorliegendem Abschnitt durchgehend das Wort magistratus, also Obrigkeit. 2. Calvins Definition der politia An ihr fällt zuerst auf, dass – wie in dem Lexikonartikel – politia alle drei Bedeutungen abdeckt, das Bürgerrecht, die Bürgerpflicht in der Öffentlichkeit und Recht und Pflicht der Obrigkeit. Eine Beschränkung auf einen Teil würde Calvins Definition nicht gerecht. Er gibt folgende Zusammenfassung: Der Nutzen der bürgergerechten Regierung (politia) ist nicht geringer für die Menschen einzuschätzen als der des Brotes, Wassers, der Sonne und der Luft. Ihr Rang steht jedoch viel höher. Denn sie bezweckt nicht, wie das der Vorteil aller jener genannten Dinge ist, dass die Menschen atmen, essen, trinken und sich wärmen, obwohl sie gewiss alles umfasst, was bewirkt, dass sie alsbald leben. Dennoch ist dies, wie gesagt, nicht der einzige Gesichtspunkt. Vielmehr sorgt die bürgergerechte Regierung (politia) dafür, dass kein Götzendienst, kein Frevel gegen den Namen Gottes, keine Lästerung gegen seine Wahrheit und keine anderen Ärgernisse gegen die Religion öffentlich auftauchen und im Volk Verbreitung finden und dass keine öffentliche Ruhe gestört wird. Sie sorgt dafür, dass jedem das Seine erhalten und unversehrt bleibt, dass die Menschen keine schädlichen Handelsgeschäfte unter einander treiben, und schliesslich, dass unter den Christen eine öffentliche Gestalt der Religion besteht und zwischen den Menschen Menschlichkeit vorhanden ist. Es möge niemand beunruhigen, dass ich die Sorge für das rechte Bestehen der Religion auf die bürgergerechte Regierung (politia) der Menschen beziehe, obwohl ich sie doch oben dem menschlichen Urteil entzogen zu haben scheine. Denn ich überlasse es den Menschen hier ebensowenig wie zuvor, über Religion und Verehrung Gottes nach ihrem eigenen Ermessen Gesetze zu erlassen, wenn ich die bürgergerechte Regierung (politia) der Menschen gutheisse, die darauf dringt, dass die wahre Religion, die in Gottes Gesetz beschlossen liegt, nicht ungestraft öffentlich und mit öffentlichem Frevel geschändet und geschmäht wird.252 251 „Die vorzüglichste Form“ (potissimus status politiae); OS I, 263, Z. 15f, auch Z. 20. Ebenso „die Gestalt der Bilder“ (status figurarum). OS I, 160, Z.1. BOHATEC, J., Calvins Lehre von Staat und Kirche, Breslau 1937, 2f, versucht den Begriff status beim späteren Calvin zu beschreiben. Er rückt ihn möglichst in die Nähe des Staatsbegriffes, zu Unrecht! Den Terminus politia interpretiert er dort durchgehend mit „Staatswesen“ oder „Staatsform“. 252 OS I, 2 60, Z. 8–30.
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Politia ist also die konkrete Regierung, die alle Belange der Untertanen regelt. Sie betrifft auch die Religion. Calvin selbst stellt heraus, was an der Definition auffällig ist. Er verteidigt ausdrücklich, dass die Obrigkeit für das leibliche und seelische Wohl der Untertanen sorgt. Ja, noch mehr: Eine bürgergerechte Regierung sorgt für beides, für das gute Miteinander der Untertanen (humanitas) und für den Erhalt der Religion. Er spricht wohlgemerkt noch nicht von der christlichen Religion und erklärt ganz allgemein, dass die wahre Religion im Gesetz Gottes beschlossen ist. 3. Obrigkeit – Gesetz – Volk
Calvin erklärt näher, was unter dem Wort politia zu verstehen ist, wenn er die Gliederung des ganzen Abschnittes vorstellt. Was wir von der ganzen Art der bürgergerechten Regierung (politica administratio) zu denken haben, das wird der Leser besser verstehen, wenn wir ihre einzelnen Stükke gesondert behandeln. Dann wird ihm auch die Klarheit der Ordnung zu Hilfe kommen. Es handelt sich aber um folgende drei Stücke. Zunächst ist da die Obrigkeit (magistratus), die Schützer und Wächter der Gesetze ist, dann die Gesetze, auf Grund deren die Obrigkeit zu regieren hat, dann das Volk, das von den Gesetzen regiert wird und der Obrigkeit Gehorsam leistet.253
Wieder bestätigt sich, dass zur politica administratio Obrigkeit und Volk gehören, dazu das Gesetz als die Norm für beider Verhalten. Das Adjektiv politica beschreibt die politia. Beide Termini sind identisch. Calvin präzisiert die Gliederung nochmals: Wir wollen also zunächst über die Tätigkeit (functio) der Obrigkeit sprechen, ob ihr Beruf (vocatio) rechtmässig und von Gott gutgeheissen ist, was für eine Verpflichtung (officium) und wie viel Vollmacht (potestas) sie hat. Dann wollen wir erörtern, nach welchen Gesetzen eine christliche bürgergerechte Regierung (christiana politia) einzurichten ist. Schliesslich, welchen Nutzen das Volk von den Gesetzen hat und welcher Gehorsam der Obrigkeit zukommt.254
Die Obrigkeit wird durchaus kritisch betrachtet. Sie hat nicht nur eine Vollmacht, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber den Untertanen. Die Dreiteilung führt zu einer weiteren Erkenntnis. Der Titel „De politica adminitratione“ ist erst völlig geklärt, wenn deutlich gemacht ist, dass Obrigkeit und Volk auf einander bezogen sind. Die Obrigkeit ist nicht ohne seine Beziehung zum Volk zu verstehen und das Volk untersteht selbstverständlich der Obrigkeit. Es liegt ein akthaftes Verständnis der Politia vor. Calvin denkt, wie bereits mehrmals beobachtet, akthaft und nicht statisch. Es wiederholt sich das Denkschema in den Prolegommena. Dort sind cogni253 OS I, 2 60, Z. 31–36. 254 OS I, 260, Z. 36–41.
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tio dei et nostri stets aufeinander bezogen. Sie können nicht oder nur vorübergehend einzeln betrachtet werden. Das trifft auch für die Begriffe politia und magistratus zu. Die Obrigkeit muss immer auf das Recht des Bürgers bedacht sein und der Bürger muss der Obrigkeit gehorchen und das Beste des Gemeinwesens suchen. Diese gegenseitige Bezugnahme wird deutlich, wenn Calvins Erklärung der Obrigkeit, des Gesetzes und des Volkes analysiert worden ist. Erstens, die Autorität der Obrigkeit ist leicht mit Röm 13 zu begründen. Sie hat ihre Vollmacht von Gott und ist Gottes Stellvertreter. In den Psalmen wird die Obrigkeit Götter genannt (Ps 82,6). Ihrer von Gott gegebenen Vollmacht steht ihre Pflicht gegenüber. „Denn welchen Eifer zur Bewahrung der Unbescholtenheit, Klugheit, Langmut, Selbstbeherrschung und Rechtschaffenheit müssen die sich auferlegen, die wissen, dass sie zu Dienern der göttlichen Gerechtigkeit bestimmt sind ?“ Ihr Richterstuhl ist der Thron des lebendigen Gottes, ihr Mund Werkzeug der göttlichen Wahrheit.255 Calvin spricht in dieser Weise oft von der Verpflichtung der Obrigkeit. Ihre Vollmacht verbindet sich mit ihren Pflichten. Er hat an allen Regierungsformen etwas auszusetzen. Das Königtum wird leicht zur Tyrannis, die Gewalt der Optimaten wird ebenso leicht zur Oligarchie und die Demokratie geht noch viel leichter in Empörung über.256 Calvin zitiert hier nur des Aristoteles Meinung, der allerdings allen drei Regierungsformen ein Recht zuspricht und die Demokratie nicht so stark abwertet.257 Die Pflicht zu Recht und Gerechtigkeit wird breit erörtert, ihr Recht auf Zölle und Steuern begründet. Zweitens, Calvin unterscheidet die bürgergerechten Gesetze des Mose (leges politicae) und die allgemeinen Gesetze der Heiden. Entscheidend ist: Er weist die Vernachlässigung der Gesetze des Mose scharf zurück. Die Gesetze der Allgemeinheit (res publica) werden daher biblisch begründet. Am Ende steht die christliche Obrigkeit. Norm ist der Dekalog, das heißt, die Gottesverehrung und die Liebe zum Mitmenschen. Die moralischen Gesetze sind mit den Naturgesetzen identisch. Auf diese Weise werden die Gesetze der Heiden mit den alttestamentlichen Gesetzen verbunden. Schließlich, der Nutzen der Gesetze für das Volk ist nach Calvin identisch mit „dem Nutzen der Gesetze, Gerichte und Obrigkeiten für die allgemeine christliche Gesellschaft (Christianorum societas).“258 Calvin setzt wie selbstverständlich den ‚christlichen Staat‘ voraus. Zum Nutzen gehört: 255 OS I, 261, Z. 42, 262, Z. 2. 256 OS I, 263, Z. 23–26. 257 An einer Stelle legt er dar, dass Oligarchie aus Gewinnsucht leicht zur Tyrannis führt, so dass eine Verschwörung die Tyrannis beseitigen muss und die Demokratie errichtet wird. Politikon, III, 16. 258 OS I, 270, Z. 18f.
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„Durch die Hand und den Schutz der Obrigkeit werden wir verteidigt gegen die Unredlichkeit und Gewalttaten zügelloser Menschen und führen ein ruhiges und sicheres Leben [1. Tim 2,2].“259 Der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gilt unbeschränkt, er gilt auch unter den Tyrannen. Calvin schildert ausführlich das Verhalten schlechter Obrigkeiten. Aufrührerische Gedanken sind jedoch verboten. Calvin kommt ganz konkret auf die Lage in Frankreich zu sprechen, wenn er ausführt: „Wenn wir daher von einem strengen Fürsten grausam gefoltert, von einem habgierigen und verschwenderischen Herrscher räuberisch ausgeplündert, von einem trägen Regenten vernachlässigt, von einem gottlosen und sakrilegischen schließlich wegen unserer Frömmigkeit gequält werden,“ so bleibt nur das Gebet, Gott möge die Herzen der Könige ändern. Nicht zufällig schließt das Kapitel und die Institutio 1536 mit der Einräumung des Widerstandsrechtes. Aus der Geschichte des tyrannischen Pharao schließt Calvin, dass Gott „aus seinen Knechten“ Rächer erweckt, sie mit Vollmacht versieht und durch sie die Tyrannen straft. Wo es Stände (populares magistratus) gibt, um die Willkür der Könige zu mäßigen, da wären sie geradezu treulos, würden sie nicht einschreiten. Es soll nochmals auf die Parallele zu dem Leitmotiv cognitio dei et nostri verwiesen werden. Wie bei der cognitio dei steht die gottgegebene Vollmacht der Obrigkeit an erster Stelle. Sie ist der Ansatzpunkt und darf von Privatpersonen durch Aufruhr nicht beseitigt werden. Wie bei der cognitio nostri stehen die Untertanen an zweiter Stelle und sind abhängig von der Obrigkeit. Diese Rangordnung ist unaufhebbar und wird auch nicht durch eine tyrannische Obrigkeit aufgehoben. Sie wird nur durch die Pflicht der Stände zum Widerstand eingeschränkt. Calvins Verständnis der politia ist seinem Leitmotiv nachgebildet. Den Eigenschaften Gottes entspricht die gottgegebene Obrigkeit, der Erkenntnis unserer selbst unsere Situation als Volk und Untertanen. 4. Calvins Humanismus als Quelle seines Obrigkeitsverständnisses Wie festgestellt wurde, hat Calvin sein Verständnis der politia nicht aus dem Neuen Testament. Vielmehr greift er auf sein humanistisches Frühwerk zurück. Schon in seiner ersten Schrift, L. Annaei Senecae libri de clementia cum Io. Calvini commentario (1532), befasst sich Calvin mit dem Problem von Obrigkeit und Untertanen. Sein Ausgangspunkt sind die ersten Sätze Senecas, die es wörtlich wiederzugeben lohnt.
259 OS I, 270, Z. 26–28.
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Wenn man die Augen auf die unermessliche Volks menge richtet: Sie frohlockt über Zwietracht, Aufruhr, Zügellosigkeit und die Bereitschaft, in fremden und eigenen Untergang zu rennen, wenn dies nur ihr Joch zerbricht. Und so spreche ich mit ihm (Nero): Unter allen Sterblichen habe ich Gefallen gefunden und bin erwählt, dass ich auf Erden an Stelle der Götter wirke. Ich bin der Gebieter über Leben und Tod der Völker. Es liegt in meiner Hand, was jedes Sterblichen Geschick sein wird.260
Calvin teilt diese Meinung nicht. Er nimmt sie lediglich zum Anlass, seine eigenen Gedanken zu äußern. Er führt im Kommentar aus: Diese Meinung (Senecas) stammt aus der stoischen Lehrmeinung. Sie teilen die Verwaltung der menschlichen Angelegenheiten den Göttern zu. Sie lehren die Vorsehung und lassen für das zufällige Geschick nichts übrig. Obgleich die Epikuräer die Götter nicht leugnen […], verlachen sie die stoische Vorsehung als Gerede widerlicher alter Frauen. Sie glauben, alles geschehe zufällig. Aber er (Nero), der sich selbst Stellvertreter Gottes nennt, bekennt, dass die Götter für die menschlichen Nöte Sorge tragen. […] Plutarch sagt in seiner Schrift über die Lehre der Fürsten261, dass die Fürsten Diener Gottes seien, um für das Heil und die Pflege der Menschen zu sorgen. Das Gute, das Gott ihnen reichlich gibt, sollen sie gebrauchen. Zum Teil sollen sie es austeilen, zum Teil bewahren.262
Deutlich fällt es Calvin nicht schwer, für „Götter“ Gott zu setzen. Auf das Plutarchzitat zielt Calvin in der Institutio von 1536 ab: Wer von den Herrschern redet, spricht notwendig auch von den Untertanen. Doch auch die umgekehrte Aussage findet sich in Calvins Kommentar. Scharfsinnig folgert Seneca, dass diejenigen keine Bürger (cives) seien, die nicht das Leben in der Gemeinschaft (in commune) teilen, Was ist nämlich die Bürgerschaft (civitas)? Es ist eine Zusammenkunft (concilium) und Versammlung (coetus) von Menschen, die durch das Recht vereinigt sind, sagt Cicero im ‚Schlaf des Scipio‘.263 Die Definition hat er Aristoteles entnommen.264 Nicht jede Gesellschaft (societas) ist eine Bürgerschaft (civitas), sondern nur die, die mit ordentlichen Sitten und gerechten Gesetzen lebt. Allerdings, die den Gesetzen nicht gehorchen, sind keine Bürger (cives), sondern sie sind losgerissen von dem Leib der Bürgerschaft (civitas).265
Man muss in diese Zitate nur politeia statt civitas setzen, wie es schon durch den Hinweis auf die Schrift des Aristoteles, Politeia, geschieht, dann 260 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary on Seneca’s De clementia; 18. 261 Moralia 780 D. 262 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 28/30. Es verwundert nicht, dass Calvin im Folgenden Röm 13,11 zitiert. 263 Republica 6.13.13. 264 Politica, 13.1, 127a–175a. 265 BATTLES/HUGO, Calvin’s Commentary, 212/214. BOHATEC, J., Calvins Lehre von Staat und Kirche, entwickelt seine Lehre vom organischen Verständnis der Staatsauffassung Calvins, indem er bei dessen Aussagen über den Staat als Leib (corpus) einsetzt. Er findet sie in Calvins Schrift De clementia, in der Institutio und anderen Schriften. Sie fehlt aber in der Institutio von 1536. Das organische Verständnis führt zu einer akthaften Auffassung vom Staat.
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hat man die vollständige Quelle Calvins. Diese führt nicht nur zu Calvins Schrift De clementia, sondern nennt auch als Quellen vor allem Plutarch und sodann Cicero und Aristoteles.
Kapitel 12: Calvin und die Herzogin Renata von Ferrara (1536/37) 1. Der Aufenthalt am Hof zu Ferrara im Jahr 1536 Über seine Reise nach Ferrara im Jahr 1536 ist wenig bekannt. Man ist auf das angewiesen, was Beza in seiner Vita Calvini berichtet. Nachdem das Buch (d.h. die Verteidigungsschrift an Franz I.) erschienen war, und er gleichsam seine Treue zum eigenen Vaterland bewiesen hatte, wünschte er, die Herzogin von Ferrara zu besuchen, welche die Tochter des französischen Königs Ludwig XII. war, und wünschte gleichzeitig, Italien von ferne zu begrüssen. Er suchte sie also auf und bestärkte sie zugleich im wahren Eifer für die Frömmigkeit, so sehr ihm dies zu tun der gegenwärtige Stand der Angelegenheiten erlaubte. Sie hat ihn zu seinen Lebzeiten fortan immer einzigartig hochgeschätzt und, nachdem sie ihn überlebte, einen trefflichen Beweis der dankbaren Erinnerung an den Verstorbenen erbracht.266
Es ist unverständlich, warum die Biographen Calvins zu rätseln beginnen, warum Calvin nach Ferrara gereist ist. Ihre Vorschläge reichen von der Suche nach einer einträglichen Stelle am Hofe – die Herzogin bezog ansehnliche eigene Einkünfte aus Frankreich – bis zum Vorhaben der Missionierung. Doch fehlt für finanzielle Absichten Calvins jeglicher Beweis. Es weilte dort zur gleichen Zeit der Dichter Clement Marot, wohl bezahlt als Sekretär der Herzogin. Er hatte in Paris im Jahr 1531 unter dem Einfluss des gelehrten Vatable Psalmen übersetzt. Da er in Streit über die Vulgata geriet, verließ er die Stadt. Von ihm muss noch die Rede sein. Nach Bezas Bericht, wollte er die Herzogin in der Frömmigkeit bestärken. Wenn die Worte „Italien von ferne zu begrüssen“ keine reine Floskel sind, dann bedeuten sie: Calvin habe die Pflicht seinem Vaterland gegenüber erfüllt und wende sich nun einer Aufgabe in Italien zu. Um wahrscheinliche Erlebnisse in Ferrara zu belegen, muss versucht werden, seinen Aufenthalt zu datieren. Er kann höchstens zwei Monate lang in Ferrara geweilt haben. Noch im Januar oder Februar 1536 hatte er Bullinger in Basel getroffen.267 Als er von Ferrara nach Basel zurückkehrte, begab er sich nach Frankreich. Am 2. Juni beantragte er vor dem Gericht in Paris als „Jehan Cauvin, licencié ès loix, natif de Noyon“, seinen Bruder Antoine zu bevollmächtigen, in seinem Namen die Besitzverhältnisse in 266 CO 21, 125. Colladon berichtet, dass du Tillet ihn begleitet habe; CO 21, 58. 267 COR VI. 1, 125, Anm. 1.
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Noyon zu regeln.268 Nachdem alles verkauft war, verließ er mit seinen Geschwistern Antoine und Marie auf immer das Land. Anfang Juli kam er auf der Durchreise nach Genf, wo ihn Farel jedoch für immer festhielt. Zieht man die Reisedauer ab, so wird er im März und April in Ferrara gewesen sein. Genauer lässt sich sein Aufenthalt nicht datieren. Woher Calvin in Basel die Kunde über Ferrara erhielt, ist nicht festzustellen, aber der Anlass seiner Reise ist leicht auszumachen. Denn die Herzogin Renée de France war in ihrer Jugend Schülerin des Faber Stapulensis gewesen.269 Sie hatte, wie oben ausführlich dargetan, gelernt, es genüge, das Evangelium zu hören und den Glauben innerlich zu leben. Das heißt, als „biblien“ konnte sie auch weiterhin an den katholischen Zeremonien teilnehmen. Calvin bezichtigt diese Haltung des Nikodemismus. Er hat nach Bezas Aussage Renata in ihrer Frömmigkeit bestärkt. Das musste auch die Messe betroffen haben, die am Hof in gewohnter Form gehalten wurde. In Ferrara kam es, wahrscheinlich in Anwesenheit Calvins, über eine Messzeremonie zum öffent-lichen Skandal. Zum Verständnis muss etwas weiter ausgeholt werden. Calvin kam in einem unglücklichen Augenblick nach Ferrara. Herzog Ercole II., Sohn der Lukretia Borgia, hatte am 20. März, Madame de Soubise, die Hofdame der Renata, nach Frankreich zurückgeschickt. Diese war seit der Hochzeit der Herzogin im Jahr 1528 ihre Ratgeberin gewesen und zudem reformationsfreundlich gesonnen. Dem Herzog waren die zahlreichen französischen Flüchtlinge am Hof, die unter dem Schutz der Renata standen, ein Ärgernis. Auch die römische Kurie trieb ihn an im Schreiben vom 18. März, die Ketzer zu beseitigen.270 Wenngleich seine Institutio erst im März in Genf erschien, so waren auch Calvin und du Tillet Verdächtige. Am 14. April 1536, „am Charfreitag, während die ‚Passionen‘ in einer der Hauptkirchen gesungen wurden und der Priester den versammelten Gläubigen das Kreuz zum Kusse reichte, begann ein junger Franzose, Gianetto, [ein Hofsänger,] den Marot mitgebracht hatte, laut gegen ‚ein solches Heidentum‘ zu lästern. Dann verließ er demonstrativ die Kirche.“ Er wurde sofort gefangen gesetzt und nannte unter der Folter einige von Renatas Höflingen als Mitschuldige. Renata nahm sich seiner an, und er konnte später fliehen.271 Eine Verbindung der Ereignisse zu Calvin muss nicht bestanden haben. Doch werden er und du Tillet unter diesen Umständen 268 LEFRANC, A., La jeunesse, 205. Die Kunde vom Edikt von Lyon vom 31.Mai, das den Ketzern erlaubte, ein halbes Jahr in Frankreich zu leben, wenn sie sich mit Rom aussöhnen wollten, kann er demnach zuvor noch nicht gekannt haben. 269 BARTON, F.W., Calvin and the Duchess, Westminster 1989, 12. 270 Siehe Art. Renata von Ferrara, RE3 16, 657f. 271 CHàĉDOWSKI, C. von, Der Hof von Ferrara, Berlin 1913, 259f. Der Autor gibt eine lebendige Schilderung vom Hofleben in Ferrara.
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Ferrara bald verlassen haben. Es dürfte damit geklärt sein, was Beza meint, wenn er sagt, „soweit dies zu tun ihm der gegenwärtige Stand der Angelegenheiten erlaubte“. Die katholischen Zeremonien konnten am Hof nicht beseitigt werden. Die Herzogin hatte nicht die nötige Macht und auch nicht die nötige Überzeugung dazu. Dies bewies sich im folgenden Jahr. 2. Der Brief Calvins an die Herzogin Renata von Ferrara im Jahr 1537 Als Calvin im Sommer 1537272 an Renata schrieb, wirkte er bereits als Prediger in Genf. Dem etwas langatmigen Brief sind folgende Fakten zu entnehmen. In Ferrare wirkte seit dem 8. März 1537 als Prediger der Herzogin der Franzose François Richardot. Nun hatten einige Personen von gutem Ruf Calvin mitgeteilt, dass der Prediger Richardot „sie überzeugt habe, dass es nicht schlimm sei, nach der Anhörung der Messe eine Art Abendmahl (communion) zu veranstalten an Stelle des Abendmahls unseres Herrn.“273 Eine ihrer Hofdamen – es war Anne de Pons, Tochter der entlassenen Madame de Soubise – kam in Gewissenskonflikte und ließ Calvin wissen, die Herzogin wolle von ihm eine ausführliche Unterweisung haben. Calvin hatte sich schon zuvor mit Richardot auseinandergesetzt, wahrscheinlich in Paris. Ich habe oft versucht, ihn auf den richtigen Weg zurückzubringen, dass er seine Verfehlung bekennen würde. Aber dieser unverschämte Mensch wollte sich vor den Menschen entschuldigen, in dem er sagte, er sei durch sein Gewissen vor Gott entschuldigt. Trotzdem beharrte er mit Eigensinn und ‘Verstockung des Herzens’ [Ex 4, 21] dabei zu sagen, er werde nicht ablassen zu tun, was er als falsch erkannt habe, ausgenommen einmal, als er eine meiner Schriften mit schweren Verfluchungen gelesen hatte, beteuerte er, er werde niemals mehr bei der Messe assistieren, weil sie eine gewaltige Scheusslichkeit sei.274
Calvin nennt nun den genauen Anlass des Briefes. Nun, Madamme, komme ich zum vorliegenden Gegenstand. Euer Prediger gibt Euch zu verstehen, dass die Messe nicht so schlecht oder abscheulich ist, dass, von ihr zu sprechen oder sie anzuhören, den Glaubenden nicht erlaubt sei, so dass diejenigen, die sich ein Gewissen daraus machen, Verwirrer der Kirche sind und Ärgernisse unter den Schwachen erregen, die uns doch zu unterstützen geboten ist.275
Es sind dies offensichtlich die Argumente eines Faberschülers. Dazu sagt Calvin: 272 273 274 275
Zur Datierung s. COR VI, I, 219. COR VI. I, 222, Z. 30–32. COR VI. I, 225, Z. 113–121. Wahrscheinlich war es die erste Schrift der Epistolae duae. COR VI. I, 225, Z. 131–137.
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Sollte jemand dem entgegenhalten, dass etwas nicht durch äusserliche Sachen erwärmt werden kann, es sei denn das Herz darinnen rechtschaffen, so gibt dazu unser Herr als Antwort, er will in unserem Leib verherrlicht werden [vgl. 1. Kor 6,20], den er mit seinem Blut losgekauft hat, so dass er von uns das Bekenntnis des Mundes verlangt [Röm 10,9f], und dass alle unsere Körperteile seinem Ruhm gewidmet sein sollen, und nicht irgendwie verunreinigt und entweiht durch etwas, was ihm missfällt.276
Einen nur innerlichen Glauben gibt es nach Calvin nicht. Nur kurz trägt er die Argumente gegen das Messopfer und die Verehrung der Geschöpfe anstatt derjenigen Gottes vor. Ausführlich erörtert er das Ärgernisgeben gegenüber den Schwachen im Glauben. Dieses Argument scheint in Ferrara hauptsächlich gebraucht worden zu sein. Wie in der Institutio erklärt er, die Mahnung, dem Nächsten nicht Ärgernis zu geben, ziele nach Paulus (Röm 15,2) auf dessen Erbauung hin. Es gebe sehr wohl ein Ärgernis, das erregt werden müsse. Christus sei der Stein des Anstoßes (1. Petr 2,7). Das schlimmste Ärgernis sei, durch uns den Bruder zum Irrtum zu verführen. Die Mahnung betrifft offensichtlich auch die Herzogin. „Darum, Madame, bitte ich Sie, nicht zuzulassen, dass Euch unter der Bezeichnung Ärgernis jemand täuscht.“277 „Das Ärgernis bleibt bestehen, von dem Euer Prediger behauptet, dass es die Gewissen der Schwachen verwirrt.“278 Renata von Ferrara ist weiterhin bedrängt worden, zum katholischen Glauben zurückzukehren. Doch sie widerstand, während sie in allen diesen Jahren den Briefwechsel mit Calvin pflegte. Als sie im Jahr 1560 nach Frankreich zurückkehrte, wurde ihr Hof eine Zufluchtsstätte der Protestanten. Calvin hat sie gelobt und noch auf dem Sterbebett ihr geschrieben. Sie starb im Jahr 1575 und hat noch die Bartholomäusnacht in Paris miterlebt.279 3. Die „Zwei Mahnschreiben“ an Du Chemin und Roussel Die Epistolae duae Calvins gehören noch in die vorgenfer Zeit, wenn auch das Vorwort an die Leser vom 2. Januar 1537 datiert, denn sie sind während seines Aufenthalts in Ferrara verfasst. Nicolas des Gallas, Pfarrer in Genf, 276 COR VI. I, 227, Z. 186–191. 277 COR VI. I, 229, Z. 220f. 278 COR VI. I, 228, Z. 196f. „Wenn das wahr ist, was ich höre, dass Euer Prediger Euch glauben machen will, diese Angelegenheit sei von so geringer Bedeutung, dass die deutschen Kirchen von der Angelegenheit sich kein Gewissen machen, das ist, dass die einen den anderen, die Messe zu haben, zulassen und erlauben,“ so sei diese Meinung Richardots falsch. COR VI. I, 230, Z. 248–251. Die Herausgeber meinen, Richardot beziehe sich auf Melanchthons Concilium ad Gallos vom 1.August 1534. 279 Siehe Art. Renata von Navarra, RE3 16, 655–662.
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hat im Jahr 1552 „Ioannis Calvini opuscula“ veröffentlich, darunter auch die Epistolae duae. Er gibt im Vorwort die wichtigen Auskünfte: Als er später sah, dass viele, denen die Wahrheit Gottes bekannt war, sich nichtsdestoweniger mit den frevlerischen heiligen Handlungen (sacra) der Gottlosen befleckten, und mehr deren Stellung und Lebensweise einnahmen, als dass sie nach den heiligen (Worten) Gottes lebten, da meinte er, sie müssten durch die Treiberstecken des Wortes angespornt und privat wie öffentlich aufgescheucht werden. Eigentlich sollte das Anspornen sie nicht entehren und das göttliche Licht, das in ihren Seelen entzündet war, nicht auslöschen. Wie er das, was er oft privat anmahnte, auch öffentlich beteuerte, so veröffentlichte er die beiden Briefe, die er in dieser Sache in Italien an bestimmte Freunde geschrieben hat, damit alle verstünden, wie allzu verwünscht vor dem Angesicht Gottes das Verbrechen der Abgötterei sei. Damals sind schwere Klagen vieler Leute gehört worden, die sich so verletzt und aus ihrem Schlaf ärgerlich aufgeschreckt fanden, wie wenn Calvin gegen sie strenger und härter wäre.280
In seiner Vita Calvini nennt Beza die Namen der „Freunde“, Nicolaus Du Chemin aus Orléans und Gérard Roussel.281 War Calvin wirklich so streng in beiden Briefen? a. Das erste Mahnschreiben an Nikolaus Du Chemin Duchemin, damals Offizial der Diözese von Le Mans, hatte ihm geschrieben und seine Gefangenschaft gleich wie die Israels in Ägypten geschildert. Die Mönche und Priester praktizieren abstoßende Formen von Gottlosigkeit und im einfachen Volk finden sich tausende Arten von Aberglauben. Hinzu kommt, dass er in seiner kirchlichen Stellung Rücksicht nehmen musste. Calvin bringt die Sache auf den Punkt. Es gibt heute viele Leute, die von dem Reichtum Gottes einen Vorgeschmack bekommen haben, bei denen aber die Antwort des Bekennens ausbleibt. Er nennt sie nicht Glaubende, sondern sieht sie auf einer Vorstufe zum Glauben. Die Bekenntnispflicht kann er leicht aus dem neutestamentlichen Zeugnis belegen. Er sieht sich dann aber vor die praktische Frage gestellt, in welcher Situation bekannt werden muss. Müssen die Gläubigen auf die Strassen und Gassen gehen, um Gottes Wahrheit zu predigen? Müssen sie Tribünen besteigen? Müssen sie Versammlungen einberufen? Das keineswegs! Zum Dienst an seinem Wort beruft der Herr vielmehr in besonderer Weise, Apostel oder Propheten oder Boten oder wie immer man sie nennen mag, deren Stimme er in der Öffentlichkeit ertönen lassen will.
Damit hat Calvin ein weitreichendes Problem angeschnitten. Wo ist dann die Grenze des Redens und Schweigens im Privatleben? 280 CO 5, XI; CO 21, 60: escrites d’Italie, au voyage. 281 CO 21, 127.
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Calvin zieht eine erste Grenze, wenn er mit guten biblischen Gründen die Teilnahme am Bilderdienst und an der Messe samt deren Kommunion uneingeschränkt verbietet. Zweitens, wie ist es aber mit dem Essen des Götzenopferfleisches (1. Kor 10,14–21)? Die Menschen sind über das Fleisch auf dem Markt verschiedener Meinung. Also Rücksichtnehmen auf die Schwachen nehmen? Nein! Denn sie würden aus dem Essen den Schluss ziehen, den Götzen würde geopfert. Dritte Grenze, die sozialen Verpflichtungen. Wenn keine Rücksichtnahme geübt werden soll, dann müssen die Gläubigen also jede Verbindung mit den Ungläubigen meiden? Das auch nicht, denn dann müssten sie die Welt verlassen. Dann kämen keine bürgerlichen Verträge, kein Handel und am Ende überhaupt keinen Verkehr zwischen ihnen zustande. Calvin verdeutlicht seinen Rat am Problem des Fastens, das kirchliches und staatliches Gebot war. Da es den Glaubenden frei steht, kann man das Fleischessen an bestimmten Tagen auch lassen. Man kann auch ein frevelhaftes Gebot ohne Frevel befolgen, um den Schwachen entgegenzukommen. Dazu gehört auch der Zölibat. Die Glaubenden können also sehr wohl Rücksicht nehmen. Wenn Calvin sagt, Du Chemin soll bei ihm in die Schule gehen, dann hält er das Thema noch nicht für erschöpft. Später wird er die Antwort auf Begräbnisse und Hochzeiten ausdehnen. Calvin ist nicht rigide, es sei denn in der Frage des Bilderdienstes und der Messe. Er kann Du Chemin auch zur Besonnenheit raten. „Wenn du dich nicht bereit findest, jedermann den Grund deines Glaubens darzulegen, dann gib ihrem Eigensinn insoweit nach, dass du dich nicht gerade zur Zeit ihrer rituellen Handlungen (sacra) in ihrer Mitte aufhältst, als wolltest du deine Verachtung ohne Grund zur Schau stellen.“ An eine uneingeschränkte Bekenntnispflicht des Einzelnen denkt er nicht. Andererseits verhehlt er nicht, dass Du Chemin durch sein Bekenntnis in Lebensgefahr gerät. Ja, am Schluss erinnert er an die unüberwindlichen Märtyrer in der Geschichte der Kirche. b. Das zweite Mahnschreiben an Gérard Roussel Während über den Adressaten des ersten Schreibens, Du Chemin, wenig bekannt ist, aber die Situation eines Evangelischen in katholischer Umgebung bei ihm sehr lebendig wird, ist es bei dem zweiten Schreiben umgekehrt. Gérard Roussel war, wie erwähnt, durch seine Fastenpredigten in den Jahren 1533 und 1534 in Paris stadtbekannt. Aber die Situation eines katholischen Bischofs, der mit dem neutestamentlichen Verkündigungsauftrag konfrontiert wird, wird nicht in gleichem Maße lebendig vor Augen geführt wie die eines angefochtenen Protestanten. Das Leben der Bischöfe ist auch Calvin nur aus der Ferne bekannt. Wie stand Roussel zur Reformation? Latomus schildert ihn Melanchthon als einen gelehrten Mann. Als der König 1525 in Gefangenschaft geriet und seine Schwester Margarete von
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Navarra ihn nicht schützen konnte, floh er im nächsten Jahr mit Faber Stapulensis nach Straßburg. Er konnte nach des Königs Freilassung nach Frankreich zurückkehren und wurde Beichtvater der Margarete. Als solcher hielt er – der König war abwesend – unter gewaltigem Zulauf die Fastenpredigten in Paris. Er gehörte zu dem Kreis von Meaux,. wo er Domprediger war und das Evangelium verkündete. Wie erwähnt, verbot Bischof Briçonnet im Jahr 1523 alle Angriffe auf katholische Zeremonien. Roussel scheint sich nicht daran gehalten zu haben, denn am 13. Dezember 1524 entzog der Bischof ihm das Recht zu predigen. Doch zur gleichen Zeit lehnte er die Aufforderung Farels ab, sich gegen die katholische Kirche zu stellen. Zu einer Disputation mit der Sorbonne fühle er sich zu schwach.282 Er war deutlich noch Fabrist, der mit der Evangeliumsverkündigung einen nur innerlichen Glauben verband. Über den Inhalt seiner Fastenpredigten in Paris ist nur wenig bekannt. Der Bericht des Florent Wilson an (Cromwell) sei daher nochmals wiederholt: Beda und andere Theologen nennen drei Sätze aus der Fastenpredigt Roussels, aus denen er ein „Gebäude der Häresie“ errichtet habe. [1.] ‚Den Reinen sei alles rein‘ [Tit 1,15] und daher sei die Auswahl der Speisen abergläubig. [2.] Gleich wie eine Magd, die das Brot ihrer Herrin mit unreinen Händen berührt, den Unwillen der Herrin erregt, so beleidigen wir Gott, wenn wir, was immer wir tun, ohne Glauben und ohne reines Gewissen tun. [3.] Gleich wie es einer Ehefrau nicht erlaubt ist, das Testament des Ehemanns zu ändern, Zusätze oder Weglassungen vorzunehmen, oder es durch irgendeine Erklärung oder Glosse zu interpretieren, so ist es auch der Kirche nicht erlaubt, die heilige Schrift nach ihrem Gutdünken umzugestalten und neu zu gestalten.
Nun ist zu beachten, was Roussel wirklich gesagt hat und was Beda und seine Gefährten hinzufügen. Seine Sätze haben die Sorbonnisten lateinisch wiedergegeben (hier kursiv gesetzt). Demnach stammt der Zusatz zum ersten Satz nicht von ihm. Er hat also das Fasten nicht „abergläubig“ genannt. Als guter Fabrist hat er es unangetastet gelassen. Beda und seine Gefährten ziehen vielmehr ihrerseits diesen für sie naheliegenden Schluss. Demnach hat Roussel den Zuhörern gesagt, sie müssten sich reinigen. Im zweiten Satz erläutert er es mit einem Gleichnis: Was ohne Glauben und reinem Gewissen geschieht, beleidigt Gott. Im dritten Satz hat Roussel offenbar auf die zahlreichen Fastengebote in der Bibel hingewiesen. Die kirchlichen Zusätze (Fastentage usw.) seien nicht bindend. Demnach hat Roussel gegen Äußerlichkeiten beim Fasten gepredigt und betont, es komme auf das reine Herz an, das heißt, auf den Glauben. Es ist verständlich, 282 RE3 17, 178f.
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dass das Volk von Paris aufhorchte und zusammenströmte. Dieser Einstellung sieht sich Calvin konfrontiert, wenn er im Jahr 1536 an Roussel schreibt. Direkter Anlass des Schreibens ist aber, dass Roussel am 4. Februar 1536 zum Bischof von Oloron (Basses– Pyrénées) ernannt wurde. Deshalb lautet die Überschrift „Von der Pflicht des Christen im Priestertum der Papstkirche, wie dieses ausgeübt und wann es niedergelegt werden muss“. Demgemäß zerfällt das Mahnschreiben in zwei Teile. Der erste ist freundlich und einladend abgefasst, der zweite ist hart und scharf im Ton. Das Schreiben beginnt: „Johannes Calvin grüsst seinen alten (ehemaligen) Freund, der jetzt Prälat ist“. Er schildert, wie die meisten Bischöfe von Schmeicheleien, Reichtum, einem eleganten Haushalt und zahlreichen Dienern umgeben sind. Die Symbole der bischöflichen Würde (Mitra, Krummstab, Mantel, Ring usw.) machen sie blind für die Wahrheit. Die Bibel aber spricht vom „Dienst“ und vom Schuldnersein für andere (Kol 4, 17). Calvin entfaltet nun das biblische Zeugnis vom Dienst der Wächter, Aufseher, Haushalter und Statthalter. Es ist der Dienst der Wortverkündigung. So hat auch der Bischof die Schafe zu weiden und die Wölfe zu vertreiben. Die Größe der Aufgabe müsste eigentlich bei Roussel alle Schläfrigkeit vertreiben. Im zweiten Teil schlägt der Ton dann um, wenn vom Verschulden der Bischöfe die Sprache ist. „Nur ungern und mit Scheu betone ich so hartnäckig deine Vergehen. Ich scheine mehr eine Anklage zu erheben, denn als Warner aufzutreten.“ Was Bischöfe den Menschen schuldig bleiben, ist so gewaltig, dass Calvin ausrufen kann: Zur Posaune, Wächter! Zu den Waffen, Hirte! Was zögerst du? Was bleibst du träge? Was schläfst du? Solange du den Geist von äusserlichen und nicht zur Sache gehörenden Sorgen fortreissen lässt, bemerkst du die hierher gehörenden nicht, und alles geht gänzlich zugrunde. Du Unglückseliger! Für so viele Tote bist du dem Herrn verantwortlich. Du bist ein vielfältiger Mörder, du bist vielfältig des Blutes schuldig, Der Herr wird jeden Blutstropfen von deiner Hand zurückfordern. Und du bleibst unerschrocken bei solch einem Donnerschlag?
Schlimmer als alles andere sei das Verbrechen, Christus noch einmal zu kreuzigen, und die Gemeinde, für die Christus gekreuzigt ist, dem Verderben preiszugeben. Calvin zählt weiter auf, das Klammern an die Heiligen, die Verdienstlichkeit der Werke, Menschensatzungen über das Gotteswort zu stellen, den Götzendienst beim Beten und niemand aus dem Aberglauben herauszureissen. Roussel soll daher das Bischofsamt niederlegen und sich aus dem Morast befreien. Erfolg hatte Calvin mit seinem Mahnschreiben an den früheren Freund nicht. Der Kampf gegen den Fabrismus beschäftigt ihn nun schon zum wiederholten Male.
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TEIL III Der erste Genfer Aufenthalt 1536 bis 1538
Kapitel 13: Die Einführung der Reformation in Genf 1. Die Eroberung des Wattlandes durch Bern 1536 In Genf gab es seit dem Anfang der Dreissigerjahre eine reformatorische Bewegung, die mehr und mehr in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat. F.L. KAMPSCHULTE nennt als Zensur den Anschlag evangelischer Ablassplakate an Stelle der päpstlichen Ablassankündigung am 9. Juni 1532. Diese verkündigten den vollkommenen Ablass unter der einzigen Bedingung der Reue und des Glaubens an die Verheißung Christi.1 Doch entscheidend für den Durchbruch der Reformation in der Stadt waren politische Ereignisse. Das Wattland (als Sammelbezeichnung für Pays de Vaud, pays de Gex und Chablais) gehörte seit langem zu dem benachbarten Herzogtum Savoyen. Das an der Grenze zum Herzogtum gelegene Genf war daher ganz von savoyischem Gebiet umgeben. Das hatte zur Folge, dass die Stadt seit dem Mittelalter von Savoyen bedroht war. Nun war Genf wie auch die Stadt Lausanne, am anderen Ende des Sees, eine Bischofstadt. Der Bischof galt als der eigentliche Beherrscher Genfs. Das schloss nicht aus, dass die Stadt eine sehr selbstbewusste Bürgerschaft hatte, die zwar in Parteien gespalten war, aber doch viele Rechte besaß. Nun waren bereits bei dieser Machtkonstellation dauernde Streitigkeiten zwischen Bischof und Bürgern zu erwarten, aber es kam hinzu, dass auch Savoyen eine feste Position in der Stadt innehatte. Es stellte und beauftragte einen Vizedomus (Vertreter des Bischofs), dem die niedere Gerichtsbarkeit in der Stadt unterstand. Damit nicht genug, geriet auch das Bischofsamt in Savoyens Hand. Zwar wurde der Bischof vom Domkapitel gewählte, aber mit der Hilfe Roms blieb die Wahl einfach unbeachtet und ein Angehöriger des Hauses Savoyen oder eine sonst von Turin abhängige Person wurde Bischof. Daher war Savoyens 1
Johann Calvin. Seine Kirche und sein Staat in Genf, Leipzig 1869, 108.
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Einfluss in der Stadt sehr groß. Doch dem Turiner Hof genügte diese Machtfülle nicht. Es versuchte wiederholt, Genf militärisch zu besetzen und Schutzherr der Stadt zu werden. Die Bedrohungen, Übergriffe, Rechtsbrüche und Hinrichtungen zu schildern, würde zu weit führen.2 Es genügt, zum Verständnis der späteren Situation Calvins in Genf die militärischen Aktionen vor Augen zu stellen. Der erste Angriff erfolgte im Jahr 1519. Als Herzog Karl III von Savoyen die Schutzherrschaft über Genf verlangte, wandten sich einer der Syndics (Bürgermeister) um Hilfe an die Schweizer Nachbarn. Die Kantone Fribourg und Bern hatten mit Solothurn einen Schutzvertrag (Burgrecht) abgeschlossen. Diesen wollte Fribourg nun auf Genf ausweiten. Doch Bern und Solothurn verweigerten den Abschluss. Auch spaltete sich die Genfer Bürgerschaft in zwei Parteien, in „Eidgenossen“ und in die von ihnen beschimpften „Mamelucken“ (die Christus verleugneten). Der Herzog besetzte nun die Stadt und zwang die Bürger, auf das Burgrecht (combourgeoisie) mit Fribourg zu verzichten. Erst ein Machtwort von Papst Leo X. befreite die Stadt. Im Herbst 1525 standen die Truppen Herzogs Karl III erneut vor der Stadt. Genf schien schutzlos zu sein. Da machten die Kantone Bern, Fribourg und Solothurn das Angebot, Genf ins Burgrecht aufzunehmen. Doch Genf wurde von Savoyen gezwungen abzulehnen. Des Herzogs Truppen besetzten am Jahresende die Stadt. Aber der politische Gegensatz zwischen Kaiser Karl V. und König Franz I. von Frankreich band Savoyens Truppen in Oberitalien. Herzog Karl III. verließ Genf. Die „Eidgenossen“ gewannen nun die Oberhand in der Stadt, und der Burgrechtsvertrag wurde abgeschlossen. Er wurde auch, wie vertraglich vorgesehen, nach fünf Jahren erneuert. Im Jahr 1528 lehnte der Rat den neuernannten savoyischen Vicedomus ab. Sein Amt übernahmen städtische Beamte, ebenso die Gerichtsbarkeit des Bischofs. Der Bischof selbst hatte im Jahr zuvor die Stadt verlassen. Die nächste militärische Aktion übernahmen im nächsten Jahr savoyische Adelige der Umgebung. Sie errichteten eine Proviant– und Wirtschaftssperre, die die Stadt empfindlich traf. Die Bürger liefen Gefahr, gefangen genommen zu werden, wenn sie die Stadt verließen. Erst im Jahr 1530 griff das Heer der Berner und Fribourger ein, zerstörte die Burgen der Adeligen und zog in Genf ein. Im Frieden von St. Julien musste Savoyen hohe Reparationskosten zahlen, aber auch Genf musste die Kriegskosten erstatten. Es wurde vertraglich gesichert, dass bei erneuten Übergriffen Savoyens die Sieger berechtigt waren, das Land „genant die Wat“ zu besetzen. 2
Johann Calvin, 5–86, bietet eine ausführliche und lebendige Darstellung.
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Die militärischen Aktionen der Jahre 1534 bis 1536 standen unter veränderten Vorzeichen. Bern hatte Anfang des Jahres 1528 die Reformation eingeführt, während Fribourg durch Bürgereid den katholischen Glauben in der Stadt sicherte. Die beiden Partner im Burgrecht gingen von nun an getrennte Wege und verfolgten entgegengesetzte Ziele. Schon im Jahr 1531, als das Burgrecht mit Genf erneuert wurde, verlangte Bern von dem Rat der Stadt, dass er die freie Predigt des Evangelium erlaube. Diese Formulierung konnte unverdächtig erscheinen, gemeint war aber die evangelische Predigt. In der Folge unterstützte Bern die reformatorische Bewegung in Genf und entsandte evangelische Prediger. Fribourg kündigte daraufhin 1532 den Burgrechtsvertrag mit Genf, endgültig dann 1534. Der Bischof, dem im August 1533 auch das Begnadigungsrecht aberkannt wurde, erkannte nun seinen schwindenden Einfluss in der Stadt und ging, von Fribourg unterstützt, zusammen mit Savoyen im Jahr 1534 militärisch gegen Genf vor. Nach Verhängung des Interdikts über Genf wurde die Stadt von ihren Truppen belagert. Der Rat hatte die Vorstädte (vor den Mauern) abreissen lassen und ließ, um Kanonen zu bekommen, Glocken einschmelzen und die Verteidigungsanlagen verstärken. Aber Bern zögerte einzugreifen, denn die sieben altgläubigen Kantone waren mit Savoyen verbündet. Es setzte daher zunächst auf Verhandlungen mit Turin. Doch Karl III sandte im Winter 1535/36 Söldner nach Genf. Nun rief Genf Bern um Hilfe an. Eine kleine Berner Truppe besiegte die savoyer Soldaten, kehrte aber dann nach Hause zurück. F.L. KAMPSCHULTE wird Recht haben, wenn er meint, angesichts der militärischen Not in Genf erwartete Bern die Anerkennung durch Genf als Schutzmacht. Dies hätte den Verlust der Selbständigkeit der Stadt bedeutet.3 Doch erwartete Bern wohl auch, dass Genf den neutralen Kurs in den Glaubensfragen aufgab. Da trat eine neue Macht auf den Plan. Der französische König bot sich Genf als Schutzmacht an. Es war oben schon deutlich geworden, dass Franz I. mit den Protestanten paktieren konnte, wenn es ihm politischen Nutzen brachte. Er untermauerte sein Angebot dadurch, dass er im Herbst 1535 mit einem Heer erschien. Doch die Genfer wollten wohl den Entsatz der Stadt, weigerten sich aber, die französischen Soldaten in die Stadt zu lassen. Diese wurden zudem von den Truppen des Herzogs in der Schlacht besiegt. Da wurde es Bern klar, dass es nicht in den Besitz Genfs kommen konnte. Es musste eingreifen, um einen politischen Gewinn zu erzielen und die Reformation durchzusetzen. Mitte Januar 1536 erfolgte die förmliche Kriegserklärung an den Herzog. Auch Fribourg beteiligte sich am Feldzug. 3 Johann Calvin, 190f. So auch MONTER, E.W., Calvin’s Geneva, New York 1967, 54f, und LOCHER, G.W., Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen/Zürich 1979, 566.
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Im Wattland leisteten die Savoyer keinen nennenswerten Widerstand. Am 2. Februar 1536 zogen die Berner Truppen in Genf ein. Die Forderung, Bern die Rechte des Vizedomus und des Bischofs zu übertragen, lehnte der Rat unerschrocken ab. Doch Bern versuchte nicht, seine Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Die Truppen kehrten am 1. März nach Hause zurück. Am 24. März musste Turin dem französischen Heer die Tore öffnen. Im Juli 1536 traf Calvin in Genf ein und begann dort für die Reformation zu wirken. Seine Wirksamkeit betraf, wie zu zeigen sein wird, unmittelbar den Friedensvertrag zwischen Bern und Genf, der am 7. August geschlossen wurde. Bern gab den Plan auf, Genf in Besitz zu nehmen. Doch musste die Stadt einige Bedingungen akzeptieren. Es durfte ohne Wissen Berns kein Bündnis oder Vertrag mit fremden Mächten abschließen. Die Stadt musste jederzeit den „Mitbürgern“ offenstehen. Es musste die Herrschaft Gaillard im Wattland abtreten, und die Güter der Verbannten auf Genfer Gebiet gehörten Bern. Dafür verzichtete Bern auf das Vicedomat und Bistum und erkannte die Unabhängigkeit Genfs an. Am selben Tag wurde das Burgrecht erneuert. Dieser geschichtliche Rückblick lässt erwarten, dass Bern versuchen wird, neuen und vermehrten Einfluss in Genf zu gewinnen. Farel, Calvin und der blinde Corault bekamen es zu spüren. 2. Calvins Eintreffen in Genf Sein Zusammenstoß dort mit Farel ist bekannt und berühmt. Calvin hat ihn später anschaulich geschildert. „Dass ich der Verfasser der Institutio war, habe ich anderswo stets verschwiegen und hatte vor, es auch weiterhin zu tun, bis ich in Genf, nicht nur durch Zureden und Mahnen, sondern durch eine furchtbare Beschwörung Wilhelm Farels festgehalten wurde, als ob Gott vom Himmel her gewaltsam seine Hand auf mich legte. Da mir der Krieg den direkten Weg nach Straßburg versperrt hatte, hatte ich vorgehabt, rasch durch Genf zu reisen und mich nicht länger als eine Nacht in der Stadt aufzuhalten. Nun war hier vor kurzem durch die Wirksamkeit des genannten vortrefflichen Mannes und Pierre Virets das Papsttum niedergeworfen worden, doch waren die Verhältnisse noch ungeordnet und die Stadt in schlimmer, gefährlicher Weise in Parteien gespalten. Ein Mann [du Tillet], der seitdem in schmählichem Abfall wieder ins papistische Lager zurückgekehrt ist, hatte gleich verraten, wer ich sei. Darauf bemühte sich Farel mit aller Kraft, wie er denn von einem unglaublichen Eifer zur Förderung des Evangeliums förmlich glühte, mich festzuhalten. Als er nun hörte, ich wolle mich stillen Privatstudien hingeben, und sah, dass er mit Bitten nichts ausrichtete, da ließ er sich zu der Verwünschung
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hinreissen, Gott möge meiner Ruhe seinen Fluch senden, wenn ich ihm in solcher Not nicht helfen wolle. Da erschrak ich und gab die begonnene Reise auf.“4 Der Bericht bedarf keiner Erläuterung; er spricht für sich. H. D. FORSTER, „Geneva Before Calvin“, gibt eine gute Karakteristik Genfs und seiner Bürger, wie Calvin sie im Juli 1536 vorfand.5 Es lohnt, sie zur Kenntnis zu nehmen. Die Genfer waren tatsächlich kein einfaches, sondern ein vielschichtiges, weltoffenes Volk. An der Kreuzung der Handelswege gelegen, entstand eine Mischung von Leuten französischer, deutscher und italienischer Abstammung und Eigenschaften; es gab eine große Gruppe Geistlicher von zweifelhafter Moral und sittlicher Kraft; und eine noch grössere Schar von Bürgern, viel klüger und weit energischer als diese und ausserordentlich unabhängig denkend, und leidenschaftlich dem Vergnügen ergeben. Genf hatte die Fehler und Torheiten einer mittelalterlichen wohlhabenden Stadt und war zu allen Zeiten und nach allen Richtungen ein Mittelpunkt; und es besass daher auch das fortschrittliche Vermögen einer ehrgeizigen, sich selbst regierenden und weltoffenen Gemeinschaft. Ihre schlechteste Seite war folgende: In ihrer Frühzeit waren die Genfer lärmend, aufrührerisch und revolutionär; geneigt zu Prozessionen und Mummenschanz (der nicht immer ehrbar und sicher verlief), zu Glücksspielen, Unmoral und liederlichen Gesängen und Tänzen; wahrscheinlich nicht übergewissenhaft bei wirtschaftlichen und politischen Geschäften; und sehr selbstanmassend und hartnäckig. Ihre beste Seite war: Sie waren ernsthafte, kluge und praktische Staatsmänner, arbeiteten langsam aber gewissenhaft, mit genauer Kenntnis der Politik und der menschlichen Natur; mit fähigen Führern, die bereit waren, Zeit und Geld für den allgemeinen Fortschritt zu opfern; mit einer ganz intelligenten, doch weniger scharfsinnigen Anhängerschaft. In der Diplomatie waren sie sowohl geschickt wie auch scharf auf ein Geschäft; und auch schnell dabei, einen Vorteil aus der Schwäche des Konkurrenten zu ziehen, wie auch klug und gewandt in Geschäften. Sie waren sparsam, wussten aber auch wohl Geld zu spenden. Sie waren schnell und begabt in der Kunst der Spitznamen für eine Partei. Schliesslich waren die Genfer leidenschaftlich der Freiheit ergeben, energisch und tüchtig darin bis zur Selbstaufopferung, um zu erlangen oder zurückzugewinnen, was ihrer Überzeugung nach ihr Recht war. An der gemeinsamen Grenze der Schweiz, Frankreichs, Deutschlands und Italiens gelegen, gehörten sie dem Temperament nach zu keinem dieser Länder; sieht man ab von ihren savoyischen Merkmalen, ihren Kriegen, Reformen und Zuzüglern, so erschufen sie mit der Zeit einen eigenen Typ, den Genfer.
Auch wenn diese Charakterisierung verallgemeinernd ist, bietet sie doch einen guten Einstieg in das Wesen der Stadt und ihrer Bewohner.
4 Vorrede zum Psalmenkommentar 1557, CO 31, 23f. 5 The American Historical Review 8, 1903, 239, Anm. 2; siehe WALKER, W., John Calvin. The Organiser of Reformed Protestantism 1509–1564, New York 1969, 163f.
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3. Der kirchliche Zustand in der Stadt Jetzt endlich muss auf die kirchliche Lage und damit auf Calvin eingegangen werden. Wilhelm Farel (1489–1565) war der Führer der evangelischen Bewegung in der Stadt. „Er hatte eine Stimme wie Stentor [der Krieger vor Troja}, eine einfache und kraftvolle Sprache, einen einschüchternden Mut. Die Menschen mochten seine Botschaft annehmen oder zurückweisen, Gleichgültigkeit ihm gegenüber war kaum möglich.“6 Mit einem Geleitbrief der Berner versehen, kam er im Oktober 1532 in die Stadt. Die Bevölkerung und Domherren wollten ihn in die Rhone werfen; er wurde ins Gesicht geschlagen. Am nächsten Tag floh er über den Genfer See. Ein Jahr später kam Farel wieder unter Berner Geleit nach Genf. Mit ihm betrat Pierre Viret (1511–1571) aus Orbe, einer der vier gemeinsamen Städte Fribourgs und Berns im Wattland, die Stadt. Er war ein guter Prediger, aber maßvoller als Farel. Am 1. März 1534 hielten sie Gottesdienst im Franziskanerkloster de Rive, das ihnen auf Drängen Berns überlassen worden war. Da der Bischof nun Gewalt anwandte, erklärte der Rat den Bischofsstuhl für vakant. Als es am 24. Oktober 1534 zum Bildersturm im Clarissenkloster Sainte Claire kam, erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt. Und als eine Frau Viret beinahe vergiftet hätte, wurde sie hingerichtet und der römische Klerus verdächtigt. Haller in Bern schätzte, dass zu der Zeit noch Zweidrittel der Bevölkerung dem Bischofs und Savoyen anhingen.7 Bei den Wahlen der Bürgermeister im Frühjahr 1535 errangen die Protestanten einen Sieg. Damit war die Entscheidung gefallen. Am 2. April wurden Farel und Viret als Prädikanten des Klosters de Rive eingesetzt. Zwei Tage später, Ostern, feierten 400 Gläubige dort das Abendmahl. Der Vorsteher Bernard war zur Reformation übergetreten und verlangte eine Disputation über fünf von ihm verfasste Thesen. Die Entscheidung über die Konfession einer Stadt durch eine Disputation war nach Luthers Leipziger Disputation 1519 ein gängiges Mittel geworden, mit dem die Evangelischen ihrer Partei in den Städten zum Sieg verhalfen. Die Obrigkeiten scheuten Disputationen, weil sie die Leiter zu bestimmen hatten und den Sieger benennen mussten. Dies war jedoch ein Eingriff in die geistlichen Rechte der Kirchen. Die katholischen Bischöfe verboten aus diesem Grund ihren Geistlichen die Teilnahme, so auch im Kloster de Rive. Zudem wurde die Bibel als Norm gesetzt und Tradition und Kirchenrecht ausgeschlossen. Unter diesen Umständen standen die Sieger von vorneherein fest. Die Disputation wurde am 30. Mai 1535 eröffnet. Es meldeten sich nur drei katholische Disputanten, unter ihnen Pierre Caroli, der anschließend konvertierte. Die 6 7
WALKER, W., John Calvin, 169. Im Brief vom 28. September 1534 an Bucer; HERMINJARD, A.L., Bd.3, 209.
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Thesen betrafen Rechtfertigung, Kirchenregiment nach dem Wort Gottes, alleinige Anbetung Gottes, Messopfer und Christus als einzigen Mittler.8 Der Rat schob die Entscheidung – sicherlich aus politischen Gründen – auf. Da nahm die Bürgerschaft die weitere Entwicklung in die Hand. Unter Tumulten führte sie Farel am 8. August auf die Kanzel von St. Peter, wo er das Evangelium predigte. Ein Bildersturm schloss sich an. Der Rat verfügte nun die „vorläufige“ Abschaffung der Messe. Allgemein verstand man das Verbot der Messe als den entscheidenden Schritt zur Einführung der Reformation.9 Das Domkapitel und die Nonnen von St. Claire verließen daraufhin die Stadt. Den Franziskanern und Dominikanern wurde am 5. Dezember befohlen, an der neuen Predigt teilzunehmen, oder die Stadt zu verlassen. Von den zwanzig Franziskanern, Hort der reformatorischen Bewegung, gingen nur sieben. Der Rat verwandte das anfallende Klostergut und kirchlichen Besitz zur Verbesserung der älteren Hospitäler. Im früheren Kloster der Clarissinnen fanden Kranke Zuflucht. Ein Asyl für Bettler wurde eingerichtet, denen Almosen zu geben verboten wurde. Wie erwähnt, schoben sich im Winter 1535/36 noch einmal die politischen Ereignisse in den Vordergrund. Genf wurde von Savoyen militärisch bedroht, Bern kam zu Hilfe und besetzte das Wattland für immer. Die Reformen konnten nun verstärkt fortgesetzt werden. Der Rat übernahm auch das Kirchenregiment in den zu Genf gehörenden Dörfern. Im April wurden evangelische Prediger dorthin entsandt. Auf Drängen Farels wurde die Messe dort verboten und den Einwohnern befohlen, die neu angeordneten Predigten zu besuchen. Die Priester der ländlichen Gemeinden wurden ermahnt und ihnen einen Monat Zeit gegeben, das Evangelium zu lesen und zu entscheiden, ob die evangelische Lehre in Genf die wahre Lehre sei. Dieses Vorgehen sollte offensichtlich eine Disputation ersetzen. Der Rat untersagte durch Plakate am 28. Februar 1536 Gotteslästerungen, profane Eide, Kartenspiel, und er regelte das Trinken berauschender Getränke usw. Hingegen enthielten andere Anordnungen nur eine Erneuerung der früheren bischöflichen Verordnungen. Glückspiele, Fluchen, Lästern, Tanzen, das Singen unzüchtiger Lieder und Maskeraden wurden verboten. Endlich am 21. Mai 1536 bestätigte die Volksversammlung die Einführung der Reformation. Der erste Syndic (Bürgermeister) verkündete „ihr Begehren, in dem heiligen evangelischen Gesetz und Wort Gottes zu leben, wie es uns gepredigt worden ist, und ihr Begehren, alle Messen, Bilder, 8 Reformierte Bekenntnisschriften Bd. 1/2, Neukirchen 2006. 6. 9 FORSTER, H.D., Geneva before Calvin (1387–1536). The Antecedents of a Puritan State, The American Historical Review, Vol. VIII, London 1903, 226ff, stellt die Ereignisse aus den Quellen dar.
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Götzenbilder und alles, was dazu führte, zu beseitigen.“ Im Juni verlangte der Rat die Anwesenheit während der Predigt unter Androhung von Strafe, und verbot die Feier der Feste an Wochentagen. Ein Bürger, der sein Kind von einem katholischen Priester taufen ließ, wurde aus der Stadt verbannt. Als im Juli Jean Balard, ein früherer Syndic, aus Gewissensgründen das Hören der neuen Predigt ablehnte, wurden ihm zehn Tage Zeit gegeben, einzulenken oder die Stadt zu verlassen. Als Calvin im Juli die Stadt betrat, war zwar die Entscheidung gefallen, doch die Reformen standen noch am Anfang und waren heftig umstritten. In der Abschiedsrede vor seinem Tod sagte er: „Als ich zuerst in diese Stadt kam, wurde zwar das Evangelium verkündigt, aber die Dinge waren in grösster Verwirrung.“10 Farel hatte allen Grund, den Verfasser der Institutio zum Bleiben zu veranlassen. Praxis und Lehre verlangten nach einer klaren Ausrichtung und bedurften dringend der Mithilfe. 4. Calvin als Lektor der Heiligen Schrift und Prediger Bevor Calvin nach Genf kam, gab es in der Stadt fünf Klöster, das der Benediktiner, der Dominikaner, der Franziskaner (de Rive), der Augustinereremiten und der Klarissen. Sie alle wurden aufgelöst und anderen Bestimmungen zugeführt. Das Kloster von St. Clair wurde, wie erwähnt, ein Hospital. Prägten zuvor etwa 300 Kleriker mit ihren Gewändern und Mönche mit ihren Kutten das Straßenbild, so zeigte schon ihr Verschwinden den sozialen Wandel in der Stadt an. In Wittenberg, Zürich oder Bern war dies nicht anders. Es gab vier Gemeindekirchen, die Kathedrale St. Peter, die zuvor Bischofssitz war, St. Germain, St. Madeleine und auf der anderen Seite der Rhone St. Gervais.11 Laut den „Artikeln“ (siehe unten) wurde Anfang 1537 nur in St. Peter, im Kloster de Rive und in St.Gervais gepredigt und das Abendmahl gefeiert. Statt der vielen Priester für die öffentlichen Messen und zahlreichen Seelenmessen benötigten die Stadtgemeinden nur wenige Pfarrer und Diakone. Genf war ganz augenfällig eine evangelische Stadt geworden. Calvins Wirkungsstätte wurde die Kathedrale St. Peter. Er wurde nicht sofort Pfarrer, sondern die Quellen stimmen darin überein, dass er zunächst Lektor der Heiligen Schrift war. Der Basler Drucker Oporinus schreibt am 25. März 1537 an ihn: „Ich höre, dass du unter großem Beifall und Nutzen 10 CO 21, 167. 11 Siehe die Karte bei MONTER, E.W., Calvin’s Geneva, 6. FELD, J H., Jeanne de Jussie. Kleine Chronik, Bericht einer Nonne über die Anfänge der Reformation in Genf, Mainz 1996, 12, Anm.48 (VIEG Beiheft 40), nennt sieben Pfarreien.
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Vorlesung über die Briefe des Paulus hältst.“12 Doch kann er dieses Amt nicht lange Zeit ausgeübt haben. Denn seinem Freund François Daniel berichtet er am 13. Oktober (1536) nun weit zurückhaltender: “Ich wurde in Genf einige Tage von den Brüdern festgehalten, die mir das Versprechen, wieder dorthin zu kommen, abpressten. Dann begleitete ich meinen Verwandten d’Artois nach Basel und berührte auf der Reise viele Gemeinden, die mich baten, einige Zeit bei ihnen zu bleiben.“13 Wahrscheinlich war die Hilfe für die Verfolgten in Frankreich der Anlass der Reise. Die Anfragen an Calvin zeigen, wie groß der Predigermangel im Wattland nach dem Umschwung war. Mitte oder Ende August kehrte er nach Genf zurück14 und nahm nun seine Tätigkeit auf. Am 5. September 1536, sofort nach Calvins Rückkehr, macht Farel dem Kleinen Rat Mitteilung von seinem Wirken in St.Peter. Das Protokoll verzeichnet bloß: „Magister Wilhelm Farel erläutert, wie notwendig jene Vorlesung sei, mit der jener Franzose (ille gallus) in St. Peter begonnen hat. Deswegen bittet er, man solle zusehen, dass derselbe zum Bleiben bewegt werde und seinen Unterhalt finde. Darüber ist von ihm (dem Rat) beschlossen worden, man begehre, ihn zu unterhalten. „Doch wurde der Beschluss nicht ausgeführt. Erst am 13. Februar 1537 steht im Protokoll – man kennt jetzt den Namen Calvins: „Jetzt ist die Rede davon, dass Calvin noch nichts bekommen hat, und wird beschlossen, dass man ihm sechs Goldtaler auszahle.“15 Farel ist deutlich um Calvin besorgt, auch ist er sich seines Bleibens nicht sicher. Er kann den Rat von der Notwendigkeit der Vorlesungen in St. Peter überzeugen, auch wenn konkrete Schritte zunächst unterblieben. Wann wurde Calvin zum Prediger gewählt? Er selbst fügt seinem oben zitierten Selbstzeugnis von 1557 die Bemerkung hinzu: Er habe seine Reisepläne aufgegeben, „jedoch, im Blick auf meine Menschenscheu und Schüchternheit, ohne mich zur Übernahme eines bestimmten Amtes zu verpflichten.“ Er traute sich offensichtlich das Pfarramt nicht zu. Bezas Bericht ist zuverlässig. „Calvin wurde nicht nur zum Prediger erwählt (dies zu werden hatte er zuerst abgelehnt), sondern war auch zum Lehrer der Heiligen Schrift ernannt worden – das einzige Amt, das er anzunehmen bereit war. Dies geschah im August 1536.“16 Das Lektorat entsprach seiner Begabung, wie die Abfassung der Institutio beweist. 12 COR VI. 1, 188, Z. 27f (Nr. 35). 13 COR VI. 1, 135, Z. 4–7 (Nr. 26). 14 Die Annahme, er sei am 4. oder 5. September zurückgekehrt, COR VI, 1, 135, Anm. 8, beruht auf der falschen Annahme, er habe am 4. September 1536 aus Noyon an Bucer geschrieben, COR VI. 1 Nr. 25. Er war am 23. 8. 1533 in Noyon und nahm an der Bittprozession teil. 15 CO 21, 204 und 208. 16 CO 21,126. Beza korrigiert Colladons Bericht (Vita II), der als Datum den Monat September nennt und Lektoren- und Predigtamt zusammenfasst; CO 21, 58f.
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Wann er zum Prediger gewählt wurde, ist nicht genau auszumachen. Capito in Straßburg spricht im Schreiben vom 1. Dezember 1536 Calvin noch als den an, „der die Heilige Schrift und Christus lehrt“.17 Eine klare Bezeichnung als Prediger fehlt. Aber das Ratsprotokoll vom 16. Januar 1537 gibt an, „Farel und die anderen Prediger“ hätten „Artikel“ (die Confession de la foy) übergeben.18 Man wird davon ausgehen müssen, dass bis zum Spätherbst 1536 in Genf im Blick auf die Ämterverteilung ein Wildwuchs geherrscht hat. Wichtig war bis dahin nur, dass von den Kanzeln das Evangelium gepredigt wurde. Dann musste die Kirche auch in dieser Hinsicht geordnet werden. Die Confession de la foy wehrt im Artikel 20 fremde Prediger ab. „Hirten der Kirche“ seien nur „die treuen Diener am Wort Gottes“. Der minister verbi divini versieht im Bekenntnis ein geordnetes Amt. 5. Die Artikel zur Ordnung der Kirche und des Gottesdienstes 1537 Die Neuordnung der Genfer Kirche erfolgte durch zwei Schriften, die Artikel und das Glaubensbekenntnis, beide 1536/37 verfasst und vom Rat angenommen. An den Artikeln ist Calvin beteiligt, das Bekenntnis stammt nach überwiegender Meinung von Farel. Dem Rat vorgetragen wurden sie von den Pfarrern gemeinsam. Den Artikeln ist im Titel hinzugesetzt „vorgelegt dem Rat durch die Prediger“. Bisher wurde immer nur allgemein vom Rat der Stadt gesprochen. Da nun Calvin in der Stadt ist, ist es an der Zeit, die Ratsstruktur Genfs zu erläutern. Die Administrative in der Stadt bildete der Kleine Rat, der in der Regel dreimal wöchentlich zusammentrat. Er hatte 25 Mitglieder; aus denen die vier Bürgermeister (Syndics) gewählt wurden. Unter dem Kleinen Rat stand der Rat der Zweihundert, der einmal im Monat tagte, und aus dem jährlich im Februar der Kleine Rat gewählt wurde. Eine Zwischeninstanz war der Rat der Sechzig. Unter den Räten stand die Bürgerversammlung, die zweimal im Jahr zusammentrat und zwar im November, um den obersten Richter und im Januar um die vier Bürgermeister zu wählen. Die beiden letztgenannten Gremien hatten zumeist legislative Aufgaben. Man könnte das Ratssystem demokratisch nennen, wenn ihm nicht ein aristokratischer Zug zueigen wäre. Denn zu Bürgermeistern (syndics) und in den Kleinen Rat konnten nur Altbürger (citoyens) gewählt werden. In den Rat der Zweihundert und der Sechzig waren Neubürger (bourgeois) zugelassen, während die Einwohner (inhabitants) diese Rechte nicht besaßen. Man 17 18
COR VI. 1, 150, Z. 11f. CO 21, 206.
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könnte das System eine Zunftdemokratie nennen. Die Kaufleute und Handwerker besaßen großen Einfluss in der Stadt. Andererseits konnten durch die jährlichen Wahlen leicht eine andere Partei an die Macht kommen. Der Umschwung zu einer evangelischen Stadt war auf diese Weise 1535 zustande gekommen. Doch hatte vorher eine lange Zeit eine zögernde Mehrheit die Macht inne. Es war auf diese Weise leicht auch ein Rückschlag zum Katholizismus möglich – die französische Grenze lag nahe und Frankreichs Begehrlichkeit bestand weiterhin. Um diese Möglichkeit auszuschließen, und Genf zu einer evangelische Stadt zu machen, legten die Prediger dem Rat am 10. November 1536 zwei weitreichende Verordnungen zum Beschluss vor, die „Artikel betreffend die Ordnung der Kirche und Gottesdienstes in Genf“ und ein Glaubensbekenntnis (Confession de la foy), das die Bürger und Einwohner beeiden sollten. Es sind die beiden entscheidenden Dokumente für die Durchführung der Reformation in Genf. Ihre Durchsetzung scheiterte, und da Farel und Calvin ihr Geschick mit ihnen verbunden hatten, mussten sie Genf verlassen. Worin bestand ihre Besonderheit? Schon wenige Tage nach der Verkündigung der Reformation am 15. Mai 1536 beschloss der Rat, es sollten Artikel ausgearbeitet werden zur Vereinheitlich der anstehenden Neuerungen. Die päpstliche Ordnung musste abgeschafft und die evangelischen Reformen verbindlich gemacht werden. Der Beschluss datiert noch vor Calvins Eintreffen. Erst am 9. November sind die Artikel fertig. Die Eintragung im Protokoll des Kleinen Rats lautet: Herr Wilhelm Farel legte Artikel über die Verwaltung der Kirche vor, die verlesen wurden und von denen festgestellt wurde, dass sie redlich befolgt werden sollen, und dass die Bilder, die an bestimmten Orten entdeckt worden sind, beseitigt werden sollen. Und es ist vorgesehen, dass über die genannten Artikel noch in den regelmässigen Ratsversammlungen weiter gesprochen werden soll.19
Die Artikel behandeln zuerst die Abendmahlspraxis. Ein neuer Gedanke erscheint, der sich in der Erstausgabe der Institutio nicht findet. Es ist die Heiligkeit des Abendmahls. Der Begriff erscheint gleich im ersten Satz. Nun hatte Calvin in Basel bei der Abfassung der Institutio die Reform der Gemeinde nicht zu betreiben. Erst als Pfarrer in Genf trug er die Verantwortung für die Praxis. Er und Farel nahmen sie bewusst wahr. Fast feierlich heißt es in den Artikeln: Nach der öffentlichen Entscheidung für die Reformation „schien es uns gut und nützlich zu sein, die diesbezüglichen Dinge miteinander zu besprechen. So haben wir uns bei dieser Frage nach der rechten Ordnung durch das Wort des Herrn beraten lassen, haben seinen Namen angerufen und die Hilfe seines Geistes gesucht.“ 19
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Das Ergebnis bestand in der Erkenntnis, dass die Heiligkeit des Abendmahls gewahrt werden müsse. Das wichtigste ist, dass das heilige Abendmahl nicht beschmutzt und verunreinigt wird. Darauf muss mit grösster Sorgfalt geachtet werden. […] Eine solche Verunreinigung geschieht nun aber, wenn Leute kommen, um daran teilzunehmen, die sich selbst durch ihr schlechtes und ungerechtes Leben öffentlich als solche zu erkennen geben, die keinesfalls zu Jesus gehören. Durch eine derartige Entweihung seines Sakraments wird unser Herr nämlich auf schlimme Weise seiner Ehre beraubt.
An den Rat gerichtet lautet die Forderung: „Wer also die Macht hat, diese Ordnung durchzusetzen, muss dafür sorgen, dass alle, die zum Abendmahl kommen, anerkannte Glieder Jesu Christi sind.“ Das Ziel scheint hochgesteckt zu sein, ist es jedoch nicht, weil zuvor erklärt wäre, dass nur öffentliche Übeltäter ausgeschlossen seien. Die Exkommunikation wird sodann breit biblisch belegt. Die praktische Durchführung soll Ältesten und den Pfarrern übertragen werden. Doch es fällt der Begriff Älteste, wie genau zu beachten ist, noch nicht. Farel und Calvin fordern vom Rat, er möge „einige Personen von guter Lebensführung und gutem Leumund aus den Gläubigen auswählen, die standfest und unbestechlich sind.“ Sie sollen über alle Stadtquartiere verteilt sein und Leben und Betragen aller Leute beobachten. Bei schweren Fehlern sollen die Pfarrer sie brüderlich ermahnen, sich zu bessern. Hilft dies nicht, soll man sie der Gemeinde bekannt machten. Hilft auch dies nicht, sollen sie exkommuniziert werden, das heißt, sie werden „aus der Gemeinschaft der Christen“ ausgeschlossen, bis sie zur Besinnung kommen. Wer entscheidet aber über die Exkommunikation? Die Gemeinde? Oder die Pfarrer? Oder die ausgewählten Personen? Die Artikel enthalten in diesem Punkt eine folgenschwere Lücke. Wohlgemerkt, der Rat wird nicht eingeschaltet, und das bürgerliche Leben ist nicht betroffen. In den Glaubensartikeln heißt es, die betroffenen Personen sollen nach mehreren Ermahnungen bei der Justiz angezeigt werden, die als Höchstmaß die Verbannung aus der Stadt verfügen kann. Aber dies betrifft die Verweigerung des Bürger– und Treueids auf die Stadt. Geistliche und bürgerliche Rechte sind miteinander verbunden. Noch sind Christen– und Bürgergemeinde in Genf nicht unterschieden. Nach Calvins Rückkehr nach Genf im Jahr 1541 wird dies geändert. Der Rat scheint die Personen für die Beaufsichtigung nicht ausgewählt zu haben, obwohl der Antrag leicht durchzuführen gewesen wäre, wie noch zu zeigen sein wird. Es wird ihnen lediglich die Hinführung der Bürger zur Eidesleistung übertragen. Auch die geforderte Neuordnung des Eherechts war eine langwierige Aufgabe. Das Ehegericht wurde überall in den evan-
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gelischen Territorien dem Bischof genommen und auf den Rat übertragen. Grundsätzlich sind die Artikeln jedoch vom Rat angenommen worden, ohne dass größere Schwierigkeiten bei den Beratungen aufgetreten sind. Am 15. und 16. Januar 1537 besagt das Protokoll des Kleinen Rates: Es wurde besprochen und die Artikel verlesen, die Herr Wilhelm Farel und die anderen Prediger vorgelegt haben. Es wurde festgestellt, dass sie in den Rat der Zweihundert geschickt werden. Unsere Meinung ist die, dass das Abendmahl viermal im Jahr gefeiert wird, dass die Taufe alle Tage in der Gemeinde gehalten werden muss, dass die Eheschliessungen an drei Sonntagen angekündigt werden sollen und an allen Tagen in der Gemeinde vorgenommen werden.
„Die übrigen Artikel hat man so hingehen lassen, nur dass dem Schriftstück hinzugefügt wird, dass man den Hebammen zu taufen verbietet.“20 Die Artikel erhalten also durch den Rat wichtige Zusätze. Die Taufe erfährt sogar durch das Verbot der Hebammentaufe eine Aufwertung. Die Möglichkeit der täglichen Taufe vor der Gemeinde sichert ihre Heilsnotwendigkeit. Allerdings erhalten nur vollständig Geborene die Taufe. Jeder Art von Nottaufen ist ein Ende gesetzt. Im Einzelnen fällt auf, dass das Abendmahl eigentlich an jedem Sonntag gefeiert werden soll. Vorbild ist Apg 2,42 „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre; in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet.“ Aber wegen der Schwachheit des Volkes soll einmal im Monat abwechselnd in St. Peter, im Kloster de Rive und in St. Gervaise, wo auch gepredigt wird, das Abendmahl gefeiert werden. Der Rat stimmt zu, dass in den Kirchen vierteiljährlich das Abendmahl ausgeteilt wird. Es soll weiterhin der Psalmengesang eingeführt werden. Die Begründung überrascht: „Die Gebete der Gläubigen sind bei unserer Art zu beten ja derart kalt, dass uns dies tief beschämen muss. Die Psalmen können uns dazu ermutigen, unsere Herzen zu Gott zu erheben.“ Das Lob des Namens Gottes werde durch sie gefördert. Farel und Calvin versprechen sich von der Verwendung der Psalmen im Gebet eine Belebung der Gebete. Dann gehen sie über zum Psalmengesang. „Hierbei scheint es uns gut, so vorzugehen, dass einige Kinder, denen man vorher ein schlichtes geistliches Lied auswendig beigebracht hat, mit lauter Stimme und deutlich vorsingen. Das Volk soll aber aufmerksam zuhören,“ bis es mitsingen kann. Nun ist zu beachten, dass es im Papsttum keinen Gemeindegesang gegeben hatte. Die singende Gemeinde ist eine reformatorische Neuerung. Um den Gemeindegesang einzuführen, wird offenbar bei den Jugendchören angeknüpft. Doch waren bis dahin nur lateinisch singende Schülerchöre bekannt. Französisch singende Chöre waren eine weitere Neuerung. Von ihnen sollen die Er20
Ebd.
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wachsenen die Lieder lernen. Es waren vertonte Psalmen. Welche Möglichkeiten boten sich Calvin und Farel, auf die sie zurückgreifen konnten? Zwar gab es genügend Psalmenübersetzungen in französischer Sprache. Es sei nur auf die Olivétanbibel von 1535 verwiesen Doch für die Psalmen in Versform kam nur ein einziger in Frage, nämlich Clément Marots (1497– 1544). Es lohnt sich, einen Augenblick bei ihm zu verweilen, denn sein Schicksal ähnelt dem Calvins. Der begabte Mann kam mit zehn Jahren nach Paris und lernte Latein, Griechisch und Italienisch. Er hatte eine wunderbare Stimme, sang gut und spielte Spinett. Einige dem König Franz I. dedizierte Verse öffneten ihm den Zugang zu Margarete von Navarra, des Königs Schwester. Er kam in Paris offensichtlich in humanistische, kirchenkritische Kreise. Im Jahre 1521 machte er sich über die Fehler und schlechten Gewohnheiten der Mönche lustig und zog sich deren bleibende Feinschaft zu. Er wurde auf Betreiben der Sorbonne ins Gefängnis geworfen, kam aber auf Intervention des Erzbischofs von Chartes wieder frei. Im Jahr 1533, in dem Roussel und die Sorbonne in offenen Streit gerieten, gab er die Schrift „Der Spiegel der allerchristlichsten Prinzessin von Frankreich, Königin von Navarra, Herzogin von Alençon und Berry. Spiegel einer sündigen Seele.“ in zweiter Auflage heraus. Marot hat sich nicht der Reformation angeschlossen. Er hat die Gunst Franz I. in Paris weiterhin genossen. Die Schrift „Spiegel einer sündigen Seele“ ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil in ihm, von Marot verfasst, der Ps 6, das Vaterunser, das Ave Maria und das Credo abgedruckt standen, alle in Versform und also singbar. Farel und Calvin konnten also für den Gemeindegesang auf diesen Psalm und auch auf die 1536 fertiggestellten dreissig Psalmen21 zurückgreifen, woher auch immer sie die Texte erhielten. Calvin wird Marot 1536 in Ferrara getroffen haben. Doch von einem engeren Verhältnis ist nichts bekannt. Jener wird in Calvins Augen ein Nikodemit gewesen sein. Die Fachleute schätzen die Vorlage der Psalmen in Versform hoch ein; die Melodien konnten von anderen Liedern entliehen werden. Das Verhältnis von Versform und Melodie wird in Straßburg 1539 wieder als Problem auftauchen. Schließlich behandelt die Kirchenordnung die Unterweisung der Kinder. Um das Volk in der reinen Lehre zu erhalten, ist es drittens dringend erforderlich und gleichsam notwendig, die Kinder von klein auf so zu unterrichten, dass sie Rechenschaft über den Glauben ablegen können, damit die Lehre des Evangeliums nicht in Vergessenheit gerät, sondern ihr Inhalt sorgfältig bewahrt und von Hand zu Hand und vom Vater auf den Sohn weitergegeben wird.
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Siehe TERRY, R.R., Calvin’s First Psalter (1539), London 1932, IIIf (mit Fotokopie).
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6. Die 21 Glaubensartikel In den Artikeln wird der Antrag gestellt, „dass alle Einwohner eurer Stadt ein Bekenntnis ablegen und über ihren Glauben Rechenschaft geben sollen. Dann wird man wissen, wer dem Evangelium zustimmen und wer lieber zum Reich des Papstes als zum Reich Jesu Christi gehören will.“ Die Ratsherren sollen allen anderen vorangehen. Aus dem Titel des Glaubensbekenntnisses geht hervor, dass das Bekennen in Form eines Bürgereids erfolgen soll. Nun war der Bürgereid damals nichts Auffälliges. Er war beim Übergang zur Reformation auch in Bern und Basel und Fribourg geleistet worden. In Genf aber wurde er verweigert und führte zur Ausweisung Farels, Calvins und Coraulds aus der Stadt. Die 21 Glaubensartikel, die beeidet werden sollen, enthalten wenig Auffälliges. Im Vordergrund steht das Heil, wie die Bibel es lehrt. Die Abgrenzung gegen das Papsttum wird deutlich vollzogen. So schließt die alleinige Anbetung Gottes die Verehrung der Heiligen und der Bilder aus (Art.2). Es gibt nur zwei Sakramente, Taufe und Abendmahl (Art.14). Das Messopfer ist ein verdammter Götzendienst (Art.16). Menschliche Überlieferungen sind ungültig, wie Wallfahrten, Mönchstum, Fastengebote, Eheverbot und Beichten (Art.17). Die Kennzeichen der wahren Kirche werden nach Confessio Augustana 10 gelehrt (Art. 18). Der Kirchenbann ist nötig, damit die Verächter Gottes und seines Wortes die Guten nicht verderben; er soll zur Buße führen (Art. 20). Aufs Ganze gesehen, wird die übliche Abgrenzung gegen den Katholizismus vollzogen. Nach den erfolgreichen Wahlen im Frühjahr 1537 beschloss der Rat am 29. März, dass alle Zehner (Bezirkswarte) die Bewohner zur Eidesleistung führen sollen und niemand, sich aus der Stadt zu entfernen, ohne Erlaubnis gestattet sei. Die Durchführung ließ auf sich warten. Farel berichtet am 5. Mai an Capito in Strassburg: Wir, die wir hier lehren, waren im Begriff, den Gebrauch der Schlüssel einzuführen. Gemäss dem Gebot Christi sollen diejenigen ermahnt werden, die öffentlich der Kirche Ärgernis geben. Es sollen bewährte Männer gewählt werden, die mit den Pfarrern einmal und wiederholt sie ermahnen und, wenn sie nicht gehört werden, schliesslich durch die Versammlung für Heiden gehalten werden, unbeschadet der Befugnisse der Obrigkeit gegen alle, die in weltlichen Dingen nicht gehorchen.22
Am 29. Juli drängten die drei Pfarrer den Rat der Zweihundert erneut zum Handeln. Es fällt auf, dass laut Ratsprotokoll die Androhung der Exkommunikation hervorgehoben wird. „Die Prediger ermahnen inständig, dass die Exkommunikation und das Glaubensbekenntnis eingeführt werden, 22
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sobald die anderen Dinge gestattet worden sind.“ Der Rat beschließt darauf: „Dass man alle Zehner (Bezirkswarte) zusammenrufen und sie zunächst über ihr Bekenntnis ausfragen, und ob sie dem öffentlichen Bekenntnis entsprechend leben wollen. Und die diesen Anforderungen nicht genügen, sollen enthoben und durch andere ersetzt werden. Dann soll ihnen die Sorge für die Bewohner ihrer Zehntschaft (Bezirke) übertragen werden, und sie sollen die, die nach ihrer Beobachtung nicht nach Gottes Geboten leben, ermahnen und, falls sie sich nicht bessern, soll der Zehner gemeinsam mit zwei oder drei anderen sie nochmals ermahnen und ihnen androhen, dass sie im Falle, dass sie nicht züchtig leben, bei der Justiz angezeigt werden, und das Gericht soll gegen sie nach Lage des Falls vorgehen, bis zur Verbannung aus der Stadt. Was den Eid betrifft, so soll man Befehl geben, dass alle Zehner die Leute ihrer Zehntschaft bezirksweise zur Kirche St. Peter führen und ihnen dort, den Artikeln gemäß, das Bekenntnis zu Gott vorlesen und sie fragen, ob sie es halten wollen. Auch sollen sie den Treueeid ablegen auf die Stadt. Die Beauftragung der Zehner bezieht sich nur auf die Durchführung der Eidesleistung. Die Anlehnung an Mt 18,15–17 sticht hervor, aber auch der Unterschied zur dortigen Ordnung. Gleichfalls wird deutlich, dass in der Kirchenordnung von 1541 die Ältesten an die Stelle der Zehner treten. Exkurs: Die dizenniers Ein solcher Exkurs ist angebracht. E. PFISTERER urteilt, mit der Beauftragung der Bezirkswarte „machte es sich der Rat sehr bequem“.23 In Wirklichkeit knüpft er an die mittelalterliche Ordnung an. Die dizenniers sind die decani der Sendgerichte, die die jährlichen Visitationen der Bischöfe in den einzelnen Dörfern oder Stadtbezirken durchführen (siehe Art. Send, LThK 9,2). Sie üben die mittelalterliche Kirchenzucht aus. A. HOLZEM (Religion und Lebensreformen. Katholishe Konfessionalisierung im Landgericht des Fürstentums Münster 1570–1800, Münster 2000) hat den Verlauf der Sendgerichte im westlichen Münsterland in allen Einzelheiten geschildert, die angewandten Fragenkataloge abgedruckt und den religiösen und sittlichen Zustand dargestellt. Für die evangelischen Grafschaften hat W.H. NEUSER (Die Bildung der reformierten Gemeinden in Lippe im Spiegel der Kirchenvisitationen zu Beginn des 17. Jahrhunderts, JfWKG 101, 2006, 15–161) die Übernahme der mittelalterlichen Sendgerichte im Protestantismus und die Umwandlung der Dechen (decani) in reformierte Kirchenälteste (presbyteri) beschrieben. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass die mittelalterliche Kirche zwar eine Hierarchie geistlicher Ämter darstellte, dass sie aber auch ein 23
Calvins Wirken in Genf, Essen 1940, 89.
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Laienamt besaß, die decani, in Lippe Dechen genannt. Dass sie auch iurati (Eidgeschworene) hießen, besagt, dass in den Dörfern oder Stadtbezirken ein vertrauenswürdiger, zumeist zu den Wohlhabenden gehörender Mann bestimmt und durch Eid verpflichtet wurde, die Mitbewohner zu beobachten und auf den Sendtagen über sie öffentlich Auskunft zu geben. Das Amt war wenig beliebt, da es eine Bespitzelung der Mitbewohner verlangte. Der Send hieß lateinisch synodus. Für die Geistlichen gab es gesonderte bischöfliche Synoden (Visitationen). H. NAEF (Les origines de la Réforme à Genève. I. Genève 1968, 240, 248) erwähnt sie und auch E. DOUMERGUE (Jean Calvin. Les hommes et les choses de son temps, II. Lausanne 1902, 100f). Die Beschreibung passt auf die Zehner (dizenniers) in Genf, soviel von ihnen bekannt ist. E. PFISTERER berichtet, es habe 25 bis 28 Zehntschaften (dizenne) in Genf gegeben. Die Zehner erhalten vom Rat den Auftrag, ihre Zehntschaft zur Eidesleistung zu führen. Weitere Untersuchungen sind nötig. Auch die Weiterbildung des Amtes zu Presbytern ist bereits erkennbar. In den Artikeln zur Ordnung der Kirche übertragen die Prediger ihnen die Beaufsichtigung und Ermahnung der Kirchenmitglieder gemäß Mt 18. Aber die Prediger nennen diese „gewissen Personen“ nicht dizienne, sondern Beauftragte (deputez) und zwar Beauftragte des Rates (und nicht des Bischofs). Wenn diese „aus allen Stadtteilen“ genommen werden sollen, so wissen sie um die Tradition der Sendgerichte, stellen aber klar, dass das Bischofsregiment beendet ist und nun der Rat für die Durchführung der Kirchenzucht zu sorgen hat. Insgesamt ist festzustellen, dass bewusst an mittelalterliche Bräuche angeknüpft wird. Zwar ist die Bindung an ds Wort Gottes und die Ablehnung der menschlichen Lehren neu und durchbricht die bisherige Kirchlichkeit. Doch es wird in den Artikeln zur Ordnung der Kirche auf die frühere Übung der Exkommunikation, der Psalmengebete und sogar der Katechismen verwiesen. Die Anknüpfung an das mittelalterliche Amt der dizennier (decani) kommt hinzu. „Dizaines nennt man noch heute die Seelsorgebezirke der einzelnen Pfarrer.“ (J. CADIER, Calvin, Zolikon 1959, 96, Anm. 31)
Kapitel 14: Genfer „Catechismus seu Christianae religionis institutio“ 1. Katechismus und zugleich Institutio 1537/38 ? Der Titel des französischen und des lateinischen Katechismus von 1537 bzw. 1538 gibt Rätsel auf. Die „Instruction et Confession de la Foy dont on use en l’eglise de Geneve“ ist deutlich ein Sammeltitel. Denn der einzige
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erhaltene Druck enthält zwei verschiedene Schriften, erstens die Instruction […] dont on use en l’egise de Geneve, zweitens die Confession de la Foy. Er enthält also eine „Unterweisung“ und das schon bekannte Glaubensbekenntnis, bestimmt für den Treueid der Bürger. Das Letztgenannte hat eine eigene Titelseite: Confession de la foy, laquelle tous Bourgeois et habitans de Geneue et subietz du pays doyuent ivrer de garde et tenir, extraicte de L’instruction dont on use en Leglise de la dicte Ville.24 Man erfährt, dass das Glaubensbekenntnis eine Extrakt aus der Instruction ist, und beide in der Genfer Kirche im Gebrauch sind. Der lateinische Titel birgt das eigentliche Rätsel. Er lautet: Catechismus seu christianae Religionis Institutio ecclesiae Genevensis, vulgaris prius idiomate edita, nuncque postremo latinitate etiam donata, Ioanne Calvino autore. Die Instruction wird nun Katechismus genannt, aber zugleich auch Institutio christianae religionis. Es wird hinzugesetzt, dass es eine Übersetzung des zuvor edierten französischen Katechismus ist. Wie passen aber die Bezeichnungen Catechismus und Institutio christianae religionis zusammen? Die Institutio von 1536 war kein Katechismus und der Katechismus ähnelt weder der Institutio von 1536 noch der von 1539. Oder treffen doch beide Bezeichnungen zu? Der Katechismus ist zwar kein Kinderkatechismus, aber es ist deutlich belegt, dass er in Genf verwandt wurde. Er wird Vorlage des Glaubensbekenntnisses genannt. Auch ist die französische Form identisch mit der lateinischen. Als Katechismus weist ihn seine Form aus. Jeder Abschnitt trägt eine Überschrift und alle Abschnitte sind relativ kurz gehalten. Aneinander gereiht decken sie nicht nur die katechetischen Hauptstücke ab, sondern umfassen den Abriss einer Dogmatik. Man kann ihn einen anspruchsvollen Erwachsenenkatechismus nennen. Ohne Frage ist er zugleich eine Bearbeitung der Institutio von 1536. Es muss daran erinnert werden, dass auch die Institutio von 1536 von vielen Beobachtern ein Katechismus genannt wurde, ja, Calvin selbst, wie erwähnt, nennt sie so. Offensichtlich liegt ein anderer Begriff von Katechismus vor. Denn die Institutio ist viel zu umfangreich für einen Erwachsenen– oder gar Kinderkatechismus im heutigen Sinn. Katechismus wurde offensichtlich in der Frühzeit der Reformation jede Auslegung des Dekalogs, Credos, Unservaters und der Einsetzungsworte der Sakramente genannt, wie umfangreich auch immer die Erklärungen waren. Das heißt, terminus technicus im heutigen Sinn war der Begriff Katechismus nicht. Das trifft auch für den Genfer Katechismus von 1537/38 zu.
24 CO 9, 693, auch LIII. Die selbständige Titelseite fehlt in der Bibliotheca Calviniana I, 45 (37/2).
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Nun schreiben in den Artikeln zur Ordnung der Kirche die Genfer Pfarrer: „Der dritte [vierte] Artikel behandelt die Unterweisung (Instruction) der Kinder, die der Kirche zweifellos ein Bekenntnis ihres Glaubens schulden. Aus diesem Grund besaß man früher einen festen Katechismus, um jeden in den Grundlagen des christlichen Glaubens zu unterrichten. Es war dies eine Art Zeugenaussage, mit der jeder sein Christsein bekannte. Besonders die Kinder wurden mit diesem Katechismus unterrichtet, um dann der Kirche ihren Glauben zu bekennen, den sie ja bei der Taufe nicht bezeugen konnten.“ „Dazu schlagen wir vor, dass man eine kurze und leichtverständliche Zusammenfassung des christlichen Glaubens habe, die alle Kinder lernen“ (usw.) A. ZILLENBILLER, die beide Formen vorbildlich ediert hat, merkt die Unstimmigkeit und schlägt als Ausweg vor: „Auch während er sein kleines Buch für den Unterricht der Genfer Kinder verfasst, experimentiert Calvin mit der Struktur der Institutio und entwickelt die Gedankenführung weiter.“25 Dem muss genauer nachgegangen werden. 2. Das Leitmotiv Cognitio Dei et nostri Calvin hat nun zwei schwerwiegende Fehler in den Prolegomena der Institutio von 1536 beseitigt. Zum einen die Darstellung der cognitio nostri (et Dei) an Hand der Heilsgeschichte. Der Übergang vom alttestamentlichen Gesetz zur Gnade in Christus erfolgt dort stufenlos und der kognitive Vollzug neigt zu einer synergistischen Begrifflichkeit. Sie entfällt, weil Gesetz und Gnade schärfer unterschieden werden. Zweitens werden die vier Gottesbegriffe und ihre Erkenntnis nicht mehr vor dem Sündenfall behandelt. Die natürliche Gotteserkenntnis aller Menschen ist nicht mehr Ausgangspunkt der Überlegungen. Da nun die vorgezogene Betrachtung Gottes bzw. seiner Erkenntnis und die anschließende Erklärung der Erkenntnis unserer selbst mittels der Heilsgeschichte entfällt, streicht Calvin auch den einprägsamen Eingangssatz von der Erkenntnis Gottes und unserer selbst als Summe der Lehre. Er wird ihn in der Institutio von 1539 wieder zurückholen. Statt dessen setzt er Untertitel, die den Gedankengang griffiger machen als in der Institutio 1536. Was lehrt Calvin statt dessen in den Prolegomena, die nach wie vor den katechetischen Hauptstücken voran stehen? Calvins Interesse gilt immer noch der natürlichen Gotteserkenntnis. Das Problem ist also geblieben und verlangt eine Lösung. Wie kann er sie einbeziehen, ohne den alten Fehlern zu verfallen? Die erste Überschrift bestätigt unsere Feststellung: „Alle Menschen sind geboren, damit sie Gott er-
25
COR III. II, XVI.
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kennen.“ Die Gotteserkenntnis ist also nach wie vor das Leitmotiv, aber eben ohne die Erkenntnis unserer selbst. Der nächste Satz bestätigt es: „Da man nirgends einen Menschen findet, sei er noch so ungesittet und wild, der nicht von einem Wissen um Religion berührt ist, ist es klar, dass wir alle auf dieses Ziel (fin) hin erschaffen sind, die Herrlichkeit unseres Schöpfers zu erkennen“ (usw.). Da die Gotteserkenntnis als „Ziel“ angegeben ist, könnte an ein kindliches Brettspiel gedacht werden, in dem die Spieler ein Ziel zu erreichen suchen. Die nachfolgenden Untertitel würden die einzelnen Felder markieren. Zwar verwendet Calvin mit dem Wegfall der Heilsgeschichte den Begriff „Weg“ nicht mehr, doch ist der Lebensweg und die Erreichung seines Ziels vorausgesetzt. Cognitio Dei – Die angeborene Gotteserkenntnis – Der Unterschied von wahrer und falscher Religion – Was wir von Gott erkennen müssen. Cognitio nostri – Der Mensch – Der freie Wille – Von Sünde und Tod Vera Dei Cognitio – Wie wir zum Heil und Leben erneuert werden – Vom Gesetz des Herrn – Was uns das Gesetz alleine bringt – Dass das Gesetz eine Vorstufe ist, um zu Christus zu gelangen – Dass wir Christus durch den Glauben erfassen – Von der Erwählung und Vorherbestimmung – Was der wahre Glaube ist – Das Glaubensbekenntnis – (usw.) Einige Aussagen sind neu oder, gemessen an der Instituto von 1536, korrigiert. (1) Gleich zu Anfang erfolgt die Abwendung von der Institutio von 1536. Die Ungläubigen, heißt es, können beiseite gelassen werden, die nur danach trachten, das Wissen um Gott, das in ihre Herzen gepflanzt ist, auszutilgen. „Für uns, die wir uns zur Frömmigkeit bekennen, muss die wichtigste Sorge unseres Lebens sein, Gott zu suchen.“ Zwei wichtige Entscheidungen sind damit gefallen. Bei den Heiden kann die cognitio Dei nicht anknüpfen. Und es wird nun durchgehend im Wir-Ton gesprochen, auch wenn der Begriff cognitio nostri noch nicht auftaucht. (2) Die Gottesprädikate sind von Calvin nicht getilgt. Es sind dies die Existenz einer Gottheit, seine Macht, sein Gericht. Sie drängen sich auch den Heiden auf, ob sie wollen oder nicht. Aber Gott als liebender Vater und Herr, die Annahme seiner Gerechtigkeit und die Gottesfurcht erkennt nur die wahre Frömmigkeit. Der natürlichen Gotteserkenntnis ist damit eine Grenze gesetzt. Angeborene Gotteserkenntnis und Glaubenserkenntnis sind geschieden. (3) Eingeschoben wird die Erläuterung der Bibelstelle Röm 1,20, die Gottes Herrlichkeit aus seinen Werken zu betrachten lehrt. Sie werden „Abbildungen der unsichtbaren Dinge“ genannt. „Wir betrachten in dieser Universalität der Dinge die Unvergänglichkeit unseres Gottes, […] seine Macht […] und seine Weisheit.“ Calvin wird nun dem Sinn der Stelle Rö-
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mer 1,20 gerecht, die des Menschen Unentschuldbarkeit beweisen will. Sie besagt aber auch, dass Gott die Quelle aller Dinge ist. (4) Sündenfall und Nachkommenschaft Adams werden wie bisher gelehrt. Dann wird aber ein Abschnitt über den unfreien Willen neu eingefügt und unsere Verlorenheit durch Sünde und Tod in aller Breite ausgeführt. Neu ist, dass die Erkenntnis unserer selbst sich nur auf die eigene Verlorenheit bezieht. Doch eröffnet diese Erkenntnis den Zugang zur wahren Gotteserkenntnis. (5) Die Unterscheidung von Gotteserkenntnis und wahrer Gotteserkenntnis schafft endlich Klarheit über den Unterschied von angeborenem Wissen und geschenktem Glauben. Diese Unterscheidung hatte sich schon angekündigt, wenn Calvin Gott als Vater und Herr und die Gottesfurcht der allgemeinen Erkenntnis entzog und sie der wahren Frömmigkeit zuteilte (siehe Nr.2). Die Soteriologie und Christologie kann nun ungehindert entwickelt werden. (6) Calvin denkt nach wie vor in Stufen. Das Gesetz stellt einerseits die vollkommene Gerechtigkeit vor Augen. Es ist also bleibende Norm des Denkens und Handelns. Zugleich zieht es Gottes Fluch auf uns, weil wir ihm nicht ganz nachkommen. Nur durch Christus werden wir von diesem Fluch erlöst. Calvin nennt das Gesetz daher eine Vorstufe zu Christus hin, der durch das Evangelium verkündigt wird. Der weitere Gedankengang bedarf nun keiner Erörterung, denn Calvin entwickelt anschließend das gesamtrefomatorische Zeugnis. Nur die Prädestinationslehre fällt aus diesem Rahmen. 3. Der neue Ansatz der Prädestinationslehre Der Neuansatz erfolgt nicht erst in der Institutio von 1539, sondern im Genfer Katechismus ein Jahr nach der Basler Erstfassung der Institutio. Aus der Erwählungslehre wird nun die Lehre von der doppelten Prädestination. Fragt man nach dem Anlass, so bietet sich die neue Bewertung des Sündenfalls als Erklärung an. Die Institutio von 1536 beginnt mit einer allgemeinen Gotteserkenntnis der Menschen. Anschließend wird erst im Abschnitt von der „Erkenntnis unserer selbst“ der Sündenfall erwähnt. Hingegen nennt der Katechismus zuerst die Gotteserkenntnis als das zu erstrebende Ziel. Im zweiten Abschnitt fällt zwar auch noch nicht der Begriff Sündenfall, er enthält aber eine ausführliche Schilderung der Unfähigkeit des Menschen zur Gotteserkenntnis. Im vierten Abschnitt „Vom Menschen“ wird sodann der Sündenfall beschrieben, weit ausführlicher als in der Institutio von 1536. Der Abschnitt „Von Erwählung und Prädestination“ knüpft bei der offensichtlichen „Verschiedenheit der Menschen“ an. Gefragt wird,
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warum „viele Menschen, durch Unglauben blind und verstockt, die so einzigartige Gnade verschmähen“.26 Die Antwort gibt die Lehre von der göttlichen Prädestination. Kurz gesagt: Die Betonung des Sündenfalls erfordert eine Erläuterung der Ursache des Unglaubens. Sie liegt in Gottes ewigem Ratschluss. Ein weiterer Anlass kann sein, dass Calvin in Genf öffentlich „mit großem Beifall und Nutzen“ die Briefe des Apostels Paulus auslegte.27 Doch ist über die Umstände und die Textauswahl des Lektorats nichts Näheres bekannt. In begrifflicher Hinsicht liegt kein Bruch gegenüber der ersten Fassung der Lehre vor. Wie erwähnt, erscheinen die Begriffe der Prädestinationslehre alle von Anfang an. Jetzt bilden sie ein logisches geschlossenes Ganzes. Die Eingangssätze beweisen es: „Notwendig muss über das Geheimnis des göttlichen Ratschlusses nachgedacht werden. Denn der Samen des Wortes Gottes schlägt allein in jenen Wurzeln und trägt Frucht [Lk 8,V.11, 13,15], welche der Herr durch seine ewige Erwählung zu Söhnen und Erben seines himmlischen Reiches [Röm 8,17] vorherbestimmt hat. Allen übrigen, die durch denselben Ratschlag Gottes vor Grundlegung der Welt [Eph 1,4] verworfen sind, kann die klarste Verkündigung der Wahrheit nichts anderes als ein Geruch des Todes zum Tode [2. Kor 2,14] sein.“28 Es folgt der Hinweis auf Röm 9,21, dass die Erwählten Gefäße des Erbarmens Gottes, die Verworfenen Gefäße seines Zorns sind.29 Während die Institutio von 1536 nur die Gefäße des Erbarmens erwähnt und also die Erwählung, wird nun die doppelte Prädestination gelehrt. Der Umstand, dass der „Ratschlag Gottes“ lediglich eine logische Schlussfolgerung ist und keinen Schriftgrund hat, berührt Calvin nicht. Dass die Erwählten „in Christus“ erwählt sind (Eph 1,4), hält er fest. Doch ist Christus nur „das Pfand der Erwählung“.30 Die christologische Mitte von Eph 1 vermag Calvin nicht festzuhalten, so sehr er auch die Christusbotschaft betont. Er ist sich des Problems bewusst, denn er versucht einen Brückenschlag zwischen Gottes Beschluss vor der Schöpfung und Christi Heilswerk in der Zeit herzustellen, indem er auf Joh 1,1–4 verweist. „Und in Christus besitzen wir das ewige Leben, der sowohl von Anbeginn das Leben war, als auch uns zum Leben vorgesetzt wurde.“31 Trotzdem fällt die Entscheidung Gottes über den Einzelnen vor Grundlegung der Welt und
26 COR II. III, 30, Z. 10f; 31, Z. 17ff. 27 Brief des Basler Druckers Oporinus an Calvin vom 25. März 1537; COR VI. I, 188, Z. 27f (Nr. 35). 28 COR II. III, 30, Z. 15–21; 31, Z. 23–30. 29 COR II. III, 32, Z. 10f; 33, Z. 12–15. 30 COR II. III, 32. Z. 18 und 20; 33, Z. 23 und 25f. 31 COR II. III, 32, Z. 22f; 33, Z. 28–30.
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nicht durch Werk und Wort Christi. Calvin wird in den späteren Ausgaben der Institutio an diesem Lehrgerüst festhalten. Deutlicher noch als zuvor ist das Ziel der Prädestinationslehre die Gewissheit des Glaubens. Zwar schafft das Ergründen des Ratschlusses Gottes nur Verwirrung. Durch sein Zeugnis (des Wortes) versichert uns Gott genügend der Gewissheit des Heils. Doch es gilt nun: „Was suchen wir in der Erwählung, wenn nicht dies, dass wir des ewigen Lebens teilhaftig sind?“32 Die Lehre von der ewigen Erwählung schafft zusätzliche Gewissheit. An der Heilsgewissheit ist Calvin alles gelegen. Ein Blick auf die Lehre der Institutio von 1536, die Calvin nun fallen lässt, unterstreicht nochmals seine neue Position. Der Satz, „die Kirche ist das Volk der Erwählten Gottes.“entfällt und mit ihm die Einschränkungen im Blick auf die Ungläubigen. Er kommt im Katechismus erneut beim vierten Glaubensartikel auf das Verhältnis von Kirche und Erwählung zu sprechen. Dort heißt es lediglich, „dass wir vertrauen, dass die gesamte Zahl der Erwählten durch das Band des Glaubens zu einer Kirche, einer Gemeinschaft und einem Gottesvolk verbunden sind […]“.33 Auch entfällt die Erörterung der Merkmale des Glaubens. Calvins Ausführungen über Erwählung und Prädestination sind dadurch weniger praxisbezogen und statt dessen lehrhafter. Er wird in den Bearbeitungen der Institutio aber auf die Merkmale des Glaubens zurückkommen. 4. Die Taufe und die Abwehr der Wiedertäufer in Genf Calvin wiederholt aus der Institutio, dass durch sie die Verheißungen bestätigt werden. Die Erklärung der Taufe – die des Abendmahls wird erst an späterer Stelle erfolgen – ist kurz und prägnant. Von Melanchthons Loci communes ist er nicht mehr abhängig. Die Wunderzeichen des Alten Testaments bleiben unerwähnt wie auch der Glaube der Kinder. Die Kindertaufe wird mit dem Bund (Gen 17,1–14) begründet, dem sie angehören. Erst die ausführliche Erklärung der Taufe in der Institutio von 1539 wird zeigen, ob er sich von Melanchthons Lehrweise abgewendet hat. Der Ansatz bei der Verheißung und Verkündigung bleibt das große Einheitsband mit den Wittenbergern. Es ist eine allgemeine Beobachtung, dass die reformatorische WortGeist-Glaube-Relation überall die Wiedertäufer anzieht. Wenn die Annahme des Evangeliums im Glauben Bedingung
32 33
COR II. III, 32, Z. 21f; 33, Z. 27f. COR II. III, 60, Z. 8–10; 61, Z. 3–5.
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des Heils und der Rettung ist, dann hat die Kindertaufe keinen Bestand. Die Lehre vom Glauben der Kleinkinder widerspricht zudem der Erfahrung. Den Verkündigern der Erwachsenentaufe, das heißt, der Wiedertaufe, fällt ihre Agitation im Kirchenvolk leicht. Sie melden sich in Wittenberg, Zürich, Basel und Bern sofort, wie auch in Genf. In einem für Farel und Calvin äußerst ungünstigen Moment, Anfang März 1537, erscheinen zwei Täufer in der Stadt. Ungünstig darum, weil die Artikel zur Neuordnung der Kirche gerade verabschiedet sind und durchgeführt werden sollen. Naturgegeben herrscht Unruhe in der Stadt, als Hermann de Gerbihan und Andry Benoit aus den Niederlanden erscheinen. Sie erklären am 9. März vor dem Rat, sie wollten mit den Predigern disputieren. Dieser beschließt, sie sollen dazu Artikel vorlegen. Am 13. März liegen sie vor und werden im Rat verlesen. Das Protokoll des Kleinen Rates nennt sie „Wiedertäufer“, mit denen öffentlich zu disputieren gefährlich sei „wegen der Schwachheit der Geister“. Der Rat der Zweihundert stimmt am nächsten Tag zu, wird aber wohl zur Gefährlichkeit auch die Tatsache gerechnet haben, dass das Reichsrecht die Wiedertaufe als Ketzerei bezeichnet.34 Er gibt die Erlaubnis, „über die Angelegenheit der Priester“ zu disputieren. Gemeint ist, ob die Austeilenden sittlich rein sein müssen. Farel protestiert und fordert eine öffentliche Debatte. Sie wurde zwei Tage lang im Kloster de Rive abgehalten. Am 18. März tritt der Rat der Zweihundert zusammen und beschließt, die Disputation abzubrechen. Sie bringe den Glauben mehr ins Wanken als ihn zu festigen. Die Protokolle, die angefertigt wurden, seien auf das Rathaus zu bringen und zu vernichten. Nichts dürfe gedruckt werden. Farel wird auferlegt, nicht ohne Einwilligung des Rates mit den Wiedertäufern zu disputieren. Am 19. März wurde beiden Männern im Rat der Zweihundert eröffnet, dass sie und die Angehörigen dieser „Sekte“ auf immer aus der Stadt verbannt seien, sonst drohe die Todesstrafe. Sie wurden zum Widerruf ihrer Lehre aufgefordert, den sie ablehnten. Am 29. März findet eine zweite Disputation mit zwei Täufern aus Lüttich statt, mit dem Drucker Jean Bomeromenus und mit Jean Stodeur, dem ersten Ehemann Idelette van Burens.35 Die Prediger hatten sich über die unsachlichen und langatmigen Ausführungen der Täufer auf der ersten 34 Die Bestrafung der Antitrinitarier und Anabaptisten fordert das Corpus Iuris Civilis I, 1, 1 und I, 5, 2. Das Mandat des Kaisers Karl V. gegen die Wiedertaufe vom 4. Januar 1528 ist Reichsrecht. NEUSER, W.H., Kirche und Staat in der Reformationszeit, in: ALAND, K./SCHNEEMELCHER, W. (Hg.), Kirche und Staat. Festschrift für H. Kunst, Berlin 1967, 75. 35 BALKE, W., Calvijn en de Doperse Radikalen, Amsterdam 21977, 357, legt eine Liste der Ratsprotokolle vor, die die Täufer betreffen (s. dazu die Ausführungen 83ff). Viele fehlen im Corpus Reformatorum Bd. 21, finden sich aber in Registres du Conseil de Genève à l’epoque de Calvin, tom. 2, 1, Genève 2004 (THR Nr. 386).
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Disputation geärgert. Den Neuangekommenen war dies ein Zeichen des Eifers für den Glauben. Farel berichtet, die Täufer hätten sich nicht genügend verteidigen können, was glücklicherweise die Volksmenge gemerkt habe. Sonst wären noch mehr Menschen verdorben worden.36 Aus dem letzten Satz geht hervor, dass die Wiedertäufer in Genf Anhänger fanden. Zwar wurden die vier Täufer vertrieben, doch häuften sich die Fälle. Am 6. April wird eine Frau verhaftet, die die Glaubensartikel der Täufer besaß. Sie kommt aus dem Gefängnis wieder frei. Am 13. Juli erscheint Corauld vor dem Rat mit Beschwerden. Doch gefällt dem Rat die Form nicht, wie jener über die Wiedertäufer redet. Am 20. Juli wird im Rat der Fall des J.J. de Cologny verhandelt, der sich für die Täufer ausgesprochen hat. Er wird für ein Jahr ins Gefängnis geworfen. Der Prediger von Thonon, Fabri, besucht ihn dort und hält Farel vor, er habe diesen zu streng behandelt. Das Auffinden der Prozessakten gegen Jacques de Merauld setzt in die Lage, ein Verfahren bis ins Einzelne kennenzulernen.37 Eine Geschichte wie im Kriminalroman enthüllt sich. Es bedarf schließlich der Folter, bis der Angeklagte die Versammlung der Täufer und die Namen der Beteiligten gesteht. Deren Zahl ist gering, aber sie haben Sympathisanten. Weitere Verhöre schließen sich an. Mit der Parteinahme für die Täufer verbindet sich der Widerstand gegen den Rat und den Bürgereid. Den Zehnern wird am 19. September befohlen, ihren Bezirk zur Eidesleistung zu führen. Die Lage spitzt sich zu, als Anfang Oktober die Abendmahlsfeier in der Stadt ansteht. Am 5. Oktober erscheinen Farel und Calvin vor dem Rat und weisen auf die Gefahr hin, dass Sympathisanten der Täufer zum Abendmahl zugelassen werden. Sie dringen darauf, dass die Täuferbefragungen abgeschlossen werden. Der Rat verlangt, sie sollen Namen nennen. Da die geheimen Anhänger nicht herauszufinden sind, befiehlt der Rat ihnen am 8. Oktober, den des Täufertums Verdächtigen das Abendmahl nicht zu verweigern. Der Bruch zwischen Predigern und Rat kündigt sich an. Die Täuferfrage spielt dabei eine Rolle.
Kapitel 15: Die auswärtigen Lehrstreitigkeiten 1. Die Disputation von Lausanne (1536) Mit dem Wattland hatte Bern zu Anfang 1536 auch die Bischofsstadt Lausanne besetzt. Da der dortige Rat meinte, Bern beanspruche nur die weltli36 37
CO 10 b, 99, Brief an Capito vom 5. Mai 1537. Text und Darstellung bei BALKE, W., Calvijn en die Doperse Radikalen, 86ff und 349ff.
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chen Rechte des Bischofs, willigte er in die Besetzung ein, ganz im Unterschied zum Genfer Rat. Es folgten lange Verhandlungen und Verträge. Diese vermochten nicht zu verbergen, dass Lausanne in der Hand Berns war.38 Der Reformator Lausannes wurde Pierre Viret. Es gab in der Stadt seit 1522 eine evangelische Bewegung, die sich aber nicht durchsetzen konnte. Virets Eintreffen in der Stadt ähnelt demjenigen Calvins in Genf. Nach der Einnahme des Wattlands durch Bern erhielten Viret und Fabri eine Einladung nach Genf, um dort zu predigen. Ihr Weg führte direkt durch das Schlachtfeld der Truppen Berns und Savoyens. Bei Yverdon wurden sie von protestantischen Soldaten aus Lausanne, die im Dienst Berns standen, angehalten. Als der Kommandeur beide Prediger erkannte, erklärte er, es sei der Wille Gottes, dass Viret mit ihm nach Lausanne reise. Er sicherte ihm auch volle Unterstützung in der Stadt zu. Halb gezwungen, halb überzeugt, es sei Gottes Wille, änderte Viret seinen Plan und folgte den Armbrustschützen.39 Seit 1529 übte die Regierung in Bern Druck aus, die freie Verkündigung der reformatorischen Lehre in der Stadt zu erlauben. Nach der Einnahme verstärkte sich dieser Druck. Eine Verordnung vom 6. März 1536 gewährte Gewissensfreiheit allen, die Virets Predigten zu hören wünschten.40 Dazu veranlasste Bern zum einen, dass auf die mit dem katholischen Fribourg gemeinsamen vier Herrschaften (Grandson, Orbe, Echailens, Murten) Rücksicht genommen werden musste. Doch vertraute es zum anderen auf die Kraft der evangelischen Verkündigung, die es überall unterstützte. Zum 1. Oktober 1536 verordnete Bern eine Disputation in der Kathedrale, die die Entscheidung für das ganze Wattland bringen sollte. Sie dauerte acht Tage lang. Die Leitung hatte der Berner Stadtschreiber Peter Cyro. Calvin war anwesend, doch trugen Farel und Viret die Hauptlast. Von den 337 eingeladenen Priestern des Wattlands erschienen 174. Auf evangelischer Seite standen Christoph Fabri, Antoine Marcourt und Pierre Caroli. Da nur die Heilige Schrift als Beweisgrund zugelassen war, stand das Ergebnis fest. Bei der Erörterung des dritten Artikels griff Calvin ein. Dort wurden in einem Nebensatz die Katholiken angeklagt: „Er (Christus) wird uns in leiblicher Gegenwart (corporali praesentia) untergeschoben.“41 Calvin begann 38 BREUNING, M.W., Calvinism’s first Battleground, Dortrecht 2005, 21 (Studies in Early Modern Religious Reforms 4). 39 LINDER, R.D., The Political Ideas of Pierre Viret, Genf 1964, 24 (THR 64). 40 „[…] mit vorbehalt ir fryheiten und das man sy von irem glauben nit trennge [dränge], sy werdenndt dann dessen selb eins [einig]“ BRUENING, M.W., Calvinism’s First Battleground, 40, Anm. 50. 41 Reformierte Bekenntnisschriften, Bd. 1/2, 1535–1549, 94. Johann Eck hatte in den 404 Artikeln vom Jahr 1530 den Begriff corporaliter verteidigt (Art. 238); KÖHLER, W., Zwingli und Luther, Bd. 2, Gütersloh 1953, 192.
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seine Rede mit den Worten: „Ich hatte bis jetzt davon Abstand genommen zu sprechen, und war entschlossen, bis zum Schluss zu schweigen, da ich sah, dass mein Wort nicht gerade sehr nötig war angesichts der völlig genügenden Antworten, die meine Brüder Farel und Viret geben.“42 Doch nun fühlt er sich gerufen, die Stellung der Kirchenväter zur Präsenz des Leibes und Blutes Christi zu erläutern. Er zitiert aus dem Gedächtnis mit Angabe der Fundstellen sechs Stellen, die eine leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl ausschließen.43 Dieser Umstand hat zu allen Zeiten Bewunderung ausgelöst. Zwei Tage später greift er nochmals in die Diskussion ein und rügt die sittliche Verdorbenheit Papst Gregors VIII., von dem die Lehre von der Transsubstantiation stamme. Noch aus Lausanne schrieb Calvin an seinen Freund Du Chemin am 13. Oktober, überall entferne man die Bilder aus den Kirchen. „Möge der Herr geben, dass auch aus den Herzen aller der Götzendienst verschwindet!“ Doch erst am 19. Oktober verbot der Berner Rat Messe und Bilder. Lausanne und das Wattland waren damit evangelisch geworden. Genf stand nun mit seiner Neuordnung der Kirche nicht mehr allein. Im Umland fanden dieselben Reformen statt. 2. Der Abendmahlsstreit An seinen Freund Daniel schreibt Calvin am 13. Oktober 1536 von Lausanne aus: „Morgen werde ich, so Gott will, nach Bern reisen.“ Dort fand vom 18. bis 20. Oktober eine Synode über die Annahme der Wittenberger Konkordie statt.44 Die Konkordie war am 26. Mai abgeschlossen worden. Die Monographien zum Abendmahlsstreit notieren, dass Calvin auf der Berner Synode vom 16./17. Oktober 1536 und auf der Frühjahrs- und Herbstsynode 1537 anwesend war. Auf ihnen wurde heftig über die Zustimmung oder Ablehnung der Wittenberger Konkordie gestritten. Doch der Rückschluss, Calvin habe am Abendmahlsstreit teilgenommen, ist falsch. Calvin musste vielmehr wegen der Anschuldigungen Pierre Carolis in Bern erscheinen, so auch am 16. Oktober 1536. Eine Teilnahme an den Synoden war aus sprachlichen Gründen nicht möglich. Calvin verstand kein Deutsch. In dieser Sprache wurden aber die Verhandlungen geführt. Trotzdem muss seine Stellung im Abendmahlsstreit sorgfältig festgestellt werden, denn die Confessio fidei de Eucharistia vom 22. September 1537 trägt seinen und 42 CO 9, 877. 43 Siehe MOOI, R.J., Het kerk– en dogmahistorisch Element in de Werken van Johannes Calvijn, Wageningen 1965, 25f. 44 COR VI. 1, 137, Z. 37 und Anm. 21.
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Farels Namen – nicht ganz zu Recht, wie zu zeigen sein wird. Bucer und Capito haben sie im Anhang für rechtgläubig erklärt. Aber am 12. Januar 1538 schreibt er Bucer einen Brief voller Vorwürfe. Wie erklärt sich Calvins wechselnde Haltung? a. Die Vorgeschichte der Berner Herbstsynode 1537 Durch seine Institutio von 1536 hatte Calvin, wie oben ausgeführt, bereits zum Abendmahlsstreit Stellung bezogen. Er hatte die Zürcher Zwinglianer und Bucers Evangelienkommentar, in dem jener noch ganz zwinglisch lehrte, angegriffen und kritisiert. Das trug ihm ein vorwurfsvolles Schreiben Leo Juds aus Zürich ein. Doch auch Bucer meldete sich bei ihm. Der Straßburger hatte inzwischen seine bekannte Annäherung an Luther vollzogen, die Wittenberger Konkordie ausgehandelt und betrieb nun deren Zustimmung durch die evangelischen Schweizerkantone. Am 1. November 1536 schrieb er an Calvin. Sein Anliegen war kurzgefasst dieses: Wir (Bucer und Capito) haben kürzlich [am 24. September bei der Tagung über die Annahme der Wittenberger Konkordie] in Basel mündlich durch einen Freund und dann auch brieflich von Calvin erbeten, „dass du es auf dich nimmst, über unsere [!] Religion mündlich zu verhandeln.“45 Die Sakraments– und Abendmahlslehre der Institutio von 1536 war also auch in Straßburg nicht unbeachtet geblieben. Aus Calvins Brief an Bucer vom 12. Januar 1538 geht hervor, dass er in Bern sogar Bucer wegen seiner schmeichelnden Darstellung zur Rede stellte, mit der er seine und Zwinglis frühe Lehrweise in den Retractationes dargestellt hatte. Der Kontext ist leicht aufzufinden. Bucer hat die Institutio von 1536 gelesen und die Kritik an seiner frühen Sakraments– und Abendmahlslehre richtig verstanden. Er möchte Calvin nun seine veränderte Position in diesen Lehrstücken darlegen und seine Zustimmung zu ihr zu gewinnen suchen. Ihm ist außerordentlich viel daran gelegen, denn er schlägt als Treffpunkt Basel, Bern oder – wenn es nicht anders sein könne – Genf vor. Calvins Kritik will er also unbedingt ausräumen und ihn auf seine Seite ziehen. Er ersieht aus der Institutio, dass Calvin ein Wortführer des Protestantismus sein wird und wohl schon ist. Wie wichtig den Straßburgern Calvins Meinung ist, zeigt sich daran, dass Capito am 1. Dezember 1536 die Bitte um ein Treffen erneuert. Es bestehe nur ein kleiner Unterschied (in der Abendmahlslehre) zwischen ihnen. Auch andere Fragen seien zu erörtern, vor allem die Leitung der Kirche (administratio ecclesiae). Er möge nichts veröffentlichen, bevor er Bucer und ihn gesprochen habe – ein Wunsch, den die Straßburger nicht selten äußerten. Gestärkter und die Gemeinschaft fördernder werden seine 45
COR VI. 1, 140 (Nr. 27).
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Veröffentlichungen sein, wenn er sie gehört habe.46 Wenn der letzte Satz keine Anmaßung enthält, dann belegt er die Dringlichkeit der Bitte der Straßburger. Der Umstand, dass auch Capito das Treffen verlangt, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass ihr Betreiben der Annahme der Wittenberger Konkordie gerade am 12. November 1536 auf der Zusammenkunft in Basel einen schweren Rückschlag erlitten hatte. Doch erst auf der Berner Herbstsynode 1537 konnte das Treffen mit Calvin stattfinden. In der Zwischenzeit äußerte sich Calvin über das Abendmahl im Genfer Katechismus. Dieser bietet eine Zusammenfassung der Institutio von 1536. Alle Polemik ist fortgelassen. Seine Abendmahlslehre kennzeichnet, dass Leib und Blut Christi mit der Person Christi gleichgesetzt sind. Dementsprechend sind die Einsetzungsworte Zusage des Leidens und Sterbens Christi für unsere Sünde. Und dementsprechend ist Gabe des Abendmahls die Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus. Das Geschehen im Abendmahl ist ein geistliches. Die Verheißung, die dem Zeichen vorgeordnet ist, soll den Glauben stärken. Diese Gedanken werden ausgeführt, jedoch viel kürzer und knapper als in der Institutio. Capito hat in seinem Brief nun Recht, der Unterschied zur Straßburger Abendmahlsauffassung sei klein. Doch die Frage ist: Wie groß ist der Unterschied, wenn Bucer und Capito versuchten, sich der Lehrweise Luthers und der der Wittenberger Konkordie anzunähern? Doch lehrt auch Calvin eine Ähnlichkeit (similitudo) zwischen dem Essen des Leibes Christi und dem des Brotes. Die Eigenart des Abendmahlsverständnisses Calvins ist im Auge zu behalten. Inzwischen war die Kritik an Bucer in der Schweiz gewachsen. Im Jahre 1536 hatte er die von Luther verlangten Retractationes abgefasst und in der 3. Auflage seines Evangelienkommentars veröffentlicht. In gewohnter Dialektik hatte er das von beiden Seiten Nichtgemeinte aufgeführt und ihm das von Luther und seinen Anhängern (oder in der Wittenberger Konkordie) Gemeinte gegenübergestellt. Die Schweizer konnten etwa lesen: „Aber die wahre substantielle Gegenwart und Darreichung des Leibes und Blutes des Herrn mit Brot und Wein im heiligen Abendmahl stellen sie (sc. Luther und seine Anhänger) offen vor Augen, die freilich in den eigenen Worten des Herrn und im Zeugnis des Apostels enthalten sind.“47 Nun hatten die sieben evangelischen Schweizerstädte verabredet, gemeinsam zur Wittenberger Konkordie Stellung zu nehmen. Dies erforderte lange Verhandlungen. Im Brief an Luther vom 12. Januar 1537 hatten sie in verbindlichem Ton geantwortet, aber doch die Grenze eines geistlichen Essens im Glauben nicht überschritten. Bucer hatte am 19. Januar einen Begleitbrief verfasst.48 46 COR VI. 1, 149 (Nr. 29). 47 BDS 6, 1, 312, Z. 21–23. 48 Ausführlich dazu BIZER, E., Studien zur Geschichte des Abendmahlsstreites, Gütersloh 1940, 171–180 und 180–187.
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Die Schweizerstädte werden darin als ängstlich, ihr Schreiben als langatmig usw. dargestellt. Da der Brief bekannt wurde, erntete Bucer Misstrauen. Auf sein Betreiben wurde er zur Herbstsynode nach Bern eingeladen. Capito und er trafen am 11. September dort ein. Auch Myconius und Grynäus aus Basel waren zugegen. Am 17. September begannen die Beratungen mit einer ausführlichen Verteidigungsrede Bucers. Er verteidigte seine Retractationes und den Brief an Luther, mit dem er niemanden habe verletzen wollen. Er forderte eine Stellungnahme zu diesem Brief, die der Rat schließlich zu seinen Gunsten abgab. Neu war das kurze Abendmahlsbekenntnis, das er vorlegte. Es enthielt im Grunde nur Gedanken, die in den Retractationes enthalten waren.49 Doch wurde es positiv aufgenommen. Bucer und Capito konnten befriedigt heimkehren. b. Die Confessio fidei de Eucharistia Doch zuvor verhandelten sie mit Calvin und Farel. Der Rat von Bern schrieb am 14. September 1537 an den Rat von Genf und ersuchte ihn um das Kommen der beiden Prediger. Als Grund wurde eine Angelegenheit des allgemeinen Glaubens (la foy catholicque) angegeben. Gemeint war die Anklage des Arianismus durch Caroli. Auf sie wird unten noch eingegangen werden. Calvin und Farel sind also erst kurz vor Schluss der öffentlichen Beratungen (22. September) in Bern eingetroffen. Sie haben daher an ihnen, die zudem in deutscher Sprache geführt wurden, nicht teilgenommen. Die Beachtung dieser Einzelheiten ist notwendig, weil Farel und Calvin ein Abendmahlsbekenntnis unterzeichneten50, das Rätsel aufgibt. Bucer und Capito haben es mit einem Zusatz unterschrieben. Es wird allgemein angenommen, dass die Confessio fidei de eucharistia von Calvin und Farel stammen muss, weil die ausdrückliche Zustimmung Bucers und Capitos beigefügt ist. Doch ergibt sich dann die Schwierigkeit, dass Calvin in diesem Fall eine neue Abendmahlsauffassung vorgelegt hätte, die erstmals die Verbindung des geistlichen Lebens mit Brot und Wein lehrt. In Wahrheit sind die Sätze typisch für Bucers Abendmahlslehre. Sie sind das Ergebnis eines Gespräches Bucers und Capitos mit Calvin, Farel und Viret, in dem diese auf die Konsequenz ihres Ansatzes bei der Christusgemeinschaft auf das Abendmahl hingewiesen und von ihr auch überzeugt werden, wie ihre Unterschrift beweist. Die Gesprächsführer waren Calvin und Bucer. Es taucht kein Gedanke auf, der nicht in Bucers Retractationes oder in seinem neusten Abendmahlsbekenntnis zu finden ist. Umgekehrt betrachtet ist die Gedankenfolge, gemessen an Calvins bisheriger Lehre, völlig neu. Die Confessio spiegelt also das Gespräch wider, das zwischen Calvin, Farel und 49 50
BDS 6, 1, 294–297. CO 9, 711f; OS 1, 435f.
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Viret einerseits und Bucer und Capito andererseits geführt wurde. Das Gespräch bedeutete ein Ringen um die Anerkennung der Wittenberger Konkordie, die aber nicht zustande kam. Es führte die schweizer Teilnehmer über ihre bisherige Position erheblich hinaus, erbrachte aber für die Straßburger nur einen Teilerfolg. Man muss nur die Confessio einerseits mit Calvins früheren Aussagen und andererseits mit Bucers Anhang vergleichen, um zu diesem Ergebnis zu gelangen. Da die Confessio einen gedanklich geschlossenen Aufbau besitzt, kann versucht werden, die Überredungsweise Bucers zu rekonstruieren. Ausgangspunkt ist das geistliche Leben und die Christusgemeinschaft, die den Ansatzpunkt Calvins bilden und die auch Bucer in den Mittelpunkt stellt. (1) „Wir bekennen, dass das geistliche Leben, das Christus uns reichlich schenkt, nicht nur darin besteht, dass er uns durch seinen Geist lebendig macht, sondern dass er durch seines Geistes Kraft uns auch seines lebendigmachenden Fleisches teilhaftig werden lässt. Durch dieses Teilhaftigmachen werden wir zum ewigen Leben gespeist.“ Bucer argumentiert mit Joh 6,54a („Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben“) und will so zum Abendmahl überleiten. Calvin hatte in der Institutio 1536 ausdrücklich abgelehnt, Joh 6 von dem Sakrament her zu verstehen.51 Doch lässt Calvin nun zu, dass Joh 6,54 zum Abendmahlsverständnis herangezogen wird. (2) „Wenn wir deshalb über die Gemeinschaft sprechen, die die Glaubenden mit Christus haben, so verstehen wir darunter, dass sie nicht weniger mit seinem Fleisch und Blut Gemeinschaft haben als mit seinem Geist, damit sie so den ganzen Christus besitzen.“ Bucer, der eine einzigartige Fähigkeit zur ausgleichenden Argumentation besaß, bringt die Gemeinschaft der Glaubenden mit Christus ins Gespräch, die ein Leitbegriff Calvins ist, die er ebenfalls bisher nicht auf das Abendmahl bezogen hatte. Bucer verbindet sie mit Johannes 6 und macht sie zum Gegenbegriff des Geistes Christi (und der geistlichen Speise). Er bringt sie damit in Parallele zum Leib und Blut Christi in den Abendmahlsworten. Calvin stimmt dem zu. (3) „Weil ja die Schrift deutlich bezeugt, dass das Fleisch Christi für uns wahrlich eine Speise ist und das sein Blut wahrlich ein Trank [Joh 6,55], steht es fest, dass wir durch sie herausgeführt werden müssen, wenn wir das Leben in Christus suchen.“ Bucer will damit sagen, dass Joh 6 keine geistliche Speise und keinen geistlichen Trank meint, sondern diese äußerlich zu verstehen sind. Calvin gesteht erneut zu, Joh 6 in das Abendmahlsverständnis einzubeziehen. (4) „Denn der Apostel lehrt nicht etwas Geringes oder Gewöhnliches, 51
OS I, 138, Z. 28–31.
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wenn er eindrücklich gesagt hat, dass wir Fleisch vom Fleisch Christi und Gebein von seinem Gebein sind [Eph 5,30b]. Doch er bezeichnet so das außerordentliche Geheimnis [„Christus und seine Gemeinde“, Eph 5,32] der Gemeinschaft unseres Leibes mit seinem Leib [1. Kor 10,16], was in seiner Bedeutung keiner genügend durch Worte ausdrücken kann.“ Bucer trägt das entscheidende Argument vor: Fleisch Christi und Leib Christi sind identisch, und ebenso der Leib Christi und unser Leib auf einander bezogen. Es gibt also eine Gemeinschaft unseres Leibes mit dem Leib Christi. Calvin stimmt zu, obwohl diese Schlussfolgerung nur durch 1. Kor 10,16 belegt werden kann. Andererseits ist die Gemeinschaft mit dem Leib Christi ein „Geheimnis“, das heißt, sie ist ausdrücklich etwas Großes und Ungewöhnliches und letztlich Unbeschreibliches. Um diesen Schritt logisch mitzumachen, muss Calvin künftig den Begriff des Geheimnisses in seine Abendmahlsdeutung einbeziehen. (5) „Übrigens widerspricht jenen Worten in keiner Weise, dass unser Herr in den Himmel aufgenommen worden ist und die räumliche Gegenwart seines Leibes uns entzogen hat, die hier (im Abendmahl) am wenigsten verlangt wird. Denn wie nur immer wir in dieser Sterblichkeit Fremde sind, werden wir an eben demselben Ort (im Himmel) mit ihm nicht eingesperrt und begrenzt. Dennoch ist sein Geist wirksam und durch keine Einschränkung begrenzt, so dass er wahrlich verbinden und in Eins versammeln kann, was durch die Entfernung der Orte getrennt ist.“ Als Gegenargument wird die sessio ad dexteram Dei angeführt. Von Calvin kann die soteriologische Deutung des Himmels stammen, die das Wirken des Heiligen Geistes notwendig macht. Dieser überbrückt auch die Entfernung von Himmel und Erde. (6) „Daher erkennen wir, dass sein Geist das Band unserer Gemeinschaft mit ihm ist, aber in der Weise, dass der Geist uns durch die Substanz des Fleisches und Blutes des Herrn zur Unsterblichkeit speist und durch die Teilhabe an ihnen lebendig macht.“ Drei Aussagen werden zusammengezogen: Der Geist macht lebendig, er ist das Band der Gemeinschaft mit Christus, und er speist durch die Substanz des Fleisches und Blutes Christi zur Unsterblichkeit. Schon im vorausgehenden Abschnitt ist gesagt, dass „wir in dieser Sterblichkeit Fremde sind“. Das wird durch ein Kirchenväterzitat, doch ohne Namensnennung, belegt, nämlich durch „das Farmakon athanasias“ des Ignatius von Antiochien (Ign/Eph 2,20). Die Erwähnung des Begriffes der Substanz führt zur Zweideutigkeit und damit an die Grenze des Gespräches. (7.) „Diese Gemeinschaft des Fleisches und Blutes Christi bietet uns Christus im heiligen Abendmahl unter den Symbolen des Brotes und Weins dar und reicht es allen, die es auf rechte Weise gemäß seiner legitimen Einsetzung feiern.“
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Das Ergebnis des Gespräches: Zum ersten Mahl taucht der Begriff Abendmahl auf. Es besteht Einigkeit in mehreren Punkten. (1) Es bleibt bei der Gleichsetzung von Fleisch und Leb Christi. (2.) „Unter den Symbolen des Brotes und Weins“ ist nicht Fleisch und Blut Christi, sondern werden sie von Christus dargereicht. Jede Elementenfrömmigkeit ist ausgeschlossen. (3.) „Allen“ werden die Gaben gereicht, doch wird die zweideutige Formel hinzugesetzt, denen die es aufrecht (das heißt wohl: gläubig) feiern. Die „Unwürdigen“ der Wittenberger Konkordie bleiben unerwähnt. Bucer hat sein Ziel, die Anerkennung der Wittenberger Konkordie nicht erreicht. Andererseits hat er durch die Einführung von Joh 6 als Abendmahlstext einen Neuansatz der Abendmahlslehre Calvins bewirkt. Mit diesem Ergebnis konnten Calvin und Farel guten Gewissens vor den Genfer Rat treten. Ihr Bericht am 27. September vor dem Rat der Zweihundert gibt den wahren Sachverhalt wieder: „Schliesslich blieben sie (Farel und Calvin), nachdem dann alle Vorschläge, die von dort kamen, angehört worden waren, einträchtig und einmütig [mit Bucer und Capito] in Bezug auf jene Abgötterei, die in Betreff der Gegenwart des Leibes [!] Christi behauptet worden ist, wie es in den Artikeln steht, die von beiden Seiten unterschrieben wurden.“52 Die „Artikel“ können nur die Confessio fidei de eucharistia sein. Sie waren das Ergebnis der Verhandlungen zwischen beiden Parteien und wurden „von jedem Teil“ unterzeichnet.53 Die andere Seite sind fraglos Bucer und Capito. Im Anhang nennen Bucer und Capito das Ziel, das sie zu erreichen hofften. Ihre Bestätigung, dass das vorstehende Bekenntnis rechtgläubig sei, ist selbstverständlich, da sie nicht nur Gesprächspartner waren, sondern auch die entscheidenden Argumente lieferten. Sie schließen mit dem Satz, den sie im Bekenntnis nicht durchsetzen konnten: Der Irrtum sei nicht zu dulden, im Abendmahl seien nur bloße und leere Zeichen, „und nicht zu glauben, hier werde auch des Herrn Leib und sein Blut selbst genossen, das heißt, der Herrn selbst, wahrer Gott und Mensch.“ Der Schritt von der Per52 CO 21, 215. 53 AUGUSTIJN, C., Bern und France. The Background in Calvin’s Letter to Bucer dated 12 January 1538; in: NEUSER, W.H/SELDERHUIS, H.J. (Hg.), Ordentlich und fruchtbar. Festschrift für Willem van’t Spijker, Leiden 1997, 159, Anm. 19, kommt zu einem falschen Ergebnis, weil er Meganders Bemerkung im Brief an die Zürcher Prediger vom 13. Oktober 1537 missversteht: „Es gefällt (mir), durch diesen Boten das Bekenntnis der Genfer Kirche zum Abendmahl und ebenso ihre deutliche Erklärung (des Gottesnamens) Adonaj zu übersenden. Sie wurden durch Besucher Capito und Bucer schon zuvor (iam pridem)in Bern übergeben. Dadurch zeigt sich, was jene ‚guten‘ und sehr gelehrten Männer über diese Dinge denken.“. Die Confessio fidei de Eucharistia ist aber kein Genfer[!] Bekenntnis zum Abendmahl. Gemeint sind vielmehr der Genfer Katechismus und seine Erklärung des Abendmahls (s.o.) und die Confessio Calvini de Trinitate propter calumnias P. Caroli (COR III. II, 245–152). Sie werden von Calvin und Farel schon vor ihrem Eintreffen in Bern Bucer und Capito zugesandt.
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son zum Leib und Blut Christi ist im Anhang vollzogen und die Menschheit Christi betont. Trotzdem konnten Bucer und Capito zufrieden sein. Sie hatten sich in Bern erfolgreich von den vorgebrachten Anschuldigungen gereinigt. Ihr Bekenntnis, das sie vorlegten, verfolgte das Ziel, an die Wittenberger Konkordie heranzuführen. Die Unterschrift der Schweizerstädte war zu diesem Zeitpunkt nicht zu erreichen. Bucer und Capito hatten zudem unter diesen Städten eine Lücke gefüllt, indem sie Genf bzw. die Genfer Prediger der Wittenberger Konkordie annäherten. Diese ausführliche Analyse ist nicht nur gerechtfertigt, weil sie Calvins Neuansatz im Abendmahlsverständnis aufzeigt. Das Gespräch hatte auch ein überraschendes Nachspiel. Denn Calvin übernahm in Straßburg die von Bucer gewünschte Formel, die er in der Confessio noch verweigert hatte. c. Calvins Schuldzuweisung an Bucer im Brief vom 12. Januar 1538 Was Calvin über die Streitigkeiten auf den Berner Synoden erfahren hat, ist schwer auszumachen. Es war gewiss nicht wenig. Doch betraf es direkt die Kirche in Genf, dass in Bern ein folgenschwerer Wechsel in den Ämtern stattgefunden hatte. Im Winter 1535/1536 waren Franz Kolb und Berthold Haller verstorben und durch die lutherfreundlichen Pfarrer Peter Kunz und Dr. Sebastian Meyer ersetzt worden. Ihnen standen die Zwinglianer Megander und der neuberufene Erasmus Ritter gegenüber. Auf der Frühjahrssynode vom 31. Mai bis 2. Juni 1537 kam es daraufhin zum Konflikt zwischen den Berner Zwinglianern und den Lutherbefürwortern. Dieser setzte sich auf der Herbstsynode fort, wo es zum Streit um Meganders Kinderkatechismus kam. Megander fand sich bereit, diesen abzuändern. Doch übernahm Bucer die Revision, indem er 13 Artikel strich und durch 38 neue ersetzte. Im Missivenbuch des Berner Rates heißt es unter dem 31. Dezember 1537: „Demnach hat sich zugetragen, das Bucer dasselbig Büchly (Meganders) für sich genommen, das verbessert und mit etwas wytlöufigen worten erklärt“.54 Megander nahm dies nicht hin und verließ Anfang 1538 die Stadt, um hinfort in Zürich zu wirken. Calvin hat die Schuld an dieser Entwicklung Bucer zugeschrieben. Er stand damit nicht allein. Megander schloss seinen Bericht an Bullinger am 23. September: „Hütet euch vor dem Bucerischen Sauerteig!“.55 Oder er spricht später von „der Lutherischen und Bucerischen Pest“ und dem „Bucerischen Tod“ der Berner Kirche. Capito wiederum lässt sich hinreissen, zu sprechen „von der natürlichen Führerschaft der Lutherischen Kirche, die 54 AUGUSTIJN, C., Bern and France, 163, Anm. 32. Es ist kein Exemplar des Katechismus überliefert, weder in der alten noch der neuen Fassung. 55 AUGUSTIJN, C., Bern and France, 160–165, hat alle Urteile über die Herbstsynode zusammengestellt.
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diejenige Christi ist. Das glaube ich ernstlich vor dem Angesicht Gottes“. Oder: „Wahrlich, auf Erden steht nur eine Person über Luther, das ist Christus.“ Bucer kennt die Anschuldigung und schreibt an Ambrosius Blarer: „Wenn jemand dich zu überzeugen sucht, durch unseren Dienst sei die Berner Kirche verwirrt und nicht mehr vereinigt worden, der hat dich von etwas ganz Falschem überzeugt.“ So ausfallend wie Megander wird Calvin nicht, doch sein Ton ist bemerkenswert scharf. Seine Sätze müssen genau abgewogen werden. – Die Verbannung Meganders aus Bern habe sie sehr erschüttert. Sie hören, dass die Berner Kirche zum größten Teil zusammengebrochen sei. – Calvin scheint damit zu meinen, die Einigkeit sei verloren gegangen. – Er beginne zu befürchten, dass die erstrebte Konkordie durch Opferung vieler guter Männer bekräftigt werden soll. Das bedeute nicht, den Fuß zurückzuziehen. sondern eine solche Konkordie zu erstreben, in der sich alle ‘Guten’ mit uns zu verbinden suchen. Das heißt, alles Schwerverständliche, das die Ängstlichen behindert, muss beseitigt werden. Dem haben sie (Farel und er) gemeint, entgegentreten zu müssen. – „Scheint Luther nicht von einer Verwandlung zu träumen, sei es unseres Fleisches in das Fleisch Christi oder seines Fleisches in unseres, scheint er sich nicht einen unendlichen Leib Christi vorzustellen, scheint er nicht eine räumliche Gegenwart anerkennen zu wollen?“ Unter denen, die bisher Einspruch erhoben, sei keiner, der nicht etwas dieser Art argwöhne. – Wenn Luther sie mit ihrem Helvetischen Bekenntnis (1536) annehmen könne, so gebe es nichts, was ihm lieber sei. Aber inzwischen sei Luther nicht der einzige, der in der Kirche beachtet werden müsse. Sie würden grausam und barbarisch sein, wenn sie nicht bedächten, wieviel Tausende unter dem Vorwand einer solchen Konkordie grausam verhöhnt würden. – Was er von Luther halten soll, wisse er nicht, obwohl er von seiner Frömmigkeit völlig überzeugt sei. Ob, dass doch falsch wäre, was von den meisten behauptet wird, die sonst nicht wollen, dass Luther Unrecht geschehe, dass nämlich seiner Standhaftigkeit auch Trotz beigemischt sei. Er habe das Gerücht vom Ruhm der Wittenberger gehört, dass fast alle Kirchen zur Erkenntnis ihres Irrtums gekommen seien. (Calvin lässt sich über Luthers Fehler ausführlich aus.) Wie töricht legte er sich anfangs ins Zeug, als er sagte: Das Brot ist der Leib selbst. Wenn er auch jetzt meint: Der Leib Christi sei im Brot verhüllt, so urteile er, dass Luther aufs Schlimmste irre. Was sagen die anderen Anhänger dieses Sachverhalts? Wenn sich nun die Schweizer in den Kopf setzen würden, auf solche Fehler Jagd zu machen, wäre damit der Weg zur Konkordie bereitet? Hier handele es sich darum, dass jeder für sich jetzt seinen Irrtum ehrlich anerkenne. „Ich konnte daher nicht umhin, dir zu bezeugen, wie du dich erinnern wirst, dass jene Einschmeichelungen mir missfallen, mit denen du dich und Zwingli [in den
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Retractationes] zu entschuldigen versuchtest. Gewiss, die Konkordie sollte durch nichts verzögert werden. – Erscheine es Bucer nicht unerträglich, dass soviele Kirchen, die doch auch ganz Sachsen gegenüber nicht zu verachten sind, obwohl sie sich zu einer billigen Konkordie angeboten haben, solange in der Schwebe gehalten würden?– Im Januar 1537 schrieben die Schweizerstädte an Luther, der aber erst am 1. Dezember antwortete. – Megander sei gezwungen worden auszuwandern, weil er es nicht ertrug, Bucers Züchtigungen zu unterschreiben. [Calvin sucht dann Meganders Verhalten als menschliche Schwäche zu erklären.] Wie ausgelassen triumphierten nun ringsum die Feinde des Evangeliums, dass man anfange, die Pastoren in die Verbannung zu schicken. (usw.) – Sebastian Meyer und Peter Kunz würden in Bern übrigbleiben. Ersterer verdrehte aber die evangelische Reinheit, als er neulich die Samen des Aberglaubens begünstigte und zürnte, dass die Genfer die Beichte und Ehe nicht für Sakramente hielten. Er sei der Aufgabe der Kirchenleitung in schwierigen Zeiten nicht gewachsen. Auf der Kanzel verliere er bei jedem dritten Wort den Faden. Werde er zornig, so lasse er sich zur Zügellosigkeit hinreissen. Wenn ihm jemand zustimme, könne der ihn dahin bringen, wohin er wolle. Bucer möge sagen, Calvin schleudere in seinen Briefen Blitze, aber beim persönlichen Zusammentreffen sei er milde. Bucer möge es beurteilen, wie er wolle. Wenn er abwäge, dann stehe die Offenheit vor der Schlauheit. – Damit führt Calvin einen Seitenhieb gegen Bucer. (Gegen Kunz führt Calvin dessen Kirchenpolitik im Wattland an; darüber unten mehr.) – Aber auch Bucer selbst müsse beschworen werden, wie es scheine. Calvin spreche in seinem eigenen Namen und in dem der Kollegen. Bei der Behandlung des Gotteswortes, vor allem bei den heute strittigen Stücken, suche er seine Rede so zu mäßigen, dass er möglichst wenige verärgere. Bucer habe gesagt, die Anrufung der Heiligen sei mehr im Aberglauben der Menschen begründet als im Wort Gottes. Bucer füge aber hinzu, das müsse der Autorität der Kirchenväter überlassen bleiben, die die Anrufung in ihren Schriften empfehlen würden. Welches Maß müsse man einhalten, wenn zugegeben werde, dass man über die Grenze des Wortes Gottes ungestraft hinausgehen dürfe. (Gemeint ist Bucers Defensio adversus axiomata catholicorum, 1534.) Überall scheine Bucer die Herrschaft zwischen Christus und dem Papst teilen zu wollen. Wir sagen nicht, es sei so, aber wir sollten es nicht einmal befürchten müssen. Begonnen habe Bucer damit im Kommentar zu den Psalmen [1529], einem sonst vorzüglichen Werk. Er selbst fand es stets unerträglich, dass Bucer dort die Rechtfertigung aus dem Glauben von Grund auf zerstörte. [Im Anhang zu Ps 2 akzeptiert Bucer die Formel fides charitate formata.] Im Buch gegen Bischof Céneau [Defensio
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adversus axioma catholicum], ein Buch von tiefer Gelehrsamkeit, werde das Evangelium durch Schwerverständliches verdunkelt. Bucer wäre derselben Meinung, wenn er die Früchte des Buches in Frankreich und England kennen würde. – Wenn Bucer zum Konsens mit Luther mahne, schätze er diesen so hoch ein, dass er versichere, nichts dürfe wertvoller sein. In seinem Maßhalten sei er Luther völlig unähnlich. Niemals habe dieser die Sakramentarier mit mehr Missgunst beladen, als wenn er ihnen vorwarf, die Rechtfertigung aus Glauben werde von ihnen zerstört oder herabgesetzt und verwirrt. Zusammenfassend ist festzustellen: Calvin zieht zunächst einen engen, dann immer weitere Kreise, wenn er Bucer die Schuld an den Vorgängen in Bern und darüber hinaus im Abendmahlsstreit gibt. Bucers Abänderung des Katechismus nennt Calvin eine Züchtigung Meganders. Der Straßburger sei daher Schuld an der Verbannung Meganders aus Bern. Die Berner Kirche sei nun gespalten. Die Verbannung eines Pastors sei ein Triumph der Feinde des Evangeliums. Für die Konkordie müssten offenbar gute Männer geopfert werden. Wie empfindlich Calvin auf die Entlassung eines Pfarrers reagiert, wird jetzt schon sichtbar. Calvin konzentriert sich dann auf Luther, weil längst nicht mehr die Wittenberger Konkordie im Mittelpunkt der Erörterungen stand. Die Schweizer stehen inzwischen im Briefwechsel mit Luther; sie verhandeln über gemeinsame Antworten an ihn. Calvin sieht diese Konzentration auf eine Person nicht ein und nimmt darum zu Luther in dieser Weise Stellung. Dessen christologische Sonderlehren zum Abendmahl zählt er auf. Könne Luther nicht das Helvetische Bekenntnis anerkennen? Warum müsse sich alles nach ihm richten? Er geht dann zu Luthers Trotz und Selbstüberschätzung über. Luther habe geirrt, wenn er lehrte, das Brot sei der Leib Christi. Alle Beteiligten müssten ihre Irrtümer eingestehen, wolle man zu einer Konkordie gelangen. Das gelte auch für Bucer, der in den Retractationes seine frühere Lehre schmeichlerisch darstelle, wie Calvin ihm schon mündlich vorgehalten habe. („Dennoch bin ich mir wohl bewusst, dass ich vom Herrn niemals so verlassen worden bin, seit ich begonnen habe von seinem Wort zu kosten, dass ich nicht über den Gebrauch der Sakramente und die Teilhabe am Leib Christi einen frommen Sinn bewahrt hätte.“) Dazu komme, dass Luther auf das billige Angebot einer Konkordie durch die Schweizer fast ein Jahr lang nicht geantwortet habe. Bucer halte es mit Sebastian Meyer und Peter Kunz, die in der Lehre verdächtig und schlechte Leiter der Kirche seien. Schließlich habe auch Bucer geirrt, wenn er sich für die Heiligenverehrung auf die Kirchenväter berufe und für die Rechtfertigung aus Glauben auch „den Glauben, der durch die Nächstenliebe gestaltet ist“ anrechne. Das habe in Frankreich und England Verwirrung gestiftet.
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Der Grundton des Briefes ist jedoch, dass Calvin die Konkordienverhandlungen begrüßt. Sie müssen unbedingt fortgesetzt werden. Nicht die Schuldzuweisungen sind das letzte Wort, sondern die Erkenntnis der Irrtümer. Aus dieser Einsicht werde eine wahre Konkordie erwachsen. 3. Der Streit mit Pierre Caroli Caroli war nach der Plakataffäre aus Frankreich geflüchtet und traf Mitte Mai 1535 in Genf ein. Er wurde im nächsten Jahr Pfarrer in Neuchâtel und am 5. November 1536 Erster Pfarrer in Lausanne. Elf Tage später wurde der viel jüngere Viret zu seinem Assistenten berufen.56 Dies war die Ausgangslage. Entscheidend für Carolis Verhalten wurde der Umstand, dass er im Jahr 1522 als Prediger nach Meaux gekommen war und dort 1523 der häretischen Predigt bezichtigt wurde. Er war also Mitglied der Bewegung von Meaux und – als Schüler des Faber Stapulensis – Antinomist. Es wurde oben ausführlich dargestellt, dass Bischof Briçonnet im Jahr 1523 seinen Pfarrern verbot, die Gebete für die Toten, das Fegefeuer und die Anrufung Marias und der Heiligen in Frage zu stellen.57 Schon am 21. November 1536 schrieben die Genfer Prediger nach Lausanne, um vor einer neuen Tyrannei Carolis (gemeint ist: gegen Viret) und vor der Anstellung ungeeigneter neuer Pfarrer zu warnen. Als Viret nun im Januar 1537 in Genf weilte, verkündete Caroli eine neue Lehre. Calvin beschreibt sie als „eine neue Weise, durch die es erlaubt sei, den Verstorbenen durch Gebete zu helfen. Nicht dass sie von den Sünden freigesprochen werden, sondern dass sie möglichst bald zur Auferstehung gebracht werden.“58 Caroli blendet also die Reinigung von den Sünden im Fegefeuer aus, lehrt aber die Gebete für die Verstorbenen. Doch was heißt „möglichst bald“ aufgerichtet werden? Wovon aufgerichtet? Da nicht der Jüngste Tag gemeint sein kann, bleibt nur das Fegefeuer übrig. Caroli hält, wenn auch verklausuliert, an der katholischen Lehre fest. Viret kehrte nach Lausanne zurück, konnte aber bei Caroli nichts ausrichten. Im Februar 1537 wurde Calvin von den Genfer Pfarrern dorthin gesandt. Als Caroli sich vor den anwesenden Berner Gesandten verantworten sollte, lehnte er dies ab: Man wolle nur seinen Sturz herbeiführen. Er 56 HERMINJARD, A.L., Bd. 4, 109, Anm. 3; LINDER, R.D., The Political Ideas of Pierre Viret, 26, Anm.32. 57 S. Kap. 7 B 3. 58 COR VI. I, 179, Z. 3–5 (Nr. 33), vgl. 173, Anm. 2: Viret hat später Carolis Lehre in der Weise zusammengefasst: „dass alle Gebete, welche die Kirche im Namen der Verstorbenen durchführt, seien für die Leiber und ihre Auferstehung bestimmt und nicht für die Seelen.“
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schlug zurück und bezichtigte die Anwesenden des Arianismus. Calvin verwies auf das Bekenntnis im Genfer Katechismus, das heißt, auf das Apostolikum und seine Auslegung. Darauf forderte Caroli die Annahme des Athanasianums. Calvin lehnte seinerseits ab, weil er nur etwas für das Wort Gottes erachte, wenn es gehörig geprüft sei. Nun geriet Caroli in Wut, wohl deshalb, weil ein kirchliches Bekenntnis in Zweifel gezogen wurde. Die Gesandten hielten die Behandlung des Streites auf einer Synode für notwendig. Caroli brachte in der Folgezeit christologische Spitzfindigkeiten vor, die sich alle gegen den Genfer Katechismus richten und auf der Synode zu Lausanne am 14. Mai 1537 von Calvin zurückgewiesen wurden. Die Genfer wurden dort rehabilitiert und Caroli verlor sein Pfarramt. Er verließ das Berner Gebiet und kehrte letztendlich in die katholische Kirche zurück. Doch der Carolistreit hatte für Calvin noch ein folgenschweres Nachspiel. Denn Caroli hatte Misstrauen gegen die Genfer Theologen geweckt. War schon Calvins Kritik am Athanasianum letztlich nicht bereinigt, so erhoben Pfarrer aus dem Gebiet von Gex im Wattland den gewichtigeren Vorwurf, Calvin habe behauptet, die Begriffe Trinität und Person seien nichtig. Sie hatten sich dazu auf die „katholische Kirche“ berufen. In der Tat stehen im Athanasianum die Worte: „Der katholische (d.h. allgemeine) Glaube ist der, dass ein Gott sei in Dreieinigkeit und wir die Dreieinigkeit in Einheit verehren und die Personen nicht vermischen“ usw. Der Berner Rat teilte Farel und Calvin diesen Vorwurf am 13. August 1537 mit und fügte hinzu, ihre Behauptung, das Genfer Bekenntnis sei in Bern angenommen. stimme nicht; die Genfer hätten vielmehr das Helvetische Bekenntnis unterschrieben. Der Rat verwies nicht zufällig auf die Confessio Helvetica prior (1536). In ihr war zu lesen, Gott sei „einig im Wesen, dreifaltig in (den) Personen“. Calvin und Farel lenkten ein, gaben aber eine interessante Antwortet. Sie wüssten, dass die Begriffe Trinität und Personen in der Kirche gebräuchlich seien. Durch den Begriff Person werde die Unterscheidung von Vater, Sohn und Heiliger Geist klarer ausgedrückt, und mit ihm könne bei Streitigkeiten leichter eingeschritten werden. Vor dem Begriff seien sie bisher nicht zurückgeschreckt. Sie hätten die Begriffe wohl gutgeheißen, wenn sie sie bei anderen hörten oder wenn sie von ihnen selbst benutzt worden seien.59 Sie würden sich auch künftig bemühen, dass ihre Verwendung in den Gemeinden nicht aufhöre. Warum argumentiert Calvin so zurückhaltend? Man muss sich an sein Leitmotiv der Institutio erinnern, cognitio Dei et nostri. Das heißt, die Got59 Calvin verwendet trinitas und persona in der Institutio von 1536, doch diese Schrift war kein öffentliches Genfer Bekenntnis.
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teserkenntnis muss immer einen Bezug auf uns selbst haben. Trinität und Person sind aber abstrakte Begriffe, die sich nicht auf den Glauben beziehen. Wo man im Genfer Katechismus beide Begriffe erwartet, formuliert Calvin: „Die Schrift und auch die Erfahrung der Frömmigkeit[!] zeigen uns jedoch im einigen Wesen Gottes den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist dergestalt, dass unser Denken nicht den Vater auffassen kann, ohne zugleich den Sohn einzubeziehen, in dem sein lebendiges Abbild leuchtet, und den Geist, in welchem seine Macht und Kraft erscheinen.“ Die Trinität ist akthaft und existentiell formuliert. In der Einleitung zum lateinischen Genfer Katechismus, die zum Jahresbeginn 1538 im Druck erschien und die Rechtgläubigkeit der Genfer Prediger beweisen sollte, gebraucht Calvin die allgemeingültige Formel „in dem einen Wesen Gottes erkennen wir die Dreieinigkeit der Personen“.60 Im Katechismus zeigt Calvin dieselbe Zurückhaltung: „Die Grösse Gottes müssen wir anbeten und nicht erforschen.“ Denn die Herrlichkeit Gottes erahnen wir höchstens; nur den deus pro nobis sollen wir zu erkennen. suchen. Melanchthon könnte sein Lehrmeister gewesen sein, der in den Loci communes von 1521 schreibt: „Die Geheimnisse der Gottheit sollen wir verehren, aber nicht erforschen.“61 Melanchthon hat in seinem Buch die Trinitätslehre nicht behandelt. Für die Protestanten war der Carolistreit schon am Jahresende 1537 abgeschlossen. Caroli hat noch Jahre später Calvin angegriffen. Er verfasste 1545 eine Streitschrift; Calvin antwortete ihm noch im gleichen Jahr. 4. Calvins Ausweisung aus Genf im Jahr 1538 Die Ereignisse müssen nicht zuletzt darum genau betrachtet werden62, weil Calvin drei Jahre später nach Genf zurückberufen wird. Warum und unter welchen Umständen wurden Farel und er ausgewiesen? a. Der politische Umschwung durch die Ratswahlen vom 3. Februar 1538 Der von Farel und Calvin verlangte und vom Rat beschlossene Bürgereid wurde ein Misserfolg. Am 19. September 1537 ermahnte der Rat die „Zehner“, die Bürger nach St. Peter zu führen. Den Verweigerern wurde die Verbannung angedroht. Am 30. Oktober drängte Calvin den Rat zu Fortschritten in der Eidesfrage. Aber am 12. November musste der Rat festsel60 COR III. II, 117, Z. 5f. 61 StA II, 1, 6, Z. 16f. Bullinger äußert sich am 27. Juli 1537 ebenso; HERMINJARD, A.L., Bd. 4, 265 (Nr. 644). 62 Einen vollständigen Nachweis der Texte liefert VAN STAM, F.P., Farels und Calvins Ausweisung aus Genf am 23. April 1538, in: ZKG 110 (1999), 209–228.
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len, dass viele dem Befehl folgten, andere nicht. Aus der Rue des Allemands sei keiner gekommen. Am 25. November verteidigte sich der Rat gegen den Vorwurf der Freiheitsschändung, der im Rat erhoben wurde. Trotzdem blieb der Rat hart und beschloss, dass diejenigen, die den Eid nicht ablegen, die Stadt zu verlassen hätten und anderswo nach ihrem Gutdünken leben sollten. Doch am 26. November mussten Farel und Calvin vor dem Rat den Bürgereid verteidigen. Die Stimmung schien umzuschlagen. Sie verwiesen auf die Versammlung und den Eid des Volkes beim Propheten Nehemia (10,29f) und auf Jeremias Verheißung eines neuen Bundes (31,31f).63 Ihre Verteidigung hing mit Äußerungen der Berner Gesandten zusammen, die bei einer Mahlzeit gesagt hatten, die Genfer seien meineidig, denn das Bekenntnis enthalte die Zehn Gebote, die in Genf beeidet würden, obwohl sie niemand halten könne. Der Berner Rat wollte sogar wegen der Unruhen in Genf eine Gesandtschaft schicken. Daher wurden Calvin und Farel Anfang Dezember nach Bern gesandt, um den Rat und die Prediger zu beruhigen. Dies gelang ihnen, doch gab die Einmischung der Berner den Gegnern des Bürgereids Auftrieb. Der Streit setzte sich fort, denn viele Bürger verweigerten den Eid. Am Sonntag, dem 12. Januar, sollte das Abendmahl gefeiert werden. Farel, Calvin und Corault beantragten die Zurückweisung der „Gegner der Einheit“, das heißt, der Eidesverweigerer vom Abendmahl. Doch der Rat untersagte dies. Die Prediger gaben nach, obwohl die Zulassung zum Abendmahl der Kernpunkt des ganzen Streites war. Calvin hat in aller Breite die biblische Begründung des Bürgereids im Vorwort des lateinischen Genfer Katechismus vorgelegt. Doch war diese für die protestantische Öffentlichkeit bestimmt und eher ein Hilferuf an die Nachbarkirchen in letzter Minute. Die Ratswahlen am 3. Februar 1538 brachten den politischen Umschwung. Die vier neugewählten Bürgermeister (Syndici) und die Mitglieder des Kleinen Rates gehörten mehrheitlich zu den Kritikern der Prediger. Diese verloren nun den Rückhalt im Rat. Vom Bürgereid war keine Rede mehr. b. Calvins Plan einer Synode der evangelischen Schweizerstädte zur Kirchenzucht Calvin entwickelt, sicherlich nicht zufällig, am 21. Februar im Brief an Bullinger einen interessanten Plan, der aus den Genfer Schwierigkeiten herausführen und eine allumfassende Lösung bringen konnte. Nur das will ich nebenbei anzeigen. Ich meine, eine dauerhafte Kirche werden wir nicht haben, wenn nicht jene alte, das heisst apostolische Kirchenzucht wiederhergestellt wird, die bei uns in vielen Stücken vermisst wird. Wir haben noch nicht erzwin63
Vgl. COR III, II, 118f.
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gen können, dass eine reine und heilige Beachtung der Exkommunikation nach dem Heimkehrerrecht (postliminio) wiederhergestellt wurde, selbst wenn die Stadt, die im Verhältnis ihrer Grösse überbevölkert ist, in Pfarrbezirke eingeteilt würde. Wie diese verworrene Verwaltung des Amtes es mit sich bringt, kennt uns das Volk mehr als Prediger denn als Seelsorger (eines Bezirkes). Es gibt noch viel anderes, was wir heftig zu bessern begehren, aber wir können keinen Weg finden, wenn es nicht in gemeinsamem Glauben, Eifer und Fleiss geschieht.
Calvin und Farel sind also zu der Einsicht gekommen, dass zur Kirchenzucht die Einteilung der Stadt in Pfarrbezirke gehört, für die die einzelnen Pfarrer zuständig sind. Nur in Einzelseelsorge ist Kirchenzucht durchführbar. Für Genf kam diese Einsicht aber zu spät. Calvin wird den Plan erst in Straßburg weiterverfolgen. Er fährt fort: O, wenn doch eine reine und echte Eintracht unter uns zustande kommen würde! Was sollte uns dann hindern, dass eine Art öffentliche Synode zusammenträte, wo jeder Einzelne vorbringen könnte, was seinen Kirchen am meisten zuträglich ist, und dass in gemeinsamer Beratung ein Plan zum weiteren Handeln gefasst würde, und wenn nötig, Staaten und Obrigkeiten sich durch gegenseitige Ermahnungen unterstützten und mit ihrer Macht einander bestärkten?64
Mit dem Heimkehrrecht ist die Rückkehr zur Urgemeinde gemeint. Calvins Plan lässt Raum für die Verschiedenheit der evangelischen Kantone und ihrer Ordnungen und ist doch auf das Ziel der Exkommunikation beim Abendmahl ausgerichtet. Eine Chance zur Verwirklichung besaß der Plan nicht. Er beweist aber, dass Calvin nicht zum Einlenken bereit war, sondern im Gegenteil die Kirchenzucht in allen Kantonen eingeführt haben wollte. c. Die Lausanner Synode zur Einführung der Berner Zeremonien Sie fand vom 31. März bis 4. April 1538 statt und sollte die Annahme der Berner Zeremonien im Wattland beschließen. Die Berner ergriffen aber auch die Gelegenheit, mit Farel und Calvin in Lausanne über diesen Punkt zu verhandeln. Um die Situation zu verstehen, muss weit ausgeholt und zunächst auf den Brief Calvins an Bucer vom 12. Januar 1538 zurückgegriffen werden. Es wurde bereits Calvins vernichtende Kritik an Sebastian Meyer erwähnt. Es soll nun die an Peter Kunz folgen. Was für ein Mensch Kunz ist, das wage ich kaum zu sagen. Durch euer mildes und bescheidenes Wesen schien er ein wenig gezähmt zu sein. Und er hat neulich in unserer Angelegenheit eine erstaunliche Aufmerksamkeit gezeigt. [Gemeint ist wohl in der Eidesfrage.] Einen Augenblick später wurde er schlimmer, als er je gewesen ist. Farel berichtet, er habe, als er ihm neulich [im Dezember in Bern] begegnet ist, eine wütendere Bestie nie gesehen. Seine Miene, Gebärde und Rede und sogar Ge64
COR VI.1, 329, Z. 16–31.
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sichtsfarbe atmete Wut. Wie auch immer man ihn hinterher entschuldigen mag, bis ich ihn als einen anderen Menschen kennen gelernt habe, glaube ich, er ist voll Gift. Warum, bitte, hasst er uns so gründlich, dass er stets das Äusserste androht?
Calvin führt als Beweis an, dass Kunz Leute zum Dienst am Wort einsetzt, die an den Galgen gehörten. Aber gute Männer, die von ihnen selbst geprüft seien, wage er nicht anzunehmen, wenn sie nicht von der ganzen Pfarrklasse, für die sie bestimmt sind, geprüft seien. Er unterstütze notorische Wiedertäufer und Diebe. Warum wird Calvin so ausfällig gegen Kunz? Die Genfer Prediger hatten schon am 21. November 1536 der Synode in Lausanne mitgeteilt: „Wir haben mit Christi Hilfe Kolloquien durchgeführt. Die uns benachbarteren (Pfarrer) waren eifrig und bestrebt, mit uns zusammenzukommen, damit nicht unter uns Spannungen auftreten, sondern wir in allem eins seien.“65 Es geht also um die Zuständigkeit für die französischsprachigen Pfarrer im Wattland. War der deutschsprachige Kunz zuständig oder waren es die Genfer Pfarrer? Als Calvin im Auftrag der Genfer Pfarrer Denis Lambert im Chablais ermahnte, vom Pfarramt zurückzutreten, antwortete der, er sei von den Bernern geschickt und eingesetzt worden.66 Calvin schließt den Brief an Bucer mit der Bemerkung: „Allen Pfarrern in den benachbarten Gemeinden ist verboten worden, irgendwelchen Verkehr oder in irgendeiner Weise Gemeinschaft mit uns zu haben.“ Es sollte sich bald zeigen, dass noch eine weitere Streitfrage kontrovers war. Die Berner Pfarrer wollten lutherische Zeremonien durchsetzen, und dies nicht nur im Wattland, sondern auch in Genf. Schon in der Instruktion für die Berner Gesandten von Anfang Dezember 1537 heißt es: „Auch ist euch befohlen, mit ihnen zu bereden, sich mit meinen gnädigen Herrn der Zeremonien halber zu vergleichen, in Sonderheit der Taufsteine halber etc.“. Es handelte sich nur um wenige Riten. Im Chorraum sollten wieder Taufsteine aufgestellt werden, vier Festtage an Wochentagen (Weihnachten, Beschneidung Jesu, Verkündigung Mariä, Himmelfahrt) wieder eingeführt und beim Abendmahl, das zu Ostern gefeiert werden sollte, Oblaten verwandt werden, das heißt, das Brotbrechen sollte abgeschafft werden. Wenngleich der Beweis fehlt, ist zu vermuten, dass der Wegfall der monatlischen oder vierteljährlichen Abendmahlsfeiern Calvin heftig erregte. Es waren die vorreformatorischen bzw. lutherischen Riten, wie sie in Bern eingeführt worden waren.67 Dies war die Lage, als Ende März die Synode in Lausanne 65 COR VI. 1, 147, Z. 53–55. 66 Farel an Fabri am 6.12.1536, CO 12, 76 (Nr. 43); vgl. COR VI. 1, 300, Anm. 28. 67 N. Zurkinden missbilligt Calvin gegenüber die Berner Forderungen und erinnert daran, dass in Zürich das Abendmahl sitzend gefeiert, die Jungfrau Maria verehrt und die Feiertage [tatsächlich nicht viele] abgeschafft seien. COR VI. 1, 364, Z. 10–12.
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stattfand, auf der diese Zeremonien auch für das Wattland beschlossen wurden. Farel und Calvin sollten dort auch erscheinen. Der Ablauf der Einladungen ist bemerkenswert. Am 5. März wandte sich der Rat von Bern an den von Genf und bat ihn, Farel und Calvin das Treffen in Lausanne mitzuteilen und ihnen die Teilnahme zu erlauben. Als Thema wurde genannt „die Einigkeit (union) unserer Prediger“. Am 11. März beschloss der Genfer Rat, die Berner Riten zu übernehmen. Am nächsten Tag verlangte er von Calvin, sich zu rechtfertigen für seine Bemerkung in der Predigt, die Lausanner Synode sei „ein Rat des Teufels“. Ob damit die Zeremonien oder die Abendmahlsfeier einmal im Jahr gemeint ist, bleibt unklar. Am 20. März wiederholte der Berner Rat die Einladung, stellte aber die Bedingung, dass Farel, Calvin und die anderen Pfarrer zuvor die Berner Riten angenommen hätten. Am 26. März beschloss der Rat, Calvin und Farel zu entsenden. Es ist anzunehmen, dass die Genfer Prediger aber nicht an der Synode in Lausanne teilnahmen. Doch die Berner ließen nicht locker. Am 15. April wandte der Rat sich direkt an Calvin und Farel und ermahnte sie, sich mit dem Genfer Rat zu einigen. Es gehöre die Einigung zwischen beiden Kirchen zum Fundament des Glaubens. Bern hatte damit den Streit um die Zeremonien nach Genf verlagert. Der freundliche Ton des Schreibens vermag nicht darüber hinweg zu täuschen, dass Bern energisch drängte. Ausdrücklich verlangte der Berner Rat, die Angelegenheit nicht bis zur Tagung in Zürich aufzuschieben. Gemeint ist die Zusammenkunft der Vertreter der evangelischen Schweizerstädte und Straßburgs am 28. April in Zürich, wo die Antwort auf Luthers Brief beraten werden sollte. Dass Calvin und Farel diese Gelegenheit doch nutzten, um sich zu rechtfertigen, hing mit ihrer Ausweisung aus Genf am 23. April zusammen. Die Ereignisse überstürzten sich nun. Die Feier des Abendmahls zu Ostern (21. April) stand bevor. Der Rat verlangte am Freitag zu wissen, ob Calvin und Farel das Abendmahl nach dem Berner Ritus austeilen würden. Diese baten, das Abendmahl bis nach Ostern aufzuschieben, nämlich bis zur Tagung in Zürich. Aber der Rat blieb bei seiner Meinung. Er verbot dem blinden Corauld, am nächsten Morgen die Frühpredigt zu halten, denn er habe in der Predigt gesagt, der Rat habe „Füsse von Ton“ (Daniels Traumdeutung: das Reich wird ein schwaches Reich sein; Dan 2,43), er verwechsele das Himmelreich mit dem „Reich der Frösche“ (2. Mose 7 und 8) und sei „betrunken“ (z.B. Jes 63,6). Nun sprachen Calvin und Farel ihre entschiedene Weigerung aus, sowohl zu Ostern zu predigen als auch das Abendmahl auszuteilen. Es ist zu beachten, dass der Streit jetzt nicht mehr allein um die Berner Riten ging. sondern um die geistliche Jurisdiktionsgewalt des Rates. Calvin
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und Farel bestritten sie und weigerten sich deshalb „völlig“, zu Ostern ihren Dienst zu tun. Der blinde Corauld predigte trotzdem am nächsten Morgen in aller Frühe und wurde daraufhin gefangen gesetzt. Calvin und Farel protestierten noch am selben Tag vor dem Rat mit elf ihrer Anhänger gegen die Gefangennahme Coraulds. Eine unüberbrückbare Konfrontation war entstanden. Farel sagte vor dem Rat, es sei böse, boshaft und Sünde, Corauld ins Gefängnis zu werfen. Und: „Ohne mich wäret ihr nicht so hoch gestiegen.“ Die Bürgermeister erwiderten, Corauld sei im Gefängnis, weil er den Rat und die Regierung getadelt hätte. Ein interessantes Problem war entstanden: Durften die Prediger den Rat kritisieren? Wenn nicht, wo blieb dann die Freiheit der Verkündigung? Der Rat hatte zwar Rechte als Schutzherr der Kirche, diese aber überschritten, wenn er mit dem Predigtverbot in geistliche Rechte eingriff. Doch man kann die Frage auch umgekehrt beantworten. Der Rat übte ja das politische und geistliche Regiment aus. Das Problem der Staatskirche stellte sich, das Calvin Zeit seines Lebens begleiten und ihm schwer zu schaffen machen sollte. Die Ereignisse am Ostertag verliefen entsprechend den eingenommenen Fronten. Das Verbot missachtend, traten die Prediger vor die Gemeinde, Calvin in St. Peter, Farel in St. Gervais. Es war ein denkwürdiger Auftritt. Beide Pfarrer weigerten sich im Angesicht der Gemeinde, zu predigen und das Abendmahl auszuteilen mit der Begründung, dass in Genf im Rat und in der Gemeinde Unordnung herrsche und sie unmöglich das heilige Mahl der Gemeinschaft mit Christus feiern könnten.68 Zwei Prediger exkommunizierten eine ganze Stadt. Doch wie war eine kollektive Exkommunikation zu begründen? Mußte Kirchenzucht nicht individuell sein? Am Montag traten der Kleine Rat und der Rat der Zweihundert zusammen. Man beschloss, die Prediger wegen Ungehorsam zu entlassen. Am nächsten Tag bestätigte die Bürgerversammlung den Beschluss. Noch am selben Tag, dem 23. April, verließen die Prediger die Stadt. Am nächsten Sonntag wurde das Abendmahl von neuen Predigern nach dem Berner Ritus gefeiert. Es überrascht, dass das Ratsprotokoll auch die Entgegnung der Betroffenen festhält. „Genannte Prediger haben daraufhin erwidert: Nun wohlan! Wenn wir Menschen gedient hätten, wären wir übel belohnt worden. Aber wir haben einen großen Herrn, der uns belohnen wird. So hat Calvin geantwortet. Herr Farel hat entgegnet: Wohlan! Es ist gut, denn es kommt von Gott.“
68 Die Prädikanten hatten am 12. Februar Klage geführt über nächtliche Unordnungen in der Stadt. Darauf erfolgte ein Ratsedikt gegen nächtliche Ruhestörung und das Singen unanständiger Lieder und Spottverse. Registres du Conseil de Genève à l’epoque de Calvin, tom. III, Genf 2006, 95 (THR CDIX).
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5. Der Versuch einer Rückkehr Calvins Die beiden Prediger wandten sich zunächst nach Bern. In Calvins Memorandum für den Berner Rat vom 26./27. April wird zur Verteidigung angeführt. Als wir das Osterabendmahl nicht austeilten, erklärten wir öffentlich vor dem Volk: Es geschehe nicht um des [ungesäuerten] Brotes willen. Dies ist ein religiöses Mittelding, das in der Freiheit der Kirche stehe. Vielmehr hätten wir uns in der großen Schwierigkeit befunden, dass wir das heilige Geheimnis (des Abendmahls) entweiht hätten, wenn das Volk nicht besser vorbereitet gewesen wäre. Wir wiesen auf die Unordnung und Abscheulichkeiten hin, die bis heute noch in der Stadt herrschen, auf die verdammenswerten Gotteslästerungen, auf die Unruhen, Parteiungen und Spaltungen. Denn öffentlich und ohne Bestrafung fielen Tausende von Spöttereien gegen Gottes Wort und selbst gegen das Abendmahl vor.69
Calvins Argumentation scheint wohlbegründet zu sein. Im Berner Rat und bei den dortigen Predigern besaßen sie keine Freunde. Dafür gab es zwei Gründe. Der eine waren die Berner Riten, der andere die Kirchenzucht. Wie bereits ausgeführt, wollten Calvin und Farel ihre Grundsätze der Heiligung des Abendmahls und darüber hinaus des ganzen Lebens auch bei den Pfarrern des Wattlands durchsetzen. Aus diesem Grund wird Calvin so ausfällig gegen Meyer und Kunz im Brief an Bucer. Insbesondere Kunz betrieb die Anstellung französischsprachiger Pfarrer im Wattland, die Calvin hart kritisierte. Rechtlich gesehen, waren Calvin und Farel im Unrecht. Das Wattland unterstand sowohl zivil wie kirchlich dem Berner Rat, wie sie beide wussten. Die reine Verkündigung des Evangelium hatte aber für sie den Vorrang. Sie wagten bewusst eine Grenzüberschreitung, so wie Bern seine Riten im Rückfall in früheres Machtstreben auch in Genf durchsetzen wollte. In Bern legten sie das Memorandum vor, das die Berner sofort nach Genf sandten. Den Berner Rat, der wahrlich den Widerstand gegen die Prediger geschürt hatte, überkam nun ein Schrecken. Es drohte in Genf das Scheitern der Reformation; denn in der Stadt befanden sich viele Anhänger Roms und die französische Grenze lag nahe. Ende Mai belästigten beispielsweise 500 französische Reiter das Volk in der Umgebung von Genf. Auch hatte Farel bei seinem Besuch in Bern gewarnt, in Genf wollten die einen die katholische Messe, die anderen das Evangelium. Insbesondere war Ende März Kardinal Sadolets Schreiben an die Genfer bekannt geworden, in dem er die Stadt zur Rückkehr unter den Gehorsam des Papstes aufforderte. Der Berner Rat riet in seinem Schreiben nach Genf, den blinden Corauld freizulassen – was inzwischen geschehen war – und gegenüber Calvin und Farel 69
COR VI. 1, 463, Z. 35–45 (App. 2A).
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Mäßigung walten zu lassen. Wenn er Gleichförmigkeit der Zeremonien gefordert habe, dann sei nicht an Zwang gedacht gewesen. Das ungesäuerte Brot beim Abendmahl sei in der Tat ein Mittelding, das einzuführen in der Hand der Kirche liege. Sie sollten bedenken, dass die Unruhen ihre gemeinsamen Feinde mit Freude erfüllten. Man kann das Schreiben für eine Teilrehabilitierung Calvins und Farels halten. Bewirkt hat es in Genf nichts. Nun kam Calvin und Farel gelegen, dass die sieben evangelischen Städte (Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen, St. Gallen, Mühlhausen und Biel) vom 29. April bis 3. Mai sich in Zürich versammelten, um in Anwesenheit Bucers und Capitos die Abendmahlskonkordie zu beraten. Die Genfer Prediger begaben sich nach Zürich, wo Bucer am 2. Mai den Anwesenden ihr Anliegen vortrug, da sie selbst kein Deutsch verstanden. Liest man das Protokoll, so hat er sie schlecht vertreten. Denn von Abendmahlszucht, Eidesleistung und neuen Riten ist keine Rede. Vielmehr trug Bucer in ihrem Namen die Befürchtung vor, dass die Spaltung der Bürgerschaft und die herrschenden Unruhen die Kirche in Genf zu Grunde richten werde. Farel und Calvin hatten dieses Argument nicht gebraucht. Es war das Argument der Berner und verriet konfessionspolitische Besorgnis. Richtig war, dass die Prediger wegen der Spaltung und Unruhe in Genf das Abendmahl verweigert hatten. Wenn irgendein Argument die Anwesenden zum Handeln bewegen würde, dann war es das vorgetragene. Die geschickte Diplomatie Bucers wird sichtbar. Typisch bucerisch war auch der nächste Satz: „Dass sie wegen einiger Dinge, vielleicht dass sie bisher zu streng gewesen, beurlaubt worden seien. Sie bäten demütig, mit ihnen und der Genfer Kirche Mitleid zu haben und aus christlicher Liebe hierin Fürsorge zu üben, damit die gutherzigen Christen nicht gar zu verlassen wären. Und wenn sie bisher gefehlt oder zu streng gewesen wären (wie die Städtevertreter vielleicht erkennen möchten), wollten sie es sich ferner gern sagen lassen.“ Bucer hatte mit dieser Darstellung Erfolg. Man beschloss, dem Genfer Rat zu schreiben, er sollte die Prediger wieder zurückkehren lassen. Auch sollte er nach einer allgemeinen Verbesserung der Kirchen trachten. Ob der Sadoletbrief zu dieser Mahnung beitrug, ist nicht auszumachen. Die Berner wurden „aufs höchste und dringendste“ gebeten, „um Gottes und christlicher Einigkeit willen“ Botschaft nach Genf zu schicken und die Prediger und ihre Fehler („so sie etliche finden“) zu verteidigen. Dieser Beschluss wollte den Genfer Streit beilegen und die Eintracht in der Stadt wiederherstellen. Er hätte auch Erfolg haben können, wenn nur die Demut Calvins und Farels und ihr Eingeständnis der Fehler zutreffend gewesen wären. Zwar müssen sie Bucer gegenüber ein Eingeständnis gemacht haben, denn dessen Art war es, Nebensächliches in den Vordergrund zu stellen, nicht aber, Fakten zu erfinden. Nun hatten Calvin und Farel in ihrem Memorandum Pfarrbezirke in Genf und mehr Pfarrer gefordert. Sie wollten also
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künftig eine individuelle Kirchenzucht haben, und nicht mehr eine kollektive Exkommunikation vornehmen. Vielleicht war der Fehler auch im Januar die Bindung des Eides an die Abendmahlszulassung. Vielleicht war es auch Farels beleidigender Ton gegenüber dem Rat am 20. April. Doch sind dies nur Vermutungen. Die Eingriffe des Rates in den Predigtauftrag der Pfarrer und in die Heiligkeit des Abendmahls, mit der Calvin die Exkommunikation begründete, waren es sicherlich nicht. Es müssen Dinge gewesen sein, die nicht direkt die 14 Artikel betrafen, die beide Männer als Forderungen mit nach Genf nahmen. Doch bevor auf sie eingegangen wird, müssen die Ereignisse in Zürich zum Abschluss gebracht werden. Die Prediger erfuhren schon in Zürich von den Verhandlungen, denn das Protokoll schließt: Wir haben auch durch einige unserer Gesandten aufs ernstlichste mit ihnen reden lassen, sie sollten sich in ihrer ungeschickten Schärfe mässigen und sich gegenüber diesem unentwickelten Volk christlicher Sanftmut befleissigen.70 Mit einem Wort: Sie sollen die Reformation in Genf behutsam durchführen. Nach dieser Unterredung fassten Calvin und Farel ihre Forderungen in 14 Artikeln zusammen. Die ersten fünf betreffen die Zeremonien (Taufsteine, Oblaten, Festtage), bei deren Beachtung sie sich nachgiebig zeigen, nachdem auch die Berner sie als Mitteldinge anerkannt hatten. Allerdings müsse ihnen Gelegenheit gegeben werden, sich vor der Gemeinde in Genf zu rechtfertigen. Die Artikel sechs bis neun betreffen die Kirchenzucht. Es wird zurückhaltend formuliert: Es muss Eifer angewandt werden, sie zu stärken. Unter ihren vielen Wünschen sind vor allem zu nennen: Erstens die Einteilung der Stadt in Pfarrbezirke; jeder Pfarrer muss für bestimmte Gemeindeglieder zuständig sein. Zweitens die Anstellung einer genügenden Anzahl von Pfarrern. (Drittens) zur Wiederherstellung der Exkommunikation muss der Rat für die einzelnen Bezirke erprobte und verständige Männer bestimmen, die mit den Pfarrern die Kirchenzucht durchführen. Die Artikel 11 bis 14 betreffen als Hauptpunkte die monatliche Feier des Abendmahls und das Singen der Psalmen im Gottesdienst. Hinzu kommt das Verbot obszöner Rundgesänge wie in Bern.71 Man könnte die Artikel maßvoll nennen, wenn nicht der Artikel neun über die Kirchenzucht wäre, das monatliche Abendmahl und das Psalmensingen. Die beiden erstgenannten Punkte gehören zusammen. In ihnen sind die Prediger unnachgiebig. Hingegen 70 CO 10b, 193 (Nr. 112). Vgl. VAN STAM, F.P., Farels und Calvins Ausweisung aus Genf am 23. April 1538, in: ZKG 110 (1999), 225f, stellt das Urteil mehrerer anwesender Theologen zusammen, die alle christliche Sanftmut und Bescheidenheit bei den Predigern vermissen, für ihr theologisches Anliegen aber kein Verständnis zeigen, weil sie alle keine nennenswerte Abendmahlszucht üben und den Bürgereid nicht kennen oder ihn bereits ohne Schwierigkeit durchgeführt haben. 71 COR VI, 1, 467–472 (App. 3).
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wird der Bürgereid nicht erwähnt. Er muss wohl auch Calvin und Farel nach allen Unruhen als undurchführbar erschienen sein. Vor allem bestehen sie darauf, in Genf gehört zu werden. Sie seien ungehört verdammt worden. Farel und Calvin kehrten sofort nach Bern zurück, wo sie auf die Rückkehr von Kunz und Meyer warteten. Die Situation war verworren, denn sie wurden von jenen mit Vorwürfen überhäuft. Diese betrafen vor allem die Zeremonien. Doch der Berner Rat wollte den Zürcher Beschluss durchführen. Die Prediger sollten die Artikel ruhen lassen und nach Genf reisen, begleitet von zwei Gesandten, die ihre Rückkehr betreiben sollten. Calvin und Farel gaben nach, denn nur so könnten sie sich in Genf verantworten. Doch vor der Stadt angekommen, untersagte ein Herold ihnen den Eintritt in die Stadt. Die Artikel wurden vom Sekretär im Rat der Zweihundert in missgünstiger Weise verlesen, Calvin erwähnt gegenüber Bullinger die Zwischenrufe im Rat. ‚Siehe da, sie sprechen von der Kirche, als wäre sie in ihrem Besitz!‘ ‚Siehe da, sie verdammen die Obrigkeit!‘ ‚Siehe da, sie fördern die Tyrannei!‘ Eine Rückkehr nach Genf war nun ausgeschlossen. Die Zwischenrufe belegen den Freiheitsdrang der Genfer. Hinter ihm konnte sich ein Rückfall in den Katholizismus verbergen. Doch wenn man sich daran erinnert, mit welcher Kraft und Entschiedenheit sich die Bürger gegen die Herrschaft des Bischofs, Savoyens und schließlich der Berner zu wehrten und ihre Freiheit zu wahren wussten, so liegt darin mit ein Grund für das Scheitern Calvins und Farels in Genf.
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TEIL IV Calvin in Straßburg 1538 bis 1541
Calvins Leben und Werk in dieser Zeit besteht aus seiner Tätigkeit als Pfarrer und Lektor in Straßburg, aus seinem nicht weniger bedeutenden kirchenpolitischen Wirken in Frankfurt, Worms und Regensburg, aus seinem Eintreten für die Verfolgten in Frankreich und aus seinem umfangreichen literarischen Auftreten in der Öffentlichkeit. In diesen Jahren wird er sich klar über die Grundsätze des Gemeindelebens, er lernt mit den Katholiken nicht nur zu streiten, sondern auch zu verhandeln, und wird bekannt als Schriftsteller auf allen theologischen Gebieten.
Kapitel 16: Calvins Wirksamkeit in seiner Straßburger Zeit 1. Calvin und du Tillet – zwei Gefährten im Exil trennen sich Ihr Briefwechsel vom Januar bis zum Dezember 1538 – sechs Briefe an der Zahl – findet Calvin zuerst noch in Genf, dann in Basel und endlich in Straßburg vor. Er ist geeignet, seinen Übergang von Genf nach Straßburg zu beleuchten, seine inneren Kämpfe mitzuerleben und die Trennung zweier jahrelanger Gefährten zu verfolgen. Darum soll er am Anfang seiner Tätigkeit in Straßburg behandelt werden. Er ist auch darum sehr geeignet, weil er nicht polemisch geführt wird. An einer klaren Nennung der Gegensätze fehlt es nicht, aber der Ton langer Vertrautheit bleibt bestehen. Es ist daher wichtig, die Reihenfolge der Briefe zu beachten, denn nur so wird die Abkühlung der Beziehung deutlich. Im ersten Brief vom 31. Januar 1538 schreibt Calvin: „Es ist wahr, dass ich viel Frucht aus der Gesellschaft und dem Umgang mit Euch hatte; Eure Abwesenheit konnte für mich nicht erfreulich sein.“ Calvin spielt auf den Aufenthalt in Angoulême im Jahr 1534 an, auf die gemeinsame Flucht aus Frankreich, auf den Aufenthalt in Ferrara und darauf, dass du Tillet es war, der Farel Calvins Aufenthalt in Genf verriet und damit an seinem Festhalten in der Stadt beteiligt war. Nun hatte er sich im Sommer 1537 nach Straßburg begeben. In seinem Abschiedsbrief, der nicht erhalten ist, hatte er
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seine Gründe genannt. Für Calvin waren sie, wie er schreibt, eine Überraschung. Würde man sie kennen, wären die Vorgänge durchsichtiger. Man kann nur Vermutungen anstellen. Sicher ist, dass du Tillet nicht behauptet hat, die Kirche Roms sei die wahre Kirche. Dann hätte Calvin anders reagiert. Er hat von den „Kirchen Gottes“ geredet, doch fragt Calvin zurück, ob er die protestantischen Kirchen damit für schismatisch erklären wolle. Das Nächstliegende ist, dass du Tillet sich dafür einsetzte, die Annäherung an die römische Kirche voranzutreiben. Auf diese Fährte führt auch Calvins Satz, dass du Tillet „Persönlichkeiten“ erwähne, „die in gewissem Masse ihm, ohne Absicht, geholfen haben, einen solchen Schluss zu ziehen. Wenn diese Leute in Briefen an mich diesen Punkt berührten, hielten sie es verborgen.“ Gemeint sind Bucer und Capito. Im fast gleichzeitigen Brief an Bucer vom 12. Januar (s.o.) hatte Calvin dessen Äußerungen über die Anrufung der Heiligen, über die Autorität der Kirchenväter und die Rechtfertigung aus Glauben (als fides charitate formata) angegriffen. Wenn diese Vermutung richtig ist, dann hatte du Tillet sich nicht zufällig nach Straßburg begeben. Als dieser im Dezember 1537 die Stadt wieder verließ und sich nach Paris begab, gab Bucer ihm das Zeugnis mit, er stimmte in allen Stücken so weit mit ihm überein. So habe er (nämlich) seine Meinung aufgefasst.1 Du Tillets Antwort vom 10. März aus Paris kann Calvin noch nicht gekannt haben, als er am 10. Juli erneut an ihn schreibt. Der Brief des Gefährten ist wenig ergiebig. Du Tillet geht Punkt für Punkt auf Calvins Brief ein und erhebt Einwände. Am klarsten bezieht er Stellung, wenn er zu den Missbräuchen und Götzendiensten in der römischen Kirche bemerkt, diese disqualifizierten die Kirche nicht. Er hebt die kirchliche Autorität hervor. Deutlich spitzt sich die Diskussion zwischen beiden zu. Im Brief vom 10. Juli behandelt Calvin nur seine persönliche Situation. Er schreibt aus Straßburg, wohin er sich von Basel aus zu einem Besuch begeben hatte. Er hofft auf eine erneute Zusammenkunft der protestantischen Schweizerstädte und Straßburgs, gleich jener, die im Mai in Zürich stattgefunden hatte. Auf ihr soll Farels und seine Tätigkeit in Genf gerechtfertigt werden. Dann könnte die Unordnung und die Spaltung in Parteien dort beseitigt werden. Die Berner würden sich darum bemühen. Calvin hätte an dieser Stelle auf den Sadoletbrief verweisen können, dessen Beantwortung den Protestanten Sorge bereitete. Er tut es aber nicht. Er werde sich nach Basel zurückziehen und warten, was der Herr mit ihm vorhabe. Er fürchte nichts mehr als eine Rückkehr nach Genf. Calvin hat offensichtlich Farels bekannte Beschwörung im Blick, wenn er fortfährt: „Gerade damals erkannte ich die Berufung Gottes, die mich gebunden 1
HERMINJARD, A.L., Bd. 6, 62; vgl. COR VI. 1, 314, Anm. 10.
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hielt und deren ich mich getröstete. Jetzt fürchte ich im Gegenteil, ihn in Versuchung zu führen, wenn ich wieder eine so große Bürde auf mich nehme.“ Doch will er alles dem Herrn überlassen. Calvin lässt du Tillet einen Blick in sein Inneres tun, wenn er ihm seine Gewissheit mitteilt, in Genf von Gott berufen gewesen zu sein, und seine Unsicherheit im Blick auf eine neue Berufung. Er sieht offensichtlich den Ruf nach Straßburg auf sich zukommen. Im Brief vom 7. September wird du Tillet nun ganz deutlich. Er habe von Calvins Entlassung in Genf gehört. Der Grund liege bei übelgesonnenen Leuten und auch bei Calvin selbst, der das Ausmaß überschätze, in dem sein Verhalten in Übereinstimmung mit dem Wille Gottes stehe. Mit einem Wort: Du Tillet hält Calvin vor, nur zum Teil nach dem Willen Gottes gehandelt zu haben. Was die Rechtmäßigkeit seiner Berufung betreffe, so sei er vom Stadtrat berufen und auch wieder entlassen worden. Von Gott sei dieser nicht autorisiert gewesen. Calvins Frage der Berufung durch Gott wischt du Tillet damit mit einer Handbewegung beiseite. Was kann Calvin darauf antworten? Im Rest des Briefes versucht du Tillet, Calvin zur Einsicht in seine Sünde zu bringen und ihn zur Rückkehr nach Frankreich zu bewegen. Calvin antwortete am 20. Oktober, er habe die Ereignisse als Züchtigung Gottes für die eigene Unerfahrenheit und andere Fehler verstanden. Er bitte den Herrn, sie ihm von Tag zu Tag deutlicher werden zu lassen. Was die Berufung betrifft, so habe du Tillet nicht so gute Gründe, sie anzufechten, wie der Herr ihm sichere Gründe gebe, darin fest zu werden. Wieder sagt Calvin nicht, was er damit meint. Erst in der Institutio von 1543 wird er sich zur Berufung der Pfarrer äußern. Doch schildert er im Verlauf des Briefes seine Berufung nach Straßburg. Es sei sein Wunsch gewesen, kein Amt mehr zu übernehmen. Als aber die gemässigtdenkenden Männer mir drohten, der Herr werde mich finden, wie er den (Propheten) Jona gefunden hat, und als sie soweit gingen, zu sagen: Nimm an, durch deine Schuld allein sei eine Kirche zugrunde gegangen. Welches ist ein besseres Mittel zum Bussetun (wie in Ninive), als dass du dich ganz in den Dienst des Herrn stellst? Wie willst du bei deiner Begabung vor deinem Gewissen verantworten, den angebotenen Dienst abzulehnen? usw.
Da habe er nachgegeben. Auch diesen Brief schließt er mit den Worten „Ihr treuer Freund.“ Doch auf du Tillets Brief vom 1. Dezember 1538 hat Calvin nicht mehr geantwortet.
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2. Pfarrer der französischen Gemeinde Calvin trat seine Stelle in Straßburg mit denselben festen Grundsätzen an, mit denen er Genf verlassen hatte. Die Abendmahlszucht und die Heiligung des Lebens durchzusetzen, blieb auch weiterhin sein vornehmstes Ziel. Was hatte sich in Straßburg für ihn verändert? Und was hat er dort neu hinzugelernt? a. Die deutschsprachige Reichsstadt Die neue Aufgabe bedeutete für ihn keinen radikalen Wechsel. Straßburg war im Unterschied zu Genf völlig eigenständig; doch Reichsstädte waren sie beide. Die Kirche war hier wie dort Staatskirche, dem Rat der Stadt unterstellt. Es stellte sich für Calvin also weiterhin die Frage nach dem Recht der Obrigkeit, in die Kirchenangelegenheiten einzugreifen. Doch rechnete Calvin nicht damit, nach Genf zurückzukehren.2 Eine solche Annahme hieße, seine Erleichterung über den Wegfall der Genfer „Bürde“ nicht ernst zu nehmen. Auch beweist sein und Farels Memorandum von 26./27. April ihre Unnachgiebigkeit in der Frage der Kirchenzucht bis zum letzten Augenblick. Der Annahme widerspricht auch die Tatsache, dass Calvin am 29. Juli 1539 das Bürgerrecht erwarb. Es deutet alles darauf hin, dass Calvin mit einem ständigen Aufenthalt und Wirken in der Stadt rechnete. Eine große Veränderung bedeutete das Leben in einer deutschsprachigen Stadt. Die Brücke zu den Gebildeten war die lateinische Sprache, die allerdings von diesen wie selbstverständlich gepflegt wurde. Die deutsche Bevölkerung blieb Calvin fremd, weil die Verständigung nicht möglich war. Aber Predigt und Seelsorge in der Gemeinde verliefen nahezu in gleicher Weise wie in Genf. Man kann darauf hinweisen, dass der französischen Gemeinde in den Augen des Rates keine große Bedeutung zukam. Aber dem Rat und seinen Verordnungen unterstand sie trotzdem. Doch musste Calvin die Gemeinde nicht vor dem Rat vertreten, wie es in Genf oft geschehen war. Der größte Unterschied bestand darin, dass die Reformation in Genf erst am Anfang stand, während sie in Straßburg festgegründet war. Doch abgeschlossen war die neue Ordnung auch hier noch nicht. b. Pfarrer der kleinen Flüchtlingsgemeinde und Lektor am Gymnasium Seine Gemeinde war eine Flüchtlingsgemeinde, die die Not der Verfolgung kennen gelernt hatte. Doch Flüchtlinge gab es auch in Genf, ja, Calvin 2 So AUGUSTIJN, C., Calvin in Strasbourg, in: NEUSER, W.H. (Hg.), Calvinus sacrae scripturae professor, Grand Rapids 1994, 169. Dies mag Bucers Absicht gewesen sein. Der Vf. legt in seinem Artikel eine sonst ausgezeichnete Studie vor.
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selbst zählte zu ihnen. Aber die Bürgerschaft selbst war in Straßburg bodenständig. Man könnte die Fremdengemeinde eine Gemeinschaft der Gläubigen nennen, wenngleich sie dieses gewiss nur zum Teil war. Zudem machten die Wiedertäufer ihr sehr zu schaffen, wie Calvin bald erfahren sollte. Am 8. September 1538 predigte er in ihr zum ersten Mal, zuerst in der Nicolaikirche, später wechselt er zur Magdalenenkirche und schließlich zum Chor der Dominikanerkirche. Er predigte in der Regel sonntags zweimal und außerdem an vier Wochentagen. Die deutschen Pfarrer stellten in Aussicht, wenn Calvin eine kleine Gemeinde gesammelt habe, ihm auch die Austeilung des Abendmahls zu gestatten. Dies geschah schon bald. Er erhielt von ihnen eine nur geringe Bezahlung. Dies besserte sich erst, als er eine Stelle an dem neu gegründeten Gymnasium erhielt. Die Stadt hatte Ende 1536 Johann Sturm aus Paris berufen, um die vorhandenen Schulen unter einem Dach zusammenzufassen. Calvins und Sturms Wege hatten sich schon 1534 anlässlich der Plakataffäre in Paris gekreuzt. Wie oben berichtet, hatte Sturm damals nicht nur eine Stelle in der Kanzlei des königlichen Beraters Guillaume du Bellay, sondern er war auch Lektor für Rhetorik am Collége Royal. Auch stand er seit langem mit Bucer im Briefwechsel. Im Grund musste er nur die Idee des Collége Royal auf die Schulen in Straßburg übertragen. Denn beide Institutionen waren antischolastisch ausgerichtet, pflegten im Geist des Humanismus die antiken Sprachen und erklärten den Schülern die Schriften der antiken Autoren. Die Straßburger Schule wurde jedoch um die biblischen Fächer erweitert. Sie wurde so ein Hort der evangelischen Bildung, das heißt, die studierende Jugend musste nicht mehr katholische Universitäten besuchen, sondern erhielt eine evangelische Bildung. Am 30. September1538 wurde sie eröffnet und Johann Sturm zum Rektor und Professor für Latein und Griechisch ernannt. Bucer und Capito übernahmen die Vorlesungen über das Alte Testament. Für Calvin kam es gelegen, dass ihm und dem Pfarrer Hedio die Exegese des Neuen Testaments angetragen wurde. Vom Januar 1539 an legte er die neutestamentlichen Schriften aus, zuerst das Johannesevangelium, dann die Korintherbriefe, möglicherweise danach den Philipper– und Römerbrief. Der Rat setzte ihm 52 Gulden als Gehalt jährlich aus. Da er Studenten in Pension nahm, flossen ihm auch von dort Gelder zu. Johann Sturm, mit dem er sich befreundete, äußert sich voller Lob über seine Tätigkeit. Gleich nach Calvins Ankunft in der Stadt wurde in seiner neuen Gemeinde erstmals das Abendmahl gefeiert, so berichtet er im Oktober Farel. Er selbst trug seinen früheren Vorschlag vor, das Mahl monatlich zu begehen. Als am 6. April das Osterabendmahl gefeiert werden sollte, hatte Calvin einen Fall von Kirchenzucht. Man wird davon ausgehen können, dass er
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spätestens seit diesem Zeitpunkt eine strenge Kirchenzucht in seiner Gemeinde übte. Er berichtet, ein junger Mann „hatte im Sinn, zum Abendmahl zu kommen, wenn ich ihm nicht die Mahnung hätte zukommen lassen, er müsse sich erst (von den Vorwürfen) reinigen oder bestimmte Besserung versprechen. Den ganzen Monat hatte er keine Predigt gehört, und das öffentliche Ärgernis seines Glückspiels und Zechens gleichsam auf dem Marktplatz ausgeübt. Auch von Hurerei munkelte ein Gerücht. Trotzdem hätte er sich frech zum heiligen Sakrament gedrängt, wenn ich ihm nicht den Weg versperrt hätte. Dem, der ihm meldete, was ich ihm sagen lassen wollte, antwortete er scherzend, die Beichte überlasse er den Papisten. Ich gab zur Antwort, es gäbe auch eine Art christlicher Beichte.“3 An seinen Genfer Grundsätzen hielt Calvin also fest, konnte sie aber nun gezielter anwenden, weil seine Gemeinde übersichtlich war. Ein Jahr später berichtet er Farel, er habe zu Ostern angekündigt, am folgenden Sonntag das Abendmahl auszuteilen. Er habe hinzugesetzt, zugelassen würde nur, wer zuvor einem Examen unterzogen worden sei. Im Mai erklärt er Farel, was unter dem Examen zu verstehen sei. Es sei für die Unerfahrenen ein Unterricht in der Religion, Ermahnung für die, die sie nötig hätten, Trost für die Leidenden. Doch Calvins Hauptfrage ist, wie die würdigen Kommunikanten von den unwürdigen getrennt werden. Er fragt Farel, „wie ist diese Last zu tragen, wenn der Pfarrer kein bestimmtes Mittel dafür hat.“ Festzustellen ist, dass Calvin selbst als Pfarrer die Kirchenzucht als Abendmahlszucht durchführte. Er verhörte und – wenn das Verhör als Parallele zur Beichte verstanden wurde – sprach von der Schuld frei und nimmt wieder in die Gemeinde auf. Das war bei der übersichtlichen französischen Gemeinde durchführbar. Irgendeine gemeindeleitende Instanz neben ihm gab es nicht. In Genf hatten ebenfalls die drei Pfarrer das Verhalten der Gemeinde, die identisch mit der Stadtbevölkerung war, beobachtet und zum Beispiel das Singen obszöner Lieder (siehe oben) vor dem Rat beanstandet. Dieser sorgte für Abhilfe. Die Anklagebehörde war in Genf der Rat. Calvin und Farel hatten auch an den Einsatz erprobter Männer aus der Gemeinde gedacht, doch war auch dieser Gedanke nicht zur Ausführung gelangt. Jedenfalls war es dort zum Abendmahlsausschluss einzelner Personen nicht gekommen. Rückblickend muss festgestellt werden, dass den Pfarrern zu Ostern nichts anderes übrig blieb, als die ganze Gemeinde zu exkommunizieren, wenn sie durchgreifen wollten. Calvin und Farel hatten, wie erwähnt, weitergedacht, wenn sie abgegrenzte Pfarrbezirke für die Pfarrer verlangten. Dann wäre der Grund gelegt worden zu einer individuellen Kirchen– und Abendmahlszucht. Aber diese Forderung hätten sie – ebenso wie die Berufung erprobter Männer aus der Gemeinde – gleich 3
An Farel, CO 10b, 339, Nr. 169.
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anfangs in der Instruktion stellen müssen. Sie nach ihrer Ausweisung, wie erwähnt, zu stellen, war zu spät. Doch es hatte Calvin Erfahrung gesammelt, die ihren Nutzen noch erweisen würde. In Straßburg bestand in seiner Gemeinde diese Ordnung noch nicht. c. Die Institution der Kirchspielpfleger Alerdings machte Calvin in Straßburg eine weitere Erfahrung. Schon im Jahr 1531 waren vom Rat Kirchspielpfleger eingesetzt worden und zwar in jeder der sieben Pfarrgemeinden drei Männer, einer aus dem Rat, einer aus den Zünften und einer aus der Gemeinde. Sie übten auch die Aufsicht über die Pfarrer und ihre Helfer aus. Zweimal im Vierteljahr kamen sie mit den Pfarrern zusammen, um über Gemeindeangelegenheiten zu beraten. Dazu gehörte auch die Kirchenzucht. Die Verbindung von Obrigkeit und Gemeindevertretung muss bei Calvin erhebliche Aufmerksamkeit gefunden haben. Es war dies nicht die Lösung, die er in Genf im Jahr 1541 anstreben wird. Doch stand er bei seiner Rückkehr nach Genf vor genau diesem Problem und suchte es in Verhandlungen mit dem Rat zu lösen. Die Straßburger Einrichtung des Kirchenkonvents, einer wöchentlichen Zusammenkunft der Pfarrer, fand in Genf jedoch ihre Fortsetzung. Es gehört auch zur Erfahrung Calvins in Straßburg, wie er Farel schrieb, mit welcher Vorsicht Bucer und seine Kollegen bei der Einführung der Kirchenzucht vorgingen.4 Dies könnte sich auf das System der Kirchspielpfleger beziehen; es könnte aber auch eine Einsicht in ein eigenes zu schroffes Vorgehen bedeuten. d. Das Gesangbuch für die Gemeinde Wie sehr Calvin der Gemeindegesang am Herzen lag, wurde für die Genfer Zeit bereits ausgeführt. In Straßburg verwirklichte er sein Anliegen, indem er 1539 ein französisches Gesangbuch herausgab. Er schuf damit die Grundlage für den hugenottischen Psalmengesang. Während Farels und sein eigenes Vorhaben in Genf letztlich im Dunklen liegt, ist sein Vorgehen in Straßburg gut nachzuvollziehen. Angespornt wurde er durch den deutschsprachigen Gemeindegesang in der Stadt. Schon seit 14 Jahren sang man dort deutsche Psalmen.5 Unter dem Titel „Einige Psalmen und Lieder in Liedform gesetzt“ gab er zwölf Psalmen Marots mit Noten heraus – dieser wusste wahrscheinlich nichts davon. Fünf weitere Psalmen mit Noten stammen, wie man annimmt, von Calvin selbst, dazu ein Psalm in Prosa. Es folgen ebenfalls in Versform und mit Noten der Lobgesang des Simeon, die Zehn Gebote und das Credo. Der Genfer Psalter von 1543 bringt die Dichtungen Calvins nicht mehr. Man nimmt an, dass sie fachlich nicht genügten. 4 5
HERMINJARD, A.L., Bd. V, 144. SMEND, J., Art. Psalmenmelodien, französisch, RE3 16, 214, Z. 17–19.
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Woher strammten die Melodien? „Man darf als feststehend betrachten, dass im Wesentlichen französische Volksweisen oder doch deren Nachklänge vorliegen.“ Doch trifft auch zu: „Unter den Melodien befindet sich, dem 36. Psalm zugeteilt, die berühmte Strassburger Melodie von 1525 ‚Es sind doch selig alle die‘.“6 Zu den Lieddichtungen Luthers und der deutschen Reformation führt jedoch keine Brücke. Luther dichtete neue Lieder, um die Verkündigung zu stärken, Calvin geht von den Psalmen und also von der biblischen Gebetsliteratur aus und beschränkt den Gesang auf sie und andere biblische Texte. e. Die Wiedertäufer Schon in Genf war die Einführung der Reformation durch Täufer in der Stadt erschwert worden. Doch der Rat hatte eine von ihnen geforderte Disputation verboten und sie aus der Stadt ausgewiesen. Zwei von ihnen traf Calvin in Straßburg wieder und konnte sie zum Anschluss an die Gemeinde bewegen, Hermans de Gerbihan und Jean Stodeur. Es ist nur natürlich, dass er Farel von ihnen berichtet; die beiden werden nicht die einzigen gewesen sein, bei denen er Erfolg hatte. Am 6. Februar 1540 schreibt er: Mittlerweile gibt der Herr inmitten von so viel Schwierigkeiten wieder etwas Ermutigendes. Hermans, der mit mir in Genf diskutierte, bat mich um ein Gespräch. Er legte ein Bekenntnis in Sachen der Kindertaufe, der Menschheit Christi und anderer Glaubensartikel ab; er habe in diesen Stücken ernstlich geirrt und gesündigt. Es sind wohl auch einige andere Dinge, an die er sich festklammert. Aber wir dürfen gute Hoffnung für ihn haben, nachdem er so viele innere Schwierigkeiten schon überwunden hat. Sein Gefährte Jean (Stodeur ?) hat endlich seinen Sohn zur Taufe gebracht, der schon ziemlich groß ist. Ich hatte einige Zeit Geduld wegen der Schwäche des Kindes, weil Jean sagte, dieses sei der Hauptgrund, warum er die Taufe so lange hinausgeschoben habe.
Im nächsten Brief an Farel erwähnt er auch seine alleinige Zuständigkeit bei der Kirchenzucht. „Ich habe ihm (de Gerbihan), als er um Vergebung bat, im Namen der Kirche die Hand gereicht.“ Jener versprach, auch andere 6 SMEND, J. Art. Psalmenmelodien, französisch, RE3 16, 214f. J. Smend geht den Anklängen an französische Volksweisen nach. Vgl. auch TERRY, R.R., Calvin’s First Psalter [1539], London 1932, IVf. GEERING, A., Calvin und die Musik, in: MOLTMANN, J.(Hg.), Calvin-Studien 1959, Neukirchen 1960, 17f, macht auf Calvins mögliche Überlegung aufmerksam: „Die Musik gibt dem Wort der Gemeinde die würdige Form. Aus diesem Grund wählt Calvin auch die Psalmenübersetzung Cl. Marots, weil sie den Worten der Schrift eine strenge unverwechselbare Form geben. Ebenso streng sind auch die Melodien: rein syllabisch dem Worte folgend, gemessen nach dem Metrum der Verse. Das musikalische Vorbild, an das sich Calvin hielt, waren jene Melodienmodelle, die von den Humanisten in den Poetikkursen der Universität als Mittel verwendet wurden, den Studierenden die antiken Metren und Verse singend einzuprägen.“ A. Geering druckt ein Musikheft eines Basler Studenten aus dem Jahr 1534 ab, das mit Noten erhalten ist. Calvin weilte damals in Basel.
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Täufer auf den rechten Weg zurückzuführen. Noch auf seinem Sterbebett erklärt Calvin seinen Genfer Amtsbrüdern: „Ich musste in Strassburg auch ein Taufformular formulieren, weil man dort die Kinder der Wiedertäufer 5 bis 10 Stunden weit aus der Umgebung zu mir brachte. Ich machte damals aus dem Stegreif dies Taufformular, und es liegt mir sehr daran, dass ihr es nicht abschafft.“ f. Idelette van Buren Es sieht sehr geschäftsmäßig aus, wie Calvin sich eine Frau suchte. Am 19. Mai 1539 schreibt er Farel: Ich gehöre nicht zu jener törichten Art von Liebhabern, die, wenn die Gestalt einer Frau es ihnen einmal angetan hat, sogar noch ihre Fehler verniedlichen. Die einzige Schönheit, die mich anzieht, ist, wenn sie bescheiden ist, willig, nicht hochmütig. sparsam, geduldig, und wenn ich hoffen darf, dass sie um meine Gesundheit besorgt ist.
Doch wurde er später ein besorgter Ehemann. Die Heirat mit einer Frau, die noch Französisch lernen musste, schlug er aus. Nun starb Jean Stodeur im Frühjahr 1540 an der Pest. Calvin wird am Sterbebett seine Frau, Idelette van Buren, kennen gelernt haben. Auf Anraten Bucers heiratete er sie. Sie brachte zwei Kinder mit in die Ehe. Anfang August hat Farel sie wahrscheinlich in Straßburg getraut. Beza nennt sie „eine vorbildliche Frau“. Nach neunjähriger Ehe ist sie gestorben, von Calvin tief betrauert.
3. Der Frankfurter Anstand vom 23. April 1539 In Frankfurt tagten seit dem 14. Februar 1539 die Mitglieder des Schmalkaldischen Verteidigungsbundes. Aus Straßburg nahm Martin Bucer an dem Treffen teil. Er sandte Calvin einen (verloren gegangenen) Brief mit der Aufforderung, sofort nach Frankfurt zu kommen. Er habe bei den Verbündeten keine Hilfe für die Evangelischen in Frankreich durchsetzen können. Calvin schreibt nach seiner Rückkehr am 15. März an Farel, er sei gereist, um der Angelegenheit Nachdruck zu verleihen, und um mit Melanchthon über Religion und Kirche sprechen zu können. Man geht mit der Annahme sicherlich nicht fehl, dass Bucer auf das Treffen mit Melanchthon gedrungen hat. Denn der Forscher ist dem Phänomen konfrontiert, dass Calvin in diesem und dem nächsten ausführlichen Brief an Farel ausgezeichnet über die politische Lage der Evangelischen in Deutschland orientiert ist und ausführlich über sie berichtet. Der Kaiser hatte den Bischof von Lund als seinen Bevollmächtigten nach Frankfurt gesandt. Wahrscheinlich hat Calvin dort am
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25. Februar die Bekanntgabe des kaiserlichen Beschlusses miterlebt, einen Religionsvergleich zwischen Katholiken und Protestanten in die Wege zu leiten. Diese Entscheidung war Folge der bestehenden reichsrechtlichen Verträge. Im Jahr 1532 war zwischen dem Kaiser und den Protestanten der „Nürnberger Anstand“ geschlossen worden, das heißt, die Durchführung des Wormser Ediktes von 1521 zur Niederschlagung des Protestantismus sollte bis zum nächstem Reichstag „anstehen“. Im „Frankfurter Anstand“ vom 19. April 1539 wurde nun der Beschluss aus dem Jahr 1532 verlängert und ein Religionsgespräch auf den 1. August 1540 in Nürnberg festgesetzt. Nun ist der Frankfurter Anstand deutsch verfasst, und Calvin hat mit Gewissheit nicht an ihm mitgewirkt. Warum ist er aber bis in alle Einzelheiten über die Lage orientiert? Er weiß, dass über die Stadt Minden 1538 die Reichsacht verhängt worden ist. Er teilt Farel mit, dass Wilhelm von JülichKleve-Berg Herzog von Geldern geworden ist (und als landreichster Fürst mit den Schmalkaldenern Verbindung aufgenommen hat). Er weiß von dem Leipziger Gespräch mit den Katholiken (am 1. Januar 1539); doch flüstert er Farel dies nur vertraulich ins Ohr – offensichtlich von Bucer über diese heimliche Veranstaltung instruiert. Er weiß, dass der Kurfürst von Sachsen mit dem Ausbruch eines Krieges rechnet. Die Aufzählung könnte leicht fortgesetzt werden. Daraus ist der Schluss zu ziehen: Bucer oder der Straßburger Stättemeister Jakob Sturm haben ihn offensichtlich genau instruiert, weil sie seine Mithilfe benötigten. Der Grund dafür liegt nahe. Im Frankfurter Anstand wurde nämlich eine Bedingung für die Teilnahme an dem Religionsgespräch gestellt: „Alle Wiedertäufer und andere unchristliche Sekten und Rotten, so der Augsburgischen Konfession und derselben Religionsverwandten nicht gemäss lehren, […] dieselben sollen auch von keinem Teil geduldet werden.“7 Damit war versucht, den Abendmahlsstreit in die Reihen der Protestanten hineinzutragen. Übrigens geschah dies nicht zum ersten Mal. Schon auf dem 2. Speyrer Reichstag 1529 hatte der Kaiser versucht, Lutheraner und die zwinglisch gesonnene oberdeutsche Städte zu spalten, doch ohne Erfolg.8 Wird es auch in Frankfurt 1539 eine gemeinsame protestantische Front geben? Calvin hat den entscheidenden Punkt sofort erkannt. Der Legat des Kaisers hat es zuletzt gewagt, so feindliche Bedingungen vorzulegen, dass wenig gefehlt hat, dass die Angelegenheit am Ende zur Auseinandersetzung mit den Waffen kommen würde. Er verlangte, dass die Unseren (die Schmalkaldener) 7 NEUSER, W.H., Die Vorbereitung der Religionsgespräche von Worms und Regensburg 1540/41, Neukirchen 1974, 80 (TGET 4). 8 NEUSER, W.H., Die Abendmahlslehre Melanchthons in ihrer geschichtlichen Entwicklung (1519–1530), Neukirchen 1968, 294f (BGLRK 26).
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sich von den Sakramentariern abwenden sollten. Du siehst die Kunststücke des Satans. Er erstrebt nämlich, dass nicht nur der alte Hass, den er einst gesät hat, wächst, sondern auch neue Ärgernisse, gleichsam wie brennende Fackeln, hinzukommen, um grössere Spaltungen zu verursachen. Aber unsere (Schmalkaldener) erkennen keine Sakramentarier an und wollen, dass eine Verbindung mit den Schweizer Kirchen entstehe.9
Es stellte sich nun für Bucer und Jakob Sturm die Aufgabe, diese Verbindung sichtbar zu machen, sie zu vertiefen und gegen Angriffe aus den eigenen Reihen zu schützen. Dazu benötigten sie Calvins Mitarbeit und Hilfe. Ja, Calvin war ganz der geeignete Mann, zwischen den schweizerischen und deutschen Protestanten zu vermitteln. Aus diesem Grund wurde er so ausgezeichnet informiert. Die Bemühungen hatten Erfolg, wie sich in der Abfassung der Confessio Augustana Variata und ihre Übergabe an den Vertreter des Kaisers in Worms 1540 zeigte. Dieses Ziel zu erreichen, wurde die Richtschnur für Calvins Handeln. Es ist der Schlüssel für sein kirchenpolitisches Verhalten. Calvin berichtet Farel nach seiner Rückkehr im März in zwei Briefen über das, was ihm wichtig erschien. Zum Einen ist er sichtlich von dem Aufzug der protestantischen Fürsten beeindruckt, deren Namen und zahlreiches Reitergefolge er aufzählt. Er erlebte zum ersten Mal eine Fürstengesellschaft aus der Nähe. Hinzu kamen die Gesandten der Reichsstädte und der Vertreter des Kaisers. Er zeigt sich erstaunlich gut informiert über den Inhalt des Frankfurter Anstands, den er zurecht einen zeitlich begrenzten Waffenstillstand nennt. Zweitens nutzt er die Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen mit Melanchthon. Sie mussten für die Zugehörigkeit der Oberdeutschen und Schweizer zur Augsburger Konfession wichtig werden. Einzelheiten über die Gespräche sind nicht bekannt. Doch berichtet Calvin über das, was ihm wichtig erschien. Mit Melanchthon hatte ich ein Gespräch über viele Dinge. Ich hatte ihm vorher schon über die Konkordienangelegenheit geschrieben, dass wir uns nämlich bei guten Männern über ihre Meinung vergewissern könnten. Ich hatte ihm nämlich einige Artikel gesandt, in denen ich die Hauptsache berührt hatte.
Calvin schlägt also ein Konkordiengespräch mit gebildeten, gemäßigt denkenden Männern (boni viri) vor und übersendet seine Einigungsvorschläge. Die Artikel sind leider nicht erhalten. In Frankfurt erhält er die Antwort Melanchthons. Jener lehnt Ausgleichsgespräche ab, weil es auf lutherischer Seite Leute gäbe, die die Gegenwart Christi gröber lehrten, und das mit solcher Heftigkeit, um nicht zu sagen Tyrannei, dass er selbst in Gefahr geriet (angegriffen zu werden), weil er ihrer Meinung abgeneigt sei. Den 9
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Artikeln stimme er zu. Er glaube nicht, dass eine feste Einigung schon bestehe, wünsche aber, dass die Übereinstimmung, wie sie auch sei, gepflegt werde, bis der Herr beide Seiten zur Einheit in der Wahrheit geführt habe.10 Mit dieser Stellungnahme hat Melanchthon dem jungen Franzosen die Lage ungeschönt beschrieben. Doch er hatte Calvin auch Mut gemacht, in seinen Einigungsbestrebungen fortzufahren. Es wird darauf noch zurückzukommen sein. Beim Thema der Kirchenzucht habe Melanchthon geseufzt nach der Weise der anderen Leute. Calvin setzt bissig hinzu: Man könne die elende Lage der Kirche in diesem Punkt besser beklagen, als sie verbessern. Er erwähne dies, damit Farel nicht meine, sie befänden sich allein in dieser Not. Es gäbe täglich überall Beispiele, die eigentlich allen Leuten einen Anreiz geben müssten, nach einem Heilmittel zu suchen. Calvin vermag natürlich nicht zu durchschauen, dass bei diesem Gespräch in Frankfurt zwei entgegengesetzte Auffassungen aufeinander gestoßen sind, nämlich die Furcht vor der Werkgerechtigkeit bei Luther im europäischen Osten oder sogar das Liebäugeln mit dem freien Willen bei Melanchthon und die Einbeziehung der Heiligung in den christlichen Glauben im Westen. Oder anders gesagt: Im Westen hatte die Säkularisation des Lebens bereits begonnen und die Theologie musste ihr entgegentreten, indem sie das Gesetz betonten. Im Osten war die Gottesfurcht im Volk noch tief verwurzelt und die Theologie musste den Verdienstgedanken bekämpfen. Im nächsten Brief an Farel kommt Calvin nochmals auf das Gespräch mit Melanchthon zu sprechen. Jenem habe er von Angesicht zu Angesicht vorgehalten, wie sehr ihm die Menge ihrer Zeremonien missfalle. Ihm erscheine nämlich deren Form nicht weit entfernt zu sein von einem Judaismus. Als er mit Gründen in ihn gedrungen sei, wollte Melanchthon nicht darüber streiten, dass sie zuviel von diesen törichten oder zumindest überflüssigen Riten hätten. Es gäbe übrigens keinen Ort in Sachsen, wo man unfreier sei als in Wittenberg, und dort werde man allmählich von solchen Bagatellen vieles abschaffen. Zum Schluss sagte er, Luther billige die Zeremonien, die er nur gezwungen festgehalten habe, nicht mehr als unsere Sparsamkeit mit ihnen. Der Bericht beweist, dass Calvin mit Melanchthon nicht weniger ungeschminkt geredet hat, als jener zuvor mit ihm. Bedenkt man den Streit um die lutherischen Zeremonien in Genf, der von den Berner Pfarrern angezettelt war, so zeigt Calvins Nutzanwendung des Gespräches mit Melanchthon eine neue Einstellung seinerseits. Er nimmt nun für Bucer Partei, wenn er im Brief an Farel fortfährt: Dass Bucer weiterhin die Zeremonien Luthers verteidigt, geschehe nicht, weil er sie erstrebe oder sie einzuführen beabsichtige. Den lateinischen Gesang (wie in 10
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der Messe) einzuführen, dazu könne ihn nichts bewegen. Vor den Bildern in den Kirchen hege er Abscheu. Anderes verdamme er teils, teils kümmere es ihn nicht. Es sei nicht zu befürchten, dass er das, was einmal abgeschafft ist, wieder durch Rückkehr zum Alten einführe. Nur wolle er nicht dulden, dass man wegen äußeren Befolgungen sich von Luther trenne. Auch nach Calvins Ansicht sind das keine genügenden Gründe für eine Trennung. Hatte Calvin früher die Berner Riten für Adiaphora erklärt, so sind die Riten im lutherischen Gottesdienst nun für ihn unerheblich. Damit widerspricht sich Calvin nicht, sondern betreibt Bucers Bündnispolitik. Wie wichtig diese war, zeigen die politischen Ereignisse des nächsten Jahres. 4. Die Religionsgespräche von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/4111 Der Kaiser hatte noch ein zweites Datum genannt und schon auf den 6. Juni 1540 nach Speyer oder Umgebung eingeladen. Die Protestanten sagten zu, nach Hagenau zu kommen. Bei den evangelischen Vorbereitungen spielte das Gutachten Luthers und der Wittenberger Theologen vom 12. Januar eine Hauptrolle. Man ist überrascht, wie sehr die Themen Abendmahl, Bilder und Zeremonien – nicht aber Kirchenzucht – auch dort eine Rolle spielen und im Sinne Calvins behandelt werden. Das Gutachten wird auf dem Schmalkaldischen Bundestag im März angenommen und unterzeichnet. Am 17. März wandten sich Bucer und Melanchthon an den Landgrafen, er möge in der Stadt Schmalkalden die abgöttischen Bilder, Altäre und Sakramentshäuschen beseitigen und die Elevation beim Abendmahl abschaffen lassen. „Das würde bei den Oberdeutschen viel guten Willen machen.“ Wieder ist Calvin gut unterrichtet. Bucer, so berichtet er Farel am 20. April, habe aus Schmalkalden gemeldet, er habe die Fürsten noch nie bereitwilliger gesehen, das Evangelium zu verteidigen. Gemeint ist ihr Schreiben an den Kaiser vom 15. April, in dem sie ihren Willen zur Einigung mit der katholischen Seite und zur Verteidigung der Wahrheit beteuerten.12 Calvin fährt fort: Der Fürsten tiefe Einsicht zeige sich darin, was an sich unbedeutend sei, dass sie Bildwerke und (Neben)Altäre zerstörten und die Elevation des Brotes beim Abendmahl abschafften. Jetzt, meint er, sollten die Leute vortreten, die immer noch von einer Mäßigung (gegen
11 Siehe die Texte bei NEUSER, W.H., Die Vorbereitung der Religionsgespräche von Worms und Regensburg 1540/41, Neukirchen 1974 (TEGT 4); vgl. NEUSER, W.H., Calvins Beitrag zu den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg (1540/41), in: Studien zur Geschichte und Theologie der Reformation, Festschrift für E. Bizer, Neukirchen 1969, 213–237. 12 NEUSER, W.H., Die Vorbereitung, 16.
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Rom) träumten. Hätte Calvin den Bundesabschied gelesen, so hätte er noch mehr Grund zur Freude gehabt. Die Zusammenkunft in Hagenau brachte noch keine Sachgespräche. Doch war der Abschied vom 20. Juli auch für Calvin in persönlicher Hinsicht von Bedeutung, Das Religionsgespräch soll am 28. Oktober in Worms beginnen. Jede Seite wird elf Stimmen haben. Gesprächsgrundlage soll die Confessio Augustana und ihre Apologie sein. Schon in Frankfurt war imVorjahr eine Liste der vorgesehenen Theologen zusammengestellt worden. Sie zeigt, dass man es ernst meinte mit der Ausweitung auf die Schweiz. Der Basler Rat schlägt vor, Bonifatius Amerbach zu schicken, doch nicht offiziell. Hinzugesetzt ist: Ihn „Sollen die von Strassburgansuchen (einladen) und auch (Jacob) Grynäus und Iohannem Calvinum“. Es werden aus der Schweiz nur Männer mit versöhnlicher Haltung genannt; die Zürcher und Berner Theologen fehlen. Sie waren zwar nach Hagenau eingeladen worden, sagten aber die Beteiligung ab. In Worms wurde am 28. November 1540 eine neue Liste eingereicht, auf der Basel und Calvin fehlen. Wieder war auf dieser Liste jeder Platz mit mehreren Namen besetzt, doch war die Elf-Zahl nicht eingehalten worden. Die endgültige Liste vom 3. Dezember enthält Johann Sturms und Calvins Namen unter dem Herzogtum Lüneburg. Es ist müßig, daraus konfessionelle Schlüsse zu ziehen. Es war lediglich wie bei den anderen Fürstentümern und Städten die Dreizahl aufgefüllt worden. Die Öffnung zur Schweiz hin bestand fort in in der Nennung des Basler Pfarrers Grynäus als Straßburger Delegierter und, wenn man so will, derjenigen Calvins. Dieser war nun ein offizieller Teilnehmer am Religionsgespräch. In Worms verzögerten die katholischen Präsidenten den Beginn der Gespräche. Es hatte sich herausgestellt, dass drei der elf katholischen Vertreter reformationsfreundlich eingestellt waren, Brandenburg, Pfalz und JülichKleve. Der Kurfürst von Brandenburg hatte bereits eine nahezu evangelische Kirchenordnung erlassen. Der Vertreter des Kaisers, Granvella, setzte schließlich durch, dass von jeder Seite nur die Mehrheit gehört werden sollte. Die Protestanten gaben nach, damit das Gespräch beginnen konnte. Die Monate November und Dezember verstrichen, ohne dass die Religionsgespräche begannen hätten. Doch disputierten im Januar 1541 nur Melanchthon und Eck über die Erbsünde. Der theologische Ertrag war gering. Am 18. Januar vertagte Granvella das Gespräch nach Regensburg. Zur katholischen Verzögerungstaktik gehörte auch, dass die Abendmahlsartikel der Confessio Tetrapolitana und der Confessio Augustana gegeneinander ausgespielt wurden und der Einwand erhoben wurde, Bucer, Brenz und Calvin seien ihnen fremden Fürsten zugeteilt worden, nämlich Hessen, Sachsen und Lüneburg. Indessen war die Wartezeit keine verlorene Zeit. Die Schmalkaldener Gesandten beschlossen am 4. November Vorberei-
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tungsgespräche zwischen den evangelischen Theologen. Es sollte offensichtlich vermieden werden, dass diese – wie in Augsburg 1530 – mit zwei Bekenntnissen auftraten und den Gegnern ihre Zwietracht offenbarten. Es war eine glänzende Theologenversammlung, vor die am 8. November der sächsische Vizekanzler Burkhardt hintrat. Alle damaligen Theologen von Rang waren anwesend; nur Luther und die Zürcher und Berner fehlten. Er stellte jedem einzelnen der Anwesenden und also auch Calvin, drei Fragen: Ob sie der „Lehrweise“ des Augsburger Bekenntnisses zustimmen, ob sie sich dem Anspruch des päpstlichen Legaten, den Vorsitz zu führen, widersetzen würden, und ob sie sich an den vorbereitenden Gesprächen der evangelischen Theologen eifrig beteiligen würden. Die Fragen betrafen die protestantische Einheit. Hinter der ersten stand die Zustimmung zur veränderten Confessio Augustana, die, von Melanchthon verfasst, in diesen Tagen gedruckt aus Wittenberg anlangte. In ihr war der Zwiespalt zwischen Tetrapolitana und Augustana beseitigt. Sie wurde am 28. den Präsidenten und am 30. November Granvella übergeben. Wenn auch die Apologie der Augustana eingereicht wurde, so muss es sich um einen Invariatatext gehandelt haben. Auf protestantischer Seite wurde die Veränderung nicht weiter beachtet. Calvin wird erst im Zweiten Abendmahlsstreit mit Westphal 1552 mit dem theologischen Unterschied der Ausgaben 1531 und 1540 bekannt geworden sein. Die katholische Seite prüfte jedoch den Text. Ihre Delegierten erhoben am 6. Dezember den Vorwurf, die Augsburger Konfession sei „an vielen Orten und nahezu um den halben Teil vermehrt worden“. Es sei eine andere Konfession als die in Hagenau beschlossene. Doch kam es zu keiner Zurückweisung ihrerseits. Sie sahen die Änderungen offenbar nicht als unerlaubt an. Melanchthon erläuterte gegenüber Eck, die Variata enthalte dieselbe Meinung, auch wenn in ihr einiges gemäßigter und ausführlicher gesagt sei. Vizekanzler Burkhardt musste zweitens daran gelegen sein, dass nicht der päpstliche Delegat die Gesprächsleitung erhielt, sondern der des Kaisers. Die Theologengespräche schließlich wurden ein voller Erfolg. Unter der Leitung Melanchthons diskutierten die Anwesenden am 9./10. November die Rechtfertigungslehre, am 11./12. November das Messopfer, am 17. November Gelübde und Zölibat, am 18. November den Primat des Papstes. Calvin tat sich in der Diskussion besonders hervor. Seine Darlegung der „fremden Gerechtigkeit“ war allgemeiner Konsens. Als aber Melanchthon die Frage nach den Werken des Glaubens aufwarf, entfaltete Calvin die Lehre von der doppelten Gerechtigkeit, die besondere Beachtung verdient. Er stellte drei Sätze auf, die sich in der Sache aber schon in der Institutio von 1539 finden. Erstens könne eine von Menschen ins Werk gesetzte, unvollkommene Gerechtigkeit Gott nicht gefallen. Wir müssen der Gerechtigkeit Christi teilhaftig werden, damit wir nicht durch die eigene,
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sondern eben durch die Gerechtigkeit Christi gerettet würden. Zweitens würden die Heiligen, wenn sie wieder zu Fall kämen, durch Christi Gerechtigkeit wieder in ihren alten Stand versetzt, wie 1. Joh 2,1 („Wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist.“) Wenn es nun drittens in der Heiligen Schrift Stellen gebe, die den Werken zusprechen, was dem Glauben zukomme, so müssten diese nicht dahin gezerrt werden, als werde die Glaubensgerechtigkeit aufgehoben (z.B. Ps 112,1 „Selig der Mann, der Gott fürchtet.“) Vielmehr müsse die Gerechtigkeit der Werke der Gerechtigkeit des Glaubens untergeordnet werden. Der Nachsatz postuliert eine doppelte Gerechtigkeit und klärt scharfsinnig die Zueinanderordnung beider. Zum Beweis führt er Röm 10,5f an, wo Paulus die Gerechtigkeit aus dem Gesetz anführt und sie der Gerechtigkeit aus dem Glauben konfrontiert. Nun widerspricht diese nicht der gängigen evangelischen Formel vom Glauben und den Früchten des Glaubens. Calvin erntete daher in Worms auch keine Kritik. Doch liegt der Unterschied auf der Hand. Calvin will dem Alten Testament Genüge tun und es nicht einfach vom Neuen Testament her verstehen. Die Hochschätzung der menschlichen Gerechtigkeit im Alten Testament hat er in ein System gebracht, eben in das der doppelten Gerechtigkeit. Die Eigenständigkeit der calvinischen Lehrweise muss betont werden. Denn Erasmus von Rotterdam und seine katholischen Schüler entwickelten auch eine Lehre von der doppelten Gerechtigkeit. Am Hof des Herzogs von Kleve herrschte ein ausgesprochener Erasmianismus. Oder Bucer hatte in Leipzig mit dem Erasmianer Witzel 1539 über die Rechtfertigung disputiert. Mit einem Wort: In beiden konfessionellen Parteien gab es führende Leute, die die doppelte Rechtfertigung vertraten.13 Sie schien geeignet zu sein, die hauptsächliche konfessionelle Kluft zu überbrücken. Calvin befand sich mit seiner Lehre in enger Nachbarschaft zu Theologen beider Konfessionen. Darauf ist noch zurückzukommen. Es muss jedoch zuvor Calvins Beteiligung an den Wormser Vorgesprächen zu Ende geführt werden. Melanchthon stellt beim Messopfer heraus, dass die Zueignung (applicatio) der Gnade in der Messe widerlegt werden müsse. Die Redner tun sich schwer damit und bringen die unterschiedlichsten Argumente vor. In meisterhafter Kürze bewältigt Calvin das Problem. Erstens dürfe kein neuer Kultus abseits und gegen das Wort Gottes errichtet werden. Die Zueignung durch das Messopfer habe kein Schriftzeugnis. Zweitens erfolge die Zueignung des Opfertodes Christi durch das Wort (der Verkündigung), weil der Glaube das Wort ergreife (2. Kor 5,18). In dieser Klarheit findet sich der Hinweis auf die Wortverkündigung im Artikel von 13 Vgl. STUPPERICH, R., Der Humanismus und die Wiedervereinigung der Konfessionen, Leipzig 1936.
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der Messe in der Confessio Augustana Variata (Artikel 22) nicht. Calvin wird in der Institutio von 1543 auf die applicatio näher eingehen. Wieder einmal geht Calvin auf die Autorität der Kirchenväter ein, die er in diesem Lehrpunkt teils kritisiert, teils gegen die Gegner angeführt haben will. Bei der Diskussion über das Gelübde verweist Calvin darauf, dass Gott vor allem der Gehorsam gefalle. Man könne aber nicht geloben, was nicht in der eigenen Kraft stehe. Doch will Calvin dreierlei Gelübde gelten lassen, das Dankgelübde, das Bußgelübde und das erzieherische Gelübde (z.B. zur Bekämpfung der Begierden). Das Gelübde der Jungfräulichkeit werde leichtsinnig abgelegt. Am letzten Tag wird der Primat des Papstes behandelt. Der Rangstreit der Jünger (Mt. 20,25f), die Frage nach dem Größten im Himmel (Mt 18,1) und natürlich Jesu Wort an Petrus (Mt. 16,18f) werden analysiert. Calvin hebt hervor, dass Jesu Rede gegen „die Könige der Völker“ gerichtet ist (Mt 20,25ff) und also auch der Herrschsucht der Päpste gelte. In der Ämterliste Eph. 4,15 fehle jedes Primat. Insgesamt tut sich Calvin als Systematiker und Exeget in Worms hervor. Beza berichtet, Melanchthon habe ihm oft den Ehrentitel „der Theologe“ beigelegt. Beim Abschied in Worms erklärte der Wittenberger, die übrigen lasse er ziehen, Calvin aber müsse mit nach Regensburg kommen. Der Straßburger Rat benannte daraufhin Bucer, Calvin und Johann Sturm für das Religionsgespräch. In den Straßburger Akten heißt es, „den Calvin als den in den (Kirchen)Vätern belesene, den (Johann) Sturm um der griechischen Sprache willen“. Am 22. Februar verließen sie die Stadt. Mit dem Wagen ging es bis Ulm, von dort mit dem Floß auf der Donau nach Regensburg. Nach sechs Tagen, also am 10. März, langten sie dort an. Calvin wird ein Vierteljahr in der Stadt verbringen. Die kaiserliche Proposition wurde am 5. April verlesen, am 27. April begannen die Gespräche. Die katholische Seite, ihrer Vertreter nicht sicher, hatte drei Sprecher auf jeder Seite durchgesetzt. Entscheidend war aber, dass in der Zwischenzeit in Geheimverhandlungen das sogenannte Wormser Buch ausgehandelt worden war. So kam es, dass schon am 2. Mai sich beide Seiten in der Rechtfertigungslehre geeinigt hatten. Eine Sensation schien sich anzubahnen. Die Einigung wurde aber ermöglicht, weil man die Rechtfertigung als einen langen Prozess darstellte. So konnten die beiderseitigen Anliegen in diesen eingetragen werden. Natürlich wurde Luthers Urteil eingeholt, der durchschaute, dass der Artikel aus den widersprüchlichen Lehren „zusammengereimt und geleimt“ war. Doch könnte der Vergleich nach seiner Ansicht eine Zeitlang bestehen. Die zögernde Zustimmung war allgemeine Meinung.14 Calvin teilte am 11. Mai 1541 14 Vgl. NEUSER, W.H., Calvins Urteil über den Rechtfertigungsartikel des Regensburger Buches, in: GRESCHAT, M./GOETERS, J.F.G., Reformation und Humanismus. R. Stupperich zum 65. Geburtstag, Witten, 1969, 176ff.
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Farel den Text mit und führte zur Wertung vier Punkte an. 1. Farel würde sich wundern, „dass die Gegner soviel nachgegeben haben.“ 2. „Unsere Unterhändler haben den Hauptinhalt der wahren Lehre festgehalten.“ 3. In der Formel sei nichts enthalten, „was nicht auch in unseren Schriften enthalten ist.“ 4. „Wenn du bedenkst, mit welcher Art Menschen wir es (bei den Gegnern) zu tun haben, erkennst du, dass viel erreicht ist.“ Calvin stimmt also zu, aber alle vier Aussagen enthalten eine Einschränkung. Damit geht Calvin über Melanchthons und Crucigers zustimmendes Urteil hinaus. Es erklärt sich dies aus seiner Lehre von der doppelten Rechtfertigung, die auch das sogenannte Wormser Buch enthielt und oben schon skizziert wurde. Schon drei Tage später, am 5. Mai, kam die Ernüchterung, als man nämlich die Messe zu diskutieren begann. Es zeigte sich, dass die katholische Seite bei der Lehre von der Wandlung des Brotes in den Leib Christi (Transsubstantiation) nicht nachgeben konnte. Sie war durch die Lehrentscheidung des 4. Laterankonzils von 1215 über die Transsubstantiation gebunden. Die Schmalkaldener riefen am 8. Mai ihre Theologen zur Beratung zusammen, bei der auch die Fürsten und Abgesandten anwesend waren. Da um dieser willen deutsch gesprochen wurde, konnte Calvin nicht der Debatte folgen. Er stimmte, ohne sie zu kennen, der allgemeinen Ablehnung zu; nur Bucer versuchte die Formel zu retten. In Regensburg wurde zwar noch über Beichte, Satisfaktion und Kirchenautorität weiterverhandelt, aber eine Einigung kam nicht zustande. Am 15. Juni verließ Calvin vorzeitig die Stadt, traf am 20. Juni in Ulm ein und war am 25. Juni wieder in Straßburg. 5. Die Verfolgung der Protestanten in Frankreich Das Bild der Aktivitäten Calvins wäre unvollständig, bliebe sein Eintreten für die französischen Protestanten ungenannt. Sie führen ihn direkt zur Politik Kaiser Karl V. und König Franz I., da sie auch die Protestantenverfolgung umfasst. Diese soll für die Zeit der Religionsgespräche genauer dargestellt werden. Doch ist zu beachten, dass Calvins Berichte immer nur einzelne Ereignisse nennt, wenngleich er sich bemüht, ein Gesamtbild zu erstellen. Zur Zeit der Religionsgespräche häufen sich, auch in Straßburg, die widersprüchlichsten Nachrichten. Doch kommen durch sie die Befürchtungen und Hoffnungen zum Ausdruck, die Calvin und seine Umgebung hegen. a. Kaiser, König und Papst Die Vorverhandlungen von Hagenau dauerten vom 12. Juni bis 16. Juli 1540. Gleich zu Beginn, am 21. Juni, berichtet er Farel: „Gegenwärtig berät
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die gegnerische Partei, mit welcher Kampfesweise oder an welchem Punkt sie uns angreifen soll. Die Unseren erweisen sich zur Einigung bereit, nur soll sie in keiner Weise von der Wahrheit abweichen.“ Dann aber folgt ein Beispiel dafür, wie vorsichtig und bloß in Andeutungen er Farel über die politische Lage berichtet. Denn er fährt fort: Dem Kaiser wird von unserem König keine Ruhe gelassen werden, um seine (des Kaisers) Mannschaft gegen die unsere zusammenziehen zu können. Noch ist zwischen ihnen kein Krieg, aber die Samen gehen auf, und dieser unser König will Hilfsmittel gewinnen, die er abgelehnt hat, als Freundschaft zwischen ihm und seinem Bruder herrschte, und die er heute ablehnen würde, wenn die Lage dieselbe geblieben wäre. Du Baif, der als (königlicher) Gesandter auf dem (Hagenauer) Konvent auftritt, ist dorthin gekommen, um, wie viele Leute vermuten, die Furt auszuloten. Es kann nicht anders sein, als dass große Umwälzungen bevorstehen, ehe noch wenige Monate vergehen. Die Unseren hoffen, dass sie als Auswirkung erleben, dass unser König weit davon entfernt ist, dem Kaiser beizustehen.
In Klarschrift lautet die Mitteilung: Bei der Zusammenkunft des Papstes, Karl V. und Franz I. in Nizza im Juni 1538 hatte sich der französische König geweigert, sich gegen die Lutheraner zu erklären, wenn er nicht Mailand sofort erhalten werde, auf das er Anspruch erhob. Zwischen den „Brüdern“ herrschte noch „Freundschaft“. Aber dem Kaiser wurde in diesem Augenblick klar, dass ein französisch-protestantisches Bündnis drohte. In Anschluss an die Konferenz fuhren Papst und Kaiser nach Genua, wo sie übereinkamen, dass vor dem Konzil friedliche Verhandlungen mit den Protestanten stattfinden sollten. Doch die Gründung des katholischen „Nürnberger Bundes“ am 10. Juli 1538 und die Gewaltandrohung gegen die eigenen Mitglieder schürte nach Ansicht der Schmalkaldener die Kriegsgefahr. Sie entschlossen sich zur Kriegsrüstung. Da erschien der französische Gesandte du Baif in Hagenau, um eine politische Verbindung zwischen Franz I. und den Schmalkaldenern zu erkunden. Im Brief vom 28. Juli an du Taillis in Genf kommt Calvin erneut auf die Angelegenheit zu sprechen. „Der König von Frankreich bietet keine Hilfe an, es sei denn, um in christlicher Weise (façon chrestienne) zu verfahren. Sein Gesandter du Baif weiß von unserer Angelegenheit nichts. Trotzdem empfängt er uns menschenfreundlich, wenn wir ihn besuchen, und hat beschlossen, hierher (nach Straßburg) zu kommen, bevor er nach Hause zurückkehrt.“ Im Klartext heißt dies: Am 1. Juni 1540 hat Franz I. das Edikt von Fontainebleau erlassen, das die Ketzerprozesse in Frankreich anordnete. Auf dieses Edikt spielt Calvin offenbar an, wenn er bissig von einer „christlichen Weise“ des Vorgehens spricht. Du Baif war nicht unterrichtet oder gab sich den Anschein, nichts zu wissen. Im Oktober, vor seiner Abreise nach Worms, hatte Calvin für Farel weitere beunruhigende Nachrichten.
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Was sollen die Unseren anderes machen, als aufmerksam zu sein, wenn sie hören, dass die Unterkünfte in Worms bereits festgelegt würden und der Kaiser sich nähere? Inzwischen plündert er, wie du weisst, in unerhörter Raublust Flandern, Holland, Brabant und Luxemburg, oder vielmehr er zieht ihnen die Haut ab.
Bucer, der an keine Beeinträchtigung des Religionsgesprächs glaubte, sollte Recht behalten. Der Kaiser zog nicht kriegerisch nach Worms, sondern schaffte Ordnung in den Niederlanden. Im Jahr 1538 hatten nach dem Tod des Herzogs Karl von Geldern die Stände Herzog Wilhelm von Kleve zum Nachfolger erkoren, entgegen alten Verträgen mit Burgund. Auch musste in Gent ein Aufstand niedergeschlagen werden. Der Stadt wurde eine Kontribution von 150 000 Goldgulden auferlegt. Zu einem Krieg zwischen Kaiser und König, den Calvin zuvor angekündigt hatte, kam es nicht. Karl V. Zug durch Frankreich und die Verbindung des Herzogs von Kleve mit Franz I. scheint Calvin zu dieser Annahme veranlasst zu haben. Erst im Frühjahr 1541 begab der Kaiser sich über Luxemburg, Metz, Heidelberg zum Reichstag nach Regensburg. b. Die Waldenserverfolgung Im selben Brief berichtet Calvin, dass König und Kaiser um die Wette gegen die Frommen tobten und sich bemühten, die Gunst des römischen Götzen zu verdienen. Er selbst habe an Margarete von Navarra geschrieben und sie heftig beschworen, in einer solchen Heimsuchung nicht untätig zu bleiben. Öffentlich (durch Gesandtschaften) könne nichts getan werden; die Lage sei zu unübersichtlich. In höchster Not wandte sich Calvin also an des Königs Schwester. Da er schon im Herbst des Jahres 1533 Zutritt zu ihrem Hof erhalten hatte, konnte er an die frühere Begegnung anknüpfen. Sie antwortete ihm am 25. Juli 1540, sie habe sich in der Angelegenheit beim König eingesetzt. Nicht ohne politische Hintergedanken bittet sie ihn, in seinem Dienst für den König fortzufahren.15 Übrigens scheint sich Calvin nun des kriegerischen Eingreifens des Kaisers in Worms nicht mehr sicher zu sein, denn er meldet, der Kaiser nehme den Weg nach Worms, aber ohne Eile. Er wolle den Konvent mit den Fürsten und danach den Reichstag abhalten. Der französische König betrieb hingegen in Hagenau und Worms die Trennung der Protestanten vom Kaiser. Du Baif und Johann Sleidanus sollten dort eine Gesandtschaft an den französischen Hof durchsetzen, um die Verbindung zu Frankreich öffentlich zu machen. Die Protestanten verhandelten um der Verfolgten in Frankreich willen, stimmten aber nicht zu.16 15 16
CO 11, 62f, Nr. 226. Instruktiv ist der Bericht Bucers an Vizekanzler Burkhardt vom 17. November 1540; WINCKELMANN, O., Politische Correspondenz der Stadt Strassburg, Bd. 3, Strassburg 1898, 125ff, Nr. 134.
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Ende Dezember 1540 kam Farel nach Straßburg und Worms und berichtet über die Verfolgungen in Frankreich. In der Provence (bei den Waldensern) seien 4000 Personen in die Wälder geflohen und in der Normandie ein Städtchen mit 400 Einwohnern bedroht. Farel betreibt darum eine Gesandtschaft an Franz I.17 Er muss vor allem über das Vorgehen gegen die Waldenser in Mérindol im Luberon berichtet haben. Denn am 18. November 1540 waren 18 Personen als Lutheraner und Sektierer in Abwesenheit zum Scheiterhaufen verurteilt worden. Die Kinder und Bediensteten sollen in die Verbannung gehen, ihr Hab und Gut eingezogen und das Dorf dem Erdboden gleichgemacht werden.18 Am 19. Februar hat Calvin schon wieder eine neue Nachricht. Die evangelischen Waldenser würden nicht nur der Häresie angeklagt, sondern auch des Aufstandes und des Unruhestiftens. Doch argwöhne er, die Brüder seien nicht gut unterrichtet. Neulich habe nämlich der Kardinal Sadolet an Morellet geschrieben, der von dem französischen König zu den Schmalkaldenern gesandt sei, dass der König bereit sei, Nachsicht zu üben. Sie hätten von anderen Leuten gehört, dass die Begnadigung unter größter Mühe zustande gekommen sei. Dem Herrn sei Dank gesagt, der in dem ganzen Königreich die Grausamkeit gemildert habe.19 Es konnte jedoch von Begnadigung nicht gesprochen werden, höchstens von Milderung. Denn der König entsandte Guillaume du Bellay, den Gouverneur des Piemont, damit er den „Beschluss von Mérindol“ prüfe. Am 8. Februar sprach der König die Amnestie aus, aber unter der Bedingung, dass die Evangelischgesinnten binnen drei Monaten zum katholischen Kultus zurückkehrten.20 Ketzerverfolgung und Bündnisverhandlung gingen wieder einmal Hand in Hand. Aus dem Bericht geht hervor, dass Franz I. noch vor Beginn des Reichstags erneut ein Bündnis mit den Protestanten betrieb und deshalb zur Milde bereit war. Der Gesandte Morelet, dem Johann Sleidanus als Dolmetscher beigegeben war, wurde zu den Schmalkaldenern gesandt. Die Verhandlungen scheiterten, weil vor allem der Landgraf von Hessen (wegen seiner Bigamie) solche ablehnte. Von den Geheimverhandlungen ist weiter nichts bekannt. Calvin deutet Farel gegenüber im Juli nur an, dass er von den „geheimeren Beratungen“ ihm berichten werde, wenn sie sich in Neuchatel wiedersähen. Trotzdem kreuzten sich französische Religionspolitik und protestantisches Eintreten für die Verfolgten. Denn noch vor seiner Abreise nach 17 Politische Correspondenz, Bd. 3, 143, Anm. 2. 18 „L’arrèt de Merindol“ und das Bekenntnis von 1541 siehe Reformierte Bekenntnisschriften Bd. 1/2 1535–1549, Neukirchen 2006, 223–227. 19 CO 11, 157; Nr. 277. 20 BAUM, G./CUNITZ, E., Histoire ecclesiastique des églises reformées au royaume de France, Bd. 1, Paris 1883, Reprint Nieuwkoop 1974, 54–59.
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Regensburg hatte Calvin sich mit Erfolg für ein Schreiben des Straßburger Rates an Franz I. eingesetzt, das er aber nicht sehr hoch einschätzte. (Etwa) am 6. Juli berichtet er Farel, was die Brüder betreffe, die um des Evangeliums willen leiden müssten, so habe er nicht erreicht, was er gewollt habe. Denn die Angelegenheit erforderte eine nachdrücklichere Aktion durch eine Gesandtschaft, als zumindest die Zeitumstände, das heißt, als der mangelhafte Zustand der Menschen erfordere. Er habe ein Schreiben (des Straßburger Rates an Franz I.) durchgesetzt. Dieses sei geschehen, noch bevor der Rat zugestimmt habe. Aber er habe dafür gesorgt, dass einiges geändert und hineingesetzt wurde, was Farel gefordert habe. Das Schriftstück sei für mehr nicht brauchbar.21 Was hatte Calvin auszusetzen? Das Schreiben, am 22. Februar abgefasst, stellt sich schützend vor die Verfolgten in der Provence. Es betont, dass auch die Schmalkaldener hinter der Eingabe an den König stehen (ließen diese aber wohlüberlegt im Namen des Straßburger Rates ausgehen). Es könnten die Waldenser nicht der Härsie angeklagt werden, sondern nur ein Eifer zur Verbesserung der Kirche und zum Gedeihen des Königreiches sei am Werk. Eine allgemeine Reformation der Kirche sei notwendig. Morelet und Sleidanus werden lobend erwähnt.22Was Calvin nicht gefallen hat, und was er in den Text eingefügt hat, kann nur erraten werden. Eine weitere Vermittlung fand noch weniger die Zustimmung Calvins. Das Scheitern des Religionsgesprächs in Regensburg zeichnete sich schon ab, als die Schmalkaldener am 23. Mai 1541 in einem offen Schreiben an Franz I. verlangen, die verurteilten Waldenser aus Merindol freizusprechen. Jene hätten ein Bekenntnis vor dem Parlament in Aix-de-Provence abgelegt, das mit ihrem eigenen Bekenntnis übereinstimme. Es sei ihnen auch Aufruhr vorgeworfen worden. Einigen sei Straflosigkeit zugestanden worden, wenn sie das Bekenntnis aufgeben, das sie selbst doch keineswegs anzweifelten. Der König möge das Urteil um Gottes Willen mäßigen. Im Brief an Farel vom 9. Juni kritisiert nun Calvin das Schreiben als matt und furchtsam. Die Verfasser wollten dem König nicht Freundschaft signalisieren, um damit beim Kaiser keinen Anstoß zu erregen. Sie wollten von sich aus erreichen, was sie als Bittende zu erreichen verschmähten. Doch für ihn gelte nur, was die Frommen in Frankreich berücksichtige. Mit einem Wort: Melanchthon und Calvin befürworten die Annäherung an Frankreich, wenn es den Verfolgten nutzt. Der Brief an Franz I. ist Calvin zu schroff. Doch ist dies vom Inhalt her nur schwer verständlich. Er selbst hält seine Beurteilung des Schreibens für so gefährlich, dass er seinen Brief mit seinem Pseu21 CO 11, 252, Nr. 334. 22 Politische Correspondenz, Bd. 3, 166f, Nr. 174. Der Entwurf Jakob Sturms hat dem Landgrafen vorgelegen; 151, Anm. 4.
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donym „Passelius“ unterzeichnet.23 Die Schweizer verwandten sich ebenfalls für die Verfolgten bei Franz I. Nach seiner Übersiedlung nach Genf hatte sich die Lage insofern geändert, als diese nun die Ansprechpartner Calvins waren, wenn wieder einmal beim König interveniert werden musste. 6. Der Wechsel zu Bucers Abendmahlsanschauung a. Luther und der Sadoletbrief Im Sadoletbrief geht Calvin nur kurz auf das Abendmahl ein. Sadolet hatte geschrieben: „In der Eucharistie verehren wir den sehr wahren Leib Christi.“ Jene Leute (evangelischen Theologen) würden den Herrn der Welt mit logischen und philosophischen Mitteln in seine beschränkte leibliche Natur einschliessen24 – gemeint ist: im Himmel. Calvin antwortet, Sadolet unterscheide nicht zwischen der örtlichen Gegenwart des Leibes Christi, die jedoch vom Brot ferngehalten werden müsse, und der geistlichen Kraft Christi, die von den Schranken seines Leibes fest umschrieben werde. In Augustins Brief an Dardanus könne Sadolet lesen, dass Christus nach seiner Gottheit Himmel und Erde überschreite, aber seine menschliche Natur sich nicht überallhin erstrecke. Diese Sätze Calvins zur Christologie sind wichtig, weil Luther sie zu lesen bekam. Der Abendmahlslehre wendet Calvin sich erst anschließend zu. Die wahre Mitteilung des Fleisches und Blutes, die den Glaubenden im Abendmahl dargereicht werden, schätzen wir in der Predigt hoch ein. Mit beredten Worten zeigen wir, dass dieses Fleisch wahrlich die Speise des Lebens ist, das Blut wahrlich der Trank des Lebens [Joh 6,55]. Daher soll sich die Seele nicht mit einem nur scheinbaren Empfang zufriedengeben, sondern Fleisch und Blut als wirksame Wahrheit geniessen. Die Gegenwart Christi, durch die wir ihm eingepflanzt werden, schliessen wir vom Abendmahl keineswegs aus. Wir verbergen sie wahrlich nicht, sofern nur eine lokale Umschreibung ausscheidet, sofern nur der herrliche Leib Christi nicht zu den irdischen Elementen herabgezogen werde, und sofern nicht eine Wandlung des Brotes in Christus erdacht werde, um es daraufhin an Christi statt zu verehren. Den hohen Wert und Nutzen des Geheimnisses heben wir nach besten Kräften hervor; und veranschaulichen es, wie sehr wir nur können, durch rühmende Worte; und erklären, wie sehr es uns weiter zum Nutzen ist. Ihr vernachlässigt dieses alles.
Calvin zählt nun die Fehler auf. Die göttlichen Wohltaten und ihren Nutzen werden übergangen, – man sei zufrieden, wenn das Volk vor den sichtbaren Zeichen staunend verstumme, ohne Verständnis für das geistliche Geheimnis – Die grobe Transsubstantiation hätten sie verdammt. Die stupide Ver23 24
CO 11, 235f, Nr. 321. OS I, 450.
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ehrung, die die Gedanken der Menschen zu den Elementen herabziehen, statt sie zu Christus zu erheben, hielten sie für verkehrt und gottlos. Die alte Kirche unterstütze diese Meinung; Sadolet bemühe sich umsonst, den Aberglauben zu verdecken.25 Die Auswirkung des Gespräches mit Bucer und Capito in Bern 1537, festgehalten in der Confessio fidei de eucharistia, ist greifbar. Johannes 6,55 ist der Ausgangspunkt, das Abendmahl ist als Geheimnis bezeichnet, die Christusgemeinschaft (nach Joh 6,56) ist betont. Calvin vertritt im Sadoletbrief seine neue, Bucer verwandte Abendmahlslehre. Es geschah nun das Unerwartete und für Calvins Abendmahlslehre Folgenreiche, dass Luther den Abendmahlsteil des Sadoletbriefes zu lesen bekam. Er schrieb am 14. Oktober 1539 an Bucer: Lebe wohl und grüsse Herrn Johann Sturm und Herrn Johann Calvin ehrerbietig, deren Bücher ich mit besonderem Wohlgefallen gelesen habe. Dem Sadolet wünsche ich, dass er glaubt, Gott sei auch der Schöpfer der Menschen ausserhalb Italiens. Aber diese Überzeugung dringt nicht in die Herzen der Italiener ein, denn sie haben gerade vor allen anderen über ihrem Stolz jeden menschlichen freundlichen Sinn verloren.26
Luther will damit sagen, Gott wirke auch außerhalb Italiens; das in Gottes Auftrag in Deutschland Gesagte verlange Gehör. Calvin berichtet Farel im Brief vom 20. November hocherfreut über Luthers Ausspruch und setzt hinzu: „Nun erwäge, was ich dort (in der Satisfactio) über die Eucharistie sagen werde! Bedenke den Freimut Luthers! Es wird jetzt leicht festzustellen sein, welche Gründe diejenigen haben könnten, die sich so hartnäckig von ihm trennen.“ Gemeint ist, die Zwinglianer haben keine Argumente. Calvin fährt fort: „Philippus (Melanchthon) aber schrieb: Luther und Pommeranus (Bugenhagen) lassen Calvin und Sturm grüßen. Calvin ist sehr in Gunst gekommen. Ferner liess Philippus durch den Boten erzählen, man habe, um Luther aufzuhetzen, ihm gezeigt, wie scharf er samt den Seinen von mir getadelt werde. Luther habe sich also die Stelle (über das Abendmahl) näher angesehen und gemerkt, dass sie ohne Zweifel gegen ihn gehe. Schliesslich habe er gesagt: Ich hoffe, er wird einmal besser von uns denken; es ist nur billig, dass wir von einem tüchtigen Geist einmal etwas hinnehmen.“ Ohne Frage weicht Calvin in seiner Abendmahlslehre in wichtigen Punkten von Luthers Lehrweise ab. Es erübrigt sich eine Aufzählung der Differenzen. Warum Luther trotzdem Calvin lobend einen tüchtigen Geist nennt, kann nur vermutet werden. War es die Bemühung, eine Gegenwart des Leibes und Bluts Christi im Abendmahl auszusagen? Oder war es die Beto25 26
OS I, 472f. CO 10b, 402, Nr. 190; vgl auch CO 12, 40, Nr. 619.
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nung des geistlichen Nutzens? Oder war es die entschiedene Abwehr der römischen Lehre? Vielleicht waren es alle drei Aspekte. Calvin traf nun eine weitreichende Entscheidung. Luthers Bemerkung kommentiert er im Brief an Farel: „Luthers massvolles Verhalten ist so groß, dass wir völlig steinern sind, wenn wir von ihr nicht berührt sind. Ich jedenfalls bin berührt. Deshalb habe ich eine Genugtuung (satisfactio) verfasst, die in die Vorrede zum Römerbriefkommentar eingefügt wird.“ b. Die Schrift Satisfactio Bevor auf sie eingegangen wird, müssen einige Vorüberlegungen angestellt werden. Offensichtlich hat er ihren Text Farel übersandt, denn in der Bibliothek in Neuchátel findet sich das Manuskript.27 Sicher ist auch, dass er zum Zeitpunkt des Briefes an Farel die Namen der Theologen kannte, die ihn bei Luther angeschwärzt haben. Es sind die lutherischen Theologen in Nürnberg. Bucer hatte ihnen am Tag zuvor eine Verteidigung der Abendmahlslehre der Institutio von 1539 geschickt. Des Weiteren: Die Satisfactio wurde nicht in der Vorrede zum Römerbriefkommentar abgedruckt. Nur drei dogmatische Abschnitte fanden Eingang in die Institutio von 1543, darunter allerdings die Zusammenfassung seiner Abendmahlslehre.28 Die für den Leser spannende Auseinandersetzung mit den Nürnberger Theologen und seine Einschätzung der Wittenberger Konkordie blieben daher ungedruckt. Das heißt, den Bezug auf die zeitgenössischen Vorgänge lässt Calvin letztlich unveröffentlicht. Endlich ist anzunehmen, dass Luther nicht den Abendmahlsabschnitt der Institutio 1539 kritisch gelesen hat, sondern den oben beschriebenen des Sadoletbriefes. Doch bestand inhaltlich zwischen beiden kaum ein konfessioneller Unterschied. Ist der Rahmen geklärt, so kann auf die Bedeutung des Begriffes Satisfactio eingegangen werden. Wem will Calvin Genugtuung leisten? Dem Zusammenhang nach ist Luther gemeint, der sich maßvoll im Urteil über seine Abendmahlslehre geäußert hat. Calvin will ihm ebenfalls maßvoll gegenübertreten, das heißt, ihm entgegenkommen. Darin besteht, wie zu zeigen ist, seine Genugtuung. Ein Jahr zuvor hatte Calvin, als er gerade in Straßburg angekommen war, geurteilt, Luther mache Fehler; ihm (Calvin) werde nicht Genüge geleistet (satisfieri).29 Vielleicht will er nun sein früheres Urteil revidieren. Im Blick auf die Nürnberger bedeutet Genugtuung, ihre falsche Ansicht abzuwehren, ihre Verdächtigungen aber zu entkräften. 27 Der Text: HERMINJARD, A.L., Bd.6, 132–137. 28 OS V, 352–354 (Inst IV, 17, 11); 356/57 (Inst IV, 17, 13 Ende); 389–390 (Inst. IV, 17, 32 Anfang). 29 CO 10b, 277; Nr. 149.
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Calvin nennt in dem Schriftstück zuerst den Anlass. Ihm sei neulich gemeldet worden, dass bestimmte Leute einiges aus seiner letzten Institutioausgabe als Ärgernis aufgefasst hätten und zwar, was er bei der Behandlung der Eucharistie zu erkennen gegeben habe. Die Kämpfe, die über die Gegenwart des Leibes und Blutes des Herrn in Abendmahl zu dieser Zeit entstanden und zu einem großen Teil beschwichtigt seien, wären wieder entbrannt und hätten die gläubigen Knechte des Herrn wie durch einen Seitenhieb erschüttert. Aber wenn jene dort eine lokale, Christus unwürdige Gegenwart lehrten, dann berühre ihn eine Botschaft dieser Art wenig. Ohne ihren Namen zu nennen, skizziert Calvin die Vorwürfe der Gegner. Er weist sie zurück, soweit sie die lokale Gegenwart Christi betreffen. Doch setzt er hinzu, er würde, was die Frömmigkeit angehe, ihnen zu gefallen suchen, wenn sie nur seine billige Genugtuung (aequa satisfactio) annehmen wollten. Als ersten Punkt führt Calvin an, die Kritiker sollten nicht meinen, er habe (in der Institutio) die Konkordie zwischen den deutschen Kirchen in Frage stellen wollen. Sein Beschluss sei vielmehr gewesen, sie nicht weniger bis zum Äußersten zu verteidigen, als er sie gerne angenommen habe. Dies meine er in jenem Werk genügend durch ein klares Zeugnis erklärt zu haben. Die Kirchen zielten (in der Konkordie) auf die Zusicherung der wahren Mitteilung des Leibes und Blutes des Herrn hin, die im Abendmahl die Glaubenden empfangen. Dies habe er dort zwar in Kürze, aber doch nicht undeutlich ausgeführt. Calvin unterläuft mit dieser Definition der Fehler der Ungeschichtlichkeit. Die Feinheit der Wittenberger Konkordie hat er nicht begriffen.30 Weder durchschaut er die Einigung auf die Formel mit dem Brot und Wein (cum pane et vino) und wahrhaftig und wesentlich zugegen sein und dargereicht und empfangen werden (vere et substantialiter adesse, exhiberi et sumi). Auch entgeht ihm der Hintergrund der Formel durch sakramentliche Einigkeit sei das Brot der Leib Christi (sacramentali unione panem esse corpus Christi). Vor allem den Empfang durch die Unwürdigen (indigni) übersieht er. Die Aufzählung könnte fortgesetzt werden. Nicht zufällig bricht der ungedruckte Text an dieser Stelle ab. Es ist leicht zu erraten, dass Bucer, der genaue Kenner der Konkordienverhandlungen, gegen ihn Einspruch erhoben hat. Auch mag Bucer eingewandt haben, dass Calvin in der Institutio von 1539 eben nicht „in Kürze“ die wahre Mitteilung des Leibes und Blutes Christi im Sinne der Kritiker gelehrt habe. Wenngleich der nachfolgende Text, der in der Institutio 1543 im Druck erscheinen wird, keinen (offensichtlichen) geschichtlichen Bezug mehr hat, so verdeutlicht er Calvins Abendmahlsverständnis nach dem Bekanntwerden der entgegenkommenden Äußerung Luthers. Er hat zunächst noch die 30
Der lateinische Text: BDS 6, 1, 120–128.
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Wittenberger Konkordie im Blick, wenn er die leiblichen Zeichen und die geistliche Wahrheit unterscheidet. Die Letztgenannte wird durch die Symbole „zugleich“ gestaltet (figurare) und dargeboten. Die Konkordie nennt ebenfalls „zwei Dinge“, ein himmlisches und ein irdisches. Dann aber hört der Bezug auf sie auf. Die Zusammenfassung am Schluss geht über Calvins bisherige Aussagen hinaus. Ich sage also, dass im Geheimnis des Abendmahls, und zwar durch die Symbole Brot und Wein, Christus uns wirklich dargeboten wird und sogar sein Leib und sein Blut, in denen er allen Gehorsam erfüllt hat, um uns die Gerechtigkeit zu erwerben. Dadurch sollen wir nämlich mit ihm zu einem Leib zusammenwachsen, und zweitens seiner Substanz teilhaftig gemacht werden, und durch die Mitteilung aller Güter auch seine Kraft spüren.
Deutlich hat Calvin die Confessio fidei de eucharistia vom Jahr 1537 im Blick. Der Begriff der Substanz war in ihr ungeklärt geblieben. Wahrscheinlich wollte Bucer damit auf das Wort substantialiter in der Wittenberger Konkordie Bezug nehmen. Calvin nimmt ihn nun in seine Lehrformel auf.31 Vor allem lehrt er jetzt das Darbieten des Leibes und Blutes im Abendmahl. Bucer und Capito hatten dies im Berner Gespräch 1537 durchsetzen wollen, wie ihre Sätze im Anhang der Confessio beweisen. Sie waren damals gescheitert. Im November 1539 gesteht Calvin sie zu. Ihre soteriologische, akthafte Begründung muss keine Einschränkung bedeuten. Die Zusammenfassung am Schluss ist Calvins Genugtuung für Luthers freundliche Anerkennung. Doch die Oberdeutschen waren jenem in der Konkordie weit mehr entgegen gekommen, als Calvin in der Satisfactio. Ganz deutlich ist Calvin auf Bucers Abendmahlslehre eingeschwenkt. Dies ist das eigentliche Ergebnis der Abendmahlslehre der Satisfactio. Den Nürnberger Theologen wird sie nicht genügt haben, weil sie eine lokale Gegenwart des Leibes und Blutes lehrten und diese anzuerkennen verlangten. c. Bucers Verteidigung Calvins gegenüber den Nürnberger Theologen. Martin Bucer missfiel offensichtlich die Selbstverteidigung Calvins in der Satisfactio, die gegen die Nürnberger gerichtet ist, aber dann ungedruckt blieb. Um den Ausbruch eines neuen Abendmahlsstreits zu verhindern, trat er mit seinen diplomatischen Fähigkeiten in die Bresche und verteidigte Calvins Institutio von 1539. Er führt an,32 Calvin billige die Wittenberger Konkordie und ihre Weise, über die Eucharistie zu sprechen. Seine Äußerungen gegenüber den Zwinglianern bewiesen dies – gemeint ist wohl sein 31 Er verteidigt sogar die substantielle Niessung des Leibes Christi, die Lutherlehre, gegen einige (Zwinglianer); HERMINJARD, A.L., Bd. 6, 1. 36. 32 Brief vom 19. November 1539 an (Veit Dietrich); ROTT, J., Investigationes historicae, Strasbourg 1986, Bd. 2, 327–331.
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Brief an Zébédée vom 19. Mai 1539. Daher macht Bucer die Gegner für den Streit verantwortlich. Jene bellten sie an und sagten, der Leib Christi werde im Abendmahl auf eine unwürdige Weise mit den Elementen vermischt. Calvin suche dem genug zu tun und weiche daher von der allgemein angenommenen Redeweise ab. Sodann verweist Bucer auf die Verwirrung in Frankreich, die wegen der Frage der Darbietung Christi im Sakrament herrsche. Calvin suche ihr in der Institutio und im Sadoletbrief zu begegnen. Natürlich verweist Bucer auch auf Luthers anerkennende Worte. Veit Dietrich, der Adressat, stand deutlich unter dem Einfluss der Mystik des Andreas Osiander, der Brot und Leib Christi identifizierte. Da die Nürnberger in Wittenberg keinen Rückhalt fanden, konnte ein Abendmahlsstreit vermieden werden. Bucers Darstellung war einseitig, aber hilfreich. Kapitel 17: Das literarische Werk Es genügt, die beiden Gutachten kurz zu erwähnen, die Calvin für Wilhelm von Fürstenberg abgefasst hat. Es sind juristische Gutachten, die er, der in Geldnöten war, wohl aus finanziellen Gründen verfasste. Fürstenberg war Heerführer, zuerst im Dienst des Kaisers, dann in dem des französischen Königs. Ein Untergebener hatte seine Truppe mit seinen Leuten verlassen, was Fürstenbergs Ruf schadete und seine Verteidigung erforderte. Beide Gutachten wurden 1539 und 1540 in deutscher und französischer Sprache mit einem kunstvollen Holzschnitt des Wappens auf der Titelseite gedruckt.33 Welche Arbeit Calvin in kurzer Zeit bewältigte, ist kaum zu fassen. Am 20. April 1539 schrieb er an Farel: „Ich erinnere mich nicht, dieses ganze Jahr einen Tag gehabt zu haben, an dem ich mehr mit allerlei Geschäften überhäuft gewesen wäre als heute. Denn da dieser Bote auch den Anfang meines Buches mitnehmen wollte, musste ich noch etwa 20 Bogen durchsehen. Dazu musste ich Vorlesung halten und predigen, vier Briefe schreiben, einige Streitigkeiten schlichten und mehr als zehn Besuchern Rede stehen.“ Die Bücher, die er in Straßburg verfasste, seien im Folgenden beschrieben.
33 PETER, R., Jean Calvin. Plaidoyers pour le comte Guillaume de Furstenberg, Paris 1994 (EHPhR 72).
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1. Der Sadoletbrief (1539) Aus Genf ausgewiesen und Anfang September in Straßburg angekommen, war die erste große Aufgabe, deren sich Calvin unterzog, die Beantwortung des Schreibens Kardinal Sadolets, die den Titel führte „An seine Brüder, die Obrigkeit, den Rat und das Volk von Genf“. Aus der Stadt gedemütigt ausgeschlossen, kam er ihr trotzdem zu Hilfe. Der Hilferuf erreichte ihn aber nicht zufällig. Am 18. März 1539 hatte Sadolet sein Schreiben veröffentlicht. Schon am 26. März sandte ein Bürger von Carpentras, dem Sitz des Kardinals, das Buch nach Genf, das in Lyon erschienen war. Der Kleine Rat sandte das Buch nach Bern, wo man über die Gefährdung der Reformation in Genf, wie schon erwähnt, höchst beunruhigt war. Dort traute man den neuen Genfer Predigern die Beantwortung nicht zu, sondern übertrug die Aufgabe an Viret und seine Kollegen. Der Pfarrer Peter Kunz schlug vor, die Schrift an Calvin zu senden. Aus Calvins Brief an Farel vom August 1539 ist zu erfahren, dass er ungern die Entgegnung übernahm. Ich sehe, die Genfer werden noch in mancher Hinsicht unglücklich werden. Den Brief des Sadolet hat Sulzer hierhin geschickt. Um eine Antwort glaubte ich mich nicht kümmern zu müssen, aber schliesslich zwangen mich die Unseren dazu. Jetzt nimmt sie mich ganz in Beschlag. Ich brauche etwa sechs Tage für sie.
Die Schrift erhielt den Titel „Des römischen Kardinals Jacobus Sadolets Brief an den Rat und das Volk von Genf, in dem er sie in den Gehorsam unter den römischen Pontifex zurückzuführen trachtet“. Mit klaren Worten bezeichnet Calvin bereits im Titel Sadolets Vorhaben. Sadolets Brief ist ein Seelsorgeschreiben. Er stellt sich den Genfern vor und spricht sie wiederholt als Brüder an. Er lobt ihre republikanische Verfassung und ihre Gastfreundschaft. Durchgehend behandelt er zwei Themen, das Heil ihrer Seelen (nicht ihrer Leiber) und die Autorität der Kirche. Die Gegner sind einige listige Männer, Feinde der christlichen Einheit und des Friedens. Sie sind aus anderen schweizerischen Städten gekommen und haben die Saat der Zwietracht in Genf gesät. Mehr erfährt man über sie nicht, wie überhaupt die Polemik gegen die protestantische Lehre fehlt. Sadolet lehrt auch ein sola fide, aber dieser Glaube soll verbunden sein mit Liebeswerken. Mehrmals wird der Verzicht auf spitzfindige und scharfsinnige Disputationen ausgesprochen, gemeint sind Katechismen und Bekenntnisse. Es wird vielmehr zur Demut gemahnt und als eigentliches Thema angegeben, „Gott stieg zur Erde herab, um Mensch zu werden, und der Mensch wurde zum Himmel erhoben, damit er Gott würde“.34
34
OS I, 445.
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Sadolet pocht auf das Alter der Kirche. Sie ist mehr als 1500 Jahre alt; seit mehr als 1300 Jahren bestehen klare Ordnungen. Die Neuerungen der Gegner aber stammen aus den letzten 25 Jahren. Sehr wohl weiß Sadolet um Eitergeschwüre im Fleisch der Kirche, die beseitigt werden müssen, aber sie gehören nicht zum Wesen der Kirche. Er will jedoch auf bestimmte Punkte nicht eingehen: nicht auf die Eucharistie, in der der wahre Leib Christi verehrt wird, nicht auf die Beichte vor dem Priester, nicht auf die Anrufung der Heiligen oder auf die Gebete für die Toten. Er bringt zu jedem Punkt aber verteidigende Argumente. Höhepunkt der Epistel ist die Verteidigung vor dem Richterstuhl Gottes. Von beiden Parteien tritt je ein Vertreter auf. Der treue Anhänger der katholischen Kirche bekennt seinen Gehorsam gegen die Kirche usw. Der andere beginnt: „Allmächtiger Gott, wenn ich die Sitten der Kirchenmänner betrachte, die fast überall verderbt sind, und die Priester betrachte, die trotzdem im Blick auf die Religion allgemein geehrt werden, die mit sündigem Geist ihren Wohlstand offen zeigen, dann entflammt mein Zorn.“ Er habe die Ordnungen der Kirche niedergetreten, um ihre Macht zu zerstören usw.35 Sprecher ist der von Rom abgefallene Genfer Bürger, der hier redet. Zuletzt wendet er sich an die Gnade Christi. Geschickt versucht Sadolet durch Mahnung und Zugeständnisse die Genfer zur Kirche Roms zurückzuführen. Calvin druckt den Brief Sadolets ab und antwortet anschließend auf ihn. Er grüßt jenen zuerst freundlich und lobt seine Rednergabe und Bildung. Es scheint ein gelehrter Briefwechsel stattzufinden. Zurecht nennen zahlreiche Forscher den Sadoletbrief die beste Schrift Calvins. Mit ein Grund dafür ist, dass er auf den persönlichen, seelsorgerlichen Stil des Gegners eingeht, wiewohl er in der Sache hart bleibt. Denn der geheime Adressat sind auch bei ihm die Bürger Genfs, die er im Glauben stärken will. Im nächsten Jahr wird die Schrift in Genf in französischer Sprache gedruckt erscheinen. Calvin folgt Sadolets Rhetorik, wenn beispielsweise er selbst vor den Richterstuhl Gottes tritt und sich verteidigt. Sprache und Argumentation sind mitreißend. Doch er schenkt in der Sache dem Kardinal nichts. Die Liste der Vorwürfe beginnt gut reformatorisch mit dem Fehlen des Wortes Gottes bei der Definition der Kirche. Vom Geist werde gesprochen, nicht aber von dem dazugehörigen Wort, das heißt, von der Verkündigung des Reiches Gottes. Er definiert: „Die Kirche ist die Gemeinschaft aller Heiligen, welche, über den ganzen Erdkreis und durch alle Zeiten verstreut, doch, durch die eine Lehre Christi und den einen Geist verbunden, an der Einheit des Glaubens und brüderlicher Eintracht […] festhält. Mit dieser Kirche uneins zu sein, bestreiten wir.“ Diese Kirche hat drei notae ecclesiae, die Lehre, 35
OS I, 452.
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die Sakramente und die Kirchenzucht. „Viertens kommen die Zeremonien hinzu, die das Volk in den Pflichten der Frömmigkeit einüben sollen.“ Calvin weicht deutlich von der Zweizahl im Augsburger Bekenntnis ab. Doch stehen Verkündigung und Sakramente auch bei ihm an erster Stelle. Es wird durch die Nennung der notae ecclesiae deutlich, warum er definiert, die Kirche ist „durch alle Zeiten zerstreut“. Dann setzt er die Liste der Vorwürfe fort: Genugtuung für die Sünden, die Verbindung des Leibes Christi mit den Elementen (Brot und Wein), deren Verehrung, Transsubstantiation, Ohrenbeichte, Anrufung der Heiligen, Fegefeuer. Rhetorischer Höhepunkt ist auch in der Antwort Calvins die Verteidigung vor dem Richterstuhl Gottes. Sein Gebet beginnt mit einer langen Anklage der Gegner und, damit verbundenen, mit der Rechtfertigung der eigenen Lehre. Dann kommt Calvin auf sich selbst zu sprechen. „Damit ich dies verstehe, Herr, hast du mir die Klarheit deines Geistes geschenkt. Ich sollte tadeln, was gottlos und schädlich ist. In deinem Wort hast du mir die Fackel vorangetragen. Damit ich dies verabscheuen würde, hast du mein Herz beunruhigt. Wenn Rechenschaft abgelegt wird über die Lehre, so siehst du, was mein Gewissen bewegt. Ich wollte nämlich nie jene Grenzen überschreiten, die, wie ich sah, allen deinen Knechten gezogen ist. Was ich aus deinem Munde, ohne zu zweifeln, gelernt hatte, wollte ich getreulich der Kirche weitergeben. Es ist doch klar, dass ich am liebsten nur erstrebte, wofür ich am meisten gearbeitet habe, nämlich dass der Ruhm deiner Güte und Gerechtigkeit deutlich aufleuchte und alle früheren Nebel zerstreuen soll.“ In dieser Weise trägt Calvin einen Punkt nach dem anderen im Gebet vor. Während Sadolet zwei ziemlich kurze Gebete vor Gottes Richterstuhl einflechtet, redet Calvin über weite Strecken im Gebetsstil. Es können ihm dabei Augustins Confessiones als Vorbild gedient haben. 2. Die Institutio christianae religionis von 1539 Sie ist ein großformatiges Werk im Folioformat (2°) gleich wie die Institutio von 1559. Die 17 Kapitel geben nicht zu erkennen, dass ihr Umfang etwa zwei Drittel der Endfassung von 1559 ausmacht, welche 80 Kapitel umfasst. In der Forschung ist sie vernachlässigt. Der Grund ist, dass in den Opera selecta zwar die Stücke, die Calvin in die Institutio von 1559 übernommen hat, angezeigt sind, auch in diesen Stücken die abweichenden Worte, ja, ganze Sätze sind in den Textapparat aufgenommen, aber die von Calvin korrigierten und also weg gelassenen Teile erscheinen nicht.36 Die 36 Nun verwenden die Opera selecta noch als weiteres Zeichen „1539* (1536)“. Es bedeutet laut OS III, LIII (b), dass die ältere Form von 1536 verändert worden ist. Wie und in welchem
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Institutio von 1539 ist daher in großen Teilen noch nie nachgedruckt worden und der Gedankengang ist im Einzelnen unbekannt. Ihre gründliche Erforschung birgt Überraschungen. Es sei dies an dem Leitmotiv Cognitio Dei et nostri, an der Lehre von der Schrift und an der Christologie wenigstens ansatzweise verdeutlicht. a. Cognitio Dei et nostri (Kapitel I und II) Wie oben erwähnt, hatte Calvin im Genfer Katechismus 1537/38 das Leitmotiv korrigiert. Die Gotteserkenntnis wird nicht mehr vor dem Sündenfall abgehandelt. Der Mensch, der Gott erkennt, ist der mit natürlichem Erkenntnisvermögen begabte, aber notwendig von Gott abfallende Sünder. In der Institutio von 1539 wird der erste Absatz erneut korrigiert und verändert. Da der Text in keinem Nachdruck eingesehen werden kann, sei er hier wiedergegeben. Beinahe die ganze Summe unserer Weisheit, welche wirklich und wahrhaft als Weisheit bezeichnet zu werden verdient, besteht in zwei Teilen, der Erkenntnis Gottes und unserer selbst. Sie zeigt nämlich, dass nur ein einziger Gott ist [Deut 6,4], der von allen Menschen verehrt und angebetet werden muss. Doch zugleich will sie auch lehren, dass jener eine Gott die Quelle aller Wahrheit, Weisheit, Güte, Gerechtigkeit, Einsicht, Barmherzigkeit, Macht und Heiligkeit ist. Wir sollen lernen, von ihm überhaupt alles zu erwarten und zu erbitten und ausserdem das Empfangene ihm mit Lob und Dank zurückzuerstatten. Das andere ist, dass sie uns unsere Schwäche, Kläglichkeit, Nichtigkeit und Schändlichkeit zeigt, uns zuerst zu der darauf folgenden Demut, Entmutigung, Misstrauen gegen uns selbst und zum Eigenhass führt und zweitens in uns das Begehren entzündet, nach Gott zu suchen. Denn in Gott ist alles Gute enthalten, das wir, die wir sonst arm und leer sind, ergreifen. Welche von beiden aber der anderen vorausgeht und welche auf sie folgt, ist nicht leicht zu entscheiden.37
Der Fortschritt ist sogleich erkennbar. Die ‚Weisheit‘ lehrt die Eigenschaften Gottes und des sündigen Menschen. Cognitio Dei et nostri werden nicht mehr nacheinander verhandelt, sondern eng miteinander verbunden. Der „eine Gott“ ist immer der von den Menschen zu verehrende Gott. Die beiden „Teile“ sind zu unterscheiden, gehören aber zusammen. In der Institutio von 1536 verbinden sich beide Teile erst im letzten Satz: „Gott“ und „wir “ Umfang sie verändert worden ist, wird nicht erwähnt. Das Urteil, die Institutio von 1539 sei grösstenteils unbekannt, bleibt bestehen. Übrig bleibt nur der Weg, über die französische Institutio von 1541 ihren Inhalt kennen zu lernen. Doch kann Calvin den französischen Text auch verändert, ganz wahrscheinlich aber wird er ihn gekürzt haben. Da auch CO 1–2 nur allgemein jeweils auf den Text der Institutio von 1539 verweist und MCNEILL/BATTLES, Calvin: Institutes of the Christian Religion, Philadelphia 1960, der Methode der Opera selecta folgt, ist die Ansicht verbreitet, Calvin habe im Wesentlichen immer nur den Text der Institutio vervollständigt, nicht aber auch früher Geschriebenes widerrufen und den Gedankengang geändert. Tatsache ist, dass Calvin oft seine Meinung geändert hat. 37 Inst 1539, 8.
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treffen zusammen in „Christus“. In der Institutio von 1539 gehören sie von Anfang an zusammen. Erst jetzt wird zu Ende gedacht, dass die Erkenntnis Gottes immer auf uns bezogen ist, und umgekehrt die Erkenntnis unserer selbst mit der Gotteserkenntnis zusammengehört. Doch noch eine zweite Veränderung ist festzustellen. Statt „Summe der heiligen Lehre“ heißt es nun „Summe unserer Weisheit“. Weisheit umfasst auch die natürliche Gotteserkenntnis. Demgemäß wird Gott als der „eine“ Gott bezeichnet, den „alle“ Menschen verehren sollen. Den Preis, den Calvin für diese Änderung zahlt, ist ein Gedankengang remoto Christo, das heißt, ohne Berücksichtigung Christi und seines Werkes. Nun erfolgte der Christusbezug in der Institutio von 1536 auch erst ganz spät, nämlich im letzten Satz. Er ist dort eine Zielangabe. Doch bereits im Genfer Katechismus fehlte dieser Christusbezug. Calvin bewegt dazu sein heilsgeschichtliches Denken. Das Gesetz ist allen Menschen gegeben. Erst dann wird gelehrt, dass Christus des Gesetzes Ende ist. Der letzteSatz lautet: „Welche von beiden Erkenntnissen (sc. cognitio Dei et nostri) der anderen vorausgeht und welche auf sie folgt, ist nicht leicht zu entscheiden.“ Er hat Calvin Ärger eingebracht. Denn Albert Pighius hatte in seiner Schrift De libero arbitrio (1542) den Satz lobend erwähnt, „die Erkenntnis Gottes und unserer selbst sind durch ein gegenseitiges Band unter sich verbunden und verknüpft“. Pighius schließt daraus: „Wir können das gerechte Urteil Gottes nicht verstehen, ohne dass wir wissen, wir sind mit dem freien Entschluss des Willens begabt und es komme auf uns an, den Geboten zu gehorchen“ (usw.) Calvin widerspricht natürlich heftig.38 Den Satz selbst behält er in den künftigen Ausgaben trotzdem bei. Der Kontext schließt eine Fehlinterpretation aus. Ist die Zusammengehörigkeit beider Teile festgestellt, so hindert Calvin nichts mehr, das erste Kapitel „Über die Erkenntnis Gottes“ zu überschreiben, das zweite „Über die Erkenntnis des Menschen“. b. Die Entstehung der Heiligen Schrift (Kapitel I) Der Inhalt des Kapitels I De Cognitione Dei entspricht im Großen und Ganzen dem des Buches I, Kapitel 1 bis 9 in der Institutio von 1559. Thema ist die Gotteserkenntnis aus der Natur, aus der Heiligen Schrift, deren Autorität und die Heilsgewissheit. Diese Angabe mag hier genügen. Calvin hat diese Themen erstmals in der Institutio von 1539 behandelt. Von daher gesehen, ist es theologisches Neuland. Es gibt aber einen Abschnitt, den er wieder gestrichen hat. Er beginnt mit den Worten, mit denen der Abschnitt I, 6, 1 der Institutio von 1559 anfängt. Dort erscheint die Lehre von der Heiligen Schrift als ein neues Thema. Der Abschnitt erfordert besondere 38
Defensio […] adversus calumnias Alberti Pighii (1543); CO 6, 246f.
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Aufmerksamkeit, weil in ihm die Entstehung der Schrift erklärt wird. In der Institutio von 1559 hat er nur teilweise eine Parallele. Da der Text als Nachdruck nicht greifbar ist, sei er ebenfalls ganz zitiert. Es ist nicht erlaubt, die Unwissenheit so zu bemänteln, dass wir sie immer mit Schlaffheit und Undankbarkeit erklären. Angemessen könnte als Verteidigung zugelassen werden: Wenn der Mensch vorschützt, es hätten ihm, um die Wahrheit zu hören, die Ohren gefehlt; um sie zu erzählen, würden den tauben Geschöpfen die Stimmen mehr reichen als der Klang. Wenn er vorschützt, es könne den Augen passieren, dass sie nicht sehen, was zeigt man den Geschöpfen ohne Augen? Wenn man die Schwachheit des Verstandes entschuldigt, wie werden alle unterrichtet ohne die geschöpfliche Vernunft? Daher werden wir durch jede Entschuldigung von der Wahrheit völlig ausgeschlossen, weil wir als Umherschweifende und Schwankende abirren, obwohl alles auf den rechten Weg verweist. Doch wie nur immer es der Sünde der Menschen zugerechnet werden muss, obgleich der Samen der Kenntnis Gottes durch das wunderbare Kunstwerk der Natur in seine Sinne eingestreut ist, ist er bald verdorben und gelangt nicht zu guten und rechten Früchten. Dennoch ist völlig wahr, dass jene blosse und einfache Bezeugung, die den Geschöpfen von der Pracht Gottes belassen ist, uns niemals genügend unterweist. Zugleich haben wir auch den geringen Vorgeschmack von der Gottheit, den wir aus der Betrachtung der Welt besitzen, dadurch verstreichen lassen, dass wir den wahren Gott übergangen und an seiner Stelle Träumereien und Einbildungen über uns selbst gesetzt haben. Weiter, da dieses täglich geschieht, so verbergen oder verdrehen wir die Gottheit, und es muss schlechthin angenommen werden, dass wir den Geschöpfen ihren Ruhm und dem Urheber das ihm gebührende Lob entreissen. Da also Gott, um des Menschen Gottlosigkeit jeder Verteidigung zu berauben, mit dem Blitz seines göttlichen Wesens die Geschöpfe gezeichnet, und zwar ohne Ausnahme, und sie dem Weltall bekannt gemacht hat, so hat er sich ihnen gegenüber entschlossen, sich ihnen zum Heil deutlich zu zeigen und ihre Ohnmacht durch ein wirksameres Heilmittel auf sich zu nehmen. Denn zu ihrer Unterweisung gebraucht er nicht nur taube Lehrer, sondern er öffnet selbst seinen heiligen Mund.Und dabei gibt er nicht nur die Anweisung, irgendein Gott sei zu verehren, sondern er verkündet zugleich, er selbst sei es, der zu verehren sei. Und er lehrt dieselben nicht nur, auf Gott zu schauen, sondern er stellt sich auch als der dar, auf welchen sie schauen sollen. Diese Ordnung hat der Herr von Anfang an in der Berufung seiner Knechte festgehalten, so dass er ausser allen jenen Dokumenten auch das Wort dargereicht hat; dieses Merkmal ist viel einfacher und vertrauter, um seinen Namen zu erkennen. Durch dieses Mittel sind Adam, Noah, Abraham und die übrigen Väter zu einer vertrauteren Kenntnis gekommen und, durch das Wort erleuchtet, sind sie zu ihr durchgedrungen, sei es, dass sie ihnen durch Wahrsagungen und Visionen eingegeben wurden, sei es, dass sie den Vorfahren so offenbart worden ist und durch ihren Dienst, gleichsam von Hand zu Hand, weitergegeben wurde. Dennoch machte es keinen Unterschied, auf welche Weise sie schliesslich des Wortes teilhaftig wurden. Sie sollten nur verstehen, dass es von Gott gekommen ist. Gott hat immer unbezweifelbaren Glauben dazu finden lassen, so oft er nur immer gewollt hat, dass ein günstiger Zeitpunkt für diese Offenbarung gekommen ist. Daher hat er einigen Wenigen ein
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augenscheinliches Zeichen seiner Gegenwart ganz besonders gegeben und einen heilbringenden Schatz der Lehre bei ihnen in Verwahrung gegeben, den dieselben wiederum an ihre Nachkommen verteilen würden. Gleich wie wir sehen, dass der Bund des ewigen Lebens dem Abraham durch eine himmlische Weissagung anvertraut und auf die ganze Familie ausgeweitet worden ist und Sorge getragen wurde, dass er durch eine lange Geschlechterreihe weitergegeben worden ist.[Gen 12,1–3; 15,18] Durch dieses dazwischen Eingefügtwerden wurde Abrahams Nachkommenschaft von den übrigen Völkern unterschieden, was durch die einzigartige Wohltat Gottes geschah und in jener Mitteilung des (Segens)Wortes gewährt worden war. Später, als es dem Herrn gefiel, ausserdem eine bedeutend ausgewähltere Kirche zu errichten, hat er gewollt, dass dasselbe Wort sowohl durch einen feierlicheren Ritus öffentlich angekündigt worden, als auch durch Tafeln bestätigt worden ist. Dann haben sie begonnen, Gottes Weissagungen Schriften anzuvertrauen. Diese Weissagungen waren von Hand zu Hand überliefert und im Volk Gottes bewahrt worden. Auf diese Weise hat Gott durch seine einzigartige Vorsehung das Heil der Nachkommen bedacht.39
Mehrere Merkmale enthält diese Entstehungsgeschichte der Heiligen Schrift, vergleicht man sie mit den Parallelberichten der Institutio von 1559 (I, 6,1–2). Obwohl einige der Sätze in der Institutio von 1559 wiederkehren, wird 1539 eine stringente Stufenfolge gelehrt. Erstens, es wird ausgegangen von den Sinnesorganen Augen, Ohren und Verstand. Es ist diese Betrachtungsweise Calvin nicht fremd. Er wendet sie nun auf den Weg Gottes in seiner Offenbarung an. Doch er hat später das verunglückte Beispiel von den tauben Ohren streichen, und die Beispiele von den blinden Augen und dem schwachem Verstand näher erklärt. Die Augen bedürfen der Brille und Israel des Gesetzes. Zweitens, es gibt eine Kenntnis Gottes aus den Kunstwerken der Natur. Es ist ein in allen Menschen eingepflanzter Samen, der durch die Sünde jedoch verdirbt. Es sind die Augen, die diese Kenntnis vermitteln, und die menschliche Wahrnehmung. Doch zählt Calvin auch das Hören hinzu. Denn „die Geschöpfe bezeugen die Pracht Gottes“. In der Einführung zum Neuen Testament der Olivétanbibel (1535) zitiert er, wie erwähnt, die Naturpsalmen: „Denn die Vögel besangen Gott (Ps 104,12), die Tiere riefen ihn an (Ps 147,9), die Elemente zittern vor ihm (Ps 98,7–8), die Berge rufen ihm ein Echo zu (Ps 114,7)“ usw. Drittens, die Menschen haben einen Vorgeschmack von der Gottheit (numen). Daher sollte das Lob der Gerechtigkeit, Weisheit, Güte, Macht und des Preises Gottes angestimmt werden. Doch die Menschen entwickeln statt dessen Träumereien und Einbildungen. Wiederum genügt auch diese Stufe der Offenbarung alleine nicht. 39
Inst 1539, 9f.
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Viertens, Gott erstellt nun aber „ein wirksameres Heilmittel“, nämlich er spricht persönlich mit Menschen. Also nicht irgendein Gott sei zu verehren, sondern er selbst. Das geschieht „in der Berufung seiner Knechte“. Zu den Dokumenten (der Natur), so Calvin, kommt das viel einfachere und vertrautere Wort. Die „Väter“, nämlich Adam, Noah, Abraham und andere, sind auf diese Weise zur Erkenntnis Gottes gekommen. Der Abrahambund wird besonders hervorgehoben. Calvin nennt dann speziell die Wahrsagungen und Visionen und die mündliche Weitergabe „von Hand zu Hand“. Doch sei die Art und Weise nebensächlich. Hauptsache sei, dass Klarheit bestehe, dass das Wort von Gott komme. Fünftens, nennt Calvin die Bestätigung des Wortes „durch Tafeln“. Gemeint ist der Dekalog; der „feierliche Ritus“ wird die Beschneidung sein. Calvin sieht in der Gesetzgebung eine sehr viel höhere Stufe der Offenbarung. Sie dient zur Errichtung einer „bedeutend ausgewählteren Kirche“. Sechstens, dann wurden die Wahrsagungen Gottes (oracula) durch Schriften den Menschen gegeben. Calvin sieht darin den Abschluss, denn er endet mit einem Lobpreis der Providenz Gottes. Dieses gedankliche Bauwerk verdient große Achtung. Die einzelnen Stufen sind nicht nur folgerichtig angeordnet, sie decken auch das unterschiedliche Offenbarungshandeln Gottes im Alten Testament ab. Doch Calvin hat es in den späteren Institutioausgaben nur teilweise beibehalten. Die gedankliche Konsequenz geht verloren, wenn er hinter die persönliche Anrede der „Väter“ durch Gott die Überlegung einschiebt, Gott offenbare sich einerseits als Schöpfer, andererseits als Erlöser und Mittler. Es fällt hier der Name Christus. Calvin wagte den Gedankengang remoto Christo nicht beizubehalten. Damit war auch die Schwierigkeit behoben, dass die Entstehung der Heiligen Schrift in der Institutio von 1539 mit dem Alten Testament abbricht. Denn Wahrsagungen (oracula) gibt es nur dort. Im Neuen Testament sind es nach seinem Sprachgebrauch Zusagen (promissiones). Die weiteren Erörterungen zur Heiligen Schrift hat Calvin in der Institutio von 1559 wenig verändert beibehalten (I, 6,3 bis 8,2). c. Theozentrische Theologie Würde man Calvin daraufhin ansprechen, dass christologische Aussagen fehlen – und bei der Prädestinationslehre stellt sich das Problem erneut – so würde er auf die Auslegung des Glaubensbekenntnisses in Kapitel IV verweisen. Sie ist gegenüber der Institutio von 1536 um ein vielfaches vermehrt worden. Calvin leitet den zweiten Artikel folgendermaßen ein: Wir haben schon früher gelehrt, dass Christrus das eigentliche Ziel (scopus) unseres Glaubens ist, und dass aus ihm leicht sichtbar wird, dass alle Teile unseres Heils in ihm hier (im Credo) aufgeführt werden. Ausgezogen ist der Herr nämlich, wie der Prophet sagt, zum Heil für sein Volk, zum Heil mit seinem Messias (Hab 3 [15]), weil
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er durch seine Hand das Werk seiner Barmherzigkeit durchgeführt hat, nämlich die Erlösung seines erwählten Volkes. Zu Beginn wird er Jesus genannt (Mt 1 [21]). Durch diesen himmlischen Titel hat er die Weissagung über ihn [Ps 130,8] bekannt gemacht. Daher wird in ihm und nicht anderswo das Heil gefunden.40
Gottes Offenbarung in Christus hat also eine Vorgeschichte im Alten Testament, die zu ihr gehört. In welchem Verhältnis steht die Vorgeschichte zur Geschichte? Nachdem Calvin Busse und Rechtfertigung behandelt hat (Kapitel V und VI), schiebt er ein besonderes Kapitel „Über die Ähnlichkeit und den Unterschied zwischen dem Alten und Neuen Testament“ (Kapitel VII) ein. Nun interessiert hier nicht so sehr die Ähnlichkeit zwischen beiden (das Alte Testament weist über sich hinaus; der Bund deutet auf Christus hin; die Väter hatten das Wort; die Güte Gottes ist stärker als der Tod usw.), sondern der Unterschied. Wie wird über Christus geredet? Der Unterschied wird komparativisch ausgedrückt. Ein Streifzug durch den zweiten Teil des Kapitels ergibt folgendes Verhältnis von Altem und Neuem Testament: leiblich – himmlisch, Kindheit – Mannesalter; Abbild – Wirklichkeit, Bundesschluss – seine Erfüllung in Christus, Gesetz und Propheten bis auf Johannes den Täufer – dann Predigt des Reiches Gottes, Hinweis aus der Ferne – dann auf Christus selbst, Dunkelheit – in Christus ist die Offenbarung leuchtender [!], Buchstabe – Geist (Gesetz und Evangelium), Knechtschaft – Freiheit, Zeremonien des Gesetzes – deren Ausrichtung auf Christus, Israel – alle Völker mit Gott versöhnt in Christus. Das Ergebnis ist: Es wird eine Werkchristologie entwickelt. Erst zum Schluss taucht eine personale christologische Aussage auf, nämlich die Zeit der Erniedrigung Christi – die Zeit seiner Erhöhung. Nun wurde schon bemerkt, dass es Calvin ein leichtes sein würde, auf die Erklärung des zweiten Artikels des Apostolikums zu verweisen. Aber es bleibt die Feststellung bestehen, dass im Kapitel VII personale Aussagen fehlen. Mit den vielen begrifflichen Steigerungen sind zugleich die Grenzen aufgezeigt, in denen Calvin sich bewegt. Eigentlich will er nicht über den Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament Auskunft geben, sondern über die Stufen, die von dem einen zu dem anderen führen. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen gesteht er, der Einheit zwischen beiden Testamenten werde kein Abbruch geschehen. Calvin hat die Kluft zwischen personaler Christologie und Werkchristologie sehr wohl empfunden. Noch in der Ausgabe der Institutio von 1554 lehrt er wie in der Institutio von 1539. Dann aber schlägt er den Knoten durch. Er hat gemerkt, dass das Kapitel überAltes und Neues Testament eigentlich zwischen die Erklärung des Gesetzes und des Evangeliums ge40
Inst 1539, 124.
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hört. Erst dort geben Überlegungen über die Einheit und den Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament einen Sinn. In der abschließenden Form der Institutio gibt er die Erklärung des Apostolikums auf – die Institutio ist nun endgültig kein Katechismus mehr. Der erste Artikel des Credos wird Buch I (die Erkenntnis Gottes des Schöpfers), der zweite Artikel Buch II (die Erkenntnis Gottes des Erlösers), und der dritte Artikel Buch III und IV (das Wirken des Heiligen Geistes). Bei der Behandlung des Erlösers in Buch II stehen die Kapitel über das Alte und Neue Testament (II, 10–11) fast unverändert zwischen den Zehn Geboten (II, 7–9) und der voll ausgeführten Christologie (II, 12–17). Die christologische Schwäche der Institutio von 1539 ist beseitigt. Die theozentrische Betrachtungsweise hat trotzdem das Übergewicht in der Theologie Calvins behalten. d. Die Prädestinationslehre (Kapitel VIII) Da sie bei der Behandlung des Genfer Katechismus 1537/38 bereits untersucht worden ist, soll hier ihrer weiteren Entwicklung nachgegangen werden. Ihr hauptsächliches Merkmal ist die Tatsache, dass in ihr die endgültige, abschließende Prädestinationslehre schon vorliegt. Im Kapitel VIII De praedestinatione et providentia wird zuerst die Prädestiantionslehre entwikkelt und anschließend die Providenzlehre. Bekanntlich trennt Calvin in der Endfassung beide Lehrstücke. Die göttliche Vorsehung wird in der Institutio von 1559 im Buch I, 16 und 17 dargelegt, die Prädestination im Buch III, 21 bis 24. Beide Mal knüpft Calvin direkt an den Text von 1539 an und vervollständigt ihn. Bei genauem Hinsehen ergibt sich, dass Calvin den zwanzig Jahre älteren Text vollständig übernimmt. Der Abdruck im Corpus Reformatorum und in den Opera Selecta IV lassen diesen Umstand nicht erkennen. Als Calvin die Endfassung von 1559 erarbeitete, unternahm er nichts anderes, als in den Text von 1539 – sieht man von den wenigen Einfügungen in der Institutio von 1543 ab – Erweiterungen anzubringen. Es sind durchweg kleinere Einfügungen, nämlich zusätzliche Bibelstellen, weitere Kirchenväterzitate und neue apologetische Ausführungen, die inzwischen aufgetauchte gegnerische Einwände betreffen. Ausführlichere Passagen betreffen die Erwählung Israels und die Erwählung oder Verwerfung einzelner Personen im Alten Testament, Christi Zeugnis über die Erwählung, Gottes allgemeine Einladung und seine besondere in der Erwählung, auch der Einwand, die Erwählung mache alle Ermahnungen zur Besserung des Lebens sinnlos. Nun könnte es sein, dass durch Einfügungen der vorangehende Text korrigiert und sein Sinn abgeschwächt und verändert wird. Calvin greift anderswo zu diesem Mittel, nicht aber bei der Prädestinationslehre. Der Vergleich der Endfassung von 1559 mit dem Text von 1539 ergibt, dass in der Institutio von 1539 bereits eine Kurzfassung der Lehrgestalt von 1559 vorliegt.
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Die Hauptpunkte seiner Prädestinationslehre wurden schon im Katechismus von 1537/38 genannt. Die dort aufgeführten Schwächen im System sind berichtigt. Zwar ist nun der Hinweis auf Christus als der Logos asarkos (Joh 1,4) und seine Bezeichnung als „Pfand“ Gottes in der Zeit weggelassen. Calvin schlägt nun eine andere Lösung vor, wie das decretum aeternum und das Heil „in Christus“ in Übereinstimmung gebracht werden können. Der Satz „erwählt in Christus“ (Eph 1,4) wird nun erläutert mit „Christus ist der Spiegel, in dem wir unsere Erwählung anschauen,“, und mit „der Vater hat beschlossen, alle in seinen Leib einzufügen“ oder „mit Christus Gemeinschaft haben“.41 Calvin wählt die Metapher des Spiegels weil – anders als in 1. Kor 13,12 – im Spiegel Gottes Entscheidung ‘vor Grundlegung der Welt’ sichtbar wird. Vorausgesetzt ist dabei, dass das Widergespiegelte sonst unsichtbar ist. Der Satz ‘in Christus hat Gott uns erwählt’ wird durch das Spiegelbild erklärt. Gottes Erwählung wird sichtbar in Christi Heilswerk. Sie wird nicht nur sichtbar, sondern sogar klar sichtbar. Calvin muß schon die Erfindung des 15. Jahrhunderts gekannt haben, Glas mit einer Mischung aus Zinn und Quecksilber zu hinterlegen. Spätestens an den Höfen der Renata und Margarete von Navarra in Ferrara und Paris lernte er moderne Spiegel kennen.42 Gottes Entscheid über die Erwählung und Christi Heilswerk sind aufs Engste miteinander verbunden. Das Heilswerk steht nicht mehr an zweiter Stelle. Er formuliert nun: „Christus ist des Vaters ewige Weisheit, unwandelbare Wahrheit und unerschütterlicher Ratschluss, und deshalb steht nicht zu befürchten, es könnte das, was er uns in seinem Worte verkündet, von jenem Willen des Vaters auch nur im mindesten verschieden sein.“43 Calvin wird wohlbedacht die Metapher des Spiegels oft verwenden. Die Institutio von 1539 umfasst 17 Kapitel. Wie in der Institutio von 1559 steht die Prädestinationslehre nicht am Anfang, sondern sie schließt die Themen Gesetz, Glaube, Busse und Rechtfertigung ab. Sie ist soteriologisch ausgerichtet. Ihr Ziel ist die Glaubensgewissheit. Insgesamt, aber nicht im Einzelnen, ist die Systematik der Endfassung erkennbar.
41 OS III, 416, Z. 3–9. 42 Vgl. KAYAYAN, E., The Mirror Metaphor in Calvin’s Institutes: A central Epistomological Notion?, in: Die Skriflig 30, Heft 4, 1996, 426. 43 OS III, 416, Z. 24–27.
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3. Der Römerbriefkommentar (1540) a. Der Widmungsbrief an Grynäus vom 18. Oktober 1539 In ihm erläutert Calvin seinen exegetischen Grundsatz der durchsichtigen Kürze (perspicua brevitas).Über ihn ist viel gerätselt worden, vergebens, weil von ihm als von einem feststehenden Sachbegriff ausgegangen worden wird. Für Calvin stehen beide in Relation zueinander, wie aus seinen Worten hervorgeht. Zuerst erläutert er die Durchsichtigkeit (perspicuitas), die nach seinen Worten die alleinige Pflicht des Auslegers ist. Dieser hat sie in zweierlei Hinsicht zu beachten, in Bezug auf den Verfasser des Schriftstücks (scriptor) und in Bezug auf die Leser (lectores). Im Blick auf den Verfasser muss er dessen Meinung (mens) offen legen, im Blick auf die Leser darf er sie von dieser Meinung nicht wegführen. Wenn der Ausleger ein Theologe ist, dann soll er sich einerseits um Geläufigkeit im Ausdruck (facilitas) bemühen, andererseits die Studenten nicht mit weitläufigen Erklärungen beschäftigen. Wieder sind perspicuitas und brevitas auf einander bezogen. Calvin will diesen Grundsatz auch auf den Römerbrief des Apostels Paulus anwenden. Wie er ihn dort durchführt, wird noch zu zeigen sein. Nun wird leicht übersehen, dass Calvin selbst eine Erläuterung zur perspicua brevitas gegeben hat. In der Vorreds zur Institutio von 1539 findet sich folgende bemerkenswerte Aussage. Es ist aber bei dieser Arbeit mein Vorsatz gewesen, diejenigen, die sich um die heilige Theologie bemühen, so auf die Lektüre des Wortes Gottes vorzubereiten und zu ihr auszurüsten, daß sie sowohl einen leichten Zugang zu ihr haben, wie auch ungestört in ihr Fortschritte machen können. Denn ich meine wohl, die Summe der Religion sei in allen ihren Teilen so von mir dargestellt und in solche Anordnung gebracht worden, dass, wer sie recht begriffen hat, es ihm nicht schwer falle zu beurteilen, sowohl was er vornehmlich in der Schrift suchen, als auch auf welches Ziel hin er das, was in der Schrift enthalten ist, beziehen muß. Wenn ich daher später, nachdem gleichsam die Straße geebnet ist, Auslegungen zur Schrift herausgeben werde, will ich sie immer zu einem Kompendium zusammendrängen, weil ich es dann nicht mehr nötig habe, lange Disputationen über Lehrpunkte anzustellen und in den allgemeinen Lehren herumzuschweifen.44
Zuerst fällt auf, dass Calvin den Grundsatz sola scriptura zu verletzen scheint. Er macht das Verständnis der Heiligen Schrift abhängig von dogmatischen Erwägungen. Nun ist es im 16. Jahrhundert aber ein Grundsatz, dass die Bibel und ihre Übersetzungen einer Einführung bedürfen. Das gilt ebenso für die drei Teile der Bibel in der Olivétanbibel (1535), wie zu jedem biblischen Buch in der Lutherbibel. Die Bibel bedarf der Auslegung. Die Reformatoren sahen darin keine Verletzung des Prinzips sola scriptura. 44
OS III, 6, Z. 18–29.
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Ist diese Gefahr der Fehldeutung behoben, dann fällt sofort die Verwandtschaft zur Vorrede des Römerbriefkommentars von 1540 auf. Der „Durchsichtigkeit“ entspricht in der Vorrede zur Institutio die klare ‚Anordnung‘ des Stoffes, der „Kürze“ der Verzicht auf ‚lange Disputationen‘. Calvin kann nun die Auslegung des Römerbriefs zusammendrängen zu einem kurzen ‚Kompendium‘. Die perspicua brevitas ist also nur eine Kurzfassung der zitierten Ausführungen in der Vorrede zur Institutio von 1539. Diese bereitet eine ‘geebnete Strasse’ zur Auslegung der Heiligen Schrift. In der farnzösischen Vorrede zur Institutio von 1541 spricht Calvin sogar von einem ‚Schlüssel‘ zur Auslegung.45 Anschließend kommt er auf drei zeitgenössische Römerbriefkommentare zu sprechen, auf Melan-chthons Commentarii in epistolam Pauli ad Romanos (1532), auf Bullingers In sanctissimam Pauli ad Romanos epistolam (1533), und auf Bucers Metaphrasis et enarratio in epistolas Divi Pauli apostoli […] Tomus primus […] in Epistolam ad Romanos (1536). Calvin hat alle drei gekannt. Melanchthons Kommentar zitiert er in der Rektoratsrede von 1533, die Abhängigkeit von Bullingers Römerbriefkommentar geht aus der Einleitung zum Neuen Testament in der Olivétanbibel 1535 hervor, Bucers Kommentar war für ihn in Straßburg sicherlich greifbar. Er lobt sie alle, hat aber gegen zwei von ihnen Einwände. „Melanchthons Vorsatz ist es, nur zu behandeln, was in erster Linie beachtenswert ist. Daher hat er vieles absichtlich übergangen, was den Geist der Mehrzahl der Leser ermüden würde.“ In der Vorrede lehnt Calvin Loci communes ab. Der Vorwurf lautet also: Durchsichtigkeit, aber zu große Kürze. Bullinger trifft kein Tadel, sondern nur Lob, weil er mit der Gelehrsamkeit die (oben erwähnte) Geläufigkeit im Ausdruck verbindet. Er besitzt also die von Calvin verlangte Durchsichtigkeit. Bucer ist zu ausführlich und schreibt zu schwerverständlich. Ihm fehlt also sowohl die perspicuitas wie die brevitas. – ein zutreffendes Urteil. Es erübrigt sich der in der Forschung oft vorgenommene Vergleich der verschiedenen Lehrsysteme. Calvin will letztlich nur die Eignung der drei besten Römerbriefkommentare für die Studenten und übrigen Leser feststellen. Er sieht bei ihnen eine Lücke, die er mit seinem Kommentar ausfüllen will. Das Stichwort lautet: Durchsichtigkeit und Kürze. Er geht dabei geschickt vor, denn an Lob und Anerkennung für die drei Vorgänger lässt er es, wie der Brief zeigt, nicht fehlen. b. Die Eigenart der Auslegung Sie entspricht seinen im Widmungsbrief entfalteten Grundsätzen. Diese bestehen nicht schon in der Zielangabe der perspicua brevitas, sondern sie ergeben sich, wie erwähnt, aus seinem Denken in Relationen. Zur Meinung 45
OS III, 8, Z. 5.
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des Auslegers hinzukommen muss das Verständnis des Lesers. Wenn Calvin daher jeden einzelnen Sinnabschnitt des Römerbriefs erklärt, dann kommt er bald auf den Nutzen für den Leser zu sprechen. Dies geschieht auffällig in der Wir-Form. Er wechselt also von der Rede in der dritten Person über zur Rede in der ersten Person. Nun wendet sich Paulus im Römerbrief stets an die Gemeinde. Der Bezug auf die Gemeinde zur Zeit Calvins liegt also nahe. Aber dieser unternimmt eben auch den letzten Schritt, die Leser ganz persönlich anzusprechen. Diese Methode weist auf das Leitmotiv der Institutio, cognitio Dei et nostri hin. Es sei nochmals daran erinnert, dass Calvin der Erkenntnis Gottes nicht die des Menschen gegenüberstellt, sondern die Erkenntnis unserer selbst. Dort wie hier ist die Rede in der ersten Person bewusst und wohlüberlegt vollzogen. Im übrigen hält sich Calvin an die humanistische Auslegungsmethode. Er geht immer vom Literalsinn des Textes aus. Die griechischen Begriffe werden, wenn erforderlich, gemäß ihrem antiken Gebrauch erklärt. Gelegentlich wird auf den Text des Erasmus verwiesen oder auf dessen oder anderer Auslegung – zumeist geschieht dies kritisch. Auf die profanen oder biblischen Umstände einer Aussage des Paulus wird sorgfältig eingegangen. Calvin gebraucht auch rhetorische Sachbegriffe, wenn er bei Paulus bestimmte Redewendungen erklären will. In alledem unterscheidet sich seine Auslegungsmethode nicht von der seiner humanistischen Zeitgenossen. Wie Melanchthon schickt er seiner Auslegung ein Argumentum voraus, das den Inhalt des Römerbriefes zusammenfasst. Es wäre dies der Ort, um dogmatische Vorentscheidungen zu fällen. Was jedoch auffällt, ist nur der Bezug möglichst aller Kapitel auf den Hauptsatz „gerechtfertigt durch Glauben“.46 Er versteht den Römerbrief als eine theologische Einheit. 4. Der Kleine Traktat über das Abendmahl (1541)47 Calvins Kollege Nicolas Gellasius nennt im Jahr 1545 im Vorwort zu der lateinischen Übersetzung als Zweck der Schrift: „Er wollte unseren (Lands)Leuten und vor allem den ungebildeten zu Hilfe kommen, deren Geist wegen jenen Streitigkeiten, die zwischen bedeutenden Männern entbrannt waren, von Zweifel erfüllt war, so dass sie nicht wissen, was sie unbedingt im Auge haben sollen.“48 Demnach war Zweck der Schrift die Stellungnahme im Abendmahlsstreit und die Belehrung über die Hauptsache im Abendmahl, um so die durch den Streit geweckten Zweifel zu beseitigen. Dieser Deutung folgen die meisten Forscher. Im Titel der Schrift ist aber die Reihenfolge umgekehrt. Im Kleinen Traktat werde gezeigt „der 46 Siehe PARKER, T.H.L./PARKER, D.C., Commentarius in epistolam Pauli ad Romanos, COR II. XIII, LVII–LXVI. 47 StA I, 2, 442–493. 48 CO 5, LI.
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wahre Sinn der Einsetzung, der Gewinn und der Nutzen des Abendmahls, zusammen mit der Ursache, warum viele Leute in neuerer Zeit von einander Abweichendes geschrieben haben.“ Der Abendmahlsstreit ist also zweitrangig. Betrachtet man den Gedankengang der Schrift, so ergibt sich, dass Calvin sie für die Straßburger Gemeinde schrieb (wie Beza meint), aber auch seine Rückkehr nach Genf der Grund für die Abfassung ist. Erster Hauptpunkt: Einleitende Erklärung des Abendmahls Gott ernährt geistlich durch sein Wort und er versiegelt die Verheißung durch das Sakrament. Der Herr macht uns seines Leibes und Bluts teilhaftig und gibt durch diese Seelenspeise erstlich Heilsgewissheit. damit wir zweitens seinen Ruhm verkündigen, und wir werden drittens ermahnt zum Leben in Heiligkeit und brüderlicher Liebe. Zweiter Hauptpunkt: Der Gewinn (1.) Nur wenn wir unsere Bedürftigkeit erkennen, können wir den Gewinn voll erkennen. Wir stehen unter Gottes Zorn und uns droht Verdammnis. Aber der himmlische Vater zeigt uns im Abendmahl wie in einem Spiegel den gekreuzigten Christus, der die Missetat tilgt und uns der Unsterblichkeit teilhaftig macht. Christus ist die Materie oder Substanz des Abendmahls, während die Wirkung seine Gnadengaben sind. Oder anders gesagt, Christus ist Quelle alles Guten, sein Leiden und Sterben ist die Frucht. Dies sind die beiden Teile der Einsetzungsworte. (2.) Christus nennt Brot und Wein seinen Leib und sein Blut, das heißt, uns wird wirkliche Gemeinschaft mit Christus geschenkt und wir erhalten Anteil an seiner Menschheit, nämlich an seinen Werken. Zeichen und Bezeichnetes gehören zusammen. Das Zeichen vergegenwärtigt (representer) Leib und Blut. Brot und Leib Christi sind verbunden durch die Aussageform so gewiss – so gewiss. Oder: Christus bietet sich im Abendmahl dar (offrir) und mit ihm alle seine Gnadengaben. (3.) Der zweite Gewinn ist, Jesus Christus für die empfangene Wohltat zu loben und zu preisen. So ist das Pauluswort zu verstehen „den Tod des Herrn verkündigen“ (1. Kor 11,26). (4.) Der dritte Gewinn ist die Heiligung des Lebens. Dritter Hauptpunkt: Die Selbstprüfung (1. Kor 11,27–29) (1.) Im Himmel und auf Erden gibt es nichts Kostbareres und Erhabeneres als Christi Leib und Blut. Darum ist die Selbstprüfung notwendig, die aufrichtige Reue und wahren Glauben an Jesus Christus umfasst. „Es verträgt sich nicht miteinander, zu behaupten, Christus einverleibt zu sein, und doch zugleich ein zügelloses und ausschweifendes Leben zu führen.“ Doch unsere Schwachheiten hindern nicht, am Abendmahl teilzunehmen, wenn wir Verlangen haben, heilig zu leben. (2.) Die Ordnung: Wir dürfen nicht alle Christen zwingen, das Abendmahl jedesmal zu genießen, wenn es ausgeteilt wird. Doch sollten wir es
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häufiger feiern, sooft wie es die Empfänglichkeit der Gemeinde zulässt. Wer sich hinter seine Unwürdigkeit verschanzt, der sei gefragt, wie er länger als ein Jahr in dem trostlosen Zustand verharren kann. Doch will Calvin nicht drängen, leichtsinnig am Abendmahl teilzunehmen. Wer Bedenken hat, mit Leuten von schlechtem Lebenswandel das Abendmahl zu feiern, ist verwiesen auf die Gesamtgemeinde, die Prediger und die Ältesten, die ihnen zur der Gemeindeleitung beigeordnet sind. Paulus mahnt sich selbst zu prüfen, nicht aber die anderen. Wenn Menschen zu ermahnen sind, sollen wir den Prediger in Kenntnis setzen, der kraft kirchlicher Vollmacht tätig wird. Zum Ausschluss vom Abendmahl ist eine Exkommunikation notwendig. Vierter Hauptpunkt: Abergläubige Vorstellungen Aufgezählt werden das Messopfer, Zuteilung der Messen an bestimmte Heilige, Käuflichkeit der (Seelen)Messen, Wandlung des Brotes in den Leib Christi, Transsubstantiation, Anbetung der Elemente, Herumtragen in einer Prozession, Aufbewahrung im Tabernakel, Teilnahme einmal im Jahr, Verweigerung des Kelchs, Abendmahlsgenuss ohne rechtes Verständnis, Schlagen des Kreuzzeichens u.a. Fünfter Hauptpunkt: Der Abendmahlsstreit Es gibt viele beunruhigte Gewissen, die nicht wissen, welche Stellung sie einnehmen sollen. Es soll aber nicht verwundern, dass die Männer, die den Streit erregt haben, anfangs nicht alles erkannt und durchschaut haben. Es soll hier gezeigt werden, dass es keinen triftigen Grund gibt, an der Meinungsverschiedenheit gewaltigen Anstoß zu nehmen. (1.) Luther: Anfangs trug er die Ansicht von der leiblichen Gegenwart Christi so vor, wie sie damals alle verstanden. Obwohl er die römische Wandlungslehre verwarf, gab er doch das Brot für den Leib Christi aus, weil es mit demselben verbunden sei. Er bediente sich überdies einiger Vergleiche, die ein wenig hart und roh waren. Aber er tat dies nur notgedrungen, weil er anders seine Absicht nicht leicht begreiflich machen konnte. Denn es ist schwierig, eine so hohe Sache verständlich zu machen, man gebrauche denn untaugliche Worte.
(2.) Zwingli und Oekolampad: Sie erkannten, dass eine fleischliche Gegenwart Christi, wie man sie seit 600 Jahren lehrte, ein Betrug des Teufels sei. Sie wollten darüber nicht schweigen, vor allem wenn damit die Abgötterei verbunden sei, Jesus im Brot anzubeten und ihn ins Brot einzuschließen. Sie lehrten mit der Schrift, dass Jesus nach seiner Menschheit in den Himmel aufgefahren sei. Doch vergaßen sie zu zeigen, welche Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl geglaubt werden muss, und welche Mitteilung des Leibes und Blutes man dort habe. Deshalb beschuldigte Luther sie, im Abendmahl nur ein leeres Zeichen zu haben ohne geistliche Substanz. Man hat 15 Jahre lang gestritten – das heißt, von 1525 bis 1540. Von Fehlern sind beide Seiten nicht frei.
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Zusammenfassend ist zu sagen: Calvin beschreibt in dieser Schrift die Grundlage der Abendmahlspraxis, nicht aber seine Abendmahlslehre. Dafür gibt es Beweise, angefangen mit dem Adressat. Die Abfassung in französischer Sprache weist auf einfache Gemeindeglieder hin, nicht auf Gebildete. Für das internationale Publikum ist die Schrift nicht bestimmt. Das zeigt die Behandlung des Abendmahlsstreites am Schluss. Dieser wird vereinfachend beschrieben und ist ausgerichtet auf konkrete Riten, die der einfache Mann kennt. Es muss bedacht werden, dass Calvin gerade von den Religionsgesprächen in Worms und Regensburg kam, wo hochtheologisch diskutiert worden war. Der Unterschied zwischen Lehrdefinition und belehrender Verkündigung liegt auf der Hand. Wenn Calvin am Schluss bemerkt, es sei noch keine Eintrachtsformel veröffentlicht und angenommen worden, so hat er in Genf das vergebliche Ringen der Schweizer um die Wittenberger Konkordie miterlebt. Er plädiert für Brüderlichkeit und Gemeinschaft zwischen den Kirchen. Dafür sei eine Zusammenkunft notwendig. Die anschließende Bekenntnisformel darf nicht mit einer Unionsformel verwechselt werden. Sie ist nicht mehr als ein Minimalkonsens. „Wir bekennen einstimmig, dass, wenn wir gemäß der Einsetzung des Herrn das Sakrament im Glauben empfangen, wir in Wahrheit der wirklichen Substanz des Leibes und Blutes Christi teilhaftig werden. Wie das geschieht, das vermögen die einen besser darzulegen und klarer auseinanderzusetzen als die anderen.“ In Straßburg und Genf mochte die Formel genügen. Die Schrift ist auch für Genf bestimmt, denn sie erscheint 1541 in Genf bei dem Drucker du Bois, der ihn im Auftrag des Rates nach Genf zurückholen soll. Auch ist sie auf die Kirchenzucht ausgerichtet. Der dritte Hauptpunkt betrifft die Selbstprüfung (1. Kor 11,27–29) und die Ordnung des Abendmahls. Calvins Anliegen ist es, Mut zur Teilnahme am Abendmahl zu machen. Ein schwacher Glaube sollte nicht von ihr abhalten. Andererseits führt er einen ganze Liste von Lastern an, vor denen er warnt. Das Wort Exkommunikation fällt nicht, sondern es ist von „Zulassung und Ausschluß“ vom Abendmahl die Rede.49 Dies entsprach der oben erwähnten Praxis. Zuständig für die Zulassung und den Ausschluß vom Abendmahl ist grundsätzlich die Gesamtgemeinde, praktisch ist es die Aufgabe der Prediger und Ältesten. Damit fällt ein neuer Begriff, nämlich der des Ältesten. Erstmals taucht hier eine wichtige Genfer Forderungen von seiner Seite auf. Calvin hat die Kirchenzucht weiter durchdacht und fortentwickelt, indem er einen biblischen Begriff verwendet, sachlich aber bei den erprobten Männern aus der Gemeinde anknüpft. Die Forderung der Bildung von Pfarrbeziken erhebt er nicht erneut. Sie wäre in der Situation der Gemeinde in Straßburg sinnlos. 49
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Calvin bekräftigt mehmals in seiner Schrift, dass das Sakrament der Predigt übergeordnet und daher höher zu bewerten ist. Auch dies deutet auf eine Abendmahlszucht hin. Darum kann kein Zweifel bestehen, dass Calvin in dieser Abendmahlsschrift die Bedingungen für seine Rückkehr nennt. Er wird gleich nach seiner Rückkehr nach Genf am 15. September 1541 an Farel schreiben: „Als ich dem Rat meinen Dienst anbot, führte ich aus, eine Kirche könne nicht bestehen, wenn nicht eine bestimmte Zucht eingeführt werde.“50 Eine Kommission wurde eingesetzt und eine Kirchenordnung ausgearbeitet. Es sei daran erinnert, dass Farel und er ein Memorandum von 14 Punkten aufgesetzt hatten, bevor die Berner sie, vergeblich, nach Genf zurückgeleiten wollten. Sie enthielten ebenfalls ihre damaligen Bedingungen für ihre Rückkehr. 5. Calvins Rückkehr nach Genf Am 13. September 1541 langte Calvin in Genf an. Er hatte lange Zeit und ganz entschieden eine Rückkehr abgelehnt. Fragt man nach den Gründen seines Sinneswandels, so sind zwei Punkte hervorzuheben, sein mäßigender Einfluss auf die Anhänger nach seiner Vertreibung und der politische Umschwung in der Zwischenzeit in Genf. Calvin hat von Straßburg aus die Ereignisse in der Stadt genau verfolgt. Doch sollen diese hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Nach Farels und seiner Ausweisung hatten sich zwei Parteien gebildet, die Guillermins (benannt nach Farels Vornamen) und die Articulantes (bezeichnet nach den Vertragsartikeln mit Bern). Die Anhänger Farels und Calvins hatten sich mehr oder weniger um Antoine Saunier und Mathurin Cordier gesammelt, den Lehrern am Gymnasium. Als diese sich weigerten, den neuen Pfarrern bei der Austeilung des Abendmahls zu Weihnachten 1538 zu assistieren, wurden sie vom Rat aus der Stadt verbannt. Schon vorher hatte Calvin seinen Anhängern einen Seelsorgebrief gesandt, in dem er sie zur Unterwerfung unter Gottes Führung und zur Demut ermahnte. Es kam nun zur Aussöhnung zwischen den Genfer Pfarrern und Farel, der in Neuchatel, also im Berner Gebiet, einflussreich geworden war. Als Saunier die Rechtmäßigkeit der Amtsführung der neuen Pfarrer anzweifelte, trat Calvin entschieden in einem zweiten Seelsorgebrief für deren Autorität ein. Wenn sie die reine Lehre predigten, seien sie nicht zu beanstanden. Es drohe sonst die Kirchenspaltung. Zwei der Pfarrer konnten sich aber im aufrührerischen Genf nicht halten und verließen die Stadt.
50
CO 10b, 281, Nr. 355.
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Am 1. Juli 1540 kam es aus gegebenem Anlass zu Ergänzungswahlen des Rates, bei dem die Guillermins dazu gewannen. Ein politischer Skandal hatte sich zuvor ereignet. Die Ratspartei der Articulantes hatte in Bern Verhandlungen um die Zugehörigkeit einiger Landgemeinden im Wattland geführt und den Bernern große Zugeständnisse gemacht. Es kam daraufhin im Juni zu Mord und Totschlag in Genf. Wieder einmal erwiesen sich die Genfer als hartnäckig, wenn es um die Rechte der Stadt ging. Die Einsicht, dass Calvin zurückgerufen werden müsse, drang nun durch. Auch der Sadoletbrief tat seine Wirkung. Am 21. September 1540 beschloss der Rat, Calvin zurückzugewinnen. Doch erst als Farel durch ein Machtwort auf ihn eindrang, stimmte Calvin zu. Er fühlte sich zunächst noch an seinen Auftrag in Regensburg gebunden. Als dessen Ende nahte, machte er sich auf den Weg. Über Neuchatel und Bern reiste er zur Rhonestadt. Unterwegs lehnte er die Begleitung eines Herolds ab, den die Genfer schicken wollten. Er war vom Rat zuvor rehabilitiert worden. Das genügte ihm als Genugtuung. Die Trennung von Straßburg bedeutete auch die Trennung von Bucer. Calvin war seit dem Berner Abendmahlsgespräch 1537 immer mehr auf dessen Lehrweise eingeschwenkt. Bucer verteidigte ihn nicht nur bei den Nürnbergern, sondern er selbst gewann auch immer mehr Verständnis für Bucers Vorgehensweise und verteidigte sie anderen gegenüber. Die Ära Bucer fand nun ihr Ende. Calvin musste nun seine eigenen Wege gehen und war dafür auch wohlgerüstet, nicht zuletzt durch die Erfahrungen, die er in der Straßburger Zeit gesammelt hatte. Blickt man zurück, so lag ein langer theologischer Weg hinter ihm voller Wandlungen. Es ist ein Weg unablässigen Suchens und Findens und neuer Erkentnisse.
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Abkürzungen der wissenschaftlichen Quellen
Die Abkürzungen beruhen auf Siegfried SCHWERTNER. Internationales Abkürzungsverzeichneis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/New York 2 1994. Ferner werden verwendet: CO
Ioannis Calvini Opera Quae Supersunt Omnia. Hg. von G. BAUM/ E. CUNITZ/E. REUSS, Vol. 1–59. Brunsvigae, Berolinae 1863–1900 (= Corpus Reformatorum Vol. 29–87). COR AUGUSTIJN, C./STAM, F.P. van (Hg.), Iohannis Calvini epistolae vol. (1530–sep. 1538), COR VI. 1, Genf 2005. Herminjard HERMINJARD, A.L. (Hg.), Correspondance des Reformateurs dans les pays de langue française, 9 Bd., Genf 1866–1897. HBBW Heinrich Bullingers Werke, 1. Abt. Bibliographie, bearb. von J. STAEDTKE, Zürich 1972. MelStA Melanchthons Werke in Auswahl, hg. von R. STUPPERICH, 7 Bd., Gütersloh 1951–1975, z.T. 21978–1983. OS Ioannis Calvini Opera Selecta. Hg. von P. BARTH/G. NIESEL/ D. SCHEUNER. Vol. 1–5, München 1926–1952.
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Personenregister
Albucius 49 Alciati, Andreas 25, 49–50, 52 Ambrosius 50–51, 70, 93–94, 105, 287 Amerbach, Bonifatius 108, 315 Anselm von Canterbury 176 d’Arande, Michel 120 Aristoteles 51, 106, 109, 159, 242, 244– 245 Artaxerxes I 181 Augustin 58, 60, 151–152, 201–202, 223, 324, 332 Baif, Du 320–321 Becharja ben Ascher 173 Beda, Noël 15–19, 66, 74, 77–81, 83–84, 93, 105–108, 111–112, 115, 121–122, 251 Bedrot, Jacob 79 Bellay, Guillaume du 70, 78, 111, 306, 322 Bellay, Jean du 78, 108, 111 Bellay, Renè du 112 Benoit, Andry 276 Bertaut , Jean 93 Beza, Theodor 22–23, 26–28, 31–32, 34– 36, 39, 41–43, 47–53, 64–65, 74–75, 93, 104, 113, 116, 118, 145–146, 148, 203, 245–247, 249, 261, 310, 318, 344 Berquin, Louis de 16–17, 77, 82 Blarer, Ambrosius 70, 93, 105, 287 Bois, Simon du 118–120, 122, 133, 141, 346 Brenz, Johann 231, 315 Briçonnet, Guillaume 15, 19, 22, 71, 73, 82, 120, 131, 150, 154–155, 157, 178, 251, 290 Bucer, Martin 43, 68, 70, 76–77, 85, 93– 94, 96, 98–99, 105, 137, 223–226, 228– 233, 258, 261, 280–289, 294–295, 298– 299, 303, 305–306, 308, 310–315, 317– 319, 321, 324–329, 342, 348 Bugenhagen, Pommeranus 325 Budé, Wilhelm 56, 202 Bullinger, Heinrich 29–30, 94, 105, 107, 111, 146, 150, 177, 207, 219, 226, 245, 286, 292–293, 301, 342
Buren, Idelette van 276, 310 Burkhardt, Jacob 316 Cajetan 108 Calvin, Antoine 27, 245–246 Calvin, Charles 21–22, 27, 31, 115 Calvin, Gérard 21, 24, 27–28 Calvin, Karl 31–32 Capito, Wolfgang 147–148, 156–158, 171– 172, 282, 299 Caroli, Pierre 112, 120, 258, 278–279, 282, 285, 290–292 Castros, Alfonsi de 151, 153 Céneau, Robert 202, 288 Chaponneau, Jean 50 Chemin, Nikolaus du 20, 49, 64, 248–250, 279 Chrysostomus 51, 164 Clerc, Le 86 Cicero 56–57, 60, 106, 244–245 Clemens VII 68, 108 Colladon, Nikolaus 22–23, 25, 27–28, 34– 35, 42–43, 64–65, 93, 104, 113, 117– 119, 141, 145–146, 148, 245, 261 Cologny, J.J. de 277 Cop, Nikolaus 20, 22, 26, 65, 74–75, 86– 93, 95, 104, 106 Corauld, Jean 93, 107, 112, 267, 277, 296– 298 Cordier, Marturin 21, 32–35, 112, 347 Cornibus, Pierre de 88–90, 92 Cornu, Pierre 81, 85 Coucy, Jacob de 165, 167–170, 173 Cromwell, Oliver 78–79, 251 Cyprian 201 Cyro, Peter 278 Danès, Pierre 74, 106, 108 Daniël, François 49, 63–64, 66, 72–73, 75– 76, 84, 261, 279, 296 Dardanus 324 Dionysius Areopagita 51 Dolet, Etienne 119 Duns Scotus, Johannes 90
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Johann Calvin Eck, Johann 235, 278, 315–316 Erasmus 13–14, 16–17–19, 37, 49–50, 52– 58, 62, 72, 85, 94–95, 97, 106–108, 118, 161, 163, 286, 317, 343 Ercole II 246 Espeville, Charles de 147 l’Estoile, Pierre de 49 Eusebius 151–153, 181 Faber, Jacobus 121 Fabri, Christoph 146–147, 157, 164, 277– 278 Farel, Guillaume 43, 69, 71–72, 111, 118, 120–122, 171, 185, 231–232, 246, 251, 256, 258–267, 276–280, 282, 285, 287, 291–303, 306–314, 319–320, 322–323, 325–326, 329–330, 347–348 Forge, Stephan 23, 26 Forge, Étienne de la 64, 72, 112 Franz I 15–17, 19, 21, 26, 39, 41, 67–68, 70, 75, 82–83, 85, 105–106, 108, 112– 113, 143, 145, 174–175, 185–186, 188–189, 198–200, 245, 254–255, 266, 319–324 Gallas, Nicolas des 148, 154, 248 Geiger, Ulrich (Chelius) 70 Gelasius 201, 343 Georg von Sachsen 15 Gerbihan, Hermans de 276, 309 Gessner, Konrad 111, 146 Gianetto 246 Girard, Jean 174 Granvella 315–316 Gregor VIII 279 Grynäus, Simon 144, 282, 315, 341 Guidacerius 106 Haller, Berthold 107, 258, 286 Hangest, Claude de 20, 28–29 Hedio, Kaspar 306 Henrici, Bartholomäus (Latomus) 82, 106, 250 Hieronymus 16, 139, 161, 179–181, 184 Horaz 60 Ignatius von Antiochien 284 Johannes XXII 153 Josephus, Flavius 51, 181 Leo Jud 181, 214, 232–233, 280 Juvenal 60
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Karl III von Savoyen 254–255 Karl V 15, 18, 31–32, 67, 254, 276, 319– 321 Katharina von Medici 94, 108 Kolb, Franz 286 Kunz, Peter 286, 288–289, 294–295, 298, 301, 330 Lambert, Denis 295 Langley 68, 70 Lateran, Jean de 108 Lefrance, Johanna 27–28 Leo X 254 Lucanius, Martianus 146 Lucretia 136 Luther, Martin 14–16, 18, 29, 67, 72, 76, 94–99, 102–103, 131, 137, 150, 175, 188, 203, 212–215, 217–218, 225–226, 229, 231–232, 234–237, 258, 278, 280– 282, 287–289, 296, 309, 313–314, 316, 318, 324–329, 345 Machiavelli 239 Major, John 37 Manrique, Rodorigo 22, 87–88, 90, 92, 106 Marcourt, Antoine 69–70, 278 Margarete von Navarra 15, 17, 19, 26, 52, 66, 71, 74–75, 77, 79, 84–85, 113, 121, 150, 156, 250–251, 266, 321, 340 Margarete von Valoir 150 Marot, Clement 112, 245–246, 266, 308– 209 Megander, Caspar 285–289 Melanchthon, Philipp 15, 29, 58, 62, 68, 70–71, 73, 76, 82–83, 92, 94, 97, 98, 100–102, 106, 110–111, 117, 143, 164, 175, 202, 209, 213–215, 217, 221–222, 225–228, 231, 234, 248, 250, 275, 292, 310–319, 323, 325, 342–343 Meyer, Sebastian 286, 288–289, 294, 298, 301 Michel, Jean 50, 141 Montmor, De 27, 32–33 Morelet, du Museau, Antoine 70, 322–323 Morinus, Johann 87 Münster, Sebastian 144, 161, 165, 168, 170, 173 Myconius, Oswald 70, 105, 107, 112, 144, 282 Nero 59–61, 63, 139, 244
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Wilhelm H. Neuser
Oekolampad, Johann 72, 114, 125, 345 Olivetanus, Pierre Robert 24, 42–43 Oporinus, Johannes 260 Origenes 51, 151 Osiander, Andreas 329 Petit, Guillaume 108 Pighius, Albert 334 Philipp von Hessen 67, 112 Picart, François le 80–81, 93, 108 Place, Pierre de la 116–117, 146 Plascentius 217 Plato 63, 166 Plautus 106 Plinius 60 Plutarch 244–245 Polybius 51 Pomponazzi, Pietro 159 Pons, Anne de 247 Pythagoras 166 Quintilian 56 Raemond, Florimund de 115, 117 Renata von Ferrara 247–248, 340 Richardot, François 247–248 Rissvich, Hermann 152–153 Roussel, Gerard 15, 19, 66, 69, 71–72, 75, 77–82, 84–85, 93, 105, 117, 120–121, 125, 157, 161–162, 171, 248–252, 266 Roussel, Robert 75 Sadolet, Jacob 153, 202, 298, 322, 324– 325, 330–332 Saunier, Antoine 171, 347 Savoyen, Louise von 16, 84 Schriesheimer, Peter 79 Schwierigkeiten, Cornelius 145, 191, 196, 265, 293, 309 Seneca 20, 28, 53–64, 166–167, 243–244 Servet, Michael 113–114 Sleidanus, Johann 321–323 Sokrates 54, 137
Spalatin, Georg 83 Stapulensis, Faber (Jacques Lefèvre d’Etaples) 15–19, 49, 52, 66, 71–74, 84–85, 102, 104–105, 107, 113–114, 117, 120–122, 124–125, 131, 142, 157, 161, 246, 251, 290 Stella, Petrus 20, 24, 49 Stodeur, Jean 276, 309–310 Sturm, Jakob 311–312, 323 Sturm, Johann 71, 77–78, 80, 82, 85, 110–111, 306, 315, 318, 325 Terenz 106 Thomas von Aquin 37, 92 Tillet, Louis du 112, 116, 118, 140, 145–147, 245–246, 256, 302–304 Toussain, Pierre 72, 106, 108, 125 Ulrich von Württemberg 67, 70 Vatable (François Guasteblé) 106, 108, 120, 245 Vatines, Jean de 27 Vergil 60 Vingles, Pierre de 119, 122 Viret, Pierre 171, 174, 256, 258, 278–279, 282–283, 290, 330 Vives, Ludwig 22, 87, 106 Volmar, Melchior 21, 23, 26, 44, 50–52, 73, 149 Vore, Barnabas de 111 Wilhelm von Fürstenberg 329 Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg 311, 321 Wilhelm von Occam 37, 237 Wilson, Florent 78–79, 251 Zébédée, André 329 Zwingli, Huldrych 14, 29–30, 149–150, 212, 224–226, 228–229, 231, 233, 236– 237, 278, 280, 287, 345
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