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German Pages 385 Year 1993
THOMAS SCHWINN
Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 27
Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus Max Weber, Alfred Schütz und Talcott Parsons
Von
Thomas Schwinn
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schwinn, Thomas: Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus : Max Weber, Alfred Schütz und Talcott Parsons I von Thomas Schwinn. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Sozialwissenschaftliche Schriften ; H. 27) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07809-8 NE:GT
D 16
Alle Rechte vorbehalten
© 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-07809-8
Vorwort Die aktuelle soziologische Theoriediskussion arbeitet intensiv an der Handlungs-Ordnungs-Verknüpfung. Die reduktionistischen Grabenkämpfe der Mikro- und Makrolager sind in den achtziger Jahren einer gesprächsbereiteren Situation gewichen. Beide Seiten sehen die Notwendigkeit, Aspekte der jeweils anderen zu integrieren. Zugleich ergeben sich aber immer wieder Verständigungsschwierigkeiten in bezug auf die grundlegenden Prämissen, von denen aus man die Annäherungsversuche an die andere Tradition startet. Unklar bleibt dabei, wie diese Voraussetzungen auszusehen haben, um einen fruchtbaren Dialog und eine gewinnbringende Theorieentwicklung zu ermöglichen. In dieser Situation hilft ein Blick in die Theoriegeschichte des Faches weiter. Das Mikro-Makro-Problem ist nicht neu und entsprechend sind es auch die aktuellen Kontroversen nicht. Eine der interessantesten ist im Briefwechsel zwischen Alfred Schütz und Talcott Parsons im Jahre 1940 I 41 dokumentiert. Es handelt sich hierbei um eine Episode der Theoriegeschichte, in der zugleich entscheidende Weichen für die soziologische Theoriesystematik gestellt werden. Was in Schütz' und Parsons' Arbeiten sowie in den auf sie zurückgehenden schulenbildenden Denktraditionen auseinanderfallt, versuchen heutige theoretische Anstrengungen wieder zusammenzubringen. Indem man die Gründe für das Scheitern des frühen Dialogs freilegt, erhält man zugleich Hinweise für die Richtung, in der die heutige Diskussion zu führen wäre. Hilfreich hierbei ist der Umstand, daß der Ausgangs- wie ständige Bezugspunkt von Schütz und Parsons das Werk Max Webers ist. Während man über Schütz' und Parsons' Arbeiten die für die soziologische Diskussion zu meidenden Theoriewege und -richtungen abstecken kann, gibt Webers Werk positive Hinweise, wie eine gelungene Handlungs-Ordnungs-Vermittlung auszusehen hat. Die Werke dieser drei soziologischen Klassiker stehen im Mittelpunkt der folgenden Arbeit. Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner 1992 von der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Universität Heidelberg angenommenen Dissertation. Beim Entstehen einer solchen Arbeit sind immer
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Vorwort
mehrere Personen beteiligt. Mein besonderer Dank gilt Wolfgang Schluchter, dessen Anregungen und Kritik mir entscheidend im Fortgang der Arbeit geholfen haben. Ferner danke ich den Teilnehmern der Heidelberger Doktoranden- und Institutskolloquien, deren kritischen Blicken ich Teile der Studie ausgesetzt habe und Harald Wenzel, der mir sein Manuskript "Die Ordnung des Handelns. Talcott Parsons' Theorie des allgemeinen Handlungssystems" überlassen hat. Marion Klenk danke ich für die Einebnung stilistischer und grammatikalischer Holprigkeiten, Ursula Rossi für die Hilfe bei der technischen Gestaltung des Manuskripts.
Heidelberg, im Juni 1993
Thomas SchwinD
Inhalt I. Einleitung Die Frage nach dem Subjekt....... .. .. ............................... ................... ....... .... .
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2. Eine bewußtseinstheoretische Konzeption des Subjekts und von Intersubjektivität . .. .....
16
3. Parsons und Schütz: Radikalisierungen der Webersehen Soziologie....... ...... .... ....... .
22
l.
II. Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus: Max Weber 1. Webers Verstehensbegriff........ ... ... .. ........ ..... ........ .. .. .. .. .......... ......... ... ..... . ... . a) Zum Verhältnis von Subjekt und Wert.................... ... ... ....................... ....... . b) DieEvidenzendes Verstehens..... ...................... ... ... ... ... ................ . ... ... . ....
25 26 36
2. Weltbezüge des Handelns... ....... ...... ....... ...... ..... ... ...... ......... ....... .... ... .. ..... ... . a) Die Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Relationierungen .......... ... ... ............ ...... ....... ... ... ............. ..... .. .. .........
44 44 54
3. Handlungsrationalisierung und Ordnungsfähigkeit......... .... ... ......... .......... .... ... ..... a) Die strukturelle Dimension des Handeins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . aa) Zweckrationales Handeln. ... ........ ................. ... .................. .. ..... . ... ....... . bb)Wertrationales Handeln... .. ...... .. .... ... .... ... .. ....................... ..... .. ....... ..... cc) Affektuelles Handeln . ..... ... ... .... .................... ....... .............. ..... .... ........ dd)Traditionales Handeln .... ... .... ... ..... .... ... ...... .... ... ......... ........... . .. . ..... ..... b) Die entwicklungsgeschichtliche Dimension des Handelns... .......... . ........ .... ... .... . aa) Wertrationalisierung.......... ... ....... ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . bb) Zweckrationalisierung..... . .. ... .... ..................... ... ... ................... ..... ...... .
63 64 66 68 69 70 72 73 76
cc) Die Entwicklung des affektuellen Handeins ...... . .. ... ... .... ... ..... ....... .... ....... . c) Ordnungsfähigkeit.. . .. ... ..... .. ...... ..... .. .. . .. . ........ . ..... .... ........ ... . ... .. ..... .... . .. . aa) Erhöhte Anschlußfähigkeit . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erhöhte Selektivität... ... .... ................. ... .. . ..... ...... ............ .. ... .. .. .. .. ... .... cc) Integration ..... ........ ... ........ ... . ...... ... ... ... ...... ... . .. .... ............... .... .... .....
78 80 80 85 87
4. Wie ist Ordnung möglich und wieviel Ordnung ist möglich?.. .... .. ..... ........ ... ....... .. . 90 a) Ordnung als Medium und Resultat des Handeins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 90 Exkurs: Ideen und Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Chancenbegriff, Idealtypus und Bestimmungsgründe sozialen Handelns.... .... ....... . 111
8
Inhalt c) Wie ist Ordnung möglich?...... ... ...................... ... ....................... ....... ... ..... 130 aa) Die innere Repräsentanz von Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 bb)"Geist" und "Form" .... ..... ........ ...... .. .. ........ ..... ... ....... ..... ..... ... .... ........ 140
111. Die gedankliche Konstruktion der GeseUschaft: Alfred Schütz 1. Phänomenologische Konstitutionstheorie der Gesellschaft... ... .. ................. ... ..... ..... 147 a) Einleitung......................... .... ............... .... ...... ... ... ........................... . .. .. 147 b) Die Konstitution von Sinn........ .. .................. .. .............................. .. .... .. .. .. 150 c) Das Fremdverstehen ............................... .. ........ .... .. .. .................. .. .... .. .... 161 d) Der hypothetische Charakter des Sozialen................ .. .. .. .................. .. .......... 167 2. Sozialität und Individualität......... .... ........................... ... .. ................ .. .... . ... .. .. 174 a) Die Transzendenz der Gesellschaft .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 175 b) Die Typik der Sozialwelt .......... .. ............................ .. .................... .... ...... . 182 c) Ordnung als reflexiver Überbau .. .... .. .. .. .... .. .. .......... .. .. ...... .. .............. .. ...... . 188 d) "Strukturen der Lebenswelt".. .. .... ............ .... ........ .. .. .. .... .. ............ .... .. .. .. ... 197 3. Wissenschaft und Alltag ............. ... .. .......................... ....................... .. .. ....... . 200 4. Das Problem der Intersubjektivität .. .......................... .. ................................ .. .. 209
5. Der Erklärungsanspruch einer phänomenologischen Soziologi.: ........ .. .... .. .. .. .. .. .. .... 229
IV. Sinn und Emergenz: Talcott Parsons 1. Das radikalisierte Ordnungsmodell.. ....... ........... ...... .. .. . ... . ................... .. . . . .. .. .. . 245 a) Die Subjektkonzeption . . .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. . . . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . 245 b) Voluntaristisches Handeln ....... .. .. .. .. ... .. .... .. ...... .... ........................ ... ... .. .. .. 255 c) Die Interaktionslehre . .. . . .. .. . . .. . .. . .. . . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. . .. .. .. . . . . . .. . . . .. . . . .. .. .. . 261 d) Die emergente Ordnung des Handeins .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 269 e) Institutionen .. .. .. .. ........ .... .. . . . ............ .. . .. .... .. .. . . .. . .... ............ .... .... .. .. ...... 275 t) Evolution.. ......................... .. ................... .... ... ..... .................. ... .... ... .. .. . 289 2. Zugang zum Werk .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. . 296 a) Zum Verhältnis von Theoriegeschichte und Theoriesystematik .. ............. .. .. .. .. .. .. 296 b) Jeffrey C . Alexander: Multidimensionalität .... .......... .. .............. .. ........ .. .... .. ... 300 c) Richard Münch : Der Kantianische Kern.............. .. .. .... ...... .. .......... ....... .. .... .. 301 d) Die organizistische Philosophie von Alfred North Whitehead...... .... .. .. .... .. .. .... .. . 303 aa) Kritik der Abstraktionen.... .. ........................ ...... .. ........................... .. .. . 304 bb)Die Überwindung des cartesianischen Dualismus: Prozeß und Relation .. .. .. . .. .. . .. . .. .. . . .. .. .. .. .. .. . . .. .. .. .. . . . .. . . .. .. . .. .. . . .. .. . .. .. . . .. . 305 cc) Die Konstitution des Subjekts .. .. .. .. .. .... .... ........ .. .. .. .................... ...... ...... 312 dd)Die ewigen Objekte ......... ..... .... .. ...... .. .... ...... .. .................. .. .... .. .. .. ...... 316 e) Die Whiteheadsche Hypothek .... .......... .. ...... .. .. ..... ... .. .. .. .. .... ..... .... ... .......... 322 aa) Das Problem der Relationen .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 322
Inhalt
9
bb)Das Vemältnis von ideellen und materiellen Faktoren ... .................. .... .... .. ... 324 3.
Analytischer Realismus ............... ........................ .. ........ .......................... ..... 328 a) Die logische Schließung der Theorie .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 328 b) Analytischer Realismus oder kausale Zurechnung .... .. .. .. .. ...................... .. .. ..... 337
4.
Fragen der Werkentwicklung ...... ...... ........ a) Kontinuität oder Diskontinuität ..
00 . . 00
oo"
00 . . . . 00 00 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 0 . . . . . . . .
00 . . 00 00 00 . . 00 . . 00 00 . . . . . . 00 00 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 00
b) Organizistische Philosophie und Kybernetik ...... .. ....
00 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 00 . . . . . . . . . .
347 347 350
V. Schlußbemerkungen Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . .. .. . . . . . . . . . . . .. . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 371
I. Einleitung Die Kontroverse zwischen Alfred Schütz und Talcott Parsons im Jahre 1940 I 4}1 gibt Anlaß zu einigen Fragen nach den Grundlagen soziologischer Theorie. Zu jener Zeit gab es weder den später sogenannten "Strukturfunktionalismus", erst recht nicht in seiner systemtheoretischen Gestalt, noch gab es eine "phänomenologische Soziologie" - Theorieströmungen, die sich heute eher unversöhnlich gegenüberstehen. Beide Autoren verband damals jedenfalls das gemeinsame Interesse an Max Webers Idee, die Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln zu begründen.2 Wie der Briefwechsel zeigt, reicht dieser Grundkonsens jedoch nicht für eine gemeinsame Grundlegung aus. Es erstaunt im Rückblick, mit welcher Heftigkeit die Kontroverse geführt wurde, obwohl es doch beiden um eine Theorie des sozialen Handeins ging und beidesich auf Weber bezogen. Wenn es gelingt, dieses Nichtverstehen der beiden Autoren zu entschlüsseln, hat man zugleich eine fiir die soziologische Theoriebildung konstitutive Weichenstellung identifiziert - eine Weichenstellung, die Parsons in den folgenden Jahrzehnten auf die Bahn einer systemtheoretischen Ausarbeitung der Soziologie lenkt und die Entwicklung von Schütz' Arbeiten in Richtung einer subjektivistisch geprägten Soziologie festschreibt. Die Weber-Rezeption dieser beiden Autoren ist daher fiir die Entwicklung der Soziologie insgesamt von Bedeutung.3 Im Zentrum der Kontroverse von 1940 I 41 stand die Frage nach den Sinngrundlagen menschlichen Handelns. Schütz knüpft an Webers Begriff des subjektiv gemeinten Sinns an und kritisiert, daß dieser hinsichtlich der Probleme der Sinnkonstitution und der Intersubjektivität auf ungeklärten philosophischen Voraussetzungen ruhe. Um die Sozialwissenschaften auf eine philosophisch gesicherte Basis zu stellen, ist es nach Schütz notwendig, den Sinnsetzungsprozeß im Bewußtsein einzelner Akteure in allen seinen Phasen zu durchleuchten. 1 Schütz I Parsans 1977. 2 Spronde/1977, S. 10. 3 Zingerle 1981, S. 30, 48.
I. Einleitung
12
Dieser sehr eng gefaßte, auf die subjektive Sphäre eingeengte Sinnbegriff führt bei Schütz zu einer Unterbelichtung der intersubjektiven Elemente des Handelns. Er hat daher erhebliche Schwierigkeiten, die Konstitution sozialer Gebilde zu erklären, d.h. das Verhältnis von Handlung und Ordnung adäquat zu fassen. Parsons Ausgangspunkt ist ein anderer. Er bezweifelt überhaupt die Relevanz der Schützsehen Überlegungen. 4 Sein Interesse gilt vor allem dem Ordnungsproblem. Die Kritik am Utilitarismus läßt ihn zu der Erkenntnis kommen, daß die Integration der Zwecke einer Mehrzahl von Akteuren nur durch die Gemeinsamkeit von nonnativen Mustern ermöglicht wird, die ein geordnetes soziales Handeln garantieren. Für Parsons sind daher vor allem jene Elemente des Webersehen Werkes von Bedeutung, die die kulturellen, d.h. objektiven Sinngrundlagen des Handeins betonen. Während Schütz Weber die ungenügende Klärung des subjektiv gemeinten Sinns vorwirft, sind für Parsons gerade die objektiven Sinngrundlagen Stein des Anstoßes. Für ihn ist die Webersehe Theorie in einem Typenatomismus steckengeblieben, d.h. sie vernachlässigt die Systematisierung der objektiven Sinnelemente. In Schütz' und Parsons' Arbeiten fallt auseinander, was bei Weber noch integral verbunden ist. Er setzt kein Prioritätsverhältnis zwischen Handlungssubjekt und Ordnung. Schütz radikalisiert die subjektive Perspektive, Parsons dagegen betont vor allem die objektive Perspektive. Die sich ergebenden Schwierigkeiten dieser Theorien sind komplementär: Während Schütz das Ordnungsproblem nicht in den Griff bekommt, fehlt Parsons ein adäquater und gehaltvoller Begriff des Handlungssubjekts. Letzteres mag zunächst erstaunen, da Parsons selbst seiner Theorie das Etikett "voluntaristisch" anhängt. Wie im weiteren noch darzulegen ist, weisen aber Parsons Überlegungen ein grundlegendes Defizit auf, das es verbietet, hier von einer gehaltvollen Konzeption des Handlungssubjekts zu sprechen.
1. Die Frage nach dem Subjekt Die Schütz I Parsons Kontroverse und der spezifische Weber-Anschluß beider ist daher nicht nur von theoriegeschichtlichem Interesse, sondern hat theoriesystematische Bedeutung. Der entscheidende, für soziologische Theorien weichenstellende Punkt betrifft die Frage, wie radikal die subjektiven Prozesse in die über- oder intersubjektiven Zusammenhänge eingeklinkt oder 4 Schütz I Parsans
1977, S. 98f.
I. Die Frage nach dem Subjekt
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wie hier Prioritätsverhältnisse gesetzt werden. Dieses Problem hat nicht nur für die Soziologie Bedeutung. Es taucht auch in den philosophischen Auseinandersetzungen auf. Im Mittelpunkt steht dort die Frage, wie Selbstbewußtsein zu konzipieren sei: als vor- oder asprachliches Mit-Sich-Vertrautsein oder so, daß Bewußtseins- und Selbstbewußtseinsprozesse differenzlos in das intersubjektiv-sprachliche Geschehen eingehängt werden. Die Frage nach dem Subjekt ist ein klassisches Thema der Philosophie, und nicht zuletzt ist dort ein in der Soziologie nicht vorhandenes Reflexionsniveau erreicht. 5 Es spricht daher einiges für die These, daß man durch Anschluß an diese philosophische Kontroverse ein geschärftes Bewußtsein für die entsprechende soziologische Problematik gewinnen kann. Auf der Suche nach einem geeigneten Anknüpfungspunkt ist man unweigerlich mit dem Habennassehen Diktum konfrontiert, das "Paradigma der Bewußtseinsphilosophie" sei erschöpft. 6 Die "subjektphilosophische Erbmasse" habe verschiedene Ablösungskandidaten gefunden.? Die sich im wesentlichen an Nietzsche orientierende antisubjektivistische Philosophie und Soziologie wirft das "metaphysisch vereinsamte und strukturell überforderte Subjekt"S über Bord, weil es die Ordnung der Dinge und Verhältnisse nicht mehr aus eigener Kraft zu gestalten vermag. Für Michel Foucault9 ist der Mensch ohnehin nur eine Erfindung der Humanwissenschaften des 16. Jahrhunderts, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann diese Erfindung wieder "verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. " 10 An seine Stelle treten trans- oder vorsubjektive Ursprungsmächte: der Wille, das Unbewußte, das Körperliche oder die nackte Macht. Ein weiterer Ablösungskandidat ist die Systemtheorie. Der klassische Begriff des Erkenntnissubjekts wird hier durch einen in biologiseben und S Das unvenninderte Interesse an diesem klassischen Thema der Philosophie bezeugen, neben Einzelerscheinungen, eine Reihe von Sammelbänden in den letzten Jahren: K. Cramer I H. F. Fulda I R.-P. Horstmann I U. Pothast (Hrsg.), Theorie der Subjektivität. Frankfurt IM. 1987. H. Nagl-Docekol I H. Verter (Hrsg.), Tod des Subjekts? Wien I München 1987. M. Frank I G. Raulet I W. Reijen (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt IM. 1988. M. Frank I A. Haverkomp (Hrsg.), Individualität. Fink 1988. 6 1985,
s. 346.
7 Frank 1986, S. 12. 8 Habermas 1985, S. 346. 9 1978,
s. 413ff.
IO Foucault 1978, S. 462.
I. Einleitung
14
kybernetischen Zusammenhängen entwickelten Systembegriff ersetzt. Nach Habermas ist in Luhmanns Theorie die Selbstbezüglicbkeit des Systems der des Subjekts nachgebildet. Sinnverarbeitende Systeme treten an die Stelle selbstbewußter Subjekte, die subjektzentrierte Vernunft wird durch Systemrationalität abgelöst. 11 Nun leugnet Lubmann nicht, daß es Individuen mit Bewußtsein gibt.12 Er entkoppelt sie nur radikal vom sozialen Geschehen. Sowohl der Primat der Sprachtheorie als auch der Begriff der Intersubjektivität sind für ihn ungeeignet, um das Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation zu begreifen.13 An deren Stelle tritt das Konzept selbstreferentiell-geschlossener Systeme. Bewußtseinssysteme und Kommunikationssyteme bestehen nach Luhmann völlig überschneidungsfrei nebeneinander. Psychische und soziale Systeme sind gänzlich getrennte, selbstreferentiell-geschlossene, autopoietischreproduktive Systeme, die niemals fusionieren, auch nicht partiell überlappen können.l 4 Kommunikation nimmt das Bewußtsein nur als Medium in Anspruch, ohne daß letzteres thematisiert wird. Für den Ablauf von Kommunikation genügt es, das Bewußtsein als Medium ohne Eigendetermination zu unterstellen, das alles aufnehmen kann und in das sich alles einprägen läßt, was jeweils gesagt oder gelesen wird; daß es "so gut wie wehrlos, mitmacht" . 15 Luhmann veranschaulicht dies durch eine Metapher: Genau wie die Medien Licht und Luft beim Sehen und Hören nicht gesehen und nicht gehört werden, bleibt auch das beteiligte Bewußtsein für die Kommunikation unsichtbar. Wie sich Licht und Luft bei den Wahrnehmungsvorgängen nur störend als Flimmern, Rauschen oder Pfeifen bemerkbar machen, kann auch das Medium Bewußtsein Kommunikation nur reizen oder stören, nicht anleiten. "Bewußtsein ... hat die privilegierte Position, Kommunikation stören, reizen, irritieren zu können. Bewußtsein kann die Kommunikation nicht instruieren, denn die Kommunikation konstruiert sich selbst. •16
II Habermas 1985, S. 426f. , 444. 12 Luhmann 1985; ders. 1988. 13 Luhmann 1988, S. 899. 14 Luhmann 1988, S. 892f. 15 Luhmann 1988, S. 891. 16 Luhmann 1988, S. 893.
1. Die Frage nach dem Subjekt
15
Habermas' eigene Arbeiten sind der Ablösung des Paradigmas der Bewußtseinsphilosophie durch die Sprachphilosophie gewidmet. Sprache und die sich durch Sprache vollziehende Interaktion gelten ihm daher als der Fluchtpunkt, auf den hin alle modernen Theorieentwicklungen orientiert sind. Das Subjekt wird hier nicht, wie in den beiden zuvor etwähnten Theorieströmungen, geleugnet bzw. ausgeschlossen, sondern auf sprachliche Interaktion reduziert, vollständig aus ihr hergeleitet.1 7 "Den durch die Struktur sprachlicher Intersubjektivität gesetzten und über die reziproken Beziehungen von Ego, Alter und Neuter verschränkten Selbstverhältnissen braucht vorsprachliche Subjektivität nicht voranzugehen, weil sich alles, was den Namen Subjektivität verdient, und sei's ein noch so vorgängiges Mit-sich-Vertrautsein, dem unnachgiebig individuierenden Zwang des sprachlichen Mediums von Bildungsprozessen verdankt" .18 Es sind starke Zweifel angebracht, ob dieses Programm gelingt.19 Intersubjektivität läßt sich nicht angemessen denken, ohne daß zugleich die Struktur der im kommunikativen Handeln zusammengeschlossenen und interagierenden Subjekte begrifflich geklärt wäre. Das Funktionieren der sprachlichen Kommunikation schließt ein Selbstverhältnis der Sprecher als eine seiner konstitutiven Bedingungen ein. Nun ist Habermas gegenüber dieser Einsicht nicht blind. Sie hat jedoch, wie Henrich20 meint, keine Kraft in der Weise, in der seine Theorie angelegt ist. Sie bewegt sich in unklarer Weise zwischen der hermeneutisch naiven Unterstellung, daß aufgrund grammatischer Regelsysteme alle Gesprächsteilnehmer dieselben sprachlichen Ausdrücke bedeutungsidentisch vetwenden21, und der richtigen Einsicht, daß die Intersubjektivität sprachlicher Verständigung von Haus aus porös ist.22 Es bleibt ungeklärt, wie der von Habermas selbst zugestandene, durch die Interpretationsleistungen der Subjekte ständig individuell abgeschattete und innovative Gebrauch sprachlicher Ausdrücke23 angesichts der sprachphilosophischen Voraussetzungen seiner Theorie eingeführt werden kann.
1986, S. 499. 1988, S. 34, vgl. a . S . 187ff. 19 1heunissen 1977, S. 486ff.; Henrich 1986, S. 500ff.; Frank 1986. 20 1986, s. 506. 21 Habennas 1988, S. 55. 22 Habennas 1988, S. 56. 17 Henrich
18 Habennas
23 Ebenda.
l. Einleitung
16
Diese Ambivalenz der Grundbegriffe spiegelt sich in den soziologischen Arbeiten wider. Sie taucht in Form seines zweistufigen Gesellschaftskonzepts wieder auf. Lebenswelt und System sind ihrer Anlage nach inkommensurable Begriffe, die sich nicht wie Stufen einander zuordnen lassen. Henrich wirft ihm hier "Entscheidungsblindheit gegenüber einem Grundproblem der Gesellschaftstheorie" vor: "Sind es zuletzt nur die Individuen selbst, deren Interaktionsverhalten samt der in ihm wirksamen komplexen Gründe die reale Basis für die Ausbildung des Begriffs einer 1 Lebenswelt 1 abgeben? Oder ist es notwendig, den Individuen vorgängige Formen von Assoziation in Ansatz zu bringen, die zwar ohne Individuen keinen Bestand haben könnten, die aber ihrem ontologischen Status nach von den Individuen insofern unabhängig sind, als sie deren Sozialverhalten so determinieren wie der newtonsehe Raum die Positionen der Körper in ihm? Sind etwa auch Institutionen Entitäten solcher Art? In die Erwägung dieser Alternative muß eine Sozialtheorie eintreten, wenn sie unter philosophischer Anleitung ausgebildet wird. "24 1
1
2. Eine bewußtseinstheoretische Konzeption des Subjekts und von Intersubjektivität In der vorliegenden Arbeit soll an keine der drei Theorieströme angeknüpft werden. Für eine Handlungstheorie sind die ersten beiden Positionen gänzlich ungeeignet, da hier das Subjekt keinen konstitutiven analytischen Stellenwert besitzt. Die Theorie des kommunikativen Handeins versucht zumindest im nachhinein das Handlungssubjekt wieder ins Spiel zu bringen. Ihr radikal intersubjektivistisch-genetisches Theorieprogramm versucht Selbstbewußtsein vollständig aus der Vorgängigkeit sprachlichlieh vermittelter Interaktion herzuleiten. Es ist jedoch äußerst fraglich, ob man mit solchen Theorieprämissen zu einem gehaltvollen und adäquaten Begriff der im Handeln interagierenden Subjekte gelangt. 25 Aussichtsreicher für eine soziologische Handlungstheorie erscheint es mir, an philosophische Positionen anzuknüpfen, die sich nicht die Hypothek einer radikal intersubjektivistisch-genetischen Herleitung des Subjekts aufbürden. Ich möchte hier an die aus der sogenannten "Heidelberger Schule"26 hervor24 Henrich 1986, S. 507. 25 Frank 1986, S. 65 ; Henrich 1986, S. 500ff.; Theunissen 1977, S. 486ff. 26 Vgl. zu dieser Titulierung: E. Tugendhal, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. 2. Auflage. Frankfurt IM. 1981, S. 10f.
2. Eine bewußtseinstheoretische Konzeption des Subjekts
17
gegangenen Vorschläge von Manfred Frank anschließen, wie er ste tm wesentlichen in seiner 1986 erschienenen Abhandlung Die Unhintergehbarkeit von Individualität niedergelegt hat. 27 In einem Gang durch die abendländische Subjektphilosophien diskutiert er deren Stärken und Schwächen und kommt schließlich zu einer "hermeneutischen Konzeption von Individualität", die am Subjektbegriff festhält, ohne sich den Schwierigkeiten der klassischen Subjektphilosophie auszusetzen. Dieser Weg soll ein Stück weit verfolgt werden. Kants Definition von Selbstbewußtsein, die bei Descartes und Leibniz vorgezeichnet ist, bildet den Ausgangspunkt. 28 Kant unterscheidet das reine vom empirischen Subjekt. Er führt damit eine Dualität von Polen ins Bewußtsein ein. Das "Ich denke" muß gleichzeitig als das Vorstellen von etwas und als Selbstreflexion verstanden werden - als unauflösliche Doppelung von "Wahrnehmung überhaupt" und Denken, welches sich selbst gewahrt. Dieses Sich-selbst-Vorstellen des Bewußtseins heißt in der philosophischen Tradition Reflexion; entsprechend spricht man hier vom "Reflexions-Modell" des Selbstbewußtseins. Das Problem dieses Modells besteht nun darin, dem Selbstbewußtsein einen eigenen Erkenntnismodus zuzuweisen, der sich von demjenigen des vergegenständlichenden Vorstellens radikal unterscheidet. Johann Gottlieb Fichte hat als erster das Scheitern des Reflexionsmodells aufgedeckt.29 Wenn Kants These zuträfe, daß ich, um ein Bewußtsein von mir zu gewinnen, mein eigenes Bewußtsein zum Objekt eines neuen Bewußtseins machen müßte, würde ich überhaupt nie zu Selbstbewußtsein kommen. Denn das neue Bewußtsein erfordert nun wiederum, um seiner bewußt zu werden, ein weiteres Bewußtsein, für welches das gleiche Erfordernis gilt, und so ad infinitum. Da es aber Selbstbewußtsein gibt, schließt Fichte auf die Unhaltbarkeit des Reflexions-Modells, das das Subjekt von vornherein in die Position eines Gegenstandes seiner selbst drängt. Subjektivität ist daher nicht das Ergebnis einer auf sie gerichteten Vorstellung, nicht das Werk einer Reflexion. Theorien dieses Typs, die Selbstbewußtsein unter Rekurs auf die relationale Struktur von Subjekt und Objekt denken, sind daher verfehlt. Aus den Aporien des Reflexionsmodells zieht die "Heidelberger Schule" den Schluß, daß Selbstbewußtsein zirkelfrei nur gedacht werden kann, wenn 27 Mittlerweile ausführlicher Frank I 99 I .
28 Frank 1986, S. 28ff.
29 Frank 1986, S. 33. 2 Schwinn
I. Einleitung
18
man annimmt, daß Subjektivität unmittelbar mit sich bekannt ist. 30 Subjektivität ist kein Fall von Beziehung, auch keine Innenschau oder Introspektion, denn Schau setzt ein Geschautes voraus. Selbstbewußtsein ist auch nicht das Resultat eines zielgerichteten Unternehmens oder einer Identifikation, denn beide Operationen würden entweder ein zeitliches Vor und Nach bzw. eine Dualität von unterschiedenen Gegebenheiten voraussetzen; ebensowenig ist Selbstbewußtsein ein Gegenstand des Wissens, denn jedes Wissen erschließt etwas als Etwas mittels eines Begriffes. Die Vertrautheit ist jedoch kein Ergebnis von Wissen, sie ist als unmittelbare nicht begrifflich mediatisiert. Die oben genannte Schule hat daher, in radikaler Abkehr von allen Vorstellungen, die Selbstbewußtsein durch das reflexive Verhältnis zwischen Gliedern einer Relation fassen wollen, das Phänomen der Selbstvertrautheit als nichtrelational gedeutet. Die Vertrautheit als eine interne Eigenschaft von Bewußtsein, Bewußtsein und Kenntnis von Bewußtsein in einem, ist daher die Minimalbedingung einer widerspruchsfreien Thematisieruog von Selbst und Bewußtsein. 31 Dieses ursprüngliche Mit-Sich-Vertrautsein ist eine unhintergehbare, genetisch nicht herleitbare Eigenschaft. Dies hat Konsequenzen für das Problem der Intersubjektivität: Ein anderes Ego kann ich als anderes Ego nur erkennen und bestimmen, wenn ich zuvor schon mit mir selbst vertraut bio. Die von Habennas unterstellte Identifizierung von Bewußtseinsphilosophie mit Solipsismus muß daher zurückgewiesen werden. Der entscheidende Punkt der hier vorgestellten Konzeption ist gerade, daß die Gegebenheilsweise von anderen Personen aufs engste mit der Weise meiner Selbstgegebenheit zusammenhängt. Daher erweist sich der Ausgangspunkt eigener Selbstgegebenheit qua Selbstbewußtsein als eine Bedingung der Möglichkeit von lntersubjektivität. 32 Manfred Frank entwickelt seine hermeneutische Konzeption des Subjekts in Abgrenzung von der sprachanalytischen Philosophie des Selbstbewußtseios, als deren Hauptvertreter er Peter F. Strawson und Ernst Tugendhat anführt. 33 Tugendhat ist von der Unhaltbarkeit sowohl der klassischen als auch der revidierten Versionen der Bewußtseinstheorien überzeugt. Der sprachanalyti30 Frank 1986, S. 60ff. 31 Frank 1986, S. 64. 32 Vgl. die detailierte Kritik von Henrich (1989) an TugendhalS semantischer Konzeption von Selbstbewußtsein. 33 Frank 1986, S. 67ff.
2. Eine bewußtseinstheoretische Konzeption des Subjekts
19
sehe Ansatz geht von der Isomorphie von Sprach- und Bewußtseinsstruktur aus. Alles Wissen hat eine propositionale Struktur. Selbstbewußtsein ist daher auch nicht ein Bewußtsein, das von diesem Bewußtsein selbst besteht; es hat also nicht die Struktur "Ich weiß Ich (oder mich)". Selbstbewußtsein kann nur in Verbindung mit seiner Charakterisierung durch eine Proposition identifiziert werden. "Selbstbewußtsein ist kein vorbegriffliches Vertrautsein, sondern ein begrifflich explizierbares Wissen". 34 Die sprachanalytische Philosophie widerspricht daher entschieden der Vorstellung, es gäbe ein überoder vorsprachliches, nicht-propositionales Bewußtsein bzw. Selbstbewußtsein. Sie unterstellt damit eine vollkommene Isomorphie zwischen Redestruktur und Struktur dessen, wovon geredet wird. 35 Diese auf der Semantik aufruhende Problemlösung impliziert, daß der privilegierte Zugang zur Ichheit wegfallt. Es besteht eine semantisch-veritative Symmetrie zwischen demjenigen, der sich durch "ich" bezeichnet, und einem anderen, der ihn durch "du" oder "er I sie" bezeichnet, d.h. eine vollständige Übersetzbarkeil des aus der "Ich-Perspektive" in das aus der "Er-Perspektive" Geäußerte. Hier setzt nun Franks Kritik und seine eigene Konzeption an. Für ihn ist die semantisch-veritative Symmetrie ein Postulat, das im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel, der Intersubjektivität unserer Erkenntnisse, erfüllt sein muß.36 Die entscheidende Frage ist nun, ob dieses Postulat als Apriori möglicher Intersubjektivität epistemisch einlösbar ist. Dies bestreitet Frank grundsätzlich und bezeichnet die sprachanalytische Position als hermeneutisch naiv, weil sie sich an einem starren, die Oieichsinnigkeit unserer sprachlich schematisierten Vorstellungen voraussetzenden Kommunikationsmodell orientiert. 37 Er erinnert hier an Schleiermachers Kritik am Methodenideal des undialogischen Objektivismus. 38 Da es kein transindividuelles Kriterium für die Identifikation von Einzeldingen und keine deutungsunabhängige Sachverhaltsfeststellung und -formulierung gibt, muß die individuelle Weltdeutung der Kommunikationspartner berücksichtigt werden. Die hermeneutische Wende bestand gerade in der grundsätzlichen 1988, S. 19. 1986, S. 77. 36 Frank 1986, S. 87. Vgl. 34 Frank
35 Frank
Möglichkeit sozialer Ordnung. 37 Frank 3S Frank
1986, S. 89. 1986, S. 119ff.
Habennos
1988, S. 82:
Das theoretische Ziel der Soziologie: die
20
I. Einleitung
Einsicht, daß jede, auch die "automatisierte" Sinnzuweisung, deutungsabhängig bleibt. "Wir müssen uns über die Einheit unserer (in Sprache schematisierten) Welt verständigen, nicht obwohl, sondern weil wir auf kein vorab schon bestehendes und subjektunabhängig gesichertes Allgemeines zurückgreifen können. Wir sind Einzelne solcherart, daß unsere Weltdeutungen in keiner prästabilierten Harmonie (in keinem vollständig transparenten Begriff einer möglichen Welt) gründen und in keinem archimedischen Ort koinzidieren. •3 9 Bedeutungen beruhen nicht auf einer fixen semantischen Identität, sondern auf Interpretationen, auf Sinn-Hypothesen. Die Semantik von Ausdrücken ist daher auch eine Funktion des Weltentwurfs einer Person. Das Feld zwischenmenschlicher Verständigung ist ein Prozeß ständiger Sinntransformationen und Neu-Schematisierungen von Welt. 40 Intersubjektivität ist damit nicht ausgeschlossen, sie erfordert nur eine schritthaltende Spontaneität des Verstehens aufseitender Gesprächspartner. 41 Dieser Prozeß läßt sich mit dem Postulat einer veritativ adäquaten Intersubjektivität nicht erklären. Nur unter der Voraussetzung einer epistemischen Asymmetrie gibt es Bedeutungsverschiebungen und Erkenntnisfortschritte im Verlauf der Geschichte. Keine Kommunikation erreicht die restlose transkommunikative Aufklärung über das, was von diesem oder jenem Sachverhalt der Fall ist. Damit ist auch der "hermeneutische Schlummer des strukturalistischen Code-Modells•42 unterbrochen. In ihm werden Bedeutungen und Äußerungen nach dem Modell des Allgemeinen und Besonderen gedacht. Aussagen sind hier Fälle, die aus einer allgemeinen Regel abgeleitet werden können. Das Individuelle läßt sich von einem Allgemeinen (einer Struktur, einer symbolischen Ordnung etc.) als Endprodukt einer Kette methodisch ableiten. Das Code-Modell der Sprache kann daher die bedeutungsindifferente Übersetzbarkeit aller Aussagen aus der alter- in die ego-Perspektive und umgekehrt unterstellen. Dadurch ist dieses Modell aber nur scheinbar intersubjektiv engagiert: Deutungen und Handlungen hat der Code semantisch-pragmatisch immer 39 Frank 1986, S. 120f. 40 Vgl. Simmels Überlegungen zum soziologischen Apriori (1983, S. 21-31): Die Unwahrscheinlichkeit vollständig richtigen Verslehens ist eine Voraussetzung für Kommunikation als eines unendlichen Prozesses. Die Stabilität von Interaktionen beruht in hohem Maße auf Konsensfiktionen und Verstehensunterstellungen. Vgl. Hahn (1989) . Dies trifft auch für Webers Verstehens-und Legitimationsbegriff zu. 41 Frank 1986, S. 101 ; ders. 1983, S. 566f. 42 Frank 1986, S. 119.
2. Eine bewußtseinstheoretische Konzeption des Subjekt~
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schon vorgesehen. Semantische und pragmatische Innovation wird auf das im gemeinsamen Repertoire Vorgesehene reduziert und von diesem überwacht. Weltdeutungs-, d.h. hermeneutische Probleme sind daher im linguistischen Paradigma nicht vorgesehen. 43 Individualität ist damit nicht aus dem Sprachbezug herausgenommen. Die Einlösung des Sinns eines Zeichens ist jedoch nicht mechanisch zu denken. 44 Die Interagierenden sind auf ein intersubjektives Medium wie Sprache angewiesen. Kein Wort generiert den Sinn, der die Vermittlungsfunktion trägt, aus sich selbst; er verdankt ihn einer Deutungsinitiative, deren Urheber in letzter Instanz immer ein Einzelsubjekt sein wird. Dieser Hypothesencharakter von Sinn trifft auch für die Struktur eines Zeichensystems zu und zersetzt das Trugbild einer zeitlosen semantischen Identität. Ginge man mit der strukturalistischen und analytischen Sprachphilosophie von der These der gleichförmigen Wiederholbarkeil von sprachlichen Ketten und damit von der Oieichsinnigkeit unserer sprachlich schematisierten Vorstellungen aus, könnte man intersubjektive Kommunikation zugunsten eines Monologs der Grammatik mit sich selbst suspendieren. Für eine an Schleiermacher orientierte Hermeneutik ist dies eine szientistische Fiktion. 45 Will man nicht dem Fetischismus von Autotransformation eines Abstraktums wie der Sprache verfallen, bleibt nur die Möglichkeit, den Individuen bedeutungsverändernde Fähigkeiten zuzuschreiben. Die Idee von "Individualität" ist daher als der direkte Widersacher des Gedankens der Einheit und Abgeschlossenheit der Struktur zu verstehen. Nur durch die Intervention von Individuen kann die Struktur am Zusammenfallen mit sich selbst gehindert werden. Die Struktur ist nie absolut sinndetenninierend: "jede Artikulation ebenso wie jedes Verständnis [ist] nicht nur re-produktiv (d.h. eine starre Konvention wieder-holend), sondern auf systematisch unkontrollierbare Weise schöpferisch. Immer rüttelt die individuelle Sinnzuweisung an der Zeichensynthese, die Wortsubstrat und Sinn verfugt, immer verschiebt sie die geltenden Grenzen der semantischen Normalität. •46 Die Einheit und Bedeutung eines Zeichens, eines Satzes, eines Textes oder einer Kultur ist daher nie definitiv zu beurteilen; sie bildet sich im Gebrauch bzw. im Verständnis stets 43 Frank 1986, S. 121. 44 Vgl. die dellli1ierten Ausführungen von Frank 1984, S. 557ff. 45 Frank 1986, S. 124.
46 Frank 1986, S. 125.
I. Einleitung
22
neu. Daher ist man auf den unabsehbar offenen, stets nur vorübergehend entschiedenen Weg der Hermeneutik verwiesen. Frank stellt sich die Konstitution selbstbewußter Individualität als eine Folge kontinuierlicher Transformationen von Zuständen vor, die einer Person zu einem Zeitpunkt "kopersonal" waren. 47 Kopersonaler Zustand meint das Gesamt von Erfahrungen und mentalen Zuständen, die einer Person zu einer Zeit zukommen. Die Transformationen geschehen nicht grundlos, sind also mit einer kausalen Erklärung vereinbar. Die Gründe sind jedoch keine Wirkursachen, sondern Motive. Ein Motiv ist ein Grund in dem Sinne, daß er nur durch eine vorgängige, ihn als Grund erschließende und setzende Interpretation eine Handlung bestimmen kann. Motive sind also nicht blind determinierte Konsequenzen, sondern verhalten sich zu ihrem Anlaß interpretierend. Die semantische Transformation von Zeichen hat man sich auf diese Weise als motiviert vorzustellen: Die Sinneinheit eines Zeichens, die selbst nur kraft eines hypothetischen Urteils bestand, kann einen zweiten Gebrauch dieses Zeichens nicht determinieren. Sie kann ihn aber motivieren. Jeder Sinnentwurf läßt sich durch Beherrschung der Semantik der Ausgangsposition nicht vorhersehen, er läßt sich aber im Rahmen einer hermeneutischen Interpretation von der vorhergehenden Sinneinheit auf ihren zukünftigen Sinn hin bestimmen. "Zwischen je zwei hermeneutischen Neuzueignungen eines tradierten Sinnzusammenhanges besteht Kontinuität in dem Sinne, daß der folgende Zustand aus dem vorhergehenden zwar nicht durch Kausation, wohl aber durch Motivation verstehend hergeleitet werden kann. • 4 8 Dies gilt auch für individuelle Sinnentwürfe im Rahmen einer Lebensgeschichte. Die biographische Kontinuität einer Person ist keine Folge von lückenlos verzahnten objektiven Tatsachen, sondern eine der kontinuierlichen Selbstdeutung.
3. Parsons und Schütz: Radikalisierungen der Webersehen Soziologie Für die Analyse und den Vergleich der drei Autoren, Weber, Schütz und Parsons, benötigt man einen Problemgesichtspunkt. Dieser ist durch die Schütz-Parsans-Kontroverse vorgegeben. Im Mittelpunkt stand dort die Problematik von subjektiver und objektiver Perspektive. Dieser Gesichtspunkt ist jedoch zu unspezifisch, um als Leitfaden dienen zu können. Eine Präzisierung 47 Frank 1986, S. 128. 48 Famk 1986, S. 129.
3. Radikalisierungen der Webersehen Soziologie
23
der Fragestellung wird hier durch Anschluß an die philosophische Diskussion gesucht. Dabei erweist sich die allerorts akzeptierte Problemformel von Handlung und Ordnung, als das Grundproblem der Soziologie, nicht als selbstgenügsam. Je nach der philosophischen Konzeption, an die man anschließt, hat dies Konsequenzen fiir die soziologische Theorie. Diesem Zusammenhang soll in dieser Arbeit nachgegangen werden; freilich nicht im Sinne einer neutralen Darstellung, so, daß diese Theorien gleich-gültig nebeneinandergestellt werden könnten. Meine These ist, daß Schütz' und Parsons' Position Vereinseitigungen eines Programms darstellen, an dem sie sich beide orientieren: Max Webers Soziologie. Als Leitfaden fiir diese Einschätzung und damit als Gütekriterium einer soziologischen Theorie wähle ich die von Anthony Giddens so genannte Dualität von Strukturen: Ordnungen sowohl als Medium wie Resultat von Handlungen zu begreifen. 49 Die Überlegungen von Frank sprechen dafiir, daß dem spezifischen Anschluß an die bewußtseinsphilosophische Tradition hierbei eine zentrale weichenstellende Bedeutung zukommt. Dabei erweist sich die Verabschiedung der 'subjektphilosophischen Erbmasse' als zu voreilig. Ist zwar andererseits eine ungebrochene Übernahme dieses Erbes ebenfalls nicht möglich, läßt sich das Verhältnis von Subjekt und lntersubjektivität, von subjektiven Prozessen und objektiven Zusammenhängen, dennoch nicht im Sinne der logischen wie historischen Vorgängigkeil von letzteren bestimmen. Wenn nicht das Subjekt als gleichurspranglich mit angesetzt wird, findet sich auch kein adäquater Weg zum intersubjektiv-objektiven Geschehen. Über das Problem von Handlung und Ordnung wird diese philosophische Thematik soziologisch lesbar und entfaltet dort ihre theoriekonstitutive Wirkung. Dieser Zusammenhang läßt sich am Werk der drei Autoren aufdecken: Durch Orientierung an Husserls Philosophie schleußt Schütz deren Fragwürdigkeilen und Einseitigkeilen in seine Arbeiten ein, die letztlich seine Theoriearchitektonik bestimmen. Husserl steht in einer ungebrochenen Weise in der Tradition der Bewußtseinsphilosophie. Seine Radikalisierung des Descartes'schen Standpunktes taucht bei Schütz in einem extremen Subjektivismus wieder auf. Dadurch können Bewußtseinsprozesse und intersubjektives Geschehen nicht angemessen vermittelt werden. Die soziale Welt geht vom Subjekt aus bzw. konvergiert auf dieses. Über eine zufriedenstellende Ordnungskonzeption verfiigt er nicht. Dies ist Thema des Schütz-Teils. 4 9 Giddens 1979; ders 1984a.
24
I. Einleitung
Parsons manövriert sich durch Bezug auf die Philosophie Alfred N. Whiteheads in eine komplementäre Problemlage. Wbitehead sieht in der subjektphilosophischen Tradition ein Grundübel der neuzeitlichen Entwicklung. Hier verspricht er Abhilfe, indem er die Subjekt-Objekt-Trennlinie in der Descartes-Kant-Tradition durch eine radikal relationistische Konzeption ersetzt. Der privilegierte Standpunkt des Subjekts lallt, dieses ist selbst ein relationistisches Produkt. Im Parsons-Teil wird aufgezeigt, wie dieses Whiteheadsche Modell in grundlegender Weise Parsons' Soziologie deformiert. Seiner rudimentären Subjektkonzeption korrespondiert ein hypostasierter Ordnungsbegriff. In Webers Arbeiten findet sich keine das Werk in grundlegender Weise strukturierende Hintergrundphilosophie. Webers Arbeiten sind jedoch anschlußfähig an die Überlegungen von Manfred Frank. Seine These von der "Unhintergehbarkeit des Subjekts", dieses nicht lediglich als (Neben-) Produkt von Ordnungen, sondern eine durchdachte Subjektkonzeption auch als eine Voraussetzung für eine adäquate Handlungs- und Ordnungskonzeption zu sehen, formuliert eine für die Webersehe Soziologie grundlegende Prämisse. Sein soziologisches Programm jenseits der Hypostasierung von Kollektivgebilden sowie des Abgleitens in den Subjektivismus soll zunächst rekonstruiert werden. Die Schlußbemerkungen führen die einzelnen Argumentationsladen zusammen. Neben den sozialtheoretischen werden in den einzelnen Teilen auch die methodologischen Aspekte beleuchtet.
II. Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus: Max Weber 1. Webers Verslehensbegriff Auf der Suche nach einer philosophischen Konzeption, die als Orientierung fungiert hätte, wird man bei Weber nicht in gleicher Weise fündig wie bei Schütz und Parsons. Der gut dokumentierte Einfluß von Heinrich Rickert auf Webers Methodologiel ist für das hier im Mittelpunkt stehende sozialtheoretische Problem von Handlung und Ordnung nicht in gleicher Weise gegeben. Andererseits stellt man fest, daß Webers Soziologie jener Forderung, Ordnung sowohl als Medium wie Resultat des Handeins zu analysieren, nachkommt. Es stellt sich daher die Frage, wie die philosophischen Implikationen aussehen, die in dieser Soziologie stecken. Die Klärung der metatheoretischen Grundlagen für eine angemessene Profliierung des Webersehen Theorie- und Forschungsprogramms hat an der Subjektproblematik anzusetzen. Die Überlegungen der Einleitung hatten diese als die entscheidende Problemdimension herausgestellt. Sie wird auch die Schütz- und Parsous-Interpretation anleiten. Die Konzentration auf diesen Aspekt findet zudem ihre Rechtfertigung in Webers eigener Behauptung, das Subjekt "nach oben" wie "nach unten" als den einzigen Träger sinnhaften Sichverhaltens anzusehen.2 Dieser Aussage kommt eine paradigmenkonstitutive Bedeutung zu. Die Anschlußfähigkeit von Webers verstehender Soziologie an die in der bewußtseinsphilosophischen Tradition stehenden Ausführungen von Manfred Frank wird zunächst an Hand von Webers Verstehensbegriff demonstriert. Das von Frank erörterte Verhältnis von Subjekt und Sprache taucht bei Weber in Form des Verhältnisses von Subjekt und Wert auf. Beidesmal geht es um die Frage, inwiefern zwischen Subjekt und Sprache bzw. Wert Prioritätsverhältnisse gesetzt werden können. Lassen sich selbstbewußte Subjekte aus den objektiven Sinnzusammenhängen genetisch herleiten oder müssen wir auf der Seite des Subjekts gewisse sprachlich und von Werten nicht herleitbare Vor1 Burger 1987. 2 WL, S. 439.
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II. Max Weber
aussetzungen machen, um überhaupt Intersubjektivität und Verstehen adäquat denken zu können? Es soll gezeigt werden, daß seine verstehende Soziologie nur auf der Grundlage des subjekt- oder bewußtseinsphilosophischen Paradigmas formulierbar ist (a). In einem zweiten Schritt werden die verschiedenen Arten von Verstehen, also die unterschiedlichen Verstehensbrücken, die sich zwischen zwei oder mehreren Akteuren eröffnen, dargelegt (b). Für beide Argumentationsschritte erweist es sich als notwendig, Webers eigene Konzeption durch Bezug auf Zeitgenossen, die er explizit für das Verstehensproblem anführt, zu präzisieren und zu ergänzen. a) Zum Verhältnis von Subjekl und Wert
Ich möchte hier an Überlegungen Alexander v. Scheltings anknüpfen.3 Er sieht einen Unterschied zwischen dem Verslehensbegriff Webers und Rickerts. Rickert konstruiert einen Gegensatz von verstehbarem irrealem Sinn und prinzipiell unverstehbarem Geschehen. Zu letzterem gehört auch das psychische Geschehen. Die psychische Realität ist nur verstehbar über den Umweg des irrealen Sinns. 4 Dieser an der psychischen Realität "haftende" Sinn schlägt die Brücke zum immer nur mittelbar erfaßbaren fremd- wie eigenpsychischen Geschehen. Unmittelbar gegeben ist nur der irreale Sinn. Weber gehe dagegen von einer Trialität des Erkennbaren5 aus: unverstehbares Geschehen, verstehbares psychisches Geschehen und ideell verstehbarer irrealer Sinn. Auch für Weber ist die seelische Realität nicht unmittelbar gegeben. Sie muß indirekt erschlossen werden über die Äußerungen historischmenschlichen Seelenlebens. Einen der wichtigsten Wege des Erschließens von Fremdpsychischem eröffnen sprachliche Äußerungen. Dabei muß genau geklärt werden, was hierbei erschlossen wird. Weber übernimmt die von Simmel eingeführte Unterscheidung zwischen dem objektiven Verstehen des Sinns einer Äußerung und der subjektiven Deutung der Motive.6 Für Weber gibt es also zwei Arten des Verstehens: Im ersten Fall verstehen wir den irrealen Sinn des Gesprochenen, im zweiten die Motive des Sprechenden. Weber führt als Beispiel einen mehrdeutig abgefaßten Kommandobefehl an, der den
1934,S.361ff. 1913, S. 518ff.; ders. 1921, S. 428ff. Sv. Schelting 1934, S. 370ff. 6 WL, S. 93ff.
3
4 Rickerr
I. Webers Verslehensbegriff
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Empfänger zur Deutung der dahinterstehenden Motive nötigt. 7 In solchen Fällen bedienen wir uns des irrealen Sinns jener Äußerungen als Mittel, um uns der inneren Realität a.&derer Menschen zu bemächtigen. "Was wir dabei erfassen wollen, ist keinesfalls wiederum nur der an der Realität 'haftende' irreale Sinn, sondern die realen psychischen Akte, die einen solchen Sinn 'meinen', und auch solche seelische Realitäten, in welchen keinerlei irrealer Sinngehalt aufzufinden ist. Der Begriff des Verslehens bezieht sich aber bei Max Weber auch auf diesen letzteren. "8 Während für Rickert nur der irreale Sinn verstehbar ist, die psychische Realität dagegen nicht, werden bei Weber die psychischen Akte nicht nur in bezug auf ihren ablösbaren irrealen Sinn betrachtet, sondern den psychischen Akten eignet eine Evidenz eigener Art, die eine eigenständige Verstehensbrücke eröffnet. Obwohl v. Schelting9 zuzustimmen ist, daß Weber hier nicht immer eindeutig ist und für die historisch-soziologische Forschung irreale Sinngehalte und psychische Akte meistens schwer trennbar ineinanderfließen, muß diese Unterscheidung auf der theoretischen Ebene vorgenommen werden. Nur so macht Webers Unterscheidung von intellektuellem und psychologischem Verstehen, mit jeweils unterschiedlichen Arten von Evidenz Sinn.IO Würde sich das Verstehen des eigenen wie fremden psychischen Geschehens auf die irrealen Sinngehalte reduzieren, wären Webers Bemerkungen zum psychologischen Verstehen unverständlich und überflüssig. II Intellektuelles Verstehen auf der Basis mathematisch logischer Evidenz bzw. irrealer Sinngehalte würde ausreichen, alles andere müßte dem Unverstehbaren zugeschlagen werden.12 7 WL, S . 95 .
8 v.Schelting 1934, S. 370. 9 v.Schelting 1934, S. 373.
10 WL, S. 433, 435, 100, 116, 428. 11 WL, S. 433; WG, S. 9. 12 Kar/ Jaspers, dessen "Allgemeine Psychopathologie" Weber als Bezugsquelle anführt, schreibt hierzu: "Führt das rationale Verstehen immer nur zur Feststellung, daß ein rationaler, ganz ohne alle Psychologie verständlicher Zusammenhang Inhalt einer Seele war, so führt uns das einfohlende Verstehen in seelische Zusammenhänge selbst hinein. Ist das rationale Verstehen nur ein Hilfsmittel der Psychologie, so führt das einfühlende Verstehen zur Psychologie selbst. "(1923, S. 201). Obwohl Weber Jaspers wie Rickert als Referenzautoren für den Verslehensbegriff angibt 0/{G, S. I; WL, S . 427), unterscheiden sich beide in bezug auf dieses Problem. Verstehen reicht bei Jaspers erheblich weiter als bei Rickert. Während für letzteren nur irreale Sinngebilde verstehbar sind (vgl. hierzu die von Weber in der zweiten Auflage der "Grenzen" angegebenen Textstellen, Ricken 1913, S. 514 - 523, sowie das in die dritte und
28
II. Max Weber
Weber macht die von Schnädelbachl3 bei Rickert konstatierte Entwicklung zu einem Neuidealismus an sich geltender, transsubjektiver Werte nicht mit. Diese antisubjektivistische Wendung benötigt den Rückbezug auf die alles konstituierende Subjektivität nicht mehr. Die irreal existierende Wertewelt ist das Fundament, das Subjekte nicht zu fundieren, sondern nur zu exemplifizieren vermögen. "Fremdes Seelenleben wird vielmehr in der Art, wie der Geschichtsforscher eine Sache 'verstehen' will, nur dann verständlich, wenn es der Träger eines unwirklichen Sinnes ist, der, wie wir das an den Bedeutungen der Worte und dem Gehalt der Urteile zeigen konnten, nicht zum Seelenleben nur dieses oder jenes einzelnen Individuums gehört, sondern, da er verschiedenen Individuen gemeinsam ist, 'allgemein' genannt werden kann. " 14 Gegen Rickerts Tendenz, die Verstehbarkeit auf der Allgemeinheit des irrealen Sinngehalts zu gründen, muß Webers Ausgangspunkt beim subjektiv gemeinten Sinn gesetzt werden. Wäre letzterer immer nur eine Kopie von ersterem, würde Deutung sich auf ein Verfahren der Subsumtion unter den objektiven Sinn reduzieren. Dies lehnt Weber ab.l5 Die vollständige Verstehbarkeit des subjektiv gemeinten Sinns von alter ego ist ein nur unwahrscheinlicher Grenzfall. Für Weber ist die Perspektivität von Sinn nicht ein Entwerten oder Verwässern eines objektiv gültigen Sinns, sondern Sinn als solcher. Nicht ein objektiv richtiger oder ein metaphysisch wahrer, sondern subjektiv gemeinter Sinn interessiert ihn.l6 Daß die Reduktion des Verslehensbegriff auf den Begriff des objektiven Sinns zu kurz greift, läßt sich an Webers Unterscheidung von aktuellem Verstehen und erklärendem Motivations-Verstehen darlegen. Beim aktuellen Vervierte Auflage völlig neu eingefügte Kapitel "Die irrealen Sinngebilde und das geschichtliche Verstehen", Ricken 1921, S. 404 - 465) beginnt für Jaspers das psychologische Verstehen gerade da, wo die Verstehensbriicke über den irrealen Sinn nicht weiterführt (Jaspers 1923, S. 197ff.). Ricken (1921, S. 438ff.) kennt das Problem, daß wir einen von alteregogeäußerten Sinngehalt verstehen, nicht aber die Intentionen, die dieser damit verband, auch. Diese Intentionen sind nach ihm nur über das "Hineinversetzen von uns in die fremde Seele" zugänglich. Hierzu muß aus dem verstandenen irrealen Sinn des anderen und aus "unserem eigenen realen Seelenleben" eine Verstehensbriicke konstruiert werden. Diesen Zusammenhang kann Rickert jedoch nicht mehr konsistent fassen, da er hierfür psychologische Ressourcen des Verslehens aktivieren muß, über die seine Konzeption nicht verfügt. Verstehbarkeil ist für ihn immer nur, auch in diesem Fall, über irrealen Sinn möglich (Ricken, S. 444). Das Deuten setzt aber gerade da ein, wo dieser problematisch wird (WL, S. 94f.; Jaspers 1923, S. 201). 13 1983, S. 222ff.; vgl. a. Schluchter 1988, I, S. 290f., 295f. 14 Ricken 1913, S. 522. 15 WL, S. 70 Fn I.
16 WG, S. 1.
I. Webers Verslehensbegriff
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stehen handelt es sich nicht um Deutung, sondern um das unmittelbare Verstehen eines ablösbaren typisierten Sinngehalts. 17 Wir verstehen unmittelbar den Sinn des Satzes 2 + 2 = 4, oder das Verhalten eines Holzhackers (rationales aktuelles Verstehen), aber auch einen Zornesausbruch, der sich in bestimmten körperlichen Bewegungen äußert (affektuelles aktuelles Verstehen).l8 Bei dieser Art des Verslehens reicht uns die Möglichkeit der Subsumption des aktuell Erkannten unter ein typisiertes Allgemeines (mathematische Regeln, typische Handlungsmuster, typische Affektäußerungen). Wir fragen nicht nach den dahinterstehenden Motiven. Oft reicht im Alltag diese unproblematische Art von Verstehbarkeit, die den Interaktionsfluß nicht hemmt. Für das motivationsmäßige Verstehen reicht uns dieses unmittelbare Verständnis eines ablösbaren typisierten Sinngehalts nicht mehr. 19 Hier wollen wir die Motive verstehen, die jemanden veranlassen den Satz 2 + 2 = 4 gerade in diesem Zusammenhang auszusprechen, einen Zornesausbruch gerade hier und jetzt zu äußern. Wir verstehen die Motive eines Anderen, der den Satz 2 + 2 = 4 ausspricht, wenn wir ihn mit einer kaufmännischen Kalkulation, einer technischen Berechnung oder z.B. einem wissenschaftlichen Vortrag beschäftigt sehen. Diese Überlegungen Webers lassen sich in der Weise reformulieren, daß der Sinn der kontextspezifischen Verwendungsweise von irrealen Sinngehalten durch diese selbst nicht determiniert ist. Für das Verständnis des Anderen reicht nicht die Kenntnis des typisierten Sinns, sondern ich muß verstehen, in welcher Weise er ihn in diesem Kontext verwendet. Freilich gibt es nach Weber auch für die Zuordnung von irrealen Sinngehalten oder -typen zu ihren konkreten Verwendungsweisen wiederum Standardisierungen: typische Abläufe sozialen Handelns, soziale Regeln etc. Dies geht jedoch nicht soweit, daß diese Zuordnungsregeln, wie bei Parsons20 , untereinander einen systemischen Charakter annehmen. In einem solchen System würde Deutung auf das Verfahren der Subsumption unter Regeln reduziert. Dieses einseitige Verständnis von Verstehen lehnt Weber explizit ab.21
17 WL, S. 94f. 18 WG, S. 3f. 19 WG, S. 4 .
20 Die kontextuelle Ausformung der Werte übernehmen bei Parsons die Normen. 21 WL, S. 70 Fn.
30
II. Max Weber
Die gesellschaftlich möglichen Kontexte übersteigen den Vorrat an abstrakten Wert- und Sinngehalten. Selbst dort, wo abstrakten Sinngehalten, wie z.B. dem "Staat", dem eine Vielzahl von unklaren Synthesen in den Köpfen der Menschen entspricht, durch Rechtsregeln kontextuell ein verbindlicher Sinn gegeben wird, bedeutet dies nicht, daß die empirischen Regelmäßigkeiten sich in eindeutiger Weise aus dem dogmatischen Sinngehalt der Rechtsregeln herleiten ließen. 22 Man muß hier in "längeren Ketten" denken: Soziale Handlungen sind keine Kopie abstrakter Wert- und Sinnvorgaben, sondern letztere transformieren sich über viele Stationen (Eliten, Institutionen, Interaktionen, Sozialisation etc.) in das konkrete Handeln. Für einen wirklichkeitswissenschaftlichen Anspruch genügt die Kenntnis von irrealen Sinngehalten nicht. Das motivationsmäßige Verstehen setzt da ein, wo das aktuelle Verstehen endet, wo die standardisierten Typen nicht mehr für das Verständnis des oder der anderen ausreichen. Im Unterschied zu Rickert sind bei Weber die Subjekte Träger nicht nur im Sinne der Exemplifikation oder energetischen Aktivierung, sondern auch der Fundierung und Konstitution von Sinn. Sinnhafte Brechungen, eine implizite Perspektivität in Verständigungs- und Orientierungsprozessen, sind daher prinzipiell in Rechnung zu stellen. Objektiver Sinn ist nur in der Gegebenheitsweise des subjektiv gemeinten Sinns existent und wirksam. Diese Perspektivität des sozialen Geschehens erlaubt keine reiftzierende Fassung sozialer Gebilde, diese haben immer nur einen Chancen- oder Wahrscheinlichkeitscharakter. Das dazu komplementäre wissenschaftliche Verfahren ist die idealtypische Methode, in der die Orientierungen und Handlungen der Einzelnen in einer Weise "zu Ende gedacht" werden, "als ob" ihnen ein objektiver Sinn zugrundeliegen würde. Wären die Subjekte, wie bei Rickert nur über den irreal allgemeinen Sinn verstehbar, müßte man nicht beim subjektiv gemeinten Sinn beginnen, sondern könnte für die wissenschaftlichen Konstrukte unmittelbar an jenem objektiven Sinn ansetzen, der eine unproblematische Verknüpfung der Akteure untereinander garantierte. "Das Ziel der Betrachtung: 'Verstehen', ist schließlich auch der Grund, weshalb die verstehende Soziologie (in unserem Sinne) das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste. Einheit, als ihr 'Atom' ... behandelt. [ ... ] Aus dem gleichen Grunde ist aber für diese Betrachtungsweise der Einzelne auch nach oben zu die Grenze und der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens. Keine scheinbar
22 WL, S . 355ff.
I. Webers Verslehensbegriff
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abweichende Ausdrucksform darf dies verschleiern. •23 Gerade weil für Weber die Sinngebungskompetenz unlösbar an das Subjekt gebunden ist, wird Hermeneutik bei ihm zu einem Problem. Verstehen ist daher zunächst das Verstehen eines anderen Subjekts, weil kein unproblematischer Rückgriff auf einen intersubjektiv-objektiven Sinn möglich ist. "Eine völlig und restlos auf gegenseitiger sinnentsprechender Einstellung ruhende soziale Beziehung ist in der Realität nur ein Grenzfall. •24 Die Problematik von subjektivem und objektivem Sinn führt uns zurück zu unseren Überlegungen in der Einleitung: dem Konflikt zwischen Bewußtseinsund Sprachphilosophie. Verdanken sich Bewußtsein und Intentionalität nur einem objektiven Sprach- und Sinngeschehen oder müssen wir auf der Seite des Subjekts gewisse Voraussetzungen machen, um Sprache, Sinn, Verstehbarkeil überhaupt adäquat fassen zu können? Daß Weber dieses Problem nicht fremd ist, beweist eine Bemerkung im Roseher und Knies Aufsatz, wo er sich die Frage nach der Art der vorauszusetzenden Gleichheit stellt, ohne die Verstehen und damit Geschichte nicht möglich wären. "Gemeint ist doch einfach: daß die Geschichte in ihrer Eigenart möglich ist, weil und soweit wir Menschen zu 'verstehen' und ihr Handeln zu 'deuten' vermögen. Inwieweit dies 'Gleichheit' voraussetzt, wäre alsdann zu untersuchen. •25 Er lehnt dabei alle Unterstellungen einer "Identität der Menschennatur", eines "Normalmenschen", oder einer "Identität der allgemeinen psychischen Prozesse" ab.26 Andererseits greift Rickerts antisubjektivistsiche Lösungsstrategie durch Bezug auf ein Reich der Werte für Webers Modell auch zu kurz. Guy Oakes faßt Rickerts Konzeption prägnant zusammen: "Aus diesem Grund verwirft Rickert alle rein subjektivistischen oder egologischen Letztbegründungen von Philosophie. Er besteht vielmehr auf einer völligen Umkehrung der üblichen, d.h. subjektivistischen Auffassung von Werten. Seiner Meinung nach kann man den Sinn menschlicher Handlungen nur durch Wertanalyse erfassen, wobei die Geltung der in Frage kommenden Werte ganz und gar unabhängig vom handelnden Subjekt ist. Man kann handelnde Personen und den Sinn, den sie mit ihren Absichten und Handlungen verbinden, nur begreifen, indem man die Werte begreift, die diesen Sinn allererst ermöglichen. [ ... ] Demnach bildet
23 WL, S .
439.
24 WG, 14. 25 WL, S. IOlf. Fn I. 26 Ebenda.
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die Werttheorie - und nicht eine Theorie des Subjekts - die Fundierung einer Weltanschauungslehre. "27 Nun hat sicherlich auch Weber nicht die Absicht seine verstehende Soziologie subjektivistisch oder egologisch zu begründen. Dies ist aber etwas anderes als Rickerts Behauptung, die Verslehenstheorie benötige eine Fundierung durch eine Theorie des Subjekts nicht mehr. Ein Ergebnis der Einleitung war gerade die Einsicht, daß kein angemessener Weg zur Intersubjektivität fiihrt, wenn man nicht zugleich über eine adäquate Subjekttheorie verfügt. Bei allen Arten von Verstehen und Intersubjektivität ist die Existenz von Selbstbewußtsein bei den Subjekten vorauszusetzen. Damit läßt sich Webers Frage im obigen Zitat, nach der Art der vorauszusetzenden Gleichheit der Menschen, beantworten. Selbstbewußtsein ist zwar keinerlei Bürgschaft richtigen Verstehens, aber eine notwendige Bedingung. Ohne dieses würden sich menschliche Akte auf ein unverständliches Hin und Her räumlicher Substanzen, menschliche Äußerungen auf unverstehbare Schallphänomene reduzieren. Simmel veranschaulicht dies, indem er Rankes Wunsch widerspricht, das Selbst auslöschen zu können, um die Dinge sehen zu können, wie sie an sich sind. 28 Die Erfiillung dieses Wunsches würde gerade den vorgestellten Erfolg aufheben, denn dem ausgelöschten Ich würde nichts übrig bleiben, wodurch man die Nicht-Ichs begreifen könnte. Die Subjektivität des Menschen ist zwar der Grund für die Unvollkommenheit des historischen Erkennens, zugleich aber eine nicht hintergehbare Bedingung von dessen Möglichkeit. "Das klassische Gleichnis fiir diesen Typus hat Kant geprägt: wo er von der Taube spricht, die den hemmenden Druck der Luft fühlt und dadurch auf den Gedanken kommen könnte, daß sie im luftleeren Raum viel besser fliegen würde. Was das Erkennen hemmt, die Subjektivität des Nacherlebens, ist doch die Bedingung, unter der dies allein eintreten kann; und was es fördert: die relative Herabsetzung dieser Subjektivität als solcher, würde, bis zu absolutem Grade gelangt, das historische Erkennen überhaupt aufheben. "29 Diese Voraussetzung gilt nicht nur für das Verhältnis Teilnehmer-Beobachter (Wie ist historisches Erkennen möglich?), sondern auch für das Verhältnis der Teilnehmer untereinander (Wie ist Gesellschaft möglich?30).
27 Oakes
1990, S. 100. 77.
28 Simmell923, S.
29 Simmel1923, S. 77f. 30 Simmell983, S. 2lff.
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Obwohl Weber diese Problematik nicht in gleicher Ausfiihrlichkeit erörtert, ist sie in der Sache doch auch bei ihm zu finden. Zwar stimmt er Rickerts These zu, daß sich Natur- und Kulturwissenschaften in bezug auf die Begriffsbildung logisch und nicht ontologisch unterscheiden, dennoch sieht er, daß dieser voraus die Fähigkeit liegt, auf dem Gebiet des Gesellschaftlichen in die 'kleinsten Teile' hineinblicken zu können.31 "Andererseits bleibt auch bei grundsätzlicher Annahme des Rickertschen Standpunktes zweifellos und von Rickert selbst natürlich nicht bestritten, daß der methodische Gegensatz, auf den er seine Betrachtungen zuspitzt, nicht der einzige und fiir manche Wissenschaften nicht einmal der wesentliche ist. Man mag insbesondere seine These, daß die Objekte der 'äußeren' und 'inneren' Erfahrung uns grundsätzlich in gleicher Art 'gegeben' seien, annehmen, so bleibt doch, gegenüber der von Rickert stark betonten 'prinzipiellen Unzugänglichkeit fremden Seelenlebens', bestehen, daß der Ablauf menschlichen Handeins und menschlicher Äußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist, welche fiir andere Objekte nur auf dem Boden der Metaphysik ein Analogon finden würde.... Die Möglichkeit dieses Schrittes über das 'Gegebene' hinaus, den jene Deutung darstellt, ist dasjenige Spezifikum, welches trotz Rickerts Bedenken es rechtfertigt, diejenigen Wissenschaften, die solche Deutungen methodisch verwenden, als eine Sondergruppe (Geisteswissenschaften) zusammenzufassen. "32 Rickert spitzt zwar, wie Weber bemerkt, seine Ausfiihrungen auf den logischen Gegensatz von generalisierender und individualisierender Begriffsbildung zu, er ergänzt diesen aber durch den sachlich-ontologischen Aspekt. Der Begriffsbildung voraus muß irgendeine menschliche Fähigkeit angenommen werden, die Bereiche als qualitativ verschiedenartige wahrzunehmen. In diesem Sinne lassen sich Webers Bemerkungen im vorstehenden Zitat interpretieren. 'Die Möglichkeit über das Gegebene hinauszuschreiten', gewisse Vorgänge nicht nur als bloß physikalische Phänomene wahrzunehmen, sondern sie zu deuten, zu verstehen, diese Möglichkeit bzw. Fähigkeit ist durch die Begriffsbildung selbst nicht konstituiert, sie muß ihr vorausgesetzt werden. Dieses Vorauszusetzende sind nach Rickert historische Zentren. "Daraus folgt, daß auch immer Menschen im Zentrum der Wirklichkeit stehen müssen, die Objekt einer bistorisehen Darstellung ist. Nur dann nämlich haben wir ein historisches Interesse an einer Wirklichkeit, wenn mit ihr geistige Wesen zusammenhängen, die zu den allgemeinen menschlichen Werten selbst Stellung 31 WL, S. 35 Fn. 32 WL, S. 12f. Fn. 3 Schwinn
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nehmen, und menschliche Werte werden, soweit wir dies konstatieren können, nur von Menschen gewertet. •33 Ohne die ontologischen Momente ist die logische Begriffsbildung unvollständig. Wenn die Begriffsbildung unter individuellen und generellen Gesichtspunkten sowohl auf dem Gebiet der psychischgeistigen als auch der Naturvorgänge möglich ist, fehlt ein durch die Begriffsbildung nicht mehr geliefertes Kriterium, warum man gerade den individuellen Gesichtspunkt für die Kulturwissenschaften reserviert. Die Möglichkeit beide Begriffsarten auf beiden Gebieten anzuwenden, setzt voraus, daß die Erfahrungsgegenstände mit einer spezifischen Evidenz dem Bewußtsein bereits gegeben sind. Wenn die Art der Begriffsbildung zugleich die Qualität des Bereichs konstituiert, ist dies nicht mehr konsistent zu denken. 34 Ihren letzten Grund hat diese Möglichkeit im menschlichen Selbstbewußtsein. Dieses vorbegriffliche Mit-Sich-Vertrautsein schafft eine qualitativ verschiedenartige Evidenz des Wahrgenommenen, die dann Gegenstand der Begriffsbildung werden kann. Nun könnte der Einwand kommen, beim historischen Verstehen sei die sinnliche Unmittelbarkeit der Akteure nicht mehr gegeben und folglich könne das Selbstbewußtseinsargument jene spezifische Evidenz nicht liefern. Hier muß an die Schützsehe und Simmelsche Einsicht erinnert werden, daß alles historische Verstehen nur eine Modifikation des zeitgleichen aktuellen Verslehens ist. 35 Nicht nur bei Historischem, sondern auch bei Gegenwärtigem sind uns meist nur fragmentarische Äußerungsformen gegeben, ohne daß die Subjekte präsent wären, die diese in die Welt gesetzt haben. "Allein daß hier die Daten numerisch geringer und zufälliger zu sein pflegen, daß sie statt sinnlicher Unmittelbarkeit mehr auf intellektuelle Ver33 Ricken 1913, S. 505 . 34 Obwohl Rickert die Verbindung von ontologischen und logischen Kriterien sieht, ist dieses Verhältnis bei ihm letztendlich nicht zufriedenstellend geklärt. So schreibt er in der dritten und vierten Auflage der "Grenzen": "Damit zeigt sich unzweideutig, wie der zuerst 'von außen' herangebrachte methodologische Zweck notwendig mit der 'inneren' Beschaffenheit des geschichtlichen Gegenstandes zusammenhängt, und wir können deshalb jetzt, nachdem dieser Punkt einmal erreicht ist, die zuerst in anderer Reihenfolge entwickelten Gedanken auch so zum Ausdruck bringen, daß wir sagen: weil der Gegenstand oder der Stoff der Geschichte in der üblichen engeren Bedeutung des Wortes die sachliche Eigentümlichkeit hat, daß es sich dabei in der Hauptsache um sinnerfüllte seelische Kulturwirklichkeiten handelt, bedarf es zu seiner Darstellung einer wertbeziehenden individualisierenden Begriffsbildung, während andererseits die sinnfreie 'Natur' , d.h . alles, was ohne Rücksicht auf Wert und Sinn besteht, seinem inneren Wesen nach in ein System allgemeiner Begriffe paßt. " (Ricken 1921 , S . 410) In dieser Formulierung werden die methodologischen Unterschiede aus den sachlichen abgeleitet, während er vorher von Ergänzung spricht. Diese Spannung überträgt sich auch auf Webers Arbeiten. 35 Simme/1972, S . 81.
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mittlung angewiesen sind, daß keine gemeinsame Zeitatmosphäre den Verstehenden und seinen Gegenstand empfängt - dies alles kann im einzelnen Fall das Verständnis teilweise oder ganz ausschließen, aber eine notwendige und prinzipielle Differenz besteht zwischen Gegenwart und Vergangenheit in dieser Hinsicht nicht. "36 Nach Simmel sind diese auf Vermittlungen angewiesenen historischen Verslehensformen lediglich "verlängerte Zugangsstraßen", die ihren Fluchtpunkt im aktuell unmittelbaren Verstehen haben. Wir verstehen nach Schütz historische, aber auch gegenwärtige Äußerungsformen nur, wenn wir uns hierzu eine Person(en) denken, die hinter diesen Äußerungen gestanden haben könnte. Alles historische Verstehen kann nur über Kategorien, Formen, Wertgesichtspunkte vollzogen werden, gegenüber der Erkenntnis von Natur muß dabei aber immer, als eine apriorische Notwendigkeit, methodisch ein Subjekt mitgedacht werden, 37 sonst reduziert sich der historische Stoff auf einen Komplex äußerer unverständlicher Einzelheiten. Diese Einsicht findet sich auch in Webers Formulierung, daß transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft der Kulturmensch ist, d.h. bei allen historischen Äußerungsformen müssen wir bewußtseinsfähige, sinngebende Subjekte unterstellen. 38 Subjekte als alleinige Träger von Sinn bedeutet allerdings nicht, daß Weber beim subjektiv gemeinten Sinn stehen bleibt. Sein soziologisches Programm ist jenseits der Alternative von Subjektivismus und Objektivismus anzusiedeln. Wir sind historische und wir sind soziale Wesen. Es geht daher nicht wie bei Schütz um eine erstmalige oder egologische Konstitution von Sinn und Intersubjektivität. Subjektiv gemeinter Sinn ist immer schon durchwirkt, a. von historisch sedimentierten Sinngehalten, und b. von Sinnzusammenhängen der koexistierenden Anderen. Objektiver Sinn ist zwar nur als subjektiver faktisch existent und verhaltensbestimmend, dies heißt jedoch nicht, daß ersterer sich lediglich aus der Summierung aller einzelnen subjektiven Sinnkomponenten zusammensetzt. Die Einheitlichkeit sozialer Gebilde, Regelmäßigkeilen etc. speist sich zu einem nicht unerheblichen Ausmaß aus der Einheit von irrealen Sinngehalten, die den subjektiv gemeinten Sinn prägen. Ordnung reduziert sich daher nach Weber nicht auf ein Aggregationsprodukt einer Vielfalt von unterschiedlich handelnden Subjekten oder auf einen Durchschnitt von im Grunde willkürlich streuenden Handlungen, sondern sie ist auch getragen von 36 Simmel 1972, S. 85. 37 Simmel1912, S. 99; vgl. a. Fellmann 1977. 38 WL, S. 180.
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umfassenderen ideellen Sinnzusammhängen, in welchen die Motive der Akteure ideell beheimatet sind. 39 Den Sinnzusammenhängen eignet eine spezifische Logik, die sich aus der kognitiven Struktur von Ideen ergibt. Dieses "Rationale, im Sinne der logischen oder teleologischen 'Konsequenz' "40 muß zunächst unabhängig von den Lebensverhältnissen der Betroffenen betrachtet werden.41 Der objektive Sinn hat eine Selbständigkeit gegenüber dem subjektiv gemeinten. Die Menschen treten durch die Objektivität der in den Sinnzusammenhängen aufbewahrten historisch-gesellschaftlichen kognitiven, evaluativen und affektiven Gehalte in Beziehung zueinander. Jedem Einzelnen entgeht fortwährend der Sinn, den er seinem Handeln zugrundelegt, da über seine Bedeutung nicht allein von ihm, sondern von allen anderen vergangeneo und gegenwärtigen mitentschieden wurde und wird. Andererseits ist die Struktur des objektiven Sinnzusammenhangs nur dann existent und wirksam, wenn sie über subjektiv gemeinten Sinn ins Leben zurückgeholt wird. Ideen leben nur aus dem ständigen Wechsel ihrer Verinnerlichung oder Aneignung durch die Subjekte und der Rückentäußerung neu konstituierten oder auch nur erhaltenen und tradierten Sinns an ihre Struktur. Soziologisch interessant sind bei diesem Vorgang jene Faktoren, die auf die spezifische Art und Weise der Aneignung und Rückentäußerung Einfluß nehmen: materielle und ideelle Interessen, Trägerschichten, ökonomische, soziale, politische oder auch geographische Faktoren.
b) DieEvidenzendes Verstehens Als Bedingung der Möglichkeit basieren alle folgenden Verstehensaften auf dem bisher Dargelegten: den selbstbewußten Subjekten als Sinnträger. Die Möglichkeit des Verstehens erstreckt sich nach Weber zwischen den beiden Extremen der intellektuell verstehbaren rationalen Erwägungen und den unverstehbaren psychophysischen Vorgängen. Dazwischen liegt das psychologische Verstehen. Das verstehbare Spektrum menschlichen Verhaltens beruht dabei auf unterschiedlichen Verstehensbrücken oder Evidenzen.
39 v. Schelting 1934, S. 38lff.
40 Weber 1978, S. 537, vgl. a. S. 12, 240, 258f. 41 Nur wenn man sich theoretisch jedes Reduktionismus enthält und die Logik der Sinnkonstruktion analytisch von der Logik der Handlungsstruktur trennt, kann man im nachhinein wieder ihre Beziehungen und Wahlverwandtschaften bestimmen. S. Exkurs: Ideen und Interessen.
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A. Rationales Verstehen: Ein Maximum an Evidenz garantiert das rationale oder intellektuelle Verstehen. "Rational evident ist auf dem Gebiet des Handeins vor allem das in seinem gemeinten Sinnzusammenhang restlos und durchsichtig intellektuell Verstandene. "42 Dabei müssen zwei Arten von rationalem Verstehen unterschieden werden: Verstehen von Regeln und Verstehen von Persönlichkeiten. - Regelverstehen: Hierunter zählen mathematische und logische Aussagen sowie zweckrationale Erwägungen. 43 Aber auch gewissen Kommandos, Befehlen und Appellen sowie streng zweckrationalen Handlungsabläufen eignet normalerweise ein hohes Maß an Verstehbarkeit.44 Nun mag es etwas überraschen, unter dieser Kategorie solch heterogene Phänomene subsumiert zu finden. Allen diesen Formen des Verstehens gemeinsam ist aber ein Maximum an Typisierung, d.h. bei den Denkinhalten, dem Handeln oder Gesagten ist es nicht wesentlich, daß sie gerade von diesem Individuum ihren Ausgang nahmen. Die Individuen sind lediglich Träger des Sinns, dessen Inhalt sie verrnitteln45, ihre Individualität tritt hinter diesen zurück. Man kann sagen, daß hier beim Verstehen des Gesprochenen oder der Handlung die Akteure lediglich Mittel oder Medium sind, sei es daß sie ein logisch konsistent konstruiertes Modell wiedergeben oder daß in ihrem zweckrationalem Handeln die "Logik der Situation" zum Ausdruck kommt. 46 Nach Weber hat diese Art des Verstehens daher auch keinerlei Verwandtschaft mit der Psychologie. Entscheidend dabei ist ja gerade, daß die Gleichheit der sinnhaften Bezogenheit nicht gebunden ist an die Gleichheit der im Spiel befindlichen psychischen Konstellationen oder Charakterqualitäten. 47
42 WG, S. 2. 43 WG, S. 2; WL, S. 116, 430, 433 . 44 WL, S. 94. 45 Simmell923, S. 84
46 Dieser Typ des Verslehens dominiert in der auf Willgenstein zurückgehenden Tradition. Das Verstehen von Regeln, Sprachspielen etc. steht im Vordergrund. "Technische und mathematische Regeln oder Spielregeln, die Willgenstein mit Vorliebe heranzieht, sind kaum durch situative Auslegung veränderbar; man beherrscht sie oder beherrscht sie nicht, wendet sie an oder nicht. Sie stellen zumeist nur das technische Problem des knowing how to do somewhat. .. " (Böhler 1985, S. 228) Böhler kritisiert an dieser Tradition die einseitige Fixierung auf das Problem der Applikation von Regeln, wodurch die situativ-praktischen, reget- und sinnmodifizierenden Momente unterbelichtet werden. Dies müsse durch die Hermeneutik korrigiert werden. 47 WL, S. 430, 82f.; WG, S. 9 .
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- Verstehen von Persönlichkeiten: Ein hohes Maß von Verstehbarkeit erreichen wir auch gegenüber "scharf umrissenen" Persönlichkeiten. 48 "Für die 'Deutung' des Historikers ist die 'Persönlichkeit' nicht ein 'Rätsel', sondern umgekehrt das einzig deutbar 'Verständliche', was es überhaupt gibt .... "49 Worauf beruht die Evidenz dieser Verstehensmöglichkeit? Während im Falle des Regelverstehens ein Höchstmaß an sinnhafter Übereinstimmung zwischen egound alteregoerreichbar ist, trifft dies für das Verständnis von Persönlichkeiten gerade nicht zu. Man muß nicht Cäsar sein, um Cäsar zu verstehen. Die Möglichkeiten der Verstehbarkeit reichen daher über die Deckungslinie des Gesprochenen, Gedachten oder Handeins von ego und alter hinaus. 50 Nach Simmel verstehen wir "Durchschnittsmenschen" nicht in gleichem Maße wie hochgradig individuelle Persönlichkeiten, weil erstere als eine bloße Summe nebeneinanderliegender Eigenschaften erscheinen, bei letzteren dagegen eine Einheitsform hervortritt, die alle Einzelbestimmungen zusammenhält. "Wie die Einheit des Kantischen 'Gegenstandes' nichts anderes ist als die Einheit der Apperzeption, in die die Vielfachheit der Sinneseindrücke einströmt und so ihr Zusammen und ihre Ordnung findet - so ist die Einheit der geschichtlichgegenständlichen Persönlichkeit für das historische Erkennen die Bewußtseinseinheitdes erkennenden Ich; nur daß der in diese Form eingehende Inhalt in dem historischen Falle deutlicher und bestimmter für sie vorgearbeitet ist als in dem der äußeren Natur, da er schon von sich aus in dem, unmittelbar nicht zugängigen, Ich der Persönlichkeit seinen Zusammenhang oder auch seinen Ursprung besitzt, der seine Teile mit dem Cachet der Zueinandergehörigkeil aus sich entläßt. "51 Auch für Weber ist die Persönlichkeit nicht in gleichem Maße heterogenes Kontinuum wie andere Teile der Wirklichkeit.52 Zwar ist jedes Individuum einzigartig im Sinne einer durch ganz bestimmte Faktorenkonstellationen ihm, im Vergleich zu anderen, zugewachsenen Akzidenz. Die spezifische Einzigartigkeit einer scharf umrissenen Persönlichkeit erwächst aber gerade aus der von einem inneren Zentrum getragenen Qualität, aus der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten Werten und Lebensbedeutungen. 53 48 WL, S. 49 WL, S.
101. 133.
50 Simme/1923, S. 84.
1923, S. 90. 101; Remich 1952, S . 48, 99f. 53 WL, S . 132. Darin liegt nach Weber auch die Freiheit des Handelns: die Fähigkeit der Per51 Simmel
52 WL, S . 96,
son, sich selbst den Umständen gegenüber zur entscheidenden Geltung zu bringen. Neben Sim-
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Die Evidenz der Verstehbarkeit einer Persönlichkeit beruht daher in der Einsichtigkeit ihrer sinnhaften Einheit. Im Gegensatz zur akzidentiellen Einzigartigkeit der Durchschnittserscheinungen, die ihnen aus einer bestimmten historischen Situation zuwächst und sie an ihre Stelle fesselt, ergibt sich die gewissermaßen zeitlose Allgemeinheit hochgradig individueller Persönlichkeiten nicht aus vorgängigen Rege/kenntnissen, sondern aus der Konsequenz des Gedankens. "Im verstehenden Aneignen des Sinnzusammenhangs einer Begebenheit wird die Bedeutung nicht erkannt, indem verwiesen wird auf eine Reihe gleicher Beobachtungen, sondern dadurch, daß gezeigt wird, wie sich die Einheit dieser Bedeutung, unabhängig von zeitlicher Fixierung, dann, wenn bestimmte Annahmen gemacht werden, durch die Konsequenz des Gedankens ergibt. .. 54 Damit ist eine wichtige Voraussetzung für die verstehende Soziologie formuliert. Wenn die Evidenz dieses Verstehenstypus nicht an die sinnhafte Übereinstimmung von ego und alter ego gebunden ist, kommt ihm für das Verständnis anderer Zeiten und Kulturen eine zentrale Bedeutung zu. So wie ich nicht Cäsar zu sein brauche, um Cäsar zu verstehen, muß ich auch kein Inder sein, um einen Inder zu verstehen. Die sinnkonsequente Konstruktion von Idealtypen ist nur deshalb möglich, weil die Kulturwirklichkeit selbst darauf angelegt ist, sinnkonsequenten Bedeutungszusammenhängen zu folgen . Sinnhafte Konsequenz ist zwar nicht immer, aber doch als eigentümliche Möglichkeit des Menschen zu unterstellen. Gerade diese sinnhafte Konsequenz garantiert jene zeitlose Allgemeinheit55 und damit Verstehbarkeit gegenüber jener mel findet man diesen Gedanken auch bei Windelband: "Wahlfreiheit bedeutet nichts anderes als den Zustand, worin bei dem Wählenden in seiner Reaktion auf die momentanen Motive die ganze Energie der konstanten, d.h . seines dauernden Wesens, seines Charakters zur Geltung kommt. Wahlfreiheit ist Bestimmung der Handlungen durch den Charakter: daher nennen wir sie gelegentlich auch wohl Selbstbestimmung oder Autonomie, oder wir drücken das Bedeutsame daran auch in der Weise aus, daß wir die freie Wahl als die Kausalität der Persönlichkeit in ihren Handlungen bezeichnen. Die momentanen Motive erscheinen in diesem Kausalverhältnis lediglich als die Anlässe, durch welche die Hauptursachen, die konstanten Motive zur Tätigkeit ausgelöst werden." (Winde/band 1904, S. 76) Windelband weist eindringlich darauf hin, daß Freiheit und Verantwortung nichts mit Indifferenz oder Motivlosigkeit zu tun haben. Gegenüber gleich-gültigen Möglichkeiten gibt es keine Wahlentscheidung. Im Zustand der Indifferenz wählt nicht das bewußte Subjekt, sondern psychophysische oder psychische Mechanismen, z.B. Assoziationen, oder einfach der Zufall geben den Ausschlag zur einen oder anderen Möglichkeit. Nicht aktives Bestimmen, sondern ein passives Geschehenlassen liegt hier vor.
54 Henrich 1952, S. 100, Hervorhebung von T.S. ; vgl. a. Simmell923, S . 89. 55 Allgemeinheit bedeutet freilich nicht allgemeine Geltung der jeweiligen Sinnvoraussetzungen.
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akzidentiellen, an konkrete historische Situationen gebundenen Einzigartigkeit. Menschen des eigenen wie der anderen Kulturkreise sind insoweit deutbar und verständlich, als sie Anteil haben an dieser zeitlosen Allgemeinheit. Dieser Maßstab ist Orientierungspunkt für die historische Analyse der jeweiligen empirischen Möglichkeiten der Akteure. B. Psychologisches Verstehen: Eine weitere Verslehensbrücke eröffnet die psychologische Evidenz nacherlebbarer Gefühlszusammenhänge. • Aktuelle Affekte (Angst, Zorn, Ehrgeiz, Neid, Eifersucht, Liebe, Begeisterung, Stolz, Rachedurst, Pietät, Hingabe, Begierden aller Art) und die (vom rationalen Zweckhandeln aus angesehen:) irrationalen aus ihnen folgenden Reaktionen vermögen wir, je mehr wir ihnen selbst zugänglich sind, desto evidenter emotional nachzuerleben, in jedem Fall aber, auch wenn sie ihrem Grade nach unsere eigenen Möglichkeiten absolut übersteigen, sionhaft einfühlend zu verstehen und in ihrer Einwirkung auf die Richtung und Mittel des Handeins intellektuell in Rechnung zu stellen. •56 Im Falle des Regelverslehens verstehe ich alter ego durch Bezug auf ein Drittes, einen eindeutig typisierten Sinn, das Vermittelnde der affektuellen Evidenz beruht dagegen nicht in gleicher Weise auf einem solchen tertium comparationis. Während das Regelverstehen nicht an die Gleichheit der im Spiel befmdlichen psychischen Konstellationen gebunden ist, eröffnet gerade diese Art von Gleichheit die Brücke zum anderen. In einer Art Analogieschlußverfahren gelingt es, den im anderen abgelaufenen Affekt als möglichen eigenen denken zu können und dadurch der Gemeinsamkeit von Gefühlszusammenhängen inne zu werden. 57 Ein Großteil des alltäglichen Verslehens vollzieht sich durch solche Projektionen: subjektiv vorhandene Seelenvorgänge werden gleichsam aus mir entfernt und auf den anderen übertragen. Dabei ist auch eine Art von Allgemeinheit in Anspruch genommen, die jedoch nicht die der rationalen Evidenz ist. Weber betont, daß letztere einen "kategorialen Charakter" habe, während die einfühlende Evidenz "phänomenoiogisch" sei.58 Die kategoriale Evidenz basiert auf einer begrifjlichen Allgemeinheit und garantiert dadurch ein Maximum an VerstehharkeiL Phänomenologische Evidenz beruht dagegen auf einer Art Typizität psychischer Konstellationen, die, in jeweiligen Situationen aktivierbar, es erlaubt, eigene Bewußtseinsphänomene auf andere zu übertragen. "Das Vermittelnde ist die besondere Art von überpersönlicher Gültigkeit des psychischen Bildes 56 WG, S. 2 .
57 WL, S . 104, 116. 58 WL, S. 116.
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nach der Dynamik und Verknüpfungsart seiner Elemente, einer Gültigkeit, die den Wert der Allgemeinheit hat, ohne doch begriffliche Allgemeinheit zu sein." 59 Affekte dürfen nicht mit Erleben gleichgesetzt werden! Während dieses sich in dumpfer Ungeschiedenheit vollzieht, ist bei Affekten der Erlebnisstrom schon gebrochen. Liebe, Haß, Rache, Eifersucht, Zorn, Stolz etc. sind gegenüber dem Erleben schon herausgehobene, Konturen aufweisende Reaktionsund Verhaltensformen. Diese Konturiertheil erlaubt gerade die Typisierung der mit diesen Affekten verbundenen Erscheinungen. Dem "psychischen Bild" korrespondieren dabei bestimmte Ausdrucksformen, so manifestiert sich z.B. em Zornesausbruch 1m Gesichtsausdruck, Interjektionen, irrationalen Bewegungen. 60 Die Typisierbarkeit und damit Verstehbarkeil verbessert sich in dem Maße, wie sich die Affekte auf dem Weg der Sublimierung befinden.61 Sublimierung meint dabei eine zunehmende Strukturierung der Affekte durch Herausarbei59 Simmel!923, S. 51.
60 WG, S. 3f.; Hellpoch !906b, S. 32ff; Jaspers 1923, S. 163ff. Hellpoch (1906a, S. 174ff.) thematisiert, in der von Weber (WL, S. !II) angeführten Arbeit, das Verhältnis von Normalpsychologie und Psychopathologie. NormaleiWeise bedienen wir uns bei der Erschließung eines fremden seelischen Lebens der Ausdruckserscheinungen alter egos. Dabei "bleibt grundsätzlich für jede Einfühlung die ungestörte - mindestens qualitativ ungestörte Zueinanderordnung von Affekt und Ausdruck Voraussetzung" (Hellpach 1906a, S. 177, Hervorhebung von T.S.). Auf diese typischen Korrespondenzen von Ausdruckserscheinungen und seelischen Vorgllngen kann die Psychopathologie gerade nicht mehr zuriickgreifen. Sie steht vor dem Problem der "Zuordnungsstörungen - Änderungen des Verhältnisses zwischen Affekt und Ausdruck" (Hellpach 1906a, S. 175). Hellpach diskutiert die verschiedenen psychologischen Strömungen seiner Zeit (Psychoanalyse, experimentelle Psychologie etc.), die nach einem methodisch kontrollierten Zugang zum pathologischen Fremdpsychischen suchen, da sie auf die normalen typischen Zuordnungen nicht zurliekgreifen können. Neuere emotionssoziologische und -anthropologische Untersuchungen zeigen, daß die Zuordnungen von Emotionen und non-verbalen mimischen Ausdrucken interkulturell erstaunlich kongruent sind (vgl. Gerhards 1988, S. 89ff.). Dieser Zusammenhang könnte seine Erklärung durch Ergebnisse der Gehirnphysiologie finden. Emotionen sind in den entwicklungsmäßig sehr alten Gehirnregionen verortet, während andere Ausdrucksformen, wie Sprache und Denken, phylogenetisch jüngeren Gehirnregionen zuzuordnen sind (Gerhards, S. 100). Der erstaunliche universelle Zusammenhang zwischen Affekt und Ausdruck bedeutet allerdings nicht, daß ein entsprechend allgemeiner Zusammenhang zwischen den auslösenden situativen Stimuli und den Gefühlen besteht (Gerhards, S. 90f.). Dasselbe Ereignis kann in unterschiedlichen Kulturen ganz verschiedene Bedeutungen haben und dadurch zu unterschiedlichen Gefühlen führen. Das Verhältnis situative Stimuli - Gefühle ist daher kulturell geformt. 61 Weber ve!Wendet diesen Begriff: WG: 12. Zur Sublimierung der Sexualität zur Erotik WG, S. 365; Weber 1978, S. 556ff.
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tung eines Orientierungswertes, der die affektuelle Energie bindet. Durch die Aufnahme von wert- und zweckrationalen Momenten überschreitet das affektuelle zunehmend die Grenze zum sinnhaft orientierten Handeln. Sind vorher Motiv und Handlung kurzgeschlossen, das affektuelle Verhalten quasi kausal getrieben, ermöglicht die Sublimierung die Trennung von Motiv und Handlung und damit ein intentionales, subjektiv sinnhaftorientiertes Handeln. Mit zunehmender Sublimierung der Affekte entstehen Leidenschaften. Während Affekte in einzelnen überraschenden und heftigen Gefühlsregungen Ausdruck finden, schlagen sich Leidenschaften in dauernden und dominierenden Motivrichtungen von außergewöhnlicher Stärke nieder.62 Dies ist ein weiterer wichtiger Aspekt von Webers Persönlichkeitsbegriff. Dieser erschöpft sich nicht in der bloß kognitiven Fähigkeit, in einem inneren konstanten Verhältnis zu Werten sich zu halten. In der Trias "Leidenschaft- Verantwortungsgefühl Augenmaß•63 sind neben den kognitiven (Augenmaß), den ethisch-moralischen (Verantwortungsgefühl) auch die affektiven (Leidenschaft) Komponenten von Bedeutung. In dem auszubalancierenden Verhältnis dieser drei Gewichte liefert die Leidenschaft die nötige Energie für das Handeln. Ein Handeln kann scheitern, nicht nur weil die kognitive Situationseinschätzung fehlging, sondern auch weil die motivationale Energie der Zielsetzung nicht angemessen war. Das stoische Ideal der "Apathie" 64 , als Freiheit von Leidenschaften, ist daher nicht das von Webers Persönlichkeitsbegriff. So sehr bei Überwiegen der affektiven Komponenten das Urteil getrübt werden kann, gilt doch andererseits, "daß die Wahlfreiheit selbst nicht beeinträchtigt ist, wenn das dauernd starke Wollen, worin die Leidenschaft besteht, sich durch alle Überlegung von Zielen und Mitteln hindurch als maßgebend erweist. Eben damit kommt ja das konstante Motiv und somit die Persönlichkeit, wie sie nun einmal ist, zur Geltung: und in diesem Sinne wird deshalb auch niemals die Leidenschaft eo ipso als Verminderung der Zurechnungsfähigkeit angesehen. "65 62 Windelband 1904, S. 90. 63 Weber 1988a, S. 545; vgl. a. WL, S. 589.
64 Windelband 1904, S. 94. 65 Windelband 1904, S. 92. Windelband (S. 94) benutzt in diesem Zusammenbang den auch von Weber (WL, S. 613; Weber 1988a, S. 545) verwendeten Begriff des "Dämons": "Deshalb gilt der von der Leidenschaft Beherrschte als ein von einem Dämon oder wenigstens von einer dämonischen Macht Besessener.. . ", allerdings in einem negativen Sinne. Es gibt auch Leidenschaften in Form von pathologischen Veranlagungen oder perversen Neigungen. Hier dominiert die affektive Komponente die kognitive und ethisch-moralische.
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Die Überschreitung der Grenze zum sinnhaft orientierten Handeln ist auch von juristischer Relevanz. 66 Wer einen anderen im Affekt erschlägt, kann mit mildernden Umständen rechnen. Wenn dagegen der Affekt, z.B. Rache oder Eifersucht, sich als Motiv von der Handlung trennt und nach sorgfältiger Planung (zweckrationale Komponente) ein Mord begangen wird, muß mit der vollen Strafe gerechnet werden. Zurechnungsfähigkeit ist hierbei an Intentionalität und Motiviertheil gebunden. Dies ist im ersten Fall nicht gegeben, während im zweiten die Handlung das Mittel für das Motiv ist. Der Sublimierungsprozeß ist dabei nicht als ein rein subjektiver Vorgang zu denken. Bei der Ausformung der Affekte werden durch Sozialisierung und Internalisierung objektive Wertmuster in die motivierenden Gefühlslagen eingewoben. Das Erscheinungsbild der Affekte ist daher nicht auf eine phänomenologische Allgemeinheit der Funktionsweise der menschlichen Psyche reduzierbar, sondern in einer nur schwer entwirrbaren Weise immer schon von expressiv-kulturellen Vorgaben durchwirkt. 67 Weber spricht von durchschnittlichen Geftihlsgewohnheiten, die wir über typische Sinnzusammenhänge sinnhaft adäquat deuten können. 68 Die Sublimierung und damit gesteigerte Kommunikabilität von Affekten ermöglicht und erleichtert zugleich die Aufgabe des wissenschaftlichen Beobachters, die Gefühlsinhalte einer begrifflichen Formung zuzuführen. 69 Die Möglichkeit, auch affektuelle Erscheinungen mittels theoretischer, sinnadäqauter Begriffe zu erfassen, hat zur Voraussetzung, daß den Gefühlslagen im Alltag schon ein bestimmtes Maß an Bestimmtheit eignet. Die Ausrichtung der Affekte an sublimierten Orientierungspunkten nimmt der wissenschaftlichen Formung von Gefühlsinhalten über theoretische Wertbeziehungen ihre Will66 Windelband 1904, S. 87; Döben 1989, S. 237. 67 Weiß (1975, S. 50) hat die Tendenz, das affektuelle Verstehen völlig in objektiven Sinnbe-
zügen aufzulösen. Dann stellt sich allerdings die Frage, wozu noch psychologisches Verstehen?
68 WG, S. 5; WL, S . 428. Für die Psychopathologie war (ist) dies ein besonderes Problem (vgl. Hellpach 1906a, S. 192ff.). Der pathologische kann nicht ohne die Kontrastfolie des normalen Zustandes angemessen bestimmt werden. Über zweierlei Kriterien ist dies möglich: a. biologisch: pathologische psychische Vorgänge sind durch entsprechende krankhafte physische Vorgänge verursacht; b. sozial: pathologisch ist, was den normativen Erwartungen der Gesellschaft widerspricht. Hellpach diskutiert dieses Verhältnis von Anlage und Umwelt in ihrem Einfluß auf die menschliche Psyche und weist dabei eine rein physiologische Argumentation zurück. Er beruft sich dabei auf die historisch- und kulturvergleichende Psychlogie (Hellpach 1906a, S. 196f., 216).
69 WL, S. 119, 123; WG, S. 10.
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kürlichkeit. Dabei kann freilich nie ein gleiches Maß an Eindeutigkeit des Sinngehalts gewonnen werden wie im Fall des rationalen Verstehens.?O Es darf nicht vergessen werden, daß bei allen drei Formen das wissenschaftliche Verstehen nur über Idealtypen, Urteile ermöglichende Wertgesichtspunkte und Begriffe möglich ist. Wichtig dabei ist jedoch die jeweils unterschiedliche Evidenz oder Anschaulichkeit, auf der die Idealtypen aufruhen: kategoriale Anschaulichkeit, sinnhafte Konsequenz und psychologische Evidenz.
2. Weltbezüge des Handeins Webers Soziologie ist nur auf einer subjektphilosophischen Grundlage formulierbar. Dies haben wir an Webers Verhältnisbestimmung von Subjekt und Wert demonstriert. Orientierend hierfür waren die Überlegungen Manfred Franks zum Verhältnis von Subjekt und sprachlich-semantischen Strukturen. Das soziologische Problem von Handlung und Ordnung ist aber durch den alleinigen Bezug auf die ideelle Ebene unterbestimmt. Jede Handlung und Ordnung weist immer zugleich mehrere Weltbezüge auf. Für eine zufriedenstellende Problemfassung müssen diese mitberücksichtigt werden. Auch hier erweist sich die Subjektproblematik, genauer: das sich durch sein Handeln in Weltbezüge verstrickende Subjekt, als die zentrale Thematik, auf die hin die einzelnen Teile und Aspekte des Webersehen Werkes konvergieren und durch die sie zusammengehalten werden. In einem ersten Schritt soll geklärt werden, mit welchen Weltbezügen das Handeln konfrontiert ist und wie diese thematisiert werden (a), um dann in einem zweiten Schritt die Relationierung dieser Bezüge im Handeln zu analysieren (b).
a) Die Bezüge Kar! Popper hat in einem 1967 gehaltenen Vortrag71 drei Welten unterschieden: eine erste Welt physikalischer Gegenstände und Zustände, eine zweite Welt der Bewußtseins- und geistigen Zustände und eine dritte Welt objektiver Gedankeninhalte oder Ideen. Diese drei Welten stehen in Austauschbeziehungen, wobei die erste und zweite sowie die zweite und dritte unmittelbar interagieren können, die erste und dritte aber nur durch 70 WG, S. 14. 71
1973, S. 123ff; vgl. a. S. 172ff.
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Vermittlung der zweiten. Die Autonomie jeder dieser drei Welten verhindert verschiedene Formen von Reduktionismen: die psychologische Reduktion der ideellen Gebilde auf mentale Zustände, die physikalistische Auffassung von Bewußtseinszuständen oder emanationistische Reduktionismen zwischen erster und dritter Welt. Bei dem Versuch, dieses Modell auf die Soziologie zu übertragen, müssen bestimmte Modifikationen und EJWeiterungen eingeführt werden. 72 Da ist zunächst die kognitivistisch verkürzte Interpretation der dritten Welt. Sie besteht nach Popper im wesentlichen aus Problemen, Theorien und Argumenten. Überträgt man diese Vorstellung der dritten Welt auf gesellschaftliche Beziehungen und Einrichtungen, reduzieren sich die handelnden Subjekte auf theoriebildende und problemlösende Wissenschaftler. Die nicht-kognitiven Bestandteile, z.B. von Rechts- und Moralvorstellungen, geraten in eine Randstellung. Diese sind aber für eine soziologische Theorie von großer Bedeutung. In Anlehnung an Weber modifiziert Habermas73 Poppers Version von Welt drei in Form eines nach mehreren Geltungsansprüchen differenzierten Begriffs von kulturellem Wissen. Weber hat mehrere kulturelle Wertsphären unterschieden: Wissenschaft und Technik, Recht und Moral, Kunst und Erotik. "Weber versteht die kulturelle Überlieferung insgesamt als eine Wissensvorrat, aus dem sich unter verschiedenen Geltungsansprüchen spezielle Wertsphären und Wissenssysteme herausbilden können. Darum würde er die evaluativen und die expressiven Bestandteile der Kultur ebenso der dritten Welt zurechnen wie die kognitiv-instrumentellen. •74 Diese EJWeiterungen erlauben eine adäquate Fassung der "sozialen Welt" . Diese ist nicht als unabhängig von den anderen drei Welten zu denken, sondern stellt vielmehr eine Kombination dieser dar. Jede Handlung setzt sich aus Elementen der drei Regionen zusammen: Über Mittel und Bedingungen, wozu auch der eigene Körper zählt, gehört sie der ersten Welt an; ihre Ziele, Normen und Werte speisen sich aus Welt drei und als synthetisierendes, vermittelndes Moment sind immer Bewußtseinsleistungen erforderlich. Die relative Selbständigkeit der gesellschaftlichen Realität, die spezifische Widerständigkeil und der Zwangscharakter von Normen und Institutionen kann nur dann erklärt werden, wenn man die kognitivistisch verkürzte Fassung 72 Habermas 1981, I, S. 118ff. 73 Habermas 1981, I, S.l24f. 74 Habermas 1981, I, S. 125.
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von Welt drei in Richtung auf mehrere Geltungsstandards erweitert. Institutionen können in ähnlicher Weise aus Verständigungsprozessen handelnder Subjekte hervorgehen wie Probleme, Theorien und Argumente in Poppers Konzeption. Bei dem Versuch dieses Modell auf Weber zu übertragen, stellt sich die Frage nach dem Status der Welten. Während Popper sie im ontologischen Sinne versteht75, ist die Abneigung Webers gegenüber ontologischen Begründungen ein Gemeinplatz. Es ist jedoch zu fragen, ob sich darüber mehr sagen läßt, als daß Weber erkenntnistheoretisch und ontologisch nicht einzuordnen sei76 und sich selbst als naiven Realisten versteht.?? Vor allem Dieter Renrieb78, aber auch Alexander von Schelting79 haben für die Webersehe Wissenschaftslehre einer strengen Trennung von erkenntnistheoretischen und methodologischen Fragen das Wort geredet. Henrich geht sogar so weit, die philosophische Begründung der Methodenlehre für völlig offen zu halten. 80 Thomas Burger hat dagegen die epistemologischen Implikationen von Webers Theorie betont. 81 Er folgt der Rickertschen Dreiteilung des Erkenntnisprozesses, dem die Kantsche Entgegensetzung von Form und Inhalt zugrunde liegt. Die erste Stufe sind die noch ungeformten, unmittelbaren Sinneseindrücke (1). Diese werden auf einer zweiten Stufe durch die konstitutiven oder kategorialen Formen zu strukturierten Bewußtseinsinhalten geprägt (2). An die konkrete Tatsachenebene schließt sich endlich eine dritte Stufe methodologischer Formen an, die wissenschaftliche Erkenntnisse liefert (3). 1. Die erste Ebene unmittelbaren, noch ungeformten Inhalts ist bei Weber durch verschiedene Ausdrücke repräsentiert: Erlebnisse, Stimmungen, Wallungen, Wahrnehmungen, Empfindungen. Diese von Augenblick zu Augenblick sich einstellende Fülle menschlicher Eindrücke vollzieht sich außerhalb unserer kognitiven Formungen. "... das 'Erlebte' [ist] etwas, was nicht zum